Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2314]

Bullinger an
Oswald Myconius
Zürich,
26. Dezember "1546"[1545]

Autograph: Zürich StA, E II 342, 143 (Siegelabdruck) Ungedruckt

Bullinger dankt für Myconius' Brief [Nr. 2308], den der junge [Jakob Röist?] überbrachte. Kein rechtschaffener Mensch kann auf der Seite des Kaisers [Karl V] stehen, da dieser Deutschland, ja das ganze christliche Europa ins Verderben stürzt. Weil er ganz vom Antichristen [Papst Paul III.]abhängt, sinnt er darauf die noch junge evangelische Lehre auszumerzen, Krieg zu säen, den französischen [König Franz I.] zu unterdrücken, die Türken zu provozieren, [Franz I.] und den englischen [König Heinrich VIII.]gegeneinander aufzubringen und die Deutschen aufeinanderzuhetzen. Er kämpft wie Pharao gegen Moses. Die Zeit wird offenbaren, was bald kommen wird! Der Streit zwischen [Franz I.] und [Karl V.]fordert viele Opfer. Die Erfahrung hat Bullinger aber gelehrt, dass der Rest der Kirche so heimgesucht werden muss. [Wilhelm] Frölich soll nur tapfer gegen den Spanier [Karl V]ziehen, bis dieses Spiel traurig endet! Die [evangelischen Eidgenossen] haben vor dem blutigen Söldnerdienst zu warnen, auch wenn sie nicht alle davon abhalten können. Myconius' Nachrichten über den Schmalkaldischen Bund sind erfreulich. Hoffentlich vertrauen [die Protestanten]auf Gott und sein Wort! Wenn das Gerücht vom Übertritt [Herzog Heinrichs von Braunschweig] zum Protestantismus wahr ist, wird die [Protestanten]ein ähnliches Schicksal ereilen wie Saul und Ahab, als diese Agag und Ben-Hadad freiließen. [Der Herzog]wird wieder zu seiner alten Natur zurückkehren. Nur die bäurischen Eidgenossen widersetzen sich den Adligen, die einander betrügen, um sich dann wieder gegenseitig zu schmeicheln. Der Ammann von Zug, [Melchior Heinrich], einer der Gesandten, ist verantwortlich dafür, dass die Fünf Orte im Wallis waren und fast nichts erreichten. [Die Walliser] sagten, sie bräuchten niemanden, der ein Urteil fälle; sie wären sich einig, und die [Gesandten] könnten wieder heimziehen. Also musste [Melchior Heinrich]unverrichteter Dinge wieder abziehen. Die Schwyzer sind wegen des Hauptmanns [Ulrich] Känel zerstritten, der von einigen Soldaten beschuldigt wird, Geld zurückbehalten zu haben. Angeblich wurden Gilg Reichmuth [d.J.], dem Sohn des Ammanns [Gilg Reichmuth], in einem Kampf zwei Finger abgeschlagen (über den Vater hatte [Matthäus Schmer, Bischof von]Sitten gesagt, dass König [Franz I.] aus ihm einen Übermut"gemacht hätte). Der Briefüberbringer, Thomas Grunder, Bürger von Wil, musste wegen des Treibens des St. Galler Abtes [Diethelm Blarer von Wartensee] auswandern und wurde von [den Zürchern] aufgenommen. Da er arm ist und seine Söhne [Andres und...]studieren lassen möchte, soll Myconius ihm nach Kräften helfen. Gute Wünsche zum neuen Jahr für die ganze Familie.

||143v. Gratiam et pacem. Attulit mihi tuas 2 frater et domine semper colende, egregius, ut apparet, iuvenis Fuligineus 3 ac pro iis maximas tibi ago gratias. Libenter enim legi, quae scribebas. Caesari 4 nemo bonus favere potest, cum is nedum bonus vir sit, sed pestis et exitium perniciesque non modo Germaniae,

1 Siehe unten Anm. 47.
2 Oben Nr. 2308.
3 fuligineus = "rußig". Gemeint ist vielleicht der junge Jakob Röist, der im Juni 1545 in den Kleinen Rat von Zürich aufgenommen worden war (s. oben Nr.
2179), oder aber ein Angehöriger der Zürcher Familie Röichli (Reuchli, Räuchli); s. HBLS V 664. —Johann Jakob Simler gab in seiner Abschrift (Zürich ZB, Ms 58, 172) die Erklärung "Russius".
4 Karl V.


