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C. M. Wieland's Werke.

Fünfter Band.

Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1853.
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.
 
Geschichte des Agathon.
Quid Virtus et quid Sapientia possit
Utile proposuit nobis exemplum.

Zweiter Band.

Inhalt

des zweiten Theils.Seite

Siebentes Buch. Agathon erzählt die Geschichte seiner
Jugend, bis zu dem Zeitpunkte, da er seinen Vater fand.
Erstes Capitel. Agathons erste Jugend. Etwas von Idealen. 3
Zweites Capitel. Agathon wird in der Orphischen 
Philosophie unterwiesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Drittes Capitel. En animam et mentem cum qua Di nocte 
loquantur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Viertes Capitel. Die Liebe in verschiednen Gestalten. Die
Pythia tritt an Theogitons Stelle . . . . . . . . . . . . 20
Fünftes Capitel. Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Sechstes Capitel. Die Absichten der Pythia entwickeln sich29
Siebentes Capitel. Agathon lehrt seine geliebte Unbekannte
näher kennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35
Achtes Capitel. Ein neuer Versuch der Pythia. Psyche 
wird unsichtbar. Agathons letztes Abenteuer zu Delphi . . 45
Neuntes Capitel. Agathon entflieht von Delphi, und findet
seinen Vater. Was für einen neuen Schwung sein Geist
durch die Veränderung seiner Umstände bekommt . . . . . . 52
Achtes Buch. Fortsetzung der Erzählung Agathons, von
seiner Versetzung nach Athen bis zu seiner Bekanntschaft
mit Danae.Erstes Capitel. Agathon kommt nach Athen und 
widmet sich der Republik. Eine Probe der besondern Natur 
denjenigen Windes,der von Horaz aura popularis genannt wird68
Zweites Capitel. Agathons Glück und Ansehen in der Republik
erreicht seinen höchsten Gipfel . . . . . . . . . . . . . 78
Drittes Capitel. Agathon wird als ein Staatsverbrecher 
angeklagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Viertes Capitel. Ein Verwandter seines Vaters macht dem
Agathon sein Geburts- und Erbrecht streitig. Sein 
Gemüthszustand unter diesen Widerwärtigkeiten . . . . . . 94
Fünftes Capitel. Wie Agathon sich vor den Athenern 
vertheidiget. Er wird verurtheilt und auf immer aus 
Griechenland verbannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Sechstes Capitel. Agathon endigt seine Erzählung . . . . .108
Neuntes Buch. Fortsetzung der Geschichte Agathons und
der schönen Danae bis zur heimlichen Entweichung des erstern 
aus Smyrna. SeiteErstes Capitel. Ein starker Schritt zur 
Entzauberung unsers Helden . . . . . . . . . . . . . . . .114
Zweites Capitel. Vorbereitung zum Folgenden. Neue 
Anschläge des Sophisten Hippias . . , . . . . . . . . . . 123
Drittes Capitel. Hippias wird zum Verräther an seiner 
Freundin Danae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130
Viertes Capitel. Folgen des Vorhergehenden Agathon entfernt
sich heimlich aus Smyrna . . . . . . . . . . . . . . . . .141
Fünftes Capitel. Eine kleine Abschweifung . . . . . . . . 152
Sechstes Capitel. Agathon wird von einem kleinen Rückfall
bedroht. Ein unverhoffier Zufall bestimmt seine 
Entschließung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .159
Siebentes Capitel. Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze . 166
Achtes Capitel. Eine oder zwei Abschweifungen . . . . . . 177
Zehntes Buch. Darstellung des Syrakusischen Hofes,
und des Merkwürdigsten, was sich kurz zuvor, ehe
Agathon zu Syrakus auftrat, an demselben begeben
hatte.Erstes Capitel. Charakter der Syrakuser, des 
Dionysius und seines Hofes . . . . . . . . . . . . . . . .187
Zweites Capitel. Charakter des Dion, Anmerkungen über 
denselben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Drittes Capitel. Ein Beispiel, daß die Philosophie so gut 
zaubern kann als die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . .202
Vierten Capitel. Philistus und Timokrates . . . . . . . . 215
Fünftes Capitel. Gemüthsverfassung des Dionysius. 
Unterredung mit Dion und Platon. Folgen derselben . . . . 229
Sechstes Capitel. Kunstgriffe des Günstlings Timokrates. 
Bacchidion. Dion und Platon werden entfernt . . . . . . . 236
Siebentes Capitel. Ein merkwürdiger Vortrag des Philistus.
Wozu ein großer Herr Philosophen und witzige Köpfe brauchen 
kann. Dionysius stiftet eine Akademie von schönen Geistern243

Geschichte des Agathon.

Zweiter Theil.

Siebentes Buch.

Agathon erzählt die Geschichte seiner Jugend, bis zu dem Zeitpunkte, da er seinen Vater fand.

Erstes Capitel.

Agathons erste Jugend. Etwas von Idealen.

Ich war schon achtzehn Jahr alt, eh' ich denjenigen kannte, dem ich mein Daseyn zu danken habe. Von der ersten Kindheit an in den Hallen des Delphischen Tempels erzogen, war ich gewohnt, die Priester des Apollo mit diesen kindlichen Empfindungen anzusehen, welche das erste Alter über alle, die für unsre Erhaltung Sorge tragen, zu ergießen pflegt. Ich war noch ein kleiner Knabe, als ich schon mit dem geheiligten Gewande, welches die jungen Diener des Gottes von den Sklaven der Priester unterschied, bekleidet, und zum Dienste des Tempels gewidmet wurde.Wer Delphi gesehen hat, wird sich nicht verwundern, daß ein Knabe von gefühlvoller Art, der beinahe von der Wiege an daselbst erzogen worden, unvermerkt eine Gemüthsbildung bekommen mußte, die ihn von den gewöhnlichen Menschen unterschied. Außer der besondern Heiligkeit, welche ein uraltes Vorurtheil und die geglaubte Gegenwart des Pythischen Gottes dem Delphischen Boden beigelegt hat, war in den Bezirken des Tempels selbst kein Platz, der nicht von irgend einem ehrwürdigen oder glänzenden Gegenstand erfüllt, oder durch das Andenken irgend eines Wunders verherrlichet gewesen wäre. Der Anblick so vieler wundervollen Dinge war das erste, woran meine Augen gewöhnt wurden, und die Erzählung wunderbarer Begebenheiten die erste mündliche Unterweisung, die ich von meinen Vorgesetzten erhielt. Eine Art von Unterricht, dessen ich bedurfte, weil es ein Theil meines Berufs seyn sollte, den Fremden, von welchen der Tempel immer angefüllt war, die Gemälde, Schnitzwerke und Bilder, und den unsäglichen Reichthum von Geschenken, wovon die Hallen und Gewölbe desselben schimmerten, zu erklären.Für ungewohnte Augen ist vielleicht nichts Blendenderes, als der Anblick eines von so vielen Königen, Städten und reichen Privatpersonen in ganzen Jahrhunderten zusammen gehäuften Schatzes von Gold, Silber, Edelsteinen, Perlen und Elfenbein. Für mich, der dieses Anblicks gewohnt war, hatte die bescheidene Bildsäule eines Solon mehr Reiz, als alle schimmernden Denkmale einer abergläubischen Andacht, welche ich bald mit eben der verachtenden Gleichgültigkeit ansah, womit ein Knabe die Puppen und Spielwerke seiner Kindheit anzusehen pflegt. Noch unfähig von den Verdiensten und dem wahren Werthe der vergötterten Helden mir einen ächten Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und fühlte, indem ich sie betrachtete, mein Herr mit geheimen Empfindungen ihrer Größe und mit einer Bewunderung erfüllt, wovon ich keine andre Ursache als mein inneres Gefühl hätte angeben können. Einen noch stärkern Eindruck machte auf mich die große Menge von Bildern der verschiednen Gottheiten, unter welchen unsre Voreltern die erhaltenden Kräfte der Natur, die mannichfaltigen Vollkommenheiten des menschlichen Geistes, und die Tugenden des geselligen Lebens vorgestellt haben, und wovon ich im Tempel und in den Hainen von Delphi mich allenthalben umgeben fand.Meine damalige Erfahrung, schöne Danae, hat mich seitdem oftmals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beitrag sey, welchen die schönen Künste zu Bildung des sittlichen Menschen thun können, und wie weislich die Priester der Griechen gehandelt, da sie die Musen und Grazien, deren Lieblinge ihnen so große Dienste gethan, selbst unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vortheil der Religion, insofern sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen Ordens ist, scheint von der Stärke der Eindrücke abzuhangen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worin wir noch unfähig sind Untersuchungen anzustellen. Würden unsere Seelen in Absicht der Götter und ihres Dienstes von Kindheit an leere Tafeln gelassen, und anstatt der unsichern und verworrenen aber desto lebhaftern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wundergeschichten, und in etwas zunehmendem Alter durch die Musik und die bildenden Künste, von den übernatürlichen Gegenständen bekommen, allein mit den unverfälschten Eindrücken der Natur und den Grundsätzen der Vernunft überschrieben: so ist sehr zu vermuthen, daß der Aberglaube noch größere Mühe haben würde, die Vernunft, als, in dem Falle worin die meisten sich befinden, die Vernunft Mühe hat, den Aberglauben von der einmal angenommenen Herrschaft zu verdrängen. Der größte Vortheil, den dieser über jene hat, hängt davon ab, daß er ihr zuvorkommt. Wie leicht wird es ihm, sich einer noch unmündigen Seele zu bemeistern, wenn alle diese zauberischen Künste, welche die Natur im Nachahmen selbst zu übertreffen scheinen, ihre Kräfte vereinigen die entzückten Sinne zu überraschen! Wie natürlich muß es demjenigen werden, die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich sich zu bereden daß er ihre Gegenwart und Einflüsse fühle, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen erster Anblick das Werk und die Wohnung eines Gottes ankündet; — demjenigen, der gewohnt ist den Apollo eines Phidias immer vor sich zu sehen, und das mehr als Menschliche, welches die Kenner so sehr bewundern, der Natur des Gegenstandes, nicht dem Geiste des Künstlers zuzuschreiben!So viel ich unsre Seele kenne, däucht mich, daß sich in einer jeden, die zu einem merklichen Grade von Entwicklung gelangt, nach und nach ein gewisses idealisches Schöne bilde, welches (auch ohne daß man sich's bewußt ist) unsern Geschmack und unsre sittlichen Urtheile bestimmt, und das allgemeine Modell abgibt, wonach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen, was wir groß, schön und vortrefflich nennen, zu entwerfen scheint. Dieses idealische Modell bildet sich (wie mich däucht) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhange der Gegenstände, unter welchen wir zu leben anfangen. Daher (wie die Erfahrung zu bestätigen scheint) so vielerlei besondere Denk- und Sinnesarten, als man verschiedene Stände und Erziehungsarten in der menschlichen Gesellschaft antrifft; daher der Spartanische Heldenmuth, die Attische Urbanität. und der Schwulst der Asiaten; daher die Verachtung des Geometers für den Dichter, oder des speculirenden Kaufmanns gegen die Speculationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar scheinen, weil sie sich in keine Dariken verwandeln, wie die seinigen; daher der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Ungestüm des Seefahrers, die mechanische Unempfindlichkeit des Soldaten und die einfältige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die Schwärmerei, welche der weise Hippias deinem Kallias vorwirft; diese Schwärmerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Lichte sehe, seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben glaube; aber die ich nichtsdestoweniger für diejenige Gemüthsbeschaffenheit halte, welche uns, unter gewissen Einschränkungen, glücklicher als irgend eine andre machen kann.
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Zweites Capitel.

Agathon wird in der Orphischen Philosophie unterwiesen.

Du begreifst leicht, schöne Danae, daß unter lauter Gegenständen, welche über die gewöhnliche Natur erhaben und selbst schon idealisch sind, jenes phantasirte Modell, dessen ich vorhin erwähnte, in einem so ungewöhnlichen Grade abgezogen und überirdisch werden mußte, daß bei zunehmendem Alter alles, was ich wirklich sah, weit unter demjenigen war, was sich meine Einbildungskraft zu sehen wünschte. In dieser Gemüthsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu Delphi, aus Absichten welche sich erst in der Folge entwickelten, es übernahm, mich in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie einzuweihen; der einzigen, die von unsern Priestern hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst auf ihre Partei zu ziehen, und dem Glauben, von dessen unbeweglichem Ansehen das ihrige abhing, einen festern Grund, als die mündliche Ueberlieferung und die Fabeln der Dichter, zu geben schien.Die Entzückung war unbeschreiblich, in die ich hinein gezogen wurde, als ich, an den Händen dieses Stifters unsrer Religion und Gelehrsamkeit, in das Reich der Geister eingeführt, und mir zu einer Zeit, da die erhabensten Gemälde Homers und Pindars ihren Reiz für mich verloren hatten, mitten in der materiellen Welt eine neue, mit lauter unsterblichen Schönheiten erfüllt und von lauter Göttern bewohnt, eröffnet wurde.Ich stand damals eben in dem Alter, worin wir, aus dem langen Traume der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die Welt um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neugierig sind, unsre eigne Natur und den Schauplatz, worauf wir uns ohne unser Zuthun versetzt sehen, kennen zu lernen. Wie willkommen ist uns da eine Philosophie, die den Vortheil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung zum Wunderbaren und mit dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit, welche der Jugend eigen sind, vereiniget, alle unsre Fragen beantwortet, alle Räthsel erklärt, alle Aufgaben auflöset! Eine Philosophie, die desto mehr mit dem warmen und gefühlvollen Herzen der Jugend sympathisirt, weil sie alles Unempfindliche und Todte aus der Natur verbannt, jeden Atom der Schöpfung mit lebenden und geistigen Wesen bevölkert, jeden Punkt der Zeit mit verborgenen Begebenheiten befruchtet, die für künftige Ewigkeiten heranreifen! Ein System, worin die Schöpfung so unermeßlich ist als ihr Urheber; welches uns in der anscheinenden Verwirrung der Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der moralischen Welt einen unveränderlichen Plan, in der unzählbaren Menge von Classen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und in dem nachtvollen Abgrunde der Zukunft helle Aussichten in gränzenlose Wonne zeigt! — Ein solches System ist zu schön an sich selbst, zu schmeichelhaft für unsern Stolz, unsern innersten Wünschen und wesentlichsten Trieben zu angemessen, als daß wir es in einem Alter, wo alles Große und Rührende so viel Macht über uns hat, nicht beim ersten Anblicke wahr finden sollten. Vermuthungen und Wünsche werden hier zu desto stärkern Beweisen, da wir in dem bloßen Anschauen der Natur zu viel Majestät, zu viel Geheimnißreiches und Göttliches zu sehen glauben, um besorgen zu können, daß wir jemals zu groß von ihr denken möchten. Und, soll ich dir's gestehen, schöne Danae? selbst itzt, nachdem glückliche Erfahrungen mich von dieser hochfliegenden Art zu denken zurückgebracht haben, glaube ich mit einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden Zweifel empört, zu fühlen, daß diese Uebereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen, die ihr das Wort redet, der ächte Stempel der Wahrheit sey, und daß selbst in diesen Träumen, welche dem sinnlichen Menschen so ausschweifend scheinen, für unsern Geist mehr Realität, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere Quelle von ruhiger Freude, und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit liege, als in allem was uns die Sinne Angenehmes und Gutes anzubieten haben.Doch ich erinnere mich, daß es die Geschichte meiner Seele und nicht die Rechtfertigung meiner Denkart ist, wozu ich mich anheischig gemacht habe. Es sey also genug, wenn ich sage, daß die Lehrsätze des Orpheus und des Pythagoras — von den Göttern, von der Natur, von unsrer Seele, von der Tugend, und von dem was das höchste Gut des Menschen ist, sich meines Gemüths so gänzlich bemeisterten, daß alle meine Begriffe nach diesem Urbilde gemodelt, alle meine Neigungen davon beseelt, und mein ganzes Betragen, so wie alle meine Entwürfe für die Zukunft, mit dem Plan eines nach diesen Grundsätzen abgemessenen Lebens übereinstimmig waren.
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Drittes Capitel.

En animam et mentem cum qua Di nocte loquantur!

Der Priester Theogiton, der sich zu meinem Mentor aufgeworfen hatte, schien über den außerordentlichen Geschmack, den ich an seinen erhabnen Unterweisungen fand, sehr vergnügt zu seyn, und ermangelte nicht, meinen Enthusiasmus bis auf einen Grad zu erhöhen, welcher mich, seiner Meinung nach, alles zu glauben und alles zu leiden fähig machen müßte. Ich war zu jung und zu unschuldig, um das kleinste Mißtrauen in seine Bemühungen zu setzen, bei welchen die Aufrichtigkeit meines eignen Herzens die edelsten Absichten voraussetzte.Er hatte die Vorsicht gebraucht, es so einzuleiten, daß ich endlich aus eigner Bewegung auf die Frage gerathen mußte: "Ob es nicht möglich sey, schon in diesem Leben mit den höhern Geistern in Gemeinschaft zu kommen?"Dieser Gedanke beschäftigte mich lange bei mir selbst; ich fand möglich, was ich mit der größten Lebhaftigkeit wünschte. Die Geschichte der ersten Zeiten schien meine Hoffnung zu bestätigen. Die Götter hatten sich den Menschen bald in Träumen, bald in Erscheinungen entdeckt; verschiedene waren sogar zu der Ehre gelangt, Günstlinge der Götter zu seyn. Hier kamen mir Ganymedes, Endymion, Adonis, und so viele andre zu statten, welche von Gottheiten geliebt worden waren. Ich legte dasjenige, was die Dichter davon erzählen, nach den erhabenen Begriffen aus, die ich von den höheren Wesen gefaßt hatte. Die Schönheit und Reinigkeit der Seele, die Abgezogenheit von den Gegenständen der Sinne, die Liebe zu den unsterblichen und ewigen Dingen, schien mir dasjenige zu seyn, was diese Personen den Göttern angenehm und zu ihrem Umgange geschickt gemacht hatte.Endlich entdeckte ich dem Theogiton meine lange geheim gehaltenen Gedanken. Er erklärte sich auf eine Art darüber, die meine Neubegierde rege machte, ohne sie zu befriedigen. Er ließ mich merken, daß dieß Geheimnisse seyen, welche er Bedenken trage meiner Jugend anzuvertrauen. Doch setzte er hinzu, die Möglichkeit der Sache sey keinem Zweite! unterworfen, und bezauberte mich ganz mit dem Gemälde, das er mir von der Glückseligkeit derjenigen machte, welche von den Göttern würdig geachtet würden zu ihrem geheimen Umgange zugelassen zu werden. Die geheimnißvolle Miene, die er annahm, sobald ich nach den Mitteln hierzu zu gelangen fragte, bewog mich ruhig zu erwarten, bis er selbst für gut finden würde sich deutlicher zu entdecken. Er hat es nicht; aber er machte so viele Gelegenheiten, meine erregte Neugierde zu entflammen, daß ich mich nicht lange enthalten konnte neue Fragen zu thun.Endlich führte er mich einmals tief im Haine des Apollo in eine Grotte, welche ein uralter Glaube für eine Wohnung der Nymphen hielt, deren Bilder in Blinden von Muschelwerk das Innerste der Höhle zierten. Hier ließ er mich auf eine bemooste Bank niedersitzen, und fing nach einer viel versprechenden Vorrede an, mir (wie er sagte) das geheime Heiligthum der göttlichen Philosophie des Hermes und Orpheus aufzuschließen. Unzählige religiöse Waschungen, und eine Menge von Gebeten, Räucherungen und andre geheime Anstalten mußten vorhergehen, einen noch in irdische Glieder gefesselten Geist zum Anschauen der himmlischen Naturen vorzubereiten. Und auch alsdann würde unser sterblicher Theil den Glanz der göttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die Dichter unter der Geschichte der Semele zu erkennen gegeben) gänzlich davon verzehrt und vernichtet werden, wenn sie sich nicht mit einer Art von körperlichem Schleier umhüllen, und durch diese Herablassung uns nach und nach fähig machen würden, sich endlich selbst, entkörpert und in ihrer wesentlichen Gestalt, anzuschauen. Ich war einfältig genug alle diese vorgegebenen Geheimnisse für ächt zu halten. Ich hörte dem ernsten Theogiton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir seine Unterweisungen so wohl zu nutze, daß ich Tag und Nacht an nichts anders dachte, als an die außerordentlichen Dinge, wovon ich in kurzem die Erfahrung bekommen würde.Du kannst dir vorstellen, Danae, ob meine Phantasie in dieser Zeit müßig war. "Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alles beschreiben wollte, was damals in ihr vorging, und mit welch' einer Zauberei sie mich in meinen Träumen bald in die glücklichen Inseln, welche Pindar so prächtig schildert, bald zum Gastmahle der Götter, bald in die Elysischen Thäler, die Wohnung seliger Schatten, versetzte.So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die Kräfte der Einbildung dasjenige weit übersteigen, was die Natur unsern Sinnen darstellt: sie hat etwas Glänzenderes als Sonnenglanz, etwas Lieblicheres als die süßesten Düfte des Frühlings zu ihren Diensten, unsre innern Sinnen in Entzückung zu setzen; sie hat neue Gestalten, höhere Farben, vollkommnere Schönheiten, schnellere Veranstaltungen, eine neue Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen, andere Zeitmaße —kurz, sie erschafft eine neue Natur, und versetzt uns in der That in fremde Welten, welche nach ganz andern Gesetzen als die unsrige regiert werden. In unsrer ersten Jugend sind wir noch zu unbekannt mit den Triebfedern unsers eignen Wesens, um deutlich einzusehen, wie sehr diese scheinbare Magie der Einbildungskraft in der That natürlich ist. Wenigstens war ich damals leichtgläubig genug, Träume von dieser Art übernatürlichen Einflüssen beizumessen, und sie für Vorboten der Wunderdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hoffte.Als ich nun nach Theogitons Vorschrift acht Tage lang mit geheimen Ceremonien und Weihungen, und in einer unablässigen Anstrengung mein Gemüth von allen äußerlichen Gegenständen abzuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr für berechtiget hielt etwas mehr zu erwarten, als was mir bisher begegnet war, begab ich mich in später Nacht, da alles schlief, in die Grotte der Nymphen. Nachdem ich eine Menge seltsamer Lieder und Anrufungsformeln hergesagt hatte, lehnte ich mich, mit dem Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, auf die Ruhebank zurück, und überließ mich der Vorstellung, wie mir seyn würde, wenn Luna aus ihrer Silbersphäre herabsteigen und mich zu ihrem Endymion machen würde. Mitten in diesen ausschweifenden Vorstellungen, unter denen ich allmählich zu entschlummern anfing, weckte mich plötzlich ein liebliches Getön, welches in einiger Entfernung über mir zu schweben schien, und, wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Saitenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt. Einem natürlich gestimmten Menschen würde gedäucht haben, er höre ein gutes Stük von einer geschickten Hand; und so hätte er sich nicht betrügen können. Aber in der Verfassung worin ich damals war, hätte ich vielleicht das Gequäk eines Chors von Fröschen für den Gesang der Musen gehalten. Die Musik, die ich hörte, rührte, fesselte, entzückte mich; sie übertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantasie hat auch ihre Empfindungen), alles was ich jemals gehört hatte; nur Apollo, der Vater der Harmonie, dessen Laute die Sphären ihre Götter-vergnügenden Harmonien gelehrt hatte, konnte so überirdische Töne hervorbringen. Meine Seele schien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen, und, lauter Ohr, über den Wolken zu schweben; als diese Musik plötzlich aufhörte, und mich in einer Verwirrung von Gedanken und Gemüthsregungen zurückließ, die mir diese ganze Nacht kein Auge zu schließen gestattete.Des folgenden Tages erzählte ich meinem Lehrer was mir begegnet war. Er schien nichts sehr Besondres daraus zu machen: doch gab er, nachdem er mich um alle Umstände befragt hatte, zu, daß es Apollo, oder eine von den Musen gewesen seyn könne. Du wirst lächeln, Danae, wenn ich dir gestehe, daß ich, so jung ich war, und ohne mir selbst recht bewußt zu seyn, warum? doch lieber gesehen hätte, wenn es eine Muse gewesen wäre. Ich unterließ nun keine Nacht, mich in der Grotte einzufinden, um die vermeinte Muse wieder zu hören. Aber meine Erwartung betrog mich; es war Apollo selbst. Nach etlichen Nächten, worin ich mir an der stummen Gegenwart der Nymphen von Cypressenholze genügen lassen mußte, kündigte mir ein heller Schein, der auf einmal in die Grotte fiel und durch die allgemeine Dunkelheit und meinen Wahnsinn zu einem überirdischen Licht erhoben wurde, irgend eine außerordentliche Begebenheit an. Urtheile, wie bestürzt ich war, als ich mitten in der Nacht den Gott des Tages, auf einer hell glänzenden Wolke sitzend, vor mir sah, der sich mir zu Gefallen den Armen der schönen Thetis entrissen hatte. Goldne Locken flossen um seine weißen Schultern, eine Krone von Strahlen schmückte seine Scheitel, das silberne Gewand das ihn umfloß, funkelte von tausend Edelsteinen, und eine goldne Leyer lag in seinem linken Arme. Meine Einbildung that das übrige hinzu, was zu Vollendung einer idealischen Schönheit nöthig war. Allein Bestürzung und Ehrfurcht erlaubte mir nicht, dem Gott genauer ins Gesicht zu sehen. Ich glaubte geblendet zu seyn, und den Glanz von Augen, welche die ganze Welt erleuchteten, nicht ertragen zu können. Er redete mich an. Er bezeigte mir sein Wohlgefallen an meinem Dienst, und an der feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung der irdischen Dinge, mich den himmlischen widmete. Er munterte mich auf, in diesem Wege fortzusetzen, und mich den Einflüssen der Unsterblichen leidend zu überlassen; mit der Versicherung, daß ich bestimmt sey, die Anzahl der Glücklichen zu vermehren, welche er seiner besondern Gunst gewürdiget habe. Er verschwand, indem er diese Worte sagte, so plötzlich, daß ich nichts dabei beobachten konnte; und, so voreingenommen als mein Gemüth war, hatte dieser Apollo seine Rolle viel ungeschickter spielen können, ohne daß mir ein Zweifel gegen seine Gottheit aufgestiegen wäre.Theogiton, dem ich von dieser Erscheinung Nachricht gab, wünschte mir Glück dazu, und sagte mir von den alten Helden unsrer Nation, welche einst Lieblinge der Götter gewesen und nun als Halbgötter selbst Altäre und Priester hätten, so viel herrliche Sachen vor, als er nöthig erachten mochte, meine Betheuerung vollkommen zu machen. Am Ende vergaß er nicht, mir Anweisung zu geben, wie ich mich bei einer zweiten Erscheinung gegen den Gott zu verhalten hätte. Insonderheit ermahnte er mich, mein Urtheil über alles zurückzuhalten mich durch nichts befremden zu lassen, und der Vorschrift unsrer Philosophie immer eingedenk zu bleiben, "welche eine gänzliche Unthätigkeit von uns fordert, wenn die Götter auf uns wirken sollen." Man mußte so unerfahren seyn als ich war, um keine Schlange unter diesen Blumen zu merken. Nichts als die Entwicklung dieser heiligen Mummerei konnte mir die Augen öffnen. Ich konnte unmöglich aus mir selbst auf den Argwohn gerathen, daß die Zuneigung einer Gottheit eigennützig seyn könne. Ich hatte vielmehr gehofft, die größesten Vortheile für meine Wissensbegierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menschlichen Vorzügen begabt zu werden. Die Erklärungen des Apollo befremdeten mich endlich, und seine Handlungen noch mehr. Zuletzt entdeckte ich, was du schon lange vorher gesehen haben mußt, daß der vermeinte Gott kein andrer als Theogiton selber war. Dieser änderte nun, sobald er sein Spiel entdeckt sah, auf einmal die Sprache, und suchte mich zu bereden, daß er diese Komödie nur zu dem Ende gespielt habe, um mich von der Eitelkeit der Theurgie, in die er mich so verliebt gesehen hätte, desto besser überzeugen zu können. Er zog die Folge daraus: daß alles, was man von den Göttern sagte, Erfindungen schlauer Köpfe wären, womit sie Weiber und leichtgläubige Knaben in ihr Netz zu ziehen suchten; kurz er vergaß nichts was die unsittlichste Leidenschaft einem schamlosen Verächter der Götter eingeben kann, um die Mühe einer so wohl ausgesonnenen und mit so vielen Maschinen aufgestützten Verführung nicht umsonst gehabt zu haben. Ich verwies ihm seine Bosheit mit einem Zorne, der mich stark genug machte mich von ihm los zu reißen. Des folgenden Tages hatte er die Unverschämtheit, die priesterlichen Verrichtungen mit eben der heuchlerischen Andacht fortzusetzen, womit er mich und jeden andern bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringste Veränderung in seinem Betragen gegen mich merken, und schien sich des Vergangnen eben so wenig zu erinnern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken hätte. Diese Aufführung vermehrte meine Unruhe sehr. Ich konnte noch nicht begreifen, daß es Leute geben könne, welche mitten in den Ausschweifungen des Lasters Ruhe und Heiterkeit, die natürlichen Gefährten der Unschuld, beizubehalten wissen. Allein in weniger Zeit darauf befreite mich die Unvorsichtigkeit dieses Betrügers von den Besorgnissen, worin ich seit der Geschichte in der Grotte geschwebt hatte. Theogiton verschwand aus Delphi, ohne daß man die eigentliche Ursache davon erfuhr; aber aus dem, was man sich in die Ohren murmelte, errieth ich, daß Apollo endlich überdrüssig geworden seyn möchte, seine Person von einem andern spielen zu lassen.Diese Begebenheiten führten mich natürlicher Weise auf viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine Lieblingsideen verloren nichts dabei. Sie gewannen vielmehr, indem ich sie nun in mich selbst verschloß, und die Unsterblichen allein zu Zeugen desjenigen machte, was in meiner Seele vorging. Ich fuhr fort, die Verbesserung derselben nach den Grundsätzen der Orphischen Philosophie mein vornehmstes Geschäfte seyn zu lassen. Ich fing nun an zu glauben, daß keine andre als eine idealische Gemeinschaft zwischen den höhern Wesen und den Menschen möglich sey. Nichts als die Reinigkeit und Schönheit unsrer Seele, dacht' ich, kann uns zu einem Gegenstande des Wohlgefallens jenes unnennbaren, allgemeinen, obersten Geistes machen, von welchem alle übrigen, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht, und die ganze Natur ihre Schönheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und allein in der Uebereinstimmung aller unsrer Kräfte, Gedanken und geheimsten Neigungen mit den großen Absichten und allgemeinen Gesetzen dieses Beherrschers der sichtbaren und unsichtbaren Welt liegt das wahre Geheimniß, zu derjenigen Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche die natürliche Bestimmung und das letzte Ziel aller Wünsche eines unsterblichen Wesens seyn soll. Beides, jene geistige Schönheit der Seele und diese erhabene Richtung ihrer Wirksamkeit nach den Absichten des Gesetzgebers der Wesen, glaubte ich am sichersten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten, welche ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das Wesentliche, Unvergängliche und Göttliche in unsern Geist zurückstrahle, und ihn nach und nach eben so durchdringe und erfülle, wie die Sonne einen angestrahlten Wassertropfen. Ich überredete mich, daß die unverrückte Beschauung der Weisheit und Güte, welche sowohl aus der besondern Natur eines jeden Theils der Schöpfung; als aus dem Plan und der allgemeinen Oekonomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel sey, selbst weise und gut zu werden. Ich brachte alle diese Grundsätze in Ausübung. Jeder neue Gedanke der sich in mir entwickelte, wurde zu einer Empfindung meines Herzens; und so lebte ich in einem stillen und lichtvollen Zustande des Gemüthes, dessen ich mich niemals anders als mit wehmüthigem Vergnügen erinnern werde, etliche glückliche Jahre hin; unwissend (und glücklich durch diese Unwissenheit), daß dieser Zustand nicht dauern könne: weil die Leidenschaften des reifenden Alters und (wenn auch diese nicht wären) die unvermeidliche Verwicklung in den Wechsel der menschlichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht gestatten, welche nur ein Antheil entkörperter Wesen seyn kann.
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Viertes Capitel.

Die Liebe in verschiedenen Gestalten. Die Pythia tritt an Theogitons Stelle.

Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fing nun an, mitten unter den angenehmen Empfindungen, von denen meine Denkungsart und meine Beschäftigungen unerschöpfliche Quellen zu seyn schienen, ein Leeres in mir zu fühlen, welches sich durch keine Ideen ausfüllen lassen wollte. Ich sah die mannichfaltigen Scenen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre Schönheiten hatten für mich etwas Herzrührendes, welches ich sonst nie auf diese Art empfunden hatte. Der Gesang der Vögel schien mir etwas zu sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne daß ich wußte was es war; und die neu belaubten Wälder schienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wollüstigen Schwermuth nachzuhängen, von welcher ich oft mitten in den erhabensten Betrachtungen wider meinen Willen überwältiget wurde. Nach und nach verfiel ich in eine weichliche Unthätigkeit. Mir däuchte, ich sey bisher nur in der Einbildung glücklich gewesen; und mein Herz sehnte sich nach einem Gegenstande, in welchem ich jene idealischen Vollkommenheiten wirklich genießen möchte, an denen ich mich bisher nur wie an einem geträumten Gastmahle geweidet hatte.Damals zuerst stellten sich mir die Reizungen der Freundschaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar: ein Freund (bildete ich mir ein), ein Freund würde diese geheime Sehnsucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantasie malte sich einen Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekränzte dieses schöne Bild mit allem was mir das Liebenswürdigste schien, selbst mit jenen äußerlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem System den natürlichen Schmuck der Tugend ausmachten. Ich suchte diesen Freund unter der blühenden Jugend, welche mich umgab. Mehr als Einmal glaubte mein getäuschtes Herz ihn gefunden zu haben; aber eine kurze Erfahrung überwies mich meines Irrthums nur zu bald. Unter einer so großen Anzahl von auserlesenen Jünglingen, welche die Liverei des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Natur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hätte, als die Spitzfindigkeit meiner Begriffe es erforderte.Um diese Zeit geschah es, daß ich das Unglück hatte, der Oberpriesterin eine Neigung einzuflößen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter einen gleich starken Absatz machte. Schon seit geraumer Zeit hatte sie mich mit vorzüglicher Gütigkeit angesehen, welche ich einer mütterlichen Gesinnung beimaß, und mit aller der Ehrerbietung erwiederte, die ich der Vertrauten des Apollo schuldig war. Stelle dir vor, schöne Danae, was für ein Modell zu einer Bildsäule des Erstaunens ich abgegeben hätte, als sich eine so ehrwürdige Person herabließ, mir zu entdecken, daß alle Vertraulichkeit, die ich zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht zureiche, sie über die Schwachheiten der gemeinsten Erdentöchter hinweg zu setzen! Die gute Dame war bereits in demjenigen Alter, worin es lächerlich wäre, das Herz eines Mannes von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu wollen. Allein einem Neulinge, wofür sie mich mit gutem Grund ansah, die ersten Unterweisungen zu geben, dazu konnte sie sich ohne übertriebene Eitelkeit für reizend genug halten. Male dir zu den Ueberbleibseln einer vormals berühmten Schönheit eine Figur vor, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt; große schwarze Augen, unter deren angenommenem Ernste eine wollüstige Gluth hervor glimmte, und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt für ihre Person, und die schlaue Kunst, die Vortheile ihrer Reizungen mit der strengen Sittsamkeit der priesterlichen Kleidung zu verbinden: so wird es dir leicht seyn, den Grad der Gefahr abzunehmen, worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren Nachstellungen befand.Ohne Zweifel mag es ihr Mühe gekostet haben die ersten Schwierigkeiten zu überwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als Liebe einflößendes Frauenzimmer in den hartnäckigen Vorurtheilen eines achtzehnjährigen Jünglings findet. Ihr Stand erlaubte ihr nicht sich deutlich zu erklären; und meine Blödigkeit verstand die Sprache nicht, deren sie sich zu bedienen genöthigt war. Zwar braucht man sonst zu dieser Sprache keinen andern Lehrmeister als sein Herz; allein unglücklicher Weise sagte mir mein Herz nichts für sie. Es bedurfte der lange geübten Geduld einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben, einem Menschen, der aus lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten begreiflich zu machen. Und dennoch fand sie sich endlich genöthigt, sich des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen Fällen einige Wirkung erwarten kann. Sie hatte noch Reizungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein sie mich durch den ersten Versuch von dieser Art setzte, schien ihr von guter Vorbedeutung zu seyn; und vielleicht hätte sie sich weniger in ihrer Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewöhnliche Stärke gegeben hätte.Unsre Tugend, oder vielmehr gewisse moralische Erscheinungen, welche das Ansehen haben, aus einer so edeln Quelle zu fließen, haben sehr oft geheime Triebfedern, die uns, wenn sie gesehen würden, wo nicht alles Verdienst, wenigstens einen großen Theil desselben entziehen würden. Wie leicht ist es, der Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn ihr von einer stärkern die Wage gehalten wird!
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Fünftes Capitel.

Psyche.

Kurz zuvor, ehe die schöne Pythia den besagten Versuch machte, war das Fest der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der Feierlichkeit begangen wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu seyn vermeint. Alle Jungfrauen über vierzehn Jahre erschienen dabei in schneeweißem Gewande, mit aufgelösten fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blumenkränzen umwunden, und Hymnen zum Preis der jungfräulichen Göttin singend. Auch alte halb erloschne Augen heiterten sich beim Anblick einer so zahlreichen Menge junger Schönen auf, deren geringster Reiz die frischeste Blume der Jugend war. Urtheile, schöne Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer einer blühenden Aue schon in eine Art von Entzücken setzte, bei einem solchen Auftritt unempfindlich bleiben konnte? Meine Blicke irrten in einer zärtlichen Verwirrung unter diesen anmuthsvollen Geschöpfen herum. Aber bald blieben sie auf eine einzige geheftet, deren erster Anblick meinem Herzen keinen Wunsch übrig ließ, etwas andres zu sehen. Vielleicht würde mancher sie unter so vielen Schönen kaum besonders wahrgenommen haben. Den schönsten Wuchs, die regelmäßigsten Züge, langes Haar, dessen wallende Locken bis zu den Knieen herunter flossen, und die reinste Jugendfarbe hatte sie mit allen ihren Gespielen gemein. Viele übertrafen sie noch in einem oder dem andern Stücke der Schönheit; und wenn ein Maler unter der ganzen Schaar hätte entscheiden sollen, welche die Schönste sey, so würde sie vielleicht übergangen worden seyn. Allein mein Herz urtheilte nicht nach den Regeln der Kunst. Ich empfand, oder glaubte zu empfinden (welches in Absicht der Wirkung allemal Eins ist), daß nichts liebenswürdiger als dieses junge Mädchen seyn könne. Ich dachte nicht daran, sie mit den übrigen zu vergleichen; sie löschte alles andre aus meinen Augen aus. So (dacht' ich) müßte die Unschuld aussehen, wenn sie, um sichtbar zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so rührend würden ihre Gesichtszüge seyn, so stillheiter würden ihre Augen, so holdselig ihre Wangen lächeln, so würden ihre Blicke, ihr Gang, jede ihrer Bewegungen seyn. Dieser Augenblick brachte in meiner Seele eine Veränderung hervor, welche mir, als ich in der Folge fähig wurde über meinen Zustand zu denken, dem Uebergang in eine neue vollkommnere Art des Daseyns gleich zu seyn schien. Aber damals war ich zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewußt zu seyn. Meine Entzückung ging so weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles gänzlich aus meinen Augen verschwunden war, wurde ich, wie durch einen plötzlichen Schlag, wieder zu mir selbst gebracht. Itzt hatte ich Mühe mich zu überzeugen, daß ich nicht aus einem von den Träumen erwacht sey, worin meine Phantasie, in überirdische Räume verzückt, mir zuweilen ähnliche Gestalten vorgestellt hatte. Der Schmerz, eines so süßen Anblicks beraubt zu seyn, konnte das reine Vergnügen nicht schwächen, womit das Innerste meines Wesens erfüllt war. Diesen ganzen Abend und den größten Theil der Nacht hatten alle Kräfte meiner Seele keine andere Beschäftigung, als sich dieß geliebte Bild bis auf die kleinsten Züge, mit allen seinen namenlosen Reizen — welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte — mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen, die ihm immer neue Schönheiten lieh. Mein Herz schmückte es mit allen Vorzügen des Geistes, mit jeder sittlichen Schönheit, mit allem, was nach meiner Denkungsart das Vollkommenste und Beste war, aus. Was für ein Gemälde ist dasjenige, wozu die Liebe die Farben gibt! — Und doch glaubte ich immer zu wenig zu thun, strengte alle Kräfte meiner Einbildung an, noch etwas Schöneres als das Schönste zu finden, um die Idee, die ich mir von meiner Unbekannten machte, zu vollenden, und gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln. Diese liebenswürdige Person hatte mich zu eben der Zeit, da ich sie erblickte, wahrgenommen; und es war (wie sie mir in der Folge gestand) etwas mit den Regungen meines Herzens Uebereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen. Ich erinnerte mich (denn wie hätte ich ihre kleinste Bewegung vergessen können!), daß unsre Blicke sich mehr als Einmal begegnet waren, und daß sie jedesmal mit einer Schamröthe, die ihr ganzes Gesicht mit Rosen überzog, die Augen niedergeschlagen hatte. Ich war zu unerfahren, und in der That auch zu bescheiden, aus diesem Umstande etwas Besondres zu meinem Vortheile zu schließen. Aber doch erinnerte ich mich desselben mit einem so innigen Vergnügen, als ob es mir geahnet hätte, wie glücklich mich die Folge davon machen würde. Ich hatte die Eitelkeit nicht, die uns zu schmeicheln pflegt, daß wir liebenswürdig seyen; ich dachte an nichts weniger als auf Mittel wieder geliebt zu werden. Aber die Schönheit der Seele, die ich in ihrem Gesichte ausgedrückt gesehen hatte, diese sanfte Heiterkeit, die aus dem natürlichen Ernst ihrer Züge hervor lächelte, machte mir Hoffnung dazu. Und welch einen Himmel von Wonne öffnete diese Hoffnung vor mir! Was für Aussichten! welches Entzücken, wenn ich mir vorstellte, daß mein ganzes Leben in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahin fließen würde!So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, daß ich sie wieder finden würde; und dieser Wunsch brachte die Begierde mit sich, zu wissen wer sie sey. Aber wen konnt' ich fragen? Ich hatte keinen Freund, dem ich mich entdecken durfte. Von einem jeden andern glaubte ich, daß er bei einer solchen Frage mein ganzes Geheimniß in meinen Augen lesen würde; und die Liebe, die ein sehr guter Rathgeber ist, hatte mich schon einsehen gemacht, wie viel daran gelegen sey, daß der Pythia nicht das geringste zu Ohren komme, was ihr den Zustand meines Herzens verrathen, oder sie zu einer mißtrauischen Beobachtung meines Betragens veranlassen könnte. Ich verschloß also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld, bis irgend ein meiner Liebe günstiger Genius mir zu dieser gewünschten Entdeckung verhelfen würde.Nach einigen Tagen fügte es sich, daß ich meiner geliebten Unbekannten in einem der Vorhöfe des Tempels begegnete. Die Furcht von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in eben dem Augenblicke zurück, da ich auf sie zueilen und meine Freude über diesen unverhofften Anblick in Gebärden und vielleicht in Ausrufungen ausbrechen lassen wollte. Sie blieb einige Augenblicke stehen. Ich glaubte ein plötzliches Vergnügen in ihrem schönen Gesicht aufgehen zu sehen; sie erröthete, schlug die Augen wieder nieder und eilte davon. Ich durft' es nicht wagen ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, so lang' es möglich war; und ich sah, daß sie zu einer Thür' einging, welche in die Wohnung der Priesterin führte. Ich begab mich in den Hain, um meinen Gedanken über diese angenehme Erscheinung ungestörter nachzuhängen. Der letzte Umstand und ihre Kleidung brachte mich auf die Vermuthung, daß sie vielleicht eine von den Aufwärterinnen der Pythia sey, deren diese Dame eine große Anzahl hatte, die aber (außer bei besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar wurden.
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Sechstes Capitel.

Die Absichten der Pythia entwickeln sich

Diese Entdeckung beschäftigte mich nach der ganzen Wichtigkeit, die sie für mich hatte, als ich, in der That zur ungelegensten Zeit von der Welt, zu der zärtlichen Priesterin gerufen wurde. Die Hoffnung, meine geliebte Unbekannte vielleicht bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir anfänglich diese Einladung sehr willkommen. Aber meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben, wie schwer es alsdann seyn würde, meine Empfindungen für sie den Augen einer Nebenbuhlerin zu entziehen. Die Künste der Verstellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemüthsregungen bildeten sich zu schnell und zu deutlich in meinem Aeußerlichen ab, als daß ich mich bei der größten Bestrebung vorsichtig zu seyn sicher halten konnte. Diese Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Ansehen, als ich vor die Pythia kam. Allein da ich Niemand als eine kleine Sklavin von neun oder zehn Jahren bei ihr fand, erholte ich mich bald wieder. Sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr beschäftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben; oder (welches wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veränderung, die sie in meinem Gesichte wahrnehmen mußte, zu Gunsten ihrer Reizungen aus. Sie mochte sich vermuthlich desto mehr von ihnen versprechen, je mehr sie beflissen gewesen war, sie in dieses reizende Schattenlicht zu setzen, welches die Einbildungskraft zum Vortheil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie saß oder lag (denn ihre Stellung war ein Mittelding von beidem) auf einem mit Tyrischen Purpurdecken belegten Ruhebette. Ihr ganzer Anzug hatte dieses zierlich Nachlässige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art versteckt, wenn sie nicht dafür angesehen seyn will daß sie der Natur zu Hülfe komme. Ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so sehr als der Anständigkeit ihrer Würde angemessen war, wallte zwar in vielen Falten um sie her: aber es war auch dafür gesorgt, daß hier und da der schöne Contur dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde, um die Augen anzuziehen und die Neugier lüstern zu machen. Ihre sehr schönen Arme waren in weiten, hoch aufgeschürzten Aermeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie während unsers Gesprächs unwissender Weise gemacht haben wollte, trieb einen Busen aus seiner Verhüllung hervor, der ihr Gesicht um zwanzig Jahre jünger machte. Sie bemerkte diese kleine Unregelmäßigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch sie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß dadurch ein Fuß sichtbar wurde, dessen die schönste Spartanerin sich hätte rühmen dürfen.Die tiefe Gleichgültigkeit, worin mich alle diese Reizungen ließen, war ohne Zweifel Ursache, daß ich Beobachtungen machen konnte, wozu ein gerührter Zuschauer die Freiheit nicht gehabt hätte. Indeß gab mir doch eine Art von Scham, die ich im Namen der guten Pythia auf meinen Wangen glühen fühlte, ein Ansehen von Verwirrung, womit die Dame (welche in zweifelhaften Fällen allemal zu Gunsten ihrer Eigenliebe urtheilte) ziemlich wohl zufrieden schien. Sie maß es vermuthlich einer schüchternen Unentschlossenheit oder einem Streite zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, daß ich (ungeachtet des Eindrucks den sie auf mich machte) ihrer Tugend keine Gelegenheit gab, sich durch ihre Gewandtheit in der Vertheidigungskunst in Achtung bei mir zu setzen. Ich hatte Aufmunterungen nöthig, zu welchen man der einem geübtern Liebhaber sich nicht herab gelassen hätte. Glücklicher Weise diente ihr die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst die Dichter zu lesen beilegte, zum Vorwand, mir einen Zeitvertreib vorzuschlagen, von welchem sie sich einige Beförderung dieser Absicht versprechen konnte. Sie versicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor sey, und bat mich sie eine Probe meines gepriesenen Talents hören zu lassen. Sie nahm einen Homer der neben ihr lag, und stellte sich, nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgültig sey, welcher Gesang es wäre. Sie gab mir den ersten den besten in die Hände, und — es traf sich, daß es gerade derjenige war, worin Juno, mit dem Gürtel der Venus geschmückt, den Vater der Götter in eine so lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer Liebe setzt. Von dem dichterischen Feuer, welches in diesem Gemälde glühet, und von dem süßen Wohlklang der Homerischen Verse entzückt, beobachtete sie nicht, in was für eine verführerische Unordnung ein Theil ihres Putzes durch eine Bewegung der Bewunderung, welche sie machte, gekommen war. Sie nahm von dieser Stelle Anlaß, die unumschränkte Gewalt des Liebesgottes zum Gegenstande der Unterredung zu machen. Sie schien die Meinung zu begünstigen, daß der Gedanke, einer so mächtigen Gottheit widerstehen zu wollen, nur in einer sehr vermessenen Seele geboren werden könne.Der Beifall, den ich dieser Meinung gab, verlor alles Verdienstliche, das er in ihren Augen hätte haben können, durch die Einschränkung, womit ich ihn begleitete. Denn ich behauptete, daß die meisten in den Begriffen, welche sie sich von diesem Gotte machten, der großen Pflicht, "von der Gottheit nur das Würdigste und Vollkommenste zu denken," sehr zu nahe treten; und daß die Dichter, durch die allzu sinnliche Ausbildung ihrer allegorischen Fabeln in diesem Stücke sich keines geringen Vergehens schuldig gemacht hätten. Unvermerkt schwatzte ich mich in einen Enthusiasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsätzen meiner geheimnißreichen Philosophie, von der geistigen Liebe, welche der Weg zum Anschauen des wesentlichen Schönen ist, von der Liebe, welche die Flügel der Seele entwickelt, sie mit jeder Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung mit dem Urbild des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unveränderlicher Wonne hinein zieht, worin sie gänzlich verschlungen und zu gleicher Zeit vernichtiget und vergöttert wird, —so erhabne, mir selbst, meiner Einbildung nach, sehr deutliche, der schönen Priesterin aber so unverständliche Dinge sagte, daß sie in eben dem Verhältniß, wie meine Einbildung sich dabei erwärmte, nach und nach davon eingeschläfert wurde. In der That konnte einem solchen Busen gegenüber nichts seltsamer seyn, als eine Lobrede auf die geistige Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach dieser Probe alle Hoffnung auf, mich für dießmal zu einer natürlichern Art zu denken herab zu stimmen. Sie entließ mich also, indem sie mir mit einer etwas räthselhaften Art zu verstehen gab, sie hätte besondre Ursachen, sich meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kostgängers des Apollo. Ich verstand aus dem was sie mir davon sagte so viel, daß sie eine Anverwandten meines mir selbst noch unbekannten Vaters sey; daß es ihr vielleicht bald erlaubt seyn würde, mir das Geheimniß meiner Geburt zu entdecken; und daß ich es allein diesem nähern Verhältniß zuzuschreiben hätte, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, welche mich ohne diesen Umstand vielleicht hätte befremden können.Diese Eröffnung, an deren Wahrheit mich ihre Miene nicht zweifeln ließ, hatte die doppelte Wirkung — mich zu bereden, daß ich in meinen Gedanken von ihren Gesinnungen mich betrogen haben könne — und sie auf einmal zu einem interessanten Gegenstande für mein Herz zu machen. In der That sah ich sie, von dem Augenblick an, da ich hörte, daß sie mit meinem Vater befreundet sey, mit ganz andern Augen an; und vielleicht würde sie bloß von diesem Umstande mehr Vortheil gezogen haben, als von allen den Kunstgriffen, womit sie meine Sinnen hatte überraschen wollen. Aber die gute Jungfrau wußte entweder nicht, wie viel man bei gewissen Leuten gewonnen hat, wenn man Mittel findet ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war über mein seltsames Betragen erbittert, und glaubte ihre verachteten Reizungen nicht besser rächen zu können, als wenn sie mich in eben dem Augenblicke von sich entfernte, da sie in meinen Augen las, daß ich gerne länger geblieben wäre. Alles Bitten, daß sie ihre Gütigkeit durch eine deutlichere Entdeckung des Geheimnisses meiner Geburt vollkommen machen möchte, war vergeblich; sie schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug etliche Wochen vorbeigehen zu lassen, eh' sie mich wieder vor sich rufen ließ.Zu einer andern Zeit würde das Verlangen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu danken hatte, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben. Aber damals brauchte es nur wenige Minuten Einsamkeit und einen Gedanken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin, mit allen ihren Reizen und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt hatte, aus meinem Gemüthe wieder auszulöschen. Es war mir unendlich angelegener zu wissen, wer diese Unbekannte sey, und ob sie wirklich (wie ich mir schmeichelte) für mich empfinde was ich für sie empfand. So lang' ich dieß nicht wußte, würde ich die Entdeckung, daß ich der Erbe eines Königs sey, mit Kaltsinn angesehen haben. Der Blick, den sie diesen Abend auf mich geheftet hatte, schien mir etwas zu versprechen, das für mein Herz unendlich mehr Reiz hatte als alle Vortheile der glänzendsten Geburt. Mein ganzes Wesen war von diesem Blicke wie von einem überirdischen Lichte durchstrahlt und verklärt. Ich unterschied zwar nicht deutlich, was in mir vorging; aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung, mit diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen Gesichte vorstellte, zerfloß mein Herz vor Liebe und Vergnügen in Empfindungen, für deren durchdringende Süßigkeit keine Worte erfunden sind.Hier wurde Agathon (dessen Einbildungskraft, von den Erinnerungen seiner ersten Liebe erhitzt, in einen hübschen Schwung, wie man sieht, zu gerathen anfing) durch eine ziemlich merkliche Veränderung in dem Gesichte seiner schönen Zuhörerin mitten in dem Laufe seiner unzeitigen Schwärmerei aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieser kleinen Verzückung versetzt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna, zu sich selbst und der schönen Danae gegenüber gebracht.
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Siebentes Capitel.

Agathon lernt seine geliebte Unbekannte näher kennen.

