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Kapitel 

Hauffs Werke

Fünfter Teil Novellen

Herausgegeben von

Max Drescher

Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Sang & Co.



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Seite

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . , , , , , , {7}

Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {21}

Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich . . {23}

Die Bettlerin vom Pont des Arts. . . . . . . . . . {28}

Othello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {116}

Jud Süß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {154}

Die Sängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . {213}

Die letzten Ritter hon Marienburg . . . . . . . . . {254}

Das Bild des Kaisers . , , . . . . . . . . . . . {306}

3.

Man hatte den Kommerzienrat Bolnau noch nie so ernst und düster durch die Straßen schleichen sehen wie damals, als ihn der Doktor Lange vor dem Palais verließ. Sonst war er munter und rüstig einhergeschritten, und wenn er mit dem freundlichsten Lächeln alle Mädchen und Frauen grüßte, mit den Männern viel lachte und ihnen allerlei Neues erzählte, so hätte man ihm noch keine sechzig Jahre zugetraut. Er schien auch alle Ursache zu haben, fröhlich und guter Dinge zu sein; er hatte sich ein hübsches Vermögen zusammenspetuliert , hatte sich, als es genug schien, mit seiner Frau in B. zur Ruhe gesetzt und lebte nun in Freude und Jubel jahraus, jahrein. Er hatte einen einzigen Sohn gehabt; dieser sollte die Laufbahn des alten Herrn auch durchlaufen und handeln und sich umtun im Kommerz ; so wollte er es haben.

Der Sohn aber lebte und webte nur im Reich der Töne; die Musik war ihm alles, der Handel und Kommerz de: Vaters war ihm zu gemein und niedrig. Der Vater hatte einen harten Sinn, der Sohn auch; der Vater brauste leicht auf, der Sohn auch; der Vater stellte gleich alles auf die Spitze, der Sohn auch; kein Wunder, daß sie nicht miteinander leben konnten. Und als der Sohn sein zwanzigstes Jahr zurückgelegt hatte, war der Vater fünfzig; da brach er ab, sich zur Ruhe zu setzen und wollte dem Sohn den Handel geben. Es war auch bald alles in Richtigkeit und Ruhe; denn in einer schonen Sommernacht war der Sohn nebst einigen Klavierauszügen verschwunden , kam auch richtig nach England und schrieb ganz freundschaftlich, daß er nach Amerika gehen werde. Der Kommerzienrat wünschte ihm Glück auf den Weg und begab sich nach B.

Der Gedanke an den Musiknarren, wie er seinen Sohn nannte, trübte ihm zwar manche Stunde; denn er hatte ihn ersucht, sich nie mehr vor ihm sehen zu lassen, und es stand nicht zu erwarten, daß jener ungerufen wiederkehre; es wollte ihn zuweilen bedünken, als habe er doch töricht getan, als er ihn durchaus im Kommerz haben wollte; aber die Zeit, Gesellschaft und seine heitere Laune ließen diese trüben Gedanken nicht lange aufkommen; er lebte in Jubel und Freude, und wer ihn recht heiter sehen wollte, durfte nur zwischen elf Uhr und mittag durch die Breite Straße wandeln. Sah er dort einen langen, hagern Mann, dessen sehr moderne Kleidung, dessen Lorgnette und Reitpeitsche, dessen bewegliche Manieren nicht mehr recht zu seinen grauen Haaren passen wollten, sah er diesen Mann



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nach allen Seiten grüßen, alle Augenblicke bei diesem oder jenem stillstehen und schwatzen und mit den Armen fechten, so konnte er sich darauf verlassen, es war der Kommerzienrat Bolnau.

Aber heute war dies alles ganz anders. Hatte ihn schon zuvor die Erdungsgeschichte der Sängerin fast zu sehr affiziert, so war ihm das letzte Wort des Doktors in alle Glieder geschlagen. "Bolnau" hatte die Fiametti noch gesagt, ehe sie vom Bewußtsein kam. Seinen eigenen ehrlichen Namen hatte sie unter so verfänglichen Umständen ausgesprochen! Seine Knie zitterten und wollten ihm die Dienste versagen, sein Haupt senkte sich auf die Brust sorgenvoll und gedankenschwer . "Bolnau!' dachte er, "Königlicher Kommerzienrat! Wenn sie jetzt stürbe, die Sängerin, wenn das Mädchen dann ihr Geheimnis von sich gäbe und den Polizeidirektor mit den näheren Umständen des Mordes und mit dem verhängnisvollen Worte bekannt machte! Was kann nicht ein geschickter Jurist aus einem einzigen Wort argumentieren, besonders wenn ihn die Eitelkeit anfeuert, in einer solchen Cause célèbre seinen Scharfsinn zu zeigen." Er lorgnettierte mit verzweiflungsvollen Mienen das Zuchthaus, dessen Giebel aus der Ferne ragte. "Dorthin, Bolnau, aus ganz besonderer Gnade und Rücksicht auf mehrjährige Dienste!"

Er atmete schwerer, er lüftete die Halsbinde; aber erschreckt fuhr er zurück. War dies nicht der Ort, wo man das hanfene Halsband umknüpfte? War nicht dies die Stelle, wo das kalte Schwert durchging ?

Begegnete ihm ein Bekannter und nickte ihm zu, so dachte er: "Holla. der weiß schon um die Sache und will mir zu verstehen geben, daß er wohl unterrichtet sei." Ging ein anderer vorüber, ohne zu grüßen, so schien ihm nichts gewisser, als daß man ihn nicht kennen, sich nicht mit dem Umgang eines Mörders beflecken wolle. Es fehlte wenig, so glaubte er selbst, er sei schuldig am Mord, und es war kein Wunder, daß er einen großen Bogen machte, um das Polizeibureau zu vermeiden; denn konnte nicht der Direktor am Fenster stehen, ihn erblicken und herausrufen: "Wertester, beliebt es nicht, ein wenig heraufzuspazieren? Ich habe ein Wort mit Ihnen zu sprechen!" Verspürte er nicht schon jetzt ein gewisses Zittern, fühlte er nicht jetzt schon seine Züge sich zu einem Armensündergesicht verziehen, nur weil man glauben könnte, er sei der, den die Sängerin mit ihrem letzten Worte angeklagt?

Und dann fiel ihm wieder ein, wie schädlich eine solche Gemütsbewegung für seine Konstitution sei; ängstlich suchte er nach Fensterscheiben, um sich ruhig zu zählen; aber die Häuser und Straßen tanzten um ihn her, der Glockenturm schien sich höhnisch vor ihm zu neigen, ein wahnsinniges Grauen erfaßte ihn, er rannte durch die



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Straßen, bis er erschöpft in seiner Behausung niedersank, und seine erste Frage war, als er wieder ein wenig zu sich gekommen, ob nicht ein Polizeidiener nach ihm gefragt habe.


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