Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[749]

Bullinger an
Oswald Myconius
Zürich,
18. Februar 1536

Autograph: Zürich StA, E II 342, 57r.-v. (Siegelspur) Ungedruckt

Dankt für das [den Zürchern bei der Zusammenkunft in Basel]entgegengebrachte Wohlwollen und verweist auf sein Schreiben an Grynäus über die günstige Aufnahme des [Ersten Helvetischen] Bekenntnisses in Zürich. Berichtet über eine tätliche Auseinandersetzung in Luzern, bei der ein Eremit von Hergiswald, der eine Witwe bedrängt hatte, mehrere Personen, darunter Hauptmann Jakob Martin, niederstach und schliesslich von Mangold von Wil getötet wurde; am selben Tag war ein gewaltiger Knall zu hören, den viele als göttliche Warnung deuten.

Gratiam et pacem a domino.

Non possum tibi, venerande mi Myconi, frater charissime, condignas referre gratias pro ista vestra omnium benevolentia et humanitate 1 . Dominus sit merces tua et reliquorum omnium. Domino Gryneo retuli 2 , quanta cum gratulatione senatus noster audierit confessionis conscriptae, denique omnia acti conventus capita. Ab isto requires. Non gravabitur tibi, opinor, ea refferre. Quod enim illi scribo, tibi scribo, et quod tibi, isti scribo. Summam enim inter vos concordiam esse et vidi et maximo cum animi gaudio caeteris fratribus nostris retuli. Faxit deus, ut ubique nos mutuo diligamus fratres.

Aber seltzam wunder ist ze Lutzeren fürggangen 8. februarii, das vil menschen für ein portentum 3 halltend. Es hatt sich ein waldbruder 4 usset 5 Lutzernn

1 Bullinger hatte Anfang Februar in Basel an der Zusammenkunft teilgenommen, die zur Annahme des Ersten Helvetischen Bekenntnisses führte; s. oben Nr. 737, Anm. 1.
2 Der Brief an Grynäus ist nicht erhalten, vgl. aber den Bericht, den Bullinger am 18. Februar an Bucer sandte (oben Nr. 748, 6-12).
3 schreckliche Geschichte. — Zum folgenden Bericht über die Mordtat eines Eremiten vgl. die sehr detailreiche Schilderung des Vorfalls im Tagebuch von Hans Salat (Hans Salat, ein Schweizerischer Chronist und Dichter aus der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts. Sein Leben und seine Schriften, hg. v. Jacob Baechtold, Basel 1876, S. 50-52; vgl. auch Johannes Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger thaaten beschreybung, Bd. II, Zürich 1547, f. 196r.). — Noch im Jahre 1600 wurde unter Hinweis auf dieses
Verbrechen der Beschluss bestätigt, in Luzern keine Waldbrüder mehr zu dulden; vgl. Renward Cysat, Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae, bearb. v. Josef Schmid, Erste Abteilung: Stadt und Kanton Luzern, Bd. II/1, Luzern 1977, S. 31.
4 Der Eremit Hans Selberysten (Silberrysten), geb. um 1500, aus den Niederlanden, war ein ehemaliger Soldat und lebte seit einigen Jahren als Büßer in Hergiswald. 1531 soll er bei Kappel mitgekämpft haben und verwundet worden sein. Der Chronist Stumpf schreibt ihm angesichts "seltzamer abentheür und phantasey" ein "zerstört gemut" zu; Salat berichtet, er habe unstet gelebt und sei wegen seines verwirrten Auftretens mehrmals in Ketten gelegt worden. — Lit.: Geschichte und Beschreibung der Wallfahrtskirche Hergiswald. Geschichte der Wallfahrt und Beschreibung der Kirche


