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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM GOLDSCHMIED UND DER SÄNGERIN AUS KASCHMIR

Es war einmal ein Goldschmied, der den Frauen und dem Weintrinken ergeben war. Als der eines Tages im Hause eines Freundes war, fiel sein Blick auf eine Wand, und dort sah er das Bild eines Mädchens gemalt, so schön und lieblich und anmutig, wie noch nie ein Mensch eine Maid gesehen hatte. Lange schaute der Goldschmied sie an, hingerissen von der Schönheit des Bildes, und sein Herz ward so ergriffen von der Liebe zu dieser Gestalt, daß er krank ward und dem Tode nahe kam. Nun besuchte ihn einmal einer seiner Freunde, setzte sich zu ihm und fragte ihn, wie es ihm ergehe und was ihm fehle; der Goldschmied antwortete ihm: ,Lieber Bruder, meine ganze Krankheit und all, was mich quält, kommt von der Liebe. Ich bin von Liebe ergriffen zu dem Bilde einer Maid, das im Hause meines Bruders Soundso auf eine Wand gemalt ist.' Da schalt ihn sein Freund und sprach zu ihm: ,Das ist doch eine Torheit von dir! Wie konntest du dich in ein Bild an der Wand verlieben, das weder schaden noch nützen kann, weder sehen noch hören, weder nehmen noch versagen?' Der Goldschmied aber fuhr fort: ,Der Künstler kann es nur nach der



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Gestalt einer schönen Frau gemalt haben!' Darauf der Freund: ,Vielleicht hat der Maler das Bild frei aus sich selbst geschaffen!' ,Wie dem auch sei,' erwiderte der Goldschmied, ,ich sterbe vor Liebe zu ihr; und wenn das Urbild dieser Gestalt in der Welt lebt, so flehe ich zu Allah dem Erhabenen, daß er mich am Leben lasse, bis ich es sehe.' Als nun die Besucher gegangen waren, fragten sie nach dem Künstler, der das Bild gemalt hatte, und sie vernahmen, daß er in eine andere Stadt gereist war. Da schrieben sie ihm einen Brief, in dem sie die Not ihres Freundes beklagten und nach jenem Bilde fragten, ob er es aus freier Erfindung geschaffen oder ob er sein Urbild in der Welt gesehen habe. Er antwortete ihnen: ,Ich habe dies Bild nach der Gestalt einer Sängerin gemalt, die einem Wesir gehört und in der Stadt Kaschmir im Lande Indien lebt.' Wie der Goldschmied diese Botschaft vernahm, da rüstete er sich alsbald zur Reise und zog von Persien, wo er lebte, nach dem Inderlande; und nach vielen Beschwerden kam er vor jener Stadt an. Nachdem er dort eingezogen war und sich niedergelassen hatte, ging er eines Tages zu einem Bürger der Stadt, einem Spezereienhändler, der ein kluger, verständiger und einsichtiger Mann war; den fragte er nach ihrem König und seinem Wandel. Der Spezereienhändler erzählte ihm: ,Unser König ist ein rechtschaffener Mann, er führt einen schönen Wandel, er ist stets zur Güte gegen das Volk seines Reiches bereit und übt gegen seine Untertanen Gerechtigkeit. Er verabscheut in der ganzen Welt nur die Zauberer; wenn ein Magier oder eine Zauberin in seine Hände fällt, so wirft er sie in eine Grube außerhalb der Stadt und läßt sie dort Hungers sterben.' Und weiter fragte der Goldschmied nach den Wesiren des Königs; da erzählte jener ihm von einem jeden Wesir, von seiner Art und seinem Wesen, bis ihr Gespräch auf die Sängerin kam.



