Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

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Joachim Vadian
an Bullinger
St. Gallen,
[zwischen Sonntag und Mittwoch, 26. und 29.]1 Februar 1548

Autograph: Zürich StA, F II 351, 63 (Siegelrest) a Druck: Vadian BW VI 706f Nr. 1597

[1]Vadian kann sich nicht verkneifen, den vielbeschäftigten Bullinger nicht nur (wie so oft) mit ernsthaften Angelegenheiten, sondern auch mit kurzweiligen Nachrichten zu belästigen oder gar zu erfreuen. -[2]Kürzlich hat einer [N.N]die Tragödie "Passio. Wie der Durchleüchtigst hochgeborn Fürst und Herr, Herr Johanns Friderich Hertzog zu Sachssen [..] Von Kayser Karel dem fünfften [..]bekriegt unnd gefangen ist worden"] über die Gefangenschaft [von Johann Friedrich I., Kurfürst von Sachsen,]und über die Niederlage aller [schmalkaldischen]Städte in Form einer Leidensgeschichte des Kurfürsten verfasst und dafür die Passion Christi wortreich und in schändlicher Weise verdreht. Und es gibt nichts, das Vadian mehr missfällt als zu sehen, wie diese Spottschriften eine so heilige und wahrhaft göttliche Sache in so übler Weise verunstalten und regelrecht öffentlich verhöhnen. Viel lieber als diejenigen, die sich nicht scheuen, die Heilige Schrift für weltliche (wenn auch erinnerungswürdige) Ereignisse in anstößiger Weise zu missbrauchen, sind ihm jene Dichter, die auf Grundlage von [antik-paganen] Werken christliche Gedichte zusammenstellen (obwohl Hieronymus selbst [solche Werke] wiederholt verurteilt). Derjenige, der Vadian zum Lesen des Stücks aufgefordert hat, erregte daher dessen Zorn. Vadian schickt Bullinger die Schrift, damit dieser selbst feststellen kann, was für einen Wahnsinn man sich in dieser furchtbaren Zeit erlaubt. Die übrigen Schriften, die Vadian anbei schickt, sind lesenswert. Sie drücken nämlich ein gewisses Mitgefühl aus und mahnen zudem off en die mehr als tyrannische Verschlagenheit an, zu welcher [Kaiser Karl V]neigt, der nach eigenem Urteil nur Gott untersteht. -[3]Karl V. hat vergangene Woche auf einer

a Mit Schnittspuren
1 Das von Vadian angegebene Datum, der 25. Februar 1548, kann nicht zutreffen, weil die unten in Z. 19-21 geschilderte Verleihung der Kurfürstenwürde am Freitag, dem 24. Februar 1548, gegen drei Uhr in Augsburg begann. Damit Vadian tatsächlich bereits am Folgetag hierüber berichten könnte, hätte der Bote die Strecke von etwa 185 Kilometern zwischen Augsburg und St. Gallen innerhalb kürzester zeit zurücklegen müssen. Bei dieser Distanz sind aber selbst für einen Reiter in der Regel mehrere Tage zu veranschlagen. Außerdem legt Vadian die Augsburger zeremonie in die "vergangen Wochen"(unten z. 19). Da diese jedoch an einem Freitag stattfand, kann Vadian den vorliegenden Brief frühstens am Sonntag, dem 26. Februar 1548, verfasst haben,
um von der vergangenen Woche schreiben zu können. Da nicht davon auszugehen ist, dass sich Vadian sowohl bei der Tages-als auch bei der Monatsangabe geirrt hat, wird er den Brief im Schaltjahr 1548 spätestens am Mittwoch, dem 29. Februar, niedergeschrieben haben; s. Roth, Augsburg IV 94f; Achilles Pirmin Gasser, Der Heiligen Reichstatt Augspurg in Schwaben Chronica, hg. y. Wolfgang Hartmann, Bd. 3, Basel 1596 (VD16 G507), S. 67; Nicolaus Mameranus, Kurtzer Bericht, welcher gestalt Kaiser Carl der fünfft etc. Hertzog Moritzen [...] Mit dem Ertz-Marschalch Ampt [...] belehenet hat, Augsburg 1548 (VD16 M433; s. auch M434 und ZV27969).