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imm Erisswald 6 enthallten 7 , der hatt sich die zyt har für ein vatem 8 ussgäben; hatt ouch groß uffsähen und ein namen by inen gehept, dann er inen vor dem Cappler krieg gewyssagt, es werde inen wol gen 9 etc. Der ist 8. februarii inn Lutzern kummen, gantz schneewyss uff waldbrüder wyß bekleyt. Ist in einer wyttwen huß 10 hart by Jacob Martins 11 huß ynkeert; da hatt er die frowen frävenlichen angefallen und sy wöllen beschlaffenn. Allß nun der frowen lechman 12 da gewäsen, hatt er den bruder abgenommen 13 . Deß hatt der bruder die frowen verlassen, ist ann den lähenman geradten und hatt inn mitt einem dolchen ze todt gestochen. Die frow ist inn vogt Martins huß geloffen, hatt geschruwen. Der bruder und wund man 14 herab uß dem huß. Unden ist ein guter xell 15 xin, hatt höw herzugefürt, der hatt nun ouch wöllen scheyden 16 ; ist der bruder aber 17 zugefaaren und hatt den uff der statt ze todt gestochen. In dem ist ouch houptman Martin herzugeloffen und ein knächt 18 ; die beyd hatt der nollhart 19 ouch uff den huffen gestochen, insonders, dass Jacoben Martin das netz 20 heruss gehanget ist, und beyd für todt dannen tragen, wie wol man sagt noch nitt, dass entwäderer 21 gestorben. Inn dem ist Mangold vonn Wyl 22 herzu geloffen und hatt sin rapier 23 durch den bruder gestochen,
v. Joseph Scherer, neu bearb. v. Joseph Zemp. Erklärung der Deckenbilder v. Grete Lesky, 3. Aufl., Luzern 1964, S. 14f.
5 ausserhalb von.
6 Hergiswald bei Luzern, seit 1489 Sitz von Eremiten; vgl. HBLS IV 191.
7 aufgehalten.
8 Seher, Weissager.
9 wohl ergehen.
10 Im Haus der Witwe des Ratsherrn Heinrich Ab Yberg (s. Kasimir Pfyffer, Geschichte der Stadt und des Kantons Luzern, [Teil 1], Zürich 1850, S. 280). Laut Salat hatte die Frau den Eremiten nach dessen Verwundung in ihrem Haus gepflegt.
11 Jakob Martin (Marti), gest. 1547, von Luzern, seit 1520 Mitglied des Großen Rates, trat 1521 als Hauptmann in den Dienst des Papstes (vgl. HBRG I 54). 1527-1529 war er Vogt zu Beromünster (Kt. Luzern), und ab 1531 gehörte er dem Kleinen Rat an. Im Zweiten Kappeler Krieg führte er eine Abteilung der fünförtischen Truppen (vgl. HBRG III 187; Meyer, Der Zweite Kappeler Krieg, Reg.). 1531-1533 amtete er als Vogt zu Büron und Triengen, 1541-1543 und 1545-1547 als Vogt zu Willisau (alle Kt. Luzern). Zwischen 1542 und 1546 trat er oft als Tagsatzungsgesandter in Erscheinung.
— Lit.: Cysat, aaO, Bd. I/2 795. 1012; II/1 227; Z XI 104; ASchweizer-Ref.; EA III/2-IV/1e, Reg; HBLS V 39; Amterlisten im StA Luzern (in Bearbeitung; freundliche Auskunft von Herrn lic. phil. I Markus Lischer, Luzern).
12 Pächter (SI IV 266f). — Nach Salat ein armer Mann von Schwyz namens Peter, der - wie viele andere arme, "torechte" Leute - im Haus der Frau Ab Yberg wohnte.
13 abgehalten (SI IV 732f).
14 und der Verwundete.
15 Beim zweiten Opfer handelte es sich laut Salat um einen Mann, der in Hergiswald auf Gütern von Jakob Martin saß und "der Gätzi"(Pankraz) genannt wurde.
16 die Streitenden trennen (SI VIII 230-232).
17 abermals.
18 Nicht namentlich bekannt.
19 abschätzige Bezeichnung für einen Laienbruder (Grimm VI 1144f; VII 879f; SI II 1644).
20 Gemeint ist das über den Darm herabhängende Bauchnetz (omentum maius).
21 einer von den beiden (SI XV 493).
22 Mangold von Wil (Wyl), von Luzern, gest. 1543 oder Anfang 1544, war 1520 Pfleger in Hergiswald, 1523 Mitglied des Großen und 1527 des Kleinen Rates, 1525 Vogt zu Weggis, 1531-1533 Vogt


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dass er ouch da by den andern uff dem platz todt geplyben etc. Das ist alles gewüss war. ||57v. Nun sagend ettlich, wie der bruder gefallen, habe er geschruwen: "Jesus Maria, ich hab denocht den minen uffgemacht 24 ." Dann selbs tritt 25 ist er todt blyben. Die zwen hatt man für todt dannen tragen. Dannen sagend ettlich gantz heyter 26 , wie man inn usszogen, habe man under dem wyssen bruder kleyd funden an sinem lyb ein teylt par 27 hosen, zerschnitten 28 uff das aller bübisch 29 , und ein hembd mitt gold gemacht, kostlicher dann 1 kronen etc. Das ist aber gewüss, das man deß selben tags ein sölichen fragorem und klappff gehört, allss ob zwen berg werind yngefallen. Vil lüten ze Lutzern habends gehept 30 für ein donnerklappff. Vil sind der lüten inn unserm gepiet, die den knall gehört und mir mitt iro mund selbs gesagt. Vil rächnends für ein grosse warnung.

Vale. Obtundo te tragaedia fatali.

Tiguri, 18. februarii 1536.

H. Bullingerus tuus.

[Adresse darunter:] Domino Osvaldo Myconio, Basileiensis ecclesiae pastori fidelissimo, fratri in domino plurimum observando.

zu Habsburg und 1535-1537 sowie 1539-1541 Vogt zu Ruswil (alle Kt. Luzern). 1531 nahm er am Feldzug gegen Zürich teil. 1540-1543 amtete er als Seckelmeister, 1543 als Schultheiss von Luzern. — Lit.: Theodor von Liebenau, Die Schultheissen von Luzern, in: Der Geschichtsfreund 25, 1880, S. 136; HBLS VII 529; Amterlisten im StA Luzern (vgl. oben Anm. 10).
23 Raufdegen (SI VI 1187).
24 aufgespielt (SI IV 41). — In der Wiedergabe der letzten Worte des Eremiten weichen die Berichte erheblich voneinander ab.
25 selbdritt, zusammen mit zwei anderen.
26 offen, ausdrücklich (SI II 1769f).
27 aus verschiedenfarbigen Stücken zusammengesetzte (SI XII 1580f).
28 modisch geschlitzt (SI IX 1122).
29 äusserst frech, schändlich (Grimm II 466).
30 gehalten.