Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3117]

Joachim Vadian an Bullinger
St. Gallen,
Montag, 23. Januar 1548

Autograph: Zürich StA, E II 351, 61 (Siegelabdruck) a Druck: Vadian BW VI 698-700, Nr. 1590

[1]Bullinger soll auch den heiligenden Brief auf Bitten ihres gemeinsamen Freundes Hieronymus Sailer an Francisco de Enzinas nach Basel schicken. Die Freundschaft zwischen Sailer und dem gelehrten und umgänglichen Enzinas lässt es nicht seltsam erscheinen, wenn sie sich immer wieder viele Briefe hin und her schreiben. -[2]Das Geltungsbedürfnis des Antronius [Abt Diethelm Blarer von Wartensee] ist Vadian bekannt. Er staunt darüber, dass sich der maßlose Ehrgeiz und die Geisteshaltung dieses Menschen so weit von seinem Ordensgelübde entfernt haben. Er weiß aber, dass der Abt weitaus mehr als andere mächtige Fürsten Kaiser Karl V zugetan war und bei dieser Haltung geblieben ist, es sei denn, er sei unterdessen wankelmütig geworden. Er hat nämlich in den letzten Jahren in bewundernswerter Weise mit den Kaiserlichen zusammengearbeitet. Vadian weiß allerdings nicht, ob nur in seinem oder auch in anderer Namen. -[3]Aus Lyon berichten [sich dort aufhaltende] St. Galler, dass König Heinrich II. von Frankreich einige gut gerüstete Abteilungen von Reitern und Fußsoldaten nach Niederburgund, das sie Bourg-en-Bresse nennen, verlegt hat. Einige meinen, sie sollen der Verteidigung dienen, es gibt aber auch andere Vermutungen. Viele denken dabei an Straßburg und glauben zu wissen, dass es der französische König auf diese Stadt abgesehen hat. -[4]Es soll sicher sein, dass Karl V den Abschaum italienischer und spanischer Soldaten, die zuvor in den schwäbischen Städten verstreut waren, nun gegen Württemberg zusammenzieht. -[5]Auch wurde, so berichtet man, das ganze Donaugebiet,

a Ohne Schnitt- oder Nadelstichspuren.
zuvor für die Amtsenthebung Sulzers ausgesprochen; s. Nr. 3176,39f Beze, Corr. XXIX 39; Johannes Haller, Ephemerides, Quibus ab anno 1548 ad 1565 continetur, quidquid fere in utroque statu Bernae accidit, cum nonnullis aliis in: Museum Helveticum ad juvandas literas in publicos usus apertum 5 (1747), S. 80; Hundeshagen 207-209; Crousaz, L'Académie
404-407.
143 land fürgan: zulassen.
144 Pfarrer Johannes Zehnder, Dekan von Aarau; s. HBBW II, Nr. 91, Anm. 1. -Als Dekan oblag die Amts- und Lebensführung u.a. der Prädikanten des bernischen Aargaus seiner Verantwortung; s. Pf-Aargau 28.
145 Gemeint sind Göppel und Schürmeister.


briefe_vol_21-105arpa

das zuvor im Machtbereich von Pfalzgraf Ottheinrich von Pfalz-Neuburg lag, vom Kaiser an den bayerischen Herzog Wilhelm IV verkauft oder zumindest verpfändet. Wilhelm IV soll Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von Alba, deswegen 20'000 Gulden bezahlt haben, die der Kaiser diesem verdienten Helden schenkte. -[6]Es ist schrecklich, wie schlimm die [kaiserlichen]Garnisonen in Nördlingen, Bopfingen, Giengen an der Brenz, Dinkelsbühl und Ulm sich fortwährend an den Frauen, Kindern und Bediensteten vergehen. Möge Gott dies beenden! -[7]Täglich treffen vertrauenswürdige Nachrichten ein, dass Karl V die Eidgenossen nicht angreifen wird, solange er sie nicht durch Bestechungen voneinander spalten kann. Bei den Berichten schwingt die Befürchtung mit, dass schon eine hohe Bestechungssumme vom Kaiser gezahlt worden sei. Vadian selbst weiß nicht, was er davon halten soll. Gott möge eine Spaltung der Eidgenossen verhüten! Insgeheim kursiert das Gerücht (und das sei nur Bullinger anvertraut!), dass eine Stadt der Eidgenossenschaft dem Kaiser bereits Zugeständnisse gemacht habe. Mit Bedauern wird berichtet, dass man sich vor Verrat und Trennung vorzusehen habe, falls sich Bern bereits dem Kaiser zugewendet hätte. Möge es Gott verhindern! Vadian aber denkt eher an Luzern, von wo man von einen Wechsel im Schultheißenamt berichtet. Er vertraut jedoch den altgläubigen Orten völlig und hält es mit dem von Aulus Gellius wiedergegebenen Verslein von Ennius, dass man die Gerüchte nicht vor das Gemeinwohl setzen soll. -[8]Grüße. Bullinger soll die für St. Gallen relevanten Nachrichten [von der Badener Tagsatzung]mitteilen.

