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[1988]

[Ambrosius Blarer] an
Bullinger
[Konstanz],
18. September 1544

Autograph: Zürich StA, E II 357, 97 (Siegelspur) Teildruck und zusammenfassende Übersetzung: Blarer BW II 298, Nr. 1123

Der Kaiser soll Châlons[-en-Champagne] unter großen Verlusten eingenommen haben und dabei etliche Grafen [Graf Renatus von Nassau], unter anderem Wilhelm von Fürstenberg, verloren haben. Andrea [korrekt: Gianettino] Doria hat Galeeren des Papstes [Paul III.] gekapert, weil dieser ihm nicht das Geld zukommen ließ, das ihm von seinem Cousin, dem Kardinal [Gerolamo Doria], vermacht worden war; ferner hat der Papst auf listige Weise einen Verwandten [Ranuccio Farnese] zum [Erz-]Bischof von Neapel ernannt, welcher jedoch sogleich von [Ferrante I. Gonzaga] beraubt und verjagt wurde. Der neue Kurfürst [Friedrich II. von der Pfalz]will [die Reformation in]Heidelberg [einführen]und wünscht dazu die Hilfe von Philipp [Melanchthon]und [Martin]Frecht; der Diakon [Konrad Konstanzer]predigt mit

b Teilweise auf das nicht mehr erhaltene Verschlussband geschrieben.
3 Hardenberg reiste auf Kosten des Erzbischofs in das Elsass, die Schweiz und nach Oberdeutschiand; s. oben Nr. 1972, Anm. 1; unten Nr. 1997.
4 König Heinrich VIII.
5 Karl V.
6 Graf Wilhelm von Fürstenberg.
7 Wilhelm von Fürstenberg wurde vom 2. auf den 3. September bei der Erkundung einer Furt in der Marne gefangen genommen; s. Paillard 324-330; Johannes Volker Wagner, Fürstenberg 258f (mit weiterer Lit., aber falschem Datum der Festnahme).
8 Franz I.

großem Applaus das Evangelium in Ravensburg. Frankreichs Konnetabel [Anne de Montmorency] soll sich unter anderem mit Herzog [François I.] von Lothringen bei [Maria von Ungarn], der Schwester [Karls V.], um den Frieden bemühen; auch soll der Herzog von Orléans [Charles II.], der jüngere Sohn von [Franz I.], die Nichte des Papstes, die Witwe Vittoria [Farnese], heiraten; ferner sollen sich 5'000 türkische Reiter nach Buda begeben haben und Heuschrecken Österreich plagen.

Man schribt und sagt, der kaiser 1 hab Schalon 2 mitt dem sturm erobert, aber wol 8000 davor veloren[!], vyl treffelicher leut, under denen ettlich grauffen, ouch grauff Wilhalm von Furstenberg, der vor frantzösisch gewest sein soll, und ettlich hunderte edling. 3

Andre Doria 4 hat dem papst ettlich gale 5 nidergeworffen von wegen, das im ain cardinal, sein nechster vetter, 6 ettlich tausend ducaten verschafft und legiert 7 und im der papst 8 die selbigen nitt hat zustellen wellen, sonder gesagt, er hab des nitt gwalt; es seye gaistlich gut. So hat der papst ain vetter 9 intrudieren 10 wellen zu ainem bischoff in Neaplis wider iren bruch und freyhait; hat inn ouch hinein gepracht durch practic 11 12 ; aber darnach gleych ist der vicerey 13 zugefaren 14 , hat in geplundert unnd alles genommen, ouch inn verjagt 15 .

Heidelbergam restituere meditatur novus elector 16 , in qua re a operam Philippi 17 et Frechti 18 desiderat. 19 Apud Ravenspurgum Christi evangelium magno

a re korrigiert aus de.
1 Karl V.
2 Châlons-en-Champagne.
3 Auch bei Châlons kam es zu keiner eigentlichen Schlacht, sondern nur zu einer Art Stellungskrieg mit geringen Verlusten auf beiden Seiten, auch wenn dabei am 15. Juli 1544 Graf Renatus von Nassau (René de Chalon), Prinz von Oranien, umkam; s. Paillard 135-139. Zu Blarers Korrektur dieses Gerüchts s. unten Nr. 1994, 12-14. - Wilhelm von Fürstenberg wurde nicht getötet, sondern gefangen genommen; s. oben Nr. 1987, Anm. 7.
4 Nicht der Admiral Andrea Doria (1466-1560), sondern dessen Neffe Gianettino Doria (1510-1547), der von Andrea zum Stellvertreter zur See eingesetzt wurde und im August 1544 Galeeren des Papstes gekapert haben soll, eine Handlung, die vom Kaiser sogleich missbiligt wurde; s. Rozet/Lembey 135.
5 Galeeren.
6 Es handelt sich wohl um Kardinal Girolamo (Gerolamo) Doria (1495-1558), einen Sohn Andrea Dorias und somit Cousin von
Gianettino. Näheres zu dieser Geldangelegenheit ist nicht bekannt. - Lit.: Matteo Sanflippo, in: DBI XLI 333-336.
7 vermacht.
8 Paul III.
9 Cousin.
10 einsetzen, einführen.
11 Intrigen.
12 Ranuccio Farnese (1530-1565), ein Enkel Pauls III.. folgte 1544 Francesco Carafa als Erzbischof von Neapel. -Lit.: Gigliola Fragnito, in DBI XLV 148-160.
13 Ferrante I. Gonzaga (1507-1557), Vizekönig Siziliens, der jedoch damals an der Seite des Kaisers kämpfte.
14 scharf eingeschritten.
15 Das Gerücht ist falsch.
16 Friedrich!!. der Weise von der Pfalz (1482-1556).
17 Philipp Melanchthon; vgl. dazu MBW, Regesten IV, Nr. 3641.
18 Martin Frecht.
19 Friedrich II., der am 16. März 1544 seinem Bruder Ludwig V. als Kurfürst nachfolgte, war zwar nicht zuletzt wegen seiner engen Verbindung zu Karl V. nach außen hin katholisch, hatte aber als Pfalzgraf den oberpfälzischen

