Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[1972]

Bullinger an
Albert Hardenberg
Zürich,
5. September 1544

Autograph a : Zürich ZB, Ms Z XI 309, [S. 1-8] (Siegelspur) Ungedruckt

Erhielt Hardenbergs Brief über den er sich freute; Hardenberg verkennt Bullinger, weil er ihn und seine Gelehrsamkeit zu sehr lobt, ist Bullinger doch nur bemüht um die Heilige Schrift; seine [Kommentare]zur Heiligen Schrift versteht er als Übung, und der von Gott verliehene Erfolg ermutigt ihn, über die Evangelien zu schreiben; Gelehrteres und Tiefsinnigeres findet sich bei anderen; bei ihm können, wie er hofft, Frömmigkeit und Aufrichtigkeit der apostolischen Lehre gelernt werden; der Herr bewahre ihn in Einfachheit und Reinheit des Kreuzeswortes gegenüber der Welt. Gern hat er für Hardenberg auf Bitten des geschätzten Joseph

a Eigentum des Robert J. Schwarzenbach-Fonds; in Zürich ZB deponiert im November 1945.
1 Erster erhaltener Brief einer durch ein oder zwei Schreiben Hardenbergs möglicherweise vom Anfang Juni (s. unten Anm. 4) und bestimmt vom 6. August 1544 (unten Z. 2) veranlassten Korrespondenz. - Albert Hardenberg (Rizaeus), ca. 1510-1574, aus Hardenberg (Prov. Overijssel, Niederlande). Ausbildung in Hardenberg, Groningen und Aduard, wo er 1527 unter Aufsicht und auf Kosten des mit ihm verwandten Abtes Johannes Reekamp ins Bernhardinerkloster eintrat. 1530 bis Ende 1536 Studium am Collegium trilingue, Löwen. 1537 Aufenthalte in Frankfurt am Main und später in Mainz, wo er am 7. Dezember 1537 zum Doctor bullatus promovierte und daraufhin nach Löwen zurückkehrte. 1539-1540 Untersuchung und Verhaftung in einem Ketzerprozess. Im Frühherbst 1540 Rückzug nach Aduard, wo er Reekamp dazu bewog, sich dem Evangelium nicht zu widersetzen. Ende 1543 Austritt aus dem Kloster und, auf Veranlassung Melanchthons, Besuch im Winter 1543/44 in Wittenberg. Februar oder März 1544 theologischer Berater von Hermann von Wied in Speyer (s. auch oben Nr. 1859 mit Anm. 15) und erste Bekanntschaft mit Bucer. Juni bis September 1544 Aufenthalt in Straßburg. Anschließend Reise nach Schlettstadt, Basel, Bern,
Zürich (vom 25. bis 29. [September], als Tischgänger bei Pellikan; s. Pellikan, Chronikon 166, wo das schon im Autograph fehlerhafte Wort "Augusti"in "Septembri" zu korrigieren ist), St. Gallen, Konstanz u.a. Ende Oktober bis Anfang November 1544 zurück zu Bucer. November 1544 bis Ende 1546 wieder im Dienste Hermann von Wieds in Bonn, Worms (am Reichstag), Linz am Rhein und Kempen (spätestens seit August 1545). Mai 1547 bis Februar 1561 evangelischer Domprediger in Bremen, von wo er wegen seiner Abendmahlslehre weichen musste. Nach längerem Asyl im Oldenburger Kloster Rastede und Aufträgen, u.a. in London, wurde er Anfang 1565 bis 1567 Pfarrer in Sengwarden. Oktober 1567 bis zu seinem Tod am 18. Mai 1574 Pfarrer und faktischer Superintendent in Emden. Der keineswegs als Kryptozwinglianer zu bezeichnende Hardenberg wurde von Bucer stark beeinflusst und ist theologisch zwischen Melanchthon und Calvin einzuordnen. -Aus dem Briefwechsel mit Bullinger sind sechs Briefe erhalten, vier an und zwei von Bullinger. Fünf dieser Briefe wurden in den Jahren 1544 und 1545, einer (von Hardenberg) im Jahr 1571 verfasst. -Lit.: Friedrich Wilhelm Bautz, in: BBKL II 523-526; Willem Janse, Hardenberg; Berichtigung der Chronologie für die Jahre 1537 bis 1540 in Jürgens, a Lasco 160-165.