Es ist eine alte Bemerkung, daß man einem Frauenzimmer die Zeit schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindrücken, die eine andre auf unser Herz gemacht hat, unterhält. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, ie mehr Beredsamkeit wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre Schilderungen, je schöner unsre Bilder, je beseelter unser Ausdruck ist, desto gewisser dürfen wir uns versprechen unsre Zuhörerin einzuschläfern. Diese Beobachtung sollte sich besonders derjenige empfohlen seyn lassen, welcher eine im Besitz stehende Geliebte mit der Geschichte seiner ehemaligen verliebten Abenteuer unterhält.Agathon, der noch weit davon entfernt war von seiner Einbildungskraft Meister zu seyn, hatte diese Regel gänzlich aus den Augen verloren, da er einmal auf die Erzählung seiner ersten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit seiner Erinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln. Er bedachte nicht, daß es weniger anstößig wäre, eine Geliebte wie Danae mit der ganzen Metaphysik der intellectuellen Liebe, als mit so begeisterten Beschreibungen der Vorzüge einer andern, und der Gefühle, welche sie ihm eingeflößt hatte, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwischen Gähnen und Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir seine Erzählung abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewisser Ausdruck von Langweile, der aus einer erzwungenen Miene von vergnügter Aufmerksamkeit hervorbrach, machte, daß er endlich seine Unbesonnenheit gewahr wurde. Er gerieth darüber in eine Verwirrung, die er vergebens vor Danaen zu verbergen suchte: und seine Erzählung würde vielleicht darüber ganz ins Stocken gerathen seyn, wenn sie ihm nicht sogleich zu Hülfe gekommen, und ihn mit der gefälligsten Miene und im naivsten Tone der Theilnehmung ersucht hätte, sie durch die Fortsetzung einer so interessanten Geschichte zu verbinden. Er fuhr also — nachdem er sich ingeheim mehr Aufmerksamkeit auf seine Zuhörerin und auf sich selbst angelobt hatte —folgendermaßen in seiner Erzählung fort.Die süßen Träume, worein mein Herz sich so gerne zu wiegen pflegte, hatten nicht Wahrheit genug, diesen angenehmen Gemüthszustand lange zu unterhalten. Eine zärtliche Schwermuth, welche nicht ohne eine Art von Wollust war, bemächtigte sich meiner so stark, daß es Mühe kostete, sie vor denjenigen zu verbergen, mit denen ich einen Theil des Tages zubringen mußte. Ich suchte die Einsamkeit; und weil ich den Tag über nur wenige Stunden in meiner Gewalt hatte, fing ich wieder an, in den Hainen, die den Tempel umgaben, mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner Unbekannten ganze Nächte zu durchwachen.In einer dieser Nächte begegnete es, daß ich mich von ungefähr in eine Gegend verirrte, die das Ansehen einer Wildniß hatte, aber der anmuthigsten die man sich nur einbilden kann. Mitten darin ließ das Gebüsche, welches sich in vielen Krümmungen, mit hohen Cypressen und selbstgewachsenen Lauben abgesetzt, um sich selbst herum wand, einen offnen Platz, der auf einer Seite mit einem halben Cirkel von wilden Lorberbäumen eingefaßt, auf der andern nur mit niedrigem Myrtengesträuch und Rosenhecken leicht umkränzt war. Mitten darin lagen einige Nymphen von weißem Marmor, welche auf ihren Urnen zu schlafen schienen; und aus jeder Urne ergoß sich eine Quelle in ein geräumiges Becken von schwarzem Granit, welches den Frauenspersonen, die unter dem Schutze des Delphischen Apollo standen, in der warmen Jahreszeit zum Bade diente. Dieser Ort war (einer alten Sage nach) der Diana heilig. Kein männlicher Fuß durfte, bei Strafe sich den Zorn dieser unerbittlichen Göttin zuzuziehen, es wagen, ihrem geheiligten Ruheplatz nahe zu kommen. Vermuthlich machte die Göttin eine Ausnahme zu Gunsten eines unschuldigen Schwärmers, der (ohne den mindesten Vorsatz ihre Ruhe zu stören, und ohne nur zu wissen wohin er kam) sich hierher verirrt hatte. Denn anstatt mich ihren Zorn empfinden zu lassen, begünstigte sie mich mit einer Erscheinung, die mir angenehmer war, als wenn sie selbst mich zu ihrem Endymion hätte machen wollen. Weil ich in eben dem Augenblicke, da ich diese Erscheinung hatte, den Ort, wo ich mich befand, für denjenigen erkannte, der mir öfters, um ihn desto gewisser vermeiden zu können, beschrieben worden war: so war wirklich mein erster Gedanke, daß es die Göttin sey, welche, von der Jagd ermüdet, unter ihren Nymphen schlummere. Von einem heiligen Schauer erschüttert, wollt' ich schon den Fuß zurückziehen, als ich beim Glanze des seitwärts einfallenden Mondlichts gewahr wurde, daß es meine Unbekannte sey.Ich will nicht versuchen zu beschreiben, wie mir in diesem Augenblicke zu Muthe ward. Es war einer von denen, an welche ich mich nur erinnern darf, um zu glauben, daß ein Wesen, welches einer solchen Wonne fähig ist, zu nichts Geringerm als zu der Wonne der Götter bestimmt seyn könne. Itzt konnt' ich natürlicher Weise nicht mehr daran denken, mich unbemerkt zurückzuziehen. Meine einzige Sorge war, die liebenswürdige Einsame, zu einer Zeit und an einem Orte, wo sie keine Zeugen, am allerwenigsten einen männlichen, vermuthen konnte, durch keine plötzliche Ueberraschung zu erschrecken. Die Stellung, worin sie an eine der marmornen Nymphen angelehnt lag, gab zu erkennen, sie staune. Ich betrachtete sie eine geraume Weile, ohne daß sie mich gewahr wurde. Dieser Umstand erlaubte mir, meine eigene Stelle zu verändern, und eine solche zu nehmen, daß sie, sobald sie die Augen ausschlüge, mich unfehlbar erkennen müßte.Diese Vorsicht hatte die verlangte Wirkung. Sie stutzte zwar, da sie mich erblickte; aber sie erkannte mich doch zu schnell, um mich — für einen Satyr anzusehen, Meine Erscheinung schien ihr mehr Vergnügen als Unruhe zu machen. Ein jeder andrer, sogar ein Satyr, würde irgend ein artig gedrehtes Compliment in Bereitschaft gehabt haben, um seine Freude über eine so reizende Erscheinung auszudrücken. Die Gelegenheit konnte nicht schöner seyn, sie für eine Göttin, oder wenigstens für eine der Gespielen Dianens anzusehen, und diesem Irrthum gemäß zu begrüßen. Aber ich, von neuen nie gefühlten Empfindungen gedrückt, ich konnte — gar nichts sagen. Zu ihren Füßen hätte ich mich werfen mögen; aber die Schüchternheit, die mit der ersten Liebe so unzertrennlich verbunden ist, hielt mich zurück; ich besorgte, daß sie sich einen nachtheiligen Begriff von der tiefen Ehrerbietung, die ich für sie empfand, aus einer solchen Freiheit machen möchte.Meine Unbekannte war nicht so schüchtern. Sie erhob sich, mit dieser sittsamen Anmuth, die ihr beim ersten Anblick in meinen Augen den Vorzug vor allen ihren Gespielen gegeben hatte, und ging mir etliche Schritte entgegen. Wie finde ich den Agathon hier? sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu hören glaube, so lieblich, so rührend schien sie unmittelbar in meine Seele zu tönen. Ich fand in der Eile keine bessere Antwort, als sie zu versichern, daß ich nicht so verwegen gewesen wäre ihre Einsamkeit zu stören, wenn ich vermuthet hätte sie hier zu finden. Das Compliment war nicht so artig, als es ein junger Athener bei einer solchen Gelegenheit gemacht haben würde: aber Psyche (so nannte sich meine Unbekannte) war zu unschuldig um Complimente zu erwarten, Ich erkenne meine Unvorsichtigkeit, wiewohl zu spät, versetzte sie: was wird Agathon von mir denken, da er mich an diesem abgelegnen Ort in einer solchen Stunde allein findet? Und doch (setzte sie erröthend hinzu) ist es glücklich für mich, wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbesonnenheit haben mußte, daß es Agathon war. Ich versicherte sie, daß mir nichts natürlicher vorkomme als der Geschmack, den sie an der Einsamkeit, an der Stille einer so schönen Nacht und an einer so anmuthigen Gegend zu finden scheine. Ich setzte noch vieles von den Annehmlichkeiten des Mondscheins, von der majestätischen Pracht des sternvollen Himmels, von der Begeisterung, welche die Seele in diesem feierlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einschlummern der Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnißvollen Kräfte unsers unsterblichen Theils, hinzu; — Dinge, die bei den meisten Schönen, zumal in einem Myrtengebüsche und in der einladenden Dämmerung einer lauen Sommernacht, übel angebracht gewesen wären. Aber bei der gefühlvollen Psyche rührten sie die empfindlichsten Saiten ihres Herzens. Das Gespräch, worin wir uns unvermerkt verwickelten, entdeckte eine Uebereinstimmung in unserm Geschmack und in unsern Neigungen, welche gar bald ein eben so vertrauliches Verständniß zwischen unsern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns schon viele Jahre gekannt hätten. Mir war, als ob ich alles, was sie sagte, durch unmittelbare Anschauung in ihrer Seele lese; und hinwieder schien das, was ich sagte (so abgezogen, idealisch und dichterisch es immer seyn mochte), ein bloßer Widerhall ihrer eigenen Empfindungen, oder die Entwicklung solcher Ideen zu seyn, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur den erwärmenden Einfluß eines geübtern Geistes nöthig hatten, um sich zu entfalten, und durch ihre naive Schönheit die erhabensten Gedanken der Weisen zu beschämen. Die Zeit wurde uns bei dieser Unterhaltung so kurz, daß wir kaum eine Stunde bei einander gewesen zu seyn glaubten, als uns die aufgehende Morgenröthe erinnerte, daß wir uns trennen müßten.Ich hatte nun durch diese Unterredung erfahren, daß meine Geliebte von ihrer Herkunft eben so wenig wisse, als ich von der meinigen. Sie war von ihrer Amme in der Gegend um Korinth bis ins sechste Jahr erzogen, hernach von Räubern entführt und an die Priesterin zu Delphi verkauft worden, welche sie in allen weiblichen Künsten, und, da sie eine besondere Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch in der Kunst die Dichter recht zu lesen, unterrichten ließ, und sie in der Folge zu ihrer Leserin machte. Wie ungünstig auch diese Umstände meiner Liebe waren, so ließ mich doch das Vergnügen des gegenwärtigen Augenblicks noch nicht an das Künftige denken. Unbekümmert, wohin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in ihren Folgen endlich führen könnten, hing ich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen Unschuld nach. Meine kleine Psyche zu sehen, zu lieben, es ihr zu sagen, aus ihrem schönen Munde zu hören, in ihren seelenvollen Augen zu sehen, daß ich wieder geliebt werde, —dieß waren itzt alle Glückseligkeiten, an die ich Anspruch machte, und über welche hinaus ich mir keine andere träumen ließ. Ich hatte ihr etwas von den Eindrücken gesagt, die ihr erster Anblick auf mein Herz gemacht habe; und sie hatte diese Eröffnungen mit dem Geständniß der vorzüglichen Meinung, welche ihr das allgemeine Urtheil von Delphi von mir gegeben, erwiedert. Allein eine zärtliche und ehrfurchtsvolle Schüchternheit erlaubte mir nicht, ihr alles zu sagen was ich empfand. Meine Ausdrücke waren lebhaft und feurig; aber sie waren von der gewöhnlichen Sprache der Liebe so unterschieden, daß ich weniger zu sagen glaubte, indem ich in der That unendliche Mal mehr sagte, als ein gewöhnlicher Liebhaber, der mehr von seinen Begierden beunruhigt, als von dem Werthe seiner Geliebten gerührt ist. Nur da wir uns trennen mußten, würde mich mein allzu volles Herz verrathen haben, wenn Psychens unerfahrne Jugend einiges Mißtrauen in Empfindungen hätte setzen können, welche sie nach der Unschuld ihrer eigenen beurtheilte. Ich zerfloß in Thränen, und drang auf eine so zärtliche, so bewegliche Art in sie, sich in der folgenden Nacht wieder in dieser Gegend finden zu lassen, daß es ihr unmöglich war mich ungetröstet wegzuschicken.Wir setzten also, da uns alle andere Gelegenheiten abgeschnitten waren, diese nächtlichen Zusammenkünfte fort; und unsre Liebe wuchs und verschönerte sich zusehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe sey. Wir nannten es Freundschaft, und genossen ihrer reinsten Süßigkeiten, ohne durch einige Besorgnisse, Bedenklichkeiten oder andere natürliche Zeichen der Leidenschaft beunruhigt zu werden. Psyche hatte sich eine Freundin, wie ich mir einen Freund, gewünscht; nun glaubten wir gefunden zu haben was wir wünschten. Unsere Denkungsart und die Güte unserer Herzen flößte uns ein vollkommenes und unbegränztes Zutrauen gegen einander ein. Meine Augen, die schon lange gewohnt waren, anders zu sehen als man in meinem damaligen Alter zu sehen pflegt, sahen in Psyche kein reizendes Mädchen, sondern die liebenswürdigste aller Seelen, deren geistige Schönheit aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen Gewandes hervor schimmerte: und die wissensbegierige Psyche, welche nie so glücklich gewesen war, als da ich ihr die erhabenen Geheimnisse meiner dichterischen Philosophie entfaltete, glaubte den göttlichen Orpheus oder den Apollo selbst zu hören wenn ich sprach.Es liegt in dem Wesen der Liebe (so zärtlich und unkörperlich sie immer seyn mag) so lange zuzunehmen, bis sie das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie erwartet. Die unsrige nahm auch zu, und ging nach und nach durch mehr als Eine Verwandlung; aber sie blieb sich selbst doch immer ähnlich. Als uns zuletzt der Name der Freundschaft nicht mehr bedeutend genug schien, dasjenige was wir für einander empfanden auszudrücken: wurden wir eins, "daß die Liebe eines Bruders und einer Schwester zugleich die stärkste und die reinste aller Zuneigungen sey." Die Vorstellung, die wir uns davon machten, entzückte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß uns die Natur diese Glückseligkeit versagt habe, wunderten wir uns endlich, wie wir nicht eher eingesehen hätten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit in diesem Stücke zu ersetzen. Wir waren also Bruder und Schwester, und blieben es einige Zeit, ohne daß die Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen, wozu uns diese Namen berechtigten, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geschworen hatten, den geringsten Abbruch (wenigstens in unsern Augen) thaten. Oft waren wir enthusiastisch genug, die Vermuthung, oder vielmehr die bloße Möglichkeit, einander vielleicht so nahe verwandt zu seyn als wir es wünschten, für die Stimme der Natur zu halten; zumal da eine wirkliche oder eingebildete Aehnlichkeit unserer Gesichtszüge diesen Wahn zu rechtfertigen schien. Da wir uns aber die Betrüglichkeit dieser vermeinten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, so fanden wir desto mehr Vergnügen darin, den Vorstellungen von einer natürlichen Verschwisterung der Seelen, und von einer schon in einem vorhergehenden Zustande in bessern Welten angefangenen Bekanntschaft, nachzuhängen, und sie in tausend angenehme Träume auszubilden. Aber auch bei diesem Grade ließ uns der phantasiereiche Schwung, den die Liebe unsern Seelen gegeben hatte, nicht still stehen. Wir strengten das äußerste Vermögen unserer Einbildungskraft an, um uns einen Begriff davon zu machen, wie in den überirdischen Welten die reinen Geister einander liebten. Keine andere Art zu lieben schien uns zu gleicher Zeit der Stärke und der Reinigkeit unserer Empfindungen genug zu thun, noch für Wesen sich zu schicken, die im Himmel entsprungen und dahin wiederzukehren bestimmt wären. Darf ich dir's gestehen, schöne Danae? Noch itzt erwehre ich mich bei der Erinnerung an diese glückliche Schwärmerei meiner ersten Jugend kaum des Wunsches, daß die Bezauberung ewig hätte dauern können! Denn Bezauberung war es doch; und es ist nichts gewisser, als daß sich diese allzu geistigen Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur (welche ihre Rechte nie verliert) uns zuletzt unvermerkt auf eine gewöhnlichere Art zu lieben geführt haben würde, wenn uns die Pythia Zeit dazu gelassen hätte.
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Achtes Capitel.

Ein neuer Versuch der Pythia. Psyche wird unsichtbar. Agathons letztes Abenteuer zu Delphi.

Diese ließ einige Wochen vorbei gehen, ohne (dem Ansehen nach) sich meiner zu erinnern; und ich hatte sie in der Zeit so gänzlich vergessen, daß ich nicht wenig bestürzt war, als sie mich wieder rufen ließ. Ich fand nur zu bald, daß die Göttin von Paphos, welche sich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen Verschuldung an ihr rächen wollte, ihr in dieser Zwischenzeit nicht so viel Ruhe gelassen habe, als für sie und mich zu wünschen war. Vermuthlich hatte sie, wie die Phädra des Euripides, allen ihren weiblichen und priesterlichen Stolz zusammen gerafft, um eine Leidenschaft zu unterdrücken, deren Uebelstand sie sich selbst unmöglich verbergen konnte. Allein vielleicht mochte sie sich selbst durch eben dieselben Trugschlüsse, welche Euripides der Erzieherin dieser unglückseligen Prinzessin in den Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaften Entschluß gefaßt haben, ihrem Verhängniß nachzugeben. Denn, nachdem sie alle ihre Mühe verloren sah, mich das, was sie mir zu sagen hatte, errathen zu lassen, brach sie endlich ein Stillschweigen, dessen Bedeutung ich eben so wenig verstehen wollte, und entdeckte mir mit einer Dunkelheit und mit einem Feuer, welche mich erröthen und erzitten machten, daß sie liebe und wieder geliebt seyn wolle. Die Unglückliche hatte nichts vergessen, was sie vermuthlich für geschickt hielt, mir den Werth des mir angebotenen Glückes mehr als jemals einleuchtend zu machen. Ich muß noch itzt erröthen, wenn ich an die Verwirrung denke, worin ich mit allen meinen erhabenen Begriffen in diesem Augenblick war, die menschliche Natur so erniedrigt, den Namen der Liebe so entweiht zu sehen! In der That, die Pythia selbst konnte von der Art, wie ich ihre Zumuthungen abwies, nicht empfindlicher beschämt und gequält werden, als ich durch die Nothwendigkeit, ihr so übel zu begegnen. Ich bestrebte mich, die Härte meiner Antworten durch die sanftesten Ausdrücke zu mildern, die ich in meiner Verlegenheit finden konnte. Aber ich erfuhr, daß heftige Leidenschaften sich, so wenig als Sturmwinde, durch Worte beschwören lassen. Die ihrer selbst nicht mehr mächtige Priesterin nahm für beleidigenden Spott auf, was ich aus der wohlgemeinten, aber freilich sehr unzeitigen Absicht, ihrer sinkenden Tugend zu Hülfe zu kommen, sagte. Sie gerieth in Wuth; sie brach in Verwünschungen und Drohungen, und einen Augenblick darauf in einen Strom von Thränen und in so bewegliche Apostrophen aus, daß ich beinahe schwach genug gewesen wäre mit ihr zu weinen. Ich ergriff endlich das einzige Mittel das mir übrig blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieser Scene spielte, zu erledigen: ich entfloh.In eben dieser Nacht sah ich meine geliebte Psyche wieder an dem gewöhnlichen Orte. Mein Gemüth war von der Geschichte dieses Abends zu sehr beunruhigt, als daß ich ihr ein Geheimniß daraus hätte machen können. Wir bedauerten die Priesterin, so viele Mühe es uns auch kostete, die Wuth und die Qualen einer Liebe, welche der unsrigen so wenig ähnlich war, uns als möglich vorzustellen; aber wir bedauerten noch viel mehr uns selbst. Die Raserei, worin ich die Pythia verlassen hatte, hieß uns das Aergste besorgen. Wir zitterten eines für des andern Sicherheit; und aus Furcht, daß sie unsere Zusammenkünfte entdecken möchte, beschlossen wir sie eine Zeit lang seltner zu machen. Dieß war das erste Mal, daß die reinen Vergnügungen unserer schuldlosen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit schwerem Herzen von einander Abschied nahmen. Es war als ob es uns ahnete, daß wir uns zu Delphi nicht wieder sehen würden; und wir sagten uns wohl tausendmal Lebewohl, ohne uns einander aus den Armen winden zu können. Wir redeten mit einander ab, erst in der dritten Nacht wieder zusammen zu kommen. Inzwischen fügte sich's zufälliger Weise, daß ich mit der Priesterin in einer Gesellschaft zusammentraf, wo wir einander gleich unerwartet waren. Es war natürlich, daß sie in Gegenwart fremder Personen ihrem Betragen gegen mich den freundschaftlichen Ton der Anverwandtschaft gab, welche zwischen uns vorausgesetzt wurde, und wodurch sie ihren Umgang mit mir gegen die Urtheile der argwöhnischen Welt sicher gestellt hatte; doch bemerkte ich, daß sie etliche Mal, wenn sie von niemand beobachtet zu seyn glaubte, die zärtlichsten Blicke auf mich heftete. Ich war zu gutherzig, Verstellung unter diesem Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu vermuthen; und der Schluß, den ich daraus zog, beruhigte mich gänzlich über die Besorgniß, daß sie meinen Umgang mit Psyche entdeckt haben möchte. Ich flog also mit ungeduldiger Freude zu unsrer abgeredeten Zusammenkunft: aber wie groß war meine Bestürzung, als nach stundenlangem ungeduldigem Harren keine Psyche zum Vorschein kommen wollte! Ich wartete so lange, daß mich der Tag beinahe überrascht hätte; ich durchsuchte den ganzen Hain: aber sie war nirgends zu finden. Eben so ging es in der folgenden und in der dritten Nacht. Mein Schmerz war unaussprechlich. Damals erfuhr ich zum ersten Mal, daß meine Einbildungskraft, welche bisher nur zu meinem Vergnügen geschäftig gewesen war, in eben dem Maße, wie sie mich glücklich gemacht hatte, mich elend zu machen fähig sey. Ich zweifelte nun nicht mehr, daß die Pythia unsre Liebe entdeckt habe; und die Folgen dieser Entdeckung für die arme Psyche stellten sich mir mit allen Schrecknissen einer sich selbst quälenden Einbildung dar. Ich faßte in der Wuth meines Schmerzens tausend heftige Entschließungen, von denen immer eine die andre verschlang. Ich wollte die Priesterin unversehens überfallen und meine Psyche von ihr fordern; ich wollte den Priestern ihre verbrecherische Leidenschaft entdecken; kurz, ich wollte — das Ausschweifendste was man in der Verzweiflung wollen kann. Ich glaube, daß ich fähig gewesen wäre, den Tempel anzuzünden, wenn ich hätte hoffen können meine Psyche dadurch zu retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, daß sie vielleicht bloß durch zufällige Ursachen verhindert worden sey ihr Wort zu halten, noch zurück, einen unbesonnenen Schritt zu thun, welcher ein bloß eingebildetes Uebel wirklich und unheilbar hätte machen können. Vielleicht (dachte ich) weiß die Priesterin noch nichts von unserem Geheimniß; und wie unselige wär' ich in diesem Falle, wenn ich selbst mein eigener Verräther wäre!Dieser Gedanke führte mich zum vierten Mal in den Ruheplatz der Diana. Nachdem ich wohl zwei Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich in einer Betäubung von Schmerz und Verzweiflung zu den Füßen einer von den Nymphen hin. Ich lag eine Weile ohne meiner selbst mächtig zu seyn. Als ich mich wieder erholt hatte, sah ich einen frischen Blumenkranz um den Hals und die Arme der Nymphe gewunden. Ich sprang auf, um genauer zu erkundigen, was dieß bedeuten möchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet, worin mir Psyche meldete: "Daß ich sie in der folgenden Nacht unfehlbar an diesem Platz antreffen würde; sie verspare es auf diese Besprechung mir zu sagen, durch was für Zufälle sie diese Zeit über verhindert worden mich zu sehen oder mir Nachricht von sich zu geben; ich dürfte aber vollkommen ruhig und gewiß seyn, daß die Priesterin nichts von unserer Bekanntschaft wisse."Die heftige Begierde, womit ich wünschte, daß dieses Briefchen von Psyche geschrieben seyn möchte, ließ mich nicht daran denken ein Mißtrauen darein zu setzen, ungeachtet mir ihre Handschrift unbekannt war. Dieß war das erste Mal, da ich erfuhr, was der Uebergang von dem äußersten Grade des Schmerzens zu der äußersten Freude ist. Ich wand den Glück weissagenden Blumenkranz um mich herum, nachdem ich die unsichtbaren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden, von jeder Blume weggeküßt hatte. Den folgenden Abend wurde mir jeder Augenblick bis zur bestimmten Zeit ein Jahrhundert. Ich ging eine halbe Stunde früher, den guten Nymphen zu danken, daß sie unsere Liebe in ihren Schutz genommen hatten. Endlich glaubte ich, Psyche zwischen den Myrtenhecken hervor kommen zu sehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewöhnliche Kleidung meiner Freundin, und war von dem ersten Rauschen ihrer Annäherung schon zu sehr entzückt, um gewahr zu werden, daß die Gestalt, die sich mir näherte, mehr von der üppigen Fülle einer Bacchantin als von der jungfräulichen Geschmeidigkeit einer Gespielin Dianens hatte. Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in die Arme.Die sprachlose Trunkenheit des ersten Augenblicks verstattet nicht Bemerkungen zu machen. Aber es währte nicht lange, bis ich nothwendig fühlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, die von der Unschuld einer Psyche nicht vermuthlich war, an einen kaum verhüllten und üngestüm klopfenden Busen gedrückt wurde. —Dieß konnte nicht Psyche seyn. —Ich wollte mich aus ihren Armen los winden; aber sie verdoppelte die Stärke, womit sie mich umschlang, zugleich mit ihren üppigen Liebkosungen; und da ich nun auf einmal, mit einem Entsetzen, welches mir alle Sehnen lähmte, meinen Irrthum erkannte, so machte die Gewalt, die ich anwenden wollte, mich von der rasenden Priesterin los zu reißen, daß wir mit einander zu Boden sanken.Ich wünschte aus Hochschätzung des Geschlechts, welches in meinen Augen der liebenswürdigste Theil der Schöpfung ist, daß ich diese Scene aus meinem Gedächtniß auslöschen könnte. Ich hatte meine ganze Vernunft nöthig, um nicht alle Achtung, die ich wenigstens ihrem Geschlechte schuldig war, aus den Augen zu setzen. Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauensperson, welche noch einen Funken von sittlichem Gefühl übrig hätte, lieber den Tod, als die Vorwürfe und die Verwünschungen, womit sie überströmt wurde, ausstehen wollte. — Sie krümmte sich, in Thränen berstend, zu meinen Füßen. —Dieser Anblick war mir unerträglich. Ich wollte entfliehen; sie verfolgte mich, sie hing sich an, und bat mich ihr den Tod zu geben. Ich verlangte mit Heftigkeit, daß sie mir meine Psyche wieder geben sollte. Diese Worte schienen sie unsinnig zu machen. Sie erklärte mir, daß das Leben dieser Sklavin in ihrer Gewalt sey, und von dem Entschluß den ich nehmen würde, abhange. Sie sah das Entsetzen, das bei dieser Drohung mein ganzes Wesen erschütterte; wir verstummten beide eine Weile. Endlich nahm sie einen sanftern, aber nicht weniger entschlossenen Ton an, um mir ihre vorige Erklärung zu bekräftigen. Die Eifersucht machte sie so vieles sagen, daß ich Zeit bekam mich zu fassen, und eine Drohung weniger fürchterlich zu finden, zu deren Ausführung ich sie, wenigstens aus Liebe zu sich selbst, unfähig glaubte. Ich antwortete ihr also mit kälterm Blute, daß sie, auf ihre Gefahr, über das Leben meiner jungen Freundin gebieten könne. Doch ersuchte ich sie sich zu erinnern, daß sie selbst mich zum Meister über das ihrige, und über das was ihr noch lieber als das Leben seyn sollte, gemacht habe. Das meinige (setzte ich mit entschlossenem Ton hinzu) hört mit dem Augenblick auf, da Psyche für mich verloren ist; denn, bei dem allsehenden Gott, dessen Gegenwart dieses heilige Land erfüllt! keine menschliche Gewalt soll mich aufhalten, ihrem geliebten Geist in eine bessere Welt nachzueilen, wohin uns das Laster nicht folgen kann, unsere geheiligte Liebe zu beunruhigen!Meine Standhaftigkeit schien den Muth der Priesterin niederzuschlagen. Sie sagte mir endlich: die Einbildung, daß ich in meiner Gewalt habe sie zu Grunde zu richten, könnte mich sehr betrügen; ich möchte thun was ich wollte; nur sollte ich versichert seyn, daß ihr Psyche für jeden Schritt bürgte, den ich machen würde. Mit diesen Worten entfernte sie sich, und ließ mich in einem Zustande, dessen Abscheulichkeit, nach der Empfindung die ich davon hatte abgemessen, über allen Ausdruck ging. Ich wußte nun alles. Nach dieser Niederträchtigkeit war keine Bosheit so ungeheuer, deren ich diese Elende nicht fähig gehalten hätte. Ich besorgte nichts für mich selbst, aber alles für die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin überlassen mußte, ohne daß mir alle meine Zärtlichkeit für sie das Vermögen geben konnte, sie zu befreien.
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Neuntes Capitel.

Agathon entflieht, und findet seinen Vater. Was für einen neuen Schwung sein Geist durch die Veränderung seiner Umstände bekommt.

Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewißheit, was aus meiner Geliebten geworden seyn möchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sklavin der Pythia, daß sie nicht mehr in Delphi sey. Dieß war alle Nachricht die ich von ihr einziehen konnte; aber es war genug, mir den längern Aufenthalt an diesem Ort unerträglich zu machen. Ich bedachte mich keinen Augenblick was ich thun wollte, sondern stahl mich in der nächsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so unbesonnenen Schrittes bekümmert zu seyn; oder, richtiger zu sagen, in einem Gemüthszustande, worin ich aller Besinnung unfähig war. Ich irrte eine Zeit lang überall herum, wo ich eine Spur von meiner Freundin zu entdecken hoffte; thöricht genug, mir einzubilden, daß sie mich, wo sie auch seyn möchte, durch die magische Gewalt der Sympathie unsrer Seelen nach sich ziehen werde. Aber meine Hoffnung betrog mich: niemand konnte mir die geringste Nachricht von ihr geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieser unsinnigen Wanderschaft erfahren mußte, fühlte ich keinen andern Schmerz, als die Trennung von meiner Geliebten und die Ungewißheit was ihr Schicksal sey. Ich würde die Versicherung, daß es ihr wohl gehe, gern mit meinem Leben bezahlt haben.Endlich führte mich der Zufall oder eine mitleidige Gottheit nach Korinth. Die Sonne war eben untergegangen, als ich, von den Beschwerlichkeiten der Reise und einer ungewohnten Diät äußerst abgemattet, vor dem Hof eines der prächtigen Landgüter ankam, welche die Küsten des Korinthischen Meeres verschönern. Ich warf mich unter eine hohe Cypresse nieder, und verlor mich in den Vorstellungen der natürlichen, aber in der Hitze der Leidenschaft nicht vorhergesehenen Folgen meiner Flucht von Delphi. In der That war meine Lage fähig den herzhaftesten Muth niederzuschlagen. In eine gänzlich fremde Welt ausgestoßen, ohne Freunde, ohne Geld, unwissend wie ich ein Leben erhalten wollte, dessen Urheber mir nicht einmal bekannt war, warf ich traurige Blicke um mich her. Die ganze Natur schien mich verlassen zu haben. Auf dem weiten Umfang der mütterlichen Erde sah ich nichts, worauf ich einen Anspruch machen konnte, als —ein Grab, wenn mich die Last des Elends endlich aufgerieben haben würde. Und selbst dieses konnte ich nur von der Frömmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers hoffen. Diese melancholischen Gedanken wurden durch die Erinnerung meiner vergangnen Glückseligkeit, und durch das Bewußtseyn, daß ich mein Elend durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende Uebelthat verdient hätte, nur schmerzender gemacht. Ich sah mit thränenvollen Augen um mich her, als ob ich ein Wesen in der Schöpfung suchen wollte, dem mein Zustand zu Herzen ginge.In diesem Augenblick erfuhr ich den wohlthätigen Einfluß dieser glückseligen Begeisterung, "welche die Natur dem empfindlichsten Theile der Sterblichen zu einem Gegengewicht gegen die Uebel, denen sie durch die Schwäche ihres Herzens ausgesetzt sind, gegeben zu haben scheint." Ich wandte mich an die Unsterblichen, mit denen meine Seele schon so lange in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft stand. Der Gedanke, daß sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken. meiner geheimsten Neigungen gewesen seyen, goß lindernden Trost in mein verwundetes Herz. Ich sah meine geliebte Psyche unter ihre Flügel gesichert. "Nein, rief ich aus, die Unschuld kann nicht unglücklich seyn, noch das Laster seine Absichten ganz erhalten! In diesem majestätischen All, worin Welten und Stäubchen sich mit gleicher Unterwürfigkeit nach den Winken einer weisen und wohlthätigen Macht bewegen, wär' es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmuth zu überlassen. Mein Daseyn ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe. Hab' ich nicht eine Seele welche denken kann, und Gliedmaßen, die ihr als Sklaven zur Ausrichtung ihrer Gedanken zugegeben sind? Bin ich nicht ein Grieche? Und, wenn mich mein Vaterland nicht erkennen will, bin ich nicht ein Mensch? Ist nicht die ganze Erde mein Vaterland? Und gibt mir nicht die Natur ein unverlierbares Recht an Erhaltung und an jedes wesentliche Stück der Glückseligkeit, sobald ich meine Kräfte anwende, die Pflichten zu erfüllen, die mich mit der Welt verbinden?"Diese Gedanken beschämten meine Thränen, und richteten mein Herz wieder auf. Ich fing an, die Mittel zu überlegen, die ich in meiner Gewalt hätte mich in bessere Umstände zu setzen: als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich herkommen sah, dessen Ansehen und Miene mir Ehrerbietung und Zutrauen einflößten. Ich raffte mich vom Boden auf, und beschloß bei mir selbst, ihn anzureden, ihm meine Umstände zu entdecken, und mir seinen Rath auszubitten. Er kam mir zuvor. "Du scheinest vom Weg ermüdet zu seyn, junger Fremdling (sagte er zu mir, in einem Tone, der ihm sogleich mein Herz gewann), und da ich dich unter dem wirthlichen Schatten meines Baumes gefunden habe, so hoffe ich, du werdest mir das Vergnügen nicht versagen, dich diese Nacht in meinem Hause zu beherbergen." Er betrachtete mich, indem er dieß sagte, mit einer Aufmerksamkeit, an welcher sein Herz Antheil zu haben schien. Ich gestand ihm mit einer Offenherzigkeit, die von meiner wenigen Kenntniß der Welt zeugte: daß ich im Begriff gewesen sey, ihn um dasjenige zu ersuchen, was er mir auf eine so edle Art anbiete. Ich weiß nicht, was ihn zu meinem Vortheil einzunehmen schien. Mein Aufzug wenigstens konnte es nicht seyn; denn ich hatte, aus Furcht entdeckt zu werden, meine Delphische Kleidung gegen eine schlechtere vertauscht, die auf meiner Wanderschaft ziemlich abgenutzt worden war. Er wiederholte mir, wie angenehm es ihm sey, daß mich der Zufall vielmehr ihm als einem seiner Nachbarn zugeführet habe; und so folgte ich ihm in sein Haus, dessen Weitläuftigkeit, Bauart und Pracht einen Besitzer von großem Reichthum und vielem Geschmack ankündigte. Die Galerie, in die wir zuerst traten, war mit Gemälden von den berühmtesten Meistern und mit einigen Bildsäulen und Brustbildern von Phidias und Alkamenes ausgeziert. Ich liebe, wie dir bekannt ist, die Werke der schönen Künste bis zur Schwärmerei, und mein langer Aufenthalt in Delphi hatte mir einige Kenntniß davon gegeben. Ich bewunderte einige Stücke, setzte an andern dieß oder jenes aus, nannte die Künstler, deren Hand oder Manier ich erkannte, und nahm Gelegenheit von andern Meisterstücken zu reden, die ich von ihnen gesehen hatte. Ich bemerkte, daß mein Wirth mich mit Verwunderung ansah, als ob er betroffen wäre, einen jungen Menschen, den er in einem so wenig versprechenden Aufzug unter einem Baume liegend gefunden, mit so vieler Kenntniß von den Künsten sprechen zu hören.Nach einer Weile wurde gemeldet, daß das Abendessen bereitet sey. Er führte mich in einen kleinen Saal, dessen Wände von einem der besten Schüler des Parrhasius niedlich bemalt waren. Wir aßen ganz allein. Die Tafel, das Geräthe, die Aufwärter, alles stimmte mit dem Begriff überein, den ich mir von dem Geschmack und dem Stande des Hausherrn gemacht hatte. Unter dem Essen trat ein junger Sklave von feinem Ansehen und zierlich gekleidet auf, und recitirte ein Stück aus der Odyssee mit vieler Geschicklichkeit. Mein Wirth sagte mir, daß er bei Tische diese Art von Gemüthsergötzung den Tänzerinnen und Flötenspielerinnen vorzöge, womit man sonst der den Tafeln der Griechen sich zu unterhalten pflege. Das Lob, das ich seinem Leser beilegte, gab zu einem Gespräch über die beste Art zu recitiren und über die Griechischen Dichter Anlaß, wobei ich meinem Wirthe abermal Gelegenheit gab zu stutzen. Die Verwunderung, womit er mich betrachtete, vermischte sich zusehens mit einer zärtlichen Bewegung; und da er sah, daß ich es gewahr wurde, sagte er mir: die Verwunderung, womit er mich von Zeit zu Zeit betrachte, würde mich weniger befremden, wenn ich die außerordentliche Aehnlichkeit meiner Gesichtsbildung und Miene mit einer Person, welche er ehmals gekannt habe, wüßte. Doch du sollst selbst davon urtheilen, setzte er hinzu, indem er anfing von andern Dingen zu reden, bis der Wein und die Früchte aufgestellt wurden.Bald darauf führte er mich in ein Cabinet, worin ein Schreibtisch, ein Büchergestell, einige Polster, und ein Gemälde in Lebensgröße, auf welches ich nicht gleich Acht gab, alle Geräthschaft und Zierrathen ausmachten. Er hieß mich niedersetzen, und nachdem er das Bildniß, welches ihm gegenüber hing, eine Weile mit Rührung angesehen hatte, redete er mich also an: "Deine Jugend, liebenswürdiger Fremdling, die Art, wie sich unsere Bekanntschaft angefangen, die Eigenschaften, die ich in dieser kurzen Zeit an dir entdeckt habe, und die Zuneigung, die ich in meinem Herzen für dich finde, rechtfertigen mein Verlangen, von deinem Namen und von den Umständen benachrichtiget zu seyn, welche dich in einem solchen Alter von deiner Heimath entfernt und in diese fremden Gegenden geführt haben können. Es ist sonst meine Gewohnheit nicht, mich beim ersten Anblick für jemand einzunehmen. Aber bei deiner Erblickung hab' ich einem geheimen Zuge nicht widerstehen können; und du hast in diesen wenigen Stunden meine voreilige Neigung so sehr gerechtfertiget, daß ich mir selbst Glück wünsche, ihr Gehör gegeben zu haben. Befriedige also mein Verlangen, und sey versichert, daß die Hoffnung, dir vielleicht nützlich seyn zu können, weit mehr Antheil daran hat als ein unbescheidener Vorwitz. Du siehest einen Freund in mir, dem du dich, unbeachtet der kurzen Dauer unsrer Bekanntschaft, mit allem Zutrauen eines langwierigen und bewährten Umgangs entdecken darfst."Ich wurde durch diese Anrede so sehr gerührt, daß sich meine Augen mit Thränen füllten. Ich glaube, daß er darin lesen konnte was ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte dazu fand. Endlich entdeckte ich ihm, daß ich von Delphi käme; daß ich daselbst erzogen worden; daß man mich Agathon genannt, und daß ich nie erfahren können, wem ich das Leben zu danken hätte. Alles was ich davon wisse, sey, daß ich in einem Alter von vier oder fünf Jahren in den Tempel gebracht, mit andern dem Dienste des Apollo gewidmeten Knaben erzogen, und, nachdem ich zu mehrern Jahren gekommen, von den Priestern mit einer vorzüglichen Achtung angesehen, und in allem, was zur Erziehung eines freigebornen Griechen erfordert werde, geübt worden sey.Stratonikus (so wurde mein Wirth genannt) zeigte während meiner Erzählung eine Unruhe, die er vergebens zu verbergen suchte; sein Gesicht veränderte sich; er wollte etwas sagen, schien sich aber wieder anders zu bedenken und fragte mich bloß, warum ich Delphi verlassen hätte. So natürlich die Aufrichtigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte ich doch dießmal unmöglich über die Bedenklichkeiten hinaus kommen, welche mir über meine Liebe zu Psyche den Mund verschlossen. Einem Freunde von meinen Jahren, für den ich mein Herz eben so eingenommen gefunden hätte, als für Stratonikus, würde ich das Innerste meines Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen haben, sobald ich hätte vermuthen können, daß er meine Empfindungen zu verstehen fähig sey. Aber hier hielt mich etwas zurück, davon ich mir selbst die Ursache nicht angeben konnte. Ich schob also die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Pythia, indem ich ihm, so ausführlich als es meine jugendliche Schamhaftigkeit gestatten wollte, von den Versuchungen, in welche sie meine Tugend geführt hatte, Nachricht gab. Er schien mit meiner Ausführung zufrieden zu seyn; und nachdem ich meine Erzählung bis auf den Augenblick, wo ich ihn zuerst erblickt, und auf dasjenige was ich sogleich für ihn empfunden, fortgeführt hatte; stand er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf seine Arme um meinen Hals, und sagte mit Thränen der Freude und Zärtlichkeit in seinen Augen: — "Mein liebster Agathon, siehe deinen Vater! — Hier (setzte er hinzu, indem er mich sanft umwendete und auf das Gewälde wies, welchem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte), hier, in diesem Bilde, erkenne die Mutter, deren geliebte Züge mich beim ersten Anblick in deiner Gesichtsbildung rührten, und diese Bewegung erregten, die ich nun für die Stimme der Natur erkenne."Du kennest mich zu wohl, liebenswürdige Danae, um dir meine Empfindungen in diesem Augenblicke nicht lebhafter einzubilden, als ich sie beschreiben könnte. Solche Augenblicke sind keiner Beschreibung fähig. Für solche Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die Phantasie selbst keine Farben. —Das Beste ist, zu schweigen und den Zuhörer seinem eigenen Herzen zu überlassen. Mein Vater schien durch meine Entzückung, welche sich lange Zeit nur durch Thränen, sprachlose Umarmungen und abgebrochene Töne ausdrücken konnte, doppelt glücklich zu seyn. Das Vergnügen, womit er mich für seinen Sohn erkannte, schien ihn selbst wieder in die glücklichsten Augenblicke seiner Jugend zu versetzen, und Erinnerungen wieder aufzuwecken, denen mein Anblick neues Leben gab. Da er nicht zweifeln konnte, daß ich begierig seyn würde die Ursachen zu wissen, welche einen Vater, der mich mit so vielem Vergnügen für seinen Sohn erkannte, hatten bewegen können, diesen Sohn so viele Jahre von sich verbannt zu halten: so gab er mir hierüber alle Erläuterungen die ich nur wünschen konnte, durch eine umständliche Erzählung der Geschichte seiner Liebe zu meiner Mutter.Seine Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufälliger Weise in einem Alter angefangen, worin er noch gänzlich unter der väterlichen Gewalt stand. Sein Vater war das Haupt eines von den edelsten Geschlechtern in Athen. Meine Mutter war, sehr jung, sehr schön, und eben so tugendhaft als schön, unter der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte, dahin gekommen. Die strenge Eingezogenheit, worin sie kümmerlich von ihrer Handarbeit lebte, verwahrte die junge Musarion vor den Augen und vor den Nachstellungen der müßigen reichen Jünglinge, welche gewohnt sind, junge Mädchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld, und keinen andern Reichthum als ihre Reizungen haben, für ihre natürliche Beute anzusehen. Dem ungeachtet konnte sie nicht verhindern zufälliger Weise meinem Vater bekannt zu werden, der sich durch seine Sitten von den meisten jungen Athenern seiner Zeit unterschied. Sein tugendhafter Charakter schützte ihn nicht gegen die Reizungen der jungen Musarion; aber er machte daß seine Liebe die Eigenschaft seines Charakters annahm: sie war tugendhaft, bescheiden, und eben dadurch stärker und dauerhafter. Sein Stand, sein guter Ruf, sein zurückhaltendes Betragen gegen den Gegenstand seiner Liebe gaben zusammen genommen einen Beweggrund ab, der die Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte seine geheimen Besuche duldete. Nichts kann natürlicher seyn, als eine geliebte Person dem Mangel nicht ausgesetzt sehen zu können: aber nichts ist auch in den Augen der Welt zweideutiger, als die Freigebigkeit eines jungen Mannes gegen ein Mädchen, welches das Unglück hat durch seine Annehmlichkeiten den Neid und durch seine Armuth die Verachtung des großen Haufens zu erregen. Man kann sich nicht bereden, daß in einem solchen Falle derjenige, welcher gibt, nicht eigennützige Absichten habe, oder diejenige, welche annimmt, ihre Dankbarkeit nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise. Stratonikus gebrauchte zwar die äußerste Vorsichtigkeit, um die Wohlthaten, womit er diese kleine Familie von Zeit zu Zeit unterstützte, vor aller Welt und vor ihnen selbst zu verbergen. Allein sie entdeckten doch zuletzt ihren unbekannten Wohlthäter; und diese neuen Proben seiner edelmüthigen Sinnesart vollendeten den Eindruck, den er schon lange auf das unerfahrne Herz der zärtlichen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gänzlich. Niemals würde die Liebe, von der innigsten Gegenliebe erwiedert, zwei Herzen glücklicher gemacht haben, wenn die Umstände der jungen Schönen einer gesetzmäßigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt hätten, welche ein jeder anderer als ein Liebhaber für unüberwindlich gehalten hätte. Endlich war Stratonikus so glücklich zu entdecken, daß seine Geliebte wirklich eine Athenische Bürgerin sey, die Tochter eines rechtschaffenen Mannes, welcher im Peloponnesischen Kriege sein Leben auf eine rühmliche Art verloren hatte. Nunmehr wagte er es, seinem Vater das Geheimniß seiner Liebe zu entdecken. Er wandte alles an, seine Einwilligung zu erhalten: aber der Alte, der die Reizungen und Tugenden der jungen Musarion für keinen genugsamen Ersatz des Reichthums, der ihr fehlte, ansah, blieb unerbittlich. Stratonikus liebte zu inbrünstig, um dem Befehl, nicht weiter an seine Geliebte zu denken, gehorsam zu seyn. Er würde sich selbst für den Unwürdigsten unter den Menschen gehalten haben, wenn er fähig gewesen wäre ihr das geringste von seinen Empfindungen zu entziehen. Die Widerwärtigkeiten und Hindernisse, womit seine Liebe kämpfen mußte, thaten vielmehr die entgegengesetzte Wirkung: sie concentrirten das Feuer ihrer gegenseitigen Zuneigung, und bliesen eine Flamme, welche, so lange sie von Hoffnung genährt wurde, drei Jahre sanft und rein fortgebrannt hatte, zu der heftigsten Leidenschaft an. Das Herz ermüdet endlich durch den langen Kampf mit seinen süßesten Regungen: es verliert die Kraft zu widerstehen; und je länger es unter den Qualen einer zugleich verfolgten und unbefriedigten Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es sich nach einer Glückseligkeit, wovon ein einziger Augenblick genug ist, das Andenken aller ausgestandenen Leiden auszulöschen, das Gefühl der gegenwärtigen zu ersticken, und die Augen, benebelt von der süßen Trunkenheit der glücklichen Liebe, gegen alle künftige Noth blind zu machen. Außer diesem hatte Musarion noch den Beweggrund einer Dankbarkeit, von deren drückender Last ihr Herz sich zu erleichtern suchte. Kurz, sie schworen einander ewige Treue, überließen sich dem sympathetischen Verlangen ihres Herzens, und bedienten sich der Gewalt, die ihnen die Liebe gab, einander glücklich zu machen. Die Glückseligkeit, welche eines dem andern zu danken hatte, unterhielt und befestigte die zärtliche Vereinigung ihrer Herzen, anstatt sie zu schwächen oder gar aufzulösen; denn noch niemals ist der Genuß das Grab der wahren Zärtlichkeit gewesen. Ich schöne Danae, war die erste Frucht ihrer Liebe. Glücklicher Weise fiel meinem Vater eben damals durch den letzten Willen eines Oheims ein kleines Vorwerk auf einer von den Inseln zu, weiche unter der Botmäßigkeit der Athener stehen. Dieses mußte meiner Mutter zur Zuflucht dienen. Ich wurde daselbst geboren, und genoß drei Jahre lang ihrer eigenen Pflege; bis sie mir durch eine Schwester entzogen wurde, deren Leben der liebenswürdigen Musarion das ihrige kostete. Stratonikus hatte inzwischen manchen Versuch gemacht das Herz seines Vaters zu erweichen; aber allemal vergebens. Es blieb ihm also nichts übrig, als seine Verbindung mit meiner Mutter und die Folgen derselben geheim zu halten. Ihr frühzeitiger Tod vernichtete die Entwürfe von Glückseligkeit, die er für die Zukunft gemacht hatte, ohne die zärtliche Treue, die er ihrem Andenken widmete, zu schwächen. Die Sorge für das, was ihm von ihr übrig geblieben war, hielt ihn zurück, sich einer Traurigkeit völlig zu überlassen, welche ihn lange Zeit gegen alle Freuden des Lebens gleichgültig und zu allen Beschäftigungen desselben verdrossen machte. Der Tempel zu Delphi schien ihm der tauglichste Ort zu seyn, mich zu gleicher Zeit zu verbergen und einer guten Erziehung theilhaftig zu machen. Er hatte Freunde daselbst, denen ich besonders empfohlen wurde, mit dem gemessensten Auftrag, mich in einer gänzlichen Unwissenheit über meinen Ursprung zu lassen. Sein Vorsatz war, sobald der Tod seines Vaters ihn zum Meister über sich selbst und seine Güter gemacht haben würde, mich abzuholen und nach Athen zu bringen, wo er seine Verbindung mit meiner Mutter bekannt machen und mich öffentlich für seinen Sohn und Erben erklären wollte. Aber dieser Zufall erfolgte erst wenige Monate vor meiner Flucht, und seit demselben hatten ihn dringende Geschäfte genöthiget, meine Abholung aufzuschieben.Nachdem mein Vater diese Erzählung geendigt hatte, ließ er einen alten Freigelassenen zu sich rufen, und fragte ihn: ob er den kleinen Agathon kenne, den er vor vierzehn Jahren dem Schutze des Delphischen Apollo überliefert habe? Der gute Alte, dessen Züge mir selbst nicht unbekannt waren, erkannte mich desto leichter, da er binnen dieser Zeit von seinem Herrn öfters nach Delphi abgeschickt worden war, sich meines Wohlbefindens zu erkundigen. In wenigen Augenblicken wurde das ganze Haus mit allgemeiner Freude erfüllt. Die Zufriedenheit meines Vaters über mich, und das Vergnügen, womit alle seine Hausgenossen mich als den einzigen Sohn ihres Herrn bewillkommten, machte die Freude vollkommen, die ich bei einem so plötzlichen Uebergang von dem Elend eines sich selbst unbekannten, nackten, allen Zufällen des Schicksals Preis gegebenen Flüchtlings zu einem so blendenden Glücksstande nothwendig empfinden mußte. Blendend hätte er wenigstens für manchen andern seyn können, der durch die Art seiner Erziehung weniger als ich vorbereitet gewesen wäre, einen solchen Wechsel mit Bescheidenheit zu ertragen. Inzwischen bin ich mir selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß die Versicherung, ein Bürger von Athen, und durch meine Geburt und die Tugend meiner Voreltern zu Verdiensten und schönen Thaten berufen zu seyn, mir ungleich mehr Vergnügen machte, als der Anblick der Reichthümer, welche die Gütigkeit meines Vaters mit mir zu theilen so begierig war, und welche in meinen Augen nur dadurch einen Werth erhielten, weil sie mir das Vermögen zu geben schienen, desto freier und vollkommener nach meinen Grundsätzen leben zu können.Ich unterhielt mich nun mit einer neuen Art von Träumen, die durch ihre Beziehung auf meine neu entdeckten Verhältnisse für mich so wichtig, als durch ihre Ausführung eben so viele Wohlthaten für das menschliche Geschlecht zu seyn schienen. Solltest du denken, daß ich mit nichts Geringerem umging, als mit Entwürfen, wie die erhabenen Lehrsätze meiner idealischen Sittenlehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen Wesens angewandt werden könnten? — Diese Betrachtungen, welche einen guten Theil meiner Nächte wegnahmen, erfüllten mich mit dem lebhaftesten Eifer für ein Vaterland, welches ich nur aus Geschichtsschreibern kannte. Ich zeichnete mir selbst auf den Fußstapfen der Solonen und Aristiden einen Weg aus, bei welchem ich an keine andern Hindernisse dachte, als an solche, die durch Muth und Tugend zu überwinden sind. Dann setzte ich mich in meiner patriotischen Entzückung an das Ende meiner Laufbahn, und sah in Athen nichts Geringeres als die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Künste, die Königin des Meers, den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechtes. Kurz, ich machte ungefähr eben so chimärische und eben so ungeheure Projecte als Alcibiades; nur mit dem sehr wesentlichen Unterschied, daß nicht Eitelkeit und Ehrsucht, sondern ein von Güte und allgemeiner Wohlthätigkeit beseeltes Herz die Quelle der meinigen war. Sie hatten noch dieses Besondere, daß ihre Ausführung (die moralische Möglichkeit derselben vorausgesetzt) keiner Mutter eine Thräne, und keinem Menschen in der Welt mehr als die Aufopferung seiner Vorurtheile und solcher Leidenschaften, welche die Ursache alles Privatelends sind, gekostet haben würde. Ihre Ausführung schien mir also, weil ich mir die Hindernisse nur einzeln und nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigten Gewichte vorstellte, so leicht zu seyn, daß ich mich über nichts so sehr wunderte, als wie ein Perikles, unter den kleinfügigen Bemühungen, Athen zur Meisterin von Griechenland zu machen, habe übersehen können, wie viel leichter es sey, es zum Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glückseligkeit der Welt zu machen.Diese schönen Entwürfe gaben etliche Mal den Stoff zu den Unterredungen ab, womit ich meinen Vater des Abends die Zeit zu verkürzen pflegte. Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft schien ihn eben so sehr zu belustigen, als sein Herz, dessen Ebenbild er in dem meinigen erkannte, sich an den tugendhaften Gesinnungen vergnügte, die er, wie ich selbst (vielleicht beide ein wenig zu parteiisch), für die Triebfedern meiner politischen Träume hielt. Alles, was er mir von den Schwierigkeiten ihrer Ausführung sagen konnte, überzeugte mich so wenig, als einen Verliebten die Einwendungen eines kaltblütigen Freundes überzeugen werden. Ich hatte eine Antwort für alle; und dieser neue Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen hatte, wurde bald so stark, daß ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen und in solchen Umständen zu sehen, daß ich die erste Hand an das große Werk, wozu ich gewidmet zu seyn glaubte, lesen könnte.
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Achtes Buch.

Fortsetzung der Erzählung Agathons, von seiner Versetzung nach Athen bis zu seiner Bekanntschaft mit Danae.

Erstes Capitel.

Agathon kommt nach Athen, und widmet sich der Republik. Eine Probe der besondern Natur desjenigen Windes, welcher von Horaz aura popularis genannt wird.