S. Et has literas 1 , his meis inclusas, ut ad Dryandrum 2 nostrum Basileam perferendas cures, sedulo te rogat Saylerus 3 , communis amicus noster. Multa enim ipsi cum homuncione tam docto et commodo et amicitia et familiaritas est, ut nihil mirum sit, si ultro citroque plurimas illi ad se invicem literas missitent.

De Antronii 4 ambitione intellexi. Miratus sum hominis immodicam cupiditatem et animum a sua professione longe alienissimum. Scio autem illum ipsum longe proniore in caesarem 5 animo quam in quemquam alium quantumvis potentem principem dudum fuisse nec mutasse sententiam, nisi polii, quod dicitur, folium est. 6 Mire enim annis proxime praeteritis cum caesarianis collusit. An sui solius, an aliorum nomine, nescio. 7

1 Nicht erhalten.
2 Francisco de Enzinas.
3 Hieronymus Sailer. - Bereits Vadians Brief vom 12. Januar 1548 (Nr. 3108,1-4) enthielt eine an Bullinger gerichtete Bitte Sailers um die Weiterleitung eines womöglich von Matthias Claudius an Enzinas gerichteten Briefes.
4 Zu der polemischen Bezeichnung des St. Gal- 1er Abts Diethelm Blarer von Wartensee als Antronius vgl. HBBW XVII, Nr. 2518, Anm. 5. - Zu dessen Wunsch, einen eigenen Abgesandten zur der Taufe von Claude de France, Tochter von König Heinrich II. von
Frankreich, zu schicken, s. Nr. 3109,15f.
5 Karl V.
6 nisi polii ... folium est: "Wenn er sich nicht wie ein Poleiminzblatt verhält". - Gemeint ist hier: wenn er wankelmütig geworden ist; s. Polydorus Vergilius, Proverbiorum liber, Straßburg 1510 (VD16 V769), f. 8v.
7 Diethelm Blarer leistete Karl V. während des Schmalkaldischen Krieges nicht nur selbst, sondern vermutlich auch über den Abt von Weinheim, Gerwig Blarer, finanzielle Unterstützung; s. HBBW XVII, Nr. 2574,20-27 mit Anm. 21.


briefe_vol_21-106arpa

E Lugduno 8 scribunt nostri 9 , Gallum 10 instructissimas turmas equitum aliquot peditumque catervas in Burgundiam illam declivem seu submontanam 11 , quam ipsi pressam, hoc est humilem, Burgunpress 12 , vocant, immisisse b . Eas sunt, qui putant, praesidio futuras. Alu alia suspicantur. Multi de Argentorato 13 cogitant nescio quae, et earn urbern Gallo chararn esse sibi persuadent.

Certum aiunt esse, caesarern fecern illam militiae Italice Hispaniceque, ante in Suevicas urbes 14 dispersarn, contrahere jam nunc et agro Wirtenburgensi 15 immittere.

Sed et agrum omnem c Danubio 16 imminentem, qui ditionis antea Ottonis Henrici 17 , comitis Palatini, fuit, a caesare Guilielmo Bavaro 18 venundatum aut certe oppignoratum, ut aiunt. 19 Plusculae ad nostros scriptae literae constanter asserunt. Nam is duci de Albania 20 iam nunc eo nomine viginti milia aureorum numerasse dicitur, quae heroi illi haud parum merito caesar donavit.

Man khan eß nit gnug klagen, wie ellenklich 21 die zusätz 22 [z]u d Nördlingen 23 , Poppfingen 24 , Giengen 25 , Dinkelspül 26 und Ulm sich mit weyb und kind und diensten 27 für und für haltend. Gott welle eß wenden 28 . Amen.

||61v Vertrauwte leut 29 schreybend täglich: So ferr sich die aydgnoßen mit gelt nit übertönen 30 und trennen laßind, so werde sy der kayser nit leychtlich anwenden noch zu bekriegen undernemen, etc. Schreybend dergleychen, samm 31 sy besorgind 32 ,

