Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2215]

Walter Klarer an
Bullinger
Hundwil,
16. August 1545

Autograph: Zürich StA, E II 355, 114 (Siegelspur) Ungedruckt

Klarer bezeugt seine Dankbarkeit für Bullingers Hilfe, Rat und Wohltaten, die dieser ihm und seinen Söhnen [Abraham und Lukas]erwies. Klarer, der Abraham von der Schule in Zürich heimgenommen hatte, weil dieser allen große Sorgen machte, hat ihn gemäß Bullingers Rat mit Strenge behandelt. Abraham musste studieren und auch als Knecht in der Landwirtschaft arbeiten. Diese Maßnahmen zeigten gute Wirkung. Abraham, der das Studium in Zürich gern wieder aufgenommen hätte (was aber wegen der Teuerung nicht möglich war), hat nun in Herisau die Pfarrstelle angeboten bekommen. Der Herisauer Prädikant Ludwig [Rösch] wurde nämlich nach Sulgen in der Landvogtei Frauenfeld berufen, so dass die Herisauer Gemeinde, dem Rat Vadians zufolge, Abraham und Klarer bat, aushilfsweise zu predigen. Da die Gemeinde Gefallen an Abraham fand, bot sie ihm die Pfarrstelle an, und Klarer, der im nahen Hundwil lebt, ist bereit, seinem Sohn weiterhin beizustehen, bittet aber um Bullingers Zustimmung. Der frevelhafte Mönch und jetzige Pfarrer in Appenzell, Jakob Stössel, verführt nicht nur seine Gemeinde. Er wollte auch in Herisau predigen, jedoch haben nicht mehr als 20 Personen dafür gestimmt. Klarer predigte am 9. August zur Kirchweih [in Herisau] und warnte dabei vor den falschen Propheten. In den Kirchen [Appenzells] herrschen zurzeit Frieden und Ruhe. Klarer und seine Söhne Abraham und Lukas möchten Bullinger weiterhin empfohlen bleiben. Dieser möge Abraham mündlich und Klarer schriftlich Rat erteilen.

Gnad, fryd und eewigs hail.

Christenlicher herr und bruder, ich bin allzit indenck 1 üwer besonderbarer trüw, huss, radt und gutthaten, so yr allzit mir und minen sönen 2 thun habend und noch täglich bewysend, darum ich üch zum höchsten dancken und one underlaß den herrnn bitt, er welle es üch und der gantzen loblichen statt Zürich wol vergelten.

Wissend, lieber herr, das ich ein grossen, schwären kummer ghan han a von Abrahamen 3 wegen, wie er dann 4 on zwifel durch bösy gsellschafft also

1 Randbemerkung Bullingers neben der Nachschrift: Ternas accepi, ad quas non putavi operae pretium respondere singillatim. Pro novis ago gratias. — Mit den ternas" sind wohl die drei von Gast geschickten Blätter (vgl. Z. 59f) bzw. eine aus sechs Blättern bestehende Lage mit den Predigten über Markus gemeint. Der hier angebrachte Kommentar zeigt, dass Bullinger davon nicht angetan gewesen war.
a han über der Zeile nachgetragen.
1 eingedenk.
2 Abraham und Lukas Klarer, die die Zürcher Fraumünsterschule besucht hatten; s. HBBW XIII 146, Anm. 3; Emil Egli, Walter Klarer, in: Zwa 1/14, 1903, 3701.
3 Abraham Klarer, gest. 1589. Von 1545 bis 1550 Pfarrer in Herisau. 1550 versetzt nach Altstätten im Rheintal (Kt. St. Gallen), wo er Anfang 1553 "ob nimiam eius petulantiam et lasciviam et ebrietatem" von der Synode gerügt und ausgeschlossen wurde (s. Josua Kessler an Samuel Kessler, 11. Februar 1553, Zürich ZB, A 30, 61); 1554 wurde er wieder aufgenommen. Von 1556 bis 1558 oder 1559 Pfarrer in Urnäsch. 1560 bis [...] in Sulgen. 1566