Mein Vater hielt sich nur so lange zu Korinth auf, als es seine Geschäfte erforderten, und eilte, mich in dieses Athen zu versetzen, welches sich meiner verschönernden Einbildung in einem so herrlichen Lichte darstellte.Ich gestehe dir, Danae (und ich hoffe die fromme Pflicht gegen meine Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen), daß der erste Anblick mit dem, was ich erwartete, einen starken Absatz machte. Mein Geschmack war zu sehr verwöhnt, um das Mittelmäßige, worin es auch seyn möchte, erträglich zu finden. Er wollte gleichsam alles in diese feine Linie eingeschlossen sehen, in welcher das Erhabene mit dem Schönen zusammen fließt: und wenn er diese Vollkommenheit an einzelnen Theilen gewahr wurde, so wollte er, daß alles zusammen stimmen und ein sich selbst durchaus ähnliches, symmetrisches Ganzes ausmachen sollte. Von diesem Grade der Schönheit war Athen, so wie vielleicht jede andere Stadt in der Welt, noch weit entfernt. Indessen hatte sie doch der gute Geschmack und die Verschwendung des Perikles, mit Hülfe der Phidias, der Alkamenes und andrer großer Meister, in einen solchen Stand gestellt, daß sie mit den prächtigsten Städten der Welt um den Vorzug streiten konnte. Wenigstens sah ich bald, daß die Ergänzung dessen, was ihr von dieser Seite noch abging, der leichteste Theil meiner Entwürfe, und eine natürliche Folge derjenigen Veranstaltungen seyn werde, welche sie, meiner Einbildung nach, zum Mittelpunkt der Stärke und der Reichthümer des ganzen Erdbodens machen sollten.Sobald wir in Athen angekommen waren, ließ mein Vater seine erste Sorge seyn, mich auf eine gesetzmäßige Art für seinen Sohn zu erkennen, und unter die Athenischen Bürger aufnehmen zu lassen. Dieß machte mich eine Zeit lang zu einem Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Athener sind, wie dir nicht unbekannt ist, mehr als irgend ein andres Volk in der Welt, geneigt, sich plötzlich mit der äußersten Lebhaftigkeit für oder wider etwas einnehmen zu lassen. Ich hatte das Glück ihnen beim ersten Anblick zu gefallen. Die Begierde mich zu sehen und Bekanntschaft mit mir zu machen, wurde eine Art von epidemischer Leidenschaft unter Jungen und Alten. Jene machten in kurzem einen glänzenden Hof um mich, und diese faßten Hoffnungen von mir, welche mich unvermerkt mit einem geheimen Stolz erfüllten, und die allzuhochfliegende Meinung, die ich ohnehin geneigt war von meiner Bestimmung zu fassen, bestätigten. Dieser subtile Stolz, der sich hinter meine besten Neigungen und tugendhaftesten Gesinnungen verbarg, und dadurch meinem Bewußtseyn sich entzog, benahm mir nichts von einer Bescheidenheit, wodurch ich von den meisten jungen Leuten meiner Gattung mich zu unterscheiden schien. Ich gewann dadurch, nebst der allgemeinen Hochachtung des geringern Theils des Volkes, den Vortheil, daß die Vornehmsten, die Weisesten und Erfahrensten mich gern um sich haben mochten, und mir durch ihren Umgang eine Menge besonderer Kenntnisse mittheilten, welche meinem frühzeitigen Auftritt in der Republik sehr zu Statten kamen. Die Reinigkeit meiner Sitten, der gute Gebrauch den ich von meiner Zeit machte, der Eifer womit ich mich zum Dienste meines Vaterlandes vorbereitete, die fleißige Besuchung der Gymnasien, die Preise die ich in den Uebungen davon trug; alles vereinigte sich, das günstige Vorurtheil zu unterhalten, welches man einmal für mich gefaßt hatte. Da mir überdieß noch die Verdienste meines Vaters und einer langen Reihe von Voreltern den Weg zur Republik bahnten, so war es kein Wunder, daß ich in einem Alter, worin die meisten Jünglinge nur mit ihren Vergnügungen beschäftigt sind, den Muth hatte, in den öffentlichen Versammlungen aufzutreten, und das Glück, mit einem Beifall aufgenommen zu werden, der mich in Gefahr setzte, eben so schnell als ich emporgehoben wurde, entweder durch meine eigene Vermessenheit oder durch den Neid meiner Nebenbuhler, wieder gestürzt zu werden.Die Beredsamkeit ist in Athen, wie in allen Freistaaten wo das Volk Antheil an der öffentlichen Verwaltung hat, der nächste Weg zu Ehrenstellen, und das gewisseste Mittel sich auch ohne dieselben Ansehen und Einfluß zu verschaffen. Ich ließ es mir also sehr angelegen seyn, die Geheimnisse einer Kunst zu studieren, von deren Ausübung, und dem Grade der Geschicklichkeit, den ich mir darin erwerben würde, die glückliche Ausführung aller meiner Entwürfe abzuhangen schien. Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athener zu bereden gewußt hatten: so zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich sie, mit einer gleichen Gesetzlichkeit, zu Maßnehmungen würde überreden können, welche außerdem daß sie an sich selbst edler waren) zu weit glänzendern Vortheilen führten, ohne so ungewiß und gefährlich zu seyn.In dieser Absicht besuchte ich die Schule des Platon, welcher damals zu Athen in seinem höchsten Ansehen stand, und, indem er die Weisheit des Sokrates mit der Beredsamkeit eines Gorgias und Prodikus vereinigte, nach dem urtheil meiner alten Freunde, weit geschickter als diese Wortkünstler war, einen Redner zu bilden, welcher mehr durch die Stärke der Wahrheit, als durch die Blendwerke und Kunstgriffe einer hinterlistigen Dialektik, sich die Gemüther seiner Zuhörer unterwerfen wollte. Der vertrautere Zutritt, den mir dieser berühmte Weise vergönnte, entdeckte eine so große Uebereinstimmung meiner Denkungsart mit seinen Grundsätzen, daß die Freundschaft, die ich für ihn faßte, sich in eine fast schwärmerische Leidenschaft verwandelte. Sie würde mir in den Augen der Welt schädlich gewesen seyn, wenn man damals schon so von ihm gedacht hätte, wie man dachte, nachdem er durch die Bekanntmachung seiner metaphysischen Dialogen bei den Staatsleuten, und selbst bei vielen die seine Bewunderer gewesen waren, den Vorwurf, welchen Aristophanes ehemals (wiewohl höchst unbillig) dem weisen Sokrates machte, sich mit besserm Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte. Aber damals hatte Plato weder seinen Timäus noch seine Republik geschrieben. Indessen existirte diese letztere doch bereits in seinem Gehirne. Sie gab sehr oft den Stoff zu unsern Gesprächen in den Spaziergängen der Akademie ab; und er bemühete sich desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art die menschliche Gesellschaft einzurichten und zu regieren, eigen zu machen, da er das Vergnügen zu haben hoffte, sie durch mich in einigem Grade realisirt zu sehen.Sein Eifer in diesem Stücke mag so groß gewesen seyn als er will, so war er doch gewiß nicht größer, als meine Begierde dasjenige auszuüben, was er speculirte. Allein, da meine Vorstellung von der Wichtigkeit der Pflichten eines Staatsmannes der Lauterkeit und innerlichen Güte meiner Absichten angepaßt war, und ich desto weiter von Ehrsucht und andern eigennützigen Leidenschaften entfernt zu seyn glaubte, je gewisser ich (wenn ich es für erlaubt gehalten hätte, bei der Wahl einer Lebensart bloß meine Privatneigung zu folgen) eine von städtischem Getümmel entfernte Freiheit und den Umgang mit den Musen der Ehre, eine ganze Welt zu beherrschen, vorgezogen hätte: so glaubte ich mich nicht genug vorbereiten zu können, eh' ich auf einem Theater erschiene, wo der erste Auftritt gemeiniglich das Glück des ganzen Schauspiels entscheidet. Ich widerstand bei etlichen Gelegenheiten, welche mich aufzufordern schienen, sowohl dem Zudringen meiner Freunde als meiner eigenen Neigung; wiewohl es (seitdem Alcibiades mit so gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte) nicht an jungen Leuten fehlte, welche —ohne durch andre Talente, als die Geschicklichkeit ein Gastmahl anzuordnen, sich zierlich zu kleiden, zu tanzen und die Cither zu spielen, bekannt zu seyn —vermessen genug waren, nach einer durchgeschwärmten Nacht aus den Armen einer Buhlerin in die Versammlung des Volks zu hüpfen, und, von Salben triefend, mit einer tändelhaften Geschwätzigkeit über die Gebrechen des Staats und die Fehler der öffentlichen Verwaltung zu plaudern.Endlich ereignete sich ein Fall, wo das Interesse eines Freundes, den ich vorzüglich liebte, alle meine Bedenklichkeiten überwog. Eine mächtige Cabale hatte seinen Untergang geschworen. Er war unschuldig; aber die Anscheinungen waren gegen ihn. Die Gemüther waren wider ihn eingenommen; und die Furcht, sich den Unwillen seiner Feinde zuzuziehen, hielt die Wenigen, welche besser von ihm dachten, zurück, sich seiner öffentlich anzunehmen. In diesen Umständen stellte ich mich als seinen Vertheidiger dar. Da ich von seiner Unschuld überzeugt war, so wirkten alle diese Betrachtungen, wodurch sich seine übrigen Freunde abschrecken ließen, bei mir gerade das Widerspiel. Ganz Athen wurde aufmerksam, da es bekannt wurde, daß Agathon, des Stratonikus Sohn, auftreten würde, die Sache des schon zum voraus verurtheilten Lysias zu führen. Die Zuneigung, welche das Volk zu mir trug, veränderte auf einmal die Meinung, die man von dieser Sache gefaßt hatte. Die Athener fanden eine Schönheit, von der sie ganz bezaubert wurden, in der Großmuth und Herzhaftigkeit, womit ich (wie sie sagten) mich für einen Freund erklärte, den alle Welt verlassen und der Wuth und Uebermacht seiner Feinde Preis gegeben hätte. Man that nun die eifrigsten Gelübde, daß ich den Sieg davon tragen möchte; und der Enthusiasmus. womit einer den andern ansteckte, wurde so groß, daß die Gegenpartei sich genöthiget sah, den Tag der Entscheidung weiter hinaus zu setzen, um die erhitzten Gemüther sich wieder abkühlen zu lassen. Sie sparten inzwischen keine Kunstgriffe sich des Ausgangs zu versichern; allein der Erfolg vereitelte alle ihre Maßnehmungen. Die Zujauchzungen, womit ich von einem großen Theile des Volkes empfangen wurde, munterten mich auf. Ich sprach mit einem gesetztern Muth, als man von einem Jüngling erwarten konnte, der zum ersten Male vor einer so zahlreichen und Ehrfurcht gebietenden Versammlung redete, und vor einer Versammlung, wo der geringste Handwerksmann sich für einen Kenner und rechtmäßigen Richter der Beredsamkeit hielt, und vielleicht auch dafür gelten konnte. Die Wahrheit that auch hier die Wirkung, welche sie allemal thut, wenn sie in ihrem eigenen Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, so die eigene Ueberzeugung des Redners gibt, vorgetragen wird: sie überwältigte alle Gemüther. Lysias wurde losgesprochen, und Agathon, der nunmehr der Held der Athener war, im Triumphe nach Hause begleitet.Von dieser Zeit an erschien ich oft in den öffentlichen Versammlungen. Die Liebe meiner Mitbürger, und der Beifall, der mir, so oft ich redete, entgegen flog, machten mir Muth, nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Theil zu nehmen. Das Glück schien beschlossen zu haben, mich nicht eher zu verlassen, bis es mich auf den Gipfel der republicanischen Größe erhoben hätte. Ich machte also in dieser neuen Laufbahn so schnelle Schritte, daß in kurzem die Gunst, worin ich bei dem Volke stand, dem Ansehen der Mächtigsten zu Athen das Gleichgewicht hielt. Meine heimlichen Feinde selbst sahen sich, um dem Volk angenehm zu seyn, genöthigt, öffentlich die Zahl meiner Bewunderer zu vermehren.Der Tod meines Vaters, der um diese Zeit erfolgte, beraubte mich eines Freundes und Führers, dessen Klugheit mir in dem gefahrvollen Ocean des politischen Lebens unentbehrlich war. Ich wurde dadurch in den Besitz eines großen Vermögens gesetzt, bei welchem er dem Neide seiner Mitbürger nur durch die große Bescheidenheit, womit er es gebrauchte, entgangen war. Ich war nicht so vorsichtig. Zwar der Gebrauch, den ich davon machte, war an sich selbst edel und löblich: ich verschwendete es um Gutes zu thun. Ich unterstützte alle Arten von Bürgern, welche ohne ihre Schuld in Unglück gerathen waren. Mein Haus war der Sammelplatz der Gelehrten, der Künstler und der Fremden. Mein Vermögen stand jedem zu Diensten, der dessen benöthiget war. Aber eben dieß war es, was in der Folge meinen Fall beförderte. Man würde mir eher zu gut gehalten haben, wenn ich es mit Gastmählern, mit Buhlerinnen und mit einer steten Abwechslung prächtiger und ausschweifender Lustbarkeiten durchgebracht hätte.Indessen stand es doch eine geraume Zeit an, bis die Eifersucht, welch ich durch eine solche Lebensart in den Gemüthern der Angesehensten erregte, sich sichtbare Ausbrüche erlauben durfte. Das Volk, welches mich vorhin geliebt hatte, fing nun an mich zu vergöttern. Der Ausdruck, den ich hier gebrauche, ist nicht zu stark. Denn da ein gewisser Dichter, der sich meines Tisches zu bedienen pflegte, sich einst einfallen ließ, in einem großen und elenden Gedichte mir den Apollo zum Vater zu geben: so fand diese lächerliche Schmeichelei bei dem Pöbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal besser als das Natürliche einleuchtet) so großen Beifall, daß sich nach und nach eine Art von Sage befestigte, welche meiner Mutter die Ehre beilegte, den Gott zu Delphi für ihre Reizungen empfindlich gemacht zu haben. So ausschweifend dieser Wahn war, so wahrscheinlich schien er meinen Gönnern aus der untersten Classe. Dadurch allein glaubten sie die außerordentlichen Vollkommenheiten, die sie mir zuschrieben, erklären, und die ungereimten Hoffnungen, welche sie sich von mir machten, rechtfertigen zu können. Denn das Vorurtheil des großen Haufens ging weit genug, daß viele öffentlich sagten: Athen könne durch mich allein zur Gebieterin des Erdbodens gemacht werden, und man könne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumschränkte Gewalt zu übertragen. Eine Sache, von welcher sie sich nichts Geringeres als die Wiederkehr der goldenen Zeit, die gänzliche Aufhebung des verhaßten Unterschieds zwischen Armen und Reichen, und einen seligen Müßiggang mitten unter allen Wollüsten und Ergötzlichkeiten des Lebens versprachen.Bei diesen Gesinnungen, womit in größerm oder kleinerm Grade der Schwärmerei das ganze Volk zu Athen für mich eingenommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um sie dahin zu bringen, die Gesetze selbst zu Gunsten ihres Lieblings zu überspringen. Diese zeigte sich, da Euböa und einige andre Inseln sich des Joches, welches ihnen die Athener aufgelegt hatten, zu entledigen, einen Aufstand erregten, worin sie von den Spartanern heimlich unterstützt wurden. Man konnte (die unzulängliche Theorie, welche man zu Hause erwerben kann, ausgenommen) des Kriegswesens nicht unerfahrner seyn als ich es war. Ich hatte das Alter noch nicht erreicht, welches die Gesetze zu Bekleidung eines öffentlichen Amtes erforderten. Wir hatten keinen Mangel an geschickten und geübten Kriegsleuten. Ich selbst wandte mein ganzes Ansehen an, um einen davon, den ich seines sittlichen Charakters wegen vorzüglich hochschätzte, zum Feldherrn gegen die Empörten erwählen zu machen. Aber das alles half nichts gegen die warme Einbildungskraft des lebhaftesten und leichtsinnigsten Volks in der Welt. Agathon, welchem man alle Talente zutraute, und von welchem man sich berechtigt hielt Wunder zu erwarten, war allein tauglich die Ehre des Athenischen Namens zu behaupten, und den hochfliegenden Träumen der politischen Müßiggänger zu Athen (die bei diesem Anlaß in die Wette eiferten, wer die lächerlichsten Projecte machen könne) Wirklichkeit zu geben. Diese Art von Leuten war so geschäftig, daß es ihnen gelang, den größten Theil des Volks mit ihrer Thorheit anzustecken. Jede Nachricht, daß sich wieder eine andere Insel aufzulehnen anfange, verursachte eine allgemeine Freude. Man würde es gern gesehen haben, wenn das ganze Griechenland an dieser Sache Antheil genommen hätte. Auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche das Feuer größer machten als es war, und endlich sogar den König von Persien in den Aufstand von Euböa verwickelten; alles bloß um dem Agathon einen desto größern Schauplatz zu geben, die Athener durch Heldenthaten zu belustigen und durch Eroberungen zu bereichern. Ich wurde also, so sehr ich mich sträubte, mit unumschränkter Gewalt über die Armee, über die Flotten und über die Schatzkammer, zum Feldherrn gegen die abtrünnigen Inseln ernannt.
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Zweites Capitel.

Agathons Glück und Ansehn in der Republik erreicht seinen höchsten Gipfel.

Da ich einmal genöthigt war dem Eigensinn meiner Mitbürger nachzugeben: so beschloß ich, es mit einer guten Art zu thun, und die Sache von derjenigen Seite anzusehen, welche mir eine erwünschte Gelegenheit zu geben schien, den Anfang zur Ausführung meiner eigenen Entwürfe zu machen. Ich wußte, daß die Insulaner gerechte Klagen gegen Athen zu führen hatten. Wie hätten sie eine Regierung lieben können, von der sie unterdrückt, ausgesogen und mit Füßen getreten wurden? Ich gründete also meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung und Wiederbringung — auf den Weg der Güte, auf Abstellung der Mißbräuche, wodurch sie erbittert worden waren, auf eine billige Mäßigung der Abgaben, welche man, gegen ihre Freiheiten und über ihr Vermögen, von ihnen erpreßt hatte, und auf ihre Wiedereinsetzung in alle Rechte und Vortheile, deren sie sich als Griechen und als Bundsgenossen, vermöge vieler besondern Verträge, zu erfreuen haben sollten. Allein ehe ich von Athen abreisen konnte, war es nöthig, die Gemüther vorzubereiten, und auf einen Ton zu stimmen, der mit meinen Grundsätzen und Absichten überein käme; desto nöthiger, da ich sah, wie lebhaft die ausschweifenden Projecte, womit die Eitelkeit des Alcibiades sie ehmals bezaubert hatte, bei dieser Gelegenheit wieder aufgewacht waren.Ich versammelte also das Volk, und wandte alle Kräfte der Redekunst, welche bei keinem Volke der Welt so viel vermag als bei den Athenern, dazu an, sie von der Gründlichkeit meiner Entwürfe zu überzeugen, wiewohl ich sie nur so viel davon sehen ließ, als zu Erreichung meiner Absicht nöthig war. Nachdem ich ihnen die Größe und den Wohlstand, wozu die Republik, vermöge ihrer natürlichen Vortheile und innerlichen Stärke, gelangen könne, mit den reizendesten Farben abgemalt hatte, bemühte ich mich zu beweisen: "daß weitläufige Eroberungen (außer der Gefahr, womit sie durch die Unbeständigkeit des Kriegsglücks verbunden sind) den Staat endlich nothwendiger Weise unter der Last seiner eigenen Größe erdrücken müßten. Daß es einen weit sicherern und kürzern Weg gebe, Athen zur Königin des Erdbodens zu machen, weil allezeit diejenige Nation den übrigen Gesetze vorschreiben werde, welche zu gleicher Zeit die klügste und die reichste sey. Daß der Reichthum allezeit Macht gebe, so wie die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre. Daß Athen in beidem allen andern Völkern überlegen seyn werde, wenn sie auf der einen Seite fortfahre die Pflegemutter der Wissenschaften und der Künste zu seyn, auf der andern alle ihre Bestrebungen darauf richte, die Herrschaft über das Meer zu behaupten; nicht in der Absicht Eroberungen zu machen, sondern sich in eine solche Achtung bei den Auswärtigen zu setzen, daß jedermann ihre Freundschaft suche, und niemand es wagen dürfe ihren Unwillen zu reizen. Daß für einen am Meere gelegenen Freistaat ein gutes Vernehmen mit allen übrigen Völkern, und eine so weit als möglich ausgebreitete Handelschaft, der natürliche und unfehlbare Weg sey, nach und nach zu einer Größe zu gelangen, deren Ziel nicht abzusehen sey; daß aber hierzu die Erhaltung seiner eigenen Freiheit, und zu dieser die Freiheit aller übrigen, sonderheitlich der benachbarten, oder wenigstens ihre Erhaltung bei ihrer alten und natürlichen Form und Verfassung, nöthig sey. Daß Bündnisse mit den Nachbarn, und eine Freundschaft, wobei sie eben sowohl ihren Vortheil finden als wir den unsrigen, einem solchen Staate weit mehr Macht, Ansehen und Einfluß auf die allgemeine Verfassung des politischen Systems der Welt geben müßten, als die Unterwerfung derselben; weil ein Freund allezeit mehr werth ist als ein Sklave. Daß die Gerechtigkeit der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie das einzige Band der menschlichen Gesellschaft sey. Daß diese Gerechtigkeit fordre, eine jede politische Gesellschaft (sie möge groß oder klein seyn) als unsersgleichen anzusehen, und ihr eben die Rechte zuzugestehen, welche wir für uns selbst fordern; und daß ein nach diesen Grundsätzen eingerichtetes Betragen das gewisseste Mittel sey, sich allgemeines Zutrauen zu erwerben, und, anstatt einer gewaltsamen, mit allen Gefahren der Tyrannei verknüpften Oberherrschaft, ein freiwillig eingestandenes Ansehen zu behaupten, welches in der That von allen Vortheilen der erstern begleitet sey, ohne die verhaßte Gestalt und schlimmen Folgen derselben zu haben."Nachdem ich alle diese Wahrheiten, in ihrer besondern Anwendung auf Griechenland und Athen, in das stärkste Licht gesetzt, und bei dieser Gelegenheit die Thorheit der Projecte des Alcibiades und andrer eifersüchtiger Schwindelköpfe ausführlich erwiesen hatte, bemühte ich mich darzuthun: "Daß der Aufstand der Inseln, welche bisher unter dem Schutz der Athener gestanden, in neueren Zeiten aber durch Schuld einiger böser Rathgeber der Republik als unterworfene Sklaven behandelt worden seyen, die glücklichste Gelegenheit anbiete, zu gleicher Zeit das ganze Griechenland von der gerechten und edelmüthigen Denkungsart der Athener zu überzeugen, und durch eine ansehnliche Vermehrung der Seemacht (wovon die Unkosten durch die größere Sicherheit und Erweiterung der Handelschaft reichlich ersetzt wurden) sich in ein solches Ansehen zu setzen, daß niemand jenes gelinde und großmüthige Verfahren, mit dem mindesten Schein, einem Mangel an Vermögen sich Genugthuung zu verschaffen, werde beimessen können." Ich unterstützte diese Vorschläge mit allen den Gründen, welche auf die warme Einbildungskraft meiner Zuhörer den stärksten Eindruck machen konnten, und hatte das Vergnügen, daß meine Rede mit dem lautesten Beyfall aufgenommen wurde. In der That ließen sich die Athener eben so leicht von Wahrheit und gesunden Grundsätzen einnehmen, als von den Blendwerken einer falschen Staatskunst, wofern ihnen jene nur in einem eben so reizenden Lichte gezeigt und mit eben so lebhaften Farben vorgemalt wurden; auch war es ihnen ganz gleichgültig, durch was für Mittel Athen zu der Größe, die das Ziel aller ihrer Wünsche war, gelangen möchte, wenn es nur dazu gelangte. Ja ein großer Theil der Bürger, dem der Friede mehr Vortheil brachte als der Krieg, ließ sich's vielmehr wohl gefallen, wenn dieses Ziel seiner Eitelkeit auf eine mit seinem Privatnutzen mehr übereinstimmende Weise erhalten werden könnte.Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, daß dieser Kriegszug auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Falle geben würde, waren weit entfernt meinen Maßnehmungen öffentlich zu widerstehen, aber (wie ich in der Folge erfuhr) unter der Hand desto geschäftiger, ihren natürlichen Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten hervor zu spinnen, und die mißvergnügten Insulaner durch geheime Aufstiftungen übermüthig und zu billigen Bedingungen abgeneigt zu machen. Die Verachtung, womit man anfangs diesen Aufwand zu Athen angesehen hatte, das anwesende Beispiel und die Ränke andrer Griechischen Städte, welche die Obermacht der Athener mit eifersüchtigen Augen ansahen, hatten zuwege gebracht, daß indessen auch die Attischen Colonien und der größte Theil der Bundesgenossen kühn genug worden waren, sich einer Unabhängigkeit anzumaßen, deren schädliche Folgen sie sich selbst unter dem reizenden Namen der Freiheit verbargen. Es war die höchste Zeit, einer allgemeinen Empörung und Zusammenverschwörung gegen Athen zuvorzukommen; und meine Landsleute —welche bei Annäherung einer Gefahr, die ihnen in der Ferne nur Stoff zu witzigen Einfällen gegeben hatte, sehr schnell von der leichtsinnigsten Gleichgültigkeit zur übermäßigsten Kleinmüthigkeit übergingen —vergrößerten sich selbst das Uebel so sehr, daß ich genöthiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zurüstungen noch zur Hälfte fertig waren.Ich hatte die Vorsichtigkeit gebraucht, meinen Freund, über welchen mir die Gunst des Volks einen so unbilligen Vorzug gegeben hatte, als Unterbefehlshaber mitzunehmen. Die Bescheidenheit, womit ich mich des Ansehens, welches mir meine Commission über ihn gab, bediente, kam einer Eifersucht zuvor, die den Erfolg unsrer Unternehmung hätte vereiteln können. Wir handelten aufrichtig und ohne Nebenabsichten nach einem gemeinschaftlich abgeredeten Plane, und das Glück begünstigte uns so sehr, daß in weniger als zwei Jahren alle Inseln, Colonien und Schutzverwandte der Athener nicht nur beruhiget und in die Schranken zurück gebracht, sondern durch die Abstellung alles dessen, wodurch sie unbilliger Weise beschweret worden waren, und durch die Bestätigung ihrer alten Freiheiten, mehr als jemals geneigt gemacht wurden, unsre Freundschaft allen andern Verbindungen vorzuziehen. In allem diesem folgte ich, ohne besondere Verhaltungsbefehle einzuholen, meiner eigenen Denkungsart mit desto größrer Zuversicht, da ich den ehmaligen Mißvergnügten nichts zugestanden hatte, was sie nicht sowohl nach dem Naturrecht als kraft älterer Verträge zu fordern vollkommen berechtiget waren; hingegen durch diese Nachgiebigkeit neue und sehr beträchtliche Vortheile für die Athener erkaufte: Vortheile, die dem ganzen gemeinen Wesen zuflossen, anstatt daß aller Nutzen von ihrer Unterdrückung lediglich in die Cassen einiger Privatleute und ehmaligen Günstlinge des Volks geleitet worden war.Ich kehrte also mit dem Vergnügen recht gethan zu haben, mit dem Beifall und der lebhaftesten Zuneigung aller Colonien und Bundesgenossen, und mit der vollen Zuversicht, die Belohnung, die ich verdient zu haben glaubte, in der Zufriedenheit meiner Mitbürger zu finden, an der Spitze einer dreimal stärkern Flotte, als womit ich ausgelaufen war, nach Athen zurück. Ich schmeichelte mir, daß ich mir durch eine so schleunige Beilegung einer Unruhe, welche so weit aussehend und gefährlich geschienen, einiges Verdienst um mein Vaterland erworben hätte. Ich hatte aus unsern Feinden Freunde und aus unsichern Unterthanen zuverlässige Bundesgenossen gemacht, deren Treue desto weniger zweifelhaft schien, da ihre Sicherheit und ihr Wohlstand durch unzertrennliche Bande mit dem Interesse von Athen verknüpft worden war. Ich hatte, des gemeinen Schatzes zu schonen, mein eignes Vermögen zugesetzt, und durch mehr als hundert ausgerüstete Galeeren, die ich von dem guten Willen der beruhigten Jnsulaner erhielt, unsrer Seemacht eine ansehnliche Verstärkung gegeben. Ich hatte das Ansehen der Republik befestiget, ihre Neider abgeschreckt, und ihrer Handlung einen Ruhestand verschafft, dessen Fortdauer nunmehr, wenigstens auf lange Zeiten, bloß von unserm eigenen Betragen abhing. Das Vergnügen, welches sich über mein Gemüth ausbreitete, wenn ich alle diese Vortheile meiner Verrichtung überdachte, war so lebhaft, daß ich mir, außer dem Beifall und Zutrauen meiner Mitbürger, keine höhere Belohnung denken konnte. Aber die Athener waren, im ersten Anstoß ihrer Erkenntlichkeit, keine Leute, welche Maß zu halten wußten. Ich wurde im Triumph eingeholt, und mit allen Arten von Ehrenbezeugungen in die Wette überhäuft. Die Bildhauer mußten sich Tag und Nacht an meinen Statuen müde arbeiten. Alle Tempel, alle öffentlichen Plätze und Hallen wurden mit Denkmälern meines Ruhms ausgeziert. Diejenigen, die in der Folge mit der größten Hitze an meinem Verderben arbeiteten, waren itzt die eifrigsten, übermäßige und zuvor nie erhörte Belohnungen vorzuschlagen, welche das Volk, in dem Feuer seiner brausenden Zuneigung, gutherziger Weise bewilligte, ohne daran zu denken, daß mir diese Ausschweifungen seiner Hochachtung in kurzem von ihm selbst zu eben so vielen Verbrechen gemacht werden würden.Da ich sah, daß alle meine Bescheidenheit nicht zureichte, den reißenden Strom der popularen Dankbarkeit aufzuhalten: so glaubte ich am besten zu thun, wenn ich mich eine Zeit lang entfernte, und, bis die Athenische Lebhaftigkeit durch irgend eine neue Komödie, einen fremden Gaukler, oder eine frisch angekommene Tänzerin, einen andern Schwung bekommen haben würde, auf meinem Landgute zu Korinth in Gesellschaft der Musen einer Ruhe zu genießen, welche ich durch die Arbeiten einiger Jahre verdient zu haben glaubte. Ich dachte wenig daran, daß ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu seyn schien, Feinde hätte, welche, indessen ich mit aller Sorglosigkeit der Unschuld die Vergnügungen des Landlebens und der geselligen Freiheit kostete, einen eben so boshaften als künstlich ausgesonnenen Plan zu meinem Untergang anzulegen beschäftiget waren.Alles, womit ich, bei der schärfsten Prüfung meines öffentlichen und Privatlebens in Athen, mir bewußt bin, mein Unglück, wo nicht verdient, doch befördert zu haben, ist Unvorsichtigkeit, oder Mangel an derjenigen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kann. Ich lebte nach meinem Geschmack und nach meinem Herzen, weil ich gewiß wußte daß beide gut waren, ohne zu bedenken, daß man mir andre Absichten bei meinen Handlungen andichten könne als ich wirklich hatte. Ich that jedermann Gutes, weil ich meinem Herzen dadurch ein Vergnügen verschaffte, welches ich allen andern Freuden vorzog. Ich beschäftigte mich mit dem gemeinen Bejahen der Republik, weil ich zu dieser Beschäftigung geboren war, weil ich Tüchtigkeit dazu in mir fühlte, und durch die Zuneigung meiner Mitbürger in den Stand gesetzt zu werden hoffte, meinem Vaterland und der Welt nützlich zu seyn. Ich hatte keine andern Absichten, und würde mir eher haben träumen lassen, daß man mich beschuldigen werde, nach der Krone des Königs von Persien, als nach der Unterdrückung meines Vaterlandes zu streben. Da ich mir bewußt war niemands Haß verdient zu haben, so hielt ich einen jeden für meinen Freund, der sich dafür ausgab. Und warum hätt' ich es nicht thun sollen? Kaum war ein Bürger in Athen, dem ich nicht Diente geleistet hatte. Aus dem nämlichen Grunde dachte ich gleich wenig daran, wie ich mir einen Anhang machen, als wie ich die geheimen Anschläge von Feinden, die mir unsichtbar waren, vereiteln wolle. Denn ich glaubte nicht, daß die Freimüthigkeit, womit ich ohne Galle oder Uebermuth meine Meinung bei jeder Gelegenheit sagte, eine Ursache seyn könne mir Feinde zu machen. Mit Einem Wort, ich wußte noch nicht, daß Tugend, Verdienste und Wohlthaten gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödtlichsten Haß erbittern kann. Eine traurige Erfahrung konnte mir allein zu dieser Einsicht verhelfen; und es ist billig, daß ich sie werth halte, da sie mir nicht weniger als mein Vaterland, die Liebe meiner Mitbürger, meine schönsten Hoffnungen, und das glückselige Vermögen vielen Gutes zu thun und von niemand abzuhangen, gekostet hat.
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Drittes Capitel.

Agathon wird als ein Staatsverbrecher angeklagt.

Der Zeitpunkt meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen bin, führt allzu unangenehme Erinnerungen mit sich, als daß ich nicht entschuldiget seyn sollte, wenn ich so schnell davon wegeile, als es die Gerechtigkeit zulassen wird, die ich mir selbst schuldig bin. Es mag seyn, daß einige von meinen Feinden aus Beweggründen eines republicanischen Eifers gegen mich aufgestanden sind, und sich durch meinen Sturz eben so verdient um ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als Harmodius und Aristogiton durch die Ermordung des Pisistratiden Hipparchus. Aber es ist doch gewiß, daß diejenigen, welche die Sache mit der größten Wuth betrieben, keinen andern Beweggrund hatten, als die Eifersucht über das Ansehen, welches mir die allgemeine Gunst des Volkes gab, und welches sie nicht ohne Ursache für ein Hinderniß ihrer eigenen ehrgeizigen und gewinnsüchtigen Absichten hielten. Die meisten glaubten auch, daß sie Privatbeleidigungen zu rächen hätten. Einige nährten noch den alten Groll, den sie bei meinem ersten Auftritt in der Republik gegen mich faßten, da ich meinen rechtschaffenen Freund den Wirkungen ihrer Verfolgung entriß. Andere schmerzte es, daß ich ihnen bei der Wahl eines Befehlshabers gegen die empörten Inseln vorgezogen worden war. Viele waren durch den Verlust der Vortheile, welche sie von den ungerechten Bedrückungen derselben gezogen hatten, beleidiget worden. Bei diesen allen half mir nichts, daß ich keine Absicht sie zu beleidigen hatte, und daß es nur zufälliger Weise dadurch geschehen war, weil ich, meiner Ueberzeugung gemäß, meine Pflicht thun wollte. Sie beurtheilten meine Handlungen aus einem ganz andern Gesichtspunkte, und es war bei ihnen ein ausgemachter Grundsatz, daß derjenige kein ehrlicher Mann seyn könne, der ihren Privatabsichten Schranken setzte. Zum Unglück für mich, machten diese Leute einen großen Theil von den Vornehmsten und Reichsten in Athen aus. Hierzu kam noch, daß ich meiner immer fortdauernden Liebe zu Psyche die vortheilhaftesten Verbindungen, welche mir angeboten worden waren, aufgeopfert, und mich dadurch der Unterstützung und des Schutzes beraubet hatte, den ich mir von der Verschwägerung mit einem mächtigen Geschlechte hätte versprechen können. Ich hatte nichts, was ich den Ränken und der vereinigten Gewalt so vieler Feinde entgegen setzen konnte, als meine Unschuld, einige Verdienste und die Zuneigung des Volks; schwache Brustwehren, welche noch nie gegen die Angriffe des Neides, der Arglist und der Gewaltthätigkeit ausgehalten haben. Die Unschuld kann verdächtig gemacht, Verdiensten durch ein falsches Licht das Ansehen von Verbrechen gegeben werden; und was ist die Gunst eines schwärmerischen Volkes, dessen Bewegungen immer seinen Ueberlegungen zuvorkommen; welches mit gleichem Uebermaß liebt und haßt, und, wenn es einmal in eine fieberische Hitze gesetzt worden, gleich geneigt ist dieser oder einer entgegengesetzten Richtung, je nachdem es gestoßen wird, zu folgen? Was konnte ich mir von der Gunst eines Volkes versprechen, welches den großen Beschützer der Griechischen Freiheit im Gefängniß hatte verschmachten lassen? welches den tugendhaften Aristides, bloß darum weil er den Beinamen des Gerechten verdiente, verbannt, und in einer von seinen gewöhnlichen Launen sogar den weisen Sokrates zum Giftbecher verurtheilt hatte? Diese Beispiele sagten mir, bei der ersten Nachricht, die ich von dem über mir sich zusammen ziehenden Ungewitter erhielt, zuverlässig vorher, was ich von den Athenern zu erwarten hätte. Sie machten, daß ich ihnen nicht mehr zutraute als sie leisteten; und sie trugen nicht wenig dazu bei, daß ich ein Unglück mit Standhaftigkeit ertrug, in welchem ich so vortreffliche Männer zu Vorgängern gehabt hatte.Derjenige, den meine Feinde zu meinem Ankläger auserkoren hatten, war einer von den witzigen Schwätzern, deren feiles Talent gleich fertig ist Recht oder Unrecht zu verfechten. Er hatte in der Schule des berüchtigten Gorgias gelernt, durch die Zaubergriffe der Redekunst den Verstand seiner Zuhörer zu blenden, und sie zu bereden, daß sie sähen was sie nicht sahen. Er bekümmerte sich wenig darum, zu beweisen was er mit der größten Dreistigkeit behauptete; aber er wußte die Schwäche seiner einzelnen Sätze und Beweisgründe durch eine zwar willkürliche, aber desto künstlichere Verbindung so geschickt zu verbergen, daß man, sogar mit einer gründlichen Beurtheilungskraft, auf seiner Hut seyn mußte, um nicht von ihm überrascht zu werden. Der hauptsächlichste Vorwurf seiner Anklage war die schlimme Verwaltung, deren ich mich, als Oberbefehlshaber in der Angelegenheit der empörten Schutzverwandten, schuldig gemacht haben sollte. Er bewies mit großem Wortgepränge, daß ich in dieser ganzen Sache nichts gethan hätte, das der Rede werth wäre; daß ich vielmehr, anstatt die Empörten zu züchtigen und zum Gehorsam zu bringen, ihren Sachwalter abgegeben, sie für ihren Aufruhr belohnt, ihnen noch mehr, als sie selbst zu fordern die Verwegenheit gehabt, zugestanden, und durch diese unbegreifliche Art zu verfahren ihnen Muth und Kräfte gegeben hätte, bei der ersten Gelegenheit sich von Athen gänzlich unabhängig zu machen. Er bewies alles dieß nach den Grundsätzen einer Politik, welche das Widerspiel von der meinigen war, aber, wie es scheint, immer die beliebteste und gangbarsten seyn wird, weil sie den Leidenschaften der Gewalthaber im Staate allzu sehr schmeichelt, um nicht Eingang zu finden. Er hatte noch die Bosheit, nicht entscheiden zu wollen, ob ich aus Unverstand oder geflissentlich so gehandelt hatte; doch erhob er auf der einen Seite meine Fähigkeiten so sehr, und legte so viel Wahrscheinlichkeiten in die andere Wagschale, daß sich der Ausschlag von selbst geben mußte. Dieses führte ihn zu dem zweiten Theil seiner Anklage, welcher in der That (ob er es gleich nicht gestehen wollte) das Hauptwerk davon ausmachte. Und hier wurden Beschuldigungen auf Beschuldigungen gehäuft, um mich dem Volk als einen Ehrsüchtigen abzumalen, der sich einen Plan gemacht habe sein Vaterland zu unterdrücken, und, unter dem Scheine der Großmuth, der Freigebigkeit und der Popularität, sich zum unumschränkten Herrn desselben aufzuwerfen. Eine jede meiner Tugenden war die Maske eines Lasters, welches im Verborgenen am Untergang der Freiheit und Glückseligkeit der Athener arbeitete. In der That hatte die Beredsamkeit meines Anklägers hier ein schönes Feld sich zu ihrem Vortheil zu zeigen, und seinen Zuhörern das republikanische Vergnügen zu machen, eine Tugend, welche mir allzu große Vorzüge vor meinen Mitbürgern zu geben schien, herunter gesetzt zu sehen. Indessen, ob er gleich keinen Theil meines Privatlebens (so untadelhaft es ehemals meinen Gönnern geschienen hatte) unbeschmitzt ließ: so mochte er doch besorgen, daß die Kunstgriffe, deren er sich dazu bedienen mußte, zu stark in die Augen fallen möchten. Er raffte also alles zusammen, was nur immer fähig seyn konnte mich in ein verhaßtes Licht zu stellen; und da es ihm an Verbrechen, die er mir mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte aufbürden können, mangelte, so legte er mir fremde Thorheiten und selbst die ausschweifenden Ehrenbezeugungen zur Last, welche mir, in der Flut meines Glückes und meiner Gunst bei dem Volk, aufgedrungen worden waren. Ich mußte jetzt sogar für die elenden Verse Rechenschaft geben, womit einige Dichterlinge mir die Dankbarkeit ihres Magens auf Unkosten ihres Ruhms und des meinigen zu beweisen gesucht hatten. Man beschuldigte mich im ganzen Ernste, daß ich übermüthig und gottlos genug gewesen sey, mich für einen Sohn Apollo's auszugeben; und mein Ankläger ließ diese Gelegenheit nicht entgehen, über meine wahre Geburt Zweifel zu erregen, und, unter vielen scherzhaften Wendungen, die Meinung derjenigen wahrscheinlich zu finden, welche (wie er sagte) benachrichtigt zu seyn glaubten, daß ich mein Daseyn den verstohlenen Liebeshändeln irgend eines Delphischen Priesters zu danken hätte.In dieser ganzen Rede ersetzte ein von Bosheit beseelter Witz den Abgang gründlicher Beweise. Aber die Athener waren schon lange gewohnt, sich Witz für Wahrheit verkaufen zu lassen, und sich einzubilden, daß sie überzeugt würden, wenn im Grunde bloß ihr Geschmack belustigt und ihre Ohren gekitzelt wurden. Sie machte also den ganzen Eindruck, den meine Feinde sich davon versprochen hatten. Die Eifersucht, welche sie in den Gemüthern anblies. verwandelte die übermäßige Zuneigung, deren Gegenstand ich einige Jahre lang gewesen war, in den bittersten Haß. Die guten Athener erschracken vor dem Abgrund, an dessen Rand sie sich durch ihre Verblendung für mich unvermerkt hingezogen sahen. Sie erstaunten, daß sie meine Unfähigkeit zur Staatsverwaltung, meine Begierde nach einer unumschränkten Gewalt, meine weit aussehenden Absichten, und mein heimliches Verständniß mit ihren Feinden, nicht eher wahrgenommen hätten. Und, da es nicht natürlich gewesen wäre, die Schuld davon auf sich selbst zu nehmen, so schrieben sie es lieber einer Bezauberung zu, wodurch ich ihre Augen eine Zeit lang zu verschließen gewußt hätte. Ein jeder glaubte nun, durch meine verderblichen Anschläge gegen die Republik von der Dankbarkeit vollkommen losgezählt zu seyn, die er mir für Dienste oder Wohlthaten schuldig seyn mochte, welche nun als die Lockspeise angesehen wurden, womit ich die Freiheit, und mit ihr das Eigenthum meiner Mitbürger wegzuangeln getrachtet hätte. Kurz, eben dieses Volk welches vor wenig Monaten mehr als menschliche Vollkommenheiten an mir bewunderte, war itzt unbillig genug, mir nicht das geringste Verdienst übrig zu lassen; und eben diejenigen, die auf den ersten Wink bereit gewesen wären, mir die Oberherrschaft in einem allgemeinen Zusammenlauf aufzubringen, waren itzt begierig, mich einen nie gefaßten Anschlag gegen die Freiheit, deren sie sich in diesem Augenblicke selbst begaben, mit meinem Blute büßen zu sehen. Als mir die gewöhnliche Frist zur Verantwortung gegeben wurde, war meine Verurtheilung durch die Mehrheit der Stimmen schon beschlossen: und das Vergnügen, womit ich von einer unzählbaren Menge Volks ins Gefängniß begleitet wurde, würde vollkommen gewesen seyn, wenn die Gesetze gestattet hätten, mich ohne weitere Proceßförmlichkeiten zum Richtplatze zu führen.
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Viertes Capitel.

Ein Verwandter seines Vaters macht dem Agathon sein Geburts- und Erbrecht streitig. Sein Gemüthszustand unter diesen Widerwärtigkeiten.

So glücklich meinen Feinden ihr Anschlag von Statten gegangen war, so glaubten sie doch, sich meines Untergangs noch nicht genugsam versichert zu haben. Sie fürchteten die Unbeständigkeit eines Volkes, von welchem sie allzu wohl wußten, wie leicht es von Liebe zu Haß und von Haß zu Mitleiden überging. Es blieb möglich, daß ich mit der bloßen Verbannung auf einige Jahre durchwischen konnte; und dieß ließ eine Veränderung der Scene besorgen, bei welcher weder ihr Groll gegen mich, noch ihre eigene Sicherheit ihre Rechnung fanden. Man mußte also noch eine andere Mine springen lassen, durch die mir, wenn ich einmal aus Athen vertrieben wäre, alle Hoffnung jemals wieder zurück zu kommen abgeschnitten würde. Man mußte beweisen, daß ich kein Bürger von Athen sey; daß meine Mutter keine Bürgerin, und Stratonikus nicht mein Vater gewesen; daß er mich, in Ermangelung eines Erben von seinem eignen Blute, aus bloßen Haß gegen denjenigen, der es den Gesetzen nach gewesen wäre, angenommen und untergeschoben habe; und daß also die Gesetze mir kein Recht an seine Erbschaft zugeständen. Da es zu Athen niemals an Leuten fehlt, welche, gegen eine angemessene Belohnung, alles gesehen und gehört haben was man will, und da von denjenigen, die der Wahrheit das beste Zeugniß hätten geben können, niemand mehr am Leben war; so hatten meine Gegner wenig Mühe, alles dieß eben so gut zu beweisen, als sie meine Staatsverbrechen bewiesen hatten. Es wurde also eine neue Klage angestellt. Derjenige, der sich zum Kläger wider mich aufwarf, war ein Neffe von meinem Vater, durch nichts als die liederliche Lebensart bekannt, wodurch er sein Erbgut schon vor einigen Jahren verpraßt hatte. Seine Unverbesserlichkeit hatte ihn endlich der Freundschaft meines Vaters, so wie der Achtung aller rechtschaffenen Leute, beraubt; und dieses Umstands bediente er sich nun, mich um eine Erbschaft zu bringen, die er, bevor noch von mir die Rede war, als der nächste Verwandte, in seinen Gedanken schon verschlungen hatte. Die Geschicklichkeit des Redners, dessen Dienste zur Ausübung seines Bubenstücks erkaufte, der mächtige Beistand meiner Feinde, die Umstände selbst, in denen er mich unvermuthet überfiel, und vornehmlich die Gefälligkeit seiner Zeugen, alle die Unwahrheiten zu beschwören, die er zu seiner Absicht nöthig hatte: alles das zusammen genommen versicherte ihm den glücklichen Ausgang seiner Verrätherei; und die Reichthümer, die ihm dadurch zufielen, waren, in den Augen eines gefühllosen Elenden wie er, wichtig genug, um mit Verbrechen, die ihm so wenig kosteten, erkauft zu werden.Dieser letzte Streich, der vollständigste Beweis, auf was für einen Grad die Wuth meiner Feinde gestiegen war, und wie gewiß sie sich des Erfolgs hielten, ließ mir keine Hoffnung übrig, die ihrige zu Schanden zu machen. Denn alle meine vermeinten Freunde, bis auf wenige, deren guter Wille ohne Vermögen war, hatten, sobald sie mich vom Glück verlassen sahen, mich auch verlassen. Andere, welche zwar von dem Unrecht, das mir angethan wurde, überzeugt waren, hatten gleichwohl nicht Muth genug, sich für eine fremde Sache in Gefahr zu setzen; und der einzige, dessen Charakter, Ansehen und Freundschaft mir vielleicht hatte zu Statten kommen können, Plato, befand sich seit einiger Zeit am Hofe des jungen Dionysius zu Syrakus.Ich gestehe, daß ich, so lange die ersten Bewegungen dauerten, mein Unglück in seinem ganzen Umfang fühlte. Für ein redliches und dabei noch wenig erfahrnes Gemüth ist es entsetzlich, zu fühlen, daß man sich in seiner guten Meinung von den Menschen betrogen habe, und sich zu der abscheulichen Wahl genöthiget zu sehen, entweder in einer beständigen Unsicherheit vor der Schwäche der einen und der Bosheit der andern zu leben, oder sich gänzlich aus ihrer Gesellschaft zu verbannen. Aber die Kleinmüthigkeit, welche eine Folge meiner ersten melancholischen Betrachtungen war, dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich seit meiner Versetzung auf den Schauplatz einer größern Welt in so kurzer Zeit gemacht hatte, weckten die Erinnerungen meiner glücklichen Jugend in Delphi mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worin sie sich mir unter dem Getümmel des städtischen und politischen Lebens niemals dargestellt hatten. Die Bewegung meines Gemüths, die Wehmuth, wovon es durchdrungen war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von allen den Gunstbezeugungen, womit mich das Glück so schnell und mit solchem Uebermaß überschüttet hatte, nichts als die Erinnerung, die uns von einem Traum übrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt hatte, nichts als das Bewußtseyn meiner Redlichkeit aus Athen mit mir nehmen würde, —setzten mich auf einmal wieder in jenen seligen Enthusiasmus, worin wir fähig sind dem Aeußersten, was die vereinigte Gewalt des Glücks und der menschlichen Bosheit gegen uns vermag, ein standhaftes Herz und ein heitre Gesicht entgegen zu stellen, Der unmittelbare Trost, den meine Grundsätze über mein Gemüth ergossen, die Wärme und neu beseelte Stärke, die sie meiner Seele gaben, überzeugten mich von neuem von ihrer Wahrheit. Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen hatte: ich fühlte daß sie sich selbst belohnt. Das Unglück schien mich nur desto stärker mir ihr zu verbinden, so wie uns eine geliebte Person desto theurer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden. Die Betrachtungen, auf welche mich diese Gesinnungen leiteten, lehrten mich, wie geringhaltig auf der Wage der Weisheit alle diese schimmernden Güter sind, die ich im Begriff war dem Glücke wieder zu geben; und wie wichtig diejenigen seyen, welche mir keine republicanische Cabale, kein Decret des Volks zu Athen, keine Macht in der Welt nehmen konnte. Ich verglich meinen Zustand in der höchsten Flut meines Glückes mit der seligen Ruhe des contemplativen Lebens, worin ich, in glücklicher Unwissenheit des glänzenden Elends und der wahren Beschwerden einer mit Unrecht beneideten Größe, meine schuldlose Jugend hinweg gelebt hatte; worin ich meines Daseyns und der innern Reichthümer meines Geistes, meiner Gedanken, meiner Empfindungen, der eigenthümlichen und von aller äußerlichen Gewalt unabhängigen Wirksamkeit meiner Seele, froh geworden war; —und ich glaubte, bei dieser Vergleichung, alles gewonnen zu haben, wenn ich mich, mit freiwilliger Hingabe der Vortheile die mir indessen zugefallen waren, wieder in einen Zustand zurück kaufen könnte, den mir meine Einbildungskraft mit ihren schönsten Farben, und in diesem überirdischen Lichte, worin er dem Zustande der himmlischen Wesen ähnlich schien, vormalte. Der Gedanke, daß diese Seligkeit nicht an die Haine von Delphi gebunden sey —daß die Quellen davon in mir selbst lägen — daß eben diese vermeintlichen Güter, welche mir mitten in ihrem Genusse so viele Unruhe und Zerstreuung zugezogen, die einzigen Hindernisse meines wahren Glücks gewesen — diese Gedanken setzten mich in eine innerliche Freude, die mich gegen alle Bitterkeiten meines Schicksals unempfindlich machte; und dieß ging zuletzt so weit, daß ich nach dem Tage meiner Verurtheilung ganz ungeduldig ward.Allein eben diese Denkart, welche mir so viel Gleichgültigkeit gegen den Verlust meines Ansehens und Vermögens gab, machte, daß ich das Betragen der Athener aus einem moralischen Gesichtspunkt ansah, aus welchem es mir Abscheu und Ekel erweckte. Meine Feinde schienen mir durch die Leidenschaften, von denen sie getrieben wurden, einigermaßen entschuldiget zu seyn: aber das Volk, das bei meinem Umsturz nichts gewann, das so viele Ursachen hatte mich zu lieben, mich wirklich so sehr geliebt hatte, und itzt, durch eine bloße Folge seiner Unbeständigkeit und Schwäche, ohne selbst recht zu wissen warum, sich dummer Weise zum Werkzeuge fremder Leidenschaften und Absichten machen ließ, dieses Volk ward mir so verächtlich, daß ich kein Vergnügen mehr an dem Gedanken fand, ihm Gutes gethan zu haben. Diese Athener, die auf ihre Vorzüge vor allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stellten sich meiner beleidigten Eigenliebe als ein abschätziger Haufe blöder Thoren dar, die sich von einer kleinen Rotte verschmitzter Spitzbuben bereden ließen, Weiß für Schwarz anzusehen; die — bei aller Feinheit ihres Geschmacks, wenn es darauf ankam, über die Versification eines Trinklieds oder die Füße einer Tänzerin zu urtheilen, weder Kenntniß noch Gefühl von Tugend und wahrem Verdienst hatten; die, bei der heftigsten Eifersucht über ihre Freiheit, niemals größere Sklaven waren, als wenn sie ihr chimärisches Palladium am tapfersten behauptet zu haben glaubten; die sich jederzeit der Führung ihrer übelgesinntesten Schmeichler mit dem blindesten Vertrauen überlassen, und nur in ihre tugendhaftesten Mitbürger, in ihre zuverlässigsten Freunde, das größte Mißtrauen gesetzt hatten. Sie verdienen es, sagte ich zu mir selbst, daß sie betrogen werden! Aber den Triumph sollen sie nicht erleben, daß Agathon sich vor ihnen demüthige. Sie sollen fühlen, was für ein Unterschied zwischen ihm und ihnen ist! Sie sollen fühlen, daß er nur desto größer ist, wenn sie ihm alle diese Flittern wieder abnehmen, womit sie ihn, wie Kinder eine auf kurze Zeit geliebte Puppe, umhängt haben; und eine zu späte Reue wird sie vielleicht in kurzem lehren, daß Agathon ihrer leichter als sie Agathons entbehren können!Die siehest, schöne Danae, daß ich mich nicht scheue, dir auch meine Schwachheiten zu gestehen. Dieser Stolz hatte ohne Zweifel einen guten Theil von eben der Eitelkeit in sich, welche ich den Athenern zum Verbrechen machte; aber vielleicht gehört er auch unter die Triebfedern, "womit die Natur edle Gemüther versehen hat, um dem Druck widerwärtiger Zufälle mit gleich starker Zurückwirkung zu widerstehen, und sich dadurch in ihrer eigenen Gestalt und Größe zu erhalten." Die Athener rühmten ehmals meine Bescheidenheit und Mäßigung, zu einer Zeit, da sie alles thaten, um mich dieser Tugenden zu berauben. Aber diese Bescheidenheit floß mit dem Stolze, der ihnen itzt so anstößig an mir war, aus einerlei Quelle. Ich war mir eben so wohl bewußt, daß ich ihre Mißhandlungen nicht verdiente, wie ich ehmals fühlte, daß die Achtung, die sie mir bewiesen, übertrieben war; desto bescheidener, je mehr sie mich erhoben; desto stolzer und trotziger, je mehr sie mich heruntersetzen wollten.
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Fünftes Capitel.

Wie Agathon sich vor den Athenern vertheidigt. Er wird verurtheilt, und auf immer aus Griechenland verbannt.