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[Macarius] an Hardenbergs Abt [Johannes Reekamp] geschrieben, auf dessen Antwort er sehnsüchtig wartet; er nimmt es nicht übel, dass Hardenberg den für Johannes a Lasco bestimmten Brief las, zumal es so verabredet worden war; möge christliche Liebe sie auch über den Tod hinaus vereinen. Viel Freude machte ihm Hardenbergs historische Beschreibung, in der er seine Verbundenheit mit a Lasco und seine Tätigkeit in Löwen beschrieb, was er von den Theologen zu leiden hatte und wie der Herr ihn befreite, wofür alle [Zürcher]Brüder Gott danken; sie beten für den Schutz der Kirche in Brabant; Hardenberg handelte auch klug und fromm, dem Abt [Johannes Reekamp] seine Hilfe zugesagt zu haben, der doch auch das Mönchtum verlassen möge und fortfahren soll, die Kirchen Christi zu reformieren. Bullinger versteht, dass Hardenberg vor dem Hofleben zurückschreckt, doch kann er ihm nicht zuraten, das Angebot des Kölner Erzbischofs auszuschlagen, weil Hardenberg dort die Herrschaft Christi weiter voranbringen könnte, zumal der Fürst Nüchternheit, Mäßigung und Gerechtigkeit an seinem Hof herrschen lässt. Bullinger fürchtet, dass Tugend und Frömmigkeit auf keinem Reichstag zu finden sind und dort Religionssachen nicht vorangebracht werden können; aber dies ist nicht der Ort, um darüber zu reden. Megander, Gwalther, Pellikan, Bibliander und die übrigen Kirchendiener und Professoren haben Hardenberg aus dem Brief an Bullinger kennengelernt und wünschen sehr, mit ihm in Zürich über die Dogmen und Hardenbergs diesbezügliche Ängste zu sprechen; Hardenberg könnte bei Bullinger oder den anderen wohnen; [die Zürcher] wissen genau, was Luther und einige andere über sie denken, doch überlassen sie die Entscheidung darüber Gott und vor allem der Nachwelt, denn das Urteil vieler ist heute durch den Eifer der Parteiungen verdorben; daher fahren [die Zürcher] in ihrer Mittelmäßigkeit und Einfachheit im Ertragen von Ungerechtigkeiten fort und bitten den Herrn um Erbarmen und Schutz für die Kirchen. Sollte dieser Austausch anhand von Briefen stattfinden, ist Hardenberg gebeten, künftige Schreiben ohne zeremonienhafte Verkleinerungen und höfische Formeln abzufassen, da Bullinger auch mit einfachen Menschen zu tun hat; er erkennt Hardenbergs glänzende Redeweise und seine religiöse Gelehrsamkeit an, doch heute verstricken sich viele Gelehrte in die einfachsten theologischen Fragen, aus denen sie dann nicht mehr herausfinden; daher möge ihm Hardenberg alles frei und kunstlos wie einem Bruder anvertrauen, zumal er ja sieht, wie vertraut Bullinger ihm schreibt, der sich ihm nicht durch gewinnende Rhetorik empfehlen will, sondern durch Menschlichkeit, Streben nach Frömmigkeit und wahre brüderliche Liebe. Dankt Hardenberg, dass er sich der Zürcher Heranwachsenden [Joachim Forrer und Hans Zart] so freundlich angenommen hat, die jetzt aus wichtigen Gründen nach Hause zurückgerufen werden. Grüße an Georg Cassander und Cornelis Wouters. Was Hardenberg für den heimgesuchten, unglücklichen Blinden getan hat, hat er für Christus selbst getan, der es ihm vergelten wird. Konnte Hardenbergs Brief gut und leicht lesen, bewahrt ihn als Andenken auf und fordert ihn auf mehr zu schreiben; alle Brüder grüßen; Grüße an Hardenbergs Gastgeber [Martin Bucer] und die anderen Brüder; sie sollen für [die Zürcher] beten.