b Am Rande nachgetragen.
c In der Vorlage omem. —
d Textverlust bei Entfernung des Siegels.
8 Lyon.
9 Unbekannt.
10 Heinrich II.
11 Burgundiam illam declivem seu submontanam: Niederburgund.
12 Bourge-en-Bresse.
13 Straßburg.
14 in Suevicas urbes: in die schwäbischen Städte.
15 Württemberg.
16 Donau.
17 Pfalzgraf Ottheinrich von Pfalz-Neuburg.
18 Herzog Wilhelm IV. von Bayern.
19 Tatsächlich war das Gebiet des Pfalzgrafen vom Kaiser beschlagnahmt und in einem Geheimvertrag Wilhelm IV. versprochen worden. Da aber Kaiser und Herzog über den Kaufpreis nicht einig wurden, blieb das Gebiet bis zur Rückgabe an Ottheinrich durch den Passauer Vertrag von 1552 unter Zwangsverwaltung; s. Territorien des Reichs I Wf.
20 Fernando Alvarez, Herzog von Alba. — Er hatte sich in der Schlacht bei Mühlberg am 24. April 1547 verdient gemacht; s. William Malt by, Alba. A Biography of Fernando Alva
rez de Toledo, Third Duke of Alba 1507-1582, Berkeley u.a. 1983, S. 62-64. — Das unbestätigte Gerücht dieser Zahlung von 20000 Gulden reiht sich in weitere Gerüchte der Belohnung des Herzogs von Alba für seine Dienste ein; vgl. Sigmund Otto Riezler, Die bayerische Politik im schmalkadischen Kriege, in: Abhandlungen der Historischen Classe der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21,3, München 1898, S. 218 und 232 mit Anm. 3.
21 schrecklich.
22 Hilftstruppen; s. Fischer VT/1 1381; SI VII 156.
23 Nördlingen (Lkr. Donau-Ries).
24 Bopfingen (Lkr. Ostalbkreis).
25 Giengen a.d. Brenz.
26 Dinkelsbühl (Lkr. Ansbach).
27 Bediensteten.
28 abwenden; s. SI XVI 411.
29 Unbekannt.
30 7 verführen; s. SI XIII 1253.
31 wie; s. SI VII 902.
32 befürchteten.


briefe_vol_21-107arpa

das ouch von dem kayser große summa geitz in die aydgnoschafft, trennung ze machen, khomen sey. Ob ettwas daran sey, oder nit, mag ich nit wüssen. Gott weile unns treuwlich vor trennung verhüten. So wirt dann ouch gantz vertrauwenlich und in allem gehaim geschriben (quod tibi soli significo), das ain furnäme statt der aydgnoschafft ire ougen schon verkert und mit ettwas zusagen an den kayser gewendt habe, etc. Und wirt mit ettwas trauren angezaygt c , samm man sich verwegen 33 haben 34 muß, das in die bärenhaut schon ain groß loch gemacht sey 35 und man sych trennung und prodition oder doch desertion zu versechen 36 habe. Dafor gott unserthalb treuwlich sein welle. Ego de Lucerna 37 cogitavi, 38 cuius scultetum 39 de gradu deiectum 40 nostri mussitant. Verum ego mihi de Pagis omnibus longe optima et fidelissima ita polliceor, ut totum etiam illum Ennii 41 de Flaminio versiculum mihi vendicarim 42 , quem in noctibus suis Gellius 43 habet: Non ponebat enim rumores ante salutem.

Vale et, si quid alicunde, quod urbis nostrae interesse putaris, oro, me ne caeles. 44 Sangalli 23. ianuarii anno 1548. Vadianus.

[Adresse darunter:] Candidissimo viro domino Henrycho Bullingero, clarissime urbis Tigurinae episcopo meo colendissimo.

e In der Vorlage angezayt.
33 vergegenwärtigt; s. SI XV 927.
34 samm ... haben: wie man damit rechnen müssen; zu sam s. SI VII 902.
35 Urkunden und Verträge wurden durch Durchlöcherung ungültig gemacht; vgl. Wander III 217, Nr. 107. - Das genannte Loch in der Bärenhaut deutet wohl daraufhin, dass sich der Verdacht der Untreue und des Bündnisbruchs gegen Bern erhob. Zumal wäre wegen der 1536 besetzten Gebiete des Herzogs von Savoyen, Karis III., ein Interesse der Stadt, sich mit dem Kaiser zu verständigen, durchaus nachvollziehbar.
36 zu versechen: erwarten.
37 Luzern.
38 Zum hier von Vadian angesprochenen Gerücht über die Bestechung der Luzerner s. auch HBBW XX, Nr. 3062,[5].
39 Schultheiß.
40 de gradu deiectum: von seiner Stellung entfernt.
-Tatsächlich hatte am 27. Dezember 1547 ein Amtswechsel in Luzern stattgefunden. Nikolaus von Meggen, geb. 1497, gest. 1564, wurde durch Hans Hug, gest. 1555, einen leidenschaftlichen Gegner Zürichs, als Schultheiß abgelöst; s. Theodor von Liebenau, Die Schultheißen von Luzern, in: Der Geschichtsfreund 35 (1880), S. 139.
41 Quintus Ennius.
42 =vindicarim.
43 Aulus Gellius. -Der nachfolgend zitierte Vers findet sich nicht in den Noctes Atticae des Aulus Gellius, sondern in Ciceros De officiis 1,84 und in Adagia 3, 5, 60 (ASD 11/5 328, Nr. 2460), dort ebenso mit Verweis auf Cicero, nicht jedoch auf Gellius.
44 Sicherlich meint Vadian hiermit Nachrichten von der am 23. Januar 1548 beginnenden Badener Tagsatzung.