Meine wenigen Freunde hatten sich inzwischen in der Stille so eifrig zu meinem Besten verwandt, daß sie mir Hoffnung machten, alles könne noch gut gehen, wenn ich mich nur entschließen könnte, meine Vertheidigung nach dem Geschmack und der Erwartung des Volks einzurichten. Ich sollte mich zwar so vollständig rechtfertigen als es immer möglich wäre, sagten sie; aber am Ende sollt' ich mich doch den Athenern auf Gnade oder Ungnade zu Füßen werfen. Meinen Feinden dürfte ich nach aller Schärfe des Selbstvertheidigungs- und Wiedervergeltungsrechts begegnen: aber den Athenern sollte ich schmeicheln, und, anstatt ihre Eigenliebe durch den mindesten Vorwurf zu beleidigen, bloß ihr Mitleiden zu erregen suchen. Vermuthlich würde der Erfolg diesen Rath meiner Freunde, der sich auf die Kenntniß des Charakters eines freien Volks gründete, gerechtfertiget haben; wenigstens ist gewiß, daß die ersten Bewegungen dieser Unbeständigen bereits angefangen hatten, dem Mitleiden und den Regungen ihrer vormaligen Liebe zu weichen. Ich las es, da ich das Gerüste, von welchem ich zu dem Volke reden sollte, bestieg, in vieler Augen, sah, wie sie nur darauf warteten, daß ich ihnen einen Weg zeigen möchte, mit guter Art, und ohne etwas von ihrer demokratischen Majestät zu vergeben, wieder zurück zu kommen. Aber sie fanden sich in dieser Erwartung sehr betrogen. Die Verachtung, womit mein Gemüth beim Anblick eines Volkes erfüllt wurde, welches mich vor wenigen Tagen mit so ausschweifender Freude ins Gefängniß begleitet hatte, und das Gefühl meines eignen Werthes, waren beide zu lebhaft. Die Begierde ihnen Gutes zu thun, welche die Seele aller meiner Handlungen und Entwürfe gewesen war, hatte aufgehört. Ich würdigte sie nicht, eine Schutzrede zu halten, die ich für eine Beschimpfung meines Charakters und Lebens gehalten hätte; aber ich wollte ihnen zum letztenmal die Wahrheit sagen. Ehmals, wenn es darum zu thun gewesen war, sie von ihren eignen wahren Vortheilen zu überzeugen, hatte ich alle meine Beredsamkeit aufgeboten. Aber itzt, da die Rede bloß von mir selbst war, verschmähte ich den Beistand einer Kunst, worin der Ruf mir einige Geschicklichkeit zuschrieb. In diesem Stücke blieb ich meinem gefaßten Vorsatze getreu; aber nicht der Kürze und Gelassenheit, die ich mir vorgeschrieben hatte. Der Affect, in den ich unvermerkt gerieth, machte mich weitläufig und zuweilen bitter. Meine Rede enthielt eine zusammen gezogene Erzählung meines ganzen Lebenslaufs in Athen, der Grundsätze, welchen ich in der Republik gefolgt war, und meiner Gedanken von dem wahren Interesse der Athener. Ich ging bei dieser Gelegenheit ein wenig streng mit ihren Urtheilen und Lieblingsprojecten um. Ich sagte ihnen, daß ich in der Sache der Schutzverwandten eine Probe gegeben hätte, nach was für Maximen ich jederzeit in Verwaltung des Staats gehandelt haben würde: allein da diese Maximen so weit von ihrer Gemüthsbeschaffenheit und Denkart entfernt wären, so würden sie sehr weislich handeln, einen Menschen aus ihrem Mittel zu verbannen, welcher nicht gesonnen sey, den Pflichten eines allgemeinen Freundes der Menschen zu entsagen, um ein guter Bürger von Athen zu seyn.Der Schluß meiner Rede liegt mir noch so lebhaft im Gedächtniß, daß ich ihn, als eine Probe des Ganzen, wörtlich wiederholen will. "Die Götter (sage ich) haben mich zu einer Zeit, da ich es am wenigsten hoffte, meinen Vater finden lassen. Sein Ansehen und seine Reichthümer gaben mir weniger Freude, als die Entdeckung, daß ich mein Leben einem rechtschaffenen Manne zu danken hätte. Athen wurde durch ihn mein Vaterland. Ich sah es als den Platz an, den mir die Götter angewiesen das Beste der Menschen zu befördern. Die Vortheile dieser einzelnen Stadt waren in meinen Augen ein zu kleiner Gegenstand, um dem allgemeinen Besten der Menschheit vorgesetzt zu werden; aber ich sah beides so genau mit einander verknüpft; daß ich nur alsdann gewiß seyn konnte, jene wirklich zu erhalten, wenn ich dieses beförderte. Nach diesen Grundsätzen habe ich in meinem öffentlichen Leben gehandelt, und diese Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen. Die Athener wollen auf Unkosten des menschlichen Geschlechts groß seyn; und sie werden es so lange seyn wollen, bis sie, in Ketten, welche sie sich selbst schmieden, und deren sie würdig sind sobald sie über Sklaven gebieten wollen, allen ihren Ehrgeiz auf den rühmlichen Vorzug einschränken werden, die besten Sprecher und die gelenkigsten Pantomimen in der Welt zu seyn. Aber von Agathon erwartet nicht, daß er euern Lauf auf diesem Wege, den die Gefälligkeit eurer Redner mit Blumen bestreut, beschleunigen helfe. Mein Privatleben hat euch bewiesen, daß die Grundsätze, nach welchen ich eure öffentlichen Handlungen zu leiten gewünscht hätte, die Maßregeln meines eigenen Verhaltens waren. Mein Vermögen hat mehr zum Gebrauch eines jeden unter euch, als zu meinem eigenen gedienet. Ich habe mir Undankbare verbindlich gemacht, und diese Erfahrung lehrt mich, Güter mit Gleichgültigkeit zurückzulassen, welche ich übel anwandte, da ich sie am besten anzuwenden glaubte. Dieß, ihr Athener, ist alles, was ich euch zu meiner Vertheidigung zu sagen habe. Ihr seyd nun, weil euch die Menge eurer Arme zu meinem Herrn macht, Meister über meine Umstände, und, wenn ihr wollt, über mein Leben. Verlangt ihr meinen Tod, so meldet mir nur, was ich in eurem Namen dem weisen und guten Sokrates sagen soll, zu dem ihr mich schicken werdet. Begnügt ihr euch aber mich aus euern Augen zu verbannen: so werde ich, mit dem letzten Blicke nach einem einst geliebten Vaterland, eine Thräne auf das Grab eurer Glückseligkeit fallen lassen; und, indem ich aufhöre ein Athener zu seyn, in jedem Winkel der Welt, worin Tugend sich verbergen darf, ein besseres Vaterland finden."Es ist leicht zu vermuthen, schöne Danae, daß eine Apologie aus diesem Tone nicht geschickt war, mir ein günstiges Urtheil auszuwirken. Die Erbitterung, welche dadurch in den Gemüthern erregt wurde, die sich an dem angenehmen Schauspiel, mich vor ihnen gedemüthiget zu sehen, zu weiden gehofft hatten, war auf allen Gesichtern ausgedrückt. Demungeachtet sah ich niemals eine größere Stille unter dem Volk, als da ich aufgehört hatte zu reden. Sie fühlten, wie es schien, wider ihren Willen, daß die Tugend Ehrfurcht einprägt. Aber eben dadurch wurde sie ihnen desto verhaßter, je stärker sie den Vorzug fühlten, den sie dem beklagten, verlassenen und von allen Auszierungen des Glücks entblößten Agathon über die Herren seines Schicksals gab. Ich weiß selbst nicht wie es zuging, daß mir mein guter Genius aus dieser Gefahr heraus half. Genug, als die Stimmen gesammelt waren, fand sich, daß die Richter, gegen die Hoffnung meiner Ankläger, sich begnügten, mich auf ewig aus Griechenland zu verbannen, die Hälfte meiner Güter zum gemeinen Wesen zu ziehen, und die andre Hälfte meinen Verwandten zuzusprechen. Die Gleichgültigkeit, womit ich mich diesem Urtheil unterwarf, wurde in diesem fatalen Augenblicke, der alle meine Handlungen in ein falsches Licht setzte, für einen Trotz aufgenommen, welcher mich alles Mitleidens unwürdig machte. Gleichwohl erlaubte man meinen Freunden, sich um mich zu versammeln, mir ihre Dienste anzubieten, und mich aus Athen zu begleiten; welches ich, ungeachtet mir eine längere Frist gegeben worden war, noch in eben der Stunde mit so leichtem Herzen verließ, als ein Gefangener den Kerker verläßt, aus dem er unverhofft in Freiheit gesetzt wird. Die Thränen der wenigen, die mein Fall nicht von mir verscheucht hatte, und meiner guten Hausgenossen waren das einzige, was, bei einem Abschiede, den wir auf ewig von einander nahmen, mein Herz erweichte; und ihre guten Wünsche alles, was ich von den Anerbietungen ihrer mitleidigen und dankbaren Vorsorge nahm.Ich befand mich nun wieder ungefähr in eben den Umständen, worin ich, vor einigen Jahren, unter dem Cypressenbaum im Vorhofe meines noch unbekannten Vaters zu Korinth gelegen hatte. Die großen Veränderungen, die mannichfaltigen Scenen von Reichthum, Ansehen, Gewalt, und äußerlichem Schimmer, durch welche mich das Glück in dieser kurzen Zwischenzeit herum gedreht hatte, waren nun wie ein Traum vorüber. Aber die wesentlichen Vortheile, die von allen diesen Begegnissen in meinem Geist und Herzen zurück geblieben waren, überzeugten mich, daß ich nicht geträumt hatte. Ich fand mich um eine Menge nützlicher und schöner Kenntnisse, um die Entwicklung und Uebung meiner Fähigkeiten, um das Bewußtseyn vieler guter Handlungen, und um eine Reihe wichtiger Erfahrungen, reicher als zuvor. Ich hatte den Geist der Republiken, den Charakter des Volks, die Eigenschaften und Wirkungen einiger mir vorher unbekannten Leidenschaften kennen gelernt, und Gelegenheit genug gehabt, vieler irrigen Einbildungen los zu werden, welche man sich von der Welt zu machen pflegt, wenn man sie nur von ferne, und ohne selbst in ihre Geschäfte eingeflochten zu seyn, betrachtet. Zu Delphi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß sich das ganze Gebäude der repulicanischen Verfassung auf die Tugend gründe. Die Athener lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich selbst nirgends weniger geschätzt wird als in einer Republik, den Fall ausgenommen, da man ihrer vonnöthen hat; und in diesem Falle wird sie unter einem Despoten eben so hoch geschätzt und nicht selten besser belohnt.Ueberhaupt hatte mein Aufenthalt in Athen die erhabene Theorie von der Vortrefflichkeit und Würde der menschlichen Natur, wovon ich eingenommen war, schlecht bestätiget: und dennoch fand ich mich darum nicht geneigter von ihr zurück zu kommen. Ich legte alle Schuld auf die Ansteckung allzu großer Gesellschaften, auf die Mängel der Gesetzgebung, auf das Privatinteresse, welches bei allen policirten Völkern, durch ein unbegreifliches Versehen ihrer Gesetzgeber, in einem beständigen Streite mit dem gemeinen Besten liegt. Kurz, ich dachte darum nicht schlimmer von der Menschheit, weil sich die Athener unbeständig, ungerecht und undankbar gegen mich bewiesen hatten. Aber ich faßte einen desto stärkern Widerwillen gegen eine jede andre Gesellschaft, als eine solche, welche sich auf übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung nach sittlicher Vollkommenheit gründet. Der Verlust meiner Güter und die Verbannung aus Athen schien mir die wohl thätige Veranstaltung einer für mich besorgten Gottheit zu seyn, welche mich dadurch meiner wahren Bestimmung habe wieder geben wollen. Es ist sehr vermuthlich, daß ich durch Anwendung gehöriger Mittel, durch das Ansehen meiner auswärtigen Freunde, und selbst durch die Unterstützung der Feinde der Athener, welche mir gleich zu Anfang meines Processes heimlich angeboten worden war, vielleicht in kurzem wieder Wege gefunden haben könnte, meine Gegner in dem Genuß der Früchte ihrer Bosheit zu stören, und triumphirend nach Athen zurückzukehren. Allein solche Anschläge und solche Mittel schickten sich nur für einen Ehrgeizigen, welcher regieren will um seine Leidenschaften zu befriedigen. Mir fiel es nicht ein, die Athener zwingen zu wollen, daß sie sich von mir Gutes thun lassen sollten. Ich glaubte durch einen Versuch, der mir durch ihre eigene Schuld mißlungen war, meiner Pflicht gegen die bürgerliche Gesellschaft ein Genüge gethan zu haben, und nun vollkommen berechtigt zu seyn, die natürliche Freiheit, welche mir meine Verbannung wieder gab, zum Vortheil meiner eigenen Glückseligkeit anzuwenden. Ich beschloß also, den Vorsatz, den ich zu Delphi schon gefaßt hatte, nunmehr ins Werk zu setzen, und die Quellen der morgenländischen Weisheit, die Magier, und die Gymnosophisten in Indien zu besuchen, in deren geheiligten Einöden ich die wahren Gottheiten meiner Seele, die Weisheit und die Tugend (von welchen, wie ich glaubte, nur unwesentliche Phantomen unter den übrigen Menschen herumschwärmten) zu finden hoffte.Aber eh' ich auf die Zufälle komme, durch welche ich an der Ausführung dieses Vorhabens gehindert und in Gestalt eines Sklaven nach Smyrna gebracht wurde, muß ich meiner jungen Freundin wieder erinnern, die wir seit meiner Versetzung nach Athen aus dem Gesichte verloren haben.
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Sechstes Capitel.

Agathon endigt seine Erzählung.

Die Veränderung, welche mit mir vorging, da ich aus den Hainen von Delphi auf den Schauplatz der geschäftigen Welt, in das Getümmel einer volkreichen Stadt, in die unruhigen Bewegungen einer zwischen Demokratie und Aristokratie hin und her treibenden Republik, und in das moralische Chaos der bürgerlichen Gesellschaft trat, worin Leidenschaften mit Leidenschaften, Absichten mit Absichten, in einem allgemeinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und nichts beständig, nichts gewiß, nichts das ist was es scheint, noch die Gestalt behält die es hat, —diese Veränderung war so groß, daß ich ihre Wirkung auf mein Gemüth durch nichts anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der Betäubung, worin (nach meinem Freunde Plato) unsre Seele eine Zeit lang, von sich selbst entfremdet, liegen bleibt, nachdem sie aus dem Ocean des reinen ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume erfüllt, plötzlich in den Schlamm des groben irdischen Stoffes herunter gestürzet worden ist. Die Menge der neuen Gegenstände, welche von allen Seilen auf mich eindrang, verschlang die Erinnerung derjenigen, welche mich vierzehn Jahre lang umgeben hatten. Ich hat hatte Mühe mich selbst zu überreden, daß ich eben derjenige sey, der im Tempel zu Delphi den Fremden die Merkwürdigkeiten desselben gewiesen und erklärt hatte. Sogar das Andenken meiner geliebten Psyche wurde eine Zeit lang von diesem Nebel, der meine Seele umzog, verdunkelt.Allein dieß dauerte nur so lange, bis ich des neuen Elements, worin ich itzt lebte, gewohnt worden war. Denn nun vermißte ich ihre Gegenwart desto lebhafter wieder, je größer das Leere war, welches die Beschäftigungen und selbst die Ergötzungen meiner neuen Lebensart in meinem Herzen ließen. Die Schauspiele, die Gastmähler, die Tänze, die Musikübungen, konnten mir jene seligen Nächte nicht ersetzen, die ich in den Entzückungen einer zauberischen Begeisterung an ihrer Seite zugebracht hatte. Aber, so groß auch meine Sehnsucht nach diesen verlornen Freuden war, so beunruhigte mich doch weit mehr die Vorstellung des unglücklichen Zustandes, in welchen die rachgierige Eifersucht der Pythia meine Freundin vermuthlich versetzt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts ausfindig zu machen, schien beinahe eine Unmöglichkeit. Denn entweder hatte die Priesterin sie fern genug von Delphi, um uns alle Hoffnung des Wiedersehens zu benehmen, verkaufen, oder sie gar an irgend einer entlegenen barbarischen Küste aussetzen und dem Zufalle Preis geben lassen. Allein, da der Liebe nichts unmöglich ist, so gab ich auch die Hoffnung nicht auf, meine Psyche wieder zu finden. Ich belud alle meine Freunde, alle Fremden die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reisende und Seefahrer mit dem Auftrage, sich allenthalben wohin sie kämen nach ihr zu erkundigen; und damit sie weniger verfehlt werden könnte, ließ ich eine unzählige Menge Copien ihres Bildnisses machen, welches ich selbst, oder vielmehr der Gott der Liebe durch meine Hand, in der vollkommensten Aehnlichkeit, nach dem gegenwärtigen Original gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren. Ich gestehe dir sogar, daß das Verlangen meine Psyche wieder zu finden (anfänglich wenigstens) der hauptsächlichste Beweggrund war, warum ich mich in der Republik hervorzuthun suchte. Denn nachdem mir alle andern Mittel fehl geschlagen waren, schien mir nichts übrig zu bleiben, als meinen Namen so bekannt zu machen, daß er ihr zu Ohren kommen müßte, sie möchte auch seyn wo sie wollte. Dieser Weg war in der That etwas weitläufig. Ich hatte zwanzig Jahre in Einem fort größere Thaten thun können als Hercules und Theseus, ohne daß die Hyrkanier, die Massageten, die Hibernier oder die Lästrigonen, in deren Hände sie inzwischen hätte gerathen können, mehr von mir gewußt hätten als die Einwohner des Mondes. Zu gutem Glücke fand der Schutzgeist unsrer Liebe einen kürzern Weg uns zusammen zu bringen, wiewohl in der That nur, um uns Gelegenheit zu geben, auf ewig von einander Abschied zu nehmen.Hier fuhr Agathon fort, der schönen Danae die Begebenheiten zu erzählen, die ihm auf seiner Wanderschaft bis auf die Stunde, da er mit ihr bekannt wurde, zugestoßen, und wovon wir dem Leser bereits im ersten und zweiten Buche dieser Geschichte Rechenschaft gegeben haben: und nachdem er sich auf Unkosten des weisen Hippias ein wenig lustig gemacht hatte, entdeckte er seiner schönen Freundin (welche seine ganze Erzählung nirgends weniger langweilig fand als an dieser Stelle) alle-, was von dem ersten Anblies , da er sie gesehen, in seinem Herzen vorgegangen war. Er überredete sie, mit eben der Aufrichtigkeit, womit er selbst es zu empfinden glaubte: "daß sie allein dazu gemacht gewesen sey, seine Begriffe von idealischen Vollkommenheiten und einem überirdischen Grade von Glückseligkeit zu realisiren; daß er, seitdem er sie liebe und von ihr geliebt sey, ohne seiner ehemaligen Denkungsart ungetreu zu werden, nur von dem was darin übertrieben und chimärisch gewesen, und zwar bloß dadurch zurückgekommen sey, weil er bei ihr alles dasjenige gefunden, wovon er sich vorher nur in der höchsten Begeisterung seiner Einbildungskraft einige unvollkommene Schattenbegriffe habe machen können; und weil es natürlich sey, daß die Einbildungskraft zu wirken aufhöre, sobald der Seele nichts mehr zu thun übrig sey, als anzuschauen und zu genießen."Mit Einem Worte, Agathon hatte vielleicht in seinem Leben nie so sehr geschwärmt, als itzt, da er sich, im höchsten Grade der verliebten Bethörung, einbildete, daß er alles was er der leichtgläubigen Danae vorsagte, eben so gewiß und unmittelbar sehe und fühle, als er ihre schönen, vom Geiste der Liebe und von aller seiner berauschenden Wollust trunknen Augen auf ihn geheftet sah, oder das Klopfen ihres Herzens unter seinen brennenden Lippen fühlte. Er endigte damit: "Er hoffe durch seine ganze Erzählung ihr begreiflich gemacht zu haben, warum, nachdem er schon so oft, bald von den Menschen, bald vom Glücke, bald von seinen eigenen Einbildungen betrogen worden, es entsetzlich für ihn seyn würde, wenn er sich jemals in der Hoffnung betrogen fände, so vollkommen und beständig von ihr geliebt zu werden, als es zu seiner Glückseligkeit nöthig sey." Er gestand ihr, mit einer Offenherzigkeit, welche vielleicht nur eine Danae ertragen konnte, daß eine lebhafte Erinnerung an die Zeiten seiner ersten Liebe, begleitet von der Vorstellung aller der seltsamen Zufälle, Veränderungen und Katastrophen, die er in einem Alter von fünf und zwanzig Jahren bereits erfahren, ihn auf eine Reihe melancholischer Gedanken gebracht habe, worin es ihm schwer gewesen sey, seine gegenwärtige Glückseligkeit für etwas mehr als für ein abermaliges Blendwerk seiner Phantasie zu halten. "Gerade das Uebermaß derselben, sagte er, ist es, was mich befürchten machte, aus einem so schönen Traum aufzuwachen. Kannst du es mir verdenken, liebenswürdige Danae, — o du, die durch die Reizungen deines Geistes, auch ohne diese Liebe-athmende Gestalt, ohne diese Schönheit, deren Anschauen himmlische Wesen dir gegenüber anzufesseln vermögend wäre, durch die bloße Schönheit deiner Seele und den magischen Reiz eines Geistes, der alle Vorzüge, alle Gaben, alle Grazien in sich vereinigt, meinen Geist aus dem Himmel selbst zu dir herunter ziehen würdest! — Könntest du mir verdenken, daß ich vor der bloßen Möglichkeit deine Liebe jemals verlieren zu können, wie vor der Vernichtung meines ganzen Wesens, erzittere? —Laß mich, laß mich die Gewißheit, daß es nie geschehen könne, immer in deinen Augen lesen, immer von deinen Lippen hören, und in deinen Armen fühlen! Und wenn diese vergötternde Bezauberung jemals aufhören soll: so nimm im letzten Augenblick alle deine Macht zusammen, und laß mich vor Entzücken und Liebe zu deinen Füßen sterben!"Von der Antwort, womit Danae diese Ergießungen einer glühenden Zärtlichkeit erwiederte, läßt sich das Wenigste mit Worten ausdrücken; und dieß kann, nach allem was wir bereits von ihren Gesinnungen für unsern Helden gesagt haben, der kaltsinnigste von unsern Lesern sich so gut vorstellen als wir es ihm sagen könnten. Daß sie ihm übrigens sehr höflich für die Erzählung seiner Geschichte gedankt, und große Freude darüber empfunden habe, in diesem Sklaven, der die Alcibiaden und den liebenswürdigen Cyrus selbst aus ihrem Herzen ausgelöscht hatte, den ruhmvollen Agathon, den Jüngling, den das Gerüchte zum Wunder seiner Zeit gemacht hatte, zu finden; und daß sie ihm hierüber viel Schönes gesagt haben werde, —versteht sich von selbst. Dieß und alles, was eine jede andre, die keine Danae gewesen wäre, in den vorliegenden Umständen auch gesagt hätte, wollen wir (so wie alle die feinen Anmerkungen und Scherze, wodurch sie in gewissen Stellen seine Erzählung unterbrochen hatte) überhüpfen, um zu andern Dingen, die in ihrem Gemüthe vorgingen, zu kommen, welche der größte Theil unserer Leserinnen (wir besorgen es, oder hoffen es vielmehr) nicht aus sich selbst errathen hätte, und welche wichtig genug sind, ein eigenes Kapitel zu verdienen.
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Neuntes Buch.

Fortsetzung der Geschichte Agathons und der schönen Danae bis zur heimlichen Entweichung des erstern aus Smyrna.

Erstes Capitel.

Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers Helden

Die vertrauliche Erzählung, welche Agathon seiner zärtlichen Freundin von seinem ganzen Lebensläufe gemacht, die Offenherzigkeit, womit er ihr die innersten Triebfedern seiner Seele aufgedeckt, und die vollständige Kenntniß, welche sie dadurch von einem Liebhaber, an dessen Erhaltung ihr so viel gelegen war, empfangen hatte, ließen sie gar bald einsehen, daß sie vielleicht mehr Ursache habe über die Beständigkeit seiner Liebe beunruhigt zu seyn, als er über die Dauer der ihrigen. So schmeichelhaft es für ihre Eitelkeit war von einem Agathon geliebt zu seyn, so hätte sie doch für die Ruhe ihres Herzens lieber gewollt, daß er keine so schimmernde Rolle in der Welt gespielt haben möchte. Sie besorgte nicht unbillig, daß es äußerst schwer seyn würde, einen jungen Helden, der durch so seltene Gaben und Tugenden zu den edelsten Auftritten des geschäftigen Lebens bestimmt schien, immer in den Blumenfesseln der Liebe und eines wollüstigen Müßiggangs gefangen zu halten. Zwar schien die Art seiner Erziehung, der sonderbare Schwung den seine Einbildungskraft dadurch erhalten, seine herrschende Neigung zur Unabhängigkeit und Ruhe des speculativen Lebens (welche durch die Streiche, die ihm das Glück in einer so großen Jugend bereits gespielt, neue Stärke bekommen hatte), nebst dem Hang zum Vergnügen, der, im Gleichmaße mit der außerordentlichen Empfindlichkeit seines Herzens, die Ruhmbegierde bei ihm nur zu einer subalternen Leidenschaft machte —alles dieß schien ihr zwar zu dem Vorhaben, ihn der Welt zu rauben und für sich selbst zu behalten, nicht wenig beförderlich zu seyn. Aber eben diese schwärmerische Einbildungskraft, eben diese Lebhaftigkeit der Empfindungen, waren auf einer andern Seite mit einer gewissen natürlichen Unbeständigkeit verbunden, von welcher sie alles zu befürchten hatte. Konnte sie, mit aller Eitelkeit, wozu das Bewußtseyn ihrer selbst und der allgemeine Beifall sie berechtigte, sich selbst bereden, daß sie diese idealische Vollkommenheit wirklich besitze, welche die begeisterten Augen ihres Liebhabers an ihr sahen? Und da nicht sie selbst, sondern diese idealische Vollkommenheit der eigentliche Gegenstand seiner Liebe war: auf was für einem unsichern Grund beruhete eine Hoffnung, welche voraussetzte, daß die Bezauberung immer dauern werde!Diese letzte Betrachtung machte sie zittern; — denn sie fühlte mit einer immer zunehmenden Stärke, daß Agathon zu ihrer Glückseligkeit unentbehrlich geworden war. Aber (so ist die betrügliche Natur des menschlichen Herzens!) eben darum, weil der Verlust ihres Liebhabers sie elend gemacht haben würde, hatten alle Vorstellungen, die ihr mit seinem beständigen Besitz schmeichelten, doppelte Kraft, ein Herz zu überreden, welches nichts anders suchte als getäuscht zu werden. Sie bildete sich also ein, daß der Hang zu demjenigen, was man Wollüstigkeit der Seele nennen könnte, den wesentlichsten Zug von der Gemüthsbeschaffenheit unsers Helden ausmache. Seine Philosophie selbst schien sie in dieser Meinung zu bestätigen, und (bei aller ihrer Erhabenheit über den groben Materialismus des größten Haufens der Sterblichen) in der That mit den Grundsätzen des Aristippus, welche vormals ihre eigenen gewesen waren, in Einem Punkte zusammen zu laufen. Der ganze Unterschied lag, wie ihr däuchte, bloß darin, daß dieser die Wollust, die er zum letzten Ziele der Weisheit machte, mehr in angenehmer Bewegung der Sinnen, in den Befriedigungen eines geläuterten Geschmacks, und in den Ergötzlichkeiten eines von allen unruhigen Leidenschaften befreiten geselligen Lebens, —Agathon hingegen diese feinere Wollust, wovon er in den stillen Hainen des Delphischen Tempels sich ein so liebenswürdiges Phantom in den Kopf gesetzt hatte, mehr in den Vergnügungen der Einbildungskraft und des Herzens suchte. Eine Philosophie, bei welcher er (nach der scharfsinnigen Beobachtung unsrer Schönen) sogar von Seiten der sinnlichen Lust mehr gewann als verlor; indem diese von den verschönernden Einflüssen einer begeisterten Einbildung und den zärtlichen Rührungen und Ergießungen eines gefühlvollen Herzens ihren mächtigsten Reiz erhält. Dieß als gewiß vorausgesetzt, glaubte sie von der Unbeständigkeit, welche sie, nicht ohne Grund, als eine Eigenschaft einer allzu geschäftigen und hochgespannten Einbildungskraft ansah, nichts zu besorgen zu haben, so lange es ihr nicht an Mitteln fehlen würde, seinen Geist und sein Herz zugleich, und mit einer solchen Abwechslung und Mannichfaltigkeit zu vergnügen, daß eine weit längere Zeit, als die Natur dem Menschen zum Genießen angewiesen hat, nicht lang genug wäre, ihn eines so angenehmen Zustandes überdrüssig zu machen. Sie hatte Ursache, dieses umso mehr zu glauben, da sie aus Erfahrung wußte, daß die Energie der Einbildungskraft desto mehr abnimmt, je weniger Leeres der Genuß wirklicher Vergnügungen im Herzen zurück läßt, und je weniger ihr Zeit gelassen wird, etwas Angenehmeres als das Gegenwärtige zu wünschen.Es ist noch nicht Zeit über diese Grundsätze der schönen Danae unsere eigenen Gedanken zu sagen. Sie mochten, von einer gewissen Seite betrachtet, richtig genug seyn; aber wir besorgen sehr, daß sie sich in dem Gebrauch der Mittel, wodurch sie ihren Zweck zu erhalten hoffte, betrogen finden werde. In der That liebte sie zu aufrichtig und zu heftig um gute Schlüsse zu machen; und ihr Herz führte sie nach und nach, ohne daß sie es gewahr wurde, weit über die Gränzen der Mäßigung weg, bei welcher sie sich anfangs so wohl befunden hatte. Vielleicht mochte auch eine geheime Eifersucht über die gute Psyche sich mit ins Spiel gemischt und sie begierig gemacht haben, sogar die Erinnerung an die Freuden seiner ersten Liebe aus seinem Gedächtniß auszulöschen. So viel ist gewiß, daß sie, — vor lauter Begierde unsern Helden mit Glückseligkeiten zu überschütten, ihm eine gränzenlose Liebe zu zeigen, und ihn einen solchen Grad von Wonne, über welchem dem Herzen nichts zu wünschen und der Phantasie nichts zu ersinnen übrig bliebe, erfahren zu machen, — einen Weg einschlug, auf dem sie ihres Zweckes nothwendig verfehlen mußte.Agathon, nachdem er (dem neuen Plane seiner mehr zärtlichen als behutsamen Geliebten zufolge) etliche Wochen lang alles was die Liebe Süßes und Entzückendes hat genossen hatte, verfiel unvermerkt in eine gewisse Mattigkeit der Seele, welche wir nicht kürzer zu beschreiben wissen, als wenn wir sagen: daß vollkommen das Widerspiel von der Begeisterung war, worin wir ihn bisher gesehen haben. Man würde sich irren, wenn man diese Entgeisterung einer so unedeln Ursache beimessen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswürdigen Helden des Petronius nöthigte, seine Zuflucht zu den Beschwörungen und Brennnesseln der alten Enothea zu nehmen. Wir finden weit wahrscheinlicher, daß die wahre Ursache davon in seiner Seele lag; daß sie aus einer Ueberfüllung mit Vergnügen, auf welche nothwendig eine Art von Betäubung folgen mußte, ihren Ursprung nahm. Die menschliche Natur scheint nur eines gewissen Maßes von Vergnügen fähig zu seyn, und einen anhaltenden Zustand von Entzückung eben so wenig ertragen zu können, als eine lange Dauer des äußersten Schmerzens. Beides spannt endlich die Nerven ab, und bringt uns zu einer Art von Ohnmacht, in welcher wir gar nichts mehr zu empfinden fähig sind.Was indessen auch die Ursache einer für die Absichten der Danae so nachtheiligen Veränderung gewesen seyn mag, dieß ist gewiß, die Wirkungen derselben nahmen in kurzer Zeit so sehr zu, daß Agathon Mühe hatte sich selbst zu erkennen, oder zu begreifen wie es mit dieser seltsamen Verwandlung zugegangen sey. Ein magischer Nebel schien von seinen erstaunten Augen abzufallen. Die ganze Natur zeigte sich ihm in einer andern Gestalt, verlor diesen reizenden Firniß, womit sie der Geist der Liebe überzogen hatte. Diese Gärten, vor wenigen Tagen der Aufenthalt aller Freuden und Liebesgötter, diese elysischen Haine, diese irrenden Rosengebüsche, worin die lauschende Wollust sich so gerne verborgen hatte, um desto gewisser erhascht zu werden, — erweckten itzt durch ihren Anblick nichts mehr, als jeder andre schattige Platz, jedes andre Gebüsche. Die Luft, die er athmete, war nicht mehr dieser süße Athem der Liebe von dem jeder Hauch die Flammen seines Herzens stärker aufzuwehen schien. Die schöne Danae sank unvermerkt von der idealischen Vollkommenheit zu dem gewöhnlichen Werth einer jeden schönen Frau herab; und er selbst, der vor kurzem sich an Wonne den Göttern gleich geschadet hatte, fing an sehr starke Zweifel zu bekommen, ob er in dieser weibischen Gestalt, in welche ihn die Liebe verkleidet hatte, den Namen eines Mannes verdiene?Man wird nicht zweifeln, daß in diesem Zustande die Erinnerungen dessen, was er ehemals gewesen war, — der wundervolle Traum, den er je länger je mehr für das Werk irgend eines wohlthätigen Geistes, vielleicht des abgeschiedenen Schattens seiner geliebten Psyche, zu halten bewogen war, — die Stimme der Tugend, die er einst angebetet, welcher er alles aufgeopfert, und die Vorwürfe, die sie ihm schon vor einiger Zeit über ein unrühmlich in träger Wollust dahin schmelzendes Leben zu machen angefangen, —gute Gelegenheit hatten, sein Herz, dessen beste Neigungen schon auf ihrer Seite waren, mit vereinigter Stärke anzugreifen. Sie hatten es beinahe gänzlich wieder eingenommen, als er erst deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er sich überließ, nothwendig führen mußten. Er erschrak, da er sah, daß nichts als die Flucht von einer allzu reizenden Zaubrerin ihm seine vorige Gestalt wieder geben könne. —Sich von Danae zu trennen! trennen! auf ewig zu trennen! — dieser Gedanke benahm seiner Seele auf einmal alle die Stärke wieder, welche sie wieder in sich zu fühlen anfing, weckte alle Erinnerungen, alle Empfindungen seiner entschlummerten Leidenschaft wieder auf. Sie, die ihn so inbrünstig liebte, —sie, die ihn so glücklich gemacht hatte, — zu verlassen, — für alle ihre Liebe, für alles was sie für ihn gethan hatte, auf eine so verbindliche, so edle Art gethan hatte, sie den Qualen einer mit Undank belohnten Liebe Preis zu geben! —"Nein, zu einer so niederträchtigen, so häßlichen That konnte sich sein Herz nicht entschließen. Die Tugend selbst, welcher er seine eigene Befriedigung aufzuopfern bereit war, konnte ein so undankbares und grausames Verfahren nicht gut heißen."Wir überlassen es der Entscheidung kälterer Sittenlehrer, ob die Tugend das konnte oder nicht. Genug, unser Held war von dem letztern so lebhaft überzeugt, daß er, —anstatt auf Gründe zu denken, womit er die Sophistereien der Liebe hätte vernichten können, — in vollem Ernst auf Mittel bedacht war, das Interesse seines Herzens und die Tugend welche ihm nicht unverträglich zu seyn schienen, auf immer mit einander zu vereinigen.Danae hatte inzwischen, wie leicht zu erachten ist, die Veränderung, die in seiner Seele vorgegangen war, im ersten Augenblicke, da sie merklich wurde, wahrgenommen. Allein die gute Frau war weit entfernt, seinem Herzen die Schuld davon beizumessen. Sie betrog sich selbst über die wahre Ursache, und glaubte, die Veränderung des Orts und eine kleine Entfernung würden ihm in kurzem alle die Lebhaftigkeit der Empfindung wieder geben, die er verloren zu haben schien. Die Wiederkehr in die Stadt, wo sie einander nicht immer sehen würden, wo ihre Liebe sich zu verbergen genöthiget seyn, und dadurch den Reiz eines geheimen Verständnisses erhalten würde; die Zerstreuungen des Stadtlebens, die Gesellschaft, die Lustbarkeiten, würden ihn (glaubte sie) bald genug wieder so feurig als jemals in ihre Arme zurückführen. Sie überredete ihn also ihr nach Smyrna zurück zu folgen, wiewohl die schöne Jahreszeit noch nicht ganz zu Ende war. Hier wußte sie (ohne daß es schien, daß sie Hand dabei habe) eine Menge Gelegenheiten zu veranstalten, wodurch sie einander seltner wurden. Wenn sie sich wieder allein befanden, flog sie ihm zwar eben so zärtlich in die Arme als jemals; aber sie vermied alles, was zu jener allzu wollüstigen Berauschung (in welche sie ihn, so oft sie wollte, durch einen einzigen Blick setzen konnte) geführt hatte, und that es mit einer so guten Art, daß er keinen besondern Vorsatz dabei gewahr werden konnte. Kurz, sie wußte die feurigste Liebe unvermerkt so geschickt in die zärtlichste Freundschaft zu verwandeln, daß Agathon (welcher weder Kunst noch Absicht unter ihrem Betragen argwöhnte) ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem wieder so zärtlich und dringend wurde, als ob er erst anfangen müßte sich um ihr Herz zu bewerben. Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm jene Begeisterung mit allem ihrem zauberischen Gefolge wieder zu geben, welche, wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zu kommen pflegt. Aber die Lebhaftigkeit, womit ihre Reizungen auf seine Sinnen, und die Empfindungen der Dankbarkeit und Freundschaft auf sein Herz wirkten, brachten doch ungefähr die nämlichen Erscheinungen hervor; und da man gewohnt ist gleiche Wirkungen gleichen Ursachen zuzuschreiben, so ist es nicht unbegreiflich, wie beide sich eine Zeit lang hierin betrügen konnten, ohne nur zu vermuthen, daß sie betrogen würden.Es ist sehr zu vermuthen, daß es bei dieser schlauen Mäßigung, wodurch die schöne Danae die Folgen ihrer vorigen Unvorsichtigkeit wieder gut zu machen wußte, um unsern Helden geschehen gewesen wäre; und daß seine Tugend unter diesem zweifelhaften Streit mit seiner Leidenschaft, bei welchem wechselweise bald die eine, bald die andere die Oberhand behielt, endlich gefällig genug geworden wäre, sich mit ihrer schönen Feindin in einen unrühmlichen Vergleich einzulassen: wofern nicht Danae, durch den unglücklicheren Zufall, der ihr mit einem so sonderbaren Mann als Agathon nur immer begegnen konnte, auf einmal mit seiner Hochachtung alles, was sie bisher noch im Besitz seines Herzens erhielt, verloren hätte. Eine einst geliebte Person behält (auch wenn das Fieber der Liebe vorbei ist) noch immer eine große Gewalt über unser Herz, so lange sie unsere Hochachtung nicht verloren hat. Agathon war zu edelmüthig, die schöne Danae für ihre Schwachheit gegen ihn selbst dadurch zu bestrafen, daß er ihr darum das mindeste von der seinigen entzogen hätte. Aber so bald es dahin gekommen war, daß er sich in seiner Meinung von ihrem Charakter und moralischen Werthe betrogen zu haben glaubte; sobald er sich gezwungen sah sie zu verachten, hörte sie auf Danae für ihn zu seyn; und durch eine ganz natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblicke wieder Agathon.
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Zweites Capitel.

Vorbereitung zum Folgenden. Neue Anschläge des Sophisten Hippias.

Hippias nannte sich einen Freund der schönen Danae, oder hatte sich wenigstens vermöge einer Bekanntschaft von mehr als zehn Jahren in den Besitz aller Vorrechte eines Freundes gesetzt. Die Gewohnheit einander zu sehen, die Unterhaltung, die eines in des andern Umgang fand, gewisse Uebereinstimmungen ihrer Denkungsart, vielleicht auch die besondere Gunst, worin er (der gemeinen Meinung nach) ehemals bei ihr gestanden: alles dieß hatte diese Art von Vertraulichkeit unter ihnen hervorgebracht, welche von den Weltleuten für Freundschaft gehalten wird, und auch in der That alle Freundschaft ist, deren die meisten von ihnen fähig sind; wiewohl im Grunde nichts Besseres als eine stillschweigende Uebereinkommniß, einander so lange gewogen zu seyn, als es dem einen oder andern Theile gelegen seyn werde; daher sie auch ordentlicher Weise gerade so lange und keinen Augenblick länger dauert, als — bis sie auf die Probe gesetzt wird.Es ist wahr, Hippias hatte einen guten Theil von ihrer Hochachtung und also zugleich von ihrem Vertrauen verloren, seitdem die Liebe so sonderbare Veränderungen in ihrem Charakter gewirkt hatte. Je mehr Agathon gewann, je mehr mußte Hippias verlieren. Aber eben darum, weil dieß so natürlich war, hatte sie es nicht an sich selbst bemerkt; und daher kam es, daß sie, unbesorgt, er möchte tiefer in ihr Herz hinein schauen als sie selbst, sich nicht einfallen ließ die mindeste Vorsicht gegen ihn zu gebrauchen. Wir schließen dieß daraus, weil sie, anstatt ihm bei ihrem Liebhaber schlimme Dienste zu thun, sich vielmehr Mühe gab, ihn bei demselben in bessere Achtung zu setzen. Dieß war ihr auch, da es der Sophist auf seiner Seite nicht fehlen ließ, so wohl gelungen, daß Agathon eine günstigere Meinung von seiner Sinnesart zu fassen anfing, und sich unvermerkt Vertrauen genug von ihm abgewinnen ließ, sich sogar über die Angelegenheiten seines Herzens mit ihm zu unterhalten.Unsre Liebenden verliefen sich also, mit der sorglosesten Unvorsichtigkeit, welche Hippias nur wünschen konnte, in die Fallstricke, die er ihnen legte, und dachten an nichts weniger, als daß er Absichten haben könne, eine Verbindung wieder zu vernichten, welche gewissermaßen sein eigenes Werk war. Diese Sorglosigkeit könnte desto tadelhafter scheinen, da beiden so wohl bekannt seyn mußte, nach was für Grundsätzen er handelte. Allein es ist eine Beobachtung, die man alle Tage zu machen Gelegenheit hat, daß edle Gemüther mit Leuten von dem Charakter unsers Sophisten betrogen werden müssen, sie mögen es angehen wie sie wollen. Sie mögen die Denkensart solcher Personen noch so gut kennen, noch so viele Proben haben, daß derjenige, dessen Neigungen und Handlungen allein durch das Interesse seiner Leidenschaften bestimmt werden, keines rechtschaffenen Betragens fähig ist: es wird ihnen doch immer unmöglich bleiben, alle Krümmen und Falten seines Herzens so genau auszuforschen, daß nicht in irgend einer derselben noch eine geheime Schalkheit lauern sollte, deren man sich, wenn sie zum Vorschein kommt, nicht versehen hatte. Agathon und Danae, zum Beispiel, kannten den Hippias gut genug, um überzeugt zu seyn, daß er sich, sobald sein Interesse dem Vortheil ihrer Liebe entgegenstände, nicht einen Augenblick bedenken würde, die Pflichten der Freundschaft seinem Vortheil aufzuopfern. Denn was sind Pflichten für einen Hippias? Aber was sie nicht begreifen konnten, war, was für einen Vortheil es ihm bringen könnte, ihre Herzen zu trennen; und dieß machte sie sicher. In der That hatte er keinen; auch war eigentlich seine Absicht nicht, sie zu trennen. Aber er hatte ein Interesse, ihnen einen Streich zu spielen, welcher, dem Charakter des Agathons zufolge, nothwendig diese Wirkung thun mußte. Und dieß war es, woran sie nicht dachten.Wir haben im vierten Buche dieser Geschichte die Absichten entdeckt, welche den Sophisten bewogen, unsern Helden mit der schönen Danae bekannt zu machen. Der Entwurf war wohl ausgesonnen, und hätte, nach den Voraussetzungen die dabei zum Grunde lagen, unmöglich mißlingen können, wenn man auf irgend eine Voraussetzung Rechnung machen dürfte, sobald sich die Liebe ins Spiel mischt. Dieses Mal war es ihm gegangen, wie es gemeiniglich den Projectmachern geht; er hatte an alles gedacht, nur nicht an den einzigen Fall, der seine Absichten vereitelte. Wie hätte er auch glauben können, daß eine Danae fähig seyn sollte, ihr Herz an einen Platonischen Liebhaber zu verlieren? Ein gleichgültiger Philosoph würde darüber betroffen gewesen seyn, ohne ungehalten zu werden: aber es gibt sehr wenig gleichgültige Philosophen. Hippias fand sich in seinen Erwartungen betrogen; seine Erwartungen gründeten sich auf Schlüsse; seine Schlüsse auf seine Grundsätze, und auf diese das ganze System seiner Ideen, welches (wie man weiß) bei einem Philosophen den besten Theil seines geliebten Selbsts ausmacht. Wie hätte er nicht ungehalten werden sollen? Seine Eitelkeit fühlte sich beleidigt. Agathon und Danae hatten die Gelegenheit dazu gegeben. Er wußte zwar wohl, daß sie keine Absicht ihn zu beleidigen dabei gehabt haben konnten: allein darum bekümmert sich kein Hippias. Genug, daß sein Unwille gegründet war; daß er einen Gegenstand haben mußte; und daß ihm nicht zuzumuthen war, sich über sich selbst zu erzürnen. Leute von seiner Art würden eher die halbe Welt untergehen sehen, ehe sie sich gestehen würden gefehlt zu haben. Es war also natürlich, daß er darauf bedacht war, sich durch das Vergnügen der Rache für den Abgang desjenigen zu entschädigen, welches er sich von der verhofften Bekehrung unsers Helden versprochen hatte.Agathon liebte die schöne Danae noch immer, weil sie, selbst nachdem der höchste Grad der Bezauberung aufgehört hatte, in seinen Augen noch immer die vollkommenste Person war, die er kannte. Was für ein Geist! was für ein Herz! was für seltene Talente! welche Anmuth in ihrem Umgang! welche Mannichfaltigkeit von Vorzügen und Reizungen! Wie hochachtungswerth mußte sie dieß alles ihm machen! Wie vortheilhaft war ihr die Erinnerung an jeden Augenblick, von dem ersten an da er sie gesehen, bis zu demjenigen, da sie, von sympathetischer Liebe überwältigt, die seine glücklich gemacht hatte! Kurz, alles was er von ihr wußte, war zu ihrem Vortheil, und von allem, was seine Hochschätzung hätte schwächen können, wußte er nichts.Man kann sich leicht vorstellen, daß sie so unvorsichtig nicht gewesen seyn werde, sich selbst zu verrathen. Es ist wahr, sie hatte sich nicht entbrechen können, die vertraute Erzählung welche er ihr von seinem Lebenslauf gemacht, mit Erzählung des ihrigen zu erwiedern; aber wir zweifeln sehr, daß sie sich zu einer eben so gewissenhaften Vertraulichkeit verbunden gehalten habe. Und woher wissen wir auch, daß Agathon selbst, mit aller seiner Offenherzigkeit, keinen Umstand zurückgehalten habe, von dem er vielleicht (wie ein guter Maler oder Dichter) voraussah, daß er der schönen Wirkung des Ganzen hinderlich seyn könnte? Wer ist uns Bürge dafür, daß die verführerische Priesterin nicht mehr über ihn erhalten habe als er eingestanden? — Wie dem auch sey, dieß ist gewiß, daß Danae in der Erzählung ihrer Geschichte mehr die Gesetze des Schönen und Anständigen, als die Pflichten einer genauen historischen Treue, zu ihrem Augenmerke genommen, und kein Bedenken getragen hatte, bald einen Umstand zu verschönern, bald einen andern wegzulassen, so oft es die besondere Absicht auf ihren Zuhörer erfordern mochte. Denn für diesen allein, nicht für die Welt, erzählte sie; und sie konnte sich also durch die strengen Forderungen, welche die Welt (wiewohl vergebens) an die Geschichtschreiber macht, nicht sehr gebunden halten. Wir wollen damit nicht sagen, daß sie ihm irgend eine hauptsächliche Begebenheit ihres Lebens gänzlich verschwiegen, oder, statt der wirklichen, ihn durch erdichtete hintergangen habe. Sie sagte ihm alles. Allein es gibt eine gewisse Kunst, dasjenige was einen widrigen Eindruck machen könnte, aus den Augen zu entfernen; es kommt so viel auf die Wendung an; ein einziger kleiner Umstand gibt einer Begebenheit eine so verschiedene Gestalt von demjenigen, was sie ohne diesen kleinen Umstand gewesen wäre, daß man, ohne merkliche Veränderung dessen was den Stoff der Erzählung ausmacht, tausend sehr bedeutende Treulosigkeiten an der historischen Wahrheit begehen kann. Eine Betrachtung, die uns (im Vorbeigehen zu sagen) die Geschichtschreiber ihres eignen werthen Selbst (keinen Xenophon, Cäsar, noch Markus Antoninus, ja den offenherzigen Montaigne selbst nicht ausgenommen) noch verdächtiger macht, als irgend eine andere Classe von Geschichtschreibern.Die schöne und kluge Danae hatte also ihrem Liebhaber weder ihre Erziehung in Aspasiens Hause, noch ihre Bekanntschaft mit dem Alcibiades, noch die glorreiche Liebe, welche sie dem Prinzen Cyrus eingeflößt hatte, verhalten. Alle diese und viele andre nicht so schimmernde Stellen ihrer Geschichte machten ihr entweder Ehre, oder konnten doch, mit der Geschicklichkeit, worin sie die zweite Aspasia war, auf eine solche Art erzählt werden, daß sie ihr Ehre machten. Allein, was diejenigen Stellen betraf, an denen sie alle Kunst, die man auf ihre Verschönerung wenden möchte, für verloren hielt, es sey nun, weil sie an sich selbst, oder in Beziehung auf den eigenen Geschmack unsers Helden, in keiner Art von Einbildung, Wendung oder Licht gefallen konnten: diese hatte sie klüglich mit gänzlichem Stillschweigen bedeckt. Und daher kam es denn, daß unser Held noch immer in der Meinung stand, er selbst sey der erste gewesen, welchen sie sich durch Gunstbezeugunsen — von derjenigen Art, womit er von ihr überhäuft worden war — verbindlich gemacht hätte. Ein Irrthum, der nach seiner spitzfindigen Denkungsart zu seinem Glücke so nothwendig war, daß ohne denselben alle ihre Vollkommenheiten zu schwach gewesen wären, ihn nur einen Augenblick in ihren Fesseln zu behalten. Ihm diesen Irrthum zu benehmen, war der schlimmste Streich, den man seiner Liebe und der schönen Danae spielen konnte. Und dieß zu thun, war das Mittel, wodurch der Sophist an beiden auf einmal eine Rache zu nehmen hoffte, deren bloße Vorstellung sein boshaftes Herz in Entzückung setzte. Er lauerte dazu nur auf eine bequeme Gelegenheit, und diese pflegt einem bösen Vorhaben immer auf halbem Wege entgegen zu kommen.Ob dieß letztere der Geschäftigkeit eines bösen Dämons zuzuschreiben sey, oder ob es daher komme, weil die Bosheit, ihrer Natur nach, eine lebhaftere Thätigkeit hervorbringe als die Güte, ist eine Frage, welche wir andern zu untersuchen überlassen. Es sey das eine oder das andere, so würde eine ganz natürliche Folge dieser fast alltäglichen Erfahrungswahrheit seyn: daß das Böse in einer immer wachsenden Progression zunehmen, und (wenigstens in dieser sublunarischen Welt) das Gute zuletzt gänzlich verschlingen würde; wenn nicht eine eben so gemeine Erfahrung bekräftigte: "daß die Bemühungen der Bösen, so glücklich sie auch in der Ausführung seyn mögen, doch gemeiniglich ihren eigentlichen Zweck verfehlen, und das Gute durch eben die Maßregeln und Ränke, wodurch es hätte gehindert werden sollen, weit besser befördern, als wenn sie sich ganz gleichgültig dabei verhalten hätten."
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Drittes Capitel.

Hippias wird zum Verräther an seiner Freundin Danae.