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Der Spezereienhändler sagte von ihr: ,Sie gehört dem Wesir Soundso!' Darauf wartete der Goldschmied einige Tage, bis er seinen Plan ersonnen hatte. Dann machte er sich in einer Regennacht, in der es donnerte und gewaltig stürmte, auf den Weg, nahm Diebsgerät mit sich und begab sich zum Hause des Wesirs, dem die Sängerin gehörte. Dort hängte er mit Fanghaken eine Leiter auf, kletterte auf das Dach des Schlosses, und nachdem er oben angekommen war, stieg er in die Halle hinab. Dort sah er alle die Sklavinnen schlafen, eine jede auf ihrem Lager; und auf einem marmornen Lager entdeckte er eine Maid, die war so schön wie der Vollmond, wenn er in der vierzehnten Nacht aufgeht. Er ging auf sie zu und setzte sich ihr zu Häupten, um die Decke aufzuheben. Die Decke aber war mit Gold bestickt; und zu ihren Häupten und zu ihren Füßen standen zwei Kerzen, jede in einem Leuchter von strahlendem Golde. und beide Kerzen waren aus Ambra hergestellt. Unter dem Kissen lag, versteckt neben ihrem Haupte, eine silberne Schatulle. in der sich alle ihre Schmucksachen befanden. Nun holte der Goldschmied ein Messer heraus, stach der Sängerin damit in das Gesäß und brachte ihr eine sichtbare Wunde bei. Voller Schrecken wachte sie auf; und als sie den Mann erblickte, fürchtete sie sich zu schreien und schwieg still, da sie meinte, er wolle ihre Habe stehlen. Dann sprach sie zu ihm: ,Nimm die Schatulle und was darinnen ist; es nützt dir nichts, wenn du mich tötest. Ich bitte dich und flehe dich an, ich bin in deiner Gewalt!' Der Mann nahm die Schatulle mit ihrem Inhalt und ging davon. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 587. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Goldschmied,



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nachdem er das Schloß des Wesirs erklommen hatte, der Sängerin eine Wunde im Gesäß beibrachte, die Schatulle, in der ihr Schmuck war, mitnahm und davonging. Am nächsten Morgen legte er seine heimischen Kleider an, nahm das Schmuckkästchen mit sich und trat zum König jener Stadt ein. Er küßte den Boden vor ihm und sprach zu ihm: ,O König, ich bin ein Mann, der dir gut raten will. Ich bin aus dem Lande Chorasân und komme, um bei deiner Majestät Zuflucht zu suchen, da der Ruf deines schönen Wandels und deiner Gerechtigkeit gegen die Untertanen sich weit verbreitet hat; ich möchte unter deinem Banner stehen. Als ich aber gegen Abend diese Stadt erreichte, fand ich das Tor verschlossen, und so legte ich mich vor den Mauern zum Schlafe nieder. Wie ich nun dort halb schlafend, halb wachend lag, erblickte ich plötzlich vier Weiber: eine von ihnen ritt auf einem Besen, die zweite auf einem Weinkrug, die dritte auf einem Feuerhaken und die vierte auf einer schwarzen Hündin.' Da wußte ich, o König, daß sie Hexen waren, die in deine Stadt eindringen wollten. Eine von ihnen kam zu mir heran, stieß mich mit dem Fuße und schlug mich mit einem Fuchsschwanze, den sie in der Hand hielt, so heftig, daß es mir weh tat. Da wurde ich wütend über den Schlag und stieß nach ihr mit einem Messer, das ich bei mir hatte; ich traf sie ins Gesäß, gerade als sie sich umwandte und weggehen wollte. Wie ich sie aber verwundete, sprang sie vor mir auf und davon und ließ dies Kästchen fallen mit dem, was darinnen ist. Ich machte es auf und fand darin diesen kostbaren Schmuck; nimm du ihn hin, denn ich bedarf seiner nicht! Siehe, ich bin ein Pilger der Wüste; ich habe die