Gratiam et vitae innocentiam a domino.

Literas tuas longe gratissimas 6. augusti datas 2 prima septembris accepi et magno quidem animo gaudio accepi. Ergo quod tu operosius praefaris et veniam petis, adeo sine necessitate facis, vir piissime, ut magis tibi gratias agam immortales, quod tam familiariter ad me scripseris. Nimium, profecto nimium te deiicis, nimium rursus me meamque eruditionem extollis. Non is sum, Alberte doctissime, quem esse putas. Studiosus sum divinarum literarum, verbi minister et servus Iesu Christi, utinam fidelis et prudens. Quae in sacras scripsi literas, per exercitationem scripsi. Ea demum extorserunt

2 Nicht erhalten. Der Inhalt weist Gemeinsamkeiten mit einem auf Juli 1544 datierten Brief Hardenbergs an einen Unbekannten
auf; s. Janse, Hardenberg 505, Nr. 16; Jürgens, a Lasco 160-162.


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mihi amici et fratres. At gratias ago domino meo Christo, qui exercitationi meae sic benedixit, ut optimis fere probetur. Ea res demum excitavit meum spiritum, ut et in evangelicam auderem scribere historiam. Simplicitati et perspicuitati ubique studeo, eruditiora et reconditiora inveniuntur apud alios. Nam ut pietatem et synceritatem doctrinae apostolicae in meis disci posse spero, ita erudita et reconditiora quaedam mysteria non b inveniri scio. Nec illa unquam pollicitus sum nec didici unquam. Libenter ergo fateor nostram simplicitatem. Alia, quae mihi tribuuntur, non agnosco. Oro autem dominum Iesum, ut me in simplicitate et puritate verbi crucis coram mundo stolidi 3 semper retineat. [2]

|| Libentissime vero operam meam tibi ad praeces dilecti illius mei Iosephi 4 impendi ac abbati tuo 5 scripsi. 6 Utinam ille nostra multo cum fructu legat! Certe magno desiderio illius responsionem expecto. Vellem et meas ad abbatem legisses c , adeo non succenseo tibi, quod clarissimo viro d. Ioanni a Lasco 7 inscriptas 8 legeris resignatas, maxime cum intelligam ita inter vos convenisse. Amicus et frater est d. a Lasco; amici et fratres sunt, quotquot Lascani mei amici et fratres sunt. Nec minus te quam illum amo, cum in utroque eadem sit dilectionis caussa, fides et pietas in deum. Age vero, diligamus nos mutuo, ut medius inter nos sit ipse dei filius 9 , appellatus ab apostolis amor et charitas [1Jo 4, 8. 16] ut, inquam, in hoc saeculo indissolubili charitatis vinculo cohaerente inter nos mutuo. Tandem ubi hinc solverimus, summo illi capiti nostro 10 et amantissimo bono coniungamur et in gloria una omnes vivamus in saecula.

Vix autem dixero, quam mihi feceris rem gratam, iucundam et suavem historica illa tua descriptione, qua exposuisti, quomodo coalueris cum d. a

