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Basler Nachrichten

Der zerbrochene Krug

Aline ist zwanzig Jahre alt. Und überaus selbständig in vielen Dingen des Lebens. Auch in der Liebe lässt sie sich nicht, im Gegensatz zu manchen anderen jungen Mädchen, einfach mit geschlossenen Augen treiben. Sie weiss, dass es nicht immer ungefährlich ist, bis über beide Ohren verliebt zu sein, und deshalb geschieht gerade in der Liebe nichts ohne ihren klaren, festen Willen.

Aline stand eines Abends am Brunnen und schöpfte Wasser. In einen ganz neuen, wunderschönen Krug. Als sie den Krug aufnehmen wollte, um ihn nach Hause zu tragen, trat Thomas auf sie zu.

«Er ist viel zu schwer für dich, Aline. Lass mich den Krug tragen.»

Aline schüttelte sofort abwehrend den Kopf.

«Du hast Angst, ich könnte ihn zerbrechen?» fragte Thomas. «Ja, ich habe Angst, du könntest ihn fallen lassen!» nickte Aline.

Thomas warf ein: «Aber ich bin doch stärker als du, Aline.» «Du könntest stolpern, Thomas!» «Ich bin doch auch sonst sehr sicher auf den Beinen. Warum sollte ich gerade mit diesem Krug stolpern?» lachte Thomas ungläubig.

Aline antwortete nicht sogleich. Sie schaute Thomas prüfend in die Augen, dann sagte sie leise: «Du könntest, während du mit dem wertvollen Krug einhergehst, anstatt genau auf den Weg zu achten, immer nur auf mich schauen und vielleicht sogar einmal nach meiner Hand fassen wollen.»

Als Thomas dies hörte, errötete er. Aline hatte seine geheimsten Gedanken erraten. Aber nach kurzem Schweigen erklärte er gefasst: «Du brauchst keine Angst zu haben, Aline. Ich verspreche dir: Ich werde den Krug sorgsam tragen, als wäre er das Kostbarste der Welt!» Da war Aline zufrieden. Sie gab ihm den Krug. Und Thomas trug ihn dann auch mit so viel Sorgfalt, ja geradezu Andacht, wie noch niemals zuvor ein Krug getragen worden war, Jeden einzelnen seiner Schritte setzte er so genau, als hinge die Sicherheit seines Lebens davon ab und sein Blick war keine Sekunde lang auf etwas anderes gerichtet, als auf den Weg.

Und so erreichten sie schliesslich, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen Wasser verschüttet wurde, geschweige denn, der Krug selbst auch nur den geringsten Schaden erlitt, Alines Haus.

Aufatmend und zugleich stolz setzte Thomas den Krug ab.

Und auch Aline freute sich, dass alles so gut gegangen war. Freute sich wohl noch mehr über ihre eigene Weitsicht, um nicht zu sagen Klugheit, durch die sie verhindert hatte, dass aus Liebe eine Unachtsamkeit geschehen konnte. Stolz lächelte sie Thomas entgegen und fragte ihn: «Habe ich nicht recht gehabt? Verstehst du jetzt meine Warnung?»

Thomas strahlte. Seine Bewunderung für Aline war grenzenlos. «Du bist das gescheiteste, vernünftigste Mädchen der ganzen Welt!» lobte er sie überschwänglich.

Und obwohl für Aline diese Anerkennung nicht unerwartet kam, machten sie Thomas Worte sehr glücklich. «Nun sollst du aber doch nicht ganz ohne Lohn bleiben für deine grosse Mühe», sagte sie leise.

Noch bevor Thomas recht erfasste, was geschah, hatte Aline rasch ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Und dann küsste sie ihn. Und während sie ihn küsste, hob sie sich, da Thomas viel grösser war als sie, auf die Spitze ihres linken Fusses und schwang dabei den rechten Fuss ein wenig nach rückwärts. So traf sie den kostbaren Krug, der am Boden stand. Der Krug fiel um und zerbrach. H. Br.