Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[1574]

Die Pfarrer von Neuenburg an
[die Pfarrer von Basel, Straßburg, Konstanz und Zürich]
[Neuenburg,
nach 2. Oktober 1541]

Abschrift a von Jean L'Archer 3 : Neuenburg, Bibliotheque des Pasteurs, Lettres des réformateurs, Cahier A, Nr. 6

Vor drei Jahren hat die Neuenburger Kirche einstimmig den damals in Basel weilenden [Guillaume] Farel zum Pfarrer berufen, der ihnen bereits früher die Anfänge des Glaubens beigebracht hatte; Gesandte der Räte und der Pfarrer sowie benachbarte Kirchen halfen mit, dass er darin den Ruf des Hi. Geistes erkannte. In Neuenburg traf er verschiedene Missstände an; besonderen Anstoß erregte, dass eine vornehme Frau [Jeanne d'Alliez, geb. de Rive]ihren Ehemann [Claude d'Alliez, Herr von Rosay], mit dem sie mehrere Kinder hatte, grundlos verlassen hatte und sich weigerte, zu ihm zurückzukehren. Nachdem Farel vergeblich ein Einschreiten der Eltern [Gouverneur Georges de Rive und Isabelle, geb. de Vaumarcus] verlangt hatte, prangerte er solches Verhalten -ohne Namensnennung - in seinen Predigten an; auch mahnte er die Frau selbst, worauf diese kaum noch zum Gottesdienst erschien. Darauf drängte er die Obrigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, und kritisierte schließlich öffentlich deren Untätigkeit. Außerdem versuchte er zusammen mit den übrigen Pfarrern eine Art Kirchenzucht einzuführen, was ebenfalls auf Widerstand stieß und bei gewissen Aufrührern den Ruf nach seiner Absetzung laut werden ließ, obwohl an seiner Lebensführung und Lehre nichts auszusetzen war. Die Mehrheit des Rates und die Besten der Stadt stellten sich einmütig hinter ihn

a Mit Randbemerkungen, Unterstreichungen und Dorsualnotizen von mehreren späteren Händen.
1 Adressaten des Briefs sind die Pfarrer jener Städte, in die Eynard Pichon entsandt wurde, um ihre Intervention im Konflikt um die drohende Vertreibung Farels zu erwirken (s. Corr. des réformateurs VII 367; zu den Einzelheiten vgl. unten Nr. 1579, 39-54).
2 Die im Brief erwähnte Gesandtschaft aus Bern kam auf den 2. Oktober nach Neuenburg (vgl. Corr. des réformateurs VII 264 [mit Anm. 5] und 290 [mit Anm. 3]). Pichon dürfte das Rundschreiben bereits mit sich getragen haben, als er am 15. Oktober bei Calvin war (vgl. Corr. des réformateurs 274, Anm. 1, und 293, Anm. 24).
3 Jean L'Archer (Arcuarius, Archesius, Arquerius, Sagittarius), von Bordeaux, gest. 1588, hielt sich ab 1540/41 in Neuenburg und Umgebung auf, wo er vielleicht als Schulmeister wirkte. Um 1552/53 war er anscheinend Pfarrer in Fenin und bald darauf
in Cortaillod (beide Kt. Neuenburg). 1563 verließ er diese Gemeinde ohne Zustimmung des Pfarrkapitels; dieses war ihm auch wegen Lehrdifferenzen nicht mehr wohlgesinnt. Beza misstraute ihm wegen seiner engen Beziehung zu Castelho, und Viret kritisierte scharf sein Hauptwerk, die "Canones conciliorum omnium" (Basel 1553). Von 1563 bis zu seinem Tod war er Pfarrer im kurz zuvor württembergisch gewordenen Héricourt (Dép. Haute-Saône, Frankreich), wo er als schroffer Protagonist des Luthertums in Erscheinung trat. —Lit.: Eugène und Emile Haag, La France protestante, 2. Aufl., hg. v. Henri Bordier, Bd. 1, Paris 1877, Sp. 320-333 (vgl. dazu die Präzisierungen von Jules Pétremand in: Guillaume Farel 1489-1565. Biographie nouvelle écrite [...] par un groupe d'historiens [...], Neuchatel-Paris 1930, S. 647, Anm. 4); Eugénie Droz, Chemins de l'hérésie. Textes et documents, Bd. 2, Genf 1971, S. 327f (mit weiterer Lit.).