b non über der Zeile nachgetragen.
c legisses korrigiert aus legissem.
3 1Kor 1, 18.
4 Joseph Macarius, den Hardenberg wohl in Straßburg Anfang Juni, vielleicht aber schon kurz zuvor in Speyer kennengelernt hatte und dem er einen nicht mehr erhaltenen Brief für Bullinger mitgegeben haben könnte; es sei denn, dass Macarius die hier erwähnte Bitte mündlich übermitteln ließ. - Über Macarius' Aufenthalt in Zürich s. oben Nr. 1926, Anm. 1f.
5 Der mit Hardenberg verwandte (s. oben Anm. 1) Johannes Reekamp, Abt von Aduard; s. Janse, Hardenberg 9f. 14.
6 Bullingers Brief an Johannes Reekamp vom 24. Juni 1544, oben Nr. 1934.
7 Johannes a Lasco. Hardenberg hatte ihn bereits 1537 in Frankfurt am Main kennengelernt,
verkehrte mit ihm weiter in Mainz, reiste mit ihm nach Löwen und soll (so zumindest Hardenberg später) an dessen "Bekehrung" einen bedeutsamen Anteil gehabt haben. Hardenbergs Verfolgung in Löwen (s. unten Anm. 12) könnte auf a Lascos Unvorsichtigkeit zurückzuführen sein. Ob letztere mit a Lascos Heirat in Löwen in Zusammenhang steht, bleibt offen. Fest steht dagegen, dass a Lasco zu Hardenbergs definitiver Lösung vom Mönchtum (s. unten Anm. 14) beitrug; s. Janse, Hardenberg 13; Jürgens, a Lasco 136-144 (u.a. 143, Anm. 61). 160-165.
8 Bullingers Brief an a Lasco vom 24. Juni 1544, oben Nr. 1933.
9 Vgl. Dan 3, 25.
10 Christus. -Vgl. Eph 5, 23; Kol 1, 18; 2, 10. 19.


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Lasco, quae tibi cum eo intercesserit familiaritas, quam iucunde cum viro et piissimo et omnium horarum 11 homine vixeris; quae feceris, imo quae per tuum ministerium fecerit dominus Lovaniae, quid passus sis d a theologis, quomodo liberarit te dominus e persequentium manibus ||[3]cruentis 12 , quinimo quomodo virtus Christi te ex cuculla, ex hypocrisi et pharisaismo, ex Aegypto 13 , inquam, officina et voluptatis et impietatis, monachismo, extraxerit. 14 Pro quibus omnibus ego et fratres symmistae, quotquot legerunt, maximas deo gratias egimus, orantes interim ut ecclesiam e per te fundatam in Brabantia 15 protegat et consoletur in gravibus illis persequtionibus, et f quod semel in te coepit, confirmet et perducat usque in finem. 16 Non ignoramus enim, quibus et quantis arietibus concutiatur animus tuus. Verum memineris in his omnibus fidelissimi servi dei Mosis, de quo Paulus dixit: "Per fidem Moses iam grandis renuit vocari filius filiae Pharaonis, potius eligens simul malis affici cum populo dei, quam temporariis peccati commodis frui, maiores arbitratus divitias probrum Christi quam Aegyptiorum thesauros" [Hebr 11, 24-26]. Respectum enim habebat remunerationis. Quantam vero remunerationem tibi pollicitus est, qui cum esset aequali in gloria cum patre g 17 pro te tamen pauper factus est, ut tu per illius ditesceres paupertatem. 18 Optime ergo fecisti, qui monachicis h delitiis et abominationibus renunciaveris. Rursus prudenter et pie facis, qui omnem tuam operam polliceris d. abbati. Modo ipse quoque monachismum abiiciat et ecclesias Christi reformare ad verbum viventis dei pergat. Dominus praestet utrique, quod vobis et ecclesiis Frisiae salutare est.

Nec valde improbo, quod adeo abhorres [4] || a vita aulica, utpote dissoluta et iam olim a salvatore nostro propter luxurn et splendorem immodicum taxata in evangelio. 19 Interim tamen suadere i non possem, si Coloniensis princeps 20 offerret tibi in aula sua locum honestum, in quo regnum Christi k

