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Felix Niedner
Islands Kultur zur
Wikingerzeit
Mit 24 Ansichten und 2 Karten
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1913
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Einleitung
Meine Darstellung richtet sich in Art und Kunst nach dem
Zweck der Sammlung Thule.
Als bekannt setze ich dabei die Eddadichtung voraus, deren
Lieder in den beiden ersten Bänden besonders eingehend erläutert
wurden.
So mußten die Sagas in den Vordergrund treten, deren Familien-
und Königsgeschichten Thules Hauptbestandteil bilden.
Ihr historisches Verständnis zu erschließen war in erster Linie
mein Streben. Die mythischen Sagas und Heldenromane, im
ganzen mehr bekannt, geben dem Bilde isländischer Prosa-
darstellung verhältnismäßig wenig neue Züge. Sie standen
dem Zeitalter Goethes und der Romantiker näher, während wir
im Jahrhundert des Realismus für den Wirklichkeitssinn jener
historischen Sagas mehr Empfänglichkeit besitzen.
Die geschlossene Kunstform wirkt in den alten Familien- und
Königsgeschichten für sich selbst. Mehr noch in der Darstellung
als in den Stoffen liegt ihr innerer Wert. Keine ästhetische Würdigung
kann die eigene Lektüre erlesen.
Der Hintergrund, von dem sich diese Erzählungen abheben,
mutet den modernen Leser seltsam und befremdend an. Das allgemeine
Weltbild des Wikingertums, ohne das jene Sagas
unverständlich bleiben, mußte ich daher im Umriß geben,
Am schwierigsten blieb die Vermittlung der Skaldendichtung,
Wegen ihrer bruchstückweisen Überlieferung und wegen ihrer
schweren Verständlichkeit verzichteten wir auf einen besondern
Band der Skaldendichtung. An Wert steht sie der Eddadichtung
und den Sagas nicht nach. Die menschlich interessantesten
Persönlichkeiten des alten Island sind Skalden.
Gleichwohl verhalten sich sonst verständnisvolle Vermittler
des isländischen Altertums der Dichtung jener Männer gegenüber
meist skeptisch und spröde.
Dem Herausgeber lag das Skaldentum besonders am Herzen,
Darum hat er im dritten Bande ihm in der Geschichte vom
Skalden Egil seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Das
dort und hier gezeichnete Bild hofft er in den Einführungen zu
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Band 9 (Vier Skaldengeschichten) und Band 14 —16 (Snorris
Königsbuch) zu vervollständigen.
In den Sagas wirken die heldenhaften Männer des alten
Island mit der Notwendigkeit einer Naturmacht. Unsere Bewunderung
dieser einheitlichen rersönlichkeiten wird manchmal
so stark, daß wir ihre Überlegenheit anerkennen, selbst wo
uns ihre Handlungsweise widerstrebt. Wir Deutschen kennen
dieses Gefühl. Es hat uns gelegentlich gegenüber dem eisernen
Schöpfer unseres Reiches beseelt.
Für das Verständnis des Skaldentums hat sich unser Blick
durch die Erscheinung moderner Übermenschen geschärft. Historisch-psychologische
Forschung sucht emsig in deren Inneres
einzudringen. Männer, die wir handelnd einheitlich wie keine
andern schauten, werden uns, seelisch betrachtet, zu den kompliziertesten
und schwer zu deutendsten Gebilden.
Gestalten wie Egil Skallagrimsson sind in weit einfacheren
Verhältnissen kaum anders zu werten.
Die Saga zeigt uns die dämonische Einheitlichkeit der Persönlichkeiten
im Handeln. Hier wirken sie als Volkshelden unmittelbar
auf den deutschen Leser.
Aus der Skaldendichtung steigt das Menschlich-widerspruchsvolle
hervor, das auch den geschlossensten Charakteren anhaftet.
Dies eigenartige Seelenleben verleiht ihnen erst den höchsten
künstlerischen Reiz. Es mag besonders unsere nach Wirklichkeitswerten
suchende moderne Dichtung interessieren.
Alles in allem leuchtet hier wie ein Sinnbild aus ältester Zeit
der Genius großen Germanentums, dessen willen Walten
wir in dem Zeitalter Bismarcks so lebendig verspürten.
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Sandsturm im Innnern Islands. Im Hintergrund die Vulkane Sellandafiall und Bläfiall
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Isländisches Volks
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1. Die Insel Island
Von den nordischen Ländern germanischer Zunge trat Island
am spätesten in den Kreis unserer Vorstellung.
Dänemark liegt Deutschland benachbart. Seine Kultur steht
uns seit langem nahe. Kopenhagen, der Schauplatz von Holbergs
und Thorwaldsens künstlerischem Schaffen, findet uns
dort geistig heimisch. Auch die skandinavische Halbinsel wurde
uns im letzten Menschenalter durch leichte und schöne Reiseverbindungen
ausgiebiger erschlossen. Wir kennen und begreifen
nun aus eigener Anschauung Schweden, Bellmans
und Tegnérs Vaterland, und Norwegen, die Heimat Björnsons
und Ibsens. Beide Länder stehen vor uns in ihrer starken
Eigenart. Selbst Finnland, das ja einst von der Großmacht
Schweden seine germanische Kultur empfing, würdigen wir
täglich mehr in seiner nordischen Sonderstellung.
Nach dem ersten Kulturlande des Nordens in alter Zeit, der
Insel Island, ist erst jetzt der Verkehr aus Deutschland etwas
reger geworden. Und doch ist Island eine eigen ehrwürdige
Stätte. Denn hier lebt, seit einem Jahrtausend vom alten
Mutterlande Norwegen abgezweigt, ein nordgermanischer
Stamm von höchst charakteristischem Gepräge.
Wenige haben davon in Deutschland einen klaren Begriff.
Nur besondere Liebhaber besuchten bisher die Insel, die seit
fünfhundert Jahren politisch, nicht ihrem Volkstum nach, zu
Dänemark gehört. Allein Forscher auf naturwissenschaftlichem
oder kulturhistorischem Gebiet haben bei uns die Eigenart von
Islands Natur und Bevölkerung eingehender studiert und
umfassender gewertet.
Daß Island im allgemeinen Deutschland so fern blieb, erklärt
sich durch seine abgeschlossene Lage. Die dürftigen Schiffsverbindungen,
fast nur mit Dänemark, ließen es beinahe wie ein
erotisches Land erscheinen. Gehört es doch geographisch fast
schon nach Amerika. Mancher in Deutschland denkt wohl bei
dem Namen Island, der so eisig klingt, eher an Grönland oder
Kanada als an eine zivilisierte europäische Gegend.
In unserm Reiseverkehr nach dem Norden steht Island noch
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beute an letzter Stelle. Drei Tage braucht einer der großen
Hamburger oder Bremer Dampfer bis zur Hauptstadt Reykjavik
. Man besucht die Insel indes meist nur auf einer erweiterten
nordischen Hochsommerreise. Mit Spitzbergen, dem nördlichsten
Ziel einer solchen, beginnt für uns im Eismeer die
Vorstellung kulturloser Ode. Nicht viel anders, wenn auch mit
weniger Recht, denken wir uns, nordwestlich von den Shetlandsinseln,
im Atlantischen Ozean die unwirtlichen Färöer.
Wie weit jenseits folgt dann erst Island!
Weit überseeisch dachte man sich auch Islands mythologisches
Spiegelbild im Nibelungenliede: den Isenstein. Dort thronte
der Sage nach die spröde Jungfrau Brünhild, den von Süden
kommenden deutschen Helden kaum erreichbar. So unnahbar
steht unserer Phantasie im allgemeinen noch heute Islands
Land und Volk gegenüber. Das Mittelalter hindurch galt Island
als die rätselhafte Thule im Eismeer. Wunder hatte von
ihr schon zu Alexander des Großen Zeiten der griechische Seefahrer
Pytheas von Marseille zu berichten gewußt. Noch heute,
im grellen Tageslichte des Weltverkehrs, ist dieser geheimnisvolle
Schleier über den äußersten Vorposten Europas im Ozean
gebreitet.
Vorüber sind freilich die Zeiten, wo von den Isländern in
Reiseberichten als verkümmerten Höhlenbewohnern gefabelt
werden konnte. Niemand vermutet dort heute mehr eine Eskimokultur,
wie sie in früheren Jahrhunderten Unverstand
oder Böswilligkeit der Insel andichteten. Das hindern schon
anziehende Reiseskizzen und gediegene Werke über Island,
aus denen doch dieses oder jenes in unsere Tagesliteratur oder
in unser Alltagsgespräch hindurchsickert. Immerhin ist, was
der Gebildete von Island weiß, wenig. Man kennt im allgemeinen
wohl kaum mehr als die Namen Reykjavik, Hekla und
Geysir.
Vielleicht wundert sich bei uns mancher im stillen, daß es auf
Island überhaupt eine Hauptstadt gibt. Wie viel weniger
barbarisch als Reykjavik klänge schon die deutsche Form des
Namens "Rauchbucht" auf unsern Karten. Sie malte uns die
Lage der Stadt an der Südwestküste deo vulkanischen fjord
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Lavaformen im Ödadahraun (Missetatenwüste). Im Hintergrund die Ketildyngsa
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reichen Landes. Wir verfolgen mit Spannung jeden neuen
Kraterausbruch von Vesuv oder Ätna, der uns aus Italien
gemeldet wird. Wer bei uns würde sich mit einer Eruption
des mächtigsten Eisvulkans Islands, der Hekla, dauernder
in seiner Phantasie beschäftigen: Man hört so viel von dem
Wunder der Vereinigten Staaten im Westen von Nordamerika
, dem meilenweiten Yellowstone-Naturpark. Aus häufigen
Abbildungen stehen seine heißen Springquellen unserer Anschauung
näher als die Gegend Islands, wo der Große Geysir
und seine zahlreichen kleineren Brüder springen.
Für populäre Auffassung stellt Island noch heute kaum mehr
vor als eine kuriose Provinz von Dänemark. Wir finden es
natürlich, daß Norwegen sich kürzlich selbständig machte. Denn
wir lernten sein dem schwedischen entgegengesetztes Staatsgebilde
allmählich kennen. Wir verstehen Finnlands Kampf um
seine nationale Unabhängigkeit. Bekamen wir doch für seine
dem russischen Wesen widerstrebende Kultur in letzter Zeit mehr
Interesse. Die Wünsche Islands aber, sich von dem Königreich
Dänemark verfassungsrechtlich zu emanzipieren, stoßen
kaum irgendwo bei uns auf Verständnis. Wir wissen doch so
wenig von der Insel. Wir haben nie einen Isländer gesehen.
Gleichwohl führt schon das Wenige, was wir gelegentlich in
Deutschland von Island hören, zu einer lebendigeren greifbareren
Anschauung.
Man liest bei uns Pierre Loti. Aus den Islandfischern des
französischen Romandichters leuchtet uns der sauber des isländischen
Meeres in romantischer Pracht entgegen. In diesen
Naturrahmen hat er wirksam die Nöte und Gefahren eingezeichnet,
die seine Landsleute aus der Bretagne dort bei
mühsamer Fischerei zu bestehen haben. Diese fremde Fischerflotille
sagt uns so viel. Wir ahnen die Kämpfe und Mühen,
die das isländische Volk jahrhundertelang mit dem fischespendenden
Element an seiner Küste zu überwinden hatte. Mehr
aber noch den harten Erwerbswettstreit mit den Ausländern
die ihm diese einzige Ouelle der Wohlhabenheit von jeher
streitig machten,
?luch bei uns erregten die kühnen Fahrten Frithjof Nansens
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großes Aufsehen. Nächst dem tüchtigen Forscher galt unsere
Bewundrung der zähen Naturkraft in ihm, die vor keinem
Ziel zurückschreckte, das seine Abenteuerlust sich einmal gesteckt
hatte. Diese moderne Wikingergestalt lenkt den Blick zurück
auf die auserlesene Schar norwegischer Vorfahren, die einst
Island besiedelte. Wir erinnern uns, daß Isländer schon
fünfhundert Jahre vor Kolumbus Amerika entdeckten. Grönland
und Kanada erhielten damals isländische Kolonien. Gefürchtete
Krieger waren jene ersten Eroberer, die auf stolzen
Drachenschiffen das Meer durchkreuzten.
Richard Wagners Ring des Nibelungen hat sich die Welt erobert.
Wir haben hier germanischen Sagenstoff, aber nicht in
dem uns aus Hebbels Nibelungen geläufigen südgermanischen
Gewande unseres deutschen Nationalepos. Man weiß, daß
Wagners großen Musikstück die Edda voraussetzt. Die alten
Göttermärchen und Heldensagen, an die man bei diesem ehrwürdig
klingenden Namen denkt, sind auf Jsland entstanden
der doch dort der Nachwelt bewahrt.
Wie wäre dies möglich gewesen, wenn jenes Volk barte-
körperlicher Arbeit und weitreichender kriegerischer Kolonisation
nicht auch in geistiger Kultur seinen Mann stand:
Das Bild der geheimnisvollen Thule leuchtet klarer und glänzender,
je mehr man sich der älteren Zeit nähert.
Als Otto der Große in Deutschland herrschte, blühte auf Island
ein heldenreicher Freistaat. Sein kriegerisches Bauernvolk
stand noch ganz auf dem Boden altgermanischer Kultur. Zur
seit der staufischen Raiser, gegen Ende dieser Republik, war
der Höhepunkt der altisländischen Literatur. Damals wurden
die Geschichten und Lieder des isländischen Heldenzeitalters
für die Nachwelt aufgezeichnet.
Diese historische und literarische Vergangenheit läßt es begreiflich
erscheinen, daß der heutige Isländer noch so stark auf sein
Volkstum pocht. Sie machte aber auch Island für alle seiten
zum heiligen Boden für alle Völker gemanischer ?Abstammung
Der wanderlustige Deutsche darf beim Besuch der Insel gewiß
sein, dort auch heute noch einen Hauch seiner eignen Vorväterzeit
zu verspüren.
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In Reykjavik landeten vor tausend Jahren die ersten Ansiedler
auf Island. Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts
wurde der in alter Zeit wenig bedeutsame Platz Hauptstadt.
So bildet er auch jetzt wieder die Eingangspforte für den Besuch
der Insel.
Ein Achtel der Bevölkerung stellt die Stadt mit ihren mehr
als 10000 Bewohne dar. Doch könnten auf der Insel statt
80 000 bequem 800 000 Einwohner in wirtschaftlichem Wohlstand
leben. Der Größe nach umfaßt Island ein Areal ungefähr
wie Süddeutschland rechts des Rheines oder die preußischen
Provinzen Brandenburg, Sachsen und Hannover. Für
dies Gebiet ist Rerkjavik natürlicher Bildungsmittelpunkt wie
im großen etwa Kopenhagen für die drei nordischen Königreiche.
Von der Hauptstadt Dänemarks empfängt die isländische
den modernen Kulturfirnis. Die volkstümliche Ursprünglichkeit
hebt dieser nirgends auf.
Die Vorzüge der isländischen Landschaft treten dem Fremden
gleich hier in großer Vollkommenheit entgegen. Von der prachtvollen
Lage der Stadt gibt etwa das Bild der alten Hansestadt
Bergen in Norwegen eine Vorstellung. Die Reede Reykjaviks,
eine der schönsten Europas, zeigt im Schiffsverkehr den blühenden
Handel mit dem Fischreichtum der Insel. Wikingerhafte
Gestalten unter den Männern, die an Holland erinnernde
Tracht der Frauen erfreuen das Auge. Auf das Innenland
weisen die schmucken Holzhäuser mit üppigen Grasgarten und
zur Reise aufgezäumte Trupps malerischer Inselpferde. Hohe
eisbedeckte Berge winken aus der Ferne herüber, und die heißen
Quellen der Umgegend beschäftigen betriebsame Wäscherinnen.
Natur und Kunst arbeiten sich hier in die Hand. In der Stadt
selbst ragt die Domkirche, und, vom Basalt der Insel gefügt,
das stolze Parlamentsgebäude.
Das freundliche Städtebild Reykjaviks wiederholt sich im
kleinen an den übrigen Hafenplätzen der Küste. Denn hier, wo
der Fremde leichter hinkommt, nicht in dem schwer zugänglichen
Innern, spielt sich ab, was uns an gewohnten europäischen
Verkehr erinnert. Oft, taucht in den malerischen Küstenstädtchen
ein inmitten aller Anspruchslosigkeit überraschender Kom
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fort auf. Ihn erwartet man nicht in einem Lande, das, dem
Polarkreis nahe, schon arktischen Charakter tragen sollte.
Eine Umfahrt der Insel, durch regelmäßigen Verkehr der
Küstendampfer leicht bewerkstelligt, gestattet in den wechselvollen
Charakter der Küstenlandschaft einen guten Einblick.
Oft gibt sie auch schon ein Vorgefühl von der großartigen Ode
und Wildheit des Innenlandes.
Sandig und hafenarm ist die Südküste. Im Hintergrunde erheben
sich die Stätten der furchtbarsten Naturgewalten, die
Island sein Eigen nennt. Hier im Süden ragt der gewaltigste
der vielen öden Gletscher, der eine Fläche wie das Großherzogtum
Hessen bedeckt. Von den zahlreichen Bächen und Strömen,
die ihm nach allen Seiten entquellen, trägt erden bezeichnenden
Namen Vatnajökull, d. b. "Wasserferner" . Hier haben oft Vulkane
mit ihren Ausbrüchen die Insel heimgesucht. Noch Ende
vorigen Jahrhunderts wütete im Süden ein furchtbares Erdbeben
. Hier ward das von plötzlichen Orkanen gepeitschte Meer
von jeher der Schiffahrt gefährlich. Und doch war in alter Zeit
auch das Südland der Insel der Schauplatz reichen und blühenden
Volkslebens. Dort entstand Islands gelesenstes Buch, die
Geschichte vom weisen Njal.
Anheimelnder als die unwirtliche Südküste wirkt der Osten.
Zwar teilt er mit jener das Mißgeschick, daß eine polare Gegenströmung
am Lande die wohltätige Wirkung des Golfstroms
abschwächt. Dafür bringen aber die warmen Winde vom Atlantischen
Ozean ein milderes Klima. Der Landschaftscharakter
erinnert an die hier Island zunächst liegende norwegische Küste.
Der Name des Hauptortes Seydisfiördur bedeutet etwa"Fischbucht"
. Tief in einen Fjord eingebettet liegt die 1000 Bewohner
zählende Stadt mit ihren weißen Holzhäusern malerisch an
mächtiger Gebirgswand. Buntes Leben und Treiben herrscht
hier. Dorschfang und Dorschhandel haben in der Stadt einen
Mittelpunkt. Bis zu 1000 Metern steigen die Basaltberge, die
meist jäh in die schmalen Fjorde des Ostlands abstürzen. Wo
diese allmählich in breitere Buchten übergehen, kündigt sich schon
der Charakter der Nordküste an.
In ihrem östlichen Teil überragt diese den Polarkreis, um sich
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Die Westmännerinseln, Südisland
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ihm dann aber erst an ihrem westlichen Ende im Kap Horn
wieder zu nähern. Die lange Einsattlung dazwischen bleibt
durchschnittlich einen Grad tiefer. Große Buchten und Fjorde
steigen weit ins Land hinab. Von vulkanischen Schrecken blieb
diese Gegend Islands am meisten verschont. Dafür setzt hier
aber der Golfstrom ganz aus, und von Grönland her droht
das furchtbare Polareis. Dies hält oft vier Monate lang und
länger die ganze Küste in arktischem Bann.
Auch der Norden hat aber noch teil an Islands ungewöhnlich
mildem Seeklima. In Reykjavik ist die Mitteltemperatur
des kältesten Monats 3 Grad Kälte, die des wärmsten 12 Grad
Wärme. In der Hauptstadt des Nordlandes bleibt die Durchschnittstemperatur
nur etwa um 4 Grad hinter dem übrigen Island
zurück. Hier haben zugereiste Ausländer größere Rührigkeit
in die Bevölkerung gebracht. Waar pflegt in bescheidenem
Umfange Baum- und Blumenzucht, Obst- und Gemüsebau,
die auch dem Inland zugute kommen. Der Name des Hauptorts,
der Saatgelände" bedeutet, weist auf alten Getreidebau.
Im norwegischen Stil gebaut liegt Akureyri reizvoll am langen
Eyjafjördur, d. h. Inselfjord. Es ist Hauptstapelplatz für den
Fischhandel im Norden. In den breiten Buchten wird überall
der Heringsfang von Isländern und den zahlreich zugereisten
Norwegern voll eisigen Wettstreits betrieben.
Wirklich polaren Charakter bekommt die Gegend im westlichen
Nordland. "Eisfjord" ist der Name der reichgezackten Halbinsel
, die den Übergang zur Westküste bildet. Höher als das
norwegische Nordkap leitet Kap Horn mit seinem jähen Absturz
ins Meer diese neue Szenerie ein. Ungeheure Vogelschwärme
beleben es. Unter waghalsiger Kletterarbeit werden
die Tiere mit ihren Eiern dort erbeutet. Wale bevölkern das
Meer. Zu ungeheuren Bergen ist der gefangene Klippfisch
in den Hafenorten aufgetürmt. Niedriger als im Osten
fallen die Basaltberge auch hier steil nach der Küste ab,
aber die Schneegrenze liegt dafür viel tiefer. Dieser Teil
Islands hat schon grönländisches Äusseren. Nirgends ist
auch die Küste von Grönland und Amerika der isländischen
so nahe. In alter seit war selbst diese eisigste Zone Islands
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wie der ganze Norden und Osten Schauplatz fesselnder Volkserzählungen.
Mit der Westküste beginnt der schönste und merkwürdigste
Teil des "Nordischen Hellas". Hier entfaltet die Landschaft an
Mannigfaltigkeit der Küstenbildung und im Wechsel wunderbarer
Beleuchtung ihre höchsten Reize. Zu vergleichen sind
etwa die schönsten Szenerien Norwegens oder Schottlands.
Doch können sie sich nicht entfernt mit der großartigen Natur
der isländischen Westküste messen.
Eine vielgegliederte Halbinsel trennt die beiden großen Buchten,
die sonst die ganze Westküste ausfüllen, den Breitfjord
und den Faxafjord. Auf jener Halbinsel ragt, weithin nach
Süden, bis Reykjavik sichtbar, ein Gletschergebirge, der Tummelplatz
isländischer Rübezahlmärchen.
Die Nordbucht, der Breitfjord, war in alter Zeit Zeuge des
reichsten Volkslebens der Insel. Die milchweißen lachsreichen
Gletscherströme zogen die ersten Ansiedler mächtig an. Hier
herrschte blühender Wohlstand. Es gab Bauensitze, die an
Pracht den Hallen norwegischer Könige wenig nachstanden.
Das landschaftliche Panorama wird durch das der Südbucht,
des Saxafjords, übertroffen. Es ist wohl das schönste der
Insel. Künstlerisch veranlagte Besucher haben den überwältigenden
Eindruck geschildert, der sie ergriff, wenn sie von
Süden kommend um Reykjanes, d. b. Rauchkap, herumbogen
und nun diese Wunderwelt sich ihnen auftat. Meilenweit folgt
Vorgebirge auf Vorgebirge, das eine in felsigen Bimsstein auslaufend,
das andere in einer hohen Pyramide ewigen Schnees
endigend, während in dem dazwischenliegenden Halbkreise die
Gipfel hundert stolzer Berge emporsteigen.
Kaum einen Breitengrad auseinander liegen hier die Hauptstätten
der ältesten und der jüngsten Kultur auf Jsland.
Un einer nördlichen Bucht, wenig landeinwärts, erhebt sich
der uralte Bauernsitz "Borg". Hier, auf dem weit ins Land
schauenden Felshügel, ruhte Egil, Islands namhaftester Dichter
, von seinen Wikingerfahrten aus und schuf unsterbliche
Lieder. Hier reifte ein Vierteljahrhundert später Islands größter
Gelehrter Snorri seiner universellen Bildung entgegen.
