Projektseite Bullinger - Briefwechsel © Heinrich Bullinger-Stiftung
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Kapitel 

Einleitung

Es liegt in der Natur der Sache, daß die 26 Briefnachträge, die neben den Korrigenda und dem Gesamtregister den Hauptteil dieses Bandes ausmachen, ein noch bunteres Bild bieten als jeder einzelne Jahrgang von Bullingers Briefwechsel. In gewisser Hinsicht sind sie überraschenderweise trotzdem repräsentativ für die gesamte Korrespondenz, etwa darin, daß uns Bullinger in den meisten Fällen als Briefempfänger und nur bei rund einem Fünftel der Briefe als Verfasser begegnet. Einzelne seiner Korrespondenten sind allerdings auffallend übervertreten; dies gilt besonders für den Basler Gräzisten und Theologen Simon Grynäus, der nicht nur manchmal fast unentzifferbare, sondern oft auch undatierte Briefe nach Zürich sandte. Trotz der durch solche Zufälligkeiten bedingten Zusammenstellung geben die hier versammelten Dokumente doch erstaunlich umfassende Einblicke in die Arbeitsfelder und Interessen Bullingers.

Wenn auch immerhin zwei Schreiben von Bullingers Bruder Johannes die familiären und freundschaftlichen Beziehungen des Reformators beleuchten, so steht doch die weit überwiegende Zahl der Briefe in Bezug zu dessen Amtstätigkeit. Drei der Nachträge gehören allerdings noch in die Zeit vor seiner Wahl zum Nachfolger Zwinglis. Zeigt ihn der erste Brief noch als Lernenden, der in theologischen Fragen in Zürich um Rat nachsucht, so tritt er mit den beiden Widmungsvorreden von 1530 bereits als theologischer Autor in Erscheinung, dessen Publizistik, wie die Wahl der Adressaten belegt, in engem Zusammenhang mit seinem Wirken in Kappel und Bremgarten zu sehen ist. Mit dem Amtsantritt in Zürich erweitert sich der geographische und kirchenpolitische Horizont schlagartig, haben sich doch Bullinger und seine Kollegen bereits 1532 gegenüber Herzog Albrecht von Brandenburg als Verteidiger von Zwinglis Erbe zu bewähren. Neben dem Abendmahlsstreit, der auch zu Spannungen der eidgenössischen Kirchen untereinander führt, hat Bullinger weitere theologische Auseinandersetzungen zu bestehen; sein Konstanzer Freund und Kollege Johannes Zwick stellt ihm dafür eine (leider verlorene) christologische Skizze zur Verfügung. Als Leiter der Zürcher Kirche engagiert sich Bullinger auch für die Protestanten in den Gemeinen Herrschaften, wie die Bittschreiben aus Frauenfeld und Dießenhofen erkennen lassen. Aus Graubünden ersucht ihn Martin Seger, ein alter Freund Zwinglis, um Versorgung mit einer passenden Pfründe. In erster Linie hatte Bullinger allerdings um die Zürcher Geistlichkeit besorgt zu sein. Dass seine Bestrebungen zur Ausbreitung des Zürcher Reformationsmodells die Einsatzbereitschaft eines "Dieners der Kirche" stark strapazieren konnten, zeigt der Protest von Erasmus Schmid gegen seine erneute Entsendung ins elsässische Reichenweier. Besonders im Rahmen der Synode trug der Antistes entscheidend zur Disziplinierung der Geistlichkeit bei; dies läßt sich am Rechtfertigungsschreiben von Balthasar Stoll illustrieren, das im übrigen ein bemerkenswertes Zeugnis der humanistischen Bildung

eines fast unbekannten Landpfarrers darstellt. Ein junges Talent, das aus Bullingers Schule hervorging, ist Konrad Geßner, der in einer hier erstmals vollständig abgedruckten Widmungsvorrede seiner Verehrung für den verstorbenen Zwingli mit jugendlicher Begeisterung Ausdruck gibt. Bullingers oft gerühmte Fürsorge für den geistlichen Nachwuchs läßt sich zumindest indirekt an der Bitte des Schullehrers Diethelm Keller um Beschaffung von Kartenmaterial für den Unterricht ablesen. Nicht zuletzt ist der Großmünsterpfarrer auch Anlaufstelle für auswärtige Besucher, welche die Kirche und Schule von Zürich kennenlernen möchten und sich durch seine Korrespondenten an ihn empfehlen lassen.

Bullingers Engagement beschränkt sich aber nicht auf das Kirchen- und Schulwesen im engeren Sinn. So instruiert er einen ungenannten Berner Ratsherrn eingehend darüber, wie eine politische Annäherung Zürichs an Bern am geschicktesten angebahnt werden könnte. Seinen Basler Amtskollegen Oswald Myconius unterrichtet er ohne Verzug über den Beschluß einer Ratskommission zur Frage eines Bündnisses mit Württemberg. Nicht nur in Zürich und in den befreundeten reformierten Städten stehen ihm zuverlässige Informanten zur Verfügung, selbst aus der katholischen Innerschweiz erreichen ihn Nachrichten über eine wundersame Erscheinung, die einem Tagsatzungsabschied entnommen sind. Wenn daneben ein Brief des St. Galler Bürgermeisters Joachim Vadian mit Auskünften über einen antiken Münzfund Bullingers Leidenschaft für historische Altertümer dokumentiert, so rundet dies das Bild von seinen breit angelegten Interessen und Tätigkeiten in origineller Weise ab.

Hans Ulrich Bächtold . Rainer Henrich