d sis korrigiert aus sit.
e-f Von ecclesiam bis et am Rande nachgetragen.
g cum patre am Rande nachgetragen.
h In der Vorlage: manachicis.
i Vor suadere gestrichenes dis.
k Christi korrigiert aus Christo.
11 Homo omnium horarum: ein Mann, auf den man sich verlassen kann.
12 Während seines zweiten Aufenthalts in Löwen (s. oben Anm. 1) wurde Hardenberg Opfer eines Ketzerprozesses und einer Verhaftung, die den Verlust des größten Teils seiner Bibliothek zu Folge hatte. Nur durch Zahlung einer erheblichen Geldsumme konnte er sich freikaufen; s. Janse, Hardenberg 8-14; Jürgens, a Lasco 136-141.
13 Dtn 4, 37, u.a.
14 Diesen Entschluss fasste Hardenberg wohl 1543 im Kloster Aduard, wo er nach dem Rückzug aus Löwen eine Zeitlang Zuflucht fand; s. Janse, Hardenberg 14.
15 Schon Jürgens, a Lasco 142, Anm. 55, macht mit Recht darauf aufmerksam, dass Hardenbergs Selbstaussagen mit Vorsicht aufzunehmen sind. Offen bleibt nämlich, in welchem Maße Hardenberg die Gruppe, an die er sich eher anschloss, beeinflusste; s. Janse, Hardenberg 11f; Jürgens, aaO, 137f.
16 Phil 1, 6.
17 Phil 2, 6.
18 2Kor 8, 9.
19 Vgl. Mt 7, 11; Mk 4, 19; 10, 23f; Lk 4, 5-8.
20 Hermann von Wied; s. oben Anm. 1.


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promovere posses, ut contemneres, praesertim cum audiam principem pietatis et probitatis esse studiosissimum. Inde enim consequutus est anniti illum ex inpellente fide, ut minus sit luxus, plus sobrietatis, temperantiae et iustitiae in aula sua. Non abhorruit ab aula Ezechiae Isaias 21 , non ab impiissimi Achabi famulitio Abdias 22 , et profuerunt suo ministerio sanctis plurimum.

Caeterum ut perpetuo in mundo curatur virtus post nummos 23 , imo ne post nummos quidem, ita in nullis comitiis virtutem et pietatem ullum locum iustum habiturum metuo. Quid enim aliud sunt comitia, sicuti hodie celebrantur, quam mundi colluvies? Ex his ergo aliquid puritatis et synceritatis expectare, est l ex cloaca aliqua (des veniam, oro, parabolae parum mundae) expectare vivam et limpidam aquam, cum urinam, oletum et nescio quas sordes profundat. Imo experti sunt multi boni viri maxima rerum temporariarum iactura, iactura item temporis, res religionis non posse ullis promoveri consiliis et comitiis. Evangelica praedicatione ||[5] ad ritum et morem apostolicum annunciata plantatur, conservatur, provehitur et ampliatur regnum dei et sanctorum. Sed de his iam non est dicendi locus.

Fratres vero ac symmistae omnes, quos tu videre et salutare cupis coramque affari, d. Gaspar Megander, Rodolphus Gvaltherus, Pellicanus, Bibliander ac reliqui ministri ecclesiae ac professores, te iam ex literis ad me missis cognoscere coeperunt neque aliud magis cupiunt, quam te Tiguri videre, dextram dextrae iungere et mutuo colloquio voluptatem et gaudium in domino percipere. Veni ergo ad nos, vir clarissime et frater honorande ac dilectissime. 24 Veni, inquam, si ullo modo res tuae ita ferunt atque permittunt. Ego meas edes tibi offero. Offerunt et alii suas. Libenter audiemus te disserentem de quibusdam, ut ais, dogmatibus, atque iis, quae animum tuum angunt. Non ignoramus, vir doctissime et sanctissime, quid Lutherus et nonnulli alii de nobis iudicent. Verum id commisimus deo iudici et ecclesiae eius sanctae, maxime vero posteris et sequenti saeculo. Nam multorum iuditia hodie propter studia partium depravata esse, quis est, qui nesciat? Pergimus nos interim in nostra mediocritate et simplicitate, multas ferentes atque dissimulantes iniurias. Oramus item dominum, ut nostri misertus, servet nos a malo 25 servetque ecclesias sanctas propter nomen sanctum eius.

||[6] Iam si verum porro es acturus literis, quaeso abstineas ab illis ceremoniis et extenuationibus - meminerim mihi rem non esse semper cum doctis, veniam dem tuae inscitiae - et id genus aliis formulis plus quam aulicis. Non opus erit illis. Nihil moror Ciceronianum stilum. Non curo omnigenam et absolutissimam eruditionem et scientiam, quam, nisi quidam

l est korrigiert aus enim.
21 2Kön 18-20; Jes 37-39.
22 1Kön 18.
23 Horaz, Epistulae, 1, 1, 54.
24 Dieser Brief mit der hier ausgesprochenen
Einladung sollte erst drei Wochen später, etwa um den 26. September 1544, also erst nach Hardenbergs Abreise nach Zürich, in Straßburg eintreffen; s. unten Nr. 2006, 163f.
25 Mt 6, 13.