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Noch jetzt liegt dort ein Gehört mit gleichem Namen. Noch
heute finden sich Spuren der Örtlichkeiten, auf denen die Geschichte
des alten Skalden sich abspielte und wo später sein gelehrter
Nachfolger sie zu Pergament brachte.
Gegenwart und Vergangenheit knüpfen sich an diesem weihevollen
Platz besonders eng für den Besucher zusammen. Leicht
wird der Wunsch geweckt, ins Innere des Landes vorzudringen
, das noch so viele andere Erinnerungsstätten bietet.
Aus einem Geschlecht von Edelbauern waren jene beiden berühmtesten
Männer Islands hervorgegangen. Man möchte die
Nachkommen so kraftvoller Bauerngeschlechter gern in ihren
jetzigen Wohnsitzen aufsuchen.
Dieser Wunsch wird verstärkt, wenn der Fremde dann zu der
südlichen Halbinsel des Faxafjords kommt, wo Reykjavik in
seiner herrlichen Bucht liegt. Denn die Hauptstadt ist wie für
die Küstenfahrt auch für die Inlandreise der gegebene Ausgangspunkt.
Hier wird der Fremde durch die originelle altertümliche Reiseausrüstung
ein Teil des Volkes selbst. Er gewinnt den Isländer
lieb, der ihm unterwegs ein kundiger Führer, oft ein
guter Freund wird. Bibliothek und Museum orientieren ihn
im voraus vortrefflich über die Landeseigentümlichkeiten.
Vielleicht trifft der Besucher in der Stadt auch einen der klugen
und gelehrten Männer, die um die Natur oder Geschichte
ihres Landes so vortrefflich Bescheid wissen. Dann gibt ihm
ihr stets freundlich gespendeter Rat gleich einen angenehmen
Vorgeschmack der Gastlichkeit, die seiner im Lande wartet.
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2 .Das neuisländische Volk
Wer das altisländische Volk aus dem neuisländischen
kennen lernen will, muß dem Bauer im Innenlande
näher treten. Noch heute lebt dieser in ähnlichen, wenn auch
nicht so günstigen Verhältnissen wie in alter seit. Hier genießt
der Fremde unmittelbar die Ursprünglichkeit isländischen Volkstums,
das sich seit der Wikingerzeit wenig veränderte.
Im Inland gibt es keine modernen Beförderungsmittel wie
an der Küste. Ohne Illusion darf der Reisende annehmen, daß
er sich ungefähr in gleicher Weise von Ort zu Ort fortbewegt
wie ein Isländer vor tausend Jahren. Der stete unentbehrliche
Begleiter ist das kleine Inselpferd, das schon damals den Bewohner
des Landes samt seiner Reiselast trug. Gegen die
furchtbaren Sandstürme und Schneegestöber des Innern benutzt
man noch heute die alten natürlichen oder der Natur des
Ortes angepaßten Schutzhütten. Noch jetzt müssen die reißenden
Gebirgsströme fast immer ohne Brücken durchschritten oder
durchschwommen werden.
Auf den Anblick hochstämmigen Waldes oder wogender Getreidefelder
muß der Besucher hier verzichten. Nur in werghafter
Gestalt finden sich Bäume, und Saatlaud so gut wie gar
nicht. Nächst den schneebedeckten Gletschern und den bis zu
1500 Metern aufsteigenden oft vulkanischen Berggipfeln gibt
die Lava-Hochebene dem größtenteils öden Innern das Gepräge.
In den mannigfachsten Formen von hohen terrassenförmigen
Klippen, Zacken und Säulen bis zu ausgedehnten unterirdischen
Höhlen tritt sie auf. Melancholische Seen füllen oft die
erloschenen Krater der Vulkane. Alte Badeanlagen sum Auffangen
des Wassers der beißen Sprudel oder malerisch in die
Lava gefügte Hürden für das Vieh machen die Vorzeit lebendig.
Die schönste Staffage der großartigen, aber einförmigen Landschaft
ist das silberwollige Schaf. Die Herden dieses genügsamen
Tieres bilden jetzt wie früher den Wohlstand der Bauern. Das
Einsammeln und die Schur der wild weidenden Schafe sind
fröhliche Unterbrechungen des eintönigen ländlichen Lebens.
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Bisweilen wird diese unfruchtbare Stille durch grüne Gebirgstäler
unterbrochen. Da liegen Ortschaften und Gehöfte. Aus
Erde, mit Rasen an Dach und Wänden bekleidet, oder aus
Holz erheben sich einfache Häuser. Dicht aneinandergebaut
liegen sie wie Stuben mit gesonderten Dächern nebeneinander.
Wo man diese Bauart trifft, da ist man noch in Altisland.
Wie früher umgibt solche Siedlungen ein Garten mit üppigem
Graswuchs. Die grünen Almen auf dem Bergabhang hinter
den Häusern beweidet im Sommer das Sennvieh. Die Heuernte
ist hier dem Volke das, was in günstigeren Himmelsstrichen
Korn- und Weinernte darstellt. In langen Zügen sieht man
die kleinen Pferde dann gehen, mit Heu hoch beladen, das in
diesen Gegenden besonders duftig ist. Nächst den weidenden
Schafherden der nur spärlich bewachsenen Lavafelder ist dies,
wie in alter Feit, das stimmungsvollste Bild isländischen
Binnenlandes.
Am wohltuendsten berührt den Besucher bei der jetzigen Bevölkerung
ihre große Gastlichkeit. Der Gebildete in den Städten
wie auf dem Lande behandelt den Fremden wie ein geborener
Gentleman. In den größeren ländlichen Gehöften, wo neben
altertümlichen Kirchen sich auch einmal ein Steinhaus erhebt,
steuern Prediger und Lehrer; Arzt oder Bezirksamtmann aus
reicher Kenntnis des Landes gern zur Vertiefung der Reiseeindrücke
bei.
Aber auch der einfache Mann auf dem Lande legt eine natürliche
Herzlichkeit in den Empfang, die auf alte Volksgewohnheit
weist. In abgelegenen Gegenden wird der Fremdling in
naiver Weise oft geradezu als Hausgenosse betrachtet. Die
Gastlichkeit wird schon in den ältesten Liedern Islands als
selbstverständlich vorausgesetzt. Uns Deutschen ist dieser nordgermanische
Zug schon von den übrigen skandinavischen Völkern
her vertraut. Es mag natürlich sein, daß er sich auf der
einsamen Insel noch besonders steigerte.
Die Gastlichkeit ist freibeitliebenden Völkern besonders eigen.
Man denkt an ein anderes edles Volk, die Araber, das, wie
die Isländer, auf eine große Vergangenheit zurückblickt. An
dies erinnert auch sonst manches im Charakterbild des Isländers:
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sein vornehmes Selbstbewußtsein, sein natürlicher Verstand
. Die Fragen, die auf Island an den Besucher gestellt
werden, geschehen mit einer ruhigen Würde und erheben sich
weit über die gewöhnliche Neugier, die bei jedem der Kultur
fernen Volke natürlich ist. Hier sind sie fast immer auf wirklichen
Wissensdrang gegründet. Dies in kleine und enge
Lebensbedingungen eingespannte Völkchen wirtschaftet auch
heute noch mit der reichen Phantasie und dem hohen Verstand
seiner Vorfahren.
Nur konnten beide in den unglücklichen geschichtlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen, denen die Insel im Mittelalter
bis in die Neuzeit ausgesetzt war, selten eine wirksame Betätigung
M die Gegenwart finden. Dänische und andere Monopole
lasteten auf dem Handel der Insel von je. Eine nennenswerte
Industrie kam nie zur Entwicklung. Noch jetzt sind
geschäftliche Betriebsamkeit und Erwerbssinn bei der Bevölkerung
wenig ausgebildet. An der Küste haben Ausländer
anregend eingewirkt. Das Innenland hat im alten Bauerntum
verharrt. Aber es fehlt ibm die Rührigkeit, die durch die Aufregungen
der Wikingerzeit in dieses hineingetragen wurde.
So ist der Sinn auch des einfachen Isländers vorwiegend
nach Innen gewendet. Er ist ein Denker, Grübler oder Träumer.
Die Durchschnittsbildung des Volkes ist sehr hoch. Einfache
Männer nehmen oft an den Gesprächen Gebildeter, ja Gelehrter
unbefangen teil, ohne daß man den Unterschied geistigen
Niveaus gegenseitig stark empfände. Alle hängen mit der
gleichen Liebe an der alten Vergangenheit ihrer Heimat. Jeder
weiß wenigstens etwas davon. Die ersten vollständigeren Ausgaben
altisländischer Erzählungen und Dichtungen wurden
durch Subskription veranstaltet. Sehr hoch war die siffer aus
einfachen Fischer- und Bauernkreisen, die sich verständnisvoll
daran beteiligten.
Der wissenschaftliche und künstlerische Sinn der Vorfahren
steckt dem Volke noch tief im Blute. Von jeher bildete das
Lesen der alten Geschichten aus der Heimat seine Lieblingsbeschäftigung
. Außer der isländischen Laienbibel, der Geschichte
vom weisen Njal, gibt es noch etwa ein Dutzend alter Erzähungen,
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die allgemeiner bekannt sind. Jeder größere Distrikt
nennt aus der Vorzeit eine geschriebene Heimatgeschichte sein
Eigen. Oft wandert jetzt das gedruckte Exemplar von Haus zu
Haus, bis das ganze Kirchspiel es gelesen hat.
Noch beliebter ist das Vorlesen, das die uralte Form des mündlichen
Vortrags dieser Erzählungen heute vertritt. Nach Art
unserer Spinnstuben sammelt sich an den langen Winterabenden
ein aufmerksamer Kreis, der an den Lippen eines modernen
Sagamannes hängt. Besonders Frauen und Mädchen
werden durch die alten Geschichten hingerissen und bekunden
durch Ausrufe des Staunens und der Freude ihre Teilnahme
an der spannenden Erzählung. So ans Herz gewachsen ist
dieser Brauch dem Volke, daß es früher an hohen kirchlichen
Festtagen als größte Enthaltsamkeit galt, wenn man an diesen
darauf verzichtete. So hoch war die Autorität dieser alten
Volkserzählungen, daß jetzt Bauern die Lektüre moderner
Novellen aus Island oder der Fremde ablehnen, weil nur ein
einzelner sie gemacht habe.
An Beliebtheit mit dieser Volksunterhaltung kann sich nur der
Vortrag der schönen Reimdichtungen messen, die seit alter Zeit
auf Island im Schwange find. Neben Volksmärchen und
Rittersagen des Mittelalters haben auch hier wieder die isländischen
Heimatsgeschichten den reichsten Stoff beigesteuert.
Auch diese Gedichte werden im häuslichen Kreis unter Musikbegleitung
vorgetragen. Aber auch auf den ländlichen Tanzfesten
spielen diese Lieder eine Rolle. Willkommen ist der wandernde
Spielmann, der viele solcher Weisen kennt und sie schön
vorzutragen weiß. Hochangesehen ist, wer sie durch eigene Zudichtung
im alten Volksstil zu mehren versteht. Denn jeder Isländer
, selbst der geringste, ist seiner Neigung nach ein Dichter.
Viele sind es auch an Begabung.
Volksweisheit in Spruchform blüht hier seit den ältesten
Zeiten. Das gewandte Improvisieren wird schon Knaben leicht,
und bei erwachsenen Männern fliegt schnell im Wechselgespräch
dichterische Anrede und Antwort in Reimen hin und her. Alltägliche
Vorkommnisse, etwa der Auftrag, den der Herr seinem
Knecht gibt, werden gern in Verse gekleidet. In witzigen gereimten
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Bonmots werden gelegentlich der Pfarrer, der Arzt
oder der bäuerliche Nachbar verspottet. Auch Frauen und
Mädchen sind in solchen Improvisationen gewandt, die freilich
oft auf leere Silbenstechereien und nichtiges Reimgeklingel
hinauslaufen.
Ganze Sangeswettkämpfe werden von besonders dichterisch
geübten oder veranlagten Bauern ausgeführt. Es gilt, an festgesetzten
Abenden dem Gegner mit der Kenntnis oder der
Dichtung immer neuer Strophen aufzuwarten. Man überbietet
sich bei diesen improvisierten Liederkämpfen durch die gewagtesten
Sprach- und Reimspielereien. Oft währt es den ganzen
Winter, bis einer dieser beiden bäuerischen Skalden als Sieger
hervorgeht.
Im Binnenlande gibt es wohl keine Stätte, die durch großartige
Natur und gewaltige geschichtliche Erinnerungen gleich
ausgezeichnet wäre wie die Lavawildnis von Thingvellir. Sie
liegt etwa einen Längengrad von Reykjavik landeinwärts.
Nahe beim fischreichen größten Landsee der Insel breitet sich
auf weiter Hochebene das alte Thingfeld aus.
Hier fand in der Zeit des alten Freistaates alljährlich im Hochsommer
die große Volksversammlung statt, in der vierzehn
Tage lang über das Wohl und Wehe des ganzen Volkes verhandelt
wurde. Hier wurde aber auch bei der Tausendjahrfeier
der Besiedelung Islands vom dänischen König die Bestimmung
bestätigt, die eine neue freiheitliche Entwicklung des jetzigen Island
einleitete. Darum ist dieser Platz dem modernen Isländer
doppelt geweiht.
Auf dem Gesetzesfelsen der mächtigen von reißenden Gebirgswassern
durchströmten Lavaschlucht stand einst der Oberste des
Landes, der unten harrenden Volksmenge das Recht zu künden
Hier im Gedächtnis des alten mächtigen Wikingerstaateg
schärft sich der Drang nach einer politisch freien Zukunft, der
in jüngster Zeit alt und jung auf Island beherrscht.
In der Ebene, wo sich einst zur Mittsommerzeit ganz Island
in buntem Gewühl tummelte, spielte sich viel aus den alten
Isländergeschichten ab, und diese gingen selbst dort später von
Mund zu Mund. Hier darf der Neuisländer die Demütigungen
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Die Allmannagja-Schlucht bei Thingvellir. Westisland
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vergessen, die er unter norwegischer, dänischer und zeitweise
englischer Herrschaft über sich ergehen lassen mußte. Hier kann
er sich mit Stolz sagen, daß er sein literarisches Erbe gewahrt
hat und auch heute eine Literatur besitzt, die einen hohen und
eignen Geist atmet.
Die alten Geistesschätze der Heimat waren für die Isländer
in den seiten ihrer politischen Ohnmacht und der Mißwirtschaft
der Fremden auf der Insel ein nationaler Trost. Seit
der Reformation setzte eine lebhafte gelehrte Beschäftigung
auf Island mit ihnen ein. Besonders, als zur Zeit des Dreißigjährigen
Krieges die vornehmste Handschrift der Eddalieder
wieder entdeckt wurde, die später für unser gesamtes Wissen
vom germanischen Altertum von so hohem Wert wurde.
Neben der aufblühenden geistlichen Dichtung entstanden damals
und später Lieder meist nach dem Muster und im Stil
der alten Zeit. Die Islandgeschichten oder die "Sagas", wie
sie mit einheimischem Namen hießen, feierten wie die alten
Skaldenlieder in dieser Epigonendichtung nach Stoff und
Form manche Auferstehung.
Mit der größeren politischen Selbständigkeit zog im 19. Jahrhundert
auch ein neuer Geist in die Literatur ein. Übersetzungen
aus den übrigen europäischen Literaturen mehrten sich. Literarische
Strömungen, besonders aus den germanischen Ländern,
wirkten auf die einheimische Dichtung ein. Von der Romantik
Deutschlands bis auf Brandes' radikale Schule in den skandinavischen
Ländern traten diese Einflüsse hervor. Die Novellendichtung
kam in Aufschwung. Selbst das Drama im Stile
Ibsens. Eigenartig aber entfaltete sich eine neuisländische
Lyrik, die mit ihrem Empfindungs- und Gedankenreichtum
eine Zierde des kleinen Landes bildet.
Hier tritt uns der moderne Isländer lebensvoll entgegen in
seinem Träumen und Sehnen nach der Vergangenheit, in seinem
Sinnen und Hoffen für die Zukunft.
Den Snäfellsjökull, d. h. Schneefeldferner, auf der großen
Halbinsel im Westen besingt Steingrimur Thorsteinsson. Sein
in des Himmels Blau ragender Eisgipfel ist ihm ein Wahrzeichen
der Schönheit und Reinheit seines Vaterlandes. Der
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rübezahlähnliche Schutzgeist dort; der den furchtsamen Wanderer
neckt, wird ihm zum Sinnbild des isländischen Volkes,
das keine Schlaffheit duldet.
Den alten Feind des Landes, das furchtbare Polareis, stellt
Matthias Jochumsson vorwurfsvoll zur Rede. Das tausend
Eispfeile sendende Schreckgespenst des Nordens ruft ihm die
Erinnerung wach an alle die feindlichen Gewalten, die Freiheit
Kraft und Wissensmacht der Heimat so oft zu ersticken
drohten. Aber er hofft. Der Silbergürtel des Seien blauen
Meeres wird doch wieder schimmern, wie das isländische Volk
sich immer wieder aus allen Gefahren zum Leben emporreckte.
Jonas Hallgrimsson steht sinnend auf dem ehrwürdigsten
Schauplatz der Njalssaga. Er weiß sich eins in der Bewunderung
der schönen Heimat mit Gunnar von Haldenende. Dieser
sollte wegen eines Totschlages das Land verlassen. Das Drachenschiff
liegt bereit. Doch als er den letzten Blick auf die herrliche
Gegend tun will, vermag der Geächtete nicht zu scheiden. Er
wird, ein Opfer seiner Vaterlandsliebe, von den rachedurstigen
Feinden getötet. Und der Dichter preist in jenem Gunnar der
Saga den Heldensinn seines Väter.
In einem andern Gedichte hält erin Thingvellir mit seinen
Landsleuten Abrechnung. Er schildert die kraftvolle Rührigkeit
der alten Zeit und fragt bekümmert, was seitdem in sechshundert
Jahren aus der Isländer Arbeit geworden sei. Zornig
ruft er, warum das Allthing nicht mehr hoch oben auf der
Lava tage; weshalb des großen Snorri Zelt jetzt ein Stall sei
und auf dem heiligen Gesetzesberg nur noch, Kindern und
Krähen zur Lust; die blauen Beeren wüchsen. Noch wäre das
Land liebenswert und schön wie einst, aber der Vorfahren
Ruhm sei dahin und vergehen.
Einem andern Dichter erscheint, als er träumend am Großen
Geysir liegt, der Sprudel wie ein Symbol des Vaterlandes.
Mit Gedröhne schießt er empor im mächtigen Strahl, zuoberst
jedoch biegt er jäh sich zurück und fällt kraftlos wieder in
denselben Schlund hinab. Nicht als Strahl, der immer in
dasselbe Gleis zurückfällt, sondern als Ouell eines mächtigen
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Stromes möchte dieser Poet sich in Zukunft sein Heimatland
denken
Die Vaterlandsliebe des Isländers, die aus allen diesen Gedichten
spricht, entspringt nicht der Unkenntnis der Fremde.
Die Isländer stellen in Kopenhagen eine ansehnliche Kolonie.
Es ist ja der Ort, wo der Gebildete meist auf der Universität
seine 'Ausbildung empfängt. Hier lagern auch aus der Zeit der
unumschränkten Dänenherrschaft Islands seine Geistesschätze
in den Handschriften auf den Bibliotheken. Wie gern der Isländer
aus Kopenhagens verfeinerter Kultur in die urwüchsige
Heimat zurückkehrt, malt stimmungsvoll sein Nationallied.
Ein großer Teil des Volkes ist wegen der kümmerlichen Lebensverhältnisse
nach Amerika ausgewandert und hat besonders
am Winnipegsee eine neue Heimat gefunden. Zäh wird auch
dort der geistige Zusammenhang mit dem Mutterlande gewahrt
. Isländische Sprache und Dichtung herrschen. Auch die
Herzen und Gedanken jener amerikanischen Ansiedler sind, wie
es in ihren Liedern heißt, "jenseits der wogenden See".
Der Adel der Seele, die Feinheit und Lebendigkeit der geistigen
Anlage befähigt und berechtigt die Isländer; sich noch heute
als ein jedem andern ebenbürtiges Mitglied der germanischen
Völkerfamilie zu fühlen.
Vorwiegend germanische Dichter haben in die reiche Übersetzungs
literatur der Isländer Aufnahme gefunden. Aus England
sind von Shakespeare und Byron, aus Dänemark von
Solberg und Ohlenschläger, aus Schweden von Bellman und
Tegnér, aus Norwegen von Björnson und Ibsen Dichtungen
übertragen. Von deutschen Dichtern sind Goethe, Schiller und
Heine heimisch geworden. Kenner des Landes behaupten, daß
die Isländer für deutsches Dichten und Denken großes Verständnis
an den Tag legen.
Eigentümlich berührt es, in der isländischen Literatur ein
prächtiges Gedicht über Bismarck anzutreffen. Der Dichter
des Liedes rühmt ihn als die mächtige Kraft dieses Jahrhunderts,
der sein großes Werk gans allein fürs ganze Geschlecht
vollbracht habe. Er vergleicht ihn mit Asathor; wenn
dieser nach Osten ins Riesenland fuhr, und mit dem König
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Heidrek aus der altisländischen Saga. Wie dieser mit dem aus
dem Grabe eines alten Wikings geholten Schwerte durch wunderbare
Taten dessen Geschlecht zu neuem Leben erweckte —
dieses Sagenbild wendet er symbolisch auf den Schöpfer des
Deutschen Reiches an.
Hier scheint neben der Bewunderung Bismarcks ähnlich die
Sehnsucht nach einem großen Mann im eigenen Volk zusprechen
wie in der Napoleonverehrung Goethes und Byrons.
Jon Sigurdsson, der diese Hoffnung der Isländer erfüllte, ist
der Stolz und die Liebe des ganzen Volkes. Er, auf den die
jetzige freiheitlichere Verfassung zurückgeht, lebt im Gedächtnis
der Nation als Vaterlandsfreund für immer. Die Tausendjahrfeier
aber, wo der wichtigste Schritt zu der heutigen unabhängigeren
Stellung der Isländer geschah, lenkt ihren Blick
immer wieder zurück auf die Anfänge ihres Volkstums.
Norweger waren es, die 874 zuerst auf der Insel zur Besiedelung
landeten. Nur aus der Geschichte der skndinavischen
Urheimat sind die Anfänge des isländischen Volkes zu verstehen.
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3. Islands Skadinavische Heimat
Das norwegische Volk hatte schon drei Stufen seiner Entwicklung
hinter sich, als die Scharen körperlich und geistig
tüchtiger Männer sich von ihm loslösten, die Island seine erste
und einzige Bevölkerung gaben. Von allen dreien nahmen die
Isländer bedeutsame Kulturelemente mit in die neue Heimat,
um sie dort weiter auszubilden.
Nur karg sind und leicht ins Mythische verlieren sich die Berichte
über die nordische Urzeit. Die ältesten Runeninschriften zeigen,
daß die skandinavischen Völker damals noch eine Sprache hatten.
Sie stand an Bildung und Wohlklang der der Goten nahe, die
nach alten Stammsagen den Ursprung ihres Geschlechtes aus
dem skandinavischen Norden herleiteten. In ihr lautete der Name
für den ältesten Gott Thor noch ähnlich wie unser"Donnerer".
An der großen germanischen Völkerwanderung nahm außer
einigen Dänen scharen kein Stamm des nordischen Urvolks teil.
Länger als die Südgermanen verhärten die Skandinavier in
jenem Urzustande, den wir aus Tacitus' Germania kennen.
Doch sind Götter- und Heldenlieder damals wie bei den Goten
wohl bei allen Skandinaviern gesungen worden. Schon auf
den Denksprüchen der alten Grabmäler erscheint in Runenschrift
die stabreimende Strophe, in der wir die ältesten Eddalieder
kennen. Nur aus Norwegen, nicht aus Schweden oder
Dänemark aber sind solche erhalten.