omnium plausu a quodam diacono 20 recens vocato predicatur, ut nemo dubitet Christum ibi regnaturum.

Affirmant Gallicum constabel 21 (ut vocant) b cum caesaris sorore 22 et ducibus nonnullis, inter quos etiam Lotharingus 23 , anxie laborare pro pace. 24 Item ducem Aureliacensem, regis Gallorum 25 juniorem filium 26 , viduae, cui Victoriae nomen 27 , neptis pontificis Romani 28 , connubium ambire. 29 Item 5000 equites Turcicos Budam venisse. 30 Item mirae magnitudinis locustas Austriam vexare. 31

b Die schließende Klammer ist ergänzt worden.
Landständen schon 1538 die freie evangelische Predigt und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gewährt. In Heidelberg selbst unterstützte Friedrich den reformatorischen Prediger an Heiliggeist und Theologieprofessor Heinrich Stoll, den er 1546 zum Rektor der Universität ernennen ließ. Friedrich selbst bekannte sich erst 1545 offen zum neuen Glauben, als er an Ostern das Abendmahl in beiderlei Gestalt einnahm. -Lit.: Anton Schindling und Walter Ziegler, Kurpfalz, Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Land und Konfession 1500-1650, Bd. 5: Der Südwesten, Münster 1993. - Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 53, S. 8-49, bes. 16-22; Hans Rott, Friedrich II. von der Pfalz und die Reformation, Heidelberg 1904. - Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 4, bes. S. 8f. 41-44.
20 Der Diakon der Liebfrauenkirche, Konrad Konstanzer aus Ehingen an der Donau, hielt am 29. Juni 1544 die erste lutherische Predigt in Ravensburg; vgl. Paul Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648, Wiesbaden 1983, S. 58-63, bes. 59.
21 Anne de Montmorency.
22 Maria von Ungarn, Statthalterin der Niederlande.
23 Herzog François I. von Lothringen, der seinem am 14. Juni 1544 verstorbenen Vater
nachgefolgt war. -Zu François' Beteiligung am Frieden s. z.B. Paillard 367f.
24 Der Friede von Crépy-en-Laonnois (Aisne); s. unten Nr. 1992, Anm. 8.
25 Franz I.
26 Charles II. (1522-1545), Herzog von Angoulême und Orléans.
27 Vittoria Farnese (1521-1602), die Tochter Pier Luigi Farneses; vgl. Pastor 500.
28 Paul III.
29 Die Vermählung kam nicht zustande. Andere Quellen sprechen von Verhandlungen über eine Heirat Herzog Charles' mit einer Tochter Karls V. (Maria von Spanien; 1528-1603) oder König Ferdinands (Anna von Österreich; 1528-1590); vgl. etwa Cardauns 346.
30 Nicht nachweisbar.
31 Die Nachrichten in diesem Absatz stammen aus einem Brief Bucers an Martin Frecht, aus dem Frecht wiederum einen Auszug in seinem Brief an Ambrosius Blarer vom 8. September 1544 zitierte (s. Blarer BW II, Nr. 1117, S. 287-289, bes. 289). - Ganz Mitteleuropa wurde besonders in der ersten Hälfte der 1540er Jahre immer wieder von Heuschreckenplagen heimgesucht; vgl. etwa Heinz-Dieter Krausch, Die Invasionen von Locusta migratoria migratoria L. (Orthoptera, Acrididae) in die Niederlausitz, in: Monatsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Mitteilungen aus Mathematik, Naturwissenschaft, Medizin und Technik, Bd. 8, Berlin 1966, S. 557-559 (hier S. 558); vgl. auch eine Mitteilung Melanchthons vom 20. September, dass König Ferdinand beim Einzug in Wien von einem Heuschreckenschwarm überfallen wurde (MBW, Regesten IV, Nr. 3689).

18. c septembris 1544.

[Adresse auf der Rückseite:] Incomparabilis doctrinae ac pietatis viro d. Heinricho Bullingero, domino ac fratri suo colendissimo etc. Zürich.