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assequuti sint, nullo in loco se in ecclesiam habendos putant. Perspicuum habes et evidentem stilum. Ac in pietate et sacris literis doctum te esse intelligo. Vivis autem vitam haud dubie sanctam et piam. Cupis prodesse omnibus. Bene est. Utinam orbis huiusmodi eloquentes et doctos habeat multos, paucissimos autem, de quibus vulgo iactari non vane solet "ye gelerter, ye verkerter"26 ! Videmus enim quosdam nostro saeculo inflate doctos ita in rebus divinis planis et apertis implicitos sese amplius intricare, ut tandem ubi sint aut quid agant quemve finem inveniant, ignorent. Dominus Iesus illuminet nos omnes spiritu suo, ut ea quae prosunt, cogitemus. Ergo omissis illis formulis, si me amas et pro fratre habes, libere et ruditer, quod habes, in sinum fratris effunde, et utere me ut fratre. Vides enim quam familiariter et inculte scribam ipse. Non enim leno-||[7]ciniis et eloquentia me tibi et fratribus commendare cupio, sed ipsa humanitate, pietatis studio et charitate vera.

Ago autem tuae humanitati gratias, quod adolescentes 27 Tigurinos tam amice acceperis et consilio tuo instruxeris. Revocamus illos nunc domum, idque certas ob causas et magnas 28 .

Georgium Cassandrum 29 et Cornelium Galtherum 30 , viros piissimos et doctissimos, meis verbis saluta quam officiosissime. Nimii et illi sunt in

26 Vgl. Wander I 1532, Nr. 13. -Siehe dazu z.B. Heiko Augustinus Oberman, 'Die Gelehrten die Verkehrten': Popular Response to Learned Culture in the Renaissance and Reformation, in: Religion and Culture in the Renaissance and Reformation, hg. v. Steven Ozment, Kirksville 1989. -Sixteenth Century Essays and Studies 11, S. 43-62; Carlos Gilly, Das Sprichwort 'Die Gelehrten die Verkehrten' oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Forme e destinazione del messagio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel Cinquecento, hg. v. Antonio Rotonde, Firenze 1991, S. 229-375.
27 Joachim Forrer (möglicherweise Furrer) und Hans Zart aus Winterthur; s. oben Nr. 1874, Anm. 6.
28 Die Winterthurer Obrigkeit hatte erfahren, dass Joachim Forrer ohne Wissen des aus Frauenfeld stammenden Schulleiters Peter Dasypodius alias Graff (dementsprechend ist HBBW I 65, Anm. 164, zu korrigieren, wo diesen Namen zwei statt eine Person zugeordnet werden) aus dem Internat des Predigerklosters in Straßburg gezogen sei,
um sich "by andren [zu] versächen". Der Betroffene konnte dieses Gerücht mit einem Schreiben vom 22. September 1544 widerlegen (Schmid-Forrer, Die Familie Forrer von Winterthur. Die ersten fünf Generationen, 1983 (Typoskript), S. 49 -mit Transkription des zitierten Briefes), so dass beide Studenten bis zum Frühjahr 1546 weiter in Straßburg bleiben durften (s. Forrers Brief vom 7. April 1546 aaO, S. 50). - Frau Stadtarchivarin Marlis Betschart (Winterthur) verdanken wir die Berichtigung des Datums des oben zuerst erwähnten Briefs.
29 Georg Cassander, geb. 1513 in Pitthem bei Brügge, gest. 1566 in Köln, katholischer Vermittlungstheologe. Er studierte in Löwen (wo er Hardenberg kennenlernte; s. Janse, Hardenberg 10), lehrte in Brügge und Gent die freien Künste und unternahm längere Reisen. Ab 1544 setzte er seine Studien in Köln und von 1546 an in Heidelberg fort. Von 1549 an lebte er wieder in Köln. Er machte sich um die Gründung und Einrichtung der Schule in Duisburg verdient und wirkte als theologischer Berater für Herzog Wilhelm V. von Kleve


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praedicanda nostra humanitate. Studium quidem est nobis ingens benefaciendi hospitibus et fratribus, sed desunt nobis multa, 31 desunt facultates, deest et prudens consilium etc.