Dem alten Heldentum der Völkerwanderung standen am
nächsten die Dänen. Noch für spätere Zeiten galt König Rolf
Krake als der herrlichste Heerfürst des nordischen Altertums.
Seine sagenumwobene Königsburg lag auf der Insel
Seeland südwestlich von Röskilde. Hier auf Lejre thront
der Fürst, umgeben von seinen Recken, die in blutigem Verzweiflungskampf
ihren Herrn gegen furchtbare Übermacht
verteidigen und seinen Tod rächen. Auch in den Gedichten
der deutschen Völkerwanderung ist Mannentreue nicht schöner
geschildert. Die Kämpen hadern mit Odin, der den
Tod ihres Herrn bestimmt hat. Hier in Dänemark hat dieser
südgermanische Gott vor Thor zuerst seinen Platz erhalten.
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Auch bei den Schweden trat früh ein starkes Königtum in den
Mittelpunkt des Volkes. Es leitete seinen Ursprung vom Gotte
Frey her; der hier noch vor Thor und Odin verehrt wurde. Es
war natürlich, daß in der fuchtbaren Ebene von Upland diesem
Gott des Erntesegens und der Wohlhabenheit besonders geopfert
ward. In Upsala stand das uralte Heiligtum. Das
Göttergeschlecht der Vanen, dem Frey angehörte, wurde erst
später im Norden in das ältere der Asen aufgenommen,
Als Handelsgottheiten waren jene zuerst in Schweden heimisch,
Denn von dort aus wurde neben kriegerischen Fahrten zuerst
ein Handelsverkehr über die Ostsee eröffnet: das Vorspiel der
nordischen Wikingerzüge.
Länger als Dänen und Schweden wahrten die Norweger den
Urzustand des nordischen Volkes. Hier fehlte der nachbarliche
Einfluß kriegerisch unruhiger Völker wie in Dänemark. Hier
gab es kein großes fruchtbares Flachland, das es den Königen
erleichterte, das Volk einheitlich zusammen zu halten. Hohe
Gebirge schieden die einzelnen Stämme voneinander. Es gab
kein Königtum für das ganze Land. Nur Gaufürsten herrschten
über die einzelnen Bezirke. Der kriegerische Bauer war selbständig
und führte dasselbe Leben von Urväterzeit her. Der
alte Donnergott blieb hier Landesgottheit und galt als Beschützer
des Bauerntums. Hier sang man von der Fahrt des
Gottes zu den Riesen, um den geraubten Blitzhammer wiederzuholen
Das Leben und die Lebensanschauungen dieses norwegischen
Bauerntums spiegelt ein altes Spruchgedicht wieder. Nach
diesem Eddalied kann man sich noch eine gute Vorstellung von
dem nordischen Volkstume machen, wie es in der Vorzeit war.
Überraschend ähnlich ist das dichterische Gemälde dem, das die
Broschüre des alten Römers von den Südgermanen zeichnete.
Das alte Spruchgedicht schildert den Mann in Tat und Rat,
in der Fremde und daheim. Nie soll der Mann ohne Waffen
sein, nie stall er es an Klugheit auf dem Thing fehlen lassen.
Als Gast wird ihm Takt und Vorsicht, als Wirt Freigebigkeit
empfohlen. Daheim gilt Fleiß und Wohlstand als das höchste
Gut des Mannes, und der Besitzlose wird bedauert.
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Streng und herb ist die Ethik, die aus den Sprüchen hervorleuchtet
. In immer neuen Wendungen wird die Freundschaft
empfohlen, wird Treue gegen die Sippe eingeschärft. Aber
ebenso stark und unerbittlich soll der Haß gegen den Feind
sein. Auch den Freund des Feindes soll man nicht schonen. Hier
lebt der Grundgedanke der germanischen Blutrache.
Hochgeschätzt ist das Leben. Jeder, der lebt, selbst wenn er arm
und gebrechlich ist, ist besser daran als der Tote. Auf das Diesseits
ist das Leben gestellt. Zur bleichen Hcl will niemand hinunter
. Der lebt weiter, der im Mund der Leute einen guten
Nachruhm hinterläßt. Das Urteil über tüchtige Taten überdauert
den Tod. Darin gipfelt des Dichters Weisheit.
Aus dem Schlußwort des Spruchgedichtes spricht vielleicht
schon die Reflektion einer späteren Zeit. Die vorgetragene
Lebensanschauung aber ist in dem Wesen dieses kraftvollen
Bauerntums fest begründet.
In ihm lebt der gleiche demokratische Zug, der auch bei den
Südgermanen waltete. Nur eine Aristokratie der Tüchtigkeit
und des Geistes wurde anerkannt. Bei den Norwegern ist der
Unterschied zwischen Bauern und Edlen geringer gewesen als
in den andern skandinavischen Ländern. Nur dies Edelbauerntum
konnte später den Stamm hergeben für die isländischen
Auswanderer. Es war die beste Kraft germanischen Altertums,
die, ermuntert durch den neuen jungfräulichen Boden,
auf Island noch einmal die Lebensformen der ältesten Zeit
auffrischte.
Ungefähr zur Zeit Karls des Großen traten die drei skndinavischen
Länder aus ihrer völkischen Abgeschlossenheit heraus.
Übervölkerung und Abenteuerlust trieben die vordem seßhafte
Bevölkerung auf die Schiffe. Aus den kriegerischen Bauern
unter einheimischen Gaufürsten oder Königen wird das bäurische
Kriegervolk, das sich unter der stolzen Losung:"Wir sind
alle gleich" zum Wikingertum zusammenfindet. Könige, Edle
und Seie Männer bilden auf dem Meere einen neuen Staat. Das
plündernde Wikingerschiff und das verkehrfördernde Handelsschiff
dieser nordischen Seefahrer erscheint überall. Kriegerische
Vorstöße werden durch friedliche Kulturarbeit in den eroberten
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Ländern abgelöst. In der Ferne schweißen sich jene Seehelden
bald zerstörend, bald aufbauend ein neues Volkstum.
Zunächst wurde der Osten von den unruhigen nordischen
Scharen heimgesucht. Die Schweden hatten schon in den ältesten
Zeiten handeltreibend auf den Meeren geschweift. Jetzt führte
ihr massenweises Vordringen zu großen Wikingerzügen. Die
Küsten Rußlands wurden von ihnen beunruhigt; und die
großen Ströme fuhren sie flußaufwärts, teils heerend, teils
zu friedlichem Handelsverkehr. Nowgorod war damals Stapelplatz
für den Handel nach dem Süden. Der Schwedenhäuptling
Rurik war, von den Slawen herbeigerufen, Herrscher im Lande
geworden. Um die Zeit, da die ersten Ansiedler zahlreich nach
Island strömten, ward Kjew die Hauptstadt des russischen
Normannenreiches.
Als die Besiedelung Islands ihrem Ende nahte, blühte längst
auch eine dänische Wikingburg im heutigen Pommern, die
von dort aus gleichfalls die Länder an der Ostsee kolonisierte.
Der Hauptstrom der dänischen Wikinger aber ergoß sich nach
Westen. Am Beginn des neunten Jahrhunderts waren sie die
gefürchtetsten Seeräuber unter den Nordländern. Zuerst suchten
sie die Scheldemündungen heim. Dann plünderten sie die Küsten
Frankreichs. Bekannt sind die langen und erbitterten Fehden,
die die westfränkischen Karolinger mit diesen Normannen zu
bestehen hatten. Aus dem deutschen Liede auf einen König
Ludwig, dem es gelang, einen glänzenden Sieg über die sonst
unüberwindlichen Feinde zu erfechten, klingt der furchtbare
Schrecken heraus, den sie einflößten. Aus den Taten dieser Wikinger
leuchtet die doppelte Belagerung von Paris besonders
hervor. um die Mitte der Besiedelungszeit Islands, gegen 900,
begannen die Dänen in der Normandie festen Fuß zu fassen.
So entsteht wie in Rußland eine schwedische, in Frankreich eine
dänische Wikingerkolonie.
Kein anderer Seekönig ist damals so berühmt geworden wie
Ragnar Lodenhose. Auf diesen Dänenfürsten und seine Söhne
ist in der Folgezeit der ganze Ruhm jener kraftvollen Wikingerzeit
gehäuft. Sein Geschlecht brachte man später mit den alten
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Das Tal Hjaltadalur in Nordisland
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Wälsungen, Sigurd und seiner Sippe in Zusammenhang. In
der isländischen Saga leben seine Taten, an der Loire in Frankreich
und an der Themse in England.
Auch in England spricht sich der gewaltige Schrecken, den man
vor den Normannenscharen empfand, im Liede aus. Als ungeheures
Ereignis wurde der Sieg des angelsächsischen Königs
Athelstan über die gefürchteten Feinde gepriesen.
England, Schottland, Irland und die kleineren britischen
Inseln waren der Schauplatz, wo die Dänen auf ihren Zügen
mit den Norwegern zusammentrafen. Diese waren, nach
Süden vordringend, am spätesten in die neue Bewegung eingetreten
.
Meist einte Dänen und Norweger gemeinsamer Kampf gegen
die eingesessene angelsächsische oder keltische Bevölkerung.
Häufig aber traten auch die von Frankreich aus die britische
Inselwelt heimsuchenden Dänen den von Norden andrängenden
Norwegerscharen entgegen. Aber selbst aus erbitterten
Fehden untereinander gingen doch wieder neue Kolonien hervor.
Nordengland blieb trotz der Nähe der Norweger, die Orkkneys
und Shetlandsinseln, die Hebriden und Nordschottland
besiedelten, doch vorwiegend Domäne der dänischen Eroberung.
Noch hundert Jahre später, als Knut der Große von Dänemark
sich zum Herrscher Englands aufwarf, war Northumberland
der strategische Mittelpunkt der Dänen.
Der Lieblingsplatz der Norweger dagegen war und blieb Irland.
Was York in Northumberland den Dänen war, wurde
für die Norweger Dublin auf der Grünen Insel. Um die seit,
da Island besiedelt wurde, ist hier wie dort eine Zeit der Ruhe
und des Friedens angebrochen.
In Northumberland verteilt das dänische Heer sich das Land,
und eine stille Ackerbautätigkeit beginnt. Ebenso richten sich im
unterworfenen Irland die Norweger häuslich ein.
Auch hier hielten die Norweger an ihrem staatlichen Sondergepräge
fest. Ähnlich den alten Gaufürsten daheim herrschten
auf Irland eine Reihe kleiner Fürsten an der Rüste. Auch die
Norweger traten nach Wikingerart mit der unterworfenen Bevölkerung
in Handelsbeziehungen. Aber auch in geistiger Beziehung
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wirkten die phantasievollen Iren auf die Eroberer ein.
Eine eigenartige bildnerische Ornamentik ging damals von
ihnen auf die Norweger über. In den älteren Eddaliedern von
Göttern und Helden findet sich bisweilen irischer Einfluß. Und
die charakteristische Dichtung der Wikingerzeit; das Skaldentum
, ist dort vielleicht sogar entstanden.
Nur bei den Norwegern haben Eddadichtung und Skaldenpoesie
vor Islands Besiedelung schöne Blüten gezeitigt. Hier
tritt ein anderer Ton auf als in den alten Sprüchen der Urheimat.
Auch die Wikinger haben ihren Seestaat demokratisch
geordnet. Auch hier sind kriegerische Tüchtigkeit und geistige Regsamkeit
die Kennzeichen höheren Adels. Aber das Abenteuertum
schafft doch zu dem seßhaften Bauerntum einen scharfen
Gegensatz. Erst jetzt wird Odin der Schutzgott dieser privilegierten
Heldenschar und tritt dem Bauerngotte Thor entgegen.
Nicht zu Hcl, sondern nach Walhall hofft der wagemutige
Wiking zu kommen. Ein schönes Leben winkt dort. "Lachend
werde ich sterben", singt Ragnar Lodenhose.
Man muß sich für die sechzig Jahre, in denen Island besiedelt
wurde, die Karte Europas gans anders vorstellen als heute.
Der nordische Besitz umfaßte damals das gesamte Ostseegebiet
und ging weit ins Innere Rußlands. Nordfrankreich und fast
das ganze Großbritannien und Irland waren zu jener Zeit in
Wikingerhänden. Auf der ganzen Linie dieser nordischen
Staatengründungen erfolgten Kulturmischungen und Meinungsaustausch
mancher Art.
So ist es natürlich, daß schließlich auch das ferne Island als
Siedelungsgebiet in Betracht kam. Und auch den neuen Ansiedlern
steckte die Abenteuerlust der alten Heimat im Blute.
So seßhaft die isländischen Edelbauern auf ihrer Insel wurden,
sie schweiften gern auf Wikingfahrt herum in die andern
Länder.
Aber Island war damals, als das alte Bauerntum und das
jüngere Wikingertum in Norwegen blühte, ein so gut wie unbekanntes
Land.
Vor den norwegischen "Laudnahmemännern" waren nur
wenige dort gewesen. Die ersten flüchtigen Besucher waren irische
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Mönche, die dort in Weltabgeschiedenheit lebten. Sie flohen
erschreckt, als später die neuen Ansiedler kamen. Sie hatten ja
eigentlich nicht kolonisieren, sondern nur ungestört ihren frommen
Bußübungen obliegen wollen. Von ihnen hatten die ersten
norwegischen Ansiedler keine Kunde gehabt.
Die wenigen Wikinger, die sich vorher nach der Insel verirrt
hatten, brachten von dort abenteuerliche und widerspruchsvolle
Nachrichten. Man fabelte wohl von der Fruchtbarkeit des
neuen Landes und verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß
dort jeder Halm von Butter triefe. Aber die Namen, die diese
ersten Besucher der Insel gaben, warm nicht verlockend.
"Schneeland" nannte sie der eine, der einen furchtbaren Schneesturm
dort erlebte. Ein anderer gab ihr wegen des vielen
Treibeises, das er dort vorfand, den jetzigen Namen"Eisland".
Schwerlich hätten so viele edle Bauern ohne einen bestimmten
Anlaß die altererbte Scholle der Väter aufgegeben, um in einem
völlig unbebauten Lande ein neues Leben zu beginnen. So viele
Kulturländer standen den norwegischen Wikingern offen. Kaum
wären sie in so großen Scharen in das kulturlose neue Gebiet
gezogen, hätte sie nicht die veränderte Lage des Vaterlandes
dazu gezwungen.
Der Anlaß zu der massenhaften Besiedlung Islands durch die
Norweger lag in der 'Aufrichtung der Alleinherrschaft Harald
Haarschöns im Jahre 872.
Dieser aus dem Süden stammende norwegische Kleinfürst war
durch eine Tochter des Landes, die er wegen ihrer Schönheit
als Gemahlin haben wollte, zur Einigung Norwegens aufgestachelt
. Er hatte geschworen, sein Haar nicht zu kämmen,
noch zu scheren, bis er dies Königswerk vollbracht habe. Und
er hielt den Eid. Nach zehn Jahren war aus dem politisch so
zerspaltenen Lande ein fester Staat geworden. Der König
kämmte und schor sich und erhielt jetzt seinen geschichtlichen
Namen "Haarschön".
Überall bis nach Helgeland im hohen Norden wurden alle
Stammeshäuptlinge aus dem Lande vertrieben oder unterworfen
. Den Abschluß der blutigen Kämpfe bildete die gewaltige
Seeschlacht im Bocksfjord bei Stavanger. Mut diesem Sieg
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Haralds war der letzte Widerstand gebrochen. Wer ohne Gefahr
im Lande bleiben wollte, mußte freiwillig zum Königshof
wallfahrten, um in des Herrschers Dienste zu treten. Aber
viele edle Fürsten und Bauern blieben Haralds Lieblingsresidenz,
Lade beim heutigen Drontheim, fern. Ein Königtum, wie
es die Schweden und Dänen seit lange hatten, war gerade
den Besten der alten Adels- und Bauerngeschlechter von jeher
zuwider gewesen.
Noch straffer aber war die neue Königsgewalt, die Harald
jetzt aufstellte. Sein Herrscherideal war wie das König Alfred
des Großen von England der große deutsche Kaiser Karl.
Aller Besitz im Lande wurde Eigentum des Königs. Die Bauern
empfingen es dann wiederum von diesem gegen Abgabe als
Lehen. Holzfäller, Salzsieder, Fischer und Jäger sollten ebenso
ihre Gerechtsame vom König empfängern Gar manches Eigentum
wurde als königliches Kronlehen eingezogen und von
Haralds Beamten verwaltet. Die Kleinfürsten und Gauhäuptlinge
, die sich dem Könige gefügt hatten, bestätigte dieser gegen
Abgaben in ihrer Würde und in ihrem Eigentum. Die erledigten
Stellen erhielten des Königs Freunde. Unterkönige und
Landesfürsten wurden auch des Herrschers Söhne aus seinen
zahlreichen Verbindungen mit Frauen.
Die Härte und Strenge dieses neuen Lehnsstaates wurde
einigermaßen gemildert durch den Glanz, den der junge Königshof
ausstrahlte. Der rücksichtslose, ja grausame Herrscher war
gegen seine Anhänger von bezaubernder Liebenswürdigkeit.
Wer ihm Eindruck machte und gefiel, hatte Reichtum und hohe
Ehren zu erwarten. Der König zog, wie Karl der Große in
Deutschland, im Lande umher, hielt auf seinen zahlreichen
Besitzungen Hof und umgab sich mit einem prächtigen Gefolge.
Die Träger der in der Wikingerzeit aufgeblühten Skaldendichtung
wurden die vornehmsten Hofleute und erhielten die
Ehrenplätze an des Königs Tafel. Prächtige Preislieder erklangen
sum Ruhme des Herrschers in der Halle. Die glanzvolle
Persönlichkeit Haralds trug viel dazu bei, die Masse des
Volkes über die verlorene Freiheit und Selbständigkeit deo
einzelnen hinwegzutäuschen.
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Die Liebe zu dem Einiger Norwegens und der Haß gegen
den Unterdrücker des Landes griffen oft in die besten Familien
trennend ein. Gerade weil diesen gegenüber der Herrscher mit
so kräftiger Initiative vorging, war keine laue und abwartende
Stellungnahme den neuen Verhältnissen gegenüber möglich.
Echte altgermanische Bilder sind es, wenn wir im Anfang der
alten Sagas die waffenfähigen Mitglieder der vornehmen
Familien sich beraten sehen, was zu tun sei.
Diese schicksalsschweren Vorgänge des Haraldischen Zeitalters
haben tief in der Erinnerung der Isländer gehaftet. Gerne
werden sie als Eingang der eigentlichen Islanderzählung verwendet.
Die Form dieser Geschichten, eine schlichte, klare und
fesselnde Prosa, haben die Isländer nicht ,wie Eddadichtung
und Skaldenpoesie aus der alten Heimat mit hinübergenommen
. Die Saga ist erst auf Island entstanden. In ihr spielt
auch die Persönlichkeit Harald Haarschöns eine große Rolle.
Die Versuche des Königs, die Besiedelung Islands zu hindern,
oder später, die Freiheit des neuentstehenden Volkes anzutasten,
mißglückten. Und doch war sein Einfluß auch später noch zu
spüren. Bedeutet Haralds Gewaltakt die Geburt des isländischen
Volkes, so wurden Einrichtungen des norwegischen
Staates doch später vorbildlich bei dem Ausbau des isländischen
Freistaates.
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4. Islands Besiedelung
Landnama -diesen klangvollen Namen führt das alte isländische
Buch aus dem 13, Jahrhundert, das die Besiedelung
der Insel erzählt. Landnahmezeit heißen die sechzig Jahre,
in denen sich jene vollzog. Die vierhundert Häuptlinge, von
denen die Besiedelung geleitet wurde, nannte man Landnahmemänner
.
Den Grundstock des Besiedelungsbuches bilden die Reihen der
alten Geschlechter, die lange vor ihrer schriftlichen Aufzeichnung
im Gedächtnis des Volkes hafteten. Schon Ari, der Vater der
isländischen Geschichtsschreibung, baute um 1130 auf jener
Überlieferung. Sein Isländerbüchlein beginnt mit der Besiedelung
der Insel.
Zur Zeit, da die Landnama entstand, wurden die ehrwürdigen
Genealogien besonders hochgehalten. Verknüpften sie doch
manches berühmte Geschlecht des untergehenden Freistaates
mit den großen Persönlichkeiten der Vorzeit. Snorri, der berühmteste
Mann jener Epoche, war stolz darauf, vom Skalden
Egil, einem Sohn des Landnahmemannes Skallagrim, abzustammen
.
Das Besiedelungsbuch ist keine trockene Chronik. Es entwirft
lebensvolle Porträts von den führenden Männern. Anekdotenhafte
Berichte orientieren über ihre Schicksale in der alten und
neuen Heimat. Das damalige Island steigt lebendig vor uns
auf. Oft berührt sich die Darstellung mit den Isländersagas,
ja auch von Urbeginn an berichten. Dann erscheinen in der
epischen Erzählung auch Skaldenstrophen.
Inhaltlich herrscht eine nüchterne Grundstimmung. Die Wahrheit
der Erzählung ist die Hauptsache.
Wir hören von dem neuen Land mit reicherem Waldwuchs
als jetzt, von seinen fischreichen Gletscherströmen, von den Verheerungen
des Vulkanfeuers und erhalten den Eindruck: so
haben die Landnahmemänner es wirklich gesehen. Wir ersahren
aus dem Leben der Ansiedler so intime und nebensächliche
Züge, daß wir uns sagen: nur die Gewissenhaftigkeit
des Berichterstatters erklärt ihre Einfügung in die Erzählung.
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Die Segelfahrt von dem mittleren Norwegen nach dem isländischen
Nordkap wird auf sieben, die vom Westen Islands
nach Grönland auf vier Tagereisen angegeben. Solche Kursberichte,
die noch heute stimmen, stehen vertrauenerweckend
am Anfang.
Trotzdem fehlt es der Darstellung nicht an wunderbaren und
märchenhaften Zügen, die an die Edda und die Sagas erinnern.
Träume haben für die Erlebnisse und Erfolge der Ansiedler
große Bedeutung und wirken auf ihre Maßnahmen
bestimmend ein. Weissagungen und Orakel der heidnischen
Götter oder Sommer Christen gehen oft dem Entschluß zur
Siedelung voran. Zaubern findet sich in mancherlei Gestalt.
Katastrophen in der Natur werden auf Besprechungen von
Unholden zurückgeführt. Es treten finnische Heren auf, die
den Reisenden mit einem Talisman für die neue Heimat versehen,
oder kampfwütige Berserker, die sich in allerhand Tiergestalt
verwandeln können.
Immer aber sind Wahrheit und Dichtung geschickt verwoben
und bereiten eine behagliche Stimmung.
Zwei Gestalten treten am Eingang der Landnama scharf hervor
, die in der isländischen Literatur auch sonst eine große
Rolle spielen: Ingolf und Skallagrim. Jener hat den Ruhm
als erster Entdecker und steht am Anfang aller isländischen
Geschichtsschreibung. Skallagrim war ein Musterlandwirt der
Besiedelung und wird in der Saga seines Sohnes Egil mit noch
größerem Glanz umgeben.
Beide müssen Norwegen verlassen, Ingolf vor dem ränkevollen
Jarl Ätti, Skallagrim vor Harald Haarschön. Beide verlieren
ihren Reisegefährten, jener seinen Freund Hjörleif, dieser seinen
Vater Kveldulf. Und beide finden erst nach langem Suchen die
Stelle, wo sie nach dem Willen der Götter landen sollen. Bei
Ingolf ist es der Platz, wo die im Anblick des Landes aufs
Meer geworfenen Säulen des heimatlichen Hallenhochsitzes ans
Ufer geschwemmt wurden. Bei Skallagrim weist der ebenso
über Bord geworfene Sarg des unterwegs gestorbenen Vaters
den Weg. So wurden die Sitze von Reykjavik und Borg gegründet.