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abgfürt ist worden 5 und also in etwas hochmut, stöltzy und unghorsamy kommen, üwer und anderer frommen gotzglerten und getrüwen herrnn und güten gunneren warnungen übersehen 6 und nit ermessen noch verstanden, wo hin es langty 7 unnd was üch, im und unß allen, ja dem gantzen handel gottes dran gelegen wäre, 8 als ers aber jetz 9 zum teil erkent und je lenger je bas 10 mercken und verston wirt. Und wie ich by üch was 11 und alles hort und verstünd, vermeint ich, nüt besser sin dann inn mit mir heim ze nemmen und mm hand nit gar von im thun 12 , damit es nit böser wurde. Wie ich dann by üch in radt fand, also hab ich sbest 13 thun, wie ein vatter, mit leeren, vermanen, straaffen unnd allem, so ich vermeint han 14 zur sach fugklich 15 und nützlich sin mit studieren, etwan mit wärcken, wie ein anderer puren knecht, mit schlechtem 16 trincken und essen, das er sich vil demütiget hatt und in ein ghorsamy ergeben, das ich gott drum dancken und in guter hoffnunng bin, es werde nun hinfür alles zu gutem dienen.

Er bette gern noch etwas zyt zu Zürich gestudiert; aber ich bette es diser thürung 17 nit vermögen. Also hat gott gefügt, das herr Ludwig 18 , predicant

stand er der St. Galler Synode wieder zur Verfügung. 1567 bis 1573 in Hundwil. 1573 bis 1577 in Gais. 1577 bis 1589 wie-dem in Hundwil. —Lit.: August Eugster, Die Gemeinde Herisau im Kanton Appenzell A. Rh., Herisau 1870, S. 150; Sulzberger 182; Kessler, Sabbata 615-619. 622f; Stückelberger 111; Stückelberger/Hirzel 24.
4 wie er dann: als er damals.
5 also abgfürt ist worden: auf solche Weise vom rechten Weg abgebracht wurde. — Abraham war wohl schon in Zürich dem Alkohol zugetan gewesen.
6 nicht beachtet.
7 wo hin es langty: was für Folgen daraus entstünden.
8 Gemeint ist: wie wichtig es für euch, für ihn ... gewesen wäre.
9 also [Z. 8] ... als ers aber jetz: so sehr wie er es nun
10 je bas: desto besser.
11 war. —Wann Walter Klarer in Zürich war, um Abraham wieder zu sich zu nehmen, ist nicht bekannt.
12 Zu verstehen: ihn unter stetiger Beobachtung zu maßregeln.
13 das Beste.
14 vermeint han: der Meinung war.
15 dienlich, förderlich.
16 einfachen.
17 diser thürung: aufgrund der gegenwärtigen Teuerung.
18 Ludwig Rösch (in der bisher erschienenen Lit. nie ermittelt); s. Zürich StA, G 1179, f. 138,v. — Rösch (Resch) war gebürtig aus dem Glarnerland. Schüler Zwinglis; immatrikuliert in Wien Anfang 1513, dorthin von Zwingli an Vadian empfohlen. Kaplan in Mellingen (Kt. Aargau), von wo er vertrieben wurde. Spätestens Mai 1526 Kaplan zu Schwanden (Kt. Glarus). Spätestens 1528 bis 1529(?) Kaplan in Weesen (damals zu Glarus, heute Kt. St. Gallen) am Walensee. Von 1531 bis 1545 Pfarrer in Herisau und (dem vorliegenden Brief zufolge) 1545 nach Sulgen (Kt. Thurgau) versetzt (bei Sulzberger, aao, nicht belegt). Seine Anstellung im Appenzellerland erklärt sich wohl aus der Tatsache, dass sein Onkel, Konrad Rösch, spätestens seit Februar 1513 Priester in Wil war und dort nachweislich ab 1521 der Reformation zuneigte (s. Z VII 21, Z. 11f; Vadian BW II 328. 369. 445). — Lit.: Wien, Matrikel II 393, Z. 100; Z VII 21; X 28. 47f; EA IV/la 933; Theodor von Liebenau, Die Stadt Mellingen. Ortsgeschichte, Urkunden und Chronik, in: Argovia 14, 1883, 177, Nr. 442 (vom 17. August 1528); Eugster, aao, S. 150.