Unter andern Eigenschaften, welche den Charakter der Danae schätzbar machten, war auch diese, daß sie eine vortreffliche Freundin war. So gleichgültig, bis auf die Zeit, da Agathon sich ihres Herzens bemeisterte, gegen den Vorwurf der Unbeständigkeit der Liebe, so zuverlässig und standhaft war sie jederzeit in der Freundschaft gewesen. Sie liebte ihre Freunde mit einer Zärtlichkeit, welche von Leuten, die bloß nach dem äußerlichen Ausdruck urtheilen, leicht einem eigennützigen Affect beigemessen werden konnte. Denn diese Zärtlichkeit stieg bis zur thätigsten Leidenschaft, sobald es darauf ankam, einem unglücklichen Freunde Dienste zu leisten. Es gibt kein Vergnügen, welches sie nicht in einem solchen Falle den Pflichten der Freundschaft aufgeopfert hätte.Eine Veranlassung von dieser Art war es, was sie auf einige Tage von Smyrna abgerufen hatte. Agathon mußte zurück bleiben, und die gutherzige Danae, zufrieden mit dem Beweise seiner Liebe den ihr sein Schmerz beim Abschied gab, versüßte sich ihren eigenen durch die Vorstellung, daß eine kurze Trennung ihm den Werth seiner Glückseligkeit weit lebhafter zu fühlen geben werde, als eine ununterbrochene Gegenwart. Ruhig über den Besitz seines Herzens, empfahl sie ihm, sich, während ihrer Abwesenheit, kein Vergnügen, so ihm das reiche und das wollüstige Smyrna verschaffen konnte, zu versagen; und empfahl es ihm desto eifriger, je gewisser sie war, daß sie von dergleichen Zerstreuungen nichts zu besorgen habe.Allein Agathon hatte bereits angefangen den Geschmack an diesen Lustbarkeiten zu verlieren. So lebhaft, so mannichfaltig, so berauschend sie seyn mögen, so sind sie doch nicht fähig, einen edlern Geist lange einzunehmen. Als eine Beschäftigung betrachtet, können sie es nur für Leute seyn, die sonst zu nichts taugen: und Vergnügungen bleiben sie nur, so lange sie neu sind. Je lebhafter sie sind, desto eher erfolgen Sättigung und Ermüdung; alle ihre anscheinende Mannichfaltigkeit kann bei einem fortgesetzten Gebrauch das Einförmige nicht verbergen, wodurch sie endlich selbst der verdienstlosesten Classe der Weltmenschen ekelhaft werden. Die Abwesenheit der Danae benahm ihnen vollends noch den einzigen Reiz, den sie für ihn hätten haben können, das Vergnügen an dem Antheil den sie daran genommen hätte. Er brachte also beinahe die ganze Zeit ihrer Abwesenheit in einer Einsamkeit zu, von welcher ihn das beschäftigte Leben zu Athen und die wollüstige Muße zu Smyrna schon etliche Jahre entwöhnet hatten. Hier ging es ihm anfangs wie denen, welche aus einem stark erleuchteten Ort auf einmal ins Dunkle kommen. Seine Seele fühlte sich leer, weil sie allzu voll war. Er schrieb dieß der Abwesenheit seiner Freundin zu. Er fühlte, daß sie ihm mangelte; und dachte nicht daran, daß er sie weniger vermißt haben würde, wenn die Nerven seines Geistes durch die Gewohnheit einer wollüstigen Leidsamkeit nicht eingeschläfert worden waren.Die ersten Tage schlichen für ihn in einer Art von zärtlicher Melancholie vorbei, welche nicht ohne Anmuth war. Danae war beinahe der einzige Gegenstand, womit seine in sich selbst zurückgezogene Seele sich beschäftigte. Oder, wenn seine Erinnerung auch in ältere Zeiten zurück ging, wenn sie ihm das Bild seiner Psyche, oder die glänzenden Auftritte seines republikanischen Lebens vorhielt: so war es nur, um den Werth der unvergleichlichen Danae und die ruhige Glückseligkeit eines allein der Liebe, der Freundschaft, den Musen und den Göttinnen der Freude geweihten Privatlebens in ein höheres Licht zu setzen. Seine Liebe belebte sich auf's neue. Sie verbreitete wieder diese begeisternde Wärme durch sein Wesen, welche die Triebfedern des Herzens und der Einbildungskraft so harmonisch zusammen spielen macht. Er entwarf sich die Idee einer Lebensart, welche mehr das Leben eines Gottes als eines Sterblichen schien. Danae glänzte darin aus einem Himmel von lachenden Bildern der Freude und Glückseligkeit hervor. Entzückt von diesen angenehmen Träumen, beschloß er bei sich selbst, sein Schicksal auf immer mit dem ihrigen zu vereinigen. Er hielt sie für würdig, diesen Agathon glücklich zu machen, welcher zu stolz gewesen wäre, das schimmerndste Glück aus der Hand eines Königs anzunehmen. Dieser Entschluß, der bei tausend andern eine nur sehr zweideutige Probe der Liebe seyn würde, war in der That, nach seiner Art zu denken, der Beweis, daß die seinige auf den höchsten Grad gestiegen war.In einem für Danae's Absichten so günstigen Gemüthszustande befand er sich, als Hippias ihm einen Besuch machte, um sich auf eine freundschaftliche Art über die Einsamkeit zu beklagen, worin er seit der Entfernung seiner schönen Freundin lebte. Danae sollte zufrieden seyn, sagte er in scherzhaftem Tone, den liebenswürdigen Kallias für sich allein zu behalten wenn sie gegenwärtig sey: aber ihn auch in ihrer Abwesenheit der Welt zu entziehen, dieß sey zu viel, und müsse endlich die Folge haben, die Schönen zu Smyrna zu einer allgemeinen Zusammenverschwörung gegen sie zu reizen. Agathon beantwortete diesen Scherz in gleichem Tone. Unvermerkt wurde das Gespräch interessant, ohne daß der Sophist eine besondere Absicht merken ließ. Er bemühte sich seinem Freunde zu beweisen, er habe Unrecht der Gesellschaft zu entsagen, um sich mit den Dryaden von seiner Liebe zu besprechen, und die Zephyrn mit Seufzern und Botschaften an seine Abwesende zu beladen. Er malte ihm die Vergnügungen vor, deren er sich beraube, und vergaß auch das Lächerliche nicht, welches er sich durch eine so seltsame Laune in den Augen der Schönen gebe. Seiner Meinung nach, sollte ein Kallias sich an einer einzigen Eroberung, wie glänzend sie auch immer seyn möchte, nicht begnügen lassen: er, dem seine Vorzüge das Recht gäben, seinem Ehrgeiz in dieser Sphäre keine Gränzen zu setzen, und der nur zu erscheinen brauche um zu siegen. Er bewies die Wahrheit dieser Schmeichelei mit den besondern Ansprüchen, welche einige der berühmtesten Schönheiten zu Smyrna auf ihn machten. Seinem Vorgeben nach lag es nur an Agathon, seine Eitelkeit, seine Neubegier und seinen Hang zum Vergnügen zu gleicher Zeit zu befriedigen, und auf eine so mannichfaltige Art glücklich zu seyn, als sich die verzärteltste Einbildung nur immer wünschen könne.Agathon hatte auf alle diese schönen Vorspiegelungen nur Eine Antwort — seine Liebe zu Danae. Der Sophist fand sie unzulänglich. Eben diese Ursachen, welche seine Liebe zu Danae hervorgebracht hatten, sollten ihn auch für die Reizungen andrer Schönen empfindlich machen. Seiner Meinung nach, machte die Abwechselung der Gegenstände das größte Glück der Liebe aus. Er behauptete diesen Satz durch eine sehr lebhafte Ausführung der besondern Vergnügungen, welche mit der Besiegung einer jeden besondern Classe von Schönen verbunden sey. Die Unwissende und die Erfahrne, die Geistreiche und die Blöde, die Schöne und die Häßliche, die Kokette, die Spröde, die Tugendhafte, die Schwärmerin, — kurz, jeder besondere Charakter beschäftige den Geschmack, die Einbildung, und sogar die Sinne (denn von dem Herzen war bei ihm die Rede nicht) auf eine eigene Weise, erfordre einen andern Plan, setzte andre Schwierigkeiten entgegen, und mache auf eine andre Art glücklich. Das Ende dieser feinen Ausführung war, daß es unbegreiflich sey, wie man so viel Vergnügen in seiner Gewalt haben, und es sich nur darum versagen könne, um die einförmigen Freuden einer einzigen, mit romanhafter Treue in gerader Linie sich fortschleppenden Leidenschaft bis auf die Hefen zu erschöpfen.Agathon gab zu, daß die Abwechselung, wozu ihn Hippias aufmuntere, ganz angenehm für einen müßigen Wollüstling seyn möge, der aus dieser Art von Zeitvertreib das Geschäfte seines Lebens mache. Er behauptete aber, daß solche Personen niemals erfahren haben müßten was wahre Liebe sey. Er überließ sich sodann der ganzen Schwärmerei seines Herzens, um dem Hippias eine Abschilderung von demjenigen zu machen, was er von dem ersten Anblick an bis auf diese Stunde für die schöne Danae empfunden hatte. Er beschrieb eine so wahre, so zärtliche, so vollkommene Liebe; er breitete sich mit einer so begeisterten Entzückung über die Vortrefflichkeiten seiner Freundin, über die Sympathie ihrer Seelen, und über die Wonne, die er in ihrer Liebe genieße, aus: daß man entweder die Bosheit eines Hippias, oder die freundschaftliche Hartherzigkeit eines Mentors haben mußte, um fähig zu seyn, ihn einem so beglückenden Irrthume zu entreißen.Die Reizungen der schönen Danae sind zu bekannt, versetzte der Sophist, und ihre Vorzüge in diesem Stücke werden sogar von ihrem eigenen Geschlecht so allgemein eingestanden, daß Lais selbst —Sie, welche den Ruhm hat, daß die edelsten Griechen und die Fürsten ausländischer Nationen den Preis ihrer Nächte in die Wette steigern — lächerlich seyn würde, wenn sie sich einfallen lassen wollte, ihr den Vorzug der Liebenswürdigkeit streitig zu machen. Aber daß sie jemals die Ehre haben würde, eine so ehrwürdige, so metaphysische, so über alles was sich denken läßt erhabene Liebe einzuflößen; daß der Macht ihrer Reizungen noch dieses Wunder, das einzige, welches ihr noch fehlte, aufbehalten sey; dieß hätte sich in der That niemand träumen lassen können, ohne sich selbst über einen solchen Einfall zu belachen.Hier ging unserm Helden, der die boshafte Vergleichung mit einer Korinthischen Hetäre schon äußerst ärgerlich gefunden hatte, die Geduld gänzlich aus. Er setzte den Sophisten, mit aller Hitze eines in dem Gegenstande seiner Anbetung beleidigten Liebhabers, wegen des zweideutigen Tons zur Rede, womit er sich anmaße, von einer Person wie Danae zu sprechen. Aber sein Unwille sowohl als seine Verwirrung stieg auf den höchsten Grad, da er sah, daß ein satyrmäßiges Gelächter die ganze Antwort des Hippias war.Es ist so leicht vorauszusehen, was für einen Ausgang diese Scene nehmen mußte, daß wir, nach allem, was von den Absichten des Sophisten bereits gesagt worden ist, den Leser seiner eigenen Einbildung überlassen können. Ungeduldige Fragen auf der einen, Ausflüchte und schalkhafte Wendungen auf der andern Seite; bis sich Hippias auf vieles Zureden endlich das Geheimniß des wahren Standes der schönen Danae, und derjenigen Anekdoten, welche wir unsern Lesern schon im vierten Kapitel des vierten Buches verrathen haben, mit einer Gewalt, welcher seine vorgebliche Freundschaft für Agathon nicht widerstehen könne, abnöthigen ließ.Wir haben schon bemerkt, wie viel bei Erzählung einer Begebenheit auf die Absicht des Erzählers ankomme. Danae erzählte ihre Geschichte mit der unschuldigen Absicht zu gefallen. Sie sah natürlicher Weise ihre Aufführung, ihre Schwachheiten ihre Fehltritte selbst, in einem mildern, und (lasset uns die Wahrheit sagen) in einem wahrern Licht als die Welt; welche auf der einen Seite von allen den kleinen Umständen, die uns rechtfertigen, oder wenigstens unsere Schuld vermindern, nicht unterrichtet, und auf der andern boshaft genug ist, um ihres größern Vergnügens willen das Gemälde unsrer Thorheiten mit tausend Zügen zu überladen, um welche es zwar weniger wahr, aber desto komischer wird. Unglücklicher Weise für sie erforderte die Absicht des Hippias, daß er diese schalkhafte Kunst, eine Begebenheit ins Häßliche zu malen, so weit treiben mußte, als es die Gesetze der Wahrscheinlichkeit nur immer erlauben konnten.Unser Held glich während dieser Entdeckung mehr einer Bildsäule oder einem Todten, als sich selbst. Kalte Schauer und fliegende Gluth fuhren wechselsweise durch seine Adern. Seine von den widerwärtigsten Leidenschaften auf einmal bestürmte Brust athmete so langsam, daß er in Ohnmacht gefallen wäre, wenn nicht Eine davon plötzlich die Oberhand behalten, und durch den heftigsten Ausbruch dem gepreßten Herzen Luft gemacht hätte. Das Licht, worin ihm Hippias seine Göttin zeigte, machte mit demjenigen, worin er sie zu sehen gewohnt war, einen so beleidigenden Contrast, der Gedanke, sich so sehr betrogen zu haben, war so unerträglich, daß es ihm unmöglich fallen mußte, dem Sophisten Glauben beizumessen. Der ganze Sturm, der seine Seele schwellte, brach also über den Verräther aus. Er nannte ihn einen falschen Freund, einen Verläumder, einen Nichtswürdigen — reif alle rächenden Gottheiten gegen ihn auf —schwor, wofern er die Beschuldigungen, womit er die Tugend der schönen Danae zu beschmieren sich erfrechte, nicht bis zur unbetrüglichsten Evidenz erweisen werde, ihn als ein das Sonnenlicht befleckendes Ungeheuer zu vertilgen, und seinen verfluchten Rumpf unbegraben den Vögeln des Himmels Preis zu geben.Hippias sah diesem Sturme mit der Gelassenheit eines Menschen zu, der die Gewalt der Leidenschaften kennt; so ruhig, wie einer, der vom sichern Ufer dem wilden Aufruhr der Wellen zusieht, denen er glücklich entgangen ist. Ein mitleidiger Blick, dem ein schalkhaftes Lächeln seinen zweideutigen Werth vollends benahm, war alles was er dem Zorne des aufgebrachten Liebhabers entgegen setzte. Agathon stutzte darüber. Ein schrecklicher Zweifel warf ihn auf einmal auf die entgegengesetzte Seite. Rede, Grausamer, rief er aus, rede! Beweise deine hassenswürdigen Anklagen so klar als Sonnenschein; oder bekenne, daß du ein verrätherischer Elender bist, und vergeh' vor Scham!Bist du bei Sinnen, Kallias? antwortete der Sophist mit dieser verruchten Gelassenheit, welche in solchen Umständen der triumphirenden Bosheit eigen ist — Komm erst zu dir selbst; sobald du fähig seyn wirst, Vernunft anzuhören, will ich reden.Agathon schwieg; denn was kann derjenige sagen, der nicht weiß was er denken soll?Wahrhaftig, fuhr Hippias fort, ich begreife nicht, was für eine Ursache du zu haben glaubst, den rasenden Ajax mit mir zu spielen. Wer redet von Beschuldigungen? Wer klagt die schöne Danae an? Ist sie vielleicht weniger liebenswürdig, weil du weder der erste bist der sie gesehen, noch der erste der sie empfindlich gefunden hat? Was für Launen sind das? Glaube mir, jeder andre als du hätte nichts weiter nöthig gehabt, als sie zu sehen, um meine Nachrichten glaubwürdig zu finden. Ihr bloßer Anblick ist ein Beweis. Aber du forderst einen stärkern? Du sollst ihn haben, Kallias. Was sagtest du, wenn ich selbst einer von denen gewesen wäre, welche sich rühmen können, die schöne Danae empfindlich gesehen zu haben?Du? rief Agathon mit einem unglaubigen Erstaunen, welches eben nicht schmeichelhaft für die Eitelkeit des Sophisten war.Ja, Kallias, ich; ich, wie du mich hier siehest, zehn oder zwölf Jahre abgerechnet, um welche ich damals geschickter seyn mochte, den Beifall einer schönen Dame zu erhalten. Du glaubst vielleicht ich scherze; aber ich bin überzeugt, daß deine Göttin selbst zu edel denkt, um dir, wenn du sie mit guter Art fragen wirst, eine Wahrheit verhalten zu wollen, von welcher ganz Smyrna zeugen könnte.Hier fuhr der barbarische Mensch fort, ohne das geringste Mitleiden mit dem Zustande, worein er den armen Agathon durch seine Prahlereien setzte, die genossenen Glückseligkeiten von Stück zu Stück, in einem Tone von Wahrheit und mit einer Munterkeit zu beschreiben, welche seinen Zuhörer beinahe zur Verzweiflung brachte. Es ist vorbei! fiel er endlich dem Sophisten mit einer so heftigen Bewegung in die Rede, daß er in diesem Augenblicke mehr als ein Mensch zu seyn schien — Es ist vorbei! O Tugend, du bist gerochen! — Hippias, du hast mich unter der lächelnden Maske der Freundschaft mit einem giftigen Dolche durchbohrt —aber ich danke dir! — Deine Bosheit leistet mir einen wichtigern Dienst, als alles was deine Freundschaft für mich hätte thun können. Sie öffnet mir die Augen — zeigt mir auf einmal in den Gegenständen meiner Hochachtung und meines Zutrauens, in dem Abgott meines Herzens und in meinem vermeinten Freunde, die verächtlichsten Gegenstände, womit jemals meine Augen sich besudelt haben. — Götter! die Buhlerin eines Hippias! Kann etwas unter diesem untersten Grade der Entehrung seyn? — Mit dieser Apostrophe warf er den verachtungsvollesten Blick, der jemals aus einem menschlichen Auge geblitzt hat, auf den betroffenen Sophisten und ging davon.
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Viertes Capitel.

Folgen des Vorhergehenden. Agathon entfernt sich heimlich aus Smyrna.

Die menschliche Seele ist vielleicht keines heftigern Schmerzens fähig, als derjenige ist, den Gegenstand unserer zärtlichsten Gesinnungen verachten zu müssen. Alles was man davon sagen kann, ist zu schwach, die Feuerpein auszudrücken, die durch eine so gewaltsame Zerreißung in einem gefühlvollen Herzen verursacht wird. Wir wollen also lieber gestehen, daß wir uns unvermögend finden, den Tumult der Leidenschaften, welche, in den ersten Stunden nach einer so grausamen Unterredung, in dem Gemüthe Agathons wütheten, abzuschildern, als durch eine frostige Beschreibung zu gleicher Zeit unsre Vermessenheit und unser Unvermögen zu verrathen.Das erste was er that, sobald er seiner selbst wieder mächtiger wurde, war, daß er alle seine Kräfte anstrengte, sich zu überreden, daß ihn Hippias betrogen habe. War es zu viel, das Schlimmste von einem so ungeheuern Bösewicht zu denken, als dieser Sophist nunmehr in seinen Augen war? Was für eine Gültigkeit konnte ein solcher Zeuge gegen eine Danae haben? —Oder vielmehr, was für einen mächtigen Vertheidiger hattest du, schöne Danae, in dem Herzen deines Agathon! Was hätte Hyperides selbst, ob er gleich beredt genug war die Athener von der Unschuld einer Phryne zu überzeugen, Stärkeres und Scheinbareres zu deiner Vertheidigung sagen können, als was Agathon sich selbst sagte? Vermuthlich würde die Vernunft allein von dieser sophistischen Beredsamkeit der Liebe überwältiget worden seyn: aber die Eifersucht, welche ihr zu Hülfe kam, gab den Ausschlag. Unter allen Leidenschaften ist keine, welcher die Verwandlung des Möglichen ins Wirkliche weniger kostet als dieser. In dem zweifelhaften Lichte, welches sie über seine Seele ausbreitete, wurde Vermuthung zu Wahrscheinlichkeit, und Wahrscheinlichkeit zu Gewißheit; nicht anders, als ob er, mit der spitzfindigen Delicatesse eines Julius Cäsars, die schöne Danae schon darum schuldig gefunden hätte, weil sie bezichtiget wurde. Er verglich ihre eigene Erzählung mit des Hippias seiner, und glaubte nun, da das Mißtrauen sich seines Geistes einmal bemächtiget hatte, hundert Spuren in der ersten wahrzunehmen, welche die Wahrheit der letztern bekräftigten. Hier hatte sie einem Umstand eine gekünstelte Wendung geben müssen; dort war sie (wie er sich zu erinnern glaubte) verlegen gewesen, was sie aus einem andern machen sollte, der ihr unversehens entschlüpft war. Mit einem eben so schielenden Auge durchging er ihr ganzes Betragen gegen ihn. Wie deutlich glaubte er itzt zu sehen, daß sie, von dem ersten Augenblick an, Absichten auf ihn gehabt habe! In tausend kleinen Umständen, welche ihm damals ganz gleichgültig gewesen waren, fand er itzt die Merkmale einer geheimen Bedeutung. Er besann sich, er verglich und verknüpfte so lange, bis ihm nichts so glaublich vorkam, als daß alles, was von seinem ersten Besuche bis zu seinem Uebergang in ihre Dienste vorgegangen, die Folgen eines zwischen ihr und dem Sophisten abgeredeten Plans gewesen sey. Wie sehr vergiftete dieser Gedanke alles was sie für ihn gethan hatte! Wie gänzlich benahm er ihren Handlungen diese Schönheit und Grazie, die ihn so sehr bezaubert hatte! Er sah nun in diesem vermeinten Urbilde jeder idealischen Vollkommenheit nichts mehr als eine schlaue Kokette, die durch eine große Fertigkeit in der Kunst die Männer zu bestricken den Vortheil über seine Unschuld erhalten hatte. Wie verächtlich kamen ihm itzt diese Gunstbezeugungen vor, die ihm so kostbar gewesen waren, so lang er sie für Ergießungen eines für ihn allein empfindlichen Herzens angesehen hatte! Wie verächtlich diese Freuden, die ihn in jenem glücklichen Stande der Bezauberung den Göttern gleich gemacht! Wie zürnte er itzt über sich selbst, daß er thöricht genug habe seyn können, in ein so sichtbares, so handgreifliche Netz sich verwickeln zu lassen!Das Bild der liebenswürdigen Psyche konnte sich ihm zu keiner ungelegnern Zeit für Danae darstellen als itzt. Aber es war natürlich, daß es sich darstellte; und wie blendend war das Licht, worin es ihm itzt erschien! Wie wurde sie durch die verdunkelten Vorzüge ihrer unglücklichen Nebenbuhlerin heraus gehoben! Himmel! wie war es möglich, daß die Beischläferin eines Alcibiades, eines Hippias, eines jeden andern der ihr gefiel, fähig seyn konnte, diese liebenswürdige Unschuld auszulöschen, deren keusche Umarmungen, anstatt seine Tugend in Gefahr zu setzen, ihr neues Leben, neue Stärke gegeben hatten?Er trieb die Vergleichung so weit sie gehen konnte. Beide hatten ihn geliebt. Aber welcher Unterschied in der Art zu lieben! Welcher Unterschied zwischen dieser Nacht (an die er sich itzt mit Abscheu erinnerte), wo Danae, nachdem sie alle ihre Reizungen, alles was die schlaueste Verführungskunst erfinden kann, zugleich mit den magischen Kräften der Musik aufgeboten, seine Sinne zu berauschen und sein ganzes Wesen in Begierden aufzulösen, sich selbst mit zuvorkommender Güte in seine Arme geworfen hatte: — und jenen Elysischen Nächten, die ihm, an Psychens Seite, in der reinen Wonne entkörperter Geister, wie ein einziger himmlischer Augenblick, vorüber geflossen waren! — Die arme Danae! Sogar die Reizungen ihrer Figur verloren bei dieser Vergleichung einen Vorzug, den ihnen nur das parteilichste Vorurtheil absprechen konnte. Diese Gestalt der Liebesgöttin, bei deren Anschauung seine entzückte Seele in Wollust zerflossen war, sank itzt, mit der jungfräulichen Geschmeidigkeit der jungen Psyche verglichen, in seiner gramsüchtigen Einbildung zu der üppigen Schönheit einer Bacchantin herab; der Wuth eines weintriefenden Satyrs würdiger, als der zärtlichen Entzückungen, die er sich itzt schämte, in einer unverzeihlichen Bethörung an sie verschwendet zu haben.Ohne Zweifel werden unsere tugendhaften Leserinnen, welche den Fall unsers Helden (nicht ohne gerechten Unwillen gegen die feinen Buhlerkünste der schönen Danae) betrauert haben, von Herzen erfreut seyn, die Ehre der Tugend, und gewissermaßen das Interesse ihres ganzen Geschlechts, an dieser Verführerin gerochen zu sehen. Wir nehmen selbst vielen Antheil an dieser ihrer Freude; aber wir können uns doch, mit ihrer Erlaubniß, nicht entbrechen zu sagen: daß Agathon in der Vergleichung zwischen Danae und Psyche eine Strenge bewies, welche wir nicht allerdings billigen können, so gern wir ihn auch von einer Leidenschaft zurück kommen sehen, deren längere Dauer ihn untauglich gemacht haben würde, der Held gegenwärtiger Geschichte zu seyn.Danae mag wegen ihrer Schwachheit gegen ihn so tadelswürdig seyn als man will, so war es doch offenbar unbillig, sie zu verurtheilen, weil sie nicht Psyche war; oder, um bestimmter zu reden, weil sie in ähnlichen Umständen sich nicht vollkommen so wie Psyche betragen hatte. Wenn Psyche unschuldiger gewesen war, so war es weniger ein Verdienst, als ein physischer Vorzug, eine natürliche Folge ihrer großen Jugend und ihrer Umstände. Danae war es vermuthlich auch, als sie, mit aller Naivetät eines Landmädchens von vierzehn Jahren, bei den Gastmählern zu Athen nach der Flöte tanzte, oder den Alkamenen, für die Gebühr, das Modell zu dem halb aufgeblühten Busen einer Hebe vorhielt. War es ihre Schuld, daß sie nicht zu Delphi erzogen worden war? oder, daß sich die ersten Empfindungen ihres jugendlichen Herzens für einen Alcibiades, und nicht für einen Agathon entfaltet hatten? —Psyche liebte unschuldiger; wir geben's zu; aber die Liebe bleibt doch in ihren Wirkungen allezeit sich selbst ähnlich. Sie erweitert ihre Forderungen so lange, bis sie im Besitz aller ihrer Rechte ist; und die gutherzige Unerfahrenheit ist am wenigsten im Stande, ihr diese Forderungen streitig zu machen. Es war glücklich für die Unschuld der zärtlichen Psyche, daß ihre nächtlichen Zusammenkünfte unterbrochen wurden, ehe diese auf eine so geistige Art sinnliche Schwärmerei, worin beide Liebende so starke Schritte zu machen angefangen hatten, ihren höchsten Grad erreichte. Vielleicht noch wenige Tage, oder auch später (wenn ihr wollt), aber desto gewisser, würden die guten Kinder, von einer unschuldigen Ergießung des Herzens zur andern, von einem immer noch zu schwachen Ausdruck ihrer unaussprechlichen Empfindungen zum andern, sich endlich, zu ihrer eigenen großen Verwunderung, da gefunden haben, wo die Natur sie erwartet hätte; und wo würde dann der wesentlichste Vorzug der Unschuld geblieben seyn? — Ein anderer Umstand, worin Psyche, glücklicher Weise für sie, den Vortheil über Danae hatte, war dieser, daß ihr Liebhaber eben so unschuldig war als sie selbst, und bei aller seiner Zärtlichkeit nicht den Schatten eines Gedankens hegte, ihrer Tugend nachzustellen. Wissen wir, wie sie sich verhalten hätte, wenn sie auf die Probe gestellt worden wäre? Sie würde widerstanden haben, daran ist kein Zweifel: aber doch nur so lang es ihr möglich gewesen wäre. Denn daß sie Stärke genug gehabt hätte, ihn zu fliehen, ihn gar nicht mehr zu sehen, dieß ist nicht zu vermuthen. Sie würde also doch endlich von den süßen Verführungen der Liebe überschlichen worden seyn, wie weit sie auch den Augenblick ihrer Niederlage hätte zurückstellen mögen. Man kann noch einwenden: gesetzt auch, sie würde die Probe nicht ausgehalten haben, so hätte sie doch widerstanden. Danae hingegen habe ihren Fall nicht nur vorausgesehen und beschleunigt, sondern er sey sogar das Werk ihrer eigenen Veranstaltung gewesen; und wenn sie ihn aufgeschoben habe, so sey es allein zum Vortheil ihrer Liebe und ihres Vergnügens, nicht aus Tugend, geschehen. Alles dieß ist nicht zu läugnen. Allein vorausgesetzt, daß sie sich endlich doch ergeben haben würde (welches auf eine oder die andere Art doch allemal der stillschweigende Vorsatz einer jeden ist, die sich in eine Liebesangelegenheit wagt), wozu würde ein langwieriger eigensinniger Widerstand gedient haben, als sich selbst und ihrem Liebhaber unnöthige Qualen zu verursachen? Und glauben wir etwan, daß sie sich keine Gewalt habe anthun müssen, einen Liebhaber, dessen außerordentlicher Werth die Heftigkeit ihrer Neigung so gut rechtfertigte, so lange schmachten zu lassen? Oder daß die Selbstverläugnung, welche hierzu erfordert wurde, einer Person, deren Einbildungskraft mit den Vergnügungen der Liebe schon so bekannt war, nicht zum wenigsten eben so viel gekostet habe, als einer noch Unerfahrenen der ernstlichste Widerstand?Wir sagen dieß alles nicht, um die schöne Danae zu rechtfertigen, sondern nur, zu zeigen, daß Agathon in der Hitze des Affects zu streng über sie geurtheilet habe. Es war unbillig, ihr eine Gültigkeit zum Verbrechen zu machen, welche ihn eben so glücklich gemacht hatte, als er elend gewesen seyn würde, wenn sie schlechterdings darauf beharret wäre, die heftige Leidenschaft, von welcher er verzehrt wurde, bloß durch die ruhigen Gesinnungen der Freundschaft erwiedern zu wollen. Allein das Vorurtheil, von welchem er nun eingenommen war, machte ihn unfähig ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Gedanke, daß sie einen Hippias eben so begünstiget habe als ihn, machte ihm alles verdächtig, was ihn hätte überzeugen können, daß er wenigstens der erste gewesen sey, der ihr Herz wahrhaftig gerührt habe. Kurz, er sah nun nichts in ihr als eine Buhlerin, welche, in dem Lichte worin sie ihm itzt erschien, vor den übrigen ihrer Classe keinen andern Vorzug hatte, als daß sie gefährlicher war.Indessen konnte sein Unwille gegen sie nicht so heftig seyn, ohne sich gegen sich selbst zu kehren. Die Vorstellung, daß er die Stelle eines Hippias, eines Hyacinths, bei ihr vertreten habe, machte ihn in seinen eigenen Augen zum verächtlichsten Sklaven. Er schämte sich vor seinem ehmaligen besseren Selbst, wenn er an die Rechenschaft dachte, welche er sich von seinem Aufenthalt zu Smyrna schuldig sey. Würde er, sogar wenn Danae wirklich diejenige gewesen wäre, wofür er sie in der Trunkenheit der Leidenschaft gehalten hatte, vor dem Gerichtsstuhl der Tugend haben bestehen können? Was wollte er denn nun antworten, da er sich selbst anklagen mußte, eine so lange Zeit, ohne irgend eine lobenswürdige That, verloren für seinen Geist, verloren für die Tugend, verloren für sein eigenes und das allgemeine Beste, in unthätigem Müßiggang, und, was noch schlimmer war, in der verächtlichen Bestrebung den wollüstigen Begierden einer Danae zu fröhnen, unrühmlich verschwendet zu haben? Er trieb die Vorwürfe, die er bei diesen gelbsüchtigen Vorstellungen sich selbst machte, so weit als sie der Affect einer allzu feurigen, aber mit angeborner Liebe zur Tugend durchdrungenen Seele nur immer treiben kann; und die Schmerzen, wovon sein Gemüth dadurch zerrissen wurde, waren unaussprechlich.Das Mißvergnügen über uns selbst ist (wie wir schon bemerkt haben) ein allzu schmerzhafter Zustand, als daß ihn die Seele lang' ertragen könnte. Die Selbstliebe beut alle ihre Kräfte auf, um sich Linderung zu verschaffen. Und, bedenken wir, wie wenig Gutes ein anhaltendes Gefühl von Scham und Verachtung seiner selbst schaffen kann und wie schädlich im Gegentheil Gram und Kleinmuth der wiederkehrenden Tugend seyn müssen: so haben wir vielleicht Ursache, die Geschäftigkeit der Eigenliebe, uns gegen uns selbst zu entschuldigen, für eine von den nöthigsten Springfedern unsrer Seele, in diesem Stande des Irrthums und der Leidenschaften worin sie sich in gegenwärtigem Leben befindet, anzusehen. Die Reue ist zu nichts gut, als uns einen tiefen Eindruck von der Häßlichkeit eines thörichten oder unsittlichen Verhaltens, dessen wir uns schuldig gemacht haben, zu geben. Hat sie diese Wirkung gethan, so soll sie aufhören. Ihre Dauer würde uns nur die Kräfte benehmen, uns in einen bessern Zustand empor zu arbeiten, und dadurch eben so schädlich werden, als eine allzu große Furcht, die uns dem Uebel nur desto gewisser ausliefert, welchem wir behutsam entfliehen, oder muthig widerstehen sollten.Agathon hatte desto mehr Ursache, diesen wohlthätigen Eingebungen der Eigenliebe Gehör zu geben, da ihm seine fast immer gar zu warme Einbildungskraft seine Vergehungen und den Gegenstand derselben wirklich in einem häßlichern Lichte gezeigt hatte, als die gelassene Vernunft gethan haben würde. Durch eine natürliche Folge brachte die Begierde, sich selbst vor seinen eigenen Augen zu rechtfertigen, ihn unvermerkt dahin, auch der schönen Danae etwas mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. "Es war schwer, sehr schwer (würde ein Sokrates gesagt haben), den Reizungen eines so schönen Gegenstandes, den Verführungen so vieler vereinigter Zauberkräfte zu widerstehen. Die Flucht war das einzige sichere Rettungsmittel. Freilich war es beinahe gleich schwer, zu fliehen oder zu widerstehen: aber das Vermögen zum Fliehen war, wenigstens anfangs, in deiner Gewalt; und es war unvorsichtig an dir, nicht zu denken, daß eine Zeit kommen würde. da du keine Kräfte zum Fliehen mehr haben würdest." — So möchte derjenige gesprochen haben, der den Kritobulus, weil er den schönen Sohn des Alcibiades geküßt hatte, einen Wagehals nannte, und dem jungen Xenophon rieth, vor einem schönen Gesichte so behende wie vor einer Schlange davon zu laufen. Allein so bescheiden und aufrichtig klang die Sprache der Eigenliebe nicht. Es war unmöglich (sagte sie) so mächtigen Reizungen zu widerstehen; es war unmöglich zu entfliehen. Sie nahm die ganze Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft zu Hülfe, ihm die Wahrheit dieser tröstlichen Versicherungen zu beweisen: und wenn sie es nicht so weit brachte, ein gewisses innerliches Gefühl, welches ihr widersprach (und welches vielleicht das gewisseste Merkmal der Freiheit unsers Willens ist), gänzlich zu betäuben; so gelang es ihr doch unvermerkt, den Gram aus seinem Gemüthe zu verbannen, und dieses sanfte Licht wieder darin auszubreiten, worin wir ordentlicher Weise alles, was zu uns selbst gehört, zu sehen gewohnt sind.Indessen gewann Danae wenig bei dieser ruhigern Verfassung seines Herzens. Ihre Vollkommenheiten rechtfertigten zwar die hohe Meinung, die er von ihrem Charakter gefasset hatte, und beides die Größe seiner Leidenschaft. Er vergab sich selbst, sie so sehr geliebt zu haben, so lang' er die Schönheit ihrer Seele für eben so ungemein gehalten hatte, als es die Reizungen ihrer Person waren. Aber sie verlor mit dem Recht an seine Hochachtung alle Gewalt über sein Herz. Der Entschluß sie zu verlassen war die natürliche Folge davon; und dieser kostete ihm, da er ihn faßte, auch nicht einen Seufzer; so tief war die Verachtung, wovon er sich gegen sie durchdrungen fühlte. Die Erinnerung dessen, was er gewesen war, das Gefühl dessen, was er wieder seyn könne sobald er wolle, machte ihm den Gedanken unerträglich, nur einen Augenblick länger der Sklave einer andern Circe zu seyn, die durch eine schändlichere Verwandlung, als irgend eine welche die Gefährten des Ulysses erdulden mußten, den Helden der Tugend in einen müßigen Wollüstling verwandelt hatte.Bei so bewandten Umständen war es nicht rathsam ihre Wiederkunft zu erwarten, welche nach ihrem Berichte, längstens in dreien Tagen erfolgen sollte. Denn sie hatte keinen Tag vorbeigehen lassen, ohne ihm zu schreiben; und die Nothwendigkeit, ihr eben so regelmäßig zu antworten, setzte ihn, nach der großen Veränderung, die in seinem Gemüthe vorgegangen, in eine desto größere Verlegenheit, da er zu aufrichtig und zu lebhaft war, Empfindungen vorzugeben, die sein Herz verläugnete. Seine Briefchen wurden dadurch so kurz, und verriethen so vielen Zwang, daß Danae auf einen Gedanken kommen mußte, der zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber doch der natürlichste war, der ihr einfallen konnte. Sie vermuthete, ihre Abwesenheit könnte eine von den Schönen zu Smyrna verwegen genug gemacht haben, ihr einen so beneidenswürdigen Liebhaber entführen zu wollen. Wenn ihr Stolz zu einem so vermessenen Vorhaben lächelte, so liebte sie doch zu zärtlich, um so ruhig dabei zu seyn, als man aus der muntern Art, womit sie über seine Erkältung scherzte, hätte schließen sollen. Gleichwohl behielt das Bewußtseyn ihrer Vorzüge die Oberhand, und ließ ihr keinen Zweifel, daß ihre Gegenwart alle Eindrücke, welche eine Nebenbuhlerin auf die Oberfläche seines Herzens gemacht haben könnte, wieder auslöschen würde. Und wenn sie dessen auch weniger gewiß gewesen wäre, so war sie doch zu klug, ihn merken zu lassen, daß sie ein Mißtrauen in sein Herz setze, oder fähig sey, ihm jemals durch eine grillenhafte Eifersucht beschwerlich zu fallen. Bei allem dem beschleunigte dieser Umstand ihre Zurückkunft, und vermuthlich würde sie ihren Ungetreuen noch zu rechter Zeit überrascht haben, wenn ihm der Schutzgeist seiner Tugend die Nothwendigkeit der schleunigsten Flucht nicht so dringend vorgestellet hatte, daß er sich, sobald der Bote der Danae abgefertigt war, nach dem Hafen begab, um ein Fahrzeug zu miethen, welches ihn noch an dem nämlichen Tage von Smyrna entfernen sollte.
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Fünftes Capitel.

Eine kleine Abschweifung.

Unsere Leser, wenn sie diese Geschichte mit etwas weniger Flüchtigkeit als einen ephemerischen Roman zu lesen würdigen, werden vielleicht bemerkt haben, daß die Wiederherstellung unsers Helden aus einem Zustande, worin er diesen Namen allerdings nicht verdient, eigentlich weder seiner Vernunft noch seiner Liebe zur Tugend zuzuschreiben sey. Bei aller guten Meinung, welche wir von beiden hegen, müssen wir gestehen, daß Agathon, wenn es auf sie allein angekommen wäre, noch lange in den Fesseln der schönen Danae hätte liegen können. Ja wir haben Ursache zu glauben, daß jene gefällig genug gewesen wäre, durch tausend schöne Vorspiegelungen und Schlüsse diese nach und nach gänzlich einzuschläfern, oder vielleicht gar zu einem gütlichen Vergleich mit der Wollust, ihrer natürlichen und gefährlichsten Feindin, zu bewegen. Wir leugnen hiermit nicht, daß auch sie das Ihrige zur Befreiung unsers Freundes beigetragen haben. Indessen ist doch gewiß, daß Eifersucht und beleidigte Eigenliebe das Meiste dabei thaten, und daß also, ohne die wohlthätigen Einflüsse zweier so verworrener Leidenschaften, der ehmals so weise, so tugendhafte Agathon ein glorreich angefangenes Leben, allem Anschein nach, zu Smyrna unter den Rosen der Venus unrühmlich hinweg getändelt haben würde.Wir wollen durch diese Bemerkung dem großen Haufen der Moralisten eben nicht zugemuthet haben, die Vorurtheile gegen die Leidenschaften fahren zu lassen, welche sie von ihren Vorgängern, und diese (wenn wir bis zur Quelle hinaufsteigen wollen) von dem Einsamen, womit die Morgenländer jederzeit angefüllt gewesen sind, durch eine dem Fortgange der gesunden Vernunft nicht sehr günstige Ueberlieferung, geerbt zu haben scheinen. Hingegen würde uns sehr erfreulich seyn, wenn die gegenwärtige Geschichte die glückliche Veranlassung geben könnte, irgend einen von den ächten Weisen unserer Zeit aufzumuntern, mit der Fackel des Genie's in gewisse dunkle Gegenden der Moralphilosophie einzudringen, welche, zu beträchtlichem Abbruch des allgemeinen Besten, noch manches Jahrtausend unbekanntes Land bleiben werden, wenn es auf die vortrefflichen Leute ankommen sollte, durch deren unermüdeten Eifer seit geraumen Jahren die deutschen Pressen unter einem in alle möglichen Formen gegossenen Mischmasch unbestimmter und nicht selten willkürlicher Begriffe, schwärmerischer Empfindungen, andächtiger Wortspiele, grotesker Charakter und schwülstiger Declamationen zu seufzen gezwungen werden. Diejenigen, welche unsern wohl gemeinten Wunsch zu erfüllen geschickt sind, haben nicht vonnöthen, daß wir uns darüber deutlicher erklären, oder ihnen den Weg zur Entdeckung dieser moralischen Terra incognita genauer andeuten, als es hier und da in der gegenwärtigen Geschichte geschehen ist. Wir lassen es also bei diesem kleinen Winke bewenden, und begnügen uns, da wir nunmehr, allein Ansehen nach, unsern Helden aus der größten der Gefahren, worin seine Tugend jemals geschwebt hat, oder künftig gerathen mag, glücklich herausgeführt haben, einige Betrachtungen anzustellen.Doch was für Betrachtungen könnten wir anstellen, daß nicht diejenigen, welche Agathon selbst (sobald er Muße dazu hatte) über seine Abenteuer machte, um so viel natürlicher und interessanter seyn sollten, da er sich wirklich in dem Falle befand, in welchen wir uns erst durch Hülfe der Einbildungskraft setzen müßten, und die Gedanken sich ihm freiwillig darboten, ja wohl wider Willen aufdrangen, welche wir erst aufsuchen müßten?Wir wollen also warten, bis er sich in der Gemüthsverfassung befinden wird, worin die sich selbst wieder gegebene Seele aufgelegt ist, das Vergangene mit prüfendem Auge zu übersehen. Nur mög' es uns erlaubt seyn, eh' wir unsere Erzählung fortsetzen, zum Besten unsrer jungen Leser einige Anmerkungen zu machen, für welche wir keinen schicklicheren Platz wissen, und welche diejenigen, die, wie Schach Baham, keine Liebhaber vom Moralisiren sind, füglich überschlagen, oder sich indessen die Zeit vertreiben können — womit sie wollen.Was würdet ihr also dazu sagen, meine gefühlvollen jungen Freunde, wenn ich euch, mit der Miene eines gedungnen Sittenlehrers, in geometrischer Methode beweisen würde, daß ihr zu einer vollkommnen Unempfindlichkeit gegen diese liebenswürdigen Geschöpfe verbunden seyet, für welche eure Augen, euer Herz, eure Einbildungskraft sich vereinigen, euch einen Hang einzuflößen, der, so lang' er in einem unbestimmten Gefühl besteht, euch immer beunruhiget, und sobald er einen besondern Gegenstand bekommt, die Seele aller eurer übrigen Triebe wird?Daß wir einen solchen Beweis führen könnten, und (was noch ein wenig grausamer ist) daß wir euch die Verbindlichkeit aufdringen könnten, keines dieser anmuthsvollen Geschöpfe, so vollkommen es immer in euern bezauberten Augen seyn möchte, eher zu lieben, bis es euch befohlen wird, daß ihr sie lieben sollt, — ist eine Sache, die euch nicht unbekannt seyn kann. Aber eben deßwegen, weil es so oft bewiesen wird, können wir es als etwas Ausgemachtes voraussetzen; und uns däucht, die Frage ist nun allein, wie es anzufangen sey, um euer ungelehriges Herz mit einer Pflicht auszusöhnen, gegen welche ihr tausend wichtige Einwendungen zu machen glaubt, wenn ihr uns am Ende doch nichts anders gesagt habt, als ihr habet keine Lust sie auszuüben.Die Auflösung dieser Frage däucht uns eine von den Schwierigkeiten zu seyn, worin uns die Moralisten mit einer Gleichgültigkeit stecken lassen, welche desto grausamer ist, da wohl wenige unter ihnen sind, die nicht auf eine oder die andere Art erfahren haben sollten, daß es nicht so leicht sey, einen Feind zu schlagen, als zu beweisen, daß er geschlagen werden sollte. Wir schmeicheln uns keineswegs, das sicherste, kräftigste und ausführbarste Mittel, eine mit so vielen Schwierigkeiten umringte Sache zu bewerkstelligen, gefunden zu haben. Inzwischen erkühnen wir uns, euch vor der Hand (bessern Vorschlägen unnachtheilig) einen Rath zu geben, der zwar weder allgemein noch ohne alle Ungelegenheiten ist, aber doch, alles wohl überlegt, bis zu Erfindung eines bessern, in mehr als Einer Absicht von gutem Nutzen seyn könnte.Wir setzen hierbei zwei gleich gewisse Erfahrungssätze voraus. Der erste ist: daß die meisten jungen Leute (und vielleicht auch ein guter Theil der alten) entweder zur Zärtlichkeit, oder wenigstens zur Liebe im popularen Sinn dieses Wortes, einen stärkern Hang als zu irgend einer andern natürlichen Leidenschaft haben. Der andere: daß Sokrates, in der Stelle, deren in dem vorigen Kapitel erwähnt worden, die schädlichen Folgen der Liebe, insofern sie eine heftige Leidenschaft für irgend einen einzelnen Gegenstand ist (denn von dieser Art von Liebe ist hier allein die Rede), nicht höher getrieben habe, als die tägliche Erfahrung beweiset. "Du Unglückseliger, sprach er zu dem jungen Xenophon (welcher nicht begreifen konnte, daß es eine so gefährliche Sache sey, einen schönen Knaben, oder nach unsern Sitten zu sprechen, ein schönes Mädchen zu küssen, und leichtsinnig genug war zu bekennen, daß er sich alle Augenblicke getraute dieses halsbrechende Abenteuer zu wagen) was meinst du, daß die Folgen eines solchen Kusses seyn würden? Glaubst du, du würdest deine Freiheit behalten, oder nicht vielmehr ein Sklave dessen werden, was du liebest? Wirst du nicht vielen Aufwand auf schädliche Wollüste machen? Meinst du, es werde dir viel Muse übrig bleiben, dich um irgend etwas Großes und Nützliches zu bekümmern? oder du werdest nicht vielmehr gezwungen seyn, deine Zeit auf Beschäftigungen zu wenden, deren sich sogar ein Unsinniger schämen würde!"— Man kann die Folgen dieser Art von Liebe in so wenigen Worten nicht vollständiger beschreiben. Was half' es uns, meine Freunde, wenn wir uns selbst betrügen wollten? Sogar die unschuldigste Liebe, diejenige, welche in jungen enthusiastischen Seelen so schön mit der Tugend zusammen zu stimmen scheint, führt ein schleichendes Gift bei sich, dessen Wirkungen nur desto gefährlicher sind, weil es langsam und durch unmerkliche Grade wirkt. Was ist also zu thun?Der Rath des alten Cato, oder der, welchen Lukrez nach den Grundsätzen seiner Secte gibt, ist, in jeder Betrachtung, weit schlimmer als das Uebel selbst, dem dadurch abgeholfen werden soll. Sogar die Grundsätze und das eigne Beispiel des weisen Sokrates sind in diesem Stücke nur unter gewissen Umständen thulich; und (wenn wir nach unsrer Ueberzeugung reden sollen) wir wünschten, aus wahrer Wohlmeinenheit gegen das Beste der Menschheit, nichts weniger, als daß es jemals einem Sokrates gelingen möchte, den Amor völlig zu entgöttern, ihn seiner Schwingen zu berauben, und aus der Liebe eine bloße regelmäßige Stillung eines physischen Bedürfnisses zu machen. Der Dienst, welcher der Welt dadurch geleistet würde, müßte nothwendig einen Theil der schlimmen Folgen haben, welche auf eine allgemeine Unterdrückung der Leidenschaften in der menschlichen Gesellschaft erscheinen würden. Hier ist also unser Rath!"Meine jungen Freunde, Aegisthus machte sich bloß deßwegen ein Geschäft daraus, die schöne Klytämnestra zu verführen, weil er weder Verstand noch Muth genug hatte etwas Löbliches zu thun. Beschäftigt euch, meine Freunde! Müßiggang ist euer gefährlichster Feind. Beschäftigt euch mit den Vorbereitungen zu eurer Bestimmung, oder mit ihrer wirklichen Erfüllung. Bewerbet euch um die Verdienste, von denen die Hochachtung der Vernünftigen und der Nachwelt die Belohnung ist, und um die Tugend, welche allein den innerlichen Wohlstand unsers Wesens ausmacht."Haltet ein, Herr Sittenlehrer, rufet ihr; dieß ist's nicht, was wir von euch hören wollten. Alles das hat uns Claville besser gesagt, als ihr es könntet, und Abbt besser als Claville. Euer Mittel gegen die Liebe?"Mittel gegen die Liebe? Davor behüte uns der Himmel! — oder, wenn ihr dergleichen wollt, so findet ihr sie bei allen moralischen Quacksalbern, und — in allen Apotheken. Unser Rath geht gerade auf das Gegentheil. Wenn ihr ja lieben wollt oder müßt, nun, so kommt alles, glaubet mir, auf den Gegenstand an. Findet ihr eine Aspasia, eine Leontion, eine Ninon, so bewerbet euch, wenn ihr könnt, um ihre Freundschaft. Die Vortheile, die ihr daraus für euern Kopf, für euern Geschmack, für eure Sitten — ja, meine Herren, für eure Sitten — und selbst für die Pflichten eurer Bestimmung, von einer solchen Verbindung ziehen werdet, werden euch für die Mühe belohnen." — Gut! Aspasien! Ninons! wo sollen wir diese aufsuchen? —"Auch rath' ich euch nicht sie zu suchen; die Rede ist nur von dem Falle, wenn ihr sie fändet." — Aber, wenn wir keine finden? — So suchet die vernünftigste, tugendhafteste und liebenswürdigste Frau auf, die ihr finden könnet. Hier erlauben wir euch zu suchen, nur nicht (um euch einen Umweg zu ersparen) unter den schönsten. Ist sie liebenswürdig, so wird sie euch desto stärker einnehmen; ist sie tugendhaft, so wird sie euch nicht verführen; ist sie klug, so wird sie sich von euch nicht verführen lassen. Ihr könnet sie also ohne Gefahr lieben." — Aber dabei finden wir unsre Rechnung nicht; die Frage ist, wie wir es anstellen sollen, um von ihr wieder geliebt zu werden. — "Allerdings; dies wird eben die Kunst seyn! Ich wehre euch nicht, den Versuch zu machen; und ich stehe euch dafür, wenn sie und ihr jedes das Seinige thut, so werdet ihr euern Roman zehn Jahre durch ohne sonderlichen Schaden fortführen, und, wofern ihr euch nicht etwan einfallen laßt, ihn in eben so viel Bänden herauszugeben, so wird die Welt wenig dagegen zu erinnern haben."
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Sechstes Capitel.

Agathon wird von einem Rückfall bedroht. Ein unverhoffter Zufall bestimmt seine Entschließung.

Wir kommen zu unserm Helden zurück, den wir zu Ende des vierten Kapitels auf dem Wege nach dem Hafen von Smyrna verlassen haben.Man konnte nicht entschlossener seyn, als er war, das erste Fahrzeug, das zum Auslaufen fertig liegen würde, zu besteigen, und hätte es ihn auch zu den Antipoden führen sollen. Allein — so groß ist die Schwäche des menschlichen Herzens! — da er angelanget war, und eine Menge von Schiffen vor den Augen hatte, welche nur auf das Zeichen den Anker zu heben warteten: so hätte wenig gefehlt, daß er wieder umgekehrt wäre, um, anstatt vor der schönen Danae zu fliehen, ihr mit aller Sehnsucht eines entflammten Liebhabers in die Arme zu fliegen.Wir wollen billig seyn — eine Danae verdiente wohl, daß ihm der Entschluß, sie zu verlassen, mehr als einen flüchtigen Seufzer kostete; und es war sehr natürlich, daß er, im Begriff seinen tugendhaften Vorsatz ins Werk zu setzen, einen Blick ins Vergangene zurückwarf, und sich diese Glückseligkeiten lebhafter vorstellte, denen er nun freiwillig entsagen wollte, um sich von neuem, als ein im Ocean der Welt herumtreibender Verbannter, den Zufällen einer ungewissen Zukunft auszusehen.Dieser letzte Gedanke machte ihn stutzen; aber er wurde bald von andern Vorstellungen verdrängt, die ein Herz wie das seinige weit stärker rühren müßten, als alles was ihn allein und unmittelbar anging. Er setzte sich an die Stelle der Danae. Er malte sich ihren Schmerz vor, wenn sie bei ihrer Wiederkunft seine Flucht erfahren würde. Sie hatte ihn so zärtlich geliebt! Alles Böse, was ihm Hippias von ihr gesagt, alles was er selbst hinzu gedacht hatte, konnte in diesem Augenblicke die Stimme des Gefühls nicht übertäuben, welches ihn überzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden war. Wenn die Größe unsrer Liebe das natürliche Maß unsrer Schmerzen über den Verlust des Geliebten ist, wie unglücklich mußte Danae werden! Das Mitleiden, welches diese Vorstellung in ihm erregte, machte sie wieder zu einem interessanten Gegenstande für sein Herz. Ihr Bild stellte sich ihm wieder mit allen den Reizungen dar, deren Zaubergewalt er so oft erfahren hatte. Was für Erinnerungen! Er konnte sich nicht erwehren, ihnen etliche Augenblicke nachzuhängen; und mit jedem fühlte er weniger Kraft, sich wieder loszureißen. Seine schon halb überwundene Seele widerstand noch, aber immer schwächer. Amor, um desto gewisser zu siegen, verbarg sich unter die rührende Gestalt des Mitleidens, der Großmuth, der Dankbarkeit. —Wie? er sollte eine so inbrünstige Liebe mit so schnödem Undank erwiedern? einer Geliebten, in dem Augenblicke, da sie in die getreuen Arme eines Freundes zurück zu eilen glaubt, einen Dolch in diesen Busen stoßen, welcher sich, von Zärtlichkeit überwallend, an den seinigen drücken will? sie verlassen, sich heimlich von ihr wegstehlen? Würde sie den Tod von seiner Hand, in Vergleichung mit einer solchen Grausamkeit, nicht als eine Wohlthat angenommen haben? So würde ihm zu Muthe gewesen seyn, wenn er sich an ihren Platz setzte; und dieß thut die Leidenschaft allezeit — wenn sie ihren Vortheil dabei findet.Allen diesen zärtlichen Bildern stellte sein gefaßter Entschluß zwar die Gründe, welche wir kennen, entgegen: aber diese Gründe hatten von dem Augenblick an, da sich sein Herz wieder auf die Seite der schönen Feindin seiner Tugend neigte, die Hälfte von ihrer Stärke verloren. Die Gefahr war dringend: jede Minute entscheidend. Denn die Wiederkunft der Danae war ungewiß; und es ist nicht zu zweifeln, daß sie, wofern sie noch zu rechter Zeit angelangt wäre, Mittel gefunden hätte, alle die widrigen Eindrücke der Verrätherei des Sophisten aus einem Herzen auszulöschen, welches so viel Vortheil dabei hatte sie unschuldig zu finden.Ein glücklicher Zufall — Doch, warum wollen wir dem Zufall zuschreiben, was uns beweisen sollte, daß eine unsichtbare Macht ist, welche sich immer bereit zeigt, der sinkenden Tugend die Hand zu reichen? — Eine wohlthätige Schickung also fügte es, daß Agathon in diesem zweifelhaften Augenblick, unter dem Gedränge der Fremden, welche die Handelschaft von allen Weltgegenden her nach Smyrna führte, einen Mann erblickte, den er zu Athen vertraulich gekannt und durch beträchtliche Dienstleistungen sich zu verbinden Gelegenheit gehabt hatte. Es war ein Kaufmann von Syrakus, der mit den Geschicklichkeiten seiner Profession einen rechtschaffenen Charakter, und (was bei den Griechen weniger selten war als bei uns) mit beiden die Liebe der Musen verband; eine Eigenschaft, welche ihn dem Agathon desto angenehmer, so wie sie ihn desto fähiger gemacht hatte, den Werth Agathons zu schätzen. Der Syrakuser bezeigte die lebhafteste Freude über eine so unverhoffte Zusammenkunft, und bot unserm Helden seine Dienste mit derjenigen Art an, welche beweist, daß man begierig ist sie angenommen zu sehen; denn Agathons Verbannung von Athen war eine bekannte Sache, als daß sie in irgend einem Theile von Griechenland hätte unbekannt seyn können.Nach einigen Fragen und Gegenfragen, wie sie unter Freunden gewöhnlich sind, die sich nach einer geraumen Trennung unvermuthet zusammen finden, berichtete ihm der Kaufmann als eine Neuigkeit, welche die Aufmerksamkeit aller Europäischen Griechen beschäftigte, die außerordentliche Gunst, worin Plato bei dem jüngern Dionysius zu Syrakus stehe; die philosophische Bekehrung dieses Prinzen, und die großen Erwartungen, mit welchen Sicilien den glückseligen Zeiten entgegen sehe, die eine so wundervolle Veränderung verspreche. Er endigte damit, daß er den Agathon einlud, wofern ihn nichts Wichtigeres in Smyrna zurück hielte, ihn nach Syrakus zu begleiten, welches im Begriff sey, ein Sammelplatz der Weisesten und Tugendhaftesten zu werden; und dabei meldete er ihm, daß sein Schiff bereit sey noch diesen Abend abzusegeln.Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, richtet keine plötzlichere Entzündung an, als die Revolution war, die bei dieser Nachricht in unserm Helden vorging. Seine ganze Seele loderte, wenn wir so sagen können, in einen einzigen Gedanken auf. Aber was für ein Gedanke war das! —Plato, ein Freund des Dionysius! —Dionysius, berüchtiget durch die ausschweifendste Lebensart, in welche sich eine durch unumschränkte Gewalt übermüthig gemachte Jugend dahin stürzen kann, Dionysius der Tyrann, ein Liebhaber der Philosophie, ein Lehrling der Tugend! — und Agathon sollte die Blüthe seines Lebens in müßiger Wollust verderben lassen? Sollte nicht eilen, dem göttlichen Weisen, dessen erhabene Lehren er zu Athen so rühmlich auszuüben angefangen hatte, das glorreiche Werk vollenden zu helfen, einen zügellosen Tyrannen in einen guten Fürsten zu verwandeln, und die Glückseligkeit einer ganzen Nation zu befestigen? — Was für Arbeiten! was für Aussichten für eine Seele wie die seinige! Sein ganzes Herz wallte ihnen entgegen. Er fühlte wieder, daß er Agathon war; fühlte diese moralische Lebenskraft wieder, die uns Muth und Begierden gibt, uns zu einer edeln Bestimmung geboren zu glauben, und diese Achtung für sich selbst, welche eine von den stärksten Schwingfedern der Tugend ist. Nun bedurfte es keines Kampfes, keiner gewaltsamen Anstrengung mehr, sich von Danae loszureißen, um mit allem Feuer eines Liebhabers, der nach einer langen Trennung zu seiner Geliebten zurück eilt, sich wieder in die Arme der Tugend zu werfen. Sein Freund von Syrakus hatte keine Ueberredungen vonnöthen; Agathon nahm sein Anerbieten mit der lebhaftesten Freude an. Da er von allen Geschenken, womit ihn die freigebige Danae überhäuft hatte, nichts behalten wollte, als was zu den nöthigsten Bedürfnissen seiner Reise unentbehrlich war, so brauchte er wenig Zeit, um reisefertig zu seyn. Die günstigsten Winde schwellten die Segel, welche ihn aus dem verderblichen Smyrna entfernten; und so herrlich war der Triumph, den die Tugend in dieser glücklichen Stunde über ihre Gegnerin erhielt, daß er die anmuthsvollen Asiatischen Ufer aus seinen Augen verschwinden sah, ohne den Abschied, den er auf ewig von ihnen nahm, nur mit einer Thräne zu zieren."So? — Und was wurde nun (hören wir irgend eine junge Schöne fragen, der ihr Herz sagt, daß sie es der Tugend nicht verzeihen würde, wenn sie ihr ihren Liebhaber so unbarmherzig entführen wollte)— was wurde nun aus der armen Danae?" — Ach! von dieser war itzt die Rede nicht mehr! — "Und der tugendhafte Agathon bekümmerte sich so wenig darum, ob seine Untreue ein Herz, welches ihn glücklich gemacht hatte. in Stücken brechen werde oder nicht?" — Aber, meine schöne Freundin, was hätte er thun sollen, nachdem er nun einmal entschlossen war? Um nach Syrakus zu gehen, mußte er Smyrna verlassen; und nach Syrakus mußte er doch gehen, wenn Sie alle Umstände unparteiisch in Betrachtung ziehen. Oder wollten Sie lieber, daß ein Agathon sein ganzes Leben am Busen der zärtlichen Danae hatte hinwegbuhlen sollen? Und sie nach Syrakus mitzunehmen, war aus mehr als Einer Ursache nicht zu rathen, gesetzt auch, daß sie um seinetwillen Smyrna hätte verlassen wollen. Oder meinen Sie vielleicht, er hätte warten und erst die Einwilligung seiner Freundin zu erhalten suchen sollen? Dieß wäre alles gewesen was er hätte thun können, wenn er die Absicht gehabt hätte, da zu bleiben. Alles wohl überlegt, konnte er also, däucht uns, weder mehr noch weniger thun als er that. Er hinterließ ein Briefchen, worin er ihr sein Vorhaben mit einer Aufrichtigkeit entdeckte, welche zugleich die Rechtfertigung desselben ausmacht. Er spottete ihrer nicht durch Liebesversicherungen, welche der Widerspruch mit seinem Betragen beleidigend gemacht hätte; hingegen erinnerte er sich dessen, was sie um ihn verdient hatte, zu wohl, um sie durch Vorwürfe zu kränken. Gleichwohl entwischte ihm beim Schluß ein Ausdruck, den er vermuthlich großmüthig genug gewesen wäre wieder auszulöschen, wenn er Zeit gehabt hätte sich zu bedenken. Denn er endigte sein Briefchen damit, daß er ihr sagte: "er hoffe, die Hälfte der Stärke des Gemüths, womit sie den Verlust eines Alcibiades ertragen und den Armen eines Hyacinths sich entrissen habe, werde mehr als hinlänglich seyn, ihr seine Entfernung in kurzem gleichgültig zu machen. Wie leicht (setzte er hinzu) kann Danae einen Liebhaber missen, da es nur von ihr abhängt, mit einem einzigen Blicke so viele Sklaven zu machen, als sie haben will!" — Dieß war allerdings ein wenig grausam! Aber die Gemüthsverfassung, worin er sich damals befand, war nicht ruhig genug, um ihn fühlen zu lassen, wie viel er damit sagte.Und so endigte sich denn die Liebesgeschichte des Agathon und der schönen Danae. — Und so, holde Leserinnen, so haben sich noch alle Liebesgeschichten geendigt, und werden sich auch künftig alle endigen, welche —so angefangen haben!
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Siebentes Capitel.

Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze.

Wer aus den Fehlern, welche von andern vor ihm gemacht worden oder noch täglich um ihn her gemacht werden, die Kunst lernte, selbst keine zu machen, würde unstreitig den Namen des weisesten unter den Menschen mit größerm Rechte verdienen, als Confucius, Sokrates oder König Salomon; welcher letzte, wider den gewöhnlichen Lauf der Natur, seine größten Thorheiten in einem Alter beging, worin die meisten von den ihrigen zurückkommen. Unterdessen bis diese Kunst erfunden seyn wird, däucht uns, man könne denjenigen immer für weise selten lassen, der die wenigsten Fehler macht, am ersten davon zurückkommt, und sich gewisse Maßregeln für zukünftige Fälle daraus zieht, mittelst deren er hoffen kann künftig weniger zu fehlen.Ob und inwiefern Agathon dieses Prädicat verdiene, mögen unsre Leser zu seiner Zeit selbst entscheiden. Wir unsers Ortes haben in keinerlei Absicht einiges Interesse, ihn besser zu machen, als er in der That war; wir geben ihn für das was er ist; wir werden mit der bisher beobachteten historischen Treue fortfahren seine Geschichte zu erzählen, und versichern ein-für allemal, daß wir nichts dafür können, wenn er nicht allemal so handelt, nie wir vielleicht selbst hätten wünschen mögen, daß er gehandelt hätte.Er hatte während einer Ueberfahrt nach Sicilien, welche durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit genug, Betrachtungen über das, was zu Smyrna mit ihm vorgegangen war, anzustellen. ,Wie? rufen hier einige Leser, schon wieder Betrachtungen?' Allerdings: in seiner Lage würde es ihm nicht zu vergeben gwesen seyn, wenn er keine angestellt hätte. Desto schlimmer für euch, wenn ihr, bei gewissen Gelegenheiten, nicht so gerne mit euch selbst redet als Agathon! — Ihr würdet sehr wohl thun, ihm diese kleine Gewohnheit abzulernen.Es ist für einen Agathon nicht so leicht als für manchen andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit von sich abzuschütteln. Braucht es mehr als einen einzigen Fehltritt, um den Glanz des schönsten Lebens zu verdunkeln? Wie verdrießlich ist es schon, wenn wir an einem Meisterstücke der Kunst, an einem Gemälde oder Gedichte zum Exempel, Fehler finden, welche sich nicht verbessern lassen ohne das Ganze zu vernichten! Wie viel verdrießlicher, wein es nur ein einziger Fehler ist, der dem schönen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit raubt! Ein Gefühl von dieser Art war schmerzhaft genug, um unsern Mann zu vermögen, über die Ursachen seines Falles schärfer nachzudenken. Wie erröthete er itzt vor sich selbst, da er sich der allzu trotzigen Herausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hippias gereizt, und gewissermaßen berechtiget hatte, den Versuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe, welche die Probe der stärksten und schlauesten Verführung aushalte! Was machte ihn damals so zuversichtlich? Die Erinnerung des Sieges, den er über die Priesterin zu Delphi erhalten hatte? Oder das gegenwärtige Bewußtseyn der Gleichgültigkeit, worin er bei den Reizungen der jungen Cyane geblieben war? Die Erfahrung, daß die Versuchungen, welche seiner Unschuld im Hause des Sophisten auf allen Seiten nachstellten, ihn weniger versucht als empört hatten; der Abscheu vor den Grundsätzen des Hippias, und das Vertrauen auf die eigenthümliche Stärke der seinigen? — Aber, war es eine Folge, daß derjenige, der etliche Mal gesiegt hatte, niemals überwunden werden könne? War nicht eine Danae möglich, welche das auszuführen geschickt war, was die Pythia, was die Thracischen Bacchantinnen, was Cyane, und vielleicht alle Schönen im Harem des Königs von Persien nicht vermocht hätten? — Und was für Ursache hatte er, sich auf die Stärke seiner Grundsätze zu verlassen? — Auch in diesem Stücke schwebte er in einem subtilen Selbstbetrug, den ihm vielleicht nur die Erfahrung sichtbar machen konnte. Entzückt von der Idee der Tugend, ließ er sich nicht träumen, daß das Gegentheil dieser intellectuellen Schönheit jemals Reize für seine Seele haben könnte. Die Erfahrung mußte ihn belehren, wie betrüglich unsere Ideen sind, wenn wir sie unvorsichtig realisiren. Betrachtet die Tugend an sich selbst, in ihrer höchsten Vollkommenheit, so ist sie göttlich, ja (nach dem kühnen aber richtigen Ausdruck eines vortrefflichen Schriftstellers) die Gottheit selbst. Aber welcher Sterbliche ist berechtigt, auf die allmächtige Stärke dieser idealen Tugend zu trotzen? Es kommt bei einem jeden darauf an, wie viel die seinige vermag. — Was ist häßlicher als die Idee des Lasters? Agathon glaubte sich auf die Unmöglichkeit, es jemals liebenswürdig zu finden, verlassen zu können, und betrog sich, — weil er nicht daran dachte, daß es ein zweifelhaftes Licht gibt, worin die Gränzen der Tugend und der Untugend schwimmen; worin Schönheit und Grazien dem Laster einen Glanz mittheilen, der seine Häßlichkeit übergüldet, der ihm sogar die Farbe und Anmuth der Tugend gibt; und daß es allzu leicht ist, in dieser verführerischen Dämmerung sich aus dem Bezirke der letztern in eine unmerkliche Spirallinie zu verlieren, deren Mittelpunkt ein süßes Vergessen unserer selbst und unsrer Pflichten ist.Von dieser Betrachtung, welche unsern Helden die Nothwendigkeit eines behutsamen Mißtrauens in die Stärke guter Grundsätze lehrte, ging er zu einer andern über, die ihn von der wenigen Sicherheit überzeugte, welche sich unsre Seele in jenem Zustand eines herrschenden moralischen Enthusiasmus versprechen kann, wie derjenige war, worin die seinige in dem fein gewebten Netze der schönen Danae gefangen wurde. Er rief alle Umstände in sein Gemüth zurück, welche zusammen gekommen waren, ihm diese reizungsvolle Schwärmerei so natürlich zu machen, und erinnerte sich der verschiedenen Gefahren, denen er sich dadurch ausgesetzt gesehen hatte. Zu Delphi fehlte wenig, daß sie ihn den Nachstellungen eines verkappten Apollo Preis gegeben hätte. Zu Athen hatte sie ihn seinen arglistigen Feinden wirklich in die Hände geliefert. Doch, aus diesen beiden Gefahren hatte er seine Tugend davon gebracht; ein unschätzbares Kleinod, dessen Besitz ihn gegen den Verlust alles andern, was ein Günstling des Glückes verlieren kann, unempfindlich gemacht hatte. Aber durch eben diesen Enthusiasmus unterlag sie endlich zu Smyrna den Verführungen seines eignen Herzens, eben sowohl als den Kunstgriffen der schönen Danae. War nicht dieses zauberische Licht, welches seine Einbildungskraft gewohnt war über alles, was mit seinen Ideen übereinstimmte, auszubreiten; war nicht diese unvermerkte Unterschiebung des Jdealen an die Stelle des Wirklichen die wahre Ursache, warum Danae einen so außerordentlichen Eindruck auf sein Herz machte? War es nicht diese begeisterte Liebe zum Schönen, unter deren schimmernden Flügeln verborgen, die Leidenschaft mit sanft schleichendem Fortgang sich endlich durch seine ganze Seele ausbreitete? War es nicht die lange Gewohnheit sich mit süßen Empfindungen zu nähren, was sie unvermerkt dermaßen erweichte, daß sie desto schneller an einer so schönen Flamme dahin schmelzen mußte? Dieser Hang zu phantasirten Entzückungen, so geistig auch immer ihre Gegenstände seyn mochten, mußte er ihn nicht endlich nach denjenigen lüstern machen, von welchen ihm ein unbekanntes, verworrenes, aber desto lebhafteres innerliches Gefühl den wirklichen Genuß jener vollkommensten Wonne versprach, wovon bisher nur vorüberblitzende Ahnungen seine Einbildung berührt, aber ihn selbst durch diese leichte Berührung schon außer sich selbst gesetzt hatten?Hier erinnerte sich Agathon der Einwürfe, welche ihm Hippias gegen diesen Enthusiasmus, und diejenige Art von Philosophie, die ihn hervorbringt und unterhält, gemacht hatte; und er befand sie jetzt mit seiner Erfahrung so übereinstimmend, als sie ihm damals falsch und ungereimt vorgekommen waren. Er fand sich desto geneigter, der Meinung des Sophisten, von dem Ursprung und der wahren Beschaffenheit dieser hochfliegenden Begeisterung, Beifall zu geben; da er sich, seitdem er sie in den Armen der schönen Danae verloren hatte, so wenig wieder in sie hinein zu setzen vermochte, daß selbst das wieder erwachte Gefühl für die Tugend weder seinen sittlichen Ideen den ehmaligen Glanz wieder geben, noch die dichterische Metaphysik der Orphischen Secte wieder in die vorige Achtung bei ihm setzen konnte. Er glaubte durch die Erfahrung überwiesen zu seyn, daß dieses innerliche Gefühl, durch dessen Zeugniß er die Schlüsse des Sophisten zu entkräften vermeint hatte, nur ein sehr zweideutiges Kennzeichen der Wahrheit sey. Hippias könnte vielleicht eben so viel Recht haben seinen thierischen Materialismus und seine verderbliche Moral, als die Theosophen ihre geheimnißvolle Geisterlehre, durch die Stimme innerlicher Gefühle und Erfahrungen zu autorisiren; und vielleicht sey es allein dem verschiednen Schwung unserer Einbildungskraft beizumessen, wenn wir uns zu einer Zeit geneigter fühlen, uns mit den Göttern, zu einer andern mit den Thieren verwandt zu glauben; — wenn uns zu einer Zeit alles sich in einem ernsthaften und schwärzlichen, zu einer andern alles in einem fröhlichen Lichte darstellt; — wenn wir itzt kein wahres und gründliches Vergnügen kennen, als uns, mit stolzer Verschmähung der irdischen Dinge, in die unbekannten Gegenden jenseit des Grabes und in die grundlosen Tiefen der Ewigkeit hinein zu senken, — ein andermal kein reizenderes Gemälde einer beneidenswürdigen Wonne, als den jungen Bacchus, wie er, sein epheubekänztes Haupt in den Schooß der schönsten Nymphe zurückgelehnt, und mit dem einen Arm ihre blendenden Hüften umfassend, den andern nach der düftenden Trinkschale ausstreckt, die sie ihm lächelnd mit einem Nektar füllt, den ihre eignen schönen Hände aus strotzenden Trauben frisch ausgepreßt haben; indessen die Faunen und die fröhlichen Nymphen mit den Liebesgöttern muthwillig um ihn her hüpfen, oder durch Rosengebüsche sich jagen, oder, müde von ihren Scherzen, in stillen Grotten zu neuen Scherzen ausruhen.Der Schluß, den er aus allen diesen Betrachtungen zog, war dieser: daß die erhabnen Lehrsätze der Zoroastrischen und Orphischen Theosophie — vielleicht (denn gewiß getraute er sich über diesen Punkt noch nichts zu behaupten) nicht viel mehr Realität haben könnten, als die lachenden Bilder, unter welchen die Maler und Dichter die Wollüste der Sinnen vergöttert hätten. Daß jene zwar der Tugend günstiger zu seyn und das Gemüthe zu einer mehr als menschlichen Hoheit, Reinigkeit und Stärke zu erheben schienen; in der That aber der wahren Bestimmung des Menschen vielleicht nicht weniger nachtheilig seyn dürften, als die letztern; theils, weil es ein widersinniges und vergebliches Unternehmen scheine, sich besser machen zu wollen als uns die Natur zu seyn gestattet, oder, auf Unkosten des halben Theils unsers Wesens, nach einer Art von Vollkommenheit zu trachten, die mit der Anlage desselben im Widerspruch steht; theils, weil solche Menschen, wenn es ihnen auch gelänge, sich selbst zu Halbgöttern und Intelligenzen umzuschaffen, eben dadurch zu jeder gewöhnlichen Bestimmung des geselligen Lebens desto untauglicher würden. Aus diesem Gesichtspunkte däuchte ihn der Enthusiasmus des Theosophen zwar unschädlicher als das System des Wollüstlings, aber der menschlichen Gesellschaft eben so unnützlich, indem der erste sich dem gesellschaftlichen Leben entweder gänzlich entzieht (welches wirklich das Beste ist was er thun kann), oder, dafern er von dem beschaulichen Leben ins wirksame übergeht, durch Mangel an Kenntniß einer ihm ganz fremden Welt durch abgezogene Begriffe, welche nirgends zu den wirklichen Gegenständen passen wollen, durch übertriebene moralische Zärtlichkeit und tausend andre Ursachen, welche ihren Grund in seiner vormaligen Lebensart haben, andern wider seine Absicht öfters, sich selbst aber allezeit schädlich wird.In wie fern diese Sätze richtig seyen, oder vielleicht in besondern Fällen einige Ausnahmen zulassen, zu untersuchen, würde uns hier zu weit von unserm Vorhaben abfuhren. Genug für uns, daß sie dem Agathon begründet genug schienen, um sich selbst desto leichter zu vergeben, daß er (wie der Homerische Ulysß in der Insel der Kalypso) sich auf dem bezauberten Grunde der Wollust hatte abhalten lassen, sein erstes Vorhaben, die Schüler des Zoroasters und die Priester zu Sais zu besuchen, sobald als ihm Danae seine Freiheit wieder geschenkt hatte, ins Werk zu setzen. Kurz, seine Erfahrungen machten ihm die Wahrheit seiner ehmaligen Denkungsart verdächtig, ohne ihm einen gewissen geheimen Hang zu seinen alten Lieblingsideen benehmen zu können. Seine Vernunft konnte in diesem Stücke mit seinem Herzen, und sein Herz mit sich selbst nicht recht einig werden; und er war nicht ruhig genug, seine nunmehrigen Begriffe in ein System zu bringen, wodurch beide hätten befriedigt werden können. In der That ist ein Schiff eben nicht der bequemste Ort, ein solches Werk, wozu die Stille eines dunkeln Hains kaum stille genug ist, zu Stande zu bringen. Agathon mag daher zu entschuldigen seyn, daß er diese Arbeit verschob, ob es gleich eine von denen ist, welche sich so wenig aufschieben lassen, als die Ausbesserungen eines baufälligen Gebäudes. Denn so wie dieses mit jedem Tage dem gänzlichen Einsturze näher kommt, so pflegen auch die Lücken in unsern moralischen Begriffen und die Mißhelligkeiten zwischen dem Kopf und dem Herzen immer größer und gefährlicher zu werden, je länger wir aufschieben, sie mit der erforderlichen Aufmerksamkeit zu untersuchen, um Eintracht und Harmonie zwischen den Theilen und dem Ganzen herzustellen.Doch in dem besondern Falle, worin sich Agathon befand, war die Gefahr dieses Aufschubs desto geringer, da er, von der Schönheit der Tugend und der unauflöslichen Verbindlichkeit ihrer Gesetze mehr als jemals überzeugt, eine auf das wahre allgemeine Beste gerichtete Wirksamkeit für die Bestimmung aller Menschen, oder (wofern ja einige Ausnahme zu Gunsten der bloß contemplativen Geister zu machen wäre) doch gewiß für die seinige hielt. Vormals war er nur zufälliger Weise, und gegen seine Neigung, in das thätige Leben verflochten worden; jetzt war es eine Folge seiner nunmehrigen (wie er glaubte) geläuterten Denkungsart, daß er sich dazu entschloß. Ein sanftes Entzücken, welches ihm den süßesten Berauschungen der Wollust unendlich vorzuziehen schien, ergoß sich durch sein ganzes Wesen bei dem Gedanken, der Mitarbeiter an der Wiedereinsetzung Siciliens in die unendlichen Vortheile der Freiheit und eines durch weise Gesetze und Anstalten verewigten Wohlstandes zu seyn. Seine immer verschönernde Phantasie malte ihm die Folgen seiner Bemühungen in tausend reizende Bilder von öffentlicher Glückseligkeit aus. Er fühlte mit Entzücken die Kräfte zu einer so edlen Arbeit in sich; und sein Vergnügen war desto vollkommener, da er zugleich empfand, daß Herrschsucht und eitle Ruhmbegierde keinen Antheil daran hatten; daß es die tugendhafte Begierde, in einem weiten Umfang Gutes zu thun, war, deren gehoffte Befriedigung ihm diesen Vorschmack des göttlichsten Vergnügens gab, dessen die menschliche Natur fähig ist. Seine Erfahrungen, so viel sie ihm auch gekostet hatten, schienen ihm itzt nicht zu theuer erkauft, da er dadurch desto tüchtiger zu seyn hoffte, die Klippen zu vermeiden, an denen die Klugheit oder die Tugend derjenigen, welche sich den öffentlichen Angelegenheiten unterziehen, zu scheitern pflegt. Er setzte sich fest vor, sich durch keine zweite Danae mehr irre machen zu lassen. Er glaubte sich in diesem Stücke desto besser auf sich selbst verlassen zu können, da er stark genug gewesen war, sich von der ersten loszureißen, und es mit gutem Fug für unmöglich halten konnte, jemals auf eine noch gefährlichere Probe gesetzt zu werden. Ohne Ehrgeiz, ohne Habsucht, immer wachsam auf die schwache Seite seines Herzens, die er kennen gelernt hatte, dachte er nicht, daß er von andern Leidenschaften, welche vielleicht noch in seinem Busen schlummerten, etwas zu befürchten haben könne. Keine übelweissagenden Ahnungen störten ihn in dem unvermischten Genusse der Hoffnungen, die ihn wachend und selbst in Träumen beschäftigten. Diese Hoffnungen waren der vornehmste Inhalt seiner Gespräche mit dem Syrakusischen Kaufmanne: sie machten ihm die Beschwerden der Reise unmerklich, und entschädigten ihn überflüssig für den Verlust der ehmals geliebten Danae; einen Verlust, der mit jedem neuen Morgen kleiner in seinen Augen wurde. Und so führten ihn günstige Winde und ein geschickter Steuermann, nach einer kurzen Verweilung in einigen Griechischen Seestädten, glücklich in den Hafen zu Syrakus, um an dem Hof eines Fürsten zu lernen: "daß auf dieser schlüpfrigen Höhe die Tugend entweder der Klugheit aufgeopfert werden muß, oder die behutsamste Klugheit nicht hinreichend ist den Sturz des Tugendhaften zu verhindern."
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Achtes Capitel.

Eine oder zwei Abschweifungen.

Wir wünschen uns Leserinnen zu haben (denn diese Geschichte, wenn sie auch weniger wahr wäre als sie ist, gehört nicht unter die Romanen, von welchen der Verfasser des gefährlichsten und lehrreichsten Romans in der Welt die Jungfrauen zurück schreckt); und wir sehen es also nicht gern, daß einige unter ihnen, welche noch Geduld genug gehabt haben, dieses neunte Buch zu durchblättern — in der Meinung, daß nun nichts Interessantes mehr zu erwarten sey, nachdem Agathon durch einen Streich von der verhaßtesten Art, durch eine heimliche Flucht, der Liebe den Dienst aufgesagt habe — den Verfolg seiner Geschichte kaltsinnig aus ihren schönen Händen entschlüpfen lassen, und vielleicht den Sopha, oder die allerliebste kleine Puppe des Herrn Bibiena ergreifen, um die Vapeurs zu zerstreuen, die ihnen die Untreue und die Betrachtungen unsers Helden verursacht haben.Woher es wohl kommen mag, meine schönen Freundinnen, daß die meisten unter Ihnen geneigter sind, uns alle Thorheiten, wozu die Liebe nur immer verleiten kann, zu verzeihen, als die Wiederherstellung in den natürlichen Stand unsrer gesunden Vernunft? Gestehen Sie, daß wir Ihnen desto mehr gefallen, je mehr wir durch die Schwachheiten, wozu Sie uns bringen können, die Obermacht Ihrer Reizungen über die eingebildete Stärke unsers Verstandes beweisen! Was fur ein interessantes Gemälde ist nicht eine Dejanira, mit der Löwenhaut ihres nervigen Liebhabers umgeben, und mit seiner Keule auf der Schulter, wie sie einen triumphirend-lächelnden Seitenblick auf den Bezwinger der Riesen und Drachen wirft, der, in ihre langen Kleider vermummt, im Cirkel ihrer Sklavinnen mit ungelenksamer Faust die weibische Spindel dreht! —Wir kennen einige, auf welche diese kleine Apostrophe gar nicht zu passen scheint. Aber wenn wir ohne Schmeichelei reden sollen (welches freilich nicht geschehen würde, wenn wir die Klugheit zu Rathe zögen), so zweifeln wir, ob die Weiseste unter allen, zu eben der Zeit, da sie sich bemüht den Thorheiten ihres Liebhabers Schranken zu setzen, sich erwehren könne, ganz leise in sich selbst darüber zu frohlocken, daß sie liebenswürdig genug ist, einen Mann seines eignen Werths vergessen zu machen.Hingegen mögen wir unsern besagten Leserinnen zu einiger Vergütung eine kleine Anekdote aus dem Herzen unsers Helden nicht verhalten, wenn er auch gleich dadurch in Gefahr kommen sollte, die Hochachtung wieder zu verlieren, in die er sich bei den ehrwürdigen Damen, welche nie geliebt haben, und, Dank sey dem Himmel! nie geliebt worden sind, wieder zu setzen angefangen hat.So vergnügt Agathon über die Entweichung aus seiner angenehmen Gefangenschaft in Smyrna, und in diesem Stücke mit sich selbst war; so wenig die Bezauberung, unter welcher wir ihn gesehen haben, die Liebe der Tugend in ihm zu ersticken vermocht hatte; so aufrichtig die Gelübde waren, die er that, ihr künftig nicht wieder untreu zu werden; so groß und wichtig die Gedanken waren, welche seine Seele schwellten; so sehr er (um alles mit Einem Worte zu sagen) wieder Agathon war: so hatte er doch Stunden, wo er sich selbst gestehen mußte, daß er mitten in der Schwärmerei der Liebe und in den Armen der schönen Danae —glücklich gewesen sey. Es mag immer viel Verblendung, viel Ueberspanntes und Chimärisches in der Liebe seyn, sagte er zu sich selbst, aber gewiß ihre Freuden sind doch keine Einbildung! Ich fühlte es, und fühl' es noch, so wie ich mein Daseyn fühle, daß es wahre Freuden sind, so wahr in ihrer Art, als die Freuden der Tugend! Und warum sollt' es unmöglich seyn, Liebe und Tugend mit einander zu verbinden? — Sie beide zugleich zu genießen, o! das würde erst vollkommne Glückseligkeit seyn!Zu Verhütung eines besorglichen Mißverstandes scheint uns hier eine kleine Parenthese vonnöthen zu seyn, um denen, die keine andern Sitten kennen, als die Sitten des Landes oder Ortes, worin sie geboren sind, zu sagen: daß ein vertrauter Umgang mit Frauenzimmern von einer gewissen Classe, das ist (um nicht so Französisch, aber weniger zweideutig zu reden), welche mit dem, was man etwas uneigentlich Liebe zu nennen pflegt, ein Gewerbe treiben, bei den Griechen eine so erlaubte Sache war, daß die strengsten Väter sich lächerlich gemacht haben würden, wenn sie ihren Söhnen, so lange sie unter ihrer Gewalt standen, eine Liebste aus der bemeldeten Classe hätten verwehren wollen. Frauen und Jungfrauen genossen, wie aller Orten, des besondern Schutzes der Gesetze, und waren durch die Sitten und Gebräuche dieses Volks vor Nachstellungen ungleich besser gesichert, als sie es bei den heutigen Europäern sind. Ein Anschlag auf ihre Tugend war so schwer zu bewerkstelligen, als die Bestrafung eines solchen Verbrechens streng war. Ohne Zweifel geschah es, um diese in den Augen der Griechischen Gesetzgeber geheiligten Personen, die Mütter der Bürger, und diejenigen, welche zu dieser Ehre bestimmt waren, den Unternehmungen einer unbändigen Jugend desto gewisser zu entziehen, —daß der Stand der Phrynen und Laiden geduldet wurde. So ausgelassen und schmutzig die Gemälde sind, welche uns der genievollste, witzigste und verständigste aller Possenschreiber, Aristophanes, von den Frauen zu Athen macht: so ist doch gewiß, daß die Weiber und Töchter der Griechen überhaupt sehr sittsame Geschöpfe waren, und daß, ordentlicher Weise, die Sitten einer Vermählten und einer Buhlerin bei ihnen eben so stark von einander abstachen, als man dermalen in einigen Hauptstädten von Europa bemüht ist, sie mit einander zu vermengen.Ob jene Einrichtung in allen Stücken löblich war, ist eine andre Frage, von der hier die Rede nicht seyn soll, wir führen sie bloß deßwegen an, damit man nicht glaube, als ob die Neue und die Gewissensbisse Agathons aus dem Begriff entstanden seyen, daß es unerlaubt sey mit einer Danae der Liebe zu pflegen. In diesem Stücke dachte er wie alle andern Griechen seiner Zeit. Bei seiner Nation (die Spartaner vielleicht allein ausgenommen) durfte man, wenigstens in seinem Alter, die Nacht mit einer Tänzerin oder Flötenspielerin zubringen, ohne sich deßwegen einen Vorwurf zuzuziehen, insofern nur die Pflichten seines Standes nicht darunter leiden mußten, und eine gewisse Mäßigung beobachtet wurde, welche, nach den Begriffen dieser Heiden, die Gränzlinie der Tugend und des Lasters ausmachte. Wenn man dem Alcibiades übel genommen hatte, daß er sich im Schooß der schönen Nemea, wie vom Siege ausruhend, malen ließ, oder daß er den Liebesgott mit Jupiters Blitzen bewaffnet in seinem Schilde führte (und Plutarch sagt uns, daß nur die ältesten und ernsthaftesten Athener sich darüber aufgehalten; Leute, deren Eifer gegen die Thorheiten der Jugend öfters nicht sowohl die Liebe der Tugend als die Verdrießlichkeit des Alters zur Quelle hat); wenn man, sage ich, dem Alcibiades diese Ausschweifungen übel nahm: so war es nicht sein Hang zu den Ergötzungen, oder seine Vertraulichkeit mit einer Person, welche durch Stand und Profession dem Vergnügen des Publicums gewidmet war; sondern der Uebermuth, der daraus hervorleuchtete, die Verachtung der Gesetze des Wohlstandes und einer gewissen Gravität, welche man in freien Staaten mit Recht gewohnt ist von den Vorstehern der Republik, wenigstens außerhalb dem Cirkel des Privatlebens, zu fordern. Man würde ihm, so gut als einem Perikles oder Cimon, seine Schwachheiten, oder seine Ergötzungen übersehen haben: aber man vergab ihm nicht, daß er damit prahlte; daß er sich seinem Hang zur Fröhlichkeit und Wollust bis zur unbändigsten Ausgelassenheit überließ; daß er, von Wein und Salben triefend, mit dem vernachlässigten und abgematteten Ansehen eines Menschen, der eine Winternacht durchschweift hatte, noch warm von den Umarmungen einer Tänzerin, in die Rathsversammlungen gehüpft kam, und, so übel vorbereitet, sich doch überflüssig tauglich hielt, die Angelegenheiten Griechenlands zu besorgen, und den grauen Vätern der Republik zu sagen, was sie zu thun hätten. Dieß war es, was sie ihm nicht vergeben konnten, und was ihm die schlimmen Händel zuzog, von denen der Wohlstand Athens und er selbst endlich das Opfer wurde.Ueberhaupt ist es eine längst ausgemachte Sache, daß die Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten als die heutigen Europäer. Sie ehrten, wie alle polizirten Völker, die eheliche Freundschaft: aber von dieser romantischen Leidenschaft, von dieser Liebe, welche von einer ganzen Folge von Romanschreibern in Spanien, Wälschland, Frankreich und England zu einer Heldentugend erhoben worden ist; von dieser wußten sie eben so wenig als von der weinerlich-komischen, der abenteuerlichen Hirngeburt einiger neueren weiblichen Scribenten, welche noch über die Begriffe der ritterlichen Zeiten raffinirt, und uns durch ganze Bände eine Liebe gemalt haben, die sich von stillschweigendem Anschauen, von Seufzern und Thränen nährt, immer unglücklich und, selbst ohne einen Schimmer von Hoffnung, immer gleich standhaft ist. Von einer so abgeschmackten, so unmännlichen, mit dem Heldenthum, womit man verbinden will, so lächerlich abstechenden Liebe wußte diese geistreiche Nation nichts, aus deren schöner und lachender Einbildungskraft die Göttin der Liebe, die Grazien und so viele andre Götter der Freude hervorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe, welche glücklich macht; (oder richtiger zu reden) diese allein schien ihnen, unter gewissen Einschränkungen, der Natar gemäß, anständig und unschuldig. Diejenige, welche sich mit allen Symptomen eines fieberischen Paroxysmus der ganzen Seele bemächtiget, war in ihren Augen eine von den gefährlichsten Leidenschaften, eine Feindin der Tugend, die Störerin der häuslichen Ordnung, die Mutter der verderblichsten Ausschweifungen und der häßlichsten Laster. Wir finden wenige Beispiele davon in ihrer Geschichte; und diese Beispiele sehen wir auf ihrem tragischen Theater mit Farben geschildert, welche den allgemeinen Abscheu erwecken mußten; so wie hingegen ihre Komödie keine andre Liebe kennt, als den natürlichen Instinct, welchen Geschmack, Gelegenheit und Zufall für einen gewissen Gegenstand bestimmen; der, von den Grazien und nicht selten auch von den Musen verschönert, das Vergnügen zum Zweck hat, nicht besser noch erhabner seyn will als er ist, und ihnen, im Ganzen betrachtet, noch immer weniger schädlich zu seyn däuchte, als jene tragische Art zu lieben, die vielmehr von der Fackel der Furien als des Liebesgottes entzündet, eher die Wirkung der Rache einer erzürnten Gottheit als dieser süßen Bethörung gleich zu seyn schien, welche sie (wie den Schlaf und die Gaben des Bacchus) für ein Geschenk der wohlthätigen Natur ansahen, um uns die Beschwerden des Lebens zu versüßen, und zu den Arbeiten desselben muntrer zu machen.Ohne Zweifel würden wir diesen Theil der Griechischen Sitten noch besser kennen, wenn nicht (durch ein Unglück, welches die Musen immer beweinen werden) die Komödien eines Alexis, Menander, Diphilus, Philemon, Apollodorus, und andrer berühmter Dichter aus dem schönsten Zeitalter der Attischen Musen, ein Raub der mönchischen und saracenischen Barbarei geworden wären. Allein es bedarf dieser Urkunden nicht, um das, was wir gesagt haben, zu rechtfertigen. Sehen wir nicht den ehrwürdigen Solon noch in seinem hohen Alter, in Versen, deren sich der alte Dichter auf dem Berge Krapak nicht zu schämen hätte, von sich selbst gesehen: "daß er sich aller andern Beschäftigungen begeben habe, um den Rest seines Lebens in Gesellschaft der Venus, des Bacchus und der Musen auszuleben?" Sehen wir nicht den weisen Sokrates kein Bedenken tragen, in Begleitung seiner jungen Freunde der schönen und gefälligen Theodota einen Besuch zu machen, um über ihre Schönheit, welche einer aus der Gesellschaft als unbeschreiblich angepriesen hatte, den Augenschein einzunehmen? Sehen wir nicht, daß er seiner Weisheit nichts zu vergeben glaubte, indem er diese Theodota auf eine scherzhafte Art in der Kunst Liebhaber zu fangen unterrichtet? War er nicht ein Freund und Bewunderer, ja, wenn Plato nicht zu viel gesagt hat, ein Schüler der berühmten Aspasia, deren Haus (ungeachtet der Vorwürfe, welche ihr von der zaumlosen Frechheit der damaligen Komödie gemacht wurden) der Sammelplatz der schönsten Geister von Athen war? So enthaltsam er selbst in Absicht dieses Artikels gewesen zu seyn scheint, so finden wir doch seine Grundsätze über die Liebe mit der allgemeinen Denkungsart seiner Nation ziemlich übereinstimmend. Er unterschied das Bedürfniß von der Leidenschaft, das Werk der Natur von dem Werke der Phantasie. Er warnte vor dem letztern, wie wir schon anderwo im Vorbeigehen bemerkt haben, und rieth zu Befriedigung der ersten (nach Xenophons Bericht) eine solche Art von Liebe an, an welcher die Seele so wenig als möglich Antheil nehme. Ein Rath, welcher zwar seine Einschränkungen leidet, aber doch auf die gemeine Erfahrung gegründet ist: daß die Liebe, welche sich der Seele bemächtiget, sie gemeiniglich aller Gewalt über sich selbst beraubt, und zu allen edlen Anstrengungen untüchtig macht.Nach den gewöhnlichen Begriffen der Zeit, in welcher Agathon lebte, wäre es demnach so schwer nicht gewesen, Liebe und Tugend mit einander zu verbinden. Aber Agathon hatte größere und feinere Begriffe von der Tugend. Eine gewisse ideale Vollkommenheit war zu sehr mit den Grundzügen seiner Seele verwebt, als daß er sie jemals ganz verlieren konnte. Was ist einer empfindsamen Seele Liebe ohne Schwärmerei? ohne diese Zärtlichkeit der Empfindungen, diese Sympathie, welche ihre Freuden vervielfältiget, verfeinert, veredelt? Was sind die Wollüste der Sinnen ohne Grazien und Museum? — Agathon hätte also diese Art zu lieben, wie er die schöne Danae geliebt hatte und von ihr geliebt worden war, gern mit seinem erhabenen Begriffe von der Tugend verbinden mögen; und von diesem Wunsche sah er alle seine Schwierigkeiten ein.Endlich däuchte ihn, es komme alles auf die Beschaffenheit des Gegenstandes an; und nun erinnerte ihn sein Herz wieder an Psyche. Er erröthete vor ihrem Bilde, wie er vor der gegenwärtigen Psyche selbst erröthet seyn würde; aber er empfand zu gleicher Zeit, daß sein Herz, ohne nur mit einem einzigen Faden noch an Danae zu hangen, wieder zu seiner ersten Liebe zurückkehrte. Seine wieder ruhige Phantasie spiegelte ihm, wie ein klarer tiefer Brunnen, die Erinnerungen der reinen, tugendhaften und mit keiner andern Lust zu vergleichenden Freuden vor, die er durch die zärtliche Vereinigung ihrer Seelen in jenen Elysischen Nächten erfahren hatte. Er empfand itzt zu dem, was er ehemals für sie empfunden, noch alle die Liebe, welche ihm Danae eingeflößt hatte; aber so sanft, so geläutert durch die moralische Schönheit des veränderten Gegenstandes, daß es nicht mehr eben dieselbe schien. Er stellte sich vor, wie glücklich ihn eine unzertrennliche Verbindung mit dieser Psyche machen würde, welche ihm eine Liebe eingehaucht, die seiner Tugend sowenig gefährlich war, daß sie ihr vielmehr Schwingen angesetzt hatte. Er versetzte sich in Gedanken mit Psyche in den Ruheplatz der Diana zu Delphi, und ließ den Gott der Liebe, den Sohn der himmlischen Venus, das überirdische Gemälde ausmalen. Eine süße weissagende Hoffnung breitete sich durch seine Seele aus. Es war ihm, als ob eine geheime Stimme ihm zulisple, daß er sie in Sicilien finden werde. Psyche paßte ganz vortrefflich in den Plan, den er sich von seinem bevorstehenden Leben gemacht hatte. Was für Aussichten stellte ihm die Verbindung seiner häuslichen Glückseligkeit mit der öffentlichen vor, welcher er alle seine Kräfte zu widmen entschlossen war! Aber erst wollte er verdienen glücklich zu seyn! —Doch, ohne den Leser mit seinen Gesinnungen und Vorsätzen länger aufzuhalten, eilen wir, ihn auf einen Schauplatz zu versetzen, wo er sich uns durch Handlungen zu erkennen geben kann.
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Zehntes Buch.

Darstellung des Syrakusischen Hofes, und des Merkwürdigsten, was sich kurz zuvor, ehe Agathon zu Syrakus auftrat, an demselben begeben hatte.

Erstes Capitel.

Charakter der Syrakuser, des Dionysius und seines Hofes.

Aber, ehe wir unsern Helden selbst wieder auftreten lassen, wird es nöthig seyn, dem Leser sowohl den Schauplatz und die Zuschauer, auf welchem und für welche Agathon eine der merkwürdigsten Rollen spielen wird, als die Scene, und einige der vornehmsten Personen, die theils mit und neben ihm, theils gegen ihn agiren werden, so umständlich, als es zu unserer Absicht und zu besserm Verständniß seiner Geschichte nöthig ist, vorher bekannt zu machen.Syrakus, die alte Hauptstadt Siciliens, verdiente in vielerlei Betrachtungen den Namen eines zweiten Athen. Nichts kann ähnlicher seyn als der Charakter ihrer Einwohner, Beide waren im höchsten Grad eifersüchtig über eine Freiheit, in welcher sie sich niemals lange zu erhalten wußten, weil sie Müßiggang und Lustbarkeiten immer noch mehr liebten als die Freiheit; auch muß man gestehen, daß sie ihnen, durch den schlechten Gebrauch den sie von ihr machten, mehr Schaden gethan hat als alle ihre Tyrannen. Die Syrakuser hatten, wie die Athener, das Genie der Künste und der Musen; sie waren lebhaft, sinnreich und zum spottenden Scherz aufgelegt; heftig und ungestüm in ihren Bewegungen, aber so unbeständig, daß sie in einem Zeitmaße von wenig Tagen vom äußersten Grade der Liebe zum äußersten Haß, und vom thätigsten Enthusiasmus zur kältesten Gleichgültigkeit übergehen konnten. Lauter Züge, durch welche sich, wie man weiß, auch die Athener vor allen andern Griechischen Völkern ausnahmen. Beide empörten sich mit eben soviel Leichtsinn gegen die gute Regierung eines einzigen Gewalthabers, als sie fähig waren, mit der niederträchtigsten Feigheit sich an das Joch des schlimmsten Tyrannen gewöhnen zu lassen. Beide kannten niemals ihr wahres Interesse, und kehrten ihre Stärke immer gegen sich selbst. Muthig und heroisch in der Widerwärtigkeit, allezeit übermüthig im Glück, und, gleich dem Aesopischen Hund im Nil, immer durch schimmernde Entwürfe verhindert, von ihren gegenwärtigen Vortheilen den rechten Gebrauch zu machen. Durch ihre Lage, Verfassung und den Geist der Handelschaft der Spartanischen Gleichheit unfähig, aber eben so ungeduldig, an einem Mitbürger große Vorzüge von Verdienst, Ansehn oder Reichthum zu ertragen. Daher immer mit sich selbst im Streit, immer von Parteien und Rotten zerrissen: bis, nach einem langwierigen umwechselnden Uebergang von Freiheit zu Sklaverei und von Sklaverei zu Freiheit, beide zuletzt die Fesseln der Römer geduldig tragen lernten, und sich weislich mit der Ehre begnügten, Athen die Schule, Syrakus die Kornkammer dieser majestätischen Gebieterin des Erdbodens zu seyn.Nach einer Reihe von sogenannten Tyrannen (das ist, von Beherrschern, welche sich der einzelnen und willkürlichen Gewalt über den Staat bemächtiget hatten, ohne auf einen Beruf von den Bürgern zu warten) war Syrakus, und ein großer Theil Siciliens mit ihr, endlich in die Hände des Dionysius gefallen; und von diesem, nach einer langwierigen Regierung, unter welcher die Syrakuser gezeigt hatten, was sie zu leiden fähig seyen, seinem Sohne, Dionysius dem Zweiten, erblich zugekommen. Das Recht dieses jungen Menschen an die königliche Gewalt, deren er sich nach seines Vaters Tod anmaßte, war noch weniger als zweideutig; denn wie konnte ihm sein Vater ein Recht hinterlassen, das er selbst nicht hatte? Aber eine starke Leibwache, eine wohl befestigte Citadelle, und eine durch die Beraubung der reichsten Sicilier angefüllte Schatzkammer, ersetzten den Abgang eines Rechts, welches ohnehin alle seine Stärke von der Macht zieht, die es geltend machen muß, und eben darum dessen leicht entbehren kann. Hierzu kam noch, daß in einem Staate, worin der Geist der politischen Tugend schon erloschen ist, und gränzenlose Begierde nach Reichthümern, und nach der schmeichelhaften Freiheit alles zu thun was die Sinne gelüstet, die Oberhand gewonnen haben; daß, sage ich, in einem solchen Staat eine ausgelassene und allein auf Befriedigung ihrer Leidenschaften erpichte Jugend sich von der unumschränkten Regierung eines Einzigen ihrer Art unendlich mehr Vortheile verspricht, als von der Aristokratie, deren sich die Aeltesten und Verdienstvollesten bemächtigen, oder von der Demokratie, worin man ein abhängiges und ungewisses Ansehen mit einer Menge Beschwerlichkeiten, Gefahren und Aufopferungen theurer erkaufen muß, als es sich der Mühe zu verlohnen scheint.Der junge Dionysius setzte sich also, durch einen Zusammenfluß günstiger Umstände, in den ruhigen Besitz der höchsten Gewalt zu Syrakus; und es ist leicht zu erachten, wie ein übel erzogner, vom Feuer seines Temperaments zu allen Ausschweifungen der Jugend hingerissener Prinz, unter einem Schwarme von schmeichelnden Höflingen, dieser Macht sich bedient haben werde. Ergötzungen, Gastmähler, Liebeshändel, Feste welche ganze Monate dauerten, kurz eine stete Berauschung von Schwelgerei, machten die Beschäftigungen eines Hofes von thörichten Jünglingen aus, welche nichts Angelegeneres hatten, als durch Erfindung neuer Wollüste sich in der Zuneigung ihres Prinzen festzusetzen, und ihn zu gleicher Zeit zu verhindern, jemals zu sich selbst zu kommen und den Abgrund gewahr zu werden, an dessen blumichtem Rand er sorglos herumtanzte.Man kennt die Staatsverwaltung wollüstiger Prinzen aus ältern und neuern Beispielen zu gut, als daß wir nöthig haben sollten, uns darüber auszubreiten. Was für eine Regierung ist von einem jungen Unbesonnenen zu erwarten, dessen Leben ein immerwährendes Bacchanal ist? Der, mit jeder großen Pflicht seines Berufs unbekannt, die Kräfte, die er zu ihrer Erfüllung anstrengen sollte, bei nächtlichen Schmäusen und in den Armen üppiger Buhlerinnen verzettelt? Der, unbekümmert um das Beste des Staats, sogar seinen Privatvortheil so wenig einsieht, daß er das wahre Verdienst, welches ihm verdächtig ist, hasset, und Belohnungen an diejenigen verwendet, die, unter der Maske der eifrigsten Ergebenheit und gänzlicher Aufopferung, seine gefährlichsten Feinde sind? Von einem Prinzen, bei dem die wichtigsten Stellen auf die Empfehlung einer Tänzerin, oder der Sklaven die ihn aus- und ankleiden, vergeben werden? Der sich einbildet, daß ein Hofschranze, der gut tanzt, ein Nachtessen wohl anzuordnen weiß, und ein überwindendes Talent hat sich bei den Weibern in Gunst zu setzen, unfehlbar auch das Talent eines Ministers oder eines Feldherrn haben werde? oder, daß man zu allem in der Welttüchtig sey, sobald man die Gabe habe ihm zu gefallen? — Was ist von einer solchen Regierung zu erwarten, als Verachtung der Gesetze, Mißbrauch der Formalitäten der Gerechtigkeit, Gewaltsamkeiten, üble Haushaltung, Erpressungen, Geringschätzung und Unterdrückung der Tugend, allgemeine Verdorbenheit der Sitten? — Und was für eine Staatskunst wird da Platz haben, wo Leidenschaften, Launen, vorüberfahrende Anstöße von lächerlichem Ehrgeiz, wo die kindische Begierde von sich reden zu machen, die Convenienz eines Günstlings oder die Intriguen einer Maitresse, die Triebfedern der Staatsangelegenheiten, der Verbindung und Trennung mit auswärtigen Mächten, und des öffentlichen Betragens sind? Wo, ohne die wahren Vortheile des Staats oder seine Kräfte zu kennen, ohne Plan, ohne Abwägung und Verbindung der Mittel —Doch, wir gerathen unvermerkt in den Ton der Declamation, welcher bei einem längst erschöpften und doch so alltäglichen Stoffe nicht zu verzeihen wäre. Möchte niemand der dieß liest, gus der Erfahrung seines eignen Vaterlandes wissen, wie einem Volke mitgespielt wird, welches das Unglück hat, der Willkür eines Dionysius Preis gegeben zu seyn!Man wird sich, nach allem was wir gesagt haben, diesen Fürsten als einen der schlimmsten Tyrannen, womit der Himmel jemals eine mit geheimen Verbrechen belastete Nation gegeißelt habe, vorstellen; und so schildern ihn auch die Geschichtschreiber. Allein, ein aus lauter schlimmen Eigenschaften zusammengesetzter Mensch ist ein Ungeheuer, das nicht existiren kann. Eben dieser Dionysius würde Fähigkeit genug gehabt haben ein guter Fürst zu werden, wenn er so glücklich gewesen wäre, zu seiner Bestimmung gebildet zu werden. Aber es fehlte so viel, daß er die Erziehung, die sich für einen Prinzen schickt, bekommen hätte, daß ihm nicht einmal diejenige zu Theil ward, die man jedem jungen Menschen von mittelmäßigem Stande gibt. Sein Vater, der feigherzigste Tyrann, den vielleicht die Geschichte kennt, ließ ihn, von aller guten Gesellschaft abgesondert, unter niedrigen Sklaven aufwachsen; und der präsumtive Thronfolger hatte kein anderes Mittel sich die lange Weile zu vertreiben, als daß er kleine Wagen, hölzerne Leuchter, Schemel und andere dergleichen Kunstwerke verfertigte. Man würde Unrecht haben, wenn man diese selbst gewählte Beschäftigung für einen Wink der Natur halten wollte; es war vielmehr der Mangel an Gegenständen und Modellen, welche dem angebornen Trieb aller Menschen, Witz und Hände zu beschäftigen, eine andere Richtung hätten geben können. Er würde eben so gut Verse gemacht haben, und vielleicht bessere als sein Vater (der unter andern Thorheiten auch die Wuth hatte, ein Poet seyn zu wollen), wenn man ihm einen Homer in seine Zelle gegeben hätte. Wie manche Prinzen hat man gesehen, die mit der Anlage zu Augusten und Trajanen, aus Schuld derjenigen, die über ihre Erziehung gesetzt waren, oder durch die Unfähigkeit eines mit klösterlichen Vorurtheilen angefüllten Mönchs, dem sie auf Discretion überlassen wurden, in Neronen und Elogabalen ausgeartet sind!Eine genaue und ausführliche Entwicklung, wie dieses zugehe, und wie es unter gewissen gegebenen Umständen nicht anders möglich sey, als daß durch eine so fehlerhafte Veranstaltung das beste Naturell in ein moralisches Mißgeschöpf verzerrt werden müsse, wäre, wie uns däucht, ein sehr nützlicher Stoff, welchen wir der Bearbeitung irgend eines Mannes von Genie empfehlen, der bei philosophischen Einsichten hinlängliche Kenntniß der Welt besäße. Unsre aufgeklärten und verfeinerten Zeiten sind weder dieses noch jenes in so hohem Grade, daß ein solches Werk überflüssig seyn sollte; und wenn die Ausführung der Würde des Stoffes zusagte, so zweifeln wir nicht, daß es glücklich genug werden könnte, von mancher Provinz die lange Folge von Plagen abzuwenden, welche ihr vielleicht durch die fehlerhafte Erziehung ihrer noch ungebornen Beherrscher im nächsten Jahrhundert bevorstehen.

Zweites Capitel.

Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.