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Sehr verschieden sind die weiteren Schicksale der beiden Landnahmemänner.
Ingolfs Besitznahme ist mit Hader und Blutvergießen
verbunden. Skallagrims Kolonisation geht in Ruhe
und Frieden vor sich.
Ingolf muß den Tod des Freundes rächen. Seine vom Wikingzug
aus Irland mitgebrachten Sklaven haben jenen getötet,
weil sie die mühsame Feldarbeit auf dem neuen Gebiet nicht
leisten wollen. Erst nachdem er jene auf den Westmännerinseln,
wohin sie flüchteten, getötet hat, kann Ingolf sich das erste Gehöft
am Faxafjord errichten.
Irische Sklaven, öfter edler Abkunft, sind häufig im Gefolge
der Landnahmemänner, und Empörungen dieser Knechte finden
sich auch sonst. Im allgemeinen aber war das Verhältnis
von Herr und Diener schon in jenen ersten Zeiten gut. Es war
schon damals nicht selten, daß treue Sklaven freigelassen und
als Verwalter der Nebengüter ihres Herrn eingesetzt, ja selbst
mit eigenem Land ausgestattet wurden.
Auch Skallagrim hält wie Ingolfs Freund Hjörleif die Knechte
zur Saatbestellung an und neunt sogar eines seiner Gehöfte
"Acker" . Bei ihm aber herrscht Fügsamkeit und Gehorsam.
Die Untergebenen sind seine Landsleute, die er sich aus der
Gegend nördlich vom Sognefjord mitgebracht hat. Mit scharfem
Blick erspäht Skallagrim die Vorteile, die das neue Land
bietet. Seine Leute müssen mit ihm die fischreichen Flüsse der
ganzen Gegend absuchen. Er läßt das Vieh auf den Sennen
im Freien weiden, weil es dann um so gemästeter heimkehrt.
Er findet die Stellen, wo das meiste Treibholz angeschwemmt
wird, um es für Haus- und Schiffbau zu verwenden. Er
errichtet sich endlich selbst eine Schmiede und geht allen mit tüchtiger
Hausarbeit voran. Sein Herrensitz Borg wird berühmt.
Skallagrim und Ingolf haben es noch leicht, Land abzugeben,
da ihr Besitz fast den ganzen Faxafjord umfaßt. Zuerst werden
die mitgekommenen Hausgenossen mit Landschenkungen bedacht,
dann aber auch zugereiste Freunde und Verwandte-Noch
waren nicht wie in den späteren Jahren alle guten Plätze
zwischen der See und dem Hochgebirge im Innern des Landes
besetzt.
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Am Búlandshöfdi. Westisland
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Wie Ingolf und Skallagrim nahmen nun allmählich mehr
Ansiedler von allen günstigen Stellen an der Küste Besitz.
Wer nichts Geeignetes mehr vorfand, kaufte oft lieber, um
nicht durch Schenkung eine Verpflichtung gegen den früheren
Besitzer auf sich zu nehmen. Mit Feuer umging man das in
Aussicht genommene Land bei der Besitznahme, um es für den
Gebrauch zu heiligen,
Wohlhabende Norweger waren es gewöhnlich, die nach Island
überzusiedeln sich entschlossen. Sie kamen fast alle auf
eigenem Schiff mit zahlreichen Hausgenossen, mit Vieh und
beweglicher Habe. Unter zebn Begleitern hatte kaum einer der
Landnahmemänner, den mächtigsten aber folgten wohl Scharen
von gegen Hundert. Groß muß schon damals die Bevölkerung
gewesen sein, wenn zu einem einzigen Gelage einmal 1200
Mann geladen werden konnten. Sie mag gegen Ende der Besiedelungszeit
gut ein halbes Hunderttausend betragen haben.
Unter diesen Männern gab es viele, die auch in dem neuen
Lande an Besitz einem norwegischen Kleinfürsten oder Edelbauern
gleichkamen. Das Wikingertum schaffte Gelegenheit,
im Auslande durch Kriegszüge oder von Fürsten empfangene
Geschenke den heimatlichen Reichtum zu mehren. Wohl ward
das wilde Wikingerblut auch hie und da bei der Landnahme
gefährlich. Durch Zweikampf suchte ein neuer Siedler sich gelegentlich
Land von dem Besitzer, den er vorfand, zu ertrotzen
. Doch überwog einträchtiges Zusammenwirken und
Hilfsbereitschaft. Eine reiche Siedlerin aus Helgeland lud, vor
ihrem Hause sitzend, jeden Bedürftigen zu Gast, eine fischereikundige
Landsmännin von ihr verriet uneigennützig die besten
Fangplätze.
Aus dem Norden Norwegens war gleich diesen sympathischen
Frauen noch so manche gute Kraft nach Island gekommen.
Indes nicht Romsdal oder Drontheim, auch nicht die nach
Schweden zu gelegenen Landschaften stellten den reichsten Zuwachs.
Hauptsächlich die Landschaften um den Sogne- und
Hardangersiord und dann Südnorwegen spendeten die Besiedler.
Endlich die britischen Inseln. Denn dahin waren
manche Norweger vor König Harald geflüchtet. Sie traten
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von dort; oft durch irische Kultur beeinflußt, die Reise nach
Island an. Iren allein haben, schon durch häufige Ehen mit
Norwegern, außer diesen zur Bildung der isländischen Volkheit
beigetragen. Mit der irischen Blutmischung gingen aber
auch geistige Züge auf die Norweger über. So das Fabuliergeschick
der Iren, das in der isländischen Saga lebt.
Wo die Saga am reichsten blüht, da weiß auch das Landnahmebuch
am interessantesten zu berichten. Nicht nach den
norwegischen Bezirken, denen sie entstammen, sondern nach
den Gegenden auf Island, die sie besiedeln, sind die Landnahmemänner
geordnet. Der wohl am ersten vollbesetzte Osten
und der wegen seiner unwirtlichen Küste am spätesten ganz besiedelte
Süden treten in der Schilderung zurück. Der Nachdruck
liegt auf dem Nord- und Westlande. Dort ist der Inselfjord,
hier der Breitfjord der Mittelpunkt der Besiedelung.
Die merkwürdigsten Gestalten an diesem sind der eisige
Thorspriester Thorolf Mostrarskegg und Aud die Tiefsinnige,
die weise Beraterin ihres ganzen Geschlechtes. Im Norden ragt
um 880 der mächtige Häuptling Helgi der Magere hervor und
um 890, schon mit Harald Haarschön versöhnt, Ingimund
aus Romsdal.
Die Berichte über diese vier urwüchsigen Persönlichkeiten könnten,
jeder in seiner Art, Stoff für einen historischen Novellendichter
abgeben.
Im Mittelpunkt von Thorolf Mostrarskeggs Interesse steht
der alte Donnergott. Ihm hatte der stolze Häuptling schon in
seiner Heimat am Hardangerfjord einen Tempel geweiht. Weil
er hier einem Feinde Harald Haarschöns, der nach Island
flüchtete, Schutz gewährt hatte, muß er selbst dorthin übersiedeln.
Thor weist ihm den Weg. Auf einer kleinen Landzunge
im Breitfjord, dem er diesen Namen beilegt, treibt des
Gottes Bild ans Land. Denn es war auf dem Hochsitzpfeiler
geschnitzt, den Thorolf alter Sitte gemäß ins Meer geworfen
hatte.
Thorolf erneuert hier den Kult des Gottes. Auf der Landungsstätte
des Götterbildes, zu Thorsnes, richtet er ein Gaugericht
für alle Umwohnenden ein. Schwere Strafe stand auf
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der Entweihung dieses Platzes. Noch heiliger war ein Berg
auf der Thorskaphalbinsel, den niemand ungewaschen anschauen
durfte. Das Blut keines Menschen oder Tieres durfte
dort vergossen werden. In diesen heiligen Berg, glaubte Thorolf,
würden dereinst er und alle seine Verwandten nach ihrem
Tode hineinfahren.
Auch ein prächtiger Tempel des Gottes ward aus den Resten des
in Norwegen abgebrochenen Heiligtums gebaut. Dem Tempelvorsteher
mußten alle Umwohner Abgaben zahlen und sich verpflichten,
zu den angesetzten Thingversammlungen zu erscheinen.
Thorolf fühlte sich wohl im Dienste des heidnischen Gottes.
Er lebte mit großem Gefolge auf seinem neuen Wohnsitz. Die
Fülle der Fische und der Reichtum an Seevögel schufen ihm
großen Wohlstand.
Die Entweihung des heiligen Tempelbezirks führte unter
Thorolfs Nachfolgern zu erbitterten Kämpfen. Die Saga des
Goden Snorri weiß davon zu erzählen. Der Landnahmebericht
des Thorolf Mostrarskegg steht auch am Eingang jener schönen
Saga. In ihm tritt uns das Godentum der Landnahmezeit
deutlich vor Augen.
In gewisser Weise setzt sich das norwegische Häuptlingstum
in ihm fort. Der Gode ist Priester und übt in seinem Bezirk
das Gerichts- und Versammlungsrecht. Daß sie für Geld veräußert
werden konnte, ist freilich eine jsl-indische Eigentümlichkeit
dieser neuen Würde.
Wie Thorolf Mostrarskegg am Eingang der Saga vom Goden
Snorri steht, so eröffnet Aud die Tiefsinnige aus der Landnama
die Reihe heroenhafter Gestalten, die die Saga von den
Leuten aus dem Lachstal zieren. Ihre Gestalt wirft ein prächtiges
Schlaglicht auf die Macht und den Zusammenhang der
Sippe schon während der Besiedelungszeit.
Noch in der späteren Zeit tritt die Frau, so sehr sie rechtlich
hinter dem Mann zurücksteht, häufig als willkommene und
zuverlässige Beraterin, ja Leiterin des Mannes auf. Hier aber
herrscht sie unbedingt über ein ganzes Geschlecht. Als selbständige
Landnahmefrau braucht Aud den Vergleich mit keinem
männlichen Siedler zu scheuen.
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Aud stammt aus den isländischen Kolonien in Irland. Schon
dort hatte die Tochter Ketil Plattnases über die Ihrigen ein
strenges Regiment geführt und die Gatten, die sie ihren Töchtern
bestimmte, unter ihren Willen gezwungen. Da jagt sie
noch im Alter die Abenteuerlust nach Island. Wie ein Häuptling
nimmt sie Land in Besitz und verteilt es unter ihre zwanzig
Mannen. Stolz schlägt sie die Einladung bei ihrem Bruder
Helgi ab, weil dieser sie nur mit der Hälfte ihres Gefolges
zu sich bittet. Aber die Einladung ihres Bruders Björn, der
dem hohen Sinn seiner Schwester Rechnung trägt und ihr mit
allen Mannen ehrenvoll entgegengeht, nimmt sie an. So kommt
sie zu ihm mit allen Mannen in den Breitfjord.
Zuletzt wohnt Aud dort in Audhall mit ihrem Enkel Olaf
Feilan zusammen, den sie in allen wichtigen Fragen berät.
Besonders herrlich wird sie kurz vor ihrem Tode geschildert.
Sie rüstet, frisch und aufrecht wie je, ihrem Enkel das Hochzeitsfest.
In alter Würde empfängt sie die Gäste, die sich nicht
genug verwundern können, wie gewaltig sie trotz des hohen
Alters noch auftritt. Feierlich vermacht sie vor der Hochzeitsgesellschaft
dem jungen Bräutigam all ihren Besitz und bittet
die Gäste fröhlich zu sein, wenn sie sich zurückgezogen habe.
Am nächsten Morgen findet sie der Enkel tot, aber noch aufrecht
auf dem Bette sitzend. So wird der letzte Tag des Hochzeitsfestes
zugleich zum Totenmahl für die gewaltige Ahnfrau,
die wohl voraussah, daß sie die eigene Leichenfeier sich
rüstete.
Thorolf Mostrarskegg führte uns die ersten Anfänge staatlichen
Lebens auf der Insel vor. Aud die Tiefsinnige zeigte die
erste Kultur der Familien auf ihr. In der Geschichte Helgis des
Mageren haben wir ein interessantes Gemälde von dem vorübergehenden
Einfluß des Christentums während der Besiedelungszeit
.
Jener kraftvolle Wiking nimmt eine eigentümliche Mittelstellung
ein zwischen der alten und der neuen Lehre. Durch seine
Erziehung auf den Hebriden und die Verschwägerung mit
christlichen Familien gehörte er äußerlich dem Christentum an.
So nannte er sein neues Besitztum auf Island"Christkap" und
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erklärte es für Unsinn, an die alien Götter zu glauben. Gleichwohl
gründete er ein heidnisches Godentum am Inselfjord, wo
er bald ein mächtiger Häuptling wurde und an viele Männer
Land verteilte.
Innerlich aber hing er doch noch dem Thor an. Schon vor der
Fahrt nach Island hatte er diesen Gott um Rat gesagt und
äch noch den Spott seines Sohnes zugezogen, ob er denn auch
aufs Eismeer ziehen würde, wenn der Gott ihm dies als
Siedelungsstätte anwiese. Bei allen wichtigen Geschäften, auf
jeder Seefahrt rief er auch später den Thor, nicht den Christengott
an.
Das Christentum, soweit es die Norweger nach Island mitbrachten
, konnte während der Siedelungszeit sich nicht behaupten.
Die Annahme des Kreuzes, die viele Heiden auf
den britischen Inseln vornahmen, war für sie mehr praktischer
Natur; um auch bei den Anhängern des neuen Glaubens
wohlgelitten zu sein und ihre Pläne durch zu setzen.
Auf Island selbst war das Übergewicht des Heidentums zu
stark; als daß die wirklich innerlich Bekehrten dort auf das
Volk dauernden Einfluß hätten gewinnen können. Die irischen
Mönche; die auf der Insel gewesen waren, hatten keine sichtbaren
Spuren des Glaubens hinterlassen. Im Gegenteil, die
Stätten an der Ostküste wo sie gehaust hatten, waren als Spuknester
verrufen. So ist auch nach Helgis Tode das unverfälschte
Heidentum wieder da. Helgis Söhne bauen wieder Thortempel.
Von Männern, die den alten Glauben für Torheit erklärten,
ist auch sonst in der Siedelungszeit die Rede. Ein solcher Held,
der nur an seine eigene Kraft glaubte, war eben Helgi der
Magere. Sein Schwanken war vorwiegend politische Berechnung
ming, um sein Godentum auch den Christen annehmbar zu
machen.
Im Gegensatz zu der lapidaren Einfachheit; mit der Thorolf
Mostrarskegg, Aud die Tiefsinnige und Helgi der Magere vor
uns hintreten, steht die romantisch ausgeschmückte Landnahme
des Romsdalers Ingimund.
Weder ungezähmter Wikingerdrang noch die Feindschaft
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Harald Haarschöns haben ihn zehn Jahre später als Helgi
den Mageren nach dem Nordland gebracht. Die dämonische
Weissagung einer Finnin, der er nicht Glauben schenken will,
treibt ihn doch schließlich nach Island. Mit dem Herrscher aber,
der so viele mächtige Helden im Zorne von sich scheiden sah,
steht er gui. Ja dieser treibt ihn geradezu an, dem Finnenorakel,
das ihm die Erfüllung seines Schicksals erst auf Island verheißt,
Folge zu geben, und unterstützt ihn dann auf jede Weise.
Ein Bild des Gottes Frey, das Harald Haarschön Ingimund
geschenkt hat, ist der Talisman, der ihn nach Island zwingt.
Die Zauberin läßt es aus seiner Tasche verschwinden und kündet
ihm an, daß er es erst auf Island in seinem neuen Wohnsitz
wiederfinden würde. Nach langem zähen Widerstand entschließt
er sich, die ihm durch andere Zauberer genau beschriebene Stätte
auf Island aufzusuchen und findet, als er dem Frey dort einen
Tempel errichten will, wirklich das Amulett.
Ingimunds Landnahme zeigt schon eine jüngere Periode der
Besiedelungszeit. Seine hartnäckige Weigerung, das neue Land
aufzusuchen, entspringt der Überzeugung, daß er Saum besseren
Besitz als in seiner alten Heimat eintauschen dürfte. Schon ist
das Gebiet ziemlich aufgeteilt, und die abenteuerliche Lust; nach
Belieben sich herrlichen Besitz auf Island zulegen zu können,
ist geschwunden. Wer nicht durch Landschenkung eines bisherigen
Ansiedlers in moralische Abhängigkeit von diesem
kommen wollte, dem blieb nur teurer Kauf übrig. Manche zogen
es daher in jener späteren Zeit vor, durch Herausforderung zum
Zweikampf sich Land zu ertrotzen.
Daß das Gebiet für die Besiedelung seltener und wertvoller
geworden war, zeigt eine neue Bestimmung, die um 890 aufkam.
Kein Siedler sollte fortan mehr Land in Besitz nehmen
dürfen, als er an einem Tag mit Feuer umfahren könne. Reine
Frau durfte mehr sich aneignen, als ihr möglich war in der
gleichen Zeit mit einer zweijährigen Kuh zu umschreiten. Auf
König Haralds Rat sollte diese Einrichtung getroffen sein. Nach
vergeblichen Versuchen, die Isländer dem Einheitsstaat zu
unterwerfen, mochte es dem stolzen Könige schmeicheln, so doch
aus der Ferne seinen Einfluß geltend machen zu können.
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Die vorgeführten Szenen aus älterer und jüngerer Landnahmezeit
wiederholen sich in ähnlicher Gestalt bei den Siedlern
immer aufs neue.
Um 900, ein Menschenalter nach der ersten Siedelung, hatte
sich, mit keltischem Einschlag, das neue nordische Volk herausgebildet.
Ein gemeinsames staatliches Band fehlte, wie es vorher
auch in Norwegen nicht gewesen war. Die einzige Volksgemeinschaft
schaffte das Godentum der einzelnen Bezirke. Etwa
vierzig solcher Tempelgemeinden hatten sich in den einzelnen
Bezirken herausgebildet. Freiwillig und nicht an den Ort des
Wohnsitzes gebunden war für jeden Seien Mann die Zubehör
zu einem dieser Verbände. Stark und selbständig aber entwickelten
sich nun die aristokratischen Familien. Das spätere
Bild des altisländischen Alltagslebens stand schon damals in
seinen Grundzügen fest.
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5. Altisländisches Alltagsleben
Die Lebensweise des neuen Volkes war norwegisch. Der
keltische Einschlag der Bevölkerung war ja an Zahl gering
. Auch betraf er vorwiegend die dienende Bevölkerung. Der
Seie nordische Mann führte sein heimatliches Leben nach Möglichkeit
auch auf Island fort.
Die Natur der Insel drängte wohl auf einfachere Gestaltung
des Lebens. Fruchtbarkeit des Bodens und Lebhaftigkeit des
Menschenverkehrs waren geringer als in Norwegen. Doch
brachten viele Ansiedler beträchtliche Habe aus der Heimat
mit, und die rührige Arbeitskraft der Bevölkerung sorgte für
aufblühenden Mohlstand. Auch blieb der Zusammenhang
mit dem Mutterlande während der Besiedelungszeit ständig
erhalten. Immer neue Kolonisten rückten nach, und früh
zeigte sich auch auf Island die Lust zu Wikingerfahrten.
Durch diese Auslandreisen, die sich auf den ganzen Norden
Europas erstreckten, kam auch Reichtum, ja Luxus auf die
Insel.
Gern spähte der isländische Großbauer von dem Hügel, an
dem sein Gehöft lag, in die Umgebung. Er überwachte von
dort eifersüchtig sein Besitztum gegenüber den leicht streitsüchtigen
Nachbarn. Mohlgefällig sah er dann wohl auf das
höchst originelle Hauptgebäude. Fünf Häuser, aneinander gebaut:
in der Mitte ein breiter, gedeckter Gang, rechts Wohnstube
und Schlafzimmer, links Küche und Speisekammer, alles
einen Komplex bildend, doch mit eigenen Dächern. Abseits
dann Wirtschaftsgebäude, Vorratskammern, Scheunen und
Viehställe. Selten fehlte eine stattliche Schmiede. Der isländische
Hausherr dachte: selbst ist der Mann.
Einfach freilich war das Material, mit dem gebaut wurde.
Erde und Feldsteine mit Erdfüllung waren die Regel. Wände
und Dach waren mit üppigem Rasen gedeckt. Nur selten kamen
Holzhäuser vor.
Stimmungsvoll aber war das Innere, vor allem die Wohnstube
. Hier saßen die ganze Familie, Knechte und Mägde morgens
beim Frühmahl, ehe man an die Arbeit ging. Hier traf
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Der Priesterhof Háls in Nordisland
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man abends zur Hauptmahlzeit wieder zusammen und erholte
sich am flackernden Herdfeuer.
Das Dach der Wohnstube war durch Pfeilerreiben gestützt.
Die äußeren standen an den Längswänden, die inneren schlossen
den Herdplatz in der Mitte des Hauses ein, der aus Lehm bestand.
An der Wand sogen sich, über dem Fußboden erhöht,
Bänke hin. Die mittelsten Sitze auf den Längsbänken, rechts
und links des Eingangs, waren die Hauptplatze. Auf dem
rechts saß der Hausherr, auf dem gegenüber, der niedriger
war; der nächst angesehene Hausgenosse oder ein Gast, den man
ehren wollte. Den Sitz des Hausherrn umgaben die heiligen
Hochsitzpfeiler, in die Götterbilder geschnitzt waren. Alle Sitze
auf den Längsbänken füllten nur die Männer. Auf der Hinterwand
gegenüber dem Eingang thronte die Hausfrau mit ihren
Mägden.
Ein farbenfohes Bild mag die Wohnstube eines begüterten
Bauern an Festtagen gewährt haben. Auf Stattlichkeit der
Erscheinung und gute Kleidung legte der Isländer wie jedes
tüchtige Bauernvolk Gewicht.
Beide Geschlechter trugen lange Gewänder aus Wollenzeug,
Baumwolle oder Leinwand. Ein Gürtel mit dem hängenden
Weser beim Mann, Wirtschaftszeug bei der Frau umschloß
den Rock oder das Kleid. Die Gewänder der Männer und
Frauen schillerten bunt in allen Farben. Das natürliche Weiß der
Wolle blieb nur für Sklaven und Dienerinnen. Das kostbarste
Stück," das man aber bloß bei Festlichkeiten trug, war ein
langes seidenes Schleppgewand von scharlachroter Farbe, das
von oben bis unten mit Goldknöpfen geziert war. Auch dies
trugen mit geringer durch den Körperbau bedingter Verschiedenheit
Männer und Frauen. Einfache, gewöhnlich aus einem
Stück Leder gefertigte Schuhe, ein Hut oder eine Kapuze beim
Mann, ein Kopftuch -der eine Haube bei der Frau vervollständigten
die bäurische Garderobe.
Der Stolz der Männer wie der Frauen war dav lang herabwallende
Haar. Das geschorene Haupt war Kennzeichen der
Sklaven. Blondes und kastanienbraunes Haar wurde besonders
geschätzt. Männer wie Frauen, vor allem aber die jungen
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Mädchen, die den Kopf unbedeckt trugen, schlangen gern ein
golddurchwirktes Band ums Haar. Ein Perlband schmückte
oft den Hals der Frau. Goldene Halsbänder aber, Ringe,
Spangen und andere Schmucksachen trugen wiederum beide
Geschlechter. Auch der Mann hatte an dem Fingerreif oder an
dem spiralförmigen Ringgeflecht, das seinen Arm umspannte,
seine helle Freude.
Für den festtäglichen Schmaus sorgten Männer und Frauen
durch fleißige Arbeit. Im Hause selbst wurde von den Frauen
das Brot gebacken, von den Männern gebraut. Sorgsam
spannen und webten die Mädchen. Man erzählte sich Geschichten
oder trug Lieder vor. Man spielte Würfel oder Brettspiel —
wie einst die Götter im goldnen Zeitalter.