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zu Herysow gsin, wie jr wissend, abzogen ist und zu der kuchen genampt Sulga (ligt in der landtvogty Frowenfeld)19 berüft worden. Also habend die ersamen houptman 20 , rädt und gantze gmeind Herysow mich und Abrahamen gebetten, 21 inen behuiffen und beraten ze sin ein predig, zwo, dry, fier, etc., dann wyter lugen und handlen, was gott gfellig ist. Uff solichs hat sy Abraham versehen 22 und b ich mit im, mit radt, gunst und willen unsers geliepten herrnn doctors Vadiani; daran die gantz gmeind ein gilt gfallen ghan und inn gar zu irem pfarrer und kilchen diener angenommen, wiewol andere, elteren 23 und vilicht gschickter und glerter, inen ouch anzeigt worden sind. Und also wil ich mit gotz huss ouch sbest tun, was ich kan und vermag; dann die kilch Hundwyl, da ich bin, und das Herisow ligt nach by einanderen, ongfarlich ein stund, etc. Hab mir das alein vorbehalten, das ich vorhin üwers radts begeren und alweg 24 mit üwerm gunst und willen handlen will; dann all unser zuflucht in allen dingen zu üch, unseren geliepten herrnn und vättern allweg ist. Hierum bitt ich üch umb gottes eer willen, yr wellind unß wyter sbest thun, helfen und raaten, wie yr alweg gethan hand. Ich hoff zu gott, es werde zu vil gutem in unserm land Appenzell erschiessen 25 .

Wyr wellend ouch mit gotz huss flissig studieren, wachen und gut sorg han; dann der falsch prophet, der fräfel münck 26 , genant frater Iacobus Stössel 27 , jetz pfarrer zu Appenzell, je lenger je unverschampter und unbescheidener

b Von und bis Vadiani am Rande nachgetragen.
19 Sulgen (Kt. Thurgau).
20 Unbekannt; s. Eugster, aao, S. 201.
21 Herisau und Hundwil sind ca. 5 Kilometer voneinander entfernt; s. auch unten Z. 35f.
22 Gemeint ist: ihnen gepredigt.
23 ältere.
24 immer.
25 gedeihen.
26 Mönch.
27 Jakob Stössel, aus Rapperswil, gest. 6. Juni 1582. Mitglied des St. Galler Konvents. 1533 Profess. Am 22. September 1536 von Konstanz erteilte Erlaubnis zur Ausübung der Seelsorge. Dem vorliegenden Brief zufolge bereits 1545 Pfarrer in Appenzell (laut Johann Caspar Zellweger, Geschichte des Appenzellischen Volkes, Bd. 3/2, Trogen 1840, S. 321f, wo er fälschlich als "Jakob Stoffel" bezeichnet wird, wäre er erst 1546 zum Pfarrer ernannt worden). Der St. Galler Abt Diethelm Blarer von Wartensee warnte die Appenzeller
Obrigkeit vergeblich vor Stössel, weil dieser dem Kloster entwichen war (Zellweger, aao). Stössel war also, wie auch aus dem vorliegenden Brief hervorgeht, eine Zeitlang der Reformation zugetan. 1551 katholischer Pfarrer in Wil (s. Joseph Müller, Karl Borromeo und das Stift St. Gallen, in: ZSKG 14, 1920, 59). 1553 Dekan des alten Kapitels Wil-Lichtensteig-Leutmerken. Laut Müller, aao, S. 81, Anm. 3, starb Stössel 1582 angeblich als protestantischer Pfarrer von Bernhardzell, was angesichts der Verwechslung Stössels mit Seiler (s. weiter unten) fraglich erscheint. — Lit.: Karl Wegelin, Geschichte der Landschaft Toggenburg, Bd. 2, St. Gallen 1833, S. 155; Fr[anz]Rothenflue, Toggenburger Chronik. Urkundliche Geschichte sämmtlicher katholischer und evangelischer Kirchgemeinden der Landschaft Toggenburg, Bütschwil 1887, S. 207. 214. 396; QGTS 11291, Anm. 3; Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Abt. 11112, Codices 450-546, bearb. v. Beat Matthias Scarpatetti, Wiesbaden


