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[2720]

Wolfgang Haller
an Bullinger
Kappel,
18. Dezember 1546

Autograph: Zürich StA, E II 359, 2810 (Siegelspur) Ungedruckt

[1] Wolfgang Haller schickt hiermit ein unbefangenes und für die Schulvorsteher von Zürich bestimmtes Zeugnis über den Schüler Burkhard Leemann, das Bullinger verlangt hatte (Brief nicht erhalten]. [2] Seitdem Wolfgang die Schulleitung in Kappel übernommen hat, wurde Leemann recht gut in die lateinische Sprache eingeführt und ist nicht nur älter geworden, sondern hat auch gute Fortschritte im Studium, in der Frömmigkeit und in der Gewissenhaftigkeit gemacht. Wolfgang würde sich wünschen, dass alle seine Schüler so wären! Auch im Griechischen, das er jetzt kaum ein Jahr lang lernt, hat Leemann schon ziemlich gute Ergebnisse erzielt. Mit seinen Fähigkeiten, seinem Fleiß und seiner Beständigkeit hat er, gemessen an seinem jugendlichen Alter, eine recht solide Basis für seine weitere Ausbildung gelegt. Da er gehorsam und fromm ist, wird er zweifellos der Kirche von Nutzen sein. Er verdient es also, weiter gefördert zu werden. Wolfgang hatte eigentlich vor, den Schulherrn [Johann Jakob Ammann] zur Förderung Leemanns anzuhalten. [3] In Kappel kann Wolfgang nur die Sprachgrundlagen unterrichten, da die fortgeschritteneren Schüler gehen und Schulanfänger kommen. Mit Leemann sind es noch drei, die Griechisch lernen. Dazu kommen vier Neulinge, denen Wolfgang erst das griechische Alphabet beigebracht hat: Wolfgang Deck, Hans Koller, Hans Thomann Wirz und [Hans] Victor von Schönau. [4]Der fleißige und fromme Leemann, von guten Zürcher Eltern, ist also des Lobes würdig, auch wenn er im Kontakt mit den Viehzüchtern der Region ziemlich bäurische Gewohnheiten angenommen hat. Doch lässt sich

b Darunter Blarers Empfangsvermerk: 21. decembris 1546.
47 rasch, entschlossen, furchtlos; s. SI I 1340f.
48 sobald es die notturfft erhöusch: sobald die Notwendigkeit besteht.
49 inzwischen.
50 Thomas Blarer.
51 Konrad Zwick.

das leicht wieder beheben. [5] Die übriggebliebenen fortgeschritteneren Schüler sind: Hans Steinbrüchel (eigensinnig, doch hoch begabt), Felix Bluntschli (weniger begabt, aber fleißig), Wolfgang Deck, Hans Thomann Wirz sowie Hans Koller. All diese haben sich ebenfalls ganz gute Kenntnisse im Lateinischen erarbeitet. Soviel zu Bullingers Schreiben. [6] Wolfgang bedauert das Schicksal der verfolgten Christen. Der Herr wird aber die Seinen rächen! Die in der Nachbarschaft gelegenen [katholischen Innerschweizer] bleiben sich gleich! Nach außen sind sie freundlich, aber sobald man sich umdreht, sind sie die schlimmsten Feinde. Ihre Sexualität, ihre Prunkliebe, ihr Geiz und Hochmut sowie ihr Eifer für den Götzendienst, den sie noch vor wenigen Monaten zeigten, empfiehlt sie keineswegs den [Protestanten]. Wolfgang fürchtet aber, dass man ihnen [trotzdem] zu viel Vertrauen schenkt! [7] Er hat die ihm zur Verfügung gestellten Predigtnotizen zu den beiden Büchern Samuel mit dem von seinen Eltern nach Hause gerufenen Koller an Bullinger zurückgeschickt. Dieser möchte nun dem Knaben die Predigtnotizen [zum Richterbuch]mitgeben, oder, falls dies nicht möglich ist, wenigstens die Notizen zu Genesis. Wolfgang wird sie getreu zurücksenden. [8] Viele Grüße, auch an die Familie, und auch vonseiten Wolfgangs Gattin [Elsbeth Göldli].