Die Syrakuser waren des Jochs schon zu gewohnt, um einen Versuch zu machen, es nach dem Tode des alten Dionysius abzuschütteln. Es war nicht einmal so viel Tugend unter ihnen übrig, daß einige von denen, welche besser dachten als der große Haufen und die verächtliche Brut der Parasiten, den Muth gehabt hätten, sich bis zum Ohre des jungen Prinzen zu drängen, um ihm Wahrheiten zu sagen, von denen seine eigne Glückseligkeit eben sowohl abhing, als die Wohlfahrt von Sicilien. Ganz Syrakus hatte nur Einen Mann, dessen Herz groß genug hierzu war. Aber auch dieser würde sich vielleicht in die sichere, wiewohl unrühmliche Dunkelheit in welche ehrliche Leute unter einer Unglück weissagenden Regierung sich zu verbergen pflegen, eingehüllt haben, wenn ihn seine Geburt nicht berechtigt und sein Interesse genöthigt hätte, sich um die Staatsverwaltung zu bekümmern.Dieser Mann war Dion, ein Bruder der Stiefmutter des jungen Dionysius und der Gemahl seiner Schwester, der Nächste nach ihm im Staat, und der Einzige, der sich durch seine großen Fähigkeiten, sein Ansehen bei dem Volke, und die unermeßlichen Reichthümer die er besaß, furchtbar und eines Anschlags verdächtig machen konnte, sich entweder an die Stelle des jungen Fürsten zu setzen, oder die republicanische Verfassung wieder herzustellen. Wenn wir den Geschichtschreibern, insonderheit dem tugendhaften und gutherzigen Plutarch, einen unumschränkten Glauben schuldig wären, so würden wir den Dion unter die wenigen Helden der Tugend zählen müssen, welche sich (um dem Plato einen Ausdruck abzuborgen) zu der Würde und Größe guter Dämonen oder beschützender Genien und Wohlthäter des Menschengeschlechts emporgeschwungen haben — Männer, welche fähig sind, aus dem erhabenen Beweggrunde einer reinen Liebe der sittlichen Ordnung und des allgemeinen Besten zu handeln; und, über dem Bestreben andere glücklich zu machen, sich selbst aufopfern, weil sie unter ihrer sterblichen Hülle ein edleres Selbst fühlen, welches seine angeborne Vollkommenheit desto herrlicher entfaltet, je mehr jenes thierische Selbst unterdrückt wird — die, im Glück und Unglück gleich groß, durch dieses nicht verdunkelt werden, und von jenem keinen Glanz entlehnen, sondern, immer sich selbst genugsam, Herren ihrer Leidenschaften, und, über die Bedürfnisse gemeiner Seelen erhaben, eine Art sublunarischer Götter sind. Ein solcher Charakter fällt allerdings gut in die Augen, ergötzt den moralischen Sinn, und erweckt den Wunsch, daß er mehr als eine schöne Chimäre seyn möchte. Aber wir gestehen, daß wir, aus erheblichen Gründen, mit zunehmender Erfahrung, immer mißtrauischer gegen die menschlichen, — warum also nicht auch gegen die übermenschlichen Tugenden werden.Es ist wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweise großer Fähigkeiten, besonders einer gewissen Erhabenheit und Stärke des Gemüths, die man gemeiniglich mit gröbern, weniger reizbaren Fibern und derjenigen Art von Temperament verbunden sieht, welches ungesellig, ernsthaft, stolz und spröde zu machen pflegt. An jede Art von Temperament gränzen, wie man weiß, gewisse Tugenden. Fügt es sich, daß die Entwicklung der Anlage zu denselben durch günstige Umstände befördert wird, so ist nichts natürlicher, als daß sich daraus ein Charakter bildet, der durch gewisse hervorstechende Tugenden blendet, welche eben darum zu einer völligern Schönheit gelangen, weil kein innerlicher Widerstand sich ihrem Wachsthum entgegen gesetzt. Diese Art von Tugenden finden wir bei Dion in hohem Grade. Aber ihm ein Verdienst daraus zu machen, wäre eben so viel, als einem Athleten die Elasticität seiner Sehnen, oder einem gesunden blühenden Mädchen ihre gute Farbe, als Verdienste anzurechnen, die ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben sollten. Ja, wenn Dion sich durch diejenigen Tugenden vorzüglich unterschieden hätte, zu denen er von Natur nicht aufgelegt war; und wenn er es so weit gebracht hatte, sie mit eben der Leichtigkeit und Grazie auszuüben, als ob sie ihm angeboren wären! Aber wie viel daran fehlte, daß er der Philosophie seines Lehrers und Freundes Platon so viel Ehre gemacht hätte, davon finden wir in den eigenen Briefen dieses Weisen und in dem Betragen Dions in den wichtigsten Auftritten seines Lebens die zuverlässigsten Beweise. Niemals konnte er es dahin bringen, oder vielleicht gefiel es ihm nicht den Versuch zu machen (und beides läuft auf Eines hinaus), diese Austerität, diese Unbiegsamkeit, diese wenige Gefälligkeit im Umgang, welche die Herzen von ihm zurückstieß, zu überwinden. Vergeblich ermahnte ihn Plato den Grazien zu opfern: Dion bewies durch seine Ungelehrigkeit über diesen Punkt, daß die Philosophie, ordentlicher Weise, uns nur die Fehler vermeiden macht, zu denen wir keine Anlage haben, und uns nur in solchen Tugenden befestiget, zu denen wir ohnehin geneigt sind.Indessen war er nichtsdestoweniger derjenige, auf welchen ganz Sicilien die Augen gerichtet hatte. Die Weisheit seines Betragens, seine Abneigung vor allen Arten der sinnlichen Ergötzungen, seine Mäßigung, Nüchternheit und gute Haushaltung, erwarben ihm desto mehr Hochachtung, je stärker sie von der zügellosen Schwelgerei und Verschwendung des Tyrannen abstachen. Man sah, daß er allein im Stande sey, dem Dionysius das Gegengewicht zu halten; und man erwartete das Beste von ihm, es sey nun daß er sich der Regierung für sich selbst, oder für die jungen Söhne seiner Schwester bemächtigen, oder daß er sich begnügen würde, der Mentor des Dionysius zu seyn.Die natürliche Unempfindlichkeit Dions gegen die Reizungen der Wollust, welche den Syrakusern so viel Vertrauen zu ihm gab, blendete in der Folge auch die Griechen des festen Landes, zu denen er sich vor dem Tyrannen zu flüchten genöthiget wurde. Selbst die Akademie zu Athen, diese damals so berühmte Schule der Weisheit, scheint stolz darauf gewesen zu seyn, einen so nahen Verwandten des (wiewohl unrechtmäßigen) Beherrschers von Sicilien unter ihre Pflegsöhne zählen zu können. Die königliche Pracht, welche er zu Athen in seiner Lebensart affectirte, war in ihren Augen (so gewiß ist es, daß auch weise Augen manchmal durch die Eitelkeit verfälscht werden) der Ausdruck der innern Majestät seiner Seele. Sie schlossen ungefähr nach eben der Logik, welche einen Verliebten von den Reizungen seiner Dame auf die Güte ihres Herzens schließen macht. Sie sahen nicht, oder wollten nicht sehen, daß eben dieser von den republicanischen Sitten so weit entfernte Pomp ein sehr deutliches Zeichen war, daß es weniger einer Erhabenheit über die gewöhnlichen Schwachheiten der Großen und Reichen, als einem Mangel an Begierden zuzuschreiben sey, wenn derjenige gegen die Vergnügungen der Sinne gleichgültig war, welcher Eitelkeit genug hatte, durch ein Gepränge mit Reichthümern, deren er sich, als der Früchte seiner Verbindung mit der Familie des Tyrannen, vielmehr zu schämen hatte, sich unter einem freien Volke unterscheiden zu wollen.Doch indem ich diese Gelegenheit ergreife, die übertriebenen Lobsprüche zu mäßigen, welche an die Günstlinge des Glückes verschwendet zu werden pflegen, sobald sie einigen Schimmer der Tugend von sich werfen, läugne ich keinesweges, daß Dion, so wie er war, einen Thron eben so würdig erfüllt haben würde, als wenig er sich schickte, mit einem durch lange Gewohnheit der Fesseln entnervten Volke — in dem Mittelstande zwischen Sklaverei und Freiheit, worein er dasselbe in der Folge durch die Vertreibung des Dionysius setzte —so sanft und behutsam umzugehen, als es hatte geschehen müssen, wenn seine Unternehmung für die Syrakuser und ihn selbst glücklich hätte ausschlagen sollen. Plutarch vergleicht dieses Volk, in dem Zeitpunkte, da es das Joch der Tyrannei abzuschütteln anfing, sehr glücklich "mit Leuten, die von einer langwierigen Krankheit wieder aufstehen, und, ungeduldig sich der Vorschrift eines klugen Arztes in Absicht ihrer Diät zu unterwerfen, sich zu früh wie gesunde Leute betragen wollen." Aber darin können wir nicht mit ihm einstimmen, daß Dion dieser geschickte Arzt für sie gewesen sey. Sehr wahrscheinlich hat die Platonische Philosophie selbst, von deren idealischer Sitten-'und Staatslehre er ein großer Bewunderer war, dazu beigetragen, daß er weniger als ein andrer zum Arzt eines äußerst verdorbenen Volks geeigenschaftet war. Vielfältige Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Völkern haben es erwiesen, daß die Dion, die Cato, die Brutus, die Algernon Sidney allemal unglücklich seyn werden, wenn sie einen von alten bösartigen Schaden entkräfteten und zerfressenen Staatskörper in den Stand der Gesundheit wieder herzustellen versuchen. Zu einer solchen Operation gehören viele Gehülfen; und Männer von einer so außerordentlichen Art sind unter einer Million Menschen allein. Es ist genug, wenn das Ziel (wie Solon von seinen Gesetzen sagte) das beste ist, das in den vorliegenden Umständen zu erreichen seyn mag; und sie wollen immer das beste, das sich denken läßt. Alle Mittel, welche zugleich am gewissesten und ehesten zu diesem Ziele führen, sind die besten; und sie wollen keine andern gebrauchen, als welche, nach den strengsten Regeln einer oft allzuspitzfindigen Gerechtigkeit und Güte, rechtmäßig und gut sind. Löblich, vortrefflich, göttlich! — rufen die schwärmerischen Bewunderer der heroischen Tugend. Wir wollten gern mitrufen, wenn man uns nur erst zeigen wollte, was jene überspannte Tugend dem menschlichen Geschlecht jemals geholfen habe. — Dion, zum Exempel, von den erhabenen Ideen seines Lehrmeisters eingenommen, wollte dem befreiten Syrakus eine Regierungsform geben, welche so nah als möglich an die Platonische Republik gränzte, — und verfehlte darüber, zu seinem eignen Untergang, die Mittel, ihr diejenige zu geben, deren sie fähig war. Brutus half den größten der Sterblichen, den fähigsten eine ganze Welt zu regieren, der jemals geboren worden ist, ermorden, bloß weil ihm, in Rücksicht auf die Mittel wodurch er zur höchsten Gewalt gelanget war, die Definition eines Tyrannen zukam. Brutus wollte die Republik wieder herstellen. Noch einen Dolch für den Marcus Antonius (wie es der nicht so erhaben, aber richtiger denkende Cassius verlangte), so wären Ströme von Blut, so wäre das edelste Blut von Rom, das Leben der besten Bürger gesparet worden, und der glückliche Ausgang der ganzen Unternehmung versichert gewesen! Hätte sich derjenige, der dem vermeinten allgemeinen Besten seines Vaterlandes ein so großes Opfer gebracht hatte als Cäsar war, ein Bedenken machen sollen, seinem majestätischen Schatten einen Antonius nachzuschlagen? —Dieß hätte er thun müssen, um eine That, — welche (weil sie unglücklich war) bei seinen Zeitgenossen ein verabscheuungswürdiger Meuchelmord hieß, und der unparteiischern Nachwelt (im gelindesten Lichte betrachtet) wahnsinniger Enthusiasmus scheinen muß, — zu einer so glorreichen Unternehmung zu machen, als jemals die große Seele eines Römers geschwellt hatte. Aber Brutus hatte Bedenklichkeiten, welche ihm eine unzeitige Güte eingab; sein Ansehen entschied; Antonius bedankte sich für sein Leben, und begrub den Platonischen Brutus unter den Trümmern der auf ewig umgestürzten Republik.Wir haben uns vielleicht zu lange bei dieser Betrachtung aufgehalten; aber die Beobachtung, die uns dazu verleitet hat, so alt sie ist, scheint uns wichtig und an praktischen Folgerungen fruchtbar, deren Nutzbarkeit sich über alle Stände ausbreiten, und besonders bei denjenigen, welche mit der Regierung und moralischen Disciplinirung der Menschen beschäftiget sind, sich vorzüglich äußern würde, wenn sie besser eingesehen und mit eben so viel Redlichkeit als Klugheit angewendet würden. Vielleicht würden die Augen derjenigen, die weder durch einen Nebel, noch durch gefärbte Gläser sehen, mit dem weinerlich-lächerlichen Schauspiel von so vielen ehrlichen Leuten verschont bleiben, die aus allen Kräften und mit der feierlichsten Ernsthaftigkeit leeres Stroh dreschen, und, wenn sie ihr Leben lang gedroschen haben, sich sehr verwundern, daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt. Der patriotische Phlegon würde sich mit dem allzuhitzigen Eifer, seine in allen Theilen verdorbene Republik durch eben so hitzige Mittel wieder gesund zu machen, nicht so viel Verdruß zuziehen, und durch diesen Verdruß und die Vergeblichkeit seiner undankbaren Bemühungen nicht veranlasset werden, sich zu Tode — zu trinken. Der redliche Makrin würde sich nicht, auf Unkosten seiner Freiheit und vielleicht seines Lebens, in den Kopf setzen, aus einem Caligula einen Marc Aurel zu machen. Der wohlmeinende Diophant würde einsehen, wie wenig Hoffnung er sich zu machen habe, Leute, die noch sehr weit entfernt sind erträgliche Menschen zu seyn, in eine Engel-ähnliche Vollkommenheit hinein zu declamiren. — Doch genug von einer Materie, welche, um gehörig ausgeführt zu werden, eine eigene Abhandlung erforderte!
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Drittes Capitel.

Ein Beispiel, daß die Philosophie so gut zaubern kann als die Liebe.

Dion sah die Ausschweifungen des Dionysius mit der Verachtung eines kaltsinnigen Philosophen an, der keine Lust hatte daran Theil zu nehmen, und mit dem Verdruß eines Staatsmannes, der sich in Gefahr sah, durch einen Schwarm junger Wollüstlinge, Lustigmacher, Pantomimen und Narren, von dem Ansehen und dem Antheil an der Regierung, die ihm gebührten, nach und nach verdrängt zu werden. Bei solcher Bewandtniß hatte der Patriotismus das schönste Spiel. Der große Beweggrund des allgemeinen Wohls, die uneigennützige Betrachtung der verderblichen Folgen, welche aus einer so schlimmen Beschaffenheit des Hofes über den ganzen Staat sich verbreiten mußten, wurden durch jene geheimern Triebfedern so kräftig unterstützt, daß er den festen Entschluß faßte, alles zu versuchen um seinen Verwandten auf einen bessern Weg zu bringen.Er urtheilte, den Grundsätzen Platons zufolge, daß die Unwissenheit des Dionysius, und die Gewohnheit unter dem niedriggesinntesten Pöbel (es waren gleichwohl junge Herren von sehr gutem Adel darunter) zu leben, die Hauptquelle seiner verdorbenen Neigungen sey. Diesemnach hielt er sich seiner Verbesserung versichert, wenn er die beste Gesellschaft um ihn her versammeln, und ihm diese edle Wissensbegierde einflößen könnte, welche bei denen, die von ihr begeistert sind, die animalischen Triebe, wo nicht gänzlich zu unterdrücken, doch gewiß zu dämmen und zu mäßigen pflegt. Er ließ also keine Gelegenheit vorbei (und die unzähligen Fehler, welche täglich in der Staatsverwaltung gemacht wurden, ließen ihm daran keinen Mangel) dem Tyrannen die Nothwendigkeit vorzustellen, Männer von einem großen Ruf der Weisheit um sich zu haben. Er unterstützte diese Vorstellung mit so vielen Beweggründen, daß unter einer Menge sehr erhabener, die an einem Dionysius verloren gingen, sich endlich einer fand, der seine Eitelkeit interessirte. Doch selbst dieser schlüpfte nur leicht an den Ohren des jungen Fürsten hin; und, wiewohl er gewohnt war seinem beschwerlichen Oheim immer Recht zu geben, so würde doch schwerlich jemals mit Ernst an die Sache gedacht worden seyn, wenn nicht ein kleiner physischer Umstand dazu gekommen wäre, der den Vorstellungen des weisen Dion eine Stärke gab, die nicht ihre eigene war.Dionysius hatte (wir wissen nicht aus welcher Veranlassung) seinem Hofe ein Fest gegeben, welches, nach der Versicherung der Geschichtschreiber, drei Monate in Einem fort dauerte. Die ausschweifendste Einbildungskraft kann nicht weiter gehen, als Pracht und Schwelgerei bei diesem langwierigen Bacchanal getrieben wurden. Denn diesen Namen verdiente es um so mehr, weil, nachdem alle andern Erfindungen erschöpft waren, die letzten Tage des dritten Monats, welche in die Weinlese fielen, zu einer Vorstellung des Triumphes des Bacchus und seiner ganzen poetischen Geschichte angewandt wurden. Dionysius, der durch eine Anspielung auf seinen Namen den Bacchus (Dionysos) vorstellte, suchte einen besondern Ruhm darin, sein Urbild selbst, wo möglich, hinter sich zurückzulassen. Die Quellen der Natur wurden erschöpft, und die ohnmächtige Begierde ihre Gränzen zu erweitern — Doch, wir wollen kein Gemälde machen, das bei Gegenständen dieser Art die Absicht, Abscheu zu erwecken, verfehlen könnte. Genug, daß Dionysius mit den Silenen, Nymphen, Faunen und Satyrn, seinen Gehülfen, die Tiberen und Neronen der spätern Zeiten in die Unmöglichkeit setzte, etwas mehr als bloße Copisten von ihm zu seyn.Wer sollte sich vorstellen, daß aus einer so schlammigen Quelle die heftige Liebe der Philosophie, und eine Reformation, welche ganz Sicilien und Griechenland in Erstaunen setzte, habe entspringen können? — Aber im Himmel und auf Erden sind eine Menge Dinge, wovon kein Wort in unserm Compendium steht, —sagt Shakespeare's Hamlet zu seinem Schulfreunde Horatio, — und sagt eine große Wahrheit!Das unbändigste Temperament kann, so wie es Dionysius anfing, zu Paaren getrieben werden. Der neue Bacchus, von der Unmäßigkeit, womit er eine so lange Zeit den Göttern der Freude geopfert hatte, erschöpft, sah sich endlich genöthigt aufzuhören. Zum erstenmale seit dem berauschenden Augenblicke, da er sich im Besitz der Gewalt, allen seinen Leidenschaften den Zügel zu lassen, sah, fühlte er ein Leeres in sich, in welches er mit Grauen hinein schaute. Zum erstenmal fühlte er sich geneigt, Betrachtungen anzustellen, wenn er — das Vermögen dazu gehabt hätte. Aber mit einem lebhaften Unwillen über sich selbst und alle diejenigen, die ihn zu einem Thiere zu machen geholfen hatten, erfuhr er itzt, daß er nichts in sich habe, was er dem Ekel vor allen Vergnügungen der Sinne, und der langen Weile, die ihn verzehrte, entgegen stellen könnte. Was er indessen sehr lebhaft fühlte, war dieses: daß er mitten unter Gegenständen, die ihm eine scheinbare Größe und Glückseligkeit ankündigten, sich selbst gegenüber eine sehr elende Figur mache. Kurz, alle Fibern seines Wesens hatten so sehr nachgelassen, daß er in eine Art von dummer Schwermuth verfiel, aus welcher ihn alle seine Höflinge nicht heraus lachen, und alle seine Tänzerinnen nicht heraus tanzen konnten.In diesem kläglichen Zustande, den die natürliche Ungeduld seines Temperaments unerträglich machte, warf er sich in die Arme Dions, welcher während der letzten drei Monate in ein entferntes Landgut sich zurückgezogen hatte. Er hörte seine Vorstellungen mit einer Aufmerksamkeit an, deren er sonst niemals fähig gewesen war, und ergriff mit Verlangen die Vorschläge, welche ihm dieser Weise that, um so groß und glückselig zu werden, als er itzt in seinen eigenen Augen verächtlich und elend war. Man kann sich also vorstellen, daß er nicht die mindesten Schwierigkeiten machte, den Plato unter allen Bedingungen, welche Dion in dessen Namen nur immer fordern konnte, an seinen Hof zu berufen; er, der in dem Zustande, worin er war, sich von dem ersten besten Priester der Cybele hätte überreden lassen, mit Aufopferung des werthern Theils seiner selbst, in den Orden der Korybanten zu treten.Dion wurde, bei so starken Anscheinungen zu einer vollkommenen Sinnesänderung des Tyrannen, von seiner Philosophie nicht wenig betrogen. Er schloß zwar sehr richtig, daß die Rasereien des letzten Festes Gelegenheit dazu gegeben hätten. Aber darin irrte er sehr, daß er, gewohnt, die Seele, und was in ihr vorgeht, allzu sehr von der Maschine, in welche sie eingeflochten ist, abzusondern, nicht gewahr wurde, daß die guten Dispositionen des Dionysius ganz allein von einem körperlichen Ekel vor den Gegenständen, worin er bisher sein einziges Vergnügen gesucht hatte, herrührten. Er hielt die natürlichen Folgen der Ueberfüllung für Wirkungen der Ueberzeugung, worin er nunmehr stehe, daß die Freuden der Sinne nicht glücklich machen könnten. Er setzte voraus, daß eine Menge Veränderungen in seiner Seele vorgegangen seyen, woran Dionysens Seele weder gedacht hatte, noch zu denken vermögend war. Kurz, er beurtheilte (wie wir meistens zu thun pflegen) die Seele eines andern nach seiner eigenen, und gründete auf diese Voraussetzung ein Gebäude von Hoffnungen, welches zu seinem großen Erstaunen zusammenfiel, sobald Dionysius — wieder Nerven hatte.Die Berufung des Plato war eine Sache, an welcher schon geraume Zeit gearbeitet worden war. Allein der Philosoph hatte große Schwierigkeiten gemacht, und würde (ungeachtet des Zuspruchs seiner Freunde, der Pythagoräer in Italien, welche die Bitten Dions unterstützten) auf seiner Verweigerung bestanden seyn, wenn die erfreulichen Nachrichten, welche Dion von der glücklichen Gemüthsverfassung des Tyrannen gab, und die dringenden Einladungen, die in desselben Namen an ihn ergingen, ihm nicht Hoffnung gemacht hätten, der Schutzgeist, Siciliens, und vielleicht der Stifter einer neuen Republik (nach dem Modell derjenigen die er uns in seinen Schriften hinterlassen hat) werden zu können.Plato erschien also am Hofe zu Syrakus mit aller Majestät eines Weisen, der sich durch die Größe seines Geistes berechtiget hält, die Großen der Welt für etwas weniger als seinesgleichen anzusehen. Denn, ob es gleich damals noch keine Stoiker gab, so pflegten doch die Philosophen von Profession bereits sehr bescheiden zu verstehen zu geben, daß sie in ihren eigenen Augen eine höhere Classe von Wesen ausmachten, als die übrigen Erdenbewohner. Dieses Mal hatte die Philosophie das Glück eine Figur zu machen, deren Glanz der hohen Einbildung ihrer Günstlinge gemäß war. Plato wurde wie ein Gott aufgenommen, und wirkte durch seine bloße Gegenwart eine Veränderung, welche, in den Augen der erstaunten Syrakuser, nur ein Gott hervorzubringen mächtig genug schien. In der That glich das neue Schauspiel, welches sich allen. die diesen Hof vor wenigen Wochen gesehen hatten, darstellte, einem Werke der Zauberei. Aber — O! wie natürlich finden wir auch das Außerordentlichste, sobald wir die wahren Triebräder davon kennen!Der erste Schritt, welchen der göttliche Plato in den Palast des Dionysius that, wurde durch ein feierliches Opfer, und die erste Stunde, worin sie sich mit einander besprachen, durch eine Verbesserung, die sich sogleich über den ganzen Hof ausbreitete, bezeichnet. In wenigen Tagen glaubte plato in seiner Akademie zu Athen zu seyn, so bescheiden und eingezogen sah alles in dem Hause des Prinzen aus. Die Asiatische Verschwendung machte auf einmal der philosophischen Einfalt Platz. Die Vorzimmer, welche kurz zuvor von schimmernden Gecken und allen Arten lustig machender Personen gewimmelt hatten, stellten itzt akademische Säle vor, wo man nichts als langbärtige Weise sah, welche einzeln und paarweise, mit gesenktem Haupt und gerunzelter Stirne, in sich selbst und in ihre Mäntel eingehüllt, auf und ab schritten, bald alle zugleich, bald gar nichts, bald nur mit sich selbst sprachen, und, wenn sie vielleicht gerade am wenigsten dachten, eine so wichtige Miene zogen, als ob der geringste unter ihnen mit nichts Kleinerm umginge, als die beste Gesetzgebung zu erfinden, oder den Gestirnen einen regelmäßigern Lauf anzuweisen. Die üppigen Bankette, bei denen Komus und Bacchus mit tyrannischem Scepter die ganze Nacht durch geherrschet hatten, verwandelten sich in Pythagorische Mahlzeiten, wo man sich an Gesprächen über die erhabensten Gegenstände des menschlichen Verstandes sättigte. Statt frecher Pantomimen und wollüstiger Flöten, ließen sich Hymnen zum Lob der Götter und der Tugend hören; und, um den Gaumen zum Reden anzufeuchten, trank man aus kleinen Sokratischen Bechern Wasser mit Wein vermischt.Dionysius faßte eine Art von Leidenschaft für den Philosophen. Plato mußte immer um ihn seyn, ihn aller Orten begleiten, zu allem seine Meinung sagen. Die begeisterte Einbildungskraft dieses sonderbaren Mannes, welche, vermöge der natürlichen Ansteckungskraft des Enthusiasmus, sich auch seinen Zuhörern mittheilte, wirkte so mächtig auf die Seele des Prinzen, daß er ihn nie genug hören konnte. Die Stunden däuchten ihn kürzer, wenn Plato sprach, als ehemals in der Gesellschaft der kunsterfahrensten Buhlerinnen. Alles, was der Weise sagte, war so schön, so erhaben, so wunderbar! erhob den Geist so weit über sich selbst! warf Strahlen von so göttlichem Licht in das Dunkel der Seele! In der That konnte es nicht anders seyn, da die gemeinsten Ideen der Philosophie für Dionysen den frischesten Reiz der Neuheit hatten. Und nehmen wir zu allem diesem noch, daß er das Wenigste recht verstand (ob er gleich, wie viele andere seinesgleichen, zu eitel war es merken zu lassen), noch alles verstehen konnte, weil der begeisterte Plato sich in der That zuweilen selbst nicht allzu wohl verstand; bedenken wir die erstaunliche Gewalt, die ein in schimmernde Bilder eingekleidetes mystisches Räthsel über die Unwissenden zu haben pflegt: so werden wir begreifen, daß niemals etwas natürlicher war, als der außerordentliche Geschmack, welchen Dionysius an dem Gott der Philosophen (wie ihn Cicero betitelt) fand; zumal da er noch überdieß ein seiner stattlicher Mann war, und sehr wohl zu leben wußte.Ohne daß sich die Ueberredungskraft des göttlichen Plato, oder die Contagion der philosophischen Schwärmerei darein mischte, theilte sich die plötzliche Wissensbegierde des Dionysius, sobald man sah daß es ihm Ernst war, allen seinen Höflingen mit. Nicht, als ob ihnen viel daran gelegen gewesen wäre, ihre kleinen Affenseelen nach dem göttlichen Modell der Ideen umzubilden, oder als ob sie sich darum bekümmert hätten, was in den überhimmlischen Räumen zu sehen sey: aber sie thaten doch dergleichen. Der Ton der Philosophie war nun einmal Mode. Man mußte Metaphysik in geometrischen Ausdrücken reden, um sich dem Fürsten angenehm zu machen. Man trug also am ganzen Hofe keine andern als philosophische Mäntel; alle Säle des Palasts waren, nach Art der Gymnasien, mit Sande bestreut, um mit allen den Dreiecken, Vierecken, Pyramiden, Achtecken und Zwanzigecken überschrieben zu werden, aus welchen Plato seinen Gott diese schöne Welt zusammensetzen läßt; alle Leute, bis auf die Köche, sprachen Philosophie, hatten ihr Gesicht in irgend eine geometrische Figur verzogen, und disputirten über Materie und Form, über das was ist und was nicht ist, über die beiden Enden des Guten und Bösen, und über die beste Republik.Alles dieß machte freilich ein ziemlich seltsames Aussehen, und konnte den Verdacht erwecken, als ob Plato an dem Syrakusischen Hofe vielmehr die Rolle eines aufgeblasenen Pedanten unter einem Haufen unbärtiger Schüler, als die Rolle eines Weisen gespielt habe, der sich einen großen Zweck vorgesetzt hat, und die Mittel dazu nach den Umständen des Orts, der Zeit und der Personen klüglich zu bestimmen weiß. Aber man würde sich irren. Er hatte an den lächerlichen Ausschweifungen der Hofleute wenig Antheil; ob er gleich ganz gern sah, daß diese unnützen Hummeln, welche er nicht auf einmal austreiben konnte, auf solche Spielwerke verfielen, die doch immer als eine Art von Vorübungen angesehen werden konnten, wodurch sie unvermerkt von ihren vorigen Gewohnheiten abgezogen, und durch den Geschmack an Wissenschaft zu der allgemeinen Verbesserung, welche er zu bewirken hoffte, vorbereitet wurden. Allein seine eigenen hauptsächlichsten Bemühungen bezogen sich unmittelbar auf den Dionysius selbst; und indem er ihn durch die Reizungen seines Umgangs und seiner Beredsamkeit zu humanisiren und an sich zu gewöhnen suchte, trachtete er, ohne es allzu deutlich zu erkennen zu geben, dahin, ihm die Verachtung seines vorigen Zustandes, die Liebe der Tugend, Begierden nach ruhmwürdigen Thaten, kurz, solche Gesinnungen einzuflößen, welche ihn, durch unmerkliche Grade, von sich selbst auf den Gedanken bringen würden, ein unrechtmäßiges Diadem von sich zu werfen, und sich an der Ehre, der Erste unter seinesgleichen zu seyn, genügen zu lassen.Die Anscheinungen ließen ihn den vollkommensten Erfolg hoffen. Dionys schien in wenigen Tagen nicht mehr der vorige Mann zu seyn. Seine Wissensbegierde, seine Gelehrigkeit gegen die Räthe des Philosophen, das Sanfte und Ruhige in seinem ganzen Betragen übertraf alles, was sich Dion von ihm versprochen hatte. Ganz Syrakus empfand sogleich die Folgen dieser glücklichen Veränderung. Er ging mit einer unglaublichen Behendigkeit von dem höchsten Grade des tyrannischen Uebermuths zu der Popularität eines Athenischen Archonten über. Er setzte alle Tage einige Stunden aus, um jedermann mit einnehmender Leutseligkeit anzuhören, nannte sie Mitbürger, wünschte sie alle glücklich machen zu können, fing sogar wirklich an verschiedene gute Anordnungen zu machen, und erweckte, durch so viele günstige Vorzeichen, die allgemeine Erwartung einer glückseligen Revolution, welche nun auf einmal der Gegenstand aller Wünsche und der Inhalt aller Gespräche unter dem Volke wurde.Es könnte genug seyn, gegen diejenigen, die eine so große und schnelle Verwandlung eines Fürsten, den wir als ein kleines Ungeheuer von Lastern und Ausschweifungen geschildert haben, unglaublich finden möchten, uns auf die einhellige Aussage der Geschichtschreiber zu berufen. Aber wir können noch mehr thun; es ist leicht, die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit derselben begreiflich zu machen. Aufmerksame Leser, welche einige Kenntniß des menschlichen Herzens besitzen, werden die Gründe hiezu in unsrer bisherigen Erzählung schon von selbst enthebt haben. In einem Gemüthszustande, worin die Leidenschaften schweigen, wo uns vor den Ergötzungen der Sinne ekelt, und der Mangel an angenehmen Eindrücken uns in einen beschwerlichen Mittelstand zwischen Seyn und Nichtseyn versenkt, — in einem solchen Zustande ist die Seele begierig, jeden Gegenstand zu umfassen, der sie aus diesem unleidlichen Stillstand ihrer Kräfte ziehen kann, und am besten aufgelegt, den Reiz sittlicher und intellectueller Schönheiten zu empfinden. Freilich würde ein trockner Zergliederer metaphysischer Begriffe sich nicht dazu geschickt haben, solche Gegenstände für einen Menschen zuzurichren, der zu einer scharfen Aufmerksamkeit eben so ungeduldig als unvermögend war. Allein die Beredsamkeit des Homers der Philosophen wußte sie auf eine so reizende Art für die Einbildungskraft zu verkörpern, wußte die Leidenschaften und innersten Triebe des Herzens so geschickt für sie ins Spiel zu setzen, daß sie nicht anders als gefallen und rühren konnten. Hierzu kam noch die Jugend des Tyrannen, welche seine noch nicht verhärtete Seele neuer Eindrücke fähig machte. Warum sollte es also nicht möglich gewesen seyn, ihm unter solchen Umständen auf etliche Wochen die Liebe der Tugend einzuflößen, da hierzu weiter nichts nöthig war, als seinen Neigungen unvermerkt andre Gegenstände an die Stelle derjenigen, deren er überdrüssig war, unterzuschieben? In der That war seine Bekehrung nichts andres, als daß er nunmehr, anstatt irgend einer Wollust athmenden Nymphe, ein schönes Phantom der Tugend umarmte, und, statt in Syrakusischem Weine, sich in Platonischen Ideen berauschte. Eben diese Eitelkeit, welche ihn vor weniger Zeit angetrieben hatte, mit dem Bacchus und einer andern unnennbaren Gottheit in die Wette zu eifern, kitzelte sich itzt durch die Vorstellung, als Regent und Gesetzgeber den Glanz der berühmtesten Männer vor ihm zu verdunkeln, die Augen der Welt auf sich zu heften, sich von allen bewundert, und von den Weisen selbst vergöttert zu sehen.Daß dieses Urtheil von der Bekehrung des Dionysius richtig sey, hat sich in der Folge nur zu sehr bewiesen; auch hätte man däucht uns, ohne die Gabe der Divination zu besitzen, voraus sehen können, daß eine so plötzliche Veränderung keinen Bestand haben werde. Aber wie sollten die in einer großen Angelgenheit verwickelten Personen fähig seyn, so gelassen und uneingenommen davon zu urtheilen, wie entfernte Zuschauer, welche das Ganze bereits vor sich liegen haben, und, bei einer kalten Untersuchung des Zusammenhangs aller Umstände, sehr leicht mit vieler Zuverlässigkeit beweisen, daß es nicht anders habe gehen können, als wie sie wissen daß es gegangen ist?Plato selbst ließ sich von den Anscheinungen betrügen, weil sie seinen Wünschen gemäß waren, und ihm zu beweisen schienen wie viel er vermöge. Die voreilige Freude über einen glücklichen Erfolg, dessen er sich schon versichert hielt, ließ ihm nicht zu, sich alle die Hindernisse, die seine Bemühungen vereiteln konnten, in der gehörigen Stärke vorzustellen, und in Zeiten darauf bedacht zu seyn, wie er ihnen zuvorkommen möchte. Gewohnt in den ruhigen Spaziergängen seiner Akademie unter gelehrigen Schülern idealische Republiken zu bauen, hielt er die Rolle, die er an dem Hofe zu Syrakus zu spielen übernommen hatte, für leichter als sie in der That war. Er schloß immer richtig aus seinen Prämissen; aber seine Prämissen setzten immer mehr voraus als war; und er bewies durch sein Exempel, daß keine Leute mehr durch den Schein der Dinge hintergangen werden, als eben diejenigen, welche ihr ganzes Leben damit zubringen, »inter silvas academî« dem was wahrhaftig ist, nachzuspähen.In der That hat man zu allen Zeiten gesehen, diß es den speculativen Geistern nicht geglückt ist, wenn sie sich aus ihrem philosophischen Kreise heraus auf irgend einen großen Schauplatz des großen thätigen Lebens gewagt haben. Und wie könnte es anders seyn, da sie gewohnt sind, in ihren Utopien und Atlantiden zuerst die Gesetzgebung zu erfinden, und erst wenn sie damit fertig sind, sich sogenannte Renschen zu schnitzeln, welche eben so richtig nach diesen Gesetzen handeln müssen, wie ein Uhrwerk durch den innerlichen Zwang seines Mechanismus die Bewegungen macht, welche der Künstler haben will? Es ist leicht genug zu sehen, daß es in der wirklichen Welt gerade umgekehrt ist. Die Menschen in derselben sind nun einmal wie sie sind; und der große Punkt ist, diejenigen, die man vor sich hat, nach allen Umständen und Verhältnissen so lange zu studiren, bis man so genau als möglich weiß, wie sie sind. Sobald man dieß weiß, so geben sich die Regeln, wonach sie behandelt werden müssen, von selbst; und dann erst ist es Zeit moralische Projecte zu machen! — Aber, o ihr großen Lichter unsers aufgeklärtesten Jahrhunderts, wann, glaubt ihr, daß diese Zeit für das Menschengeschlecht kommen werde?
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Viertes Capitel.

Philistus und Timokrates.

Während daß die Philosophie und die Tugend durch die Beredsamkeit eines einzigen Mannes eine so außerordentliche Veränderung der Scene an dem Hofe zu Syrakus hervorbrachen, waren die ehemaligen Vertrauten des Dionysius sehr weit davon entfernt, die Vortheile, welche sie von der vorigen Sinnesart dieses Prinzen gezogen hatten, so willig hinzugeben, als man es aus ihrem äußerlichen Bezeigen hatte schließet sollen. Als schlaue Höflinge wußten sie zwar ihren Unmuthüber die sonderbare Gunst, worin Plato bei demselben stand, künstlich zu verbergen. Gewohnt sich nach dem Geschmacke des Fürsten zu modeln, und alle Gestalten anzunehmen, unter welchen sie ihm gefallen, oder zu ihren geheimen Absichten gelangen konnten, hatten sie, sobald die neue Laune ihres Herrn bekannt war, die ganze Außenseite des philosophischen Enthusiasmus mit eben der Leichtigkeit angenommen, womit sich eine Maske angezogen hätten. Sie waren die ersten, die dem übrigen Hofe hierin mit ihrem Beispiele vorgingen. Sie verdoppelten ihre Aufwartung bei dem Prinzen Dion, dessen Ansehen seit Platons Ankunft sehr gestiegen war. Sie waren die erklärten Bewunderer des Philosophen. Sie lächelten ihm Beifall entgegen, sobald er nur den Mund aufthat. Alle seine Vorschläge und Maßnehmungen hießen ihnen bewundernswürdig. Sie wußten nichts daran auszusetzen; oder, wenn sie ja Einwürfe machten, so war es nur um sich belehren zu lassen, und, auf die erste Antwort, sich einer höhern Weisheit überwunden zu geben. Sie suchen seine Freundschaft mit einem Eifer, worüber sie den Fürsten selbst zu vernachlässigen schienen; und besonders ließen sie sich angelegen seyn, die Vorurtheile zu zerstreuen, die man, von der vorigen Staatsverwaltung her, wider sie gefaßt haben könnte.Durch diese Kunstgriffe erreichten sie zwar ihre Absicht, den weisen Plato sicher zu machen, nicht so vollkommen, daß er nicht immer einiges gerechtes Mißtrauen in die Aufrichtigkeit ihres Bezeigens gesetzt hätte: allein, da sie gar nicht zweifelten, daß er sie beobachten würde, so war es ihnen leicht sich so zu betragen, daß er mit aller seiner Scharfsinnigkeit — nichts sah. Sie vermieden alles, was ihrer Ausführung einen Schein von Zurückhaltung, Zweideutigkeit und Geheimniß hätte geben können, und nahmen ein so natürliches und einfaches Wesen an, daß man entweder ihresgleichen seyn oder betrogen werden mußte. Diese schöne Kunst ist eine von denen, in welchen nur Hofleuten gegeben ist Meister zu seyn. Man könnte die Tugend selbst herausfordern, in einem höhern Grad und mit besserm Anstand Tugend zu scheinen, als diese Leute es in ihrer Gewalt haben, die eigenste Miene, Farbe, und äußerliche Grazie derselben an sich zu nehmen, —sobald es ein Mittel zu ihren Absichten werden kann.Alles bisher Gesagte galt auf eine ganz vorzügliche Weise von zwei Männern, welche bei dieser Veränderung des Tyrannen am meisten zu verlieren hatten. Philias war bisher der vertrauteste unter seinen Ministern, und Timokrates sein Liebling gewesen. Beide hatten sich mit einer Eintracht, welche ihrer Klugheit Ehre machte, in sein Herz, in die höchste Gewalt (wozu er nur seinen Namen hergab) und in einen beträchtlichen Theil seiner Einkünfte getheilt. Itzt zog die gemeinschaftliche Gefahr das Band ihrer Freundschaft noch enger zusammen. Sie entdeckten einander ihre Besorgnisse, ihre Bemerkungen, ihre Anschläge. Sie redeten die Maßregeln mit einander ab, die in so kritischen Umständen genommen werden mußten: und, da sie die schwache Seite des Tyrannen besser kannten, als irgend ein andrer, so gingen sie mit so vieler Schlauheit zu Werke, daß es ihnen nach und nach glückte, ihn gegen Platon und Dion einzunehmen, ohne daß er merkte, was sie im Schilde führten.Wir haben schon erwähnt, daß die Syrakuser (vermöge einer Eigenschaft, welche aller Orten das Volk charakterisirt) der Hoffnung, durch Platons Vermittlung ihre alte Freiheit wieder zu erlangen, sich mit einer so voreiligen Freude überließen, daß die bevorstehende Staatsveränderung gar bald der Inhalt aller Gespräche wurde.In der That ging die Absicht Dions bei Berufung seines Freundes auf nichts Geringeres. Beide waren gleich erklärte Feinde der Tyrannie und der Demokratie. Denn sie hielten für ausgemacht (mit welchem Grunde wollen wir hier nicht entscheiden), daß beide, wiewohl unter verschiedenen Gestalten und durch verschiedene Wege, am Ende in Einem Punkte, nämlich in Mangel der Ordnung und Sicherheit, in Unterdrückung und Sklaverei, zusammen liefen, und daß der ganze Unterschied am Ende darin bestehe, daß in der ersten nur ein Einziger, in der andern hingegen der roheste, unverständigste unb schlechteste Theil des Volks — der Tyrann sey. Sie waren beide für diejenige Art der Aristokratie eingenommen, worin das Volk zwar vor aller Unterdrückung hinlänglich sicher gestellt, folglich die Gewalt der Edeln, oder (wie man bei den Griechen sagte) der Besten, durch unzerbrechliche Ketten gefesselt ist; hingegen die Staatsverwaltung in den Händen einer kleinern Anzahl ist, welche dem ganzen aristokratischen Senat, als dem Inhaber der höchsten Gewalt, eine genaue Rechenschaft abzulegen haben. Es war also wirklich ihr Vorhaben, die Tyrannie (oder, was man zu unsern Zeiten eine uneingeschränkte Monarchie nennt) aus dem ganzen Sicilien zu verbannen, und die Verfassung dieser Insel in die vorbemeldete Form zu gießen. Dem Dionysius zu gefallen, oder vielmehr, weil nach Platons Meinung die vollkommenste Staatsform eine Zusammensetzung aus der Monarchie, Aristokratie und Demokratie seyn mußte, wollten sie ihrer neuen Republik zwei Könige geben, welche in derselben eben das vorstellen sollten, was die Könige in Sparta; und Dionysius sollte einer von denselben seyn. Dieses waren ungefähr die Grundlinien ihres Entwurfs. Sie ließen keine Gelegenheit vorbei, dem Prinzen die Vortheile einer gesetzmäßigen Regierung anzupreisen: aber sie waren zu klug, von einer so kitzlichen Sache, als die Einführung einer republicanischen Verfassung war, vor der Zeit zu reden, und den Tyrannen, eh' ihn Plato vollkommen zahm und bildsam gemacht haben würde, durch eine unzeitige Entdeckung ihrer Absichten in seine natürliche Wildheit zurück zu schrecken.Unglücklicher Weise war das Volk so vieler Mäßigung nicht fähig, und dachte auch ganz anders über den Gebrauch, den es von seiner Freiheit machen wollte. Ein jeder hatte dabei eine gewisse Absicht, die er noch bei sich behielt, und die, wie gewöhnlich, auf irgend einen Privatvortheil ging. Jeder hielt sich für mehr als fähig, dem gemeinen Wesen gerade in dem Posten zu dienen, wozu er die wenigste Fähigkeit hatte, oder hatte sonst seine kleinen Forderungen zu machen, welche er schlechterdings bewilliget haben wollte. Die Syrakuser verlangten also eine Demokratie; und da sie sich ganz nahe bei dem Ziel ihrer Wünsche glaubten, so sprachen sie laut genug davon, daß Philistus und seine Freunde Gelegenheit bekamen, den Tyrannen aus seiner süßen Platonischen Träumerei aufzuwecken, und zu sich selbst zurückzurufen.Das erste, was diese getreuen Anhänger der alten Verfassung thaten, war, daß sie ihm die Gesinnungen des Volks, und die zwar von außen noch nicht merklich in die Augen fallende, aber innerlich desto stärker gährende Bewegung desselben, mit sehr lebhaften Farben, und mit ziemlicher Vergrößerung der Umstände. vormalten. Sie thaten dieß mit vieler Vorsichtigkeit, in gelegenen Augenblicken, nach und nach, und auf eine solche Art, daß es dem Dionysius scheinen mußte, als ob ihm endlich die Augen von selbst aufgingen. Dabei versäumten sie keine Gelegenheit, den Plato und den Prinzen Dion bis in die Wolken zu erheben. Besonders sprachen sie in Ausbrüten, welche von der schlauesten Bosheit gewählt wurden, von der außerordentlichen Hochachtung, in welche sich diese Männer bei dem Volke setzten. Um den Tyrannen desto aufmerksamer zu machen, wußten sie es, durch tausend geheime Wege, wobei sie selbst nicht zum Vorschein kamen, dahin einzuleiten, daß häufige und zahlreiche Privatversammlungen in der Stadt angestellt wurden, wozu Dion und Plato, oder doch immer jemand von den besondern Vertrauten des einen oder des andern, eingeladen wurde. Diese Versammlungen waren zwar nur auf Gastmähler und freundschaftliche Ergötzungen angesehen: aber sie gaben doch dem Philippus und seinen Freunden Gelegenheit, so davon zu reden, daß sie den Schein politischer Zusammenkünfte bekamen; und dieß war alles was sie wollten.Durch diese und andre dergleichen Kunstgriffe gelang es ihnen endlich, dem Dionysius Argwohn beizubringen. Er fing an, in die Aufrichtigkeit seines neuen Freundes ein desto größeres Mißtrauen zu setzen, da er über das besondere Verständniß, welches er zwischen ihm und dem Dion wahrnahm, eifersüchtig war. Um desto eher ins Klare zu kommen, hielt er für das Sicherste, den seit einiger Zeit vernachlässigten Timokrates wieder an sich zu ziehen, und, sobald er sich versichert hatte, daß er wieder auf seine Ergebenheit zählen könne, ihm seine Wahrnehmungen und geheimen Besorgniße zu entdecken. Der schlaue Günstling stellte sich anfangs, als ob er nicht glauben könne, daß die Syrakuser im Ernste mit einem solchen Vorhaben umgehen sollten! "Wenigstens (sagte er mit der ehrlichsten Miene von der Welt) könne er sich nicht vorstellen, daß Plato und Dion den mindesten Antheil daran haben sollten. Indessen müsse er freilich gestehen, daß, seitdem der erste sich am Hofe befinde, die Syrakuser von einem seltsamen Geiste getrieben, und zu den ausschweifenden Einbildungen, welche sie sich zu machen schienen, vielleicht durch das außerordentliche Ansehen verleitet würden, worin dieser Philosoph bei dem Prinzen stehe. Es sey nicht unmöglich, daß die Republicanischgesinnten sich Hoffnung machten, Gelegenheit zu finden, während der Hof die Gestalt einer Akademie gewänne, dem Staat unvermerkt die Gestalt einer Demokratie zu geben. Indessen setze er doch nicht Vertrauen genug in seine ergene Einsicht, seinem Herrn und Freunde in so schlüpfrigen Umständen einen sichern Rath zu geben. Philistus, dessen Treue dem Prinzen längst bekannt sey, würde durch seine Erfahrenheit in Staatsgeschäften unendliche Mal geschickter seyn, einer Sache von dieser Art auf den Grund zu sehen."Dionysius hatte wenig Lust, sich einer Gewalt zu begeben, deren Werth er, so wie seine Fibern wieder elastischer wurden, von Tag zu Tag wieder stärker zu empfinden begann. Die Einstreuungen seines Günstlings thaten also ihre ganze Wirkung. Er trug ihm auf, mit der nöthigen Vorsichtigkeit den Philistus noch in der nämlichen Nacht in sein Cabinet zu führen, um sich über diese Dinge mit ihm zu besprechen, und die Gedanken desselben zu vernehmen. Es geschah. Philistus vollendete was Timokrates angefangen hatte. Er entdeckte dem Prinzen alles, was er beobachtet zu haben vorgab; nämlich gerade so viel, als nöthig war, um ihn in den Gedanken zu bestärken, daß eine geheime Verschwörung zu einer Staatsveränderung im Werke sey, welche zwar noch nicht zur Reife gekommen, aber doch so beschaffen sey, daß sie Aufmerksamkeit verdiene. Und wer kann der Urheber einer solchen Verschwörung seyn? fragte Dionysius.Hier stellte sich Philistus verlegen. "Er hoffe nicht, sagte er, daß es schon so weit gekommen sey; Dion bezeige so gute Gesinnungen für den Prinzen." — Rede aufrichtig, wie du denkst, fiel ihm Dionysius ein; was hältst du von diesem Dion? Keine Complimente! Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, daß er meiner Schwester Mann ist; ich weiß es nur zu wohl, und ich traue ihm nichts desto besser. Er ist ehrgeizig — "Das ist er" — Finster, zurückhaltend, in sich selbst eingeschlossen — "In der That ist er das (nahm Philistus das Wort), und wer ihn genau beobachtete, ohne vorhin eine bessere Meinung von ihm gefaßt zu haben, würde sich des Argwohns kaum erwehren können, daß er mißvergnügt sey, und Gedanken in sich selbst ausarbeite, die er nicht für gut befinde andern mitzutheilen." — Glaubst du das, Philistus? (fiel der Prinz ein) Ich habe immer so von ihm gedacht. Wenn Syrakus unruhig ist und mit Neuerungen umgeht, so darfst du versichert seyn, daß Dion die Triebfeder davon ist. Wir müssen ihn genauer beobachten! — "Wenigstens ist es sonderbar (fuhr Philistus fort), daß er seit einiger Zeit so eifrig ist sich der Freundschaft der angesehensten Bürger zu versichern." (Hier führte er einige Umstände an, welche, durch die Wendung die er ihnen gab, seine Wahrnehmung bestätigen konnten.) "Wenn ein Mann von solcher Wichtigkeit, wie Dion, sich herabläßt eine Popularität anzunehmen, die so gänzlich wider seinen Charakter ist; so kann man glauben, daß er Absichten hat: und wenn Dion Absichten hat, so gehen sie gewiß auf keine Kleinigkeiten. Was es aber auch seyn mag, so bin ich gewiß (setzte er mit einer bedeutungsvollen Miene hinzu), daß Platon, ungeachtet der engen Freundschaft, die zwischen ihnen obwaltet, zu tugendhaft ist, um an heimlichen Anschlägen gegen einen Prinzen, der ihn mit Ehre und Wohlthaten überhäuft, Theil zu nehmen." — Soll ich dir sagen was ich denke? erwiederte der Prinz. Diese Philosophen, von denen man so viel Wesens macht, sind eine höchst unbedeutende Art von Geschöpfen. In der That, ich sehe nicht, daß an ihren Speculationen so viel gefährliches seyn sollte, als die Leute sich einbilden. Ich liebe, zum Exempel, diesen Platon, weil er angenehm im Umgang ist. Er hat sich seltsame Dinge in den Kopf gesetzt; man könnte sich's nicht schnakischer träumen lassen; aber eben das belustigt mich. Und bei allem dem muß man ihm den Vorzug lassen, daß er schon spricht. Es hört sich ihm recht angenehm zu, wenn er euch von der alten Insel Atlantis und von den Sachen in der andern Welt eben so umständlich und zuversichtlich spricht, als ob er mit dem nächsten Marktschiffe aus dem Mond angkommen wäre. (Hier lachten die beiden Vertrauten, als ob sie nicht aufhören könnten, über einen so sinnreichen Einfall, und Dionysius lachte mit.) Ihr mögt lachen so lang' ihr wollt, fuhr er fort; aber meinen Plato sollt ihr mir gelten lassen! Er ist der gutherzigste Mensch von der Welt; und wenn man seine Philosophie, seinen Bart und seine hieroglyphische Physiognomie zusammen nimmt, so muß man gestehen, daß das Ganze eine Art von Leuten macht, womit man sich, in Ermangelung eines Bessern, die Zeit ganz gut vertreiben kann.O göttlicher Platon! du, der sich einbildete, das Herz dieses Prinzen in seiner Hand zu haben; du, der sich selbst das große Wunderwerk zutraute, einen weisen und tugendhaften Mann aus ihm zu machen! warum standest du nicht in diesem Augenblick hinter einer Tapete, und hörtest diese schmeichelhafte Apologie mit an, durch welche er seinen Geschmack an dir in den Augen seiner Höflinge zu rechtfertigen suchte!"In der That, sagte Timokrates, die Musen selbst können nicht angenehmer reden als Plato, ich wüßte nicht, was er einem nicht überreden könnte, wenn er sich's in den Kopf gesetzt hätte." — Du willst vielleicht scherzen, fiel ihm der Prinz ein; aber ich versichre dich, es hat wenig gefehlt, daß er mich nicht dazu gebracht hätte, Sicilien fahren zu lassen, und eine philosophische Reise nach Memphis zu den Pyramiden und Gymnosophisten anzustellen, die seiner Beschreibung nach eine seltsame Art von Creaturen seyn müssen. Wenn ihre Weiber so schön sind, wie er sagt, so mag es keine schlimme Partie seyn, den Tanz der Sphären mit ihnen zu tanzen; denn sie leben im Stande der vollkommen schönen Natur und treten dir, bloß in ihre eigenthümlichen Reizungen gekleidet, mit einer so triumphirenden Miene unter die Augen, als die schönste Syrakuserin in ihrem reichsten Putze.Dionysius war, wie man sieht, in einer Laune, die den erhabenen Absichten seines Hofphilosophen nicht sehr günstig war. Auch baute der schlaue Timokrates, der nur eines Winkes hierzu bedurfte, stehenden Fußes auf diese Anlage ein kleines Project, wovon er sich gute Wirkung versprach. Aber der weiter sehende Philistus fand nicht für dienlich, seinen Herrn in dieser leichtsinnigen Laune fortsprudeln zu lassen. "Ihr scherzet über die Wirkungen der Beredsamkeit Platons, sprach er: es ist nur allzu gewiß, daß er in dieser Kunst seinesgleichen nicht hat. Aber eben dieses würde mir nicht wenig Sorge machen, wenn er der rechtschaffne Mann nicht wäre, für den ich ihn halte. Die Macht der Beredsamkeit übertrifft alle andre Macht; sie ist fähig fünfzigtausend Arme nach dem Gefallen eines einzigen wehrlosen Mannes in Bewegung zu setzen oder zu enrnerven. Wenn Dion, wie es scheint, irgend ein gefährliches Vorhaben brütete, und Mittel fände, diesen überredenden Sophisten auf seine Seite zu bringen: so besorg' ich, Dionysius könnte das Vergnügen seiner sinnreichen Unterhaltung theuer bezahlen müssen. Man weiß was die Beredsamkeit zu Athen vermag; und es fehlt den Syrakusern nichts als ein paar solche Wortkünstler, die ihnen den Kopf mit Figuren und Bildern warm machen, so werden sie Athener seyn wollen, und der erste beste, der sich an ihre Spitze stellt, wird aus ihnen machen was er will."Philistus sah, daß sein Herr bei diesen Worten auf einmal tiefsinnig ward. Er schloß daraus, daß etwas in seinem Gemüth arbeitete, und hielt ein. Was für ein Thor ich war! rief Dionysius aus, nachdem er eine Weile mit gesenktem Kopfe zu staunen geschienen hatte. Das war wohl der Genius meines guten Glücks, der mir eingab, dich diesen Abend zu mir rufen zu lassen! Die Augen gehen mir auf einmal auf. Wozu mich diese Leute mit ihren Dreiecken und Schlußreden nicht gebracht hätten! Kannst du dir wohl einbilden, daß mich dieser Plato mit seinem glatten Geschwätze beinahe überredet hätte, mein stehendes Kriegsheer und sogar meine Leibwache nach Hause zu schicken? Ha! nun sehe ich, wohin alle diese schönen Vergleichungen eines Fürsten mit einem Vater im Schooße seiner Familie, und mit einem Säugling an der Brust seiner Amme, und was weiß ich mit was noch mehr, abgesehen waren! Die Verräther wollten mich durch diese süßen Wiegenlieder erst einschläfern, hernach entwaffnen, und zuletzt, wenn sie mich dahin gebracht hätten, daß ich weder Arme noch Beine nach meinem Gefallen hätte rühren können, würden sie mich im ganzen Ernst zu ihrem Wickelkinde, zu ihrer Puppe, und wozu es ihnen eingefallen wäre, gemacht haben! Aber sie sollen mir die Erfindung bezahlen! Ich will diesem verrätherischen Dion —Bist du albern genug dir einzubilden, daß es ihm darum zu thun sey, eure Spießbürger von Syrakus in Freiheit zu setzen? Regieren will er, Philistus! Das will er! und darum hat er diesen Sophisten an meinen Hof kommen lassen, der mir, indeß jener das Volk zur Empörung reizt und sich einen Anhang macht, so lange und so viel von Gerechtigkeit und Wohlthun und goldnen Zeiten und väterlicher Regierung vorschwatzen soll, bis er mich überredet hätte, meine Galeeren zu entwaffnen, meine Trabanten zu entlassen, und am Ende in Begleitung eines von den zottelbärtigen Knaben, die er mitgebracht hat, als ein Neuangeworbener nach Athen in die Akademie zu wandern, um unter einem Schwarm junger Gecken darüber zu disputiren, ob Dionysius recht oder unrecht gethan habe, sich in einer so armseligen Mausfalle fangen zu lassen."Aber ist's möglich, fragte Philistus mit angenommener Verwunderung, daß Plato den sinnlosen Einfall haben konnte, meinem Prinzen solche Räthe zu geben?"Es ist möglich, weil ich dir sage, daß er's gethan hat. Aber ich will eine Oelmühle drehen, wenn ich begreife, wie ich mich von diesem Schwätzer bezaubern lassen konnte."Das soll sich Dionysius nicht verdrießen lassen, erwiederte der gefällige Philistus. Plato ist in der That ein großer Mann in seiner Art; ein vortrefflicher Mann, wenn es darauf ankommt den Entwurf zu einer Welt zu machen, oder zu beweisen, daß der Schnee nicht weiß ist. Aber seine Regierungsmaximen sind, wie es scheint, ein wenig unsicher in der Ausübung. In der That, das würde den Athenern was zu reden gegeben haben: und es wäre wahrlich kein kleiner Triumph für die Philosophie gewesen, wenn ein einziger Sophist ohne Schwertschlag, durch die bloße Zauberkraft seiner Worte zu Stande gebracht hätte, was seine Mitbürger durch große Flotten und Kriegsheere vergeblich unternommen haben."Es ist mir unerträglich nur daran zu denken, sagte Dionysius. Was für eine einfältige Figur ich ein paar Wochen lang unter diesen Grillenfangern gemacht haben muß! Hab' ich dem Dion nicht selbst Gelegenheit gegeben, mich zu verachten? Was mußten sie von mir denken, da sie mich so gelehrig fanden? — Aber sie sollen in kurzem sehen, daß sie sich mit aller ihrer Wissenschaft der geheimnißvollen Zahlen gewaltig überrechnet haben! Es ist Zeit, der Komödie ein Ende zu machen!"Um Vergebung, Prinz, fiel Philistus ein; die Rede ist noch von bloßen Vermuthungen. Vielleicht ist Plato, ungeachtet seines nicht allzu wohl überlegten Rathes, unschuldig; vielleicht ist es sogar Dion. Wenigstens haben wir noch keine Beweise gegen sie. Sie haben Bewunderer und Freunde zu Syrakus. Das Volk ist ihnen geneigt. Es möchte gefährlich seyn, sie durch einen übereilten Schritt in die Nothwendigkeit zu setzen, diesem Freiheit träumenden Pöbel sich in die Arme zu werfen. Lassen wir sie noch eine Zeit lang in dem angenehmen Wahne, den Dionysius gefangen zu haben! Geben wir ihnen durch ein künstlich verstelltes Zutrauen Gelegenheit, ihre Gesinnungen deutlicher heraus zu lassen! Wie, wenn Dionysius sich stellte, als ob er wirklich Lust hätte die Monarchie aufzugeben, und als ob ihn kein anderes Bedenken davon zurückhielte, als die Ungewißheit, welche Regierungsform Sicilien am glücklichsten machen könnte? — Eine solche Eröffnung wird sie nöthigen, sich selbst zu verrathen; und, indeß wir sie mit akademischen Fragen und Entwürfen aufhalten, werden sich Gelegenheiten finden, den regiersüchtigen Dion in Gesellschaft seines Rathgebers mit guter Art eine Reise nach Athen machen zu lassen; wo sie in ungestörter Muße Republiken anlegen, und ihnen, wenn sie wollen, alle Tage eine andere Form geben mögen."
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Fünftes Capitel.

