[1931]
Bullinger an
Philipp Melanchthon
Zürich,
22. Juni 1544
Abschrift von Leodegar Hirsgarter a : Zürich StA, E II 345, 257-263aDankt für Melanchthons Brief [Nr. 1881] mit dem Urteil über seinen Johanneskommentar;
diejenigen, die die [Heilige] Schrift für unkultiviert und ungeordnet halten, möchte er vom
Gegenteil überzeugen und der alten Kirche Christi wieder zu ihrem einstigen Glanz verhelfen,
wobei man aber Ketzertum und abweichende Auffassungen unterdrücken muss. Melanchthon
hat ihn leicht davon überzeugt, von der Diskussion über Monogamie und Polygamie abzulassen;
auf [Johannes]Lenings Brief [Nr. 1710], in dem dieser die Polygamie, die er Digamie
nannte, verteidigte, antwortete Bullinger absichtlich nur kurz [Nr. 1723] und wird sich nun
umso lieber fernhalten; diesem Beispiel muss mit der heilsamen Lehre des Evangeliums widerstanden
werden, wie es ja auch Melanchthon fordert. Entgegen Melanchthons Ermahnung
an
[die Zürcher], provozierende Briefe [von den Lutherischen] schweigend hinzunehmen, kann
man zu dem beleidigenden Brief von Luther an Christoph Froschauer [vom 31. August 1543,
WA Briefwechsel X 384-388, Nr. 3908] nicht schweigen: Nach Luthers Meinung haben [die
Zürcher] nichts mit [den lutherischen] Predigern gemein, sie seien Häretiker, ihre Kirchen
teuflische Synagogen, sie seien verdammt und genug gemahnt worden, wieder zur Vernunft zu
kommen; doch dieser Meinung Luthers ist entgegenzuhalten, dass es die eidgenössischen Kirchen
waren, die Luther ihr Glaubensbekenntnis [WA Briefwechsel XII 265-275, Nr. III-V.]und
die Deklaration [der Zürcher Synode vom 24. Oktober 1536, WA Briefwechsel XII 274f, Nr. V.]
darbrachten, ohne von Luther jemals eine Antwort zu erhalten; noch bitterer aber sind Luthers
Drohungen, ein öffentlicher Feind [der eidgenössischen Kirche] zu werden, die das Gericht
Zwinglis ereilen wird; an [der Echtheit dieses]überaus verletzenden Briefs besteht kein Zweifel.
Luthers Zorn ist theologisch unbegründet und unverständlich; der Kampf [der Zürcher] gegen
Epikureer, Unfromme und Verbrecher ist ein mühevoller Beitrag zur Wohlfahrt von Wissenschaft
und Staat, für den viele ihr Leben hingaben; wenn auch andere Kirchenmänner in Sachsen
derart gesinnt sind, besteht eine große Gefahr für [die Zürcher]. Melanchthon könnte
diesem Ubel durch seine Autorität abhelfen, indem er die Seinen zu Bescheidenheit, Gleichheit
und Gerechtigkeit ermahnt; sie sollen die Schriften [der Eidgenossen]sorgfältiger lesen, bevor
sie sie verdammen; Mäßigung kann eine geistige Verbindung schaffen und zu besserer gegenseitiger
Kenntnis beitragen, wofür sich auch Bullinger einsetzen wird; mehr wird [der Überbringer],
der junge Ungar Joseph [Macarius], berichten; Bullinger bittet um Melanchthons
Antwort zur Herbstmesse. Gruß von Kaspar Megander, der mit Melanchthon bei Georg Simler
in Pforzheim lernte, außerdem von Rudolf Gwalther, Erasmus Fabricius [Schmid], Pellikan,
Theodor Bibliander, Johann Jakob Ammann, Rudolf Collin, Konrad Gessner, Otto Werdmüller;
Grüße an die Kirchenvorsteher und Professoren; Segenswunsch. [Gedruckt: Bindseil 194-199, Nr. 261 c ; Teildruck: CO XI 727-730, Nr.
559; Regest: MBW, Regesten IV, Nr. 3596; Teilübersetzung d : Salomon
Hess, Lebensgeschichte M. Heinrich Bullingers, Antistes der Kirche Zürich,
Bd. 1, Zürich 1828, S. 402-413; Pestalozzi 219-221.]