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sed totius, quae gent adhuc titulum christianum, Europae. Nam cum totus pendeat ab antichristo 5 , dies atque noctes cogitat, quomodo herbescentem evangelii doctrinam opprimat in herba 6 , ut iam non dicam, quanta serat bella, dummodo Gallum 7 opprimere tentat, mox Turcos provocat, iam Gallum et Anglum 8 commiscet atque committit, adde et occultis consiliis Germanorum arma contra Germanos impellit, deoque et hominibus molestus est, suis maxime. Verum vigilat iustus dominus, 9 qui gemitus suorum exaudit. Certat modo cum Mose Pharaonis. 10 Quid mox futurum sit, tempus declarabit! Cruentum et multis perniciosum est dissidium Galli cum caesare. Sed video, multa doctus experientia, reliquiis ecclesiae ita expetere adeoque necessarium esse. 11 Eat ergo Laetus 12 et fortiter moveat in Hispanum 13 , donec utrique hic ludus tristis iudicio dei fiat! Ego negotium domino committo. Nostrum fuerit in tempore monere, ne plures sese militiae dedant sanguinariae. Si non omnes retinebimus, saltem valebunt dei consilia apud curabiles.

Laeta sunt, quae nuncias de foedere Schmalkaldico. 14 Utinam deo fldant 15 et verbo dei per omnia se dedant! Cuperem tamen vanum esse, quod nunciatur latro 16 adnumeratus protestantibus. Quid, oro, Saul inter prophetas saltat? 17 Quid lupus in choro ovium ludit? 18 Si verum est, senties simile iudicium hos subituros cum Saule et Achabo, quod ille Hagagium, hic Syrum Benhadad dimisisset incolumem. 19 Redibit ad ingenium incendiarius 20 . Non enim hoc magis mutabit quam pardus varietatem et Aethiops atrorem. 20 Niemandts thut deren junckeren 22 ettwas dann atem die pürischen 23 Eydnossen; yhene 24 bschissend einandren und läckend dann einandren wider. 25 Sed ego forte ante tempus iudico.

Quinque pagicos fuisse in Valesia 26 et plane nihil effecisse author est Tuginorum Amannus 27 , qui unus ex legatis fuit. Sy 28 habend gesagt, sy dorffend

5 Gemeint ist der Papst.
6 Vgl. Adagia, 4, 9, 99 (ASD 11/8 225, Nr. 3899).
7 König Franz I.
8 König Heinrich VIII.
9 Vgl. Baruch 2, 9.
10 Vgl. Ex 5; 7-11; 14.
11 Vgl. Apg 14, 22; 2Tun 3, 12.
12 Der Söldnerführer Wilhelm Frölich, der von Franz I. einberufen wurde; s. oben Nr. 2308, 8f.
13 Kaiser Karl V.
14 Siehe oben Nr. 2308, 10-14.
15 Gemeint sind die deutschen Protestanten.
16 Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel; vgl. oben Nr. 2308, 15-17.
17 1Sam 10,11.—Vgl. auch unten Nr. 2315.
18 Vgl. Mt 7, 15; Otto 198f, Nr. 983.
19 Zu Saul, Ahab, Agag und Ben-Hadad s. oben Nr. 2284, 38-42; 2298, 14-16.
20 Herzog Heinrich von Braunschweig; vgl. oben Nr. 2268, 8-10; 2275, 22; 2300, 10. 12. 38f.
21 Jer 13, 23.
22 Mit ,junckeren"meint Bullinger wohl den deutschen Adelsstand, dem sich die Deutschen im Gegensatz zu den Eidgenossen nicht (genügend) widersetzen.
23 bäurischen.
24 jene. —Gemeint sind die Adligen.
25 Zu verstehen: Die Adligen betrügen einander und schmeicheln sich dann wieder gegenseitig.
26 Siehe oben Nr. 2308, 18-21 und Anm. 15.
27 Melchior Heinrich, Ammann des Standes Zug (Tugium) von 1545 bis 1547; s. HLS VI 236.
28 Die Walliser.