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ist. ||114v. Er hatt ouch nit gnug, sin kuchen ze verfuren, sunder hat jetz kurtzlich practiciert 28 mit den bäpstleren, in grossem heiligem schin ein predig oder zwo in Herysow ze thun, nüt dann gottes worte zu rum, frid und einigkeit, etc. d Es ist fürbracht worden, darum geradtschlaget, aber, gottlob, nit über 20 händ in der gantzen gmeind ghan. Frustra expansum est rete ante alatas ayes. 29 Es ist jetz 9. augusti grossy kylwy 30 °gsin von frömbden und heimschen. Do han ich inen das göttlich wort verkündt, sy ernstlich und trüwlich gebetten unnd vermant zu göttlichem wort, frid und einigkeit, ouch vor denen falschen propheten, die sy an iren früchten wol erkennend, 31 gewarnet, und ist also jetzmal gilt fryd und ruw in allen unseren kilchen.

Zuletst pit ich üch, lieber herr und bruder, lond 32 mich sampt dem Abrahamen und Lucassen 33 üch alweg befolen sin alles umb gottes eer und worts, ouch siner heiligen kuchen wolstands willen, und was üwer will und meinung syge unsertthalb mit Herysow und allen dingen, lond Abrahamen muntlich und mich gschriftlich 34 wissen umb gotz willen, damit wyr alweg zu gottes eer und üwerem willen handlind.

Damit gottes gnad allzit wol befolen. Datum zu Hundwyl in Appenzell, 16. augusti 1545.

Uwer ghorsamer, williger

Walther Clarer.

[Adresse darunter:] An m. Heinrichen Bullinger, sinen geliepten herrnn und bruder.

c wort über der Zeile nachgetragen.
d etc. über der Zeile nachgetragen.
2008, wo Stössel als Schreiber bezeugt ist. — Rudolf Henggeler, Professbuch der Fürstl. Benediktinerabtei der Heiligen Gallus und Otmar zu St. Gallen, Zug [1930], S. 247, Nr. 112, bezieht fälschlich Angaben, die Heinrich Seiler betreffen (s. nämlich ZSKG 22, 1928, 31; Wegelin, aao, S. 164, Anm. 17) auf Jakob Stössel, als wäre dieser 1545-1550 Pfarrer in Bernhardzell gewesen und als Gefangener auf das Schloss Rorschach geführt worden.
28 intrigiert.
29 Spr 1, 17.
30 Kirchweih.
31 Mt 7, 15f.
32 lasst.
33 Über Lukas Klarer weiß man lediglich, dass er längere Zeit und noch im Februar 1553 in Paris weilte; s. Walter Klarer an Samuel Kessler, 2. Februar 1553 (Zürich ZB, A 30, 56); Emil Egli, aao, S. 372. Er wird in der Chronik von Johannes Jud alias Leu (1528-1597) unter den "commilitones und coetaneos", von denen "keiner über 40 jar alt worden", aufgezählt (Zürich ZB, G 329).
34 Eine schriftliche Antwort Bullingers an Walter Klarer ist nicht bekannt. — Abraham Klarer war wahrscheinlich der Überbringer dieses Briefes.