S. Meum de Burckhardi Lemani 1 indole, pietate, diligentia et eruditione (domine ac pater multis mihi nominibus semper colendissime) iudicium audire petis, 2 quod pro meo in illum officio et pro debita in studiorum praefectos 3 , dominos meos colendissimos, obedientia vere, syncere paucis et breviter, sine ulla singulari mentis affectione faciam.

Burckhardus Lemanus modice antehac in Latinis institutus ab eo tempore, quo administrationem ludi literarii Cappellani suscepi, 4 tantum non annis, sed studio, pietate et diligentia profecit, ut apud omnes alios meos discipulos similem profectum ex animo semper optarim. In Graecis enim quoque iam modice institutus est, quamvis nondum toto anno in iis versatus sit. Foelix illius ingenium, diligentia probata, studium assiduum. luvenis est, sed pro juventute sua satis bene et foeliciter solidae eruditionis fundamenta iecit, imprimis pietatem et dei timorem. Obedientia semper in illo spectata, cum scientia coniuncta pietas; unde nullum mihi dubium fit, si sic, ut coepit, perget, haud parvo usui olim ecclesiae Christi futurum esse. Amor studiorum in illo semper maximus, propensio ad pietatis studia frequens, laude diligentiae ad maiora semper accensus. Dignus ergo, qui promoveatur. Fuit

1 Burkhard Leemann (geb. 14. Februar 1531, gest. 12. September 1613). Er wurde Schüler in Kappel am 10. Juli 1544 (s. Zürich StA, E I 17/1, 265v.). Nach seiner Ausbildung und nachdem er als Lehrer und Pfarrer an verschiedenen Orten gewirkt hatte, wurde er 1560 in Zürich Diakon am Großmünster und Professor für Hebräisch, 1571 Pfarrer an Predigern (Spital), 1584 am Fraumünster und 1592 Antistes; s. Pf-Zürich 404.
2 In einem nicht erhaltenen Brief; vgl. auch unten Z. 33f.
3 Mit den Schulvorstehern von Zürich sind
wohl u.a. der Schulherr Johann Jakob Ammann, der Schulverwalter Heinrich Nüscheler wie auch (wie es dieser Brief vermuten lässt) die Examinatoren (zu denen Bullinger gehörte) gemeint; s. HBBW XIV 278, Anm. 7; XV 336 und Anm. 3; 406f und Anm. 1.
4 Am 25. Juli 1545 war Wolfgang Haller zum Schulleiter in Kappel ernannt worden und am 14. August zog er dorthin; s. Wolfgang Hallers Kalendereinträge zum Jahr 1545 (Zürich ZB, Ms D 269/2), f. 1v.; und Bullingers Notizen zu der Schule in Kappel in Zürich StA, E I 14/1, 8. 34.

quoque animus mihi ca de re dominum scholarcham 5 interpellare, si quo modo promoveri posset.

Maiora enim in nostro ludo docere non possumus, nisi sola grammaticalia propter abeuntes paulo peritiores et redeuntes alios imperitiores. Cum Lemano tres tantum habeo, qui in Graecis versentur. Adiiciam nunc novitios 6 quatuor alios, quos hactenus legendi rationem docui: Wolphgangum Teck, 7 Ioannem Cholerum, 8 Ioannem Thomam Wirtz 9 et Victorem 10 a Schönouw .

Lemanus ergo, cum Tigurinus sit, optimis natus parentibus 11 , ipse diligens, bonarum literarum et pietatis studiosus, laudem apud nos merito invenit, licet interim moribus subrusticanis 12 sit, ita ut apud nos fit inter bumulcos 13 , subulcos, opiliones et equisones; qui tamen in illo facile in melius mutabuntur.