Ein solches Phäakendasein mußte freilich durch barte Tätigkeit
erobert werden. Daran hatten Sklaven und Freigelassene
wohl den Hauptanteil. Aber auch die Herrschaft, Männer wie
Frauen, griffen tüchtig zu. Im allgemeinen verstand man sich
gut in gemeinsamer Arbeit.
Die vielen auf Saatland deutenden Ortsnamen zeigen, welchen
Ehrgeiz man darein setzte, den heimischen Getreidebau Norwegens
auf dem neuen Boden nicht verkümmern zu lassen.
Aber karg war, was ibm die ein fache Bestellung mit Karst oder
Pflug abgewann. An manchen Stellen machte die durch heiße
Quellen erwärmte Erde den Anbau günstiger. Wenn aber
von Ackern besonders gerühmt wird, daß sie jedes Jahr Frucht
trugen, weist das deutlich auf häufige Mißernten. Weizen
kam nur zu Schiff aus dem Süden.
Ein ländliches Erntebild in unserem Sinne bot die Heuernte.
Da war alles auf dem Felde. Die Knechte mähten, die Mägde
schichteten die Mieten, die Pferde trugen das getrocknete Heu
heim in die Vorratshäuser für den Winter. Viel Heu im Schober
war ein Glück für den Besitzer. Der Hausherr, der bei mäßigen
Ernten dann im Winter mit Heu aushelfen konnte, stand in
großem Ansehen.
Begreiflich war diese Wertschätzung bei der Wichtigkeit des
Heues für die Viehzucht. Diese machte den größten Bestandteil
der isländischen Wirtschaft aus.
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Die Kuh war das Haupttier des Bauern. Sie vertrat in älterer
Zeit den Geldwert der Münze. Unter zehn Kühen hatten wohl
nur wenige Bauern, gar mancher besaß gegen hundert. Nur
die Schafzucht kam der Kuh an Bedeutung für den häuslichen
Wohlstand nahe. Im Sommer wurden die Tiere oft in die
Berge getrieben, wo sie wild weideten und besonders feit
wurden. Schafherden von 500 Tieren waren keine Seltenheit.
Es kam aber auch die fünffache Zahl vor.
Ein lebendiges Leben entfaltete sich, wenn die Schafe im Herbst
in die großen gemeinsamen Hürden eingefangen wurden. Da
galt es die mit besonderen Hausmarken versehenen Tiere richtig
herauszufinden. Dabei gab es leicht Streit und Mißhelligkeiten
mit Männern aus demselben Bezirk. Auch die Kuh- oder
Schafweide schaffte oft Zwietracht, wenn die Weidegrenzen von
unzuverlässigen Nachbarn nicht innegehalten wurden.
Solche Reibereien traten auch wohl ein bei Fischfang und Jagd,
der dritten Erwerbsquelle der alten Isländer.
Man fing in den Strömen mit Reusen, Netzen und Angel Lachs
und Forelle. Auf dem Meere stellte man, wie jetzt noch an den Lofoten
in Norwegen, in kleinen Ruder- und Segelbooten dem
Hering und dem Dorsch nach. Wo gute Fisch- und Vogelplätze
in der Nähe waren, da blühte oft ein überraschender wirtschaftlicher
Wohlstand auf. Wie noch heute in den nordischen
Gegenden bildeten die Eier der Seevögel einen Hauptzweig
der Ernährung.
Besonders beliebt war die Jagd auf Seehunde, Walfische
und andere Waltiere. Man schoß mit Harpunen nach ihnen oder
schlug sie mit Keulen tot, wenn sie das Meer ans Land warf.
Um das Eigentumsrecht an einem angeschwemmten Wal tobte
oft ein erbitterter Streit.
Schon die tägliche Arbeit führte so Menschen derselben Gegend
zusammen. Man knüpfte auch Bekanntschaft an und lud sich
gegenseitig ein zum Gelage.
Dann kam die germanische Reiselust des Isländers zu ihrem
Recht. Man machte sich auf in die Nachbarschaft oder gar in
einen andern Bezirk. Im Winter fuhr man auf Schneeschuhen
oder in Schlitten. Im Sommer zog man zu Pferde aus.
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Schon daheim bei den täglichen Verrichtungen blieb der Mami
gern im Bereich seiner Waffen. Auf der Reise trug erste stets.
Sie hingen in dem Wohnhaus des Gastfreundes über seinem
Bankplatz, nachts im Schlafzimmer über seinem Bett. Vorsicht
war unterwegs doppelt geboten. Ein Feind, mit dem man Hader
gehabt hatte; konnte immer auftauchen.
Förmlich war der Empfang beim Gastgeber, aber reichlich die
Bewirtung. War ein Geschäft zu erledigen, trug man nicht
gern, bis der Gast sich selbst äußerte. Mehr als drei Tage zu
verweilen galt für unfein. Gastgeschenke frische Pferde und
Segenswünsche für die Fahrt gab der Wirt dem scheidenden
Gast mit auf den Weg.
Die Nahrung, die dem Fremden vorgesetzt wurde, war wie
daheim kräftig und gut. Sie kam vom Ertrag, den die Wirtschaft
oder die Jagd des Tages abwarf. Fleisch und Fisch, gekocht
und gedörrt, Brot, Grütze aus Gerste oder Hafer, vor allem die
fette Milch in jeder Form bildeten den Hauptbestandteil. Engelwurz
und mehrere Arten Seetang wurden daneben gegessen.
Ein einfaches Hausbier war das Getränk.
Reicher war die Bewirtung bei Gelagen, die zuweilen als
Picknicks veranstaltet wurden, meist aber auf besondere Einladung
stattfanden. konnte es hoch hergehen. Braten, auch
Luxus speisen vom Ausland, selbst Wein aus dem Süden wurde
dann gespendet.
Die Gelage fanden oft bei Gelegenheit einer Familienfeier,
etwa einer Hochzeit, statt. Dann war häufig eine große Zahl
Männer und Frauen zusammen. Die Wohnstube war in diesem
Fall besonders festlich geschmückt,
Lange Herdfeuer brannten in der Mitte. Der Fußboden war
mit Stroh gedeckt, die Sitze der Männer mit Schmuck geziert,
die Wände bei Wohlhabenden mit herrlichen Teppichen behängt.
Nachdem die Tische fortgeräumt waren, auf denen man
die Speisen auftrug, begann der Hauptteil des Festes: das
Trinkgelage.
Hier kamen alle Roheiten und Kniffe der germanischen Trinklust
zur Geltung. Man trank sich von den Längsbänken über
das Herdfeuer zu, man vereinigte sich zu besonderen Trink
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ecken, man geriet aber im Rausch auch oft in Streit. Fehde und
Totschlag konnten leicht ein Mahl beschließen,
Besonders gefährlich waren die Gelübde, die man in der gehobenen
Stimmung ablegte. Sie wurden im nüchternen Zustand
, da sie die waghalsigsten Taten versprachen, oft bitter
bereut. Sie waren aber heilig und durften nicht zurückgenommen
werden.
Vor allem wurden solche Gelöbnisse auf dem Juleber abgelegt
, der zur Weihnachtszeit in die Schar der Männer geführt
wurde. Auf ihn, der dem Gotte Frey geweiht war, legte man
feierlich die Hände und tat dann, indem man einen heiligen
Becher leerte, den Schwur.
Eine solche große Bauernstube zur Weihnachtszeit mochte
auch auf Island als Abbild der göttlichen Walhall erscheinen.
Manche Bauern gaben an Pracht und Ausschmückung der
Hallen den norwegischen Edlen und Fürsten wenig nach. Auch
hier traten Skalden auf, die an dem Getäfel der Wände bildlich
dargestellte Szenen aus der Göttersage in kunstvollem Sange
erläuterten und sonst von den Taten der Väter aus Norwegen
berichteten.
Das Weihnachtsfest war das Hauptfest auf Island. Es siel,
wie bei uns, in den Mittwinter zur Zeit der Sonnenwende.
Die beiden andern großen Feste waren zu Beginn des Sommers
, um den 14. April, und am Anfang des Winters, um
den 14. Oktober. Vor jenem war die Früh saat, vor diesem die
Ernte beendet. Der Sommer selbst blieb meist frei für die
häusliche Arbeit und die Wikingerfahrten.
Die Götter, denen zu Ehren man die Festgelage veranstaltete,
waren die alten der Heimat. Besondere Schutzgottheiten begleiteten
den Menschen durch das Leben und wurden bei den
Opferfesten angerufen.
Im Mittelpunkt der Verehrung standen Odin, Frey und Thor.
Vor allem aber die beiden letzten. Ihre Hochsitzsäulen hatten
die meisten Ansiedler begleitet. Ihnen wurden auf Island
neue Tempel errichtet.
Die großen Opferfestlichkeiten fanden im Tempel statt. Dieser
war ein kapellenartiges Gebäude, das in zwei Teile zerfiel.
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In dem kleineren Raum hauste allein der Tempelvorsteher,
der Gode.
In dem größeren, der ähnlich wie eine isländische Wohnstube
mit Banksitzen für die Männer versehen war, versammelte
sich die Opfergemeinde. Die Götterbilder waren gewöhnlich
von Holz, aber oft prächtig geschmückt. Heilig war das Pferdefleisch
das auch den Hauptteil des Festschmauses bildete, während
man sonst Ochsen- und Schaffleisch verzehrte. Den Vorsitz
des Opfermahles führte, auf dem Hochfitz thronend, wiederum
der Gode. Die Erhaltung des Tempels wurde durch die Tempelsteuer
des Godenbezirkes bestritten. Oft flossen aber feiwilltge
Gaben. Endlich hatte der in der Regel reiche Priester und
Tempelvorsteher, eben der Gode, selbst ein natürliches Interesse
an der Erhaltung seines Heiligtums.
Mit dem Besitz des Tempels bing auch die weltliche Macht
des isländischen Goden zusammen. Was vor der Gründung
des isländischen Staates an Herrschergewalt und richterlicher
Machtsphäre da war, lag gleichfalls in den Händen des Goden.
Er berief die Thinge, die im Frühjahr und im Herbst die Männer
des Bezirks zu gemeinsamer Beratung zusammenführten.
Der Thingplatz wurde vom Goden bestimmt und war nach
außen feierlich abgesteckt. Hier erschien man mit vollen Waffen,
die nur im Heiligtum bei den Opferfesten abgelegt wurden.
Von einem Thinghügel aus wurden die Beschlüsse der Versammlung
für den Bezirk verkündet und in Streitsachen Recht
gesprochen. Grenzfehden, Viehraub, Brandschatzung oder Totschlag
des Nachbarn und ähnliches kam zur Verhandlung.
Wie auf den Opferfesten war hier jeder Streit mit Waffen verpönt
. Auch der Thingfiede war heilig.
So schwere Strafen auf den Bruch des Tempel- oder Thingfiedens
gesetzt waren, wurden beide doch nicht selten gebrochen.
Oft genügte den Parteien die richterliche Entscheidung des
Goden nicht. Dann trugen die Prozeßgegner ihre Sache durch
Zweikampf aus. Oft entspannen sich auch durch die Waffenhilfe
ihrer Anhänger weitere Fehden. Aber die Frühjahrs- und
Herbstzusammenkünfte trugen doch auch wieder zu gesellschaftlicher
Annäherung bei,
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Vor allem konnte sich hier der durch die bäurische Alltagsarbeit
gehemmte Drang des Isländers zum Messen der körperlichen
Kräfte in Sport und Spiel austoben. Knaben versuchten
sich frühzeitig in allen Waffenübungen. Bogenschießen, Speerwerfen,
Fechten waren selbstverständlich. Schwimmen und
Wetthaufen stählten die jugendliche Kraft. Vor allem war der
Ringkampf beliebt. Hier kam es neben der Kraft auf Geschicklichkeit
und besondere Kniffe bei der Niederwerfung des Gegners
an. Aber auch Männer, selbst Greise, beteiligten sich an diesen
Sportübungen, die mit dem größten Ehrgeiz betrieben wurden.
Von den Spielen, die sich gern an Gelage, Opferfeste und
Thingversammlungen anschlossen, waren am beliebtesten das
Ballspiel und die Pferdehatz. Frauen sahen dabei gern von abgesonderten
Sitzen dem Spiel der Männer ;u und lohnten
ihnen durch ihren Beifall.
Das unserem Schlagball ähnliche Ballspiel gewährte schon
äußerlich in dem Ringen der beiden Parteien um den Besitz
des Halles das Bild einer Schlacht. Oft artete es in wirkliche
Fehde aus, und das Schlagscheit, mit dem man den Ball trieb,
wurde mit dem Schwert vertauscht. Ähnlich erging es auch bei
der Pferdehatz, wo der Ehrgeiz der Besitzer hinzukam, ein
Musterroß vorzuführen.
Die kräftigsten und schönsten Tiere wurden zu dem sonderbaren
Sport verwandt, bei dem die Pferde in Paaren gegeneinander
getrieben wurden, um sich hoch aufgerichtet mit Bissen
gegenseitig kampfunfähig zu machen. Auch hier gerieten dann
die Eigentümer der Rosse, die ihre Lieblinge unablässig anstachelten,
leicht in Fehde. Der meerumschlossenen Insel fehlte
ja ein äußerer Feind, an dem man in natürlicherem Kampfe sein
Mütchen kühlen konnte. Nicht jeder konnte als Wiking fahren.
Bei allen diesen Zusammenkünften fehlte aber auch fröhliche
Unterhaltung nicht. Man schlug Buden und Zelte auf, in denen
man sich besuchte. Da wurden die Geschichtchen, die man sich
am häuslichen Herd erzählte, ausgetauscht und durch neue
bereichert. Die Erinnerung an die Taten der Väter in Norwegen
war ja allen gemeinsam. Und oft kam von dem alten
Vaterlande neue Kunde herüber.
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NIcht selten landete an der Küste ein Kauffahrer aus Norwegen
oder den nordischen Kolonien in England. Dann entwickelte
sich auch am Strande ein buntes Treiben.
Der Gode war auch hier der allmächtige Mann, der dem fremden
Ankömmling gegen Abgaben den Handel mit seiner Ware
erlaubte. Kaufbuden wurden aufgeschlagen, in denen man
diese feilbot. Man tauschte die fremden Produkte gegen einheimische
ein. Ausser dem Vieh und dem landwirtschaftlichem
Ertrag waren Fische und Pelzwerk der arktischen Tiere die
Hauptausfuhr. Sehr gesucht war auch schon damals das
heutige Wappentier des Landes, der Falke, zur Jagd.
Aus der Fremde kamen vor allem Getreide und Honig,
Schmucksachen und feinere Kleiderstoffe, dann das für Schiffe
so wichtige Bauholz. Durch den spärlichen Baumwuchs der
Insel und das aus den Buchten Amerikas ans Land geschwemmte
Treibholz wurde der Bedarf nicht entfernt gedeckt.
Als Zahlmittel galt außer der Kuh und dem Fries Gold und
Silber, das aber damals noch gewogen, nicht geprägt ward,
Eine Unze Goldes war dabei gleich einer Mark Silbers oder
360 Reichsmark unserer Währung.
Die Kaufleute blieben den Winter über gewöhnlich bei Einwohnern
zu Gast, um im nächsten Sommer zurückzufahren.
Sie sogen dann auch weiter ins Land, um zu verkaufen oder
Schulden einzuheimsen.
Auch der Isländer selbst fuhr aus, um Handel zu treiben.
Freilich leitete ibn weniger der Erwerbssinn, als die Hoffnung,
aus der Enge des Vaterlandes in die weite Welt zu kommen,
Kam er zurück, so hatte er als Weitgereister zu Hause größeres
Ansehen. Oft bitten junge Helden den Vater um ein Handelsschiff
. Aber sie rüsten es wikingerhaft aus und denken dabei
M sich in der Fremde zu rauben und zu plündern.
Der Waffenschmuck des Mannes, von dem er sich nie trennt,
ist auch seine höchste Zierde auf der Wikingfahrt. Auf dem
Haupte sitzt der oft vergoldete Helm, in der Hand und an der
Seite trägt der Krieger, gleichfalls gold- oder silberbeschlagen,
Speer, Streitart und Schwert. Besonders kostbar ist der Schild,
Er ist mit kostbaren Steinen und Spangen geschmückt und
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Altisländischer Pferdezweikampf. Handzeichnung
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der Mitte bemalt. Oft ist er mit künstlerischen Darstellungen
aus der Götter- und Heldensage geziert.
Sehr häufig empfing der junge Isländer einen solchen Prunkschild
im Auslande, wenn er bei einem Fürsten zu Gaste war,
M geleistete Dienste. Ja auch ein kostbares Segel oder par
ein ganzes Kriegsschiff wurde ihm als Geschenk verehrt. Dann
gab es bei der Rückkehr ein Staunen oder Fragen ohne Ende.
Das gewöhnliche Schiff, das der Isländer zur Wikingfahrt
benutzte, war das Langschiff. Hier fühlte er sich auf der Meerfahrt
wie zu Hause. Nachdem es auf Rouen ins Meer gebracht
war, ward er dort bald völlig heimisch.
Vorder- und Hinterteil der Schiffe trugen gern phantastische
Figuren. Vorn war ein Eber- oder Vogelkopf oder irgendein anderes
Tieremblem. Bei der häufigsten Art, dem Drachenschiff,
stellte der Vardersteven den Kopf, der Kiel den Schwanz des Ungetüms
dar. Vorder- und Hinterdeck waren oft erhöht. Dort
standen die streitbarsten Männer. Den Bord entlang ward das
Schiff in der Gefahr mit aneinandergereihten Schilden gegürtet.
Das entsprach der Schildburg um den König im Kampf dem
Lande. Segel, mit oft herrlichen Farben, purpurn und buntgestreift,
machten das Schiff weit aus der Ferne sichtbar, ehe
es mit dem Steinanker festgemacht werden konnte.
Auf dem Schiff war auch für das Gemüt und die Phantasie
des Isländers zweite Heimat. Wenn er in seinem Zelt auf dem
Verdeck lag, konnte er glauben, daß er daheim in seinem Haus
wäre oder bei einem guten Freunde in Island zu Gast oder in
einer Bude auf dem Frühling- oder Herbstthing. Seine Heimatgenossen
umgaben ihn noch hier. In die heimatlichen Geschichten
am häuslichen Herd und auf dem isländischen Festspielplatz
wob sich in der Fremde manch neues Bild ein. Aus Inland-
und Auslandeindrücken entstanden so die ersten kleinen
mündlichen Vorläufer der später so stolzen Sagas.
Jene kleinen Erzählungen hielten die Bezirke wohl schon damals
in ihrer Volkheit zusammen. Noch freilich fehlte ein
Schutz gegen den oft in ihnen tobenden inneren Hader und
ein äußeres Band dem Ausland gegenüber. Das schaffte erst
die Gründung des Freistaates.
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Altisländisches Heldenzeitalter
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6. Der altisländische Staat
Im Jahre 930 wurde der isländische Freistaat gegründet.
Im Jahre 1030 starb der Gode Snorri, der an seiner endgültigen
Ausgestaltung den hervorragendsten Anteil hatte. In
diesen hundert Jahren ist der Charakter des Volkes noch durchaus
heidnisch. Es ist das isländische Heldenzeitalter, das alle
berühmten Männer der Saga hervorgebracht hat.
Die Kräfte; die der Schaffung eines Einheitsstaates entgegenstanden,
traten schon bei der Besiedelung Islands hervor. Es
waren die gleichen, die den edlen Geschlechtern die Unterwerfung
unter Haralds Herrschaft zur Unmöglichkeit gemacht hatten:
der berechtigte Egoismus der auf ihren Besitz pochenden Familien
und der auf die Kraft des Schwertes stolze Wikingersinn
des einzelnen Mannes. Die größte Persönlichkeit des heidnischen
Freistaates, Egil Skallagrimsson, zeigt diese staatsfeindlichen
Kräfte in schärfster Ausprägung.
Egils Leben, das seinen Brennpunkt im Dichterberuf hatte,
war eine Welt im Staate, die von ihrer Umgebung in hartnäckigem
Eigensinn keine Notiz nahm. Diese souveräne Bauernselbständigkeit
aber konnte auch ein Egil nur behaupten durch sein
ungewöhnliches Ansehen, das jeden hinderte, seiner Familie zu
nahe zu treten. Seiner Bedeutung entsprechend wäre auch dieser
Mann trotzdem in die inneren Streitigkeiten der Heimat verwickelt
worden, hätte er nicht sein ungeheures Wikingbedürfnis
bereits im Ausland ausgetobt.
Die Machtfülle dieser Herrschernatur, im eignen Lande voll
entfesselt, hätte gerade die Notwendigkeit eines Staatswesens
dargetan, wie es sich jetzt über der Familie und über den einzelnen
erhob.
Die äußeren Vorgänge, die zur Bildung des isländischen Freistaates
führten, sind in Dunkel gehüllt. Nur so viel ist klar.
Der Anstoß kam aus dem Willen des isländischen Volkes selbst.
Bei der Gestaltung des neuen Staatswesens waren auch Einflüsse
des Auslandes beteiligt.
Aus allen norwegischen Landschaften waren in den sechzig
Jahren der Besiedelung Kolonisten zugeströmt. Auf alle Gegenden
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Islands waren Auswanderer der verschiedenen norwegischen
Stämme verteilt. Im allgemeinen hielten die Siedler an
den Orten, wo sie seßhaft wurden, zusammen. Im Interesse
der führenden Landnahmemänner lag es, sich eine feste Bevölkerung
im eigenen Gebiete zu sichern.
Überall aber konnten auch Ansiedler aus anderen Bezirken der
Insel sich niederlassen. Zu jeder Tempelgemeinde konnten auch
Bewohner fremder Gaue gehören. Eine strenge territoriale Abgrenzung
bestand nur äußerlich überall. Sie war nicht so, daß
das Gefühl, ein zusammenhängendes Volk zu bilden, in den
einzelnen Distrikten hätte erstickt werden können.
So entstand ganz natürlich das Bedürfnis nach einem Mittelpunkt,
wo sich einmal ganz Island treffen konnte. Die Jugend
war schon während der Besiedelungszeit so gern ins Ausland
gewikingert. Der Wunsch, dem staatlich geordneten Norwegen
gegenüber auch eine äussere Einheit auf der Insel darzustellen,
mag da vielen gekommen sein. Wurden doch schon in der vorstaatlichen
Zeit tüchtige Isländer bei den fremden Königen so
hoch geehrt.
Grim Geißschuh wurde dazu ausersehen, einen Platz auf der
Insel zu finden, wo das Volk in alljährlichen Zusammenkünften
die äußere Geschlossenheit dem Ausland gegenüber kundtun
konnte. Bei dem unwegsamen Charakter Islands war
diese Aufgabe schwer. Die Wahl fiel auf Thingvöll, das heutige
Thingvellir, im Südwesten.
Von den Bezirken des Westens und Südens war dieser Platz
bequem zu erreichen. Von Norden und Osten bot er verhältnismäßig
den leichtesten Zugang. Die gewaltige Natur stimmte
zu der Wichtigkeit des neuen Thingplatzes. Die weite Hochebene
und die angrenzenden Lavahöhen kamen dem Bedürfnisse einer
großen Gerichtsversammlung denkbar entgegen.
Das Volk drückte dem Finder der heiligen Stätte seinen Dank
aus. Eine freiwillige Kopfsteuer von je einem Pfennig wurde
ihm für seine Mühewaltung zuteil. Der Entdecker Thingvölls
aber gab uneigennützig der Freude über das Gelingen seiner
Aufgabe dadurch Ausdruck, daß er den Ertrag dieser Abgabe
auf alle Tempelgemeinden des Landes verteilte.
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Der Sitz für eine Zentralgewalt des Landes war geschaffen.
Das äußere Vorbild des Allthings, wie die Versammlung dort
im Gegensatz zu den Einzelthingen der Landschaften genannt
wurde, war Norwegens Gerichtsverfassung.