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Welt aus meinem Herzen verbannt, ich habe ihr und all ihren Gütern entsagt und suche nur das Antlitz Allahs des Erhabenen.' Mit diesen Worten legte er die Schatulle vor dem König nieder und wandte sich zum Gehen. Nachdem er davongegangen war, öffnete der König jenes Kästchen und schüttete all die Schmucksachen heraus; dann nahm er jedes Stück in die Hand und dabei fand er auch ein Halsband, das er dem Wesir zum Geschenk gemacht hatte, jenem, dem die Sängerin gehörte. Sogleich ließ er den Wesir kommen; und als der vor ihm erschien, fragte er ihn: ,Ist dies das Halsband, das ich dir geschenkt habe?' Wie der Wesir es anschaute, erkannte er es und sprach zum König: ,Jawohl! Und ich habe es einer meiner Sängerinnen geschenkt.' Da rief der König: ,Bringe das Mädchen sofort hierher!' Der Wesir holte die Sängerin, und als sie vor dem König stand, befahl dieser: ,Decke ihr Gesäß auf und sieh nach, ob sie verwundet ist oder nicht!' Nachdem der Wesir den Befehl ausgeführt hatte, sah er eine Messerwunde und sprach zum König: ,Ja, hoher Herr, dort ist eine Wunde!' Nun sagte der König: ,Sie ist eine Zauberin, wie der heilige Mann gesagt hat; das ist ganz sicher.' Dann befahl er, sie in die Hexengrube zu werfen; und noch am selben Tage schaffte man sie dorthin. Als es aber Nacht geworden war und der Goldschmied erfahren hatte, daß seine List geglückt war, begab er sich zu dem Wächter der Grube, in der Hand einen Beutel mit tausend Dinaren. Er setzte sich zu dem Wächter und begann mit ihm zu plaudern, bis das erste Drittel der Nacht vergangen war. Dann weihte er den Wächter in die Wahrheit ein, indem er sprach: ,Wisse, Bruder, diese Sängerin ist unschuldig an dem Bösen, das man ihr zur Last legt; ich bin es, der dies über sie gebracht hat.' Und er erzählte ihm die Geschichte von Anfang bis zu Ende; dann fügte er hinzu: ,Bruder,



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nimm diesen Beutel; tausend Dinare sind darin. Dafür gib mir diese Sängerin, und ich will mit ihr in mein Land reisen. Diese Dinare nützen dir mehr, als wenn du das Mädchen hier bewachst. Außerdem gewinnst du himmlischen Lohn durch uns, und wir beide werden für dein Glück und Wohlergehen beten.' Als der Wächter diese Geschichte von ihm vernahm, war er über eine solche List und ihr Gelingen aufs höchste erstaunt; dann nahm er den Beutel mit dem Gelde hin und ließ dem Goldschmied die Sängerin, indem er ihm zur Bedingung machte, daß er nicht eine einzige Stunde mit ihr in der Stadt verweile. Der Goldschmied aber nahm die Sängerin und brach sofort mit ihr auf und zog eilends mit ihr dahin, bis er in seiner Heimat ankam; so hatte er sein Ziel erreicht.

Betrachte nun, o König -so schloß die Odaliske -, die Tücke und die Listen der Männer !Jetzt hindern dich wohl deine Wesire, mir mein Recht zu schaffen; aber bald werde ich mit dir vor einem gerechten Richter stehen, und der wird mir zu meinem Rechte wider dich verhelfen, o König!' Als der König diese Worte aus ihrem Munde vernahm, befahl er von neuem. seinen Sohn hinzurichten. Doch da trat der fünfte Wesir vor ihn hin, küßte den Boden vor ihm und sprach zu ihm: ,Großmächtiger König, bedenke dich und laß deinen Sohn nicht vorschnell töten! Denn Eile hat oft Reue im Gefolge. Ich fürchte, du könntest so bereuen müssen wie der Mann, der nie mehr im Leben lachte.' ,Wie war denn das, o Wesir?' fragte der König; und der fünfte Wesir erzählte: ,Mir ist berichtet worden, o König,


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