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großen Bühne auf dein Augsburger Weinmarkt Amtslehen verliehen. Herzog Moritz von Sachsen erhielt feierlich die Kurwürde und mit dem [Blut]banner Teile Blutgerichtsbarkeit]. -[4]Beinahe alle Fürsten sind noch Lin Augsburg] und halten Rat. Die [Vertreter] der Reichsstädte sollen dabei nicht berücksichtigt werden. -[5]Karl V. soll seine Wachtmeister und Kriegsknechte aufgefordert haben, alljene zu melden, die Lazarus von Schwendi ehrverletzend verunglimpft haben, nachdem sie die letzten Worte von Sebastian Vogelsberger vor dessen Hinrichtung gehört hatten. So sollen diese an Leib und Gut gestraft werden können. -[6]Der Scharfrichter [NN]soll, wie man glaubhaft berichtet, allen Sympathisanten Frankreichs nach der Enthauptung der drei Männer [Vogelsberger, Jakob Mantel und Wolf Thomas]öffentlich gedroht haben: Wenn sie sich nicht vorsahen, werde sie die gleiche Strafe ereilen! -[7]Der französische König Heinrich II. soll sich daher in Acht nehmen! Denn viele zweifeln nicht daran, dass der Kaiser ihm nicht nur im eigenen, sondern im Namen aller Fürsten befehlen wird, Herzog Karl III. von Savoyen die Länder dies- und jenseits der [Alpen]zurückzugeben. -[8]Bullinger wird zudem [noch]sehen, dass auf dem Reichstag weitreichende Pläne zur Wiedereinverleibung der Eidgenossenschaft ins Reich gefasst wurden. Ach, möge sich das doch zum Guten wenden und nicht den Eidgenossen, sondern den Urhebern solcher Pläne schaden! -[9]Vadian geht davon aus, dass [der Kaiser]seine Beschlüsse gänzlich als die der Reichsstände ausgegeben wird. Und diesen wird man sich freiwillig unterwerfen müssen, wenn man nicht in kaiserliche Ungnade fallen möchte. Und niemand [aus den Reichsständen](die doch so ehrlich sind!) gibt zu, dass dieses Vorgehen gegen die [evangelischen, noch nicht mit dem Kaiser ausgesöhnten]Reichsstädten und die Eidgenossen gerichtet ist! -[10]Die Zürcher mögen ihre Häupter emporheben [Lk 21, 28]! Grüße.

||63v. S. Mihi imperare non possum, colende Bullingere, quin te vel occupatissimum non seriis modo (quod saepe tamen soleo), sed ludicris etiam et nugis nescio obruam, dicam, an oblectem.

Nuper quidam tragoediam 2 illam captivitatis Saxonicae et totius urbium calamitatis in historiam convertit passionis electoris eamque ad rem abusus est hystoria passi Christi, quam vafre admodum et argute detorsit. Sed nihil est, quod mihi plus displiceat, quam dum video pasquillos illos tanta libidine et procacitate rem tam sanctam ac vere divinam sensibus tam foedis et affectatis viciare et tantum non palam traducere. Et longe gratiores mihi sunt, qui de poetarum fabulis centones consuunt, religioni nostrae subscribentes (quanquam et ipsos alicubi damnet Hieronymus), quam qui prophanas ad res, quantumvis memoratu dignas, eloquio illo

2 Gemeint ist der auf das Jahr 1548 datierte, vermutlich in Augsburg erschienene Druck "Passio. Wie der Durchleüchtigst hochgeborn Fürst und Herr, Herr Johanns Friderich Hertzog zu Sachssen, des Hayligen Roemischen Reychs Ertzmarschalck und Churfürst etc. Von Kayser Karel dem fünfften (auf verhengknus Gottes, unnd verlassung seiner Bundtßverwandten) bekriegt und gefangen ist
worden"(VD16 P896; Titelangabe gemäß Bi. Aii,r). -Bei dem in Zürich ZB vorhandenen Druck Ms S 66, 85a (Dr 1), dessen Titelblatt fehlt und der in der Briefsammlung von Johann Jakob Simler (1716-1788) aus dem 17. Jh. der Abschrift des vorliegenden Briefes beigeordnet ist, handelt es sich womöglich um das Bullinger zugeschickte Exemplar.


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coelesti non sine grandi scandalo abuti non verentur. Proinde nihil mihi nisi fellis multum ingessit, qui ludum illum, ut legerem, hortatus. Atque sane illum ipsum ad te mittere volui, ut, quanta sit plerorumque in his exulceratissimis temporibus insaniendi libertas, tute ipse considerares. Reliqua, quae mitto, non perinde indigna sunt, quae legantur. Habent enim aliquid commiserationis et praeter astum plus quam tyrannicum palam etiam admonent, quo tendat illius 3 animus, qui suo arbitrio uno tantum minor est Jove, e[tc]b .

Kayserliche maiestat hat die vergangen wochen lechen gelichen 4 auf amer großen pruggen 5 zu Augspurg amm weinmark und under anderm dem churfürsten Mauritzen daß churfürstenthümb c Saxen mit vil prachtz und ainem großen fannen 6 zugestelt. 7

Die fursten sind noch vasthin 8 all beyainandern, die gond ouch allain zu radt. Von den stetten säche man niemand an 9 .

Und soll der kayser seinen wachtmaistern und allem kriegsvolk zu Augspurg vorlesen ha-||63r. ben laßen, alle die anzüzaygen, die demm von Schwenden 10 auf Vogelspergers 11 gethane red an seinem abschaiden 12 seiner eren schmeleren und imm darzu 13 reden 14 weltend, damit dieselben nach gebür 15 an leyb und gut gestraft werden könnend.

Wie 16 der nachrychter 17 die drey mann endthouptet, [etc.], hat er (wie man glauplich 18 sagt) offentlich gerett, eß söllind sich alle, die frantzösisch 19 sind, wol ummsechen 20 : Dann wie eß denen 21 gangen sey, also werde es andern ouch gan.