Auch aus der Entfernung hatte König Harald Haarschön nie
aufgehört, auf die isländischen Verhältnisse nach Kräften einzuwirken
. Er war damals ein alter Mann. Aber sein Sohn
Hakon der Gute, schon äußerlich ein Abbild des Vaters, hatte
auch dessen staatliche Organisationskunst geerbt. Auf seine Veranlassung
wurden durch sachkundige Männer die bestehenden
Gerichtsverbände Norwegens revidiert und neugestaltet.
Der bedeutsamste Verband war das nach einer kleinen Insel
in der Gegend des Sogne- und Hardangerfjords genannte Gutathing.
Auf ihm pflegten je zwölf Männer aus drei bei einem
bestimmten Prozeß besonders beteiligten Landschaften als Gerichtshof
zu tagen. Bei zweifelhafter Urteilsfällung bildete
der König die entscheidende Instanz. Dieses Gaugericht hatte
das höchste Ansehen, und seine Entscheidungen wurden, in
mündlicher Überlieferung treu festgehalten, später die Grundlage
M die norwegischen Gesetzesbücher. Auch das Amt eines
Gesetzessprechers, der durch sein juristisches Wissen die schriftliche
Kodifikation damals ersetzte, war in Norwegen schon vorhanden.
An den Reformen des Gulathings unter Hakon dem Guten
hatte auch ein zu Ende der Besiedelungszeit auf Island weilender
Norweger, namens Ulfljot, mitgewirkt. Er gewann
großen Einfluß auf das isländische Volk zu dessen Bildung
ja gerade die Siedler vom Hardanger- und Sognefjord einen
besonderen Anteil gestellt hatten. So beauftragte man ihn, in
Norwegen ein isländisches Landesgesetz auszuarbeiten. Dies
wurde, als er 930 nach Island zurückkehrte, Gesetznorm der
Insel.
Erst im zwölften Jahrhundert wurde das isländische Staatsrecht,
zu dem bier die Grundlage geschaffen war, schriftlich
niedergelegt. Im dreizehnten empfing es in dem Gesetzbuch
der Graugans seine endgültige Gestalt.
Durch die neue Verfassung erhielt das isländische Volk in dem
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Gesetzessprecher ein sichtbares Oberhaupt. Er wurde auf drei
Jahre gewählt und stellte nach außen die gesetzgebende Gewalt
über die Insel dar. Seine Aufgabe war es, von dem
hochragenden Gesetzesfelsen von Thingvöll während seiner
Amtszeit die ganze Gesetzessammlung einmal feierlich vorzutragen
tragen. Er mußte den Rechtsuchenden auf jede Anfrage seinen
juristischen Rat erteilen. Er war die höchste Person bei den alljährlichen
Allthingversammlungen und dem Ausland gegenüber
der Präsident des neuen Freistaates.
Eine vollziehende Gewalt hatte dieser erste Vertreter des
neuen Staates nicht. Diese lag bei der gesetzgebenden Versammlung
des Allthings, die zugleich die richterliche Funktion eines
Obertribunals für das ganze Land ausübte. Bei ihrer Besetzung
, die ganz nach dem Muster des norwegischen Gulathings
erfolgte, hatten die Goden das Hauptwort. Sie durften
mit der neuen Verfassung wohl zufrieden sein. Ihre richterliche
Selbstherrlichkeit in den einzelnen Bezirken wurde zwar durch
die oberste Instanz des Allthings beschränkt. Aber dieser Machtverlust
wurde durch ihren Einfluß auf die dorthin entsandten
Männer reichlich aufgewogen.
An den inneren Zuständen des Landes änderte sich vorläufig
wenig. Nur eins war gesichert. Man hatte nach außen ein
Oberhaupt. Man hatte eine höchste Rechtsinstanz und traf
alljährlich im Hochsommer auf dem Allthing zusammen.
Die angeborene Streitlust des Volkes behauptete sich nicht
nur in den Gerichtsversammlungen der einzelnen Bezirke: sie
machte auch vor der höchsten Autorität des Allthings oft nicht
Halt.
Wegen eines furchtbaren Mordbrandes war im Jahre 905 der
mächtige Häuptling Tungu-Odd angeklagt. Auf dem zunächst
zuständigen Landschaftsthing konnte die Sache nicht entschieden
werden. Der Beklagte hinderte seinen Gegner und
Kläger Thord Gellir mit Waffengewalt, bis zur Thingstätite
vorzudringen. Aber auch auf dem Allthing, wohin die Sache
nun verwiesen wurde, kam es zu blutiger Fehde. Erst nachdem
viele Männer gefallen waren, wurde endlich die richterliche
Entscheidung in diesem Rechtsstreit getroffen,
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Blick vom Gesetzeshügel auf Thingvallavatn. Westisland
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Diese Durchkreuzung des Rechtsganges durch die Willkür der
hadernden Parteien war an sich nicht wunderbar. Die einzigen
Wahrheitsbeweise des alten Prozesses waren Eid und Zeugen.
Beide wurden oft durch Geld oder Beziehungen verschafft, so
daß sie vom Gegner angefochten wurden. Nahezu Einstimmigkeit
der Richter war für die Entscheidung Bedingung, und diese
war in vielen Fällen nicht zu erzielen.
Aber der Hauptgrund der Rechtsunsicherheit lag doch in der
gesetzlich nicht festgelegten Macht der Goden. Oft wurde die
Zuständigkeit eines Bezirksthinges angefochten. Häufig war
überhaupt keins vorhanden. Ein großer Schritt in der Entwicklung
des Einheitsstaates war es, als Thord Gellir auf
dem Allthing eine genaue Bezirksverfassung und eine Festsetzung
aller stimmfähigen Goden des Landes erreichte.
Das ganze Land wurde in vier Viertel eingeteilt, die nach den
Himmelsrichtungen benannt waren. Jedes Viertel bestand aus
drei Thingverbänden. Jeder Thingverband umfaßte drei Godentümer
mit je einem Haupttempel. Nur den Nordländern wurde
noch ein vierter Thingverband bewilligt, da sie sich über ihre
Thingstätten auf keine andere Weise einigen konnten.
Jeder dieser drei ehn Thingverbände war verpflichtet, im
Frühling wie im Herbst besondere Thinge abzuhalten, auf denen
die Gemeindeangelegenheiten erledigt und Recht gesprochen
werden sollte. Hier kamen die drei Goden des Bezirks mit ihren
Leuten zusammen. Auch hielten die neun oder zwölf Goden
des Landesviertels noch besondere Hauptversammlungen ab.
Die 39 Goden besetzten wie früher mit den von ihnen empfohlenen
Männern das oberste Gericht. Doch wurde dies jetzt in vier
gesonderte Senate eingeteilt, die genau den vier Landesvierteln
entsprachen. Die früher mit dem Gerichtshof identische
gesetzgebende Versammlung wurde nun abgetrennt, und in ihr
erhielten nicht nur die Vertreter der Goden, sondern auch diese
selbst Sitz und Stimme. Dadurch wurde der aristokratische
Charakter des Gesetzesausschusses erheblich verstärkt.
Neben den amtlichen 39 Godentümeru konnten sich beliebig
viele andere Tempelgemeinden auftun, aber nur die Inhaber
jener konnten fortan auf den Rechtsgang der vier Senate am
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Obergericht und vor allem auf die Gesetzgebung einen entscheidenden
Einfluß ausüben.
Durch das Gesetz des Thord Gellir war der Gegensatz zwischen
dem aus dem Auslande entnommenen Verfassungsentwurf und
dem bodenwüchsigen isländischen Godentum nach Möglichkeit
ausgeglichen. Dadurch, daß jedes Godentum der Ins sein festes
Gaugericht hatte und jedes Viertel Islands auch auf der höheren
Instans in gesondertem Senat vertreten war, wurde die
Rechtssicherheit wesentlich erleichtert.
Doch auch die vier Senate des Obergerichts konnten oft zu
keinem rechtskräftigen Entscheid kommen, und Fehden, ja förmliche
Schlachten auf dem Allthing waren auch jetzt noch keine
Seltenheit. So wurde 1002 in Thingvöll noch zu einer letzten
Neuerung geschritten, die das Verfassungswerk abschloß. Es
wurde ein fünfter Senat eingerichtet, der alle auf den vier Berufungssenaten
nicht erledigten Rechtshändel aburteilen sollte.
In der Art, wie diese Neuerung zutage trat, zeigte sich die
Macht der alten Familien. Der weise Njal, ein mächtiger
Häuptling, wünschte für seinen Pflegesohn Höskuld ein neues
Godentum. Als bei einer Tagung des Allthings einmal besonders
viele Rechtshändel nicht zur Erledigung kamen, benutzte
er klug die Gelegenheit, um den Vorschlag einer neuen
obersten Instanz auf dem Allthing selbst zu machen.
Dieses fünfte Gericht, das alle durch die Viertelsenate nicht
erledigten Rechtsfälle noch in derselben Allthingssitzung ent-
scheiden sollte, konnte durch die Vertreter der alten Godentümer
allein nicht besetzt werden. So war die Schaffung neuer Godentümer
notwendig, und leicht wurde es Njal, bei den angesehenen
Häuptlingen eines von ihnen seinem Günstling zu erwirken.
Für dieses fünfte Gericht waren die größten Vorsichtsmaßregeln
getroffen, um die gewaltsame Rechtshemmung der Vorinstanzen
möglichst zu hindern. Den Parteien stand den drei Dutzend
Richtern, die dort tagen sollten, gegenüber ein ausgedehntes
Verwerfungsrecht zu. Die hier geleisteten Eide sollten eine verschärfte
Bedeutung erhalten, um eine größere Sicherheit für
die Ehrenhaftigkeit aller dem Prozeß beteiligten Zeugen,
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Eideshelfer und Richter zu erzielen. Auch sollte hier nicht
Stimmeneinheit, sondern Stimmenmehrheit den Ausschlag
geben.
Die nächste Folge war, daß der Zweikampf, der bisher die
letzte Zuflucht bei unentschiedenen Rechtshändeln gebildet hatte,
wei Jahre später abgeschafft wurde. Freilich erhielt er sich
widerrechtlich trotzdem, und auch jetzt noch hörten Waffenfehden
vor Gericht nicht auf.
Fehdelust der einzelnen und kluger Egoismus der großen
Familien waren schon bei der Bildung des neuen Staates
hervorgetreten. Beide hören auch in den nächsten dreißig Jahren
nicht auf, eine bedeutsame Rolle auf den alljährlichen Allthingsversammlungen
zu spielen.
Ein abwechslungsreiches Bild entfaltete sich auf Thingvöll
um die Zeit des Hochsommers. Aus dem bunten jahrmarktartigen
Volksgetümmel sondern sich die drei wichtigsten Erscheinungen
des Thinglebens wirkungsvoll ab.
Für sich tagt die gesetzgebende Versammlung. Sie hatte allein
die Rechtsnorm festzustellen, und nur sie war befugt, Ausnahmen
davon für die Prozessierenden durchzusetzen. Wiederum
an anderm Ort sitzen die Richter der einzelnen Abteilungen.
Kein Thingteilnehmer darf unaufgefordert ihren Gerichtsring
betreten. Am Abend ziehen sie aus, um das Urteil vom Gesetzesfelsen
zu verkünden.
Der Gesetzesfelsen ist der heiligste Punkt der Thingstätte. Von
ihm aus dürfen auch Privatpersonen wichtige Mitteilungen
an die Versammlung richten. Die Erlaubnis dazu aber hat
der Gesetzessprecher zu geben, der auch stets den juristischen
Rat erteilt. Dieser Platz ist allein seine Domäne. Nur aus
den besten Männern des Landes wählt ihn die gesetzgebende
Versammlung. Das Bild des Thingfriedens ist in dieser Persönlichkeit
greifbar verkörpert.
Und doch. Wie leicht wandelt sich diese ganze friedliche Szenerie
in Krieg. In ihren Buden besuchen, bewirten und beraten
sich die von Waffen starrenden Häuptlinge. Auch jetzt
noch kann es durch Intrigen zu Thingauflösung und zu
Thingschlachten kommen.
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Eine Änderung trat auch nicht ein, als im Jahre 1000 das
Christentum als Staatsreligion öffentlich anerkannt wurde.
Mochte es auch die Versöhnlichkeit und die Enthaltung vom
Zweikampf hier und da unterstützen: eine Umwandlung der
Geister im Sinne des Christentums kam in den ersten dreißig
Jahren nach seiner Einführung nicht zustande.
Der Charakter des Staates blieb durchaus heidnisch. Das
lag in den eigentümlichen Verhältnissen Islands begründet.
Früh hatte die religiöse Gleichgültigkeit des Volkes die in der
Landnahmezeit eingewanderten christlichen Elemente wieder
verschwinden lassen. Seit den achtziger Jahren des zehnten
Jahrhunderts waren zwar Missionare aus Deutschland und
Norwegen tätig gewesen. Mancher auf der Insel, selbst einflußreiche
Häuptlinge, waren zur Bekehrung gebracht. Indes
nicht der christliche Eifer der Bekehrten war die Ursache des
Sieges der neuen Religion. Rein aus politischen Erwägungen,
um die Einheit des Staates durch die Glaubensspaltung
nicht zu gefährden, wurde allgemein der Christenglaube angenommen
. Diese Annahme war gleichsam die Probe auf die
Festigkeit der Republik.
Der Vorgang selbst, wiederholt in den Sagas dargestellt, gestattet
sich äußerst dramatisch. Es sieht aus, als solle eine große
Volksschlacht auf dem Allthing geschlagen werden. Im letzten
Augenblick erfolgt dann nach eingehenden Verhandlungen der
beiden Parteien eine friedliche Vereinbarung. Auch die Heiden
sahen ein, daß ohne die Annahme der neuen Lehre die Existenz
des Staates gefährdet war.
Die Christen, die in voller Waffenrüstung auf das Allthing
rückten, wurden von zwei Häuptlingen geführt, die König Olaf
Tryggvason in Norwegen auf die Bekehrung Islands verpflichtet
hatte. Er zürnte wegen der Mißerfolge, die seine
Missionare im Lande gehabt hatten, und hatte sich nur unter
der Bedingung davon abhalten lassen, alle Isländer in Norwegen
zu töten, daß die Bekehrung auf dem Allthing durchgesetzt
würde.
Wilder Protest der Heiden erhob sich, als die Christen den
Thingplas betreten wollten. Noch erbitterter ward die Stimmung,
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als sie gar in feierlichem Aufzug vom Gesetzesfelsen
König Olaf Tryggvasons Wunsch dort verkündeten. Unvermeidlich
schien jetzt der Zwist. Man sagte sich einander Recht
und Frieden auf. Alle Vorbereitungen zur Schlacht waren auf
beiden Seiten getroffen, als auch noch ein gewaltiger Vulkanausbruch
stattfand. Die erbitterten Heiden meinten, ihn hätten
die über die frevlen Reden der Christen erzürnten Götter gesandt
. Da rief Snorri, der angesehenste der christlichen Häuptlinge,
wen denn wohl die alten Asen bei früheren Vulkanausbrüchen
gestraft hätten! Beruhigung trat ein, und mit dem
heidnischen Gesetzessprecher Thorgeir traten die Führer der
Christen zusammen, um zu beratschlagen.
Aus den Bedingungen, die für die Annahme des Christentums
vereinbart wurden, tritt der rein staatliche Charakter der
Christianisierung Islands hervor.
Was man den Heiden irgend gestatten konnte, blieb. Sie durften
weiter Pferdefleisch essen, was sonst von den Missionaren
als äußeres Zeichen des heidnischen Opferdienstes streng verpönt
wurde. Das Aussetzen der Kinder, vom christlichen Standpunkte
ein Greuel, wurde nach wie vor gestattet. Selbst heimliches
Opfern zu den alten Göttern sollte straflos bleiben. Bloß
das öffentliche Bekenntnis zur heidnischen Lehre wurde mit
Landesverweisung bestraft. Die Thingleute mußten sich sofort
zur Taufe bequemen. Die Nord- und Ostländer, die durchaus
nicht in das kalte Wasser steigen wollten, taufte man in
warmen Quellen. So hatte der neue Staatsvertrag äußerlich
war das Christentum gebracht, innerlich aber auf ein Menschenalter
noch die Macht des heidnischen Staates gefestigt.
Der politischen Selbständigkeit drohte trotz weiterer Einwirkungsversuche
König Olaf des Heiligen einstweilen keine Gefahr
mehr. Bei der Entfernung der Insel war an einen festen
und auf die Hierarchie der römischen Kirche gestützten Episkopat
nicht zu denken. Die Goden bauten Kirchen statt der
Tempel, wie sie dies vereinzelt schon bisher getan hatten. Sie
wurden auch wohl christliche Priester. An ihrer weltlichen
Machtstellung büßten sie nichts ein.
Gern war das ganze Volk dem Entscheid des Gesetzsprechers
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Thorgeir gefolgt. Die Heiden vertrauten ihm, weil er einer der
Ihrigen war, die Christen, weil die neue Lehre äußerlich durchgesetzt
wurde. In der Überzeugung von der Notwendigkeit des
getanen Schrittes in politischer Hinsicht waren alle Einsichtsvollen
einig.
Die dem Einheitsstaat feindlichsten Kräfte waren der im Godentum
gipfelnde Egoismus der alten Familien und der fehdelustige
Eigensinn einzelner Wikingernaturen im Volk gewesen.
Diese blieben in den ersten hundert Jahren der Republik in mancher
Hinsicht ungebrochen. Aber es war doch ein Zeichen für die
außergewöhnliche politische Begabung des jungen Volkes, daß
auch jene widerstrebenden Elemente in kritischen Augenblicken
bei der Bildung des Staatswesens nicht versagt hatten.
persönliche Motive hatten einen Thord Gellir und einen Njal
zur Erreichung der beiden wichtigsten Staatsreformen geführt.
Aber beidemal waren die Einrichtungen, die diese beiden klugen
Männer durchsetzten, in den inneren Verhältnissen des ganzen
Volkes begründet. Sie hätten mit Notwendigkeit auch ohne
sie später eintreten müssen.
Nicht anders war es bei der Krönung des Einheitswerkes
durch die Einführung des gemeinsamen Glaubens. Der Staatsgedanke,
der durch die Einmischung des Norwegerkönigs gefährdet
war, gab bei dem heidnischen Gesetzessprecher Thorgeir
die Entscheidung, die Einsetzung der neuen Religion zu befürworten.
Aber auch bei den christlichen Häuptlingen, vor allem
beim Goden Snorri, war die gleiche Erwägung maßgebend.
Auch das Godentum hatte ein Interesse daran, daß nicht durch
Zersplitterung in eine heidnische und eine christliche Partei die
durch das Allthing nach außen gewährleistete Staatseinheit
gefährdet wurde. Es schützte den neuen Staat vor jeder inneren
Verknöcherung, daß er wirklich aus dem Willen der einsichtsvollsten
und tatkräftigsten Männer Islands geboren ward.
Keine Gestalt erregt in der politischen Geschichte des Freistaates
ein solches Interesse wie der Gode Snorri. Er war einer der
mächtigsten Häuptlinge. Kampf und Fehde füllten das Leben
des vielgewandten Mannes, mochte er daheim in seinem Bezirk
am Breitfjord weilen oder auf dem Allthing seinen Rat in die
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Wagschale werfen. Auch das Christentum tat seiner Kämpennatur
keinen Abbruch. Diese teilte er mit vielen andern. Was
ihn aus der Menge der Zeitgenossen heraushob, drückt sein
Zuname " der Gode" nicht aus. "Der Kluge" hätte er am
passendsten geheißen.
Die Sagas schildern ihn eingehend. Er war von mittlerem
aber etwas schmächtigem Wuchs, mit regelmäßigen schönen
Gesichtszügen, von lichter Hautfarbe. Im täglichen Leben war
er verträglich. Man merkte ibm nicht leicht an, ob ibm etwas
wohl oder übel gefiel. Wirkliche Beleidigungen trug er dennoch
lange nach und war dann sehr rachgierig. Snorri war klug und
konnte in manchen Dingen in die Zukunft schauen. Heilsamen
Rat erteilte er seinen Freunden, aber seine Feinde glaubten, in
seinen Ratschlägen eine gehässige Gesinnung zu erfahren. So
wurde er bald ein großer Häuptling und Tempelvorsteher.
Wegen seiner Macht wurde er viel beneidet. Es gab ja viele,
die ihrer Abstammung nach sich nicht geringer dünkten, an
Stärke und erprobter Tapferkeit aber sich größer fühlten.
Snorris Leben bestätigt diese Charakterskizze. In die großartigste
Saga des Nordlandes wie des Südlandes leuchtet
seine Bedeutung hinein.
Der junge Grettir, Nordislands größter Held, ist durch Gerichtsbeschluß
zu ewiger Friedlosigkeit verurteilt. Die Freunde
weisen ihn an den klugen Rat des Goden Snorri. Dieser verspricht
dem Geächteten, nach Kräften seine Sache zu vertreten,
wenn er ihn auch nicht in seinem Hause aufnimmt. Die politische
Klugheit Snorris mochte einen Hader mit anderen mächtigen
Häuptlingen befürchten.
Vorsichtig zurückhaltend, aber in dem entscheidenden Augenblicke
tatkräftig zeigt sich Snorri auch in der großen Saga des
Südlandes. In dem Streit zwischen Flosi und den Njalssöhnen
wegen der Ermordung von Njals Pflegesohn Höskuld wird
sein kundiger Rat begehrt. Auch hier macht sich die zur Vermittlung
neigende Natur des besonnenen Mannes wohltuend
geltend.
Trotzdem wird auch Snorri in das große Allthingdrama am
Schlusse der Njalssaga verwickelt. Durch Flosi, der für Höskuld
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Rache nahm, ward der alte Njal mit Weib und Kindern in
seinem Hause überfallen und durch Feuer getötet. Njals Verwandter
Kari sucht die Hilfe mächtiger Häuptlinge in dem Prozeß
, den er gegen Flosi wegen des Mordbrandes auf dem 'Allthing
anstrengt. Dieser erscheint mit reicher Hilfe aus dem Ostlande
. Als Vermittler im Prozeß sowie in der furchtbaren
Schlacht, die dann zwischen beiden Parteien anhebt, spielt
Snorri die hervorragendste Rolle. Die größten Ehren erfährt
er, als er schließlich den Vergleich zustande bringt.
Die rührigste Tätigkeit entfaltete Snorri am Breitfjord in
seiner Heimat. Außer der nach ihm genannten Saga wissen
auch die Geschichten von den Leuten aus dem Tal der Lachsach
und die Erzählung vom Hochlandkampf von des unermüdlichen
Mannes Schlauheit zu berichten.
Snorris Schwiegervater wurde der Haudegen Vigastyr, der
dreiunddreissig Feinde erschlagen hatte, ohne auch nur einmal
Buße dafür haben zahlen müssen. Dessen Tochter errang er,
indem er Vigastyr kluge Ratschläge gab, wie er sich zweier Berserker
, die jene umwarben, am besten erledigen könne. In
Zwiesprache mit dem Donnergott behauptete Snorri die listigen
Vorschläge zur Abwehr der Unholde auf dem von seinen Ahnen
geheiligten Berge empfangen ;u haben. Ebendort baute der
diplomatische Mann später eine Kirche. Er duldete, daß sein
christlich gesinnter Sohn an dem Rachezug für den getöteten
Schwiegervater sich nicht beteilige. Er selbst nahm in echt heidnischer
Art fürchterliche Blutrache,
Ein besonderes Vertrauensverhältnis verband Snorri mir
den Leuten aus dem Lachstal. Ein treuer Berater wurde er für
die Heldin jener Gegend, Osvifrs Tochter Gudrun. Auf seinen
Rat nimmt Gudrun seinen Freund Thorkel zum Gemahl. Ja
Snorri tauscht sogar mit Gudrun seinen geliebten Wohnsitz
Helgafell, da jene mit den Mördern ihres vorigen Gatten nicht
in demselben Bezirke wohnen will. Aber streitbar und unternehmungslustig
bleibt er auch in der neuen Umgebung.