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und warnten, seine ungerechtfertigte Entlassung würde Spaltungen und weitere Willkür nach sich ziehen. Auch die Pfarrer forderten ihn einstimmig auf nicht zu weichen, sowohl aus Respekt vor seinem Predigtamt als auch wegen seiner Bildung, die allgemeinen Nutzen bringt. Unterstützt wird er auch von den Nachbarkirchen, darunter Genf Mömpelgard, Thonon, Morges und Biel. Aus all diesen Gründen sieht sich Farel außerstande, das ihm von Gott aufgetragene Amt aufzugeben. Inzwischen hat eine Nachbarstadt [Bern] Vermittler geschickt, die vorschlugen, einen Schiedsspruch zufällen; Farels Partei erklärte sich einverstanden, vorausgesetzt dass dessen Amt nicht herabgewürdigt würde. Der Spruch lautete, Farel solle zwei weitere Monate im Amt bleiben; falls sich die Parteien versöhnten, solle es dabei bleiben, andernfalls sei neu zu entscheiden, doch inzwischen dürfe er nicht weiter angefeindet werden. Im privaten Gespräch wurde er jedoch aufgefordert, sich nach einer andern Stelle umzusehen, nachdem er ja bereits einen Ruf [nach Genf] erhalten habe, was er allerdings bestritt; diese Aufforderung hat großes Befremden ausgelöst, da der ordnungsgemäß berufene und unbescholtene Farel einzig in einem ordentlichen Verfahren abgelöst werden könnte. Er erklärte, wenn er sich der ihm von Gott zugewiesenen Aufgabe entzöge, würde er die Kirche in größte Gefahr bringen und treulos handeln; seit den Zeiten der Apostel sei so etwas niemals geduldet worden. Falls er aber eines Vergehens schuldig sei, werde er weichen und jegliche Strafe auf sich nehmen. Die Neuenburger Pfarrer möchten die Meinung der angesprochenen Kirchen dazu hören und bitten sie, sich der Sache anzunehmen. Sie bitten, an die Neuenburger Kirche, aber auch an andere, besonders jene in Bern, zu schreiben. Das Schreiben an Neuenburg soll an Rat, Volk und Pfarrer gerichtet werden; sie sollen zur Eintracht sowie zum Festhalten am gewählten Pfarrer, ihrem Vater im Glauben, ermahnt und vor schlimmen Folgen und Gottes Zorn gewarnt werden. Die angesprochenen Pfarrer sollen auch versuchen, gleichartige Schreiben ihrer Obrigkeiten zu erwirken, da deren Fürsprache noch größeres Gewicht haben dürfte; es besteht Grund zur Hoffnung, da manche bereits Einsicht zu zeigen beginnen. Angesichts der allgemeinen Wertschätzung für Farel und des Alters der [evangelischen] Neuenburger Kirche muss gerade in diesem Fall besonders entschlossen für die kirchliche Ordnung gekämpft werden. Wichtig ist vor allem, dass Rat und Volk an das ortsübliche Berufungsverfahren erinnert werden: Die Pfarrer wählen den geeigneten Kandidaten aus und prüfen ihn, die Fürstin [bzw. ihr Gouverneur] und der Magistrat approbieren ihn, und schließlich wird er der Gemeinde vorgestellt; dieses Verfahren ist seit Jahren allgemein anerkannt. Erst neuerdings wird behauptet, die Wahl stehe der Fürstin [bzw. dem Gouverneur] und dem Volk zu. Deshalb möchten die Neuenburger hören, was die andern Kirchen davon halten.

[Gedruckt: Corr. des réformateurs VII 274-283, Nr. 1050.]