Gemüthsverfassung des Dionysius. Unterredung mit Dion und Platon. Folgen derselben.

Dionysius war von Natur hitzig und ungestüm. Eine jede Vorstellung, von der seine Einbildung getroffen wurde, beherrschte ihn so sehr, daß er sich dem mechanischen Triebe, den sie in ihm hervorbrachte, gänzlich überließ. Aber wer ihn so genau kannte als Philistus, hatte wenig Mühe, seinen Bewegungen oft durch ein einziges Wort eine andere Richtung zu geben. Im ersten Anstoß seiner unbesonnenen Hitze waren die gewaltsamsten Maßnehmungen immer die ersten, auf die er fiel. Aber man brauchte ihm nur den Schatten einer Gefahr dabei zu zeigen, so legte sich die auffahrende Lohe wieder, und er ließ sich eben so schnell überreden die sichersten Mittel zu erwählen, wenn sie gleich die niederträchtigsten waren.Da wir die wahre Triebfeder seiner vermeinten Sinnesänderung oben bereits entdeckt haben, wird sich niemand wundern, daß er von dem Augenblick an, da sich seine Leidenschaften wieder regten, in seinen natürlichen Zustand zurück sank. Was man bei ihm für Liebe der Tugend angesehen, was er selbst dafür gehalten hatte, war das Werk zufälliger und mechanischer Ursachen gewesen. Daß er der Tugend zu Liebe seinen Neigungen die mindeste Gewalt hätte thun sollen, so weit ging sein Enthusiasmus für sie nicht. Die ungebundene Freiheit, worin er zu leben gewohnt war, stellte sich ihm wieder mit den lebhaftesten Reizungen dar. Nun sah er in Plato bloß einen verdrießlichen Hofmeister, und verwünschte sich selbst, daß er schwach genug habe seyn können, sich von einem solchen Pedanten einnehmen und in eine seiner eigenen so wenig ähnliche Gestalt umbilden zu lassen. Er fühlte nur allzuwohl, daß er sich eine Art von Verbindlichkeit aufgelegt hätte, in den Gesinnungen zu beharren, die er diesem Sophisten (wie er ihn jetzt nannte) unbesonnener Weise gezeigt hatte, und besorgte, nicht ohne Grund, daß Dion und die Syrakuser die Erfüllung seines Versprechens, aus eine gesetzmäßige Art zu regieren, als eine Schuldigkeit von ihm verlangen würden. Diese Gedanken waren ihm unerträglich, und hatten die natürliche Folge, seine ohnehin bereits erkaltete Zuneigung zu dem Philosophen von Athen in Widerwillen zu verwandeln, den Dion aber, den er nie geliebt hatte, ihm doppelt verhaßt zu machen. Dieß waren die geheimen Dispositionen, welche den Verführungen des Timokrates und Philistus den Eingang in sein Gemüth erleichterten. Es war schon so weit mit ihm gekommen, daß er vor diesen ehmaligen Vertrauten sich der Person schämte, die er einige Wochen lang, gleichsam unter Platons Vormundschaft, gespielt hatte; und vermuthlich rührte es von dieser verderblichen Scham her, daß er in so verkleinernden Ausdrücken von einem Manne, den er anfänglich beinahe vergöttert hatte, sprach, und seiner Leidenschaft für ihn einen so spaßhaften Schwung zu geben suchte.Er ergriff also den Vorschlag des Philistus mit der Ungeduld eines Menschen, der sich von dem Zwang einer verhaßten Einschränkung je eher je lieber los zu machen wünscht; und damit er keine Zeit verlieren möchte, machte er gleich des folgenden Tages Anstalt, denselben ins Werk zu setzen. Er berief den Dion und den Philosophen in sein Cabinet, und entdeckte ihnen mit allen Anscheinungen des vollkommensten Zutrauens, daß er gesonnen sey sich der Regierung zu entschlagen, und den Syrakusern die Freiheit zu lassen, sich diejenige Verfassung zu erwählen, die ihnen die angenehmste seyn würde.Ein so unerwarteter Vortrag machte die beiden Freunde stutzen; aber sie faßten sich unverzüglich. Sie hielten ihn für eine von den sprudelnden Aufwallungen einer noch ungeläuterten Tugend, welche gern auf schöne Ausschweifungen zu verfallen pflegt, und hofften daher, es werde ihnen leicht seyon, den Prinzen auf reifere Gedanken zu bringen. Sie billigten zwar seine gute Absicht; stellten ihm aber vor, daß er sie sehr schlecht erreichen würde, wenn er das Volk, welches in politischer Hinsicht immer als ein Unmündiger zu betrachten sey, zum Meister über eine Freiheit machen wollte, die es allem Vermuthen nach, zu seinem eignen Schaden mißbrauchen würde. Sie sagten ihm hierüber alles was eine gesunde Staatskunst sagen kann. Insonderheit bewies ihm Plato, der innere Wohlstand eines Staats beruhe nicht auf der Form seiner Verfassung, sondern auf der innerlichen Güte der Gesetzgebung, auf tugendhaften Sitten und auf der Weisheit des Regenten, dem die Handhabung der Gesetze anvertraut sey. Seine Meinung ging dahin: Dionysius habe nicht nöthig sich der obersten Gewalt zu begeben, da es nur von ihm abhange, durch vollkommene Beobachtung aller Pflichten eines weisen und tugendhaften Fürsten die Tyrannie in eine rechtmäßige Monarchie zu verwandeln; eine Regierungsart, welcher die Völker sich desto williger unterwerfen würden, da sie durch das Gefühl ihres Unvermögens, sich selbst zu regieren, geneigt gemacht würden sich regieren zu lassen, ja denjenigen als eine Gottheit zu verehren, welcher sie schütze und für ihre Glückseligkeit arbeite.Dion stimmte hierin nicht gänzlich mit seinem Freunde überein. Die Wahrheit war, daß er den Dionysius besser kannte, und, weil er sich wenig Hoffnung machte, daß seine guten Dispositionen von langer Dauer seyn würden, gern so schnell als möglich einen solchen Gebrauch davon gemacht hätte, wodurch ihm die Macht Böses zu thun, auf den Fall wenn ihm der Wille dazu wieder ankäme, benommen worden wäre. Er breitere sich also mit Nachdruck über die Vortheile einer wohl geordneten Aristokratie vor der Regierung eines Einzigen aus, und bewies, wie gefährlich es sey, den Wohlstand eines ganzen Landes von dem zufälligen und wenig sichern Umstand, ob dieser Einzige tugendhaft seyn wolle oder nicht, abhangen zu lassen. Er behauptete sogar: von einem Menschen, der die höchste Macht in Händen habe, zu verlangen, daß er sie niemalen mißbrauchen solle, sey etwas gefordert, das über die Kräfte der Menschheit gehe; denn es sey nichts Geringeres als —von einem mit Mängeln und Schwachheiten beladenen Geschöpfe, weil man ihm die Macht eines Gottes eingeräumt habe, auch die Weisheit und Güte eines Gottes zu verlangen. Er billigte also das Vorhaben des Dionysius, die königliche Gewalt aufzugeben, im höchsten Grade. Jedoch stimmte er mit seinem Freunde darin überein: daß, anstatt die Einrichtung des Staats in die Willkür des Volks zu stellen, er selbst, mit Zuziehung einiger verständiger Männer, die das Vertrauen des Volks hätten, sich ungesäumt der Arbeit unterziehen sollte, eine dauerhafte und zum möglichsten Grad der Vollkommenheit gebrachte Verfassung zu entwerfen.Dionysius schien sich diesen Vorschlag gefallen zu lassen. Er bat sie, ihre Gedanken über eine so wichtige Sache in einen vollständigen Plan zu bringen, und versprach, sobald als sie selbst über das, was man thun sollte, einig seyn würden, zur Ausführung eines Werkes zu schreiten, welches ihm, wie er vorgab, sehr am Herzen liege.Diese geheime Unterredung hatte bei dem Tyrannen eine gedoppelte Wirkung. Sie vollendete seinen Haß gegen Dion, und setzte den Platon aufs neue in Gunst bei ihm. Denn ob er gleich nicht mehr so gern als anfangs von den Pflichten eines guten Regenten sprechen hörte, so hatte er doch sehr gern gehört, daß Plato sich als einen Gegner des popularen Regiments und als einen Freund der Monarchie erklärt hatte. Er ging aufs neue mit seinen Vertrauten zu Rathe. Es komme nun allein darauf an, sagte er, sich den Dion vom Halse zu schaffen. Philistus hielt dafür, eh ein solcher Schritt gewagt werden dürfe, müßte das Volk beruhiget und das wankende Ansehen des Prinzen wieder befestiget seyn. Er schlug die Mittel vor, wodurch dieses am gewissesten geschehen könne. In der That waren dabei keine großen Schwierigkeiten; denn er und Timokrates hatten die vorgebliche Gährung in Syrakus weit gefährlicher vorgestellt, als sie wirklich war. Dionysius fuhr, auf sein Anrathen, fort, eine besondere Achtung für den Plato zu bezeigen; einen Mann, der in den Augen des Volks eine Art von Propheten vorstellte, welcher mit Göttern umgehe und Eingebungen behalte. "Einen solchen Mann (sagte Philistus) muß man zum Freunde behalten, so lange man ihn gebrauchen kann. Plato verlangt nicht selbst zu regieren; er hat also nicht dasselbe Interesse wie Dion. Seine Eitelkeit ist befriediget, wenn er bei demjenigen, der die Regierung führt, in Ansehen steht, und Einfluß zu haben glaubt. Es ist leicht, ihn, so lang' es nöthig seyn mag, in dieser Meinung zu unterhalten; und das wird zugleich ein Mittel seyn, ihn von einer genauern Vereinigung mit dem Dion zurückzuhalten."Der Tyrann, der sich ohnehin von einer Art von Instinct zu dem Philosophen gezogen fühlte, fand diesen Rath vortrefflich, und befolgte ihn so gut, daß Plato dadurch hintergangen wurde. Er affectirte ihn immer neben sich zu haben, wenn er sich öffentlich sehen ließ, und bei allen Gelegenheiten, wo es Eindruck machen konnte, seine Maximen im Munde zu führen. Er stellte sich als ob es auf Einrathen des Philosophen geschähe, wenn er dieß oder jenes that, wodurch er sich den Syrakusern angenehm zu machen hoffte; ungeachtet alles die Eingebungen des Philistus waren, welcher, ohne daß es in die Augen fiel, sich wieder einer gänzlichen Herrschaft über sein Gemüth bemächtiget hatte. Er zeigte sich ungemein leutselig und liebkosend gegen das Volk. Er schaffte einige Auflagen ab, welche die unterste Classe desselben am stärksten drückten. Er belustigte es durch öffentliche Feste und Spiele. Er beförderte einig, deren Ansehen am meisten zu fürchten war, zu einträglichen Ehrenstellen, und ließ die übrigen mit Versprechungen wiegen, die ihm nichts kosteten und dieselbe Wirkung thaten. Er zierte die Stadt mit Tempeln, Gymnasien, und andern öffentlichen Gebäuden. Und alles dieß bewerkstelligte er, mit Hülfe seiner Vertrauten, auf eine so gute Art, daß der betrogene Plato sein ganzes Ansehen dazu verwandte, einem Prinzen, der so schöne Hoffnungen von sich erweckte, und seine Eitelkeit mit so vielen öffentlichen Beweisen einer vorzüglichen Hochachtung kitzelte, alle Herzen gewinnen zu helfen.Diese Maßnehmungen erreichten den vorgesetzten Zweck vollkommen. Das Volk, dessen Vorstellungsart von politischen Dingen immer vom Eindruck des Augenblicks abhängt, hörte auf zu murmeln, verlor in kurzer Zeit den bloßen Wunsch einer Veränderung, faßte eine heftige Zuneigung für seinen Prinzen, erhob die Glückseligkeit seiner Regierung, bewunderte die prächtige Uniform die er seinen Trabanten hatte machen lassen, betrank sich auf seine Gesundheit, und war bereit, allem was er unternehmen wollte, seinen dummen Beifall zuzuklatschen.
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Sechstes Capitel.

Kunstgriffe des Günstlings Timokrates. Bacchidion. Dion und Platon werden entfernt.

Philistus und Timokrates sahen sich durch diesen glücklichen Ausschlag in der Gunst ihres Herrn aufs neue befestiget. Aber sie wollten sie nicht länger mit Plato theilen, für welchen Dionysius eine Art von Schwächelt behielt, die vielleicht der natürlichen Obermacht eines großen Geistes über einen kleinen zuzuschreiben war. Um auch diesen Sieg noch zu erhalten, gerieth Timokrates auf einen Einfall, wozu ihm die geheime Unterredung im Schlafzimmer des Dionysius den ersten Wink gegeben hatte. Es war einer von den Einfällen, zu deren Erfindung eben kein großer Aufwand von Witz erfordert wird: aber die Vortheile, die er sich davon versprach, waren desto beträchtlicher. Er hoffte dadurch, zu gleicher Zeit, sich ein Verdienst um den Tyrannen zu machen, und das Ansehen des Philosophen bei demselben zu untergraben; und er betrog sich nicht in seiner Hoffnung.Dionysius hatte, von ihm aufgemuntert, angefangen, unvermerkt wieder eine größere Freiheit bei seiner Tafel einzuführen. Die Anzahl und die Beschaffenheit der Gäste, welche dazu eingeladen wurden, gab den Vorwand dazu. Plato, der bei aller Erhabenheit seiner Grundsätze einen kleinen Ansatz zum Hofmanne hatte, machte es, wie es manche ehrwürdige Männer in seinem Falle auch zu machen pflegen: er sprach bei jeder Gelegenheit von den Vorzügen der Nüchternheit, und aß und trank immer dazu wie ein andrer. Die kleine Erweiterung der allzu engen Gränzen der akademischen Frugalität (von welcher der Vater der Akademie selbst gestehen mußte, daß sie sich für den Hof eines Fürsten nicht schicke) erlaubte den vornehmsten Syrakusern, und jedem, der dem Prinzen seine Ergebenheit bezeigen wollte, ihm prächtige Feste zu geben; Feste, wo die Freude zwar ungebundener herrschte, aber doch durch die Gesellschaft der Musen und Grazien einen Schein von Bescheidenheit erhielt, welcher die Strenge der Weisheit mit ihr aussöhnen konnte.Timokrates machte sich diesen Umstand zu nutze. Er lud den Prinzen, den ganzen Hof und die Vornehmsten der Stadt ein, auf seinem Landhause die Wiederkunft des Frühlings zu begehen, dessen alles verjüngende Kraft (zum Unglück für den ohnehin übel befestigten Platonismus des Dionysius) auch diesem Prinzen die Begierden und die Kräfte der Jugend wieder einzuhauchen schien. Die schlaueste Wollust, hinter eine verblendende Pracht versteckt, hatte dieses Fest angeordnet. Timokrates verschwendete seine Reichthümer mit desto fröhlicherm Gesichte, da er sie eben dadurch doppelt wieder zu bekommen versichert war. Alle Welt bewunderte die Erfindungen und den Geschmack dieses Günstlings. Dionys versicherte, sich niemals so wohl ergötzt zu haben. Und sogar der göttliche Plato (der weder auf seinen Reisen zu den Pyramiden und Gymnosophisten, noch zu Athen so etwas gesehen hatte) wurde von seiner dichterischen Einbildungskraft so sehr verrathen, daß er die Gefahren zu vergessen schien, die unter den Bezauberungen dieses Orts, und unter dieser Verschwendung von Reizungen zum Vergnügen lauerten. Der einzige Dion erhielt sich bei seinem gewöhnlichen Ernste. Allein der Contrast seines finstern Bezeigens mit der allgemeinen Fröhlichkeit machte auf alle Gemüther Eindrücke, die nicht wenig dazu beitrugen, seinen bevorstehenden Fall zu befördern. Indeß schien niemand darauf Acht zu geben; und in der That ließ die Vorsorge, welche Timokrates gebraucht hatte, daß jede Stunde und beinahe jeder Augenblick ein neues Vergnügen herbei führen mußte, wenig Muße Beobachtungen zu machen.Der schlaue Höfling hatte ein Mittel gefunden, dem Philosophen selbst, bei einer Gelegenheit wo es so wenig zu vermuthen war, auf eine keine Art zu schmeicheln. Dieß geschah durch ein großes pantomimisches Ballet, worin die Geschichte der menschlichen Seele, nach Platons Grundsätzen unter Bildern, die er in einigen seiner Schriften an die Hand gegeben hatte, allegorisch vorgestellt wurde. Timokrates hatte die jüngsten und schönsten Figuren hierzu gebraucht, die er zu Korinth und aus dem ganzen Griechenlande hatte zusammen bringen können.Unter den Tänzerinnen schien Eine besonders dazu gemacht, alles was der gute Plato in etlichen Monaten an dem Gemüthe des Tyrannen gearbeitet hatte, in eben so vielen Augenblicken wieder zu zerstören. Sie stellte unter den Personen des Tanzes die Wollust vor; und wirklich paßten ihre Figur, ihre Gesichtsbildung, ihre Blicke, ihr Lächeln, alles so vollkommen zu dieser Rolle, daß das Anakreontische Beiwort "wollustathmend" ausdrücklich für sie gemacht zu seyn schien. Jedermann war von der schönen Bacchidion bezaubert; aber niemand war es so sehr als Dionysius. Er dachte nicht einmal daran, der Wollust Widerstand zu thun, welche eine so verführerische Gestalt angenommen hatte, um seine erkaltete Zuneigung zu ihr wieder anzufeuern. Kaum daß er noch so viel Gewalt über sich behielt, um von demjenigen, was in ihm vorging, nicht allzu deutliche Zeichen sehen zu lassen. Denn er getraute sich noch nicht, wieder gänzlich Dionysius zu seyn; ob ihm gleich von Zeit zu Zeit kleine Züge entwischten, welche dem beobachtenden Dion bewiesen, daß er nur durch einen Rest von Scham, den letzten Seufzer der sterbenden Tugend, noch zurückgehalten werde.Timokrates triumphirte in sich selbst; seine Absicht war erreicht. Die allzu reizende Bacchidion bemächtigte sich in kurzem der Begierden, des Geschmacks und sogar des Herzens des Tyrannen. Und da er den Timokrates zum Unterhändler seiner Leidenschaft, die er eine Zeit lang geheim halten wollte, vonnöthen hatte, so war der gefällige Höfling von diesem Augenblick an wieder der nächste an seinem Herzen. Der gute Plato, dem diese Intrigue nicht lange verborgen bleiben konnte, bedauerte nun zu spät, daß er zu viel Nachsicht gegen den Hang des Prinzen nach Ergötzungen getragen hatte. Erfühlte nur gar zu wohl, daß die Gewalt seiner metaphysischen Bezauberungen durch eine stärkere Macht aufgelöst worden sey. Weil er nicht ohne Nutzen beschwerlich seyn wollte, sing er an, den Hof seltner zu besuchen. Aber Dion ging noch weiter: er unterstand sich, dem Dionysius wesen seines geheimen Verständnisses mit der schönen Bacchidion Vorwürfe zu machen, und ihn seiner Verbindlichkeiten mit einem Ernst zu erinnern, den der Tyrann nicht mehr ertragen konnte. Dionysius antwortete im Ton eines Asiatischen Despoten: Dion behauptete was er gesprochen hatte, wie ein Mißvergnügter, der sich stark genug fühlt, den Drohungen eines übermüthigen Despoten Trotz zu bieten. Zwar wurde jener, da er schon im Begriff war seiner Wuth den Zügel schießen zu lassen, von dem vorsichtigen Philistus noch zurückgehalten: allein Dion fand sich so sehr beleidigt, und die Sachen waren schon so weit gekommen, daß ein schleuniger Entschluß gefaßt werden mußte. Der kleinste Aufschub war gefährlich: aber ein öffentlicher Ausbruch war es nicht minder. Man fand also, das Sicherste würde seyn, den trotzigen Patrioten, welcher entschlossen schien, es aufs Aeußerste ankommen zu lassen, heimlich auf die Seite zu schaffen. Dion verschwand auf einmal; und erst nach einigen Tagen machte Dionys bekannt: daß eine gefährliche Verschwörung gegen seine Person und gegen die Ruhe des Staats, an welcher Dion gearbeitet habe, seine Entfernung aus Sicilien nothwendig gemacht habe. Es bedrängte sich auch wirklich, daß Dion bei nächtlicher Weile unvermuthet in Verhaft genommen, zu Schiffe gebracht, und in Italien ans Land gesetzt worden war.Um die angebliche Verschwörung wahrscheinlich zu machen, wurden verschiedene Freunde Dions, und eine noch größere Anzahl von Anhängern des Philistus, welche gegen diesen Prinzen zu reden bestochen waren, in Verhaft genommen. Man unterließ nichts, was seinem Proceß das Ansehen der genauesten Beobachtung der Justizformalitäten geben konnte; und erst nachdem er durch die Aussage einer Menge von erkauften Zeugen überwiesen worden war, wurde seine Verbannung in ein förmliches Urtheil gebracht, und ihm bei Lebensstrafe verboten, ohne besondere Erlaubniß des Dionysius Sicilien wieder zu betreten. Der Tyrann stellte sich, als ob er dieses Urtheil ungern, und bloß durch die Sorge für die Ruhe des Staats gezwungen, unterzeichne; und, um eine Probe zu geben, wie gern er eines Prinzen, den er allezeit besonders boxgeschätzt habe, schonen möchte, verwandelte er die Strafe der Confiscation aller seiner Güter in eine bloße Zurückhaltung der Einkünfte von denselben. Aber niemand ließ sich durch diese Vorspiegelungen hintergehen, da man bald darauf erfuhr, daß er seine Schwester, die Gemahlin des Dion, gezwungen habe, die Belohnung des unwürdigen Timokrates zu werden.Plato spielte bei dieser unerwarteten Veränderung eine sehr demüthigende Rolle. Dionysius affectirte zwar noch immer, ein großer Bewunderer seiner Wissenschaft und Beredsamkeit zu seyn; aber sein Einfluß hatte so gänzlich aufgehört, daß ihm nicht einmal erlaubt war, die Unschuld seines Freundes zu vertheidigen. Er wurde täglich zur Tafel eingeladen; aber nur, um mit eignen Ohren anzuhören, wie die Grundsätze seiner Philosophie, die Tugend, und alles was einem gesunden Gemüth ehrwürdig ist, zum Gegenstande leichtsinniger Scherze gemacht wurden, welche sehr oft den ächten Witz nicht weniger beleidigten als die Sitten. Und damit ihm alle Gelegenheit benommen würde, die widrigen Eindrücke, welche man den Syrakusern gegen Dion beibrachte, wieder auszulöschen, gab man ihm, unter dem Schein einer besondern Ehrenbezeugung eine Wache, die ihn wie einen Staatsgefangenen beobachtete und eingeschlossen hielt.Der Philosoph hatte denjenigen Theil seiner Seele, welchem er seinen Sitz zwischen der Brust und dem Zwerchfell angewiesen, noch nicht so gänzlich gedändiget, daß ihn dieses Betragen des Tyrannen nicht hatte erbittern sollen. Er fing an im Tone eines freigebornen Atheners zu sprechen, und verlangte unter verschiedenen Vorwänden seine Entlassung. Dionysius stellte sich über dieses Begehren bestürzt an, und schien alles anzuwenden, um einen so wichtigen Freund bei sich zu behalten. Er bot ihm sogar die erste Stelle in seinem Reich, und (wenn anders Plutarch nicht zu viel gesagt hat) alle seine Schätze an, wofern er sich verbindlich machen wollte, ihn niemals zu verlassen. Aber die Bedingung, welche hinzugesetzt wurde, bewies, wie wenig man erwartete, daß diese glänzenden Anerbietungen angenommen werden würden: denn man verlangte, daß er dem Tyrannen seine Freundschaft für den Dion aufopfern sollte. Plato verstand den stillschweigenden Sinn dieser Zumuthung. Er beharrete also auf seiner Entlassung, und erhielt sie endlich, nachdem er das Versprechen von sich gegeben hatte, daß er wieder kommen wolle, sobald der Krieg, welchen Dionysius mit Carthago anzufangen im Begriff war, geendigt seyn würde.Der Tyrann machte sich eine große Angelegenheit daraus, alle Welt zu überreden, daß sie als die besten Freunde von einander schieden; und Platons Ehrgeiz (wenn es anders erlaubt ist, eine solche Leidenschaft bei einem Philosophen vorauszusetzen) fand seine Rechnung zu gut dabei, als daß er sich hätte bemühen sollen, die Welt von dieser Meinung zu heilen. Er gehe nur, sagte er, um Dion und Dionysius wieder zu Freunden zu machen. Der Tyrann bezeigte sich sehr geneigt hierzu; er hob sogar, zum Beweise seiner guten Gesinnung, den Beschlag auf, den er auf die Einkünfte Dions gelegt hatte. Plato hingegen machte sich zum Bürgen für seinen Freund, daß er nichts Widriges gegen Dionysen unternehmen sollte. Der Abschied machte eine so traurige Scene, daß die Zuschauer (außer den wenigen, welche das Gesicht unter der Maske kannten) von der Gutherzigkeit des Prinzen sehr gerührt wurden. Er begleitete den Philosophen bis an seine Galeeren, erstickte ihn beinahe mit Umarmungen, netzte seine ehrwürdigen Wangen mit Thränen, und sah ihm so lange nach, bis er ihn aus den Augen verlor.Und so kehrten beide, mit gleich erleichtertem Herzen, Plato in seine geliebte Akademie, und Dionysius in die Arme seiner Tänzerin zurück.
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Siebentes Capitel.

Ein merkwürdiger Vortrag des Philistus. Wozu ein großer Herr Philosophen und witzige Köpfe brauchen kann. Dionysius stiftet eine Akademie von schönen Geistern.

Dionysius, dessen natürliche Eitelkeit durch die Discurse des Athenischen Weisen zu einer heftigen Ruhmbegierde aufgeschwollen war, hatte sich, unter andern Schwachheiten, in den Kopf gesetzt, für einen Gönner der Gelehrten, für einen Kenner und sogar für einen der schönen Geister seiner Zeit gehalten zu werden. Er war sehr bekümmert, Plato und Dion möchten den Griechen (denen er vorzüglich zu gefallen begierig war) die gute Meinung wieder benehmen, welche man von ihm zu fassen angefangen hatte; und diese Furcht scheint einer von den stärkten Beweggründen gewesen zu seyn, warum er den Philosophen bei der Trennung mit so vieler Freundschaft überhäuft hatte. Er ließ es nicht dabei bewenden. Philistus sagte ihm, daß Griechenland eine Menge gelehrter und nicht allzu wohl genährter Müßiggänger habe, welche so berühmt als Plato, und zum Theil geschickter seyen, einen Prinzen bei Tische oder in verlornen Augenblicken zu belustigen, als dieser seltsame Mann den die wunderliche Grille plage, ein lächerlich ehrwürdiges Mittelding zwischen einem Aegyptischen Priester und einem Staatsmanne vorstellen zu wollen. Er bewies ihm mit den Beispielen seiner eigenen Vorfahren: daß ein Fürst sich den Ruhm eines vortrefflichen Regenten nicht wohlfeiler verschaffen könne, als indem er Philosophen und Poeten in seinen Schutz nehme; Leute, welche, für die Ehre seine Tischgenossen zu seyn, oder für einen mäßigen Gehalt, bereit seyen, alle ihre Talente ohne Maß und Ziel zu seinem Ruhm und zu Beförderung seiner Absichten zu verschwenden. —"Glauben wir, sagte er, daß Hieron der wunderthätige Mann, der Held, der Halbgott, das Muster aller fürstlichen, bürgerlichen und häuslichen Tugenden gewesen sey, wofür ihn die Nachwelt hält? Wir wissen was wir davon denken sollen. Er war, was alle Prinzen sind, und lebte wie sie alle leben. Er that was ich und ein jeder andrer thun würde, wenn wir zu unumschränkten Herren einer so schönen Insel, wie Sicilien ist, geboren wären. Aber er hatte die Klugheit, Simoniden und Pindarn an seinem Hofe zu halten. Sie lobten ihn in die Wette, weil sie wohl gefüttert und bezahlt wurden. Alle Welt erhob die Freigebigkeit des Prinzen, und doch kostete ihm dieser Ruhm nicht halb so viel als seine Jagdhunde. Wer wollte ein König seyn, wenn ein König das alles wirklich thun müßte, was sich ein müßiger Sophist auf seinem Faulbette, oder Diogenes in seiner Tonne, einfallen läßt ihm zu Pflichten zu machen? Wer wollte regieren, wenn ein Regent allen Forderungen und Wünschen seiner Unterthanen genug thun müßte? Das Meiste, wo nicht alles, kommt auf die Meinung an, die ein großer Herr von sich erweckt; nicht auf seine Handlungen selbst, sondern auf die Gestalt und den Schwung, den er ihnen zu geben weiß. Was er nicht selbst thun will oder thun kann, das können widrige Köpfe für ihn thun. Halten Sie sich einen Philosophen, der alles demonstriren, einen Schwätzer, der über alles scherzen, und einen Poeten, der über alles Verse machen kann! Der Nutzen, den Sie von dieser kleinen Ausgabe ziehen werden, fällt zwar nicht sogleich in die Augen; wiewohl es an sich selbst schon Vortheils genug ist, für einen Beschützer der Musen gehalten zu werden. Denn dieß ist in den Augen von neunundneunzig Hunderttheilen des menschlichen Geschlechts ein untrüglicher Beweis, daß der Fürst selbst ein Herr von großer Einsicht und Wissenschaft ist; und diese Meinung erweckt Zutrauen und ein günstiges Vorurtheil für alles was er unternimmt. Aber dieß ist der geringste Nutzen, den Sie von Ihren witzigen Kostgängern ziehen. Setzen wir den Fall, es sey nöthig eine neue Auflage zu machen. Braucht es mehr, um in einem Augenblick ein allgemeines Murren gegen Ihre Regierung zu erregen? Die Mißvergnügten (eine Art von Leuten, welche die klügste Regierung niemals gänzlich ausrotten kann) machen sich einen solchen Zeitpunkt zu Nutze. Sie setzen das Volk in Gahrung, untersuchen die Aufführung des Fürsten, die Verwaltung seiner Einkünfte und tausend Dinge, an welche vorher niemand gedacht hatte. Die Unruhe nimmt zu: die Repräsentanten des Volks versammeln sich: man übergibt dem Hofe eine Vorstellung, eine Beschwerung um die andere. Unvermerkt nimmt man sich heraus, die Bitten in Forderungen zu verwandeln, und die Forderungen mit ehrfurchtsvollen Drohungen zu unterstützen. Kurz, die Ruhe Ihres Lebens ist, wenigstens auf einige Zeit, verloren. Sie befinden sich in kritischen Umständen, wo der kleinste Fehltriit die schlimmsten Folgen nach sich ziehen kann; und es braucht nur einen Dion, der sich zu einer solchen Zeit einem mißvergnügten Pöbel an den Kopf wirft, so haben wir einen Aufruhr in seiner ganzen Größe. Hier zeigt sich der wahre Nutzen unsrer witzigen Köpfe. Durch ihren Beistand können wir in etlichen Tagen allen diesen Uebeln zuvorkommen. Lassen wir den Philosophen demonstriren, daß diese Auflage zur Wohlfahrt des gemeinen Wesens unentbehrlich ist; der Spaßvogel trage irgend einen lächerlichen Einfall, irgend eine lustige Hofanekdote, oder ein boshaftes Mährchen in der Stadt herum; und der Poet verfertige eilends eine neue Komödie und ein paar Gassenlieder, um dem Pöbel etwas zu sehen und zu singen zu geben; so wird alles ruhig bleiben: und während die politischen Müßiggänger sich darüber zanken werden, ob der Philosoph recht oder unrecht argumentirt habe, indeß die kleine ärgerliche Anekdote und die neue Komödie den Witz aller guten Gesellschaften in Athem erhält; wird der Pöbel ein paar Flüche zwischen den Zähnen murmeln, seinen Gassenhauer anstimmen, und — bezahlen! Solche Dienste (setzte Philistus hinzu) sind doch wohl werth, etliche Leute zu unterhalten, die ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen, Worte zierlich zusammenzusetzen, Sylben zu zählen, Ohren zu kitzeln und Lungen zu erschüttern; Leute, deren äußerste Wünsche erfüllt sind, wenn man ihnen so viel gibt, als sie brauchen, um durch eine Welt, an die sie wenig Ansprüche machen, sorglos hindurch zu schlendern, und nichts zu thun, als was der Wurm im Kopfe, den sie ihren Genie nennen, ihnen zum größten Vergnügen ihres Lebens macht."Dionysius fand diesen Rath seines würdigen Ministers vollkommen nach seinem Geschmacke. Philistus übergab ihm eine Liste von mehr als zwanzig Candidaten, aus denen er nach Belieben auswählen könnte. Der Prinz glaubte, daß man so nützlicher Leute nicht zu viel haben könne, und wählte alle. Die sämmtlichen schönen Geister Griechenlands wurden unter blendenden Verheißungen an seinen Hof eingeladen. In kurzer Zeit wimmelte es in seinen Vorsalen von Philosophen und Priestern der Musen. Alle Arten von Dichtern, epische, tragische, komische und lyrische, welche ihr Glück zu Athen nicht hatten machen können, zogen nach Syrakus, um ihre Leyern und Flöten an den anmuthigen Ufern des Anapus zu stimmen, und sich satt zu essen. Sie glaubten, daß es ihnen gar wohl erlaubt seyn könne, die Tugenden des Dionysius zu besingen, nachdem der göttliche Pindar sich nicht geschämt hatte, die Maulesel des Hieron unsterblich zu machen. Sogar der Sokratische Antisthenes ließ sich durch die Hoffnung herbeilocken, daß ihn die Freigebigkeit dieses neuen Musageten in den Stand setzen würde, die Vortheile der freiwilligen Armuth und der Enthaltsamkeit mit desto mehr Gemächlichkeit zu studiren; Tugenden, von deren Schönheit (nach dem stillschweigenden Geständniß ihrer eifrigsten Lobredner) sich nach einer guten Mahlzeit am beredtesten sprechen läßt. Kurz, Dionysius hatte das Vergnügen, sich mitten an seinem Hofe eine Akademie für seinen eignen Leib zu errichten, deren Vorsteher und Apollo er selbst zu seyn würdigte, und in welcher über die Gerechtigkeit, über die Gränzen des Guten und Bösen, über die Quelle der Gesetze, über das Schöne. über die Natur der Seele, der Welt und der Götter, und andere solche Gegenstände, die nach den gewöhnlichen Begriffen der Weltleute zu nichts als zur Conversation gut sind, mit so vieler Schwatzhaftigkeit und Subtilität, und mit so wenig gesundem Menschenverstande disputirt wurde, als es in irgend einer Schule der damaligen oder folgenden Zeiten zu geschehen pflegte. Er hatte das Vergnügen, sich bewundern, und wegen einer Menge von Tugenden und Heldeneigenschaften lobpreisen zu hören, die er sich selbst niemals zugetraut hätte. Seine Philosophen waren keine Leute, die (wie Plato) sich herausgenommen hätten, ihn hofmeistern und lehren zu wollen, wie er zuerst sich selbst, und dann seinen Staat regieren müsse. Der strengste unter ihnen war zu höflich, etwas an seiner Lebensart auszusetzen; und alle waren bereit es einem jeden Zweifler sonnenklar zu beweisen, daß ein Fürst, welcher Zueignungsschriften und Lobgedichte so gut bezahlte, so gastfrei war, und seine getreuen Unterthanen durch den Anblick so vieler Feste und Lustbarkeiten glücklich machte, der würdigste unter allen Königen seyn müsse.In diesen Umständen befand sich der Hof zu Syrakus, als der Held unsrer Geschichte in dieser Stadt ankam; und so war der Fürst beschaffen, welchem er, unter ganz andern Voraussetzungen, seine Dienste anzubieten gekommen war.
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Anmerkungen.

Buch 7.

S. 7. Z. 8. Dariken — Eine goldene Münze der damaligen Zeit. W.S. 8. Z. 7. Geheimnissen der Orphischen Philosophie — Unter dem Namen Orpheus besassen die Griechen die ältesten Entwilderer ihrer Nation, höchst wahrscheinlich regierende Priesterinstitute, die aus dem Orient gekommen, und in Thrazien sich zuerst angesiedelt hatten, wo sie blieben, bis sie von den Bacchischen Orgien verdrängt wurden. Das Orpheus-Institut stand von Anfang an mit dem des Apollon im Zusammenhange, wie schon die in beiden übliche Lyra beweist. Die Beförderungsmittel der Humanität in dem alten Orpheus-Institut waren Musik, Religion und geheime Weihungen, welche den Zweck hatten, von der Blutschuld zu reinigen; denn die ganze Entwilderung ging aus und mußte ausgehen von Abschreckung und Entwöhnung vom Menschenmorde, Menschenopfern, und dem Genusse blutiger Thierspeisen. Daraus entsprang das sogenannte Orphische Leben, zu welchem Enthaltung von thierischer Kost und Kleidung, Enthaltsamkeit und eine gewisse äußere Würde gehörten. Alles dieß wurde in späterer Zeit, hauptsächlich durch Einfluß des Pythagorischen Ordens, feiner und künstlicher ausgebildet. Aus jenen geheimen Weihungen waren die Mysterien entsprungen, eins der merkwürdigsten Jnstitute des Alterthums, worin mit der Zeit auch der Versuch gemacht wurde, die Volksreligion vernunftmäßig zu erklären, ja an die Stelle von dieser eine Art von Vernunft-Religion zu setzen. Eine solche, von Pythagoräern ausgebildete, der größern Ehrwürdigkeit wegen aber auf des Orpheus altheiligen Namen zurückgeführte, Lehre ist es, welche Wieland im Folgenden schildert. Es ist natürlich, daß die Einbildungskraft an solch einer Lehre keinen geringen Antheil haben mußte: in den Mysterien aber suchte man auch Ueberzeugung durch die Sinne zu bewirken, denn die Feier der Mysterien bestand in einem heiligen Drama, und die dramatische Illusion scheint auch in Beziehung auf Maschinerie hier heimisch gewesen zu seyn, und mußte um so mehr wirken, da sie noch Priestergeheimniß war. Göttererscheinungen waren hier nöthig, und die Darstellung der Unterwelt ein Hauptgegenstand dieser Mysterien, die zu einer Weihung des irdischen Lebens für ein überirdisches wurden. Aus diesem wird erklärbar, was Wieland auch in dem folgenden Kapitel erzählt.S. 13. Z. 22. glücklichen Inseln — Das Locale des Todtenreichs wurde bei den Griechen von Homer und Hesiodus an sehr verschieden gedichtet. Zu den Belohnungen vorzüglicher Menschen gehörte, daß sie an die Tafel der Götter gezogen, oder auf die Inseln der Seligen (Hesiodus Tage und Werke 177. Pindar olymp. Hymnen 2, 123, fgg), oder in die Elysischen Fluren versetzt wurden. Erweiterte Erdkunde und dichterische Phantasie verursachten in der Bestimmung dieses Locale eine große Mannichfaltigkeit.S. 45. Z. 11. Phädra — und deren Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytos, ist den meisten Lesern wohl wenigstens aus Schillers Uebersetzung des Trauerspiels Phädra von Racine bekannt, in deren Vergleichung mit der Phädra des Euripides A. W. Schlegel ein Meisterwerk von Kritik geliefert hat.S. 62. Z. 19. Eine Athenische Bürgerin — Zu den mancherlei Einschränkungen, wodurch Athens Gesetzgeber Solon die Erlangung des Bürgerrechts erschwerte, gehörte auch, daß keine Ehe gesetzlich gültig war, welche nicht zwischen Bürger und Bürgerin geschlossen worden. Nur einem solchen zu Athen Gebornen kam das Bürgerrecht zu, welcher von väterlicher und mütterlicher Seite ächt Attische Abkunft beweisen konnte. Nicht ächt Attische Abkunft war daher ein Haupthinderniß bei jeder Vermählung.

Buch 8.

S. 69. Z. 9. 10. den prächtigsten Städten —— Vorzug streiten konnte — Agathon spricht hier, wie es sich für sein Zeitalter, nicht für das unsrige schickt. Die Alten, und besonders die Griechen, setzten die Schönheit einer Stadt in die Menge und Pracht der Tempel, öffentlichen Gebäude und Denkmäler, Colonnaden, Gymnasien, Theater, Bäder u. s. w., nicht in die Regelmäßigkeit der Bauart und in die Größe, Pracht und Schönheit der Privatwohnungen. In Rücksicht dieser letztern hat Herr von Pauw (in seinen Recherches sur les Grecs) Recht zu behaupten, daß Athen, mit den größten Städten des heutigen Europa's verglichen, keine schöne Stadt war, ungeachtet sie seit der Staatsverwaltung des Perikles die schöne Athenä genannt zu werden pflegte; woraus sich schließen läßt, daß man in dem freien Griechenlande ganz andere, aus dem Geiste der Freiheit und Gleichheit natürlicher Weise entspringende, Begriffe von der Schönheit einer Stadt hatte, als wir, oder als die Römer unter den ersten Kaisern hatten.S. 71. Z. 18. Gorgias und Prodikus — sind zwei der berühmtesten Sophisten aus der Zeit des Sokrates und Platon, so wie Hippias, der in dem Agathon selbst aufgeführt wird. Zu dem, was Wieland im Allgemeinen in der Einleitung über sie erklärt hat, ist es vielleicht nicht ganz unnöthig, noch einiges hinzuzufügen, da nicht leicht in der literarischen Welt ein Name so verrufen geworden als der Name der Sophisten, unter denen man sich nur ein Pack schamloser, verabscheuungswürdiger Charlatans, absichtliche Verdreher des Wahren und Guten, ja selbst, von Platon irre geleitet, aufgeblasener Dummköpfe zu denken pflegte. Wie aber wäre es denn wohl möglich gewesen, daß sie an einem Orte wie Athen, in der höchsten Blüthe seiner Cultur, zu Ansehen und Einfluß gelangt wären, ja die Bewunderung an sich gerissen hätten? Im Gegentheil waren sie sehr gebildete Männer, gewandte, scharfsinnige Köpfe, die auf Reisen sich einen großen Reichthum von Menschenkennzniß erworben hatten, und die mit dem Talent des Umgangs einen feinen äußern Anstand verbanden, durch den sie, wo es galt, weh! auch zu imponiren wußten. Wüßten wir auch nur das Einzige von ihnen, daß Sokrates die berühmte Dichtung von Herkules am Scheidewege dem Sophisten Prodikus bloß nacherzählt hat, so würde das schon hinreichen, von ihren Köpfen uns eine vortheilhafte Meinung einzuflößen. Man hat aber auch nicht Ursache, bei ihrem ersten Auftreten einen schlimmen Verdacht gegen ihre Absichten zu hegen, wenn gleich dieser in der Folge nur zu gegründet wurde. Das war aber nicht ihre Schuld allein. Sie waren Lehrer der Beredsamkeit, und mußten als solche zum Gegenstand ihres tieferen Erforschens die Rhetorik machen, was nicht geschehen konnte, ohne die Dialektik (als Wissenschaft und Kunst des Denkens, um durch Aussprechen des Gedachten Ueberzeugung zu bewirken, immer mehr zu begründen. Es ist nicht zu läugnen, da8 sie um beide sich bedeutende Verdienste erworben haben, wie schon daraus erhellet, daß Platon selbst seine bewunderte Beredsamkeit und zum Theil höchst spitzfindige Dialektik in ihrer Schule erlernt hatte. Eben in dieser Dialektik aber lauerte die verborgene Gefahr für sie, und hier war die Klippe, an welcher ihr Charakter scheiterte. Der Anfang zu ihrer nachmaligen Verrufenheit liegt darin, daß sise nicht Kraft genug hatten, über den Zeitgeist sich zu erheben, sondern sich von dem Strome fortreißen ließen. Man bedenke, worauf sie die Hauptanwendung von ihrer Dialektik machen mußten, auf — Rechtsstreite, Processe, Politik. Jeder kam in der Absicht zu ihnen, um durch sie gewinnen zu lernen. Freilich war dieß an sich unmöglich, allein da man's gleichwohl verlangte, so machte man den Versuch, jedes Ding von mehreren Seiten zu beleuchten, die eben vortheilhaftere ins glänzendste Licht zu setzen, allenfalls auch durch Scheingrunde tu blenden. Hiemit wurde der Weg gebahnt, überall eine Scheinwahrheit zu erkünsteln, welches allerdings auf den Geist wie auf den Charakter eine nur nachtheilige Wirkung haben konnte, denn die Geister mußten dadurch gleichgültig werden für die Wahrheit, und dieß kann nicht geschehen, ohne daß die Herren gleichgültig wurden für die Sittlichkeit. — Diese Gleichgültigkeit entstand bei den Sophisten aus ihrer zu politischen Disputirkunst, bei der es nur auf den Sieg ankam, gleichviel durch welche Mittel er erlangt worden. Da nun alles, was von Ehrgeizigen und Ruhmsüchtigen in Athen war, zu ihnen strömte, so zogen sie von ihrer Wissenschaft und Kunst immer größeren Vortheil; Gewinnsucht wurde ihr hervorstechender Charakterzug, und um diese desto besser zu befriedigen, lehrten sie auch eine Weisheit, der es in einem frivolen Zeitalter nicht an Anhängern fehlen konnte. Dadurch griffen sie die Humanität an der Wurzel ihres Lebens an.S. 72. Z. — 4-6. Der Vorwurf, den sich Platon —— zugezogen hatte — Nämlich den Vorwurf, mit allem seinem Haß gegen die Sophisten selbst eine Art von Sophist zu seyn. W. — (Dieser Vorwurf kann bei Platon nur insofern gültig seyn, als seine Dialektik selbst zuweilen sehr spitzfindig ist, und man zweifelhaft bleibt, ob er durch einen Scheingrund getauscht war oder täuschen wollte. Der reinste Sinn für Wahrheit und Sittlichkeit, der stete Hinblick auf das Göttliche, seine Achtung vor der Würde der Menschennatur erheben ihn über jeden Vergleich mit den Sophisten, denen er nur Beredsamkeit und Dialektik schuldig war)S. 88. Z. 1. Harmodius und Aristogiton — Des Tyrannen Plästratos Nachfolger zu Athen waren seine Sohne Hipparchos und Hippias (die Piststratiden) Hipparchos hatte des Harmodios Schwester öffentlich beleidigt, und der Bruder verband sich mit Aristogiton zur Rache an dem Tyrannen. An dem Feste der Panathenäen verbargen sie unter Myrtenzweigen, welche die Feiernden trugen, die Schwerter der Rache Hipparchos fiel unter ihren Schwertern, und dieß war das Signal für die Freiheit Hippias mußte das Land verlassen, und fiel nachher im Kampfe gegen sein Vaterland. Dem Harmodios und Aristogiton errichtete man Bildsäulen, ihre Nachkommen wurden von allen Abgaben befreit, keinem Sklaven durften ihre Namen beigelegt werden, und man sang ihnen zu Ehren Lieder. Eins derselben, von Athenaos aufbewahrt, welches den Geist jener Zeit charakterisirt, s. b. Herder Werke für Liter. und Kunst Bd. 8 S. 163.S. 89. Z. 15. 16. Den großen Beschützer der Griechischen Freiheit — Miltiades, der im Gefängniß starb, weil er eine Geldstrafe, zu der er verurtheilt war, nicht bezahlen konnte. Die wahre Ursache zu seiner Verurtheilung war die Furcht, er mochte durch sein Uebergewicht die kaum gestürzte Tyrannie wieder stiften —— Sokrates wurde, wie Wieland von Agathon erzählt, frei gesprochen worden seyn, wenn er sich zu einer Vertheidigungsrede im Sinne des Volkes hätte erniedrigen können.S. 94. Z. 13. Eine andre Mine springen lassen — ist wohl ein in Agathons Munde sehr unpassender Ausdruck, der dem Dichter hier entschlürft ist.S. 106. Z. 5. Gebäude der republicanischen Verfassung auf Tugend gründe — Montesquieu im dritten Buch, wo er von den Haupttriebfedern der drei Regierungsformen handelt, nennt als die der republicanischen die Tugend, der monarchischen die Ehre, der despotischen die Furcht. Ob nun Montesquieu oder Wieland Recht habe, untersuche jeder selbst; ich bemerke dieß bloß um zu beweisen, wie treu sich Wieland auch in seinen politischen Grundsätzen blieb, von denen zu sprechen einem andern Orte vorbehalten bleibt.S. 110. Z. 17. Einwohner des Mondes — Die Einwohner des Mondes, wiewohl wir Neuern erst durch Huygens und Fontenelle mit ihnen in Bekanntschaft gekommen, sind in Agathons Munde nicht unschicklich. Schon die alten Aegyptischen Priester hielten den Mond für eine bewohnte Welt, und Orpheus brachte diese Lehre zu den Griechen. W.

Buch 9.

S. 118. Z. 16. Helden des Petronius — Enkolys höchster Grad der Erschlaffung, und die Zaubermittel der alten Enothea, einer Priesterin des Priapus, gegen jenes Uebel, sind in einer der ärgerlichsten Scenen des Satyrikon von Petronius geschildert.S. 135. Z. 22. Mentors — Die Göttin der Weisheit selbst leitete den jungen Telemachos, als er seinen Vater Odysseus aufsuchte, in der Gestalt eines Mannes, unter dem Namen Mentor, welcher Name daher jedem Führer von Jünglingen gegeben wird, in dem man doch Weisheit voraussetzt.S. 141. Z. 24. Hyperides — Ein Redner zu Athen, der viel auf Hetären wendete, hatte einst die schönste derselben, Phryne, vor Gericht zu vertheidigen. Da seine Beredsamkeit die Richter für die Sache seiner Gelebten nicht hatte gewinnen können, so zerriß er ihren Schleier und enthüllte ihren reizenden Busen. Die Richter sprachen die schöne Priesterin der Venus frei, und damit ein ähnlicher Fall nicht etwa wieder eintreten möchte, wurde das Gesetz gegeben, daß künftig kein Beklagter bei dem Urtheilsspruch zugegen seyn solle.S. 142. Z. 9. Die spitzfindige Delicatesse eines Jul. Cäsars — Dieser schied sich von seiner Gemahlin wegen des Verdachts eines unerlaubten Umgangs derselben mit Clodius, denn, sagte er, von Cäsars Gemahlin muß niemand auch nur solch einen Verdacht haben.S. 150. Z. 3-4. Kritobulos — einen Wagehals — Xenophons Denkwürdigkeiten des Sokrates, im dritten Kapitel des ersten Buchs. W.S. 157. Z. 17. Der Rath des alten Cato — In der zweiten Satire des Horaz, v. 31. u. s. W.S. 157. Z. 17. Oder Lucrez — Im vierten Buche de Rerum Natura. W.S. 169. Z. 9-11, Die Tugend —— die Gottheit selbst — Miaux en connoit la vertu, plus on l'aime: on se prosterneroit devant elle, on l'adoreroit, ai elle étoit personifiée; et elle le seroit aux yeux d'un mortel, à qui Dieu se rendroit visible. Les Moeurs, P. I. ch. 1. W.S. 177. Z. 5. 6. Verf. des — lehrreichsten Romans. — J. J. Rousseau in der Vorrede zu seiner neuen Heloise. W.S. 182. Z. 4. Daß die Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten. — Die Griechen kannten und schätzten die Liebe mehr von ihrer sinnlichen Seite. Im Mittelalter veränderte sich das Verhältniß der Geschlechter zu einander durch die drei vereinigten Ursachen des Cyristianismus, des Germanismus und des Ritterthums, uns es entstand daraus die romantische Liebe, wie sie bei den Troubadours, Minnesingern und den ältesten Dichtern des Romans gefunden wird, bis sie den äußersten Punkt ihrer Höhe in Dante und Petrarca erreichte. Die keusche Verehrung des Weibes wurde religiöse Ehrerbietung, das Sinnliche vergeistigt: Einbildungskraft und Gemüth wirkten dabei mit, wie sie bei den Griechen nicht gewirkt hatten, und daraus entstand die den alten ganz unbekannte Sentimentalität der Liebe bei den Neuern. Als schon längst beinah an allen Höfen jene romantische Liebe in bloße Galanterie, Coutoisie (wovon der Ausdruck Courmachen noch im Gebrauch ist) übergegangen war, suchten, aus leicht begreiflichen Gründen, Frauen den Ton der feierlichen und ehrerbietigen Liebe zu erhalten; die Marquise de Sablé bereitete vor, was die Fräulein Scuderi vollendete, welche letztere Menage die Erfinderin de l'amour de tendresse nennt.S. 184. Z. 25. Sokrates rieth — Liebe — an welcher u. s. w. — Denkwürdigkeiten des Sokrates, s. Anmerkg. zu Bd. XXV.

Buch 10.

S. 193. Z. 7. Elogabal — Gewöhnlich Heliogabalus genannt, unter den ersten Römischen Kaisern an Verbrechen und Schändlichkeiten vielleicht selbst über Nero. Seine Ausschweifungen vermag ein züchtiger Geschichtschreiber kaum nachzuerzählen. Er wurde am Ende auf dem heimlichen Gemach ermordet.S. 245. Z. 3. Simoniden und Pindare — Simonides, geboren auf der Insel Keos 557 v. Chr. gehörte zu den vorzüglichsten lyrischen Dichtern der Griechen; man rühmt ihn als gleich groß in Siegsliedern, dithyrambischen Chorgesängen und Trauergesängen. — Der gepriesenste von allen Griechischen Lyrikern ist jedoch Pindaros. Von dessen Verhältnis zu Hiero s. Anm. zu Bd. XXV.