Die Saga vom Goden Snorri selbst ist vor allem dazu angetan,
seine verschlagene, aber doch mannhafte Gestalt in ihrem Wert
hervortreten zu lassen. Spielt sie doch gerade auf dem Boden,
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Ouelle unter überwachsenem Lavafeld in Nordisland
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der für die erste Reform der Staatsverfassung durch Thord
Gellir von so großer Bedeutung wurde. Auf dem Thorsnesthing
fand jener wütende Gerichtskampf statt, zwei Jahre bevor
der Gode Snorri dort geboren wurde.
Der wilde Spuk, der die Saga von Anfang bis Ende durchwebt,
gibt ein gutes Kolorit der Zeit des Übergangs vom
Heidentum zum Christentum. Aber in dem Auftreten Snorris
diesen Gespenstern gegenüber liegt auch der einzige Zug, der
bei ihm christlich anmutet. Im übrigen ist er auch nach seiner
Bekehrung der gleiche tatenlustige und ränkevolle Heide.
Schon mit dreißig Jahren steht Snorri auf dem Höhepunkt
seiner Macht. Seinen Hauptgegner Arnkel hat er nach lange
voraufgegangenem Hader endlich vernichtet. Durch seine Verschwägerung
mit dem mächtigen Vigastyr hat er sich großen
Einfluß gesichert. Er ist nun unbedingt dank seiner klugen Berechnung
und seiner Tapferkeit der erste Mann am Breitfjord.
So entscheidet er auch den Streit seiner Verwandten, der Leute
aus dem Alptafjord, der "Schwanenbucht". mit den Männern
aus Eyr, die auf dem Eise des Vigrafjords die wütendsten Kämpfe
ausfochten. Am Ende des isländischen Heldenzeitalters läßt
ihn die Saga sterben. Im kräftigen Mannesalter hatte er auf
dem Allthing sein Hauptwerk vollbracht. Sein Name war mit
der Bildung des Freistaates für immer verknüpft.
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7. Die altisländische Familie
In der "Weissagung der Seherin", dem gewaltigsten Edda-
gedichte, wird das Schicksal der Götter und Menschen durch
eine dichterische Vision uns vor Augen geführt. Der Blick der
Weissagerin weilt auch im Reich der Hel bei den Toten. Dort
müssen durch eiskalte Ströme in giftigen Tälern waten, die im
Leben einen Eidbruch verübten oder die Heiligkeit der Sippe
brachen. Wie diese Wasserhölle wurzelt die Vorstellung von der
Furchtbarkeit gerade dieser Vergehen tief im nordischen Heidentum.
In seinen wikingerhaften Fehden war das gegebene Manneswort
die einzige Sicherheit. Rein Band schlang sich so fest
von frühster Jugend bis zum höchsten Alter um den alten Isländer
wie das der Familie.
Die Strenge des Familienzwangs setzt schon bei dem Neugeborenen
ein. Dem Vater stand bei der Geburt des Kindes
das Recht zu, seine Annahme zu verweigern. Erst nachdem er
es selbst vom Boden aufgehoben und dadurch ausdrücklich als
das seine anerkannt hatte, gehörte es zur Familie. Aussetzung
kam besonders bei schwächlichen und Bastardkindern vor, galt
aber nicht als besonders ehrenhaft.
Gleich nach der Geburt wurde das Kind mit Wasser benetzt
und erhielt gewöhnlich von dem Vater den Namen. Diesen
Rufnamen erhielt es häufig nach dem Großvater. Auch das
deutet auf den festen Zusammenhang der einzelnen Mitglieder
des Geschlechtes. Dem äußern Symbol der Familienzugehörigkeit
bei der Namengebung lag alter Glaube zugrunde, daß durch
sie auch des Großvaters Wesen sich auf den Enkel vererbe.
Ungewöhnlich groß ist die Zahl der Männer- und Frauennamen
mit 'Thor am Anfang. Sie zeigen die hervorragende
Stellung an, die dieser Gott im Heidentum auch auf Island
noch einnahm. "Thorgrimssohn" und"Thorgerdstochter", auf
diese einfache Weise wurden die Familiennamen nach dem
Namen des Vaters gebildet. Seltener nach dem der Mutter,
besonders, wenn der Vater vorzeitig starb. Dazu traten dann
bald Spitznamen, die Beinamen fürs Leben wurden.
Sehr häufig tritt an Stelle des leiblichen Vaters für das
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Kind ein Ziehvater ein. Die Gründe dafür sind mannigfacher
Art. Freundschaft und Verwandtschaft können diesen Liebesdienst
leisten. Doch ist oft die Sucht, sich bei dem mächtigen
Vater eines Kindes beliebt zu machen, der Antrieb zur freiwilligen
oder nahegelegten Aufnahme eines Zöglings. Immer
aber ist das Verhältnis zwischen Ziehvater und Ziehsohn ein
enges, oft enger als das von Vater und Sohn.
Sehr früh regt sich bei dem Knaben Selbständigkeit und
Kampflust. Waffen sind sein Lieblingsspielzeug. Der Wort-
oder Waffenstreit Erwachsener wird gern im kindlichen Spiel
nachgeahmt. Bei den Zusammenkünften zu Ballspiel und ähnlichem
Sport bilden die Knaben oft eine eifrige Jugendgruppe
unter sich.
Mit zwölf Jahren ist häufig der Knabe schon in Rat und
Tat ein kleiner Held. Er gilt dann als Erwachsener, darf auf
dem Thing sich sehen lassen und nimmt an kriegerischen Fehden
im Lande teil. In nicht viel höherem Alter zieht mancher schon
als Wiking aus in fremde Länder. An der Rührigkeit der
Jungen, selbst wo sie in Gewalttätigkeit ausartet, haben die
Alten ihre stille Freude. Es gibt freilich unter jenen auch Duckmäuser
an der Herdasche, die erst später, dann aber oft um
so kräftiger, zum Heldentum erwachen.
Häufig entwickelt sich unter den jungen Männern bei ihren
Unternehmungen daheim und im Ausland innige Freundschaft.
Um meisten bei Ziehbrüdern, die von Jugend auf zusammen
waren. Oft wurde die Kindheitsgenossenschaft zur Blutsfreundschaft
erweitert. Unter Streifen Rasen, die in Manneshöhe
vom Boden abgelöst und durch Speere gestützt waren,
aber an beiden Enden mit dem Erdboden zusammenhingen,
schworen sie sich Freundschaft fürs ganze Leben und ließen
zum Zeugnis dieses Eides ihr Blut zusammenrinnen. Solche
Schwurbrüder blieben sich bis zum Tode treu.
Auch das Verhältnis der leiblichen Brüder war fast immer
gut. Oft taten sich die Brüder zu einer Kampfgenossenschaft zusammen
. Der Bastard-Bruder wurde gern durch einen feierlichen
Akt in die Sippe eingeführt. Blutrache wurde auch für
ihn genommen.
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Das Leben der jungen Mädchen war vor der Ehe zurückgezogen.
Sie gingen meist in häuslicher Arbeit auf, begleiteten
aber die verwandtschaft auf Thingfahrten und nahmen an
Spielfesten und auch Gelagen teil. Wie die Knaben wurden
auch die Mädchen früh reif. Ohne Romantik, nach praktischen
Erwägungen, oft aus politischen Gründen, wurden
die Jungfrauen verheiratet. Der Vater oder andere Verwandte
leiteten die Sache ein, aber auch, wenn der Mann nach eigenem
Ermessen freite, tat er dies fast immer nach Verstandesrücksichten.
Tüchtigkeit, Wohlhabenheit und gute Familie gaben
bei der Wahl des Mädchens den Ausschlag. Annäherung vor
der Ehe oder gar regelrechte Liebesverhältnisse wurden von
den beiderseitigen Verwandten mit mißtrauischem Auge betrachtet
. Die Besorgnis, daß durch leichtsinnige Verführung
Schmach in eine Familie kommen könne, war groß.
War eine Annäherung junger Leute erst Gespräch der Gegend
geworden, so schlug der Vater wohl sogar eine Eheverbindung
ab, selbst wenn die Aussichten für eine solche auf beiden Seiten
vorher gute waren. Daß man den Verführer einer Haustöchter
in guten Familien durch Totschlag aus dem Wege räumte, war
in jenen wilden Zeiten die natürliche Folge einer so strengen
Auffassung von der Unbescholtenheit der Mädchen.
Seltsamer, aber auf dieselbe Angst vor Bloßstellung der Jungfrauen
gegründet, erscheint uns die Mißliebigkeit der Liebesdichtung
. Achtung, die im Gesetz darauf gesetzt war, hat wohl
die wenigsten poetischen Minnewerber in Wirklichkeit betroffen.
Aber Buße durfte man rechtlich für Ansingung eines Mädchens
fordern. Trotzdem konnte es schließlich kein Gesetz hindern, daß
romantische Liebesverhältnisse in unserem Sinne vorkamen
und auch gelegentlich geduldet wurden. Die Skaldenlieder verraten
hier manches, was die nüchterne Erzählung der Saga
nicht kennt.
Fehlt auch der schmachtende, von seinem Mädchen abgewiesene
Liebhaber in jener Zeit nicht völlig, so ist doch in der Regel die
Tochter ohne Einfluß auf ihre Verheiratung. Sie wird fast
immer vom Vater vergeben und kann nach dem Gesetz zur
Ehe gezwungen werden. Freilich machen die Väter nicht selten
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eine Ausnahme von ihrer Berechtigung und stellen die Einwilligung
der Tochter dem Bewerber als Bedingung, aus Liebe
oder weil sie den stolzen Charakter ihrer Kinder kennern
Der Verheiratung ging die feierliche Verlobung voraus. Umgeben
von Verwandten reiste der Freier zur Braut, warb selbst
oder durch den Mund eines nahen Gesippen für sie und bot
ihr die Hochzeitsgabe. Diesen Handel oder Kauf der Braut,
wobei die künftigen Vermögensverhältnisse genau geordnet
wurden, schloß man durch einen Vertrauensmann des Freiers.
Der Tag der Hochzeit wurde fest bestimmt, spätestens ein Jahr
nach der Verlobung.
Die Hochzeit fand bei dem Vater der Braut statt, und je angesehener
die Familien waren, je mehr legte man Gewicht auf
eine ansehnliche Festversammlung. Bei dem Mahl herrschte
strenge Etikette in der Anordnung der Gäste. Der Bräutigam
saß auf dem ersten Hochsitz, ihm gegenüber auf der niederen
Bank der nächste Verwandte der Braut. Lustige Erzählungen
und Lieder der Skalden würzten das Mahl. In Entfaltung
von Glanz und Prunk konnte sich hier der ganze Stolz der
alten Familien zeigen. Die angesehensten und vornehmsten
Gäste wurden am Ende des Hochzeitsmahles vom Gastgeber
beschenkt.
Trotz der geringen Bekanntschaft der Brautleute vor der Ehe
war das Verhältnis der Gatten meist gut und glücklich. Die
Hausbau war zwar rechtlich von ihrem Manne abhängig, aber,
wenn sie wirtschaftlich tüchtig war, gewann sie bald auf das
gesamte Hauswesen einen großen Einfluß. Nicht selten verwalteten
tatkräftige Frauen nach dem Tode oder in Abwesenheit
des Mannes allein ein großes Gehöft. Die Fälle sind selten, wo
Böswilligkeit und Ränkesucht einer Frau den Mann ins Verderben
stürzt. Meist waltet zwischen Mann und Frau, zwischen
Mutter und erwachsenen Söhnen ein gutes Einvernehmen.
Frau und Mutter sind oft in der Forderung der Blutrache für
ihre Männer und Söhne nicht weniger energisch als der Hausherr
. Dieser schätzt den Rat der Frau oft sehr hoch ein. Jene
steht ihm mannhaft zur Seite und geht häufig treu mit ihm
in den Tod.
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In das Verhältnis zwischen Hausherr und Hausbau wirft
auch das in Island sehr ausgedehnte Konkubinat kaum einen
Schatten. Bei der Strenge, mit der die alten Familien auf die
Unbescholtenheit der Jungfrauen hielten, wählte sich der Hausherr
diese Lagergenossinnen meist aus dem Dienstpersonal,
Auch im Kriege erbeutete oder auf Wikingerzügen von Händlern
gekaufte Mädchen, oft von hoher Abkunft, wurden
Konkubinen verwandt. Meist ließ sie der Hausherr, um Eifersüchteleien
mit seiner Gemahlin zu vermeiden, auf einem besonderen
Gehöft wohnen. Gediehen die Bastardkinder gut, so
wurden sie auch wohl in die Familie eingeführt. Geachtet aber
war der Stand der Konkubinen nicht. Waren Frauen vom
Freier den Eltern geraubt oder bei der Hochzeit irgendwelche
Förmlichkeiten nicht erfüllt, dann war man gleich mit dem
Schimpfnamen"Kebse" zur Hand. Aber im Hauswesen brachten
diese Mädchen, die gewöhnlich im dienenden Verhältnis zur
Hausfrau standen, meist keine Störung. Ja sie standen oft auch
mit der Frau des Hauses gut.
Auch die Herrschaft und das dienende Volk umschloß ein
festeres Band, als man es bei dem rechtlichen Stande der
Sklaven und Sklavinnen hätte erwarten sollen. Diese warm
meist Nachkommen der von den Landnahmemännern aus Norwegen
mitgebrachten Unfreien. Dazu traten irische Knechte und
Mägde aus den norwegischen Kolonien auf den britischen Inseln.
Ein erheblich neuer Zufluß kam, als die Besiedelung zu
Ende war und die Kriegszüge aufhörten, kaum mehr hinzu.
Außerdem wurde gar mancher Sklave freigelassen und ward
dann leicht Vertrauensperson. Freigelassene verwalteten selbständig
Güter ihres ehemaligen Herrn. Aber auch die Sklaven
blieben, wurden, so verachtet dem Gesetz nach ihre Stellung
gegenüber den Freien war, doch meist menschlich behandelt.
Die gemeinsame Tätigkeit trug wesentlich dazu bei, Herren
und Knechte, Hausfrauen und Dienerinnen einander zu nähern.
In der Landwirtschaft, die doch die Hauptarbeit der isländischen
Familie bildete, waren alle, Freie wie Unfreie, tätig. Schmiedekunst
und anderes Handwerk waren einem tüchtigen Hauswirt
geläufig. Feldbestellung und Sennbetrieb verschmähten
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selbst in den besten Familien Herr und Frau des Hauses nicht.
Auch Seie Männer gaben sich oft freiwillig in den Dienst und
Gold einer Familie und nahmen dann als "Hausgenossen" an
der gemeinsamen Arbeit teil. Die Viebbesorgung, die als niederste
Verrichtung des Hauswesens galt, besorgten meist die
Knechte. Oft entstanden Flurstreitigkeiten auf der Weide. Ein
tüchtiger Schafhirt war da von großer Bedeutung. Er diente
auch oft dem Herrn als Späher, wenn Unfriede oder Gefahr
von den benachbarten Gehöften drohte.
Wurde ein Knecht dabei erschlagen, dann zeigte sich freilich,
wie gering er einem Freien gegenüber gewertet wurde. Zwar
stand dem Eigentümer dafür eine Geldentschädigung zu, aber
ein eigentliches Wergeld, wie für den freien Mann, wurde nicht
gefordert. Hatte doch auch der Hausherr das Recht, jeden unbequemen
Sklaven straflos zu töten.
Am augenfälligsten war die isländische Familie mit Hausgenossen
und Sklaven bei der Heuernte versammelt. Sie währte,
je nach der Gegend und der Witterung des Jahres, von Ende
Juni bis in den September. Auf den reichen und üppigen
Wiesen entfalteten sich dann prächtige Bilder bäuerlicher Arbeit
. Freilich die Waffen mußte man auch da zur Hand haben.
Ein Feind konnte immer nahen.
Die Zahl der Hausgenossen und Knechte war in einem Bauerngehöfte
oft groß. Mancher Großbauer mag sich auf seinem Besitz
nicht weniger mächtig vorgekommen sein wie ein Kleinfürst
im Mutterlande Norwegen. Dreißig waffenfähige Männer auf
einem Besitztum waren keine Seltenheit. Es gab Edelbauern,
die 80, ja 100 Leute auf ihrem Gehöft nr Verfügung hatten.
Männer wie Frauen bewahrten sich oft ihre Rüstigkeit bis
ins hohe Alter und wurden dann deshalb bewundert. Nicht
selten aber zog sich der Herr des Hauses, wenn er älter wurde,
von der Verwaltung des Besitzes zurück, und der älteste von
seinen Söhnen trat an seine Stelle. Dann wurde der Alte auch
wohl auf seine letzten Tage grillenhaft und eigenwillig und
machte der Hausgenossenschaft viel zu schaffen.
Vielleicht tritt die Eigenart der isländischen Familienverhältnisse
nirgends deutlicher zutage als in der Auffangung des Alters.
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Auf körperliche und geistige Schlagfertigkeit war das Leben
dieses urwüchsigen Volkes gegründet. Jede sentimentale
Lebensauffassung war jenen starken Naturen fern. Wohl klagt
einmal ein altisländischer Vater über seinen getöteten Sohn,
Aber dann ist sicher das Leitmotiv seines Schmerzes, daß so
viel blühende Kraft dem Geschlechte und ihm selbst nutzlos
verloren gegangen ist. Auch die Frauen, die bei den Kämpfen
durch Wundenverbindung die Schmerzen der Männer lindern,
verleugnen diese harte Lebensauffassung nicht. In der Forderung
der Blutrache sind sie unerbittlich wie die Männer. Nicht
früh genug konnte auch nach ihrem Geschmack Kraft und
Mannhaftigkeit schon bei Kindern auftreten. Die Kraft eines
Knaben war für später ein werbendes Kapital.
Bei dieser allein auf Kraft gestellten Lebenswertung der alten
Isländer ist es natürlich, daß ihre Beurteilung der Alten von
unserer wesentlich abwich. Ein scharfer Gegensatz tritt zutage
in ihrer Ehrung beim Tode und in ihrer Behandlung in den
letzten Lebensjahren. Dort konnte man sich an äußeren Ehren
kaum genugtun, bier war gutmütiger Spott in der Behandlung
des Alters wohl die Regel.
Daß der Tote möglichst bald unter die Erde kam, war ein
strenges Erfordernis heidnischer Sitte. Selbst der Gegner, der
einen Feind erschlug, sorgte dafür, daß dieser mit Erde oder
darauf gelegten Steinen vorläufig verhüllt wurde. Für die
Verwandten war es unbedingte Pflicht, dem Gestorbenen die
Totenhilfe zu gewähren. Man drückte ihm Lippen und Nasenlöcher
zu, damit die Seele aus dem Körper leichter weichen
könne.
Die Toten wurden nicht verbrannt, sondern in einem Grabhügel
beigesetzt. Häufig lag dieser auf einem Felsvorsprung
nahe der See. Auch die Höhe, an der das Gehöft lag, wurde
zur Anlage der Grabstätte gewählt. Der Lebende hatte sich
wohl auch schon diesen Platz gewünscht, um noch im Tode sein
Besitztum zu überblicken. Steine errichtete man um den Grabhügel
als Totenmal.
Der Leiche wurden Gewänder und Waffen, fast immer auch
Schmuckgegenstände in das Grab mitgegeben. Selbst das Roß
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Steindenkmal des hier erschlagenen Skalden Thorgeirr auf Hraunhafnartangi. Nordisland
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und der Leblingssklave wurden bisweilen mitbegraben. Außergewöhnliche
Helden wurden auch wohl in vollem Waffenschmuck
sitzend im Hügel bestattet. Bisweilen beerdigte man den Toten
auf einem Schiff in der Erde, ein sinniger Hinweis auf des
Lebenden Wikingertum. Allen diesen Bestattungsbräuchen lag
deutlich die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tode zugrunde
.
Auf die Bestattung der Leiche folgte der Totenschmaus oder
das Erbmahl. Hier war die ganze Sippe versammelt, um beim
festlichen Gelage auf die Erinnerung des Toten zu trinken. Auch
Totenlieder wurden bei diesem Gedächtnismahl vorgetragen,
in denen die Taten des Verstorbenen gepriesen wurden. Solche
Leichmschmäuse nahmen bei einem berühmten Mann oft einen
größeren Umfang an als Hochzeiten und andere Festlichkeiten.
Die zahlreich besuchtesten Gastereien, die in den Sagas erwähnt
werden, sind solche Totenfeiern, wo zuweilen bis 900, ja 1200
Mann beisammen waren.
Man freute sich, als bei einem solchen Erbmahl der Tote, ein
Ertrunkener, mit seinen verstorbenen Gefährten als Geist erschien
und an der Feier teilnahm. Man glaubte, er fühle sich
jetzt wohl.
Bei den lebenden Alten nahm man meist das Gegenteil an.
Das war auch der Hauptgrund, warum man ihnen gewöhnlich
mit Zurückhaltung gegenüberstand. Hinter dem gutmütigen
Spott, mit dem man sie behandelte, verbarg sich oft das Mißtrauen
gegen ihre Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit.
Der Gegensatz von sinkender körperlicher Kraft und noch inden
Adern spukendem Wikingertum des Geistes schaffte in den alten
Männern oft eine Unruhe, die etwas Unheimliches hatte. So
peinigt der alte Thorolf Lahmfuß seinen Sohn Arnkel durch
allerhand Unfieden, den er gegen ihn bei den Nachbarn stiftet,
und fordert schließlich dessen verbittertsten Gegner zum Prozeß
gegen jenen auf. Selbst der alte Egil, der sein Silber auf
dem Allthing ausstreuen will, um allgemeinen Unfrieden zu
stiften, und der es dann eigensüchtig vergräbt, wird seinen
Verwandten ;u einer halb komischen, halb unheimlichen Erscheinung.
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Eine angesehene Stellung nahmen zuweilen die Frauen im
hohen Alter ein, wenn sie der Weissagekunst kundig waren.
Eine solche Völva oder Zauberin wurde hoch geehrt und reich
mit Geschenken bedacht, wenn sie von ihrem Prophetenthron
die Zukunft kündete. Doch war hierzu mehr die Furcht vor
ihren Hexenkünsten der Anlaß.
Daß der Tote noch nach der Bestattung die Stätten seiner ehemaligen
Wirksamkeit aufsuche, war allgemeiner Glaube. Man
führte seinen Leichnam ungern aus der Haustür und durchbrach
lieber eine Wand, damit er den gewohnten Weg nicht
zurückfände. Es wimmelt in den isländischen Sagas von böswilligen
Toten und Gespenstern, die unheilstiftend wiederkehren
und oft erst mit größter Mühe nr endgültigen Ruhe
gebracht werden können.
Ein ausgebreitetes Bild der altisländischen Familie bietet uns
die Geschichte vom weisen Njal. Es ist schwer, in jener wilden
waffenstarrenden Zeit von einem Familienpatriarchen zu sprechen.
Doch kommt jene Sagagestalt der Vorstellung, die wir uns
von einem solchen machen, am nächsten.
Mit seiner weise abgewogenen, stets das Beste wollenden Gesinnung
schwebt der Geist dieses Mannes über allen Ereignissen
seiner weitverzweigten Saga. Er ist gleichweit entfernt von der
nur auf das Politische gerichteten Schlauheit und Durchtriebenheit
eines Goden Snorri wie von dem maßlosen, alle Schranken
des Staates und der Gesellschaft durchbrechenden Draufgängertum
des jungen Grettir. Von diesen nächst ihm bedeutendsten
Sagagestalten hebt Njal sich ab in seiner wohltuenden Menschlichkeit,
die doch nie etwas Weichliches bekommt. Wie nüchterne
Prosa wirkt Snorri, wie leuchtende Poesie Grettir. In der Mitte
zwischen beiden steht Njal. Seiner Persönlichkeit fehlt jede Romantik
Und doch verkörpert er das wirkliche Sagaleben in einer
geradezu idealen Weise, die in jener Zeit nicht ihresgleichen hat.