Quod in miserum et calamitosum contulisti caecum 32 , ipsi praestitisti Christo, qui tibi in die illo rependet haud dubie 33 .

Optime vero et expeditissime tuas potui legere. Nam non male pingis. Perge ergo, et plura scribito. Non abiicio illa, sed asseruo ut charissima et a fratre selectissimo profecta. Ama tu me in Christo vicissim, et scribe me m in album amicorum. Totus chorus fratrum te officiosissime salutat. Salutabis nobis hospitem tuum 34 et alios fratres 35 . Orate pro nobis Christum. Vive et vale.

Tiguri, 5. septembris 36 anno domini 1544.

H. Bullingerus tuus.

[Adresse auf der Rückseite: ]n Praestantissimo viro d. Alberto Hardenbergio Frisio, nunc in aedibus d. B[uceri]Argento[rati agen]ti, fra[tri observando et cha]rissimo[?].

m me über der Zeile nachgetragen.
n Adresse teilweise über das nicht mehr erhaltene Siegelband geschrieben.
sowie später aufgrund seiner irenischen Bestrebungen für König Ferdinand I. Zu seinem und Wouters' Besuch in Zürich s. oben Nr. 1896. - Lit.: August van der Meersch, in: Biographie nationale publiée par l'Académie royale des sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique, Bd. 3, Brüssel 1872, Sp. 364-367; Leonhard Ennen, in: ADB IV 59-61; Friedrich Wilhelm Bautz, in: BBKL I 949f; MBW, Regesten XI 276; Jaumann, Gelehrtenkultur I 170 (mit weiterer Lit.).
30 Cornelis Wouters (Cornelius Gualterus), geb. 1512 in Gent, gest. 1582 oder 1584 in Duisburg, Sohn eines Ratsherrn am Hof zu Flandern. Wouters war bis 1554 Kanoniker an der Kollegkirche St. Donatien in Brügge. Von 1544 an lebten er und Georg Cassander für einige Zeit in Köln. Zusammen mit Cassander entdeckte er den "Codex argenteus" im Kloster Werden an der Ruhr für die Wissenschaft; s. Dorothea Diemer, "Ein adenlichs hausgerette, und nit jedermans ding". Das Angebot des Codex argenteus Upsaliensis aus einer Adelssammlung, in: Die Münchner Kunstkammer,
Bd. 3, München 2008. -Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen. NF 129, S. 331-344. -Lit.: Hendrik Quirinus Janssen und Johan-Hendrik van Dale, Bijdragen tot de oudheidkunde en geschiedenis, inzonderheid van Zeeuwsch-Vlaanderen, Teil 4, Middelburg 1859, S. 170; Pollet, Bucer II 241f.
31 Vgl. Bullingers Aussagen in seinem neuentdeckten privaten Testament: Rainer Henrich, Heinrich Bullingers privates Testament. Ein wiederentdecktes Selbstzeugnis des Reformators, in: ZTB 2010, NF 130, S. 14-16.
32 Unbekannt. -Diese Blindheit ist vielleicht sinnbildlich zu verstehen; vgl. Mt 15, 14; 23. 26, u.a.
33 Vgl. Mt 25, 40.
34 Martin Bucer (vgl. Adresse, und oben Anm. 1), an den Bullinger damals ebenfalls einen Brief verfasste; s. unten Nr. 2006 mit Anm. 35.
35 Gemeint sind die Straßburger.
36 Kurz nach dem 9. September 1544 sollte sich Hardenberg bereits auf den Weg nach Zürich machen (s. oben Anm. 1; unten Nr. 1977), ohne diesen Brief erhalten zu haben (s. oben Anm. 24).