Videat igitur de se tutando Gallus. Nam multi sunt, qui non ambigunt, quin legem ei certam et saeveram quidem praescripturus sit (non suo dumtaxat, sed principum omnium nomine) d caesar, ante omnia vero de terris cis et citra montanis

b Hier und unten Textverlust durch Papierverlust. -
c In der Vorlage churfürstenhümb. -
d Klammern ergänzt.
3 Gemeint ist Kaiser Karl V.
4 lechen geliehen: [Amts]lehen verliehen.
5 Bühne;s.SI V 542f.
6 Gemeint ist die Blutfahne (also die hohe Gerichtsbarkeit); s. Mammeranus, aaO, Bl. Bii,r.-Biii,r.; DRW II 379 s.v. Blutfahne.
7 Zur Verleihung des Marschallamtes, der Kurfürstenwürde und der Regalien an Herzog Moritz von Sachsen, die am 24. Februar 1548 öffentlich auf dem Augsburger Weinmarkt vollzogen wurde, s. Mameranus, aaO; Gasser, aaO und Roth, Augsburg IV 94f. -Vgl. auch den Brief Martin Frechts an Vadian vom 25. Februar 1548 (Vadian BW VI 705, Nr. 1596).
8 beinahe; s. SI ll 1348.
9 suche ... an: berücksichtige; s. SI VII 554.
10 Lazarus von Schwendi.
11 Sebastian Vogelsberger. - Er war zusammen mit Jakob Mantel und Wolf Thomas am 7. Februar 1548 in Augsburg hingerichtet worden; s. Nr. 3144, Anm. 7.
12 Tod; vgl. SI VIII 198 s.v. Abscheid.
13 imm darzu: ihn deswegen; s. SI XVII 94 darzue.
14 verunglimpfen; s. Si y i 574 s.v. zuereden.
14 nach gebür: in entsprechendem Maße.
16
17 Scharfrichter; s. SI VI 454. -Unbekannt.
18 verlässlich.
19 Frankreich zugetan.
20 vorsehen.
21 Gemeint sind Vogelsberger, Mantel und Thomas; s. oben Anm. 11.


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principi Sabaudic 22 restituendis.

Et videbis de nobis itidem in ordinem redigendis non levia illis in commitiis consilia captata. Quae utinam bene vortant 23 , nec in nostra, sed in authorum redundent capita!

Es wirt alles under demm hütlin 24 gemaine, usw., stenden dess reychs fürgetragen und angebotten werden mit demm anhang 25 : Wo man nit welle, daß man demmnach zu handlen verursacht 26 werde, d[ess] man lieber überhaben sein 27 wehe. Da wirt nun der kayser gern zu allen gnaden willig sein wellen, insofern wir dasjenig, so mit allen stenden dess reychs beschlossen, etc., auff unsern 28 hals ze legen und imme zu ghorchen, etc., urbüttig 29 sein werden. Es laßt sich der niemand 30 , gar ain warhaffter gesell, 31 heyter 32 merken 33 , daß spyl sey über die stett 34 und die Schweytzer angericht 35 .

Levate igitur capita vestra 36 et in domino valete. Sangalli, 25. februarii anno 1548. Vad.

[Adresse darunter:] Domino Henrych[o]f [Bullingero, ...] urbis Tigur[inae episcopo, ...].

c Am Rande nachgetragen. -
f Hier und im Folgenden Textverlust aufgrund der Entfernung des zum Verschluss verwendeten Papierstreifens: Bevor Vadian die Adresse auf dem Brief notierte, fädelte er zum Verschließen des Schreibens einen heute nicht mehr erhaltenen Papierstreifen in das zusammengefaltete und mit einem Schnitt versehene Blatt. Die anschließend niedergeschriebene Adresse muss sich teilweise auf diesen Papierstreifen befunden haben.
22 Herzog Karl III. von Savoyen. - Zum Gerücht über die kaiserlichen Pläne, dem Herzog zur Restitution von dessen 1536 an Bern und Frankreich verlorenen Gebieten zu verhelfen, s. zuletzt Nr. 3146,16.
23 = vertant.
24 under dem hütlin: mit betrügerischer Absicht; s. SI ll 1785; vgl. auch Wander II 951, Nr. 5. Nr. 8.
25 mit demm anhang: mit dem Zusatz; vgl. SI 111440.
26 veranlasst.
27 überhaben sein: verschont werden; s. SI II 892.
28 Gemeint sind die Eidgenossen.
29 willig; s. Grimm XXIV 2384 s.v. urbietig.
30 Zur Substantivierung vgl. SI IV 289; Grimm XIII 828.
31 Ironisch gemeint.
32 deutlich.
33 vernehmen.
34 Gemeint sind Konstanz und die noch nicht mit dem Kaiser ausgesöhnten Hansestädte Bremen und Magdeburg; s. HBBW XX, Nr. 3088, Anm. 10; Nr. 3145, Anm. 42. -Zu den entsprechenden Kriegsgerüchten s. zuletzt Nr. 3142,79-81.
35 daß spyl über ... angericht: das gilt den ... ; s. Wander 11540 s.v. gelten, Nr. 20.
36 Vgl. Lk 21, 28.