Unter dem Einfluß des allmählich eindringenden Christentums
tauchen damals doch bin und wieder schon Gestalten auf,
die eine dem Heidentum fremde ungewöhnliche Milde zur Schau
tragen. Von dieser Friedfertigkeit um jeden Preis hat Njal, der
die Herzensgüte selbst darstellt, freilich noch keine Spur. Auch
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er hat, wo er in seinem Sippegefühl schwer gekränkt wird, nichts
gegen Rache einzuwenden und steht in dieser Lebensauffassung
auf demselben Boden wie alle seine Zeitgenossen. Sein Aufenthalt
als Jüngling in der Fremde beweist, daß auch ihm Wikingersinn
nicht fern lag. Der bartlose Mann, der den Spott über
diesen äußerlich weibischen Zug von bösen Zungen erfährt, war
in seiner Jugend wie der junge Grettir auf Heerfahrten. Daß
er auf Thingverhandlungen seinen Mann stand und sein Rat
hier hochgeschätzt wurde wie der des Goden Snorri, zeigt der
nachhaltige Einfluß, den er auf die Ausbildung des Staates
gewann.
Indes seine volle Bedeutung entfaltete Njal doch erst im Kreise
seiner Freunde und seiner Familie, die alle mit unbedingter Verehrung
ihm aufschauen.
Eine schönere und aufopferndere Freundschaft ist nicht möglich
als die zu seinem jüngeren Gefährten Gunnar von Hlidarendi,
dem er in tausend Verlegenheiten hilft. Keine harmonischere
Ehe kennt die alte Saga als die zwischen ihm und Bergthora,
die ihm an Güte wesensverwandt ist und doch wie er von starkem
und kräftigem Rachedurst entflammt werden kann, wo es die
Wahrung der Sippe gilt. Daneben steht Njals immergleiche
Treue seinen Söhnen gegenüber. Die Söhne seiner Ehefrau,
die sich in ritterlicher Kampfgemeinschaft zusammentaten, der
Bastardsohn Höskuld und endlich der Ziehsohn gleichen Namens
, stehen alle seinem Herzen gleich nahe. Nichts kränkt
den alten Njal mehr als die Erschlagung jenes Pflegesohnes
durch seine andern Söhne. Nichts erfreut ihn stärker, als da
seine Gemahlin und alle Söhne einig sind, den Tod seines Konkubinensohnes
zu rächen.
Ein ragödienstoff steckt in der Geschichte Njals, dem man in
verändertem Sinne das Motto unseres Nibelungenliedes voranstellen
könnte, daß Liebe immer zuletzt nur Leid hervorbringe.
Dem jungen Gunnar von "Haldenende" hat Njal während
dessen Abwesenheit in Norwegen uneigennützig das Besitztum
verwaltet. Nun kommt jener von seinen Wikingerzügen zurück
und erzählt von seinen Taten. Ahnungsvoll sagt der ältere
Freund: "Berühmt bist du geworden und berühmter wirst du
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noch werden. wird dich viel beneiden, und du wirst dich
deiner Haut wehren müssen. Tust du auch nur Tüchtiges, entgiltst
du leicht anderer Bosheit."Wie oft Njal den Freund durch
seinen weitausschauenden Rat unterstützt hat, er kann nicht
einmal den Hader zwischen ihren beiden Familien hindern, Er
kann dem Tode Gunnars nicht wehren und ihn nur durch seine
Söhne rächen lassen.
Njals Sohn Skarphedin meldet ihm den Tod seines Pflegesohnes
Höskuld, der durch jenen und seine Brüder erfolgt ist,
"Schlimme Botschaft", sagt der Alte, "so sehr versetzt sie mich
in Trauer; daß ich lieber zwei meiner Söhne missen würde,
könnte Höskuld am Leben sein. Das wird der Untergang meines
ganzen Geschlechtes werden." Auch diese Prophezeiung, daß
des Ziehsohns Tod ihn selbst töten würde, erfüllt sich vor Njals
Augen.
Er hatte die Sippe von Höskulds Vater Thrain, den seine Söhne
erschlagen hatten, durch des Sohnes Annahme an Kindesstatt
versöhnen wollen. Nun entfachen Höskulds Verwandte den alten
Streit aufs neue. Es kommt zum Überfall auf Njals Besitzung
"Bergthorashügel und zum Mordbrand, in dem Njal, seine
Gattin und sein ganzes Geschlecht ums Leben kommen.
Die Tragik in Njals Leben wirkt um so natürlicher, als ihm
und den Gestalten, die ibn umgeben, nicht die geringste Sentimentalität
anhaftet. Praktisch und nüchtern denken diese Menschen,
die, wie der alte Njal selbst, als einfache Bauern ihr Feld
bestellen. Der eigne Sohn wirft dem Njal das Alter als weichlichmachende
Schwäche vor. Wäre Njals Güte nicht mit so ausnehmender
Klugheit gepaart, sie hätte kaum von seiner Umgebung
so hohe Wertung erfahren.
Hallgerd, die Gemahlin Gunnars von Haldenende, und Skarphedin,
Njals eigner Sohn, sind die beiden mächtigen Persönlichkeiten
, an deren Gegenwirkung Njals fürsorgliche Weisheit
zuschanden wird.
Beide sind urwüchsige und in Anwendung ihrer Kampfmittel
skrupellose Kraftnaturen. Unerbittlich schürt Hallgerd den Zwist
zwischen den Familien Njals und Gunnars und versagt dem
Gatten noch im Todeskampf die letzte Hilfe um einer Züchtigung
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willen, die sie einst ihrer Bosheit halber von jenem empfing.
Und Skarphedin kann es dem Vater nie verzeihen, daß
er den Sohn seines Todesfeindes ihm zum Ziehbruder gab, ja
ihn mit einem Godentum beschenkte. Bei der Frau Gunnars
wie bei Njals Sohn ist es die überschäumende Kraft, die um
jeden Preis Betätigung sucht und ihre Lahmlegung nicht verträgt
.
Hallgerd ist schon als Kind ein Ausbund von Schönheit, und
in den Diebesaugen lesen die Verwandten mit Besorgnis die ungewöhnliche
Verschlagenheit des jungen Mädchens. Die Freier
werden gewarnt, aber ihre verführerische Schönheit berückt
alle. Schön ist sie und hochgewachsen. Ihre Haare wallen so
lang und schwer hernieder, daß sie sich darin vollständig einhüllen
kann.
So tritt sie auch Gunnar auf Thingvöll entgegen, dem sie
auf seine Werbung erwidert, es sei nicht vieler Männer Sache,
mit ihr eine Ehe zu wagen. Schon zweimal war sie damals verheiratet
gewesen. Dem Willen des Vaters hatte sie sich gefügt,
aber die ihr zugesprochenen Männer töten lassen. Auch jetzt
weist sie Gunnar wegen der Heirat an ihren Vater und tritt
hoffärtig in die Ehe.
Auf einem Gastmahl gerät die Jungvermählte sofort mit
Njals Gattin Bergthora in Zwist. Aus Zorn darüber, daß sie
im Platz hinter einer von Bergthoras Schwiegertöchtern zurücktreten
muß, schleudert sie Beleidigungen auf Njal und
seine Gemahlin. Sie selbst fordert von ihrem Mann Gunnar
Rache für die ihr angetane Zurücksetzung. Eine bäuerliche
Brynhild. In den endlosen Plänkeleien, die nun folgen, wird
Njals und Gunnars Freundschaft auf eine harte Probe gestellt.
Männermorde, die auf beiden Seiten gesühnt werden müssen,
hat jener Frauenzank zur Folge. Ja Hallgerd, die Fehde um
jeden Preis haben will, läßt selbst aus Bergthoras Vorratskammern
stehlen und zündet Njals Scheune an. Damals fiel
im Unmut die Ohrfeige des sonst so geduldigen Gunnar, die
sie diesem im Tode nicht vergißt.
Stets ist Gunnar durch den klugen Rat seines Freundes
mit allen Fährlichkeiten fertig geworden. Da wird ihm seine
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Vaterlandsliebe zum Verhängnis. Er geht nicht in eine dreijährige
Verbannung, die ihm das Gesetz bestimmt. So wird
er von seinen Feinden überfallen. Er bittet Hallgerd um ein
paar Strähnen ihres üppigen Haares, die zerrissene Bogensehne
zu ersetzen. Da läßt sie ihn hohnlachend im Stich. Keinen
schärferen Gegensatz gibt es, als zwischen ihr und Njals Gattin
Bergthora, die sich weigert, den ihr beim Mordbrand gewährten
Seien Abzug zu benutzen und erklärt, ihrem Gatten sei
sie in der Jugend verbunden, von ihm werde sie sich auch nicht
im Alter trennen.
Bei all ihrer dämonischen Tücke konnte Hallgerd vom Standpunkt
der alten Saga kaum ein Vorwurf treffen. Gunnar fehlte
bei aller Reckenhaftigkeit und Ritterlichkeit des Wesens doch
eins: die Selbständigkeit. Njal war sein ständiger Berater.
Das mußte eine Natur wie Hallgerd, in der alles Initiative
war, ungewöhnlich abstoßen.
Zeigt Hallgerd in ihrer dämonischen Zerstörungssucht doch
die Selbständigkeit, die eine isländische Frau in ihrer Familie
behaupten konnte, so tritt uns in Skarphedin der Mann in
seiner sippenstolzen Kraft entgegen. Ein Hagen von Tronege
des Nordens. Groß von Wuchs, aber von bleichem Aussehen
und gespensterhaft, stark und kampflustig, rasch entschlossen,
furchtlos und schlagfertig in der Rede. So schildert ihn die
Saga. Dieser Mann ist, wo es die Wahrung der Sippe gilt,
der Hort und Schutz des väterlichen Hauses.
Der Held, der so gerne höhnisch lacht und oft so bös aussieht-
als käme er von Meeresklippen, ist kein Liebhaber von Vergleichen
und Kompromissen.
In allen den blutigen Vorgängen, die endlich zu dem Mordbrand
führen, der das ganze Njalsgeschlecht vernichtet, ist er
der geborene Führer. Er, der den sanften Gunnar von Haldenende
mit dessen Sohn rächt, beschwört doch durch den Tod
Thrains das furchtbarste Verhängnis herauf. Hatten ja dieses
Mannes wegen er und sein Bruder durch Hakon Jarl in
Norwegen unverdient Schmach und Unbill erleiden müssen.
Ein Mann wie Skarphedin durfte wohl dem alternden Vater
vom Standpunkt der alien Saga den Vorwurf der Weich
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heit machen. Er fühlt sich verantwortlich für das Wohlsein
der Sippe, das durch die Aufnahme des Ziehsohns eine Gefährdung
erlitten hat. Höskuld war des erschlagenen Thraïn
Sohn. Kein Wunder, daß ihm die Njalssöhne das Godentum
neideten.
Neben Egil Skallagrimsson ist in der alten Saga kein schwertgewaltigerer
Beschützer der Sippe zu finden als dieser Skarphedin
. Ein furchtbares Bild, wie er auf die im Fluß treibende
Eisscholle springt und dort dem verhaßten Thrain das Haupt
bis auf die Zähne spaltet. Er denkt dieser Tat beim Vernichtungskampf
der sein Geschlecht tötet. Da schleudert er einem
der anstürmenden Brandmänner einen aufgehobenen Backzahn
Thrains ins Auge. Von brennenden Balken erschlagen findet
man ihn noch stolz aufrecht stehend. Noch vorher hatte man
aus den Trümmern den Skaldensang des todesmutigen Kämpen
gehört. Vor der Gestalt des klugen Vaters tritt doch selbst diese
Heldengestalt in den Schatten.
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8. Das altis Fehdewesen
Neben Staat und Familie drückt der angeborene Kriegersinn
der Zeit der isländischen Republik seinen Stempel auf,
Wir sahen ihn schon in Staats- und Familienordnung seine mächtige
Kraft entfalten. Man konnte die kriegerischen Auswüchse
wohl eindämmen, aber nie ganz beseitigen. Die Fehdelust in
jeder Form ist auch ein Erbteil, das die Isländer aus der
alten Heimat mit hinübernahmen.
Die nordische Göttersage weiß von einem schrecklichen Ungeheuer
, dem Wolf Fenrir, der ständig die Welt bedroht. Die
klugen Asen fesseln ihn durch ein magisches Band. Es dehm
sich, jemehr er daran rüttelt, aber läßt ihn nicht frei. Doch
endlich reißt er sich los und führt den allgemeinen Untergang
herbei, indem er den Göttervater verschlingt.
Man kann den Mythus als einen Ausdruck der Vulkankraft
Islands deuten. Noch mehr scheint er ein Symbol jener wilden
Kriegerkraft seiner Bewohner. Der heidnische Freistaat
ungewöhnlich lange fähig, auch ihre zerstörenden Wirkungen
zu ertragen. Aber endlich fällt er doch als Opfer der unersättlichen
Fehdelust, die ihn durchwütet.
Das norwegische Staatswesen und das norwegische Familienleben
hatten auf die Neuordnung der isländischen Verhältnisse
mitbestimmend gewirkt. Islands entlegener Natur war
diese angepaßt, und die Einheit des Volkes konnte sich bei der
Abgeschlossenheit der Jnsel trefflich entwickeln. Auch das isländische
Fehdewesen hatte seinen eigen ausgeprägten Charakter.
Auswärtige Kriege für das Vaterland gab es nicht,
und sie konnten nicht die Veranlassung bieten zum Weiterwirken
des kriegerischen Geistes auf der Insel.
Nur das tägliche Leben auf der Insel selbst konnte dort die
Quelle von Streitigkeiten werden, die mit der Waffe ausgetragen
werden mußten. Gewiß bot es an sich auch reiche Gelegenheit
zu Reibereien. Indes dem Kampfbedürfnis des
Volkes genügte dies in keiner Weise. Daher schweift der Isländer,
besonders in seiner Jugend, so gern ins Ausland.
Nur aus der kriegerischen Abenteuerlust des Volkes ist es
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Das Tal der Jökulsá südwärts von den Hljódaklettar. Nordisland
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verstehen, das sich seine besten Vertreter immer wieder zu
dem Mutterlande Norwegen zurückwendeten. Die Nachkommen
der Männer, die einen Harald Haarschön nicht ertrugen,
nahmen Dienste bei seinen norwegischen Nachfolgern, um ihre
im Inlande gesetzlich gehemmte Fehdelust voll entfalten zu
können.
Allerdings fand sich Gelegenheit um Streit für den isländischen
Mann auch im Inlande. Und wenn es anging, war
der Isländer zum Kampf immer bereit. Trotz Thing- und
Tempelfriedens, trotz gemeinsamer Arbeit und Erholung blieb
immer noch Zeit, daß die Waffen nicht rasteten.
So tobte sich schon der Knabe beim Spiele kriegerisch aus, so
sog der Jüngling als Wiking in die Ferne. Dem Mann fehlt
es bei Grenzfragen nicht an Hader mit dem Nachbar; und des
Greises liebste Erinnerungen sind Fehden und wieder Fehden.
Selbst ;u förmlichen Feldschlachten kommt es in den kleinen
isländischen Verhältnissen. Aber am häufigsten mißt man sich
doch im Zweikampf.
Ein Stück Berserker tum lag in jedem Isländer. Es war eben
jener Überschuß der Kraft, die, weil sie in keinem Kampf
fürs Vaterland gegen das Ausland Verwendung fand, sich
gegen die eigenen Volksgenossen wandte.
In dem äußeren Bilde des Berserkertums ist dieses ungestüme
nordische Draufgängertum vortrefflich dargestellt. Bärenhäuter
wurden jene Wüteriche genannt, weil sie gegen Abend
Tiergestalt annahmen. Als Werwölfe irrten sie nachts unheilstiftend
umber. Unwiderstehlich ist die Kraft der Berserker,
solange sie im Kampfe stehen. Sie heulen und beißen in die
Schilde. Keine Waffe kann sie verwunden. Nach dem Kampf
aber, wenn der Wutanfall vorbei ist, sind sie schwach und
friedlich wie andere Leute.
Die isländische Saga kennt diese bösartigen Unholde zwar
als eine besondere Art Wesen. .Norwegische Könige verwenden
sie in ihrem Dienst. Auch treten sie als Mädchenräuber
und rücksichtslose Herausforderer zum Zweikampf auf und
sind so meist die geborenen Gegner der Sagahelden. Aber sie
verkörpern doch nur in stärkstem Maße, was auch in diesen lebt.
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Die Geschichte vom Skalden Egil hat drei Generationen Mes
berühmten Geschlechtes mit solchen Zügen ausgestattet. Beim
Großvater lebt die Berserkernatur noch in dem Namen "Abendwolf".
Den Vater Skallagrim führt die Saga in namenloser
Wut vor, als er im Ringkampf zu unterliegen droht. Auch bei
dem Sohn Egil noch bricht die Berserkerwut durch und scheint
gelegentlich fast sein Heldentum zu gefährden.
Schon Knaben zeigen ausgeprägten Kriegersinn. Der junge
Egil tötet beim kindlichen Ballspiel seinen Gegner, der M
gehöhnt hat. Ein anderer älterer Knabe leiht ibm dazu seine
Art und seine Hilfe. Gans die Art der Erwachsenen.
Ein andermal hat man die Knaben zweier Gegner, als diese
zufällig zusammenstießen, angewiesen, sich vor dem Männerkampf
in Sicherheit zu bringen. Nachdem die Väter ihre
Sache ausgetragen, sieht man, daß jene abseits ebenfalls gestritten
haben. Man findet den einen tot. Der andere stirbt
bald an seinen Wunden.
Ein anderes Brüderpaar im jugendlichsten Alter stachelt sich
gegenseitig auf, einen übermächtigen Berserker zu töten. Beide
vollführen die Tat. Der über seine Kinder stolze Vater sucht
sie vor der Blutrache in Sicherheit zu bringen.
Auch der Wikingerzug ins Ausland kann nicht früh genug
unternommen werden. Gewöhnlich ist es die Kraftprobe, die
der junge Mann ablegt, ehe er daheim als bewährter Kämpfer
gilt. Drei Jahre währte meist ein solcher Zug. Oft wird so
lange die Heirat mit dem verlobten Mädchen aufgeschoben,
und der glückliche Erfolg der Auslandreise ist dann wohl von
Bedeutung für das Glück der Ehe.
Es war ein hartes und strenges Regiment, das alle nordischen
Wikingerscharen unter sich führten. Oft taten sie sich
als Genossen zu festen Verbänden zusammen wie die Krieger
auf Jomsborg an der pommerschen Küste. Alle Weichlichkeit
war verpönt. Das Familienleben fand in dem Wikingerverband
keine Stelle. Raub und Plünderung war die Losung,
aber Frauen und Kinder schonte man. Vorübergehend durfte
der Wiking wohl in den Dienst eines Fürsten treten, aber in
seiner Gesinnung blieb er dem alten Bunde treu.
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Solchen Verbänden an Ost- und Nordsee schloß sich hin und
wieder wohl auch der junge Isländer an. Schon in seiner
Eigenschaft als isländischer Mann wurde er stets mit Neugier,
oft aber auch mit starkem Mißtrauen empfangen. Häufig zog er
gemeinsam mit einem Schwurbruder nach Norwegen und erwarb
sich auch drüben feste Freunde. Auch Verwandtschaftsbande
der Väter schlossen die Männer hüben und drüben aneinander.
War der junge Isländer aber auch vom Vater her oder
durch einen treuen Freund an einen ausländischen Fürsten
oder König empfohlen, die geachtete Stellung hier mußte er
sich selbst schaffen. Der Ehrenplatz in der Halle ward ihm
erst dann gewährt, wenn er sich im Dienste des Königs hervorragend
betätigt hatte. Der junge Haudegen Glum erwirbt
sich, zuerst nur sehr gemessen empfangen, jene höchste Ehrung,
als er einen übermütigen Prahlhans, dem gegenüber alle
Leute in der Halle seiner Stärke wegen nicht aufkommen,
durch Wort und Tat drastisch abfertigt.
Man hatte denselben Glum vorher für einen "Kohlenbeißer"
gehalten. Diesen eigentümlichen altgermanischen Typ,
den scheinbar einfältigen Tölpel, der plötzlich um großen Helden
erwacht, enthüllen oft genug die Wikingerzüge erst in
seinem wahren Wert. Die Besiegung für unbesiegbar geltender
Zweikämpfer für den König kehrt als Aufgabe des
jungen Isländers im Auslande häufig wieder.
Aber vor allem nimmt er auch an den Kriegszügen des
Königs selbst teil oder fördert dessen Macht durch besondere
Wikingerfahrten. Da muß er in Seeschlachten seinen Mann
stehen. Auf dem hochragenden Vordersteven, dem der größten
Gefahr ausgesetzten Posten, zu streiten ist sein Ruhm und
sein Glück. Oft hat er auch auf dem geenterten feindlichen
Schiff reichliche Gelegenheit zu überraschenden Heldentaten
im Nahkampf. Ein solcher Kampf Mann gegen Mann tobt
besonders, wenn es gilt eine Burg am Lande zu überfallen.
Freilich hatte man es hier mit keiner Festung nach Art der
Ritterburgen zu tun. Jene einfachen Holz befestigungen hielten
dem Ansturm und vor allem den Feuerbränden des Gegners
oft nicht stand,
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Mancher Isländer wiederholte die erste Vorliebe seiner
Jugend auch in späteren Jahren. Immer neue Wikingerzüge
führten ihn ins Ausland. Sehr häufig hatte er dort Besitz
erworben, den er sich mit bewaffneter Hand oder auf gerichtlichem
Wege vor Eindringlingen sichern mußte. Auch war er
oft Verbindlichkeiten den Fürsten gegenüber dort eingegangen,
die ihn immer wieder an deren Hof trieben. Aber nicht selten
war auch nur die Abenteuerlust das treibende Element. Für
Helden wie Egil Skallagrimsson sind die Wikingerzüge zum
Teil das, was für die Ritter des Mittelalters die Aventüre
darstellte. In den kampffrohen Liedern, die viele Isländer im
Auslande an den Fürstenhöfen sangen, findet diese Seite des
isländischen Doppellebens fern der Heimat einen geschichtlich
monumentalen Ausdruck.
Wenn die Skaldenlieder gern des Isländers Fehderuhm in
der Fremde preisen, weiß die Saga genug von dem Zwist im
alltäglichen Leben auf Island selbst zu berichten.
Diesem starken Männergeschlecht, das die Persönlichkeit um
jeden Preis behauptet, gilt jede Art der Vernichtung des
Gegners als willkommen. Gewalt und List gelten gleich viel,
wenn sie nur zum siele führen. Den Feind aus dem Hinterhalt
zu überfallen und auszuplündern erschien nicht unehrenhaft.
Freilich gab es auch hier eine Grenze. Helden ersten Ranges
balten es für unritterlich, zu rauben, wenn sie nicht gleichzeitig
dabei im Kampf ihr Leben aufs Spiel setzen.
Der blinde Haß läßt die Männer in den isländischen Tagesfehden
oft jedes Maß der Schonung überschreiten. Wohl findet
sich bei den heldenhafteren Gestalten der Saga auch Versöhnlichkeit
, ja Edelmut dem Feinde gegenüber. Aber selbst
Männer ersten Ranges, die für ihre Person den Kampf Mann
gegen Mann als das einzig Würdige erachten, scheuen sich
doch nicht; einen Gegner von Sklaven durch Meuchelmord auf
die Seite bringen zu lassen.
Die Schilderungen des Kampfes verraten deutlich, daß die
Gegner ihn als ihr Lebenselement betrachten. Kein Heldenepos
kann mit größerem Behagen die Wunden und die Todesarten
der streitenden Parteien aufzählen. Aufreizende, höhnende
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Worte begleiten den Kampf, Erfolg und Mißerfolg werden
mit