DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN
VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN
ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839
ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN
BAND 3
IM INSEL-VERLAG
DIE GESCHICHTE VON DER FRAU.
DIE DEM ARMEN EIN ALMOSEN GAB
Einst ließ ein König dem Volke seines Reiches verkünden: ,Wenn einer von euch irgendein Almosen gibt, so werde ich ihm die Hand abschlagen lassen!' Da enthielten sich alle Leute der Wohltätigkeit, und keiner konnte mehr seinem Nächsten ein Almosen spenden. Nun begab es sich eines Tages, daß ein Bettler, den der Hunger plagte, zu einer Frau kam und sie bat: ,Gib mir doch ein Almosen!' — — «
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Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 348. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Bettelmann zu der Frau sprach: ,Gib mir doch ein Almosen!' Sie aber sagte: ,Wie kann ich dir ein Almosengeben, da dochder König einem jeden, der ein Almosen spendet, die Hand abschlagen läßt?' Dennoch fuhr er fort: ,Ich bitte dich um Allahs des Erhabenen willen, gib mir ein Almosen!' Wie er sie nun um Allahs willen bat, hatte sie Mitleid mit ihm und schenkte ihm zwei Brote. Doch die Kunde davon drang zum König, und er befahl, sie herbeizuholen. Als sie zu ihm kam, ließ er ihr die Hände abschlagen; und sie begab sich wieder in ihr Haus. Nach einer Weile begab es sich, daß der König zu seiner Mutter sprach: ,Ich will mich vermählen; drum gib mir eine schöne Frau zum Weibe!' Sie antwortete: ,Unter meinen Sklavinnen ist ein Weib, wie kein schöneres gefunden werden kann; doch sie hat einen großen Fehler.' Als er fragte: ,Was ist denn das?' erwiderte sie: ,Ihr sind die Hände abgeschlagen!' Aber der König fuhr fort: ,Ich will sie sehen!' Da brachte die Königin sie zu ihm; und als er sie erblickte, ward er von ihr hingerissen, er vermählte sich mit ihr und ging zu ihr ein. Jene Frau war es gewesen, die dem Bettler die beiden Brote gegeben hatte und der er deshalb die Hände hatte abschlagen lassen. Als er sich nun mit ihr vermählt hatte, wurden die anderen Frauen des Königs neidisch auf sie, und sie schrieben ihm, als sie einen Sohn geboren hatte, sie sei eine Ehebrecherin. Darauf sandte der König ein Schreiben an seine Mutter, in dem er ihr befahl, die Frau in die Wüste zubringen und dort zu verlassen; dann solle sie selbst allein zurückkehren. Die Mutter führte diesen Befehl aus: sie brachte die Frau in die Wüste und kehrte dann allein
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zurück. Da begann die Frau über ihr Schicksal zu weinen, und sie klagte so bitterlich, daß ihrem Schmerze kein anderer glich. Und während sie mit dem Knäblein auf der Schulter dahin wanderte, kam sie an einem Bache vorbei; und sie kniete nieder, um zu trinken, denn heftiger Durst quälte sie, da sie so lange gewandert und so müde und traurig war. Doch während sie sich vornüber beugte, fiel das Kind ins Wasser. Nun saß sie da und weinte bittere Tränen um ihr Kind. Wie sie so weinte, kamen plötzlich zwei Männer an ihr vorbei und fragten sie: ,Warum weinest du?' Sie antwortete ihnen: ,Ich trug ein Knäblein auf der Schulter; das ist ins Wasser gefallen!' Und weiter fragten sie: ,Willst du, daß wir es dir wieder herausholen?' ,Ja', rief sie. Da beteten die beiden zu Allah dem Erhabenen. und das Kind kam wohlbehalten und unversehrt wieder heraus. Nun fragten sie: ,Willst du, daß Allah dir deine Hände wiedergebe, sowie sie gewesen sind?' ,Ja', erwiderte sie. Da beteten die beiden zu Allah, dem Hochgepriesenen und Erhabenen, und ihre Hände wurden ihr zurückgegeben, noch schöner, als sie gewesen waren. Von neuem fragten sie: ,Weißt du auch, wer wir sind?' ,Allah ist allwissend', gab sie zur Antwort. Die beiden aber sagten: ,Wir sind deine beiden Brote, die du dem Bettler geschenkt hast. Das Almosen war ja der Grund, daß deine Hände abgeschlagen wurden. Doch nun lobe Allah den Erhabenen, der dir deine Hände und dein Kind zurückgegeben hat!' Da lobte und pries sie Allah den Erhabenen.
Und man erzählt ferner auch
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