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niemandts, der scheide 29 . Sy syend eins oder wollend wol eins werden, ||143r. und wunderent, wer sy beschickt habe. Sy 30 mögind wol wider beym ziehen und danck haben. Also mast läre dasch 31 heim gan. Nil aliud scimus praeterea; alioqui non ignorares.

Sviciis 32 valde dissident propter capitaneum Känel 33 , qui insimulatur a militibus nescio cuius reservatae pecuniae. Confligunt aliquoties privati aliquot, impliciti tamen factionibus. Aiunt Amanni 34 filio, Egidio Rychermuto, 35 (de quo 36 Sedunensis 37 dicebat: "Wir hand uß dem Armermüt gmacht ein Rychermut; der künig 38 aber hatt gmacht ein Übermut")39 duos in conflictu decussos esse digitos. Ac varius est de his rumor, quem ego fere vanum esse comperio.

Qui has tibi offert, Thomas Gründerus, 40 civis est Wilanus 41 , sed pulsus improbitate Antronii 42 , abbatem puto Sangallensem, 43 cessit et vertit solum. Receptus est a nostris, 45 45 sed quoniam pauper est et filios 46 habet, quos studiis consecrare cupit, quaeso illi adsis, quantum potes. Haec ut ad te scriberem, postulavit.

Praecor tibi [et]a universae b tuae familiae, ut hic annus vobis illuxerit felix, exeat felicissimus.

Vale. Tiguri, postera natalis domini 1546 47.

Tuus Bullingerus.

a Wort infolge beschädigten Papiers nicht lesbar und aus dem Kontext ergänzt.
b [et] universae tuae am Rande nachgetragen.
29 vermittle.
30 Die Gesandten der Fünf Orte.
31 lare dasch: "mit leeren Taschen", d.h. unverrichteter Dinge.
32 Die Schwyzer.
33 Hauptmann Ulrich Känel (Kennel). —Zur Sache s. EA IV/Id 567-569. 572 a.
34 Gilg (Ägidius) Reichmuth d.A., geb. um 1465, gest. 1554. Von 1521 bis 1522, 1523 bis 1525 und 1531 bis 1534 Landammann von Schwyz; Pensionenempfänger. Er soll 22 Kinder gehabt haben, darunter Gilg d.J. —Lit.: Johann Konrad Vögelin und Heinrich Escher, Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bd. 2, Zürich 1856, S. 184; Xaver Reichmuth, Landammann Gilg Reichmuth, in: Das Geschlecht der Reichmuth, Nideröst 1977, S. 11-17; HLS X 195f (mit weiteren Angaben).
35 Gilg (Ägidius) Reichmuth d.J.; s. Reichmuth, aao, S. il.
36 Gemeint ist Gilg Reichmuth d.A.
37 Kardinal Matthäus Schmer, Bischof von Sitten, ein Freund Gilg Reichmuths d.A.; s. Reichmuth, aao, S. 13.
38 Franz I.
39 Siehe Reichmuth, aao, S. 15.
40 Siehe dazu schon oben Nr. 2211, Anm. 18.
41 von Wil (Kt. St. Gallen).
42 Antronier: Bekannt für ihre Dummheit; Spottname für die Katholiken; s. HBBW II 88, Anm. 3.
43 Dietheim Blarer von Wartensee.
44 "solum vertere": auswandern.
45 Vgl. Zürich StA, Ratsprotokolle, B II 59 (1545), S. 9, unter dem 1. Dezember: "Thoma Grunder von Wil ist fur [= von] uns gewesen."
46 Einer der Söhne Thomas Grunders war Andres Grunder, der 1550 in die Ackerleutenzunft in Zofingen aufgenommen wurde; s. Karl Frei, Zur Geschichte der aargauischen Keramik des 15.—19. Jahrhunderts, in: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde, NF 33, 1931, 92. — Namen weiterer Söhne konnten nicht ermittelt werden.
47 Datierung gemäß Weihnachtsstil.


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[Adresse darunter:] Clarissimo viro d. Osvaldo Myconio, ecclesiae Basiliensis inclytae vigilantissimo antistiti, domino et fratri suo semper colendo. Basel.