Profectiores deinceps reliqui sunt: Inannes Steinbrüche! 14 (morosus, sed ingenio foelicissimo praeditus) a , Foelix Bluntschlius 15 (qui, quod nativo ingenio

a Dieses und das nächste Klammerpaar ergänzt.
5 Johann Jakob Ammann; s. oben Anm. 3.
6 Wolfgang Haller meint, dass sie "Anfänger" in der griechischen Sprache waren; vgl. nämlich unten Z. 30-33.
7 Wolfgang Deck (1534-1574) wurde Schüler in Kappel am 30. Juli 1543 und versah nach seiner 1556 erfolgten Ordination einige Pfarrstellen; s. Zürich StA E I 17/1, 265v.; Pf-Zürich 242.
8 Hans Koller (1532-1585). 1555 Ordiniert. 1557 Leutpriester am Großmünster in Zürich; s. Pf-Zürich 392, Nr. 3; Carl Keller-Escher, Promptuarium genealogicum, Bd. 4 (Zürich ZB, Ms Z II 4), 5. 563.
9 Der spätere Konstaffelherr Hans Thomann Wirt (1536-1578). Er wurde am 20. September 1543 als Schüler in Kappel aufgenommen; s. Zürich StA, E I 17/1, 265v; Keller-Escher, aaO, Bd. 7 (Zürich ZB, Ms Z II 6a), 5. 275; Martin llli, Die Constaffel in Zürich, Zürich 2003, 5. 124; Die Wickiana. Johann Jakob Wicks Nachrichtensammlung aus dem 16. Jahrhundert. Texte und Bilder zu den Jahren 1560-1571, ausgewählt, kommentiert und eingeleitet von Matthias Senn, Küsnacht-Zürich 1975, 5. 113f.
10 Hans Victor von Schönau (gest. 1604), später Armbrustschütze von Zürich. Er wurde Schüler in Kappel am 10. Juli 1544. Am 23. September 1560 beteiligte er sich als Gesandter von Zürich an dem großen "Stahlschießen" von Stuttgart,
das Herzog Christoph von Württemberg ausgeschrieben hatte, und am 20. Juni 1576 an der Hirsebreifahrt von Zürich nach Straßburg; s. Zürich StA, E I 17, 265v.; E I 14/1, 8; KeIler-Escher, aaO, Bd. 6 (Zürich ZB, Ms Z II 6), S. 1063; Ludwig Uhland, "Zur Geschichte der Freischießen" in: Johann Fischart's genannt Mentzer Glückhaftes Schiff von Zürich, hg. v. Karl Halling, Tübingen 1828, S. xxxi. xlviii, Anm. 18.
11 Der Gerber Rudolf Leemann (gest. 1541) und dessen Gattin [...]Frey, eine Schwester des Propstes Felix Frey. Da als Schwestern des Letzteren eine Regula und eine Verena angeführt werden, wird wahrscheinlich eine von diesen beiden die Mutter Burkhards gewesen sein; s. Keller-Escher, aaO, Bd. 5 (Zürich ZB, Ms Z II 5), 5. 4f (unter Leemann); Bd. II (Zürich ZB, Ms Z II), 700f. 714f (unter Frey).
12 bäurisch; s. Dasypodius, Dic. 206r.
13 Senne; s. Kirsch 380.
14 Hans Steinbrüchel (1532-1588), der 1556 Pfarrer zu St. Jakob in Zürich wurde; s. Wilhelm Hofmeister, Genealogische Tabellen der Stadtbürgerschaft von Zürich, Bd. 12 (Zürich ZB, LHS 95 AA 16/12), 5. 92; Pf-Zürich 544. Er war Sohn des gleichnamigen, bei den Metzgern zünftigen Schaffners zu Kappel (zu diesem s. HBBW XVI 221, Anm. 45; Zürich StA, E I 14/1, 8f).

deest, diligentia compensat), Wolphgangus Teck, Inannes Thomas et Cholerus. 16 Et ii foelices et in Latinis bene instituti. Ea fere sunt, domine colendissime, quae ad tua scripta respondere placuit.

Doleo maxime vicem omnium christi fidelium hac persecutione 17 pressorum. Age, exacuit autem dominus gladium suum et intendit arcum suum, 18 ut comminus et eminus feriens vindictam faciat electorum suorum cito. 19 Vicini nostri 20 antiquum obtinent: coram amici, alias infensissimi. Libido enim illorum, fastus, avaritia, superbia et multo diligentius idololatriae studium, quam vel ante paucos menses habuerint, animos illorum neutiquam nobis devincient b . Vereor, ne nimium illis fidamus.

Remisi tibi per Cholerum, alias a suis parentibus 21 vocatum, in utrumque Samuelis librum concionum memorialia 22 oroque, si, ut petieram, per illum ea 23 non misisti, que cupiebam, vel in Genesim 24 tantum mittas. Utar brevi, et fideliter restituam.

b Aus. devinciunt korrigiert.
15 Felix Bluntschli (gest. 8. April 1587). Er wurde am 14. September 1548 ordiniert; s. Zürich ZB, Ms F 95/1, Nr. 67. Am 27. März 1555 wurde er Pfarrer in Benken und kam am 27. Mai 1566 nach Laufen (beide Orte im Kt. Zürich), wo er starb; s. Zürich StA, G I 179, f. 52r.-v. —Dementsprechend ist Pf-Zürich 203 zu korrigieren und ergänzen.
16 Die oben genannten Wolfgang Deck, Hans Thomann Win und Hans Koller.
17 Die zu Zeiten des Schmalkaldischen Krieges eingetretenen Verfolgungen.
18 Ps 7, 13.
19 Lk 18, 7.
20 Gemeint sind Schwyz und Zug, vielleicht auch allgemein die Innerschweizer.
21 Felix Koller, Seckler und Krämer, Zünfter zur Saffran 1531, "Zwölfer" 1537, gest. 1579, und seine Frau Regula, geb. Wegmann; s. Erhard Dürsteler, Stemmatologia Tigurina, Bd. 4 (Zürich ZB, Ms E 19), f. 353v.; Keller-Escher, aaO, Bd. 4, S. 561.
22 Bullinger predigte über 1Sam von 27. April 1543 bis 12. Dezember 1544 und über 2Sam vom 19. Dezember 1544 bis 13. August 1546 (dementsprechend sind die in HBBW XVI 250, Anm. 4, angeführten Daten zu korrigieren). Wolfgang Haller beendete die Abschrift von Bullingers
Predigtreihe über 1 Sam am 8. Dezember 1546 und die über 2Sam am 16. Dezember 1546, wie dies aus den Vermerken hervorgeht, die er am Ende der jeweils noch in Bern, Burgerbibliothek, erhaltenen Abschriften anbrachte; s. dort Ms B 26, f. 174r. 216r.
23 Vermutlich hatte Wolfgang Haller um Bullingers Predigten über Richter gebeten, zumal davon eine Abschrift von ihm erhalten ist, die am 2. März 1547 vollendet wurde; s. Bern, Burgerbibliothek, Ms B 26, f. 126v. — Zu Bullingers Predigtreihe über Richter s. HBBW XVII 190, Anm. 39.
24 Bullinger hatte zu Genesis vom 23. April 1536 bis 4. November 1537 gepredigt. Überliefert sind in Zürich ZB autographe Konzepte in Msc Car III 203 (84 lose Blätter) und autographe Notizen zu Genesis 1-4 und 14-48 in Msc Car III 195a (133 unfoliierte Blätter). Von dieser Predigtreihe hatte sich Wolfgang Haller nur von den von Bullinger zwischen dem 23. April und Juli 1536 gehaltenen Predigten Notizen gemacht, welche er am 12. Mai 1545, kurz vor seiner Hochzeit (s. unten Anm. 25), unterbrochen hatte. Diese sind in Bern Burgerbibliothek, Ms B 26, erhalten (das Abschlussdatum von Hallers Notizen ist aaO, f. 86r., angegeben).

Vale, domine ac pater colendissime, ac me semper ama et tibi commendatum habe. Salvam cupio omnem familiam tuam, uxor quoque mea 25 , quae plurimam tibi et illis suo nomine salutem scribi iubet. Vale denuo.

18. decembris 1546, Cappellae Tigurinorum.

Wolphgangus Hallerus tui colendissimus.

[Adresse auf der Rückseite:] Clarissimo viro domino Heinricho Bullingero, domino ac patri suo semper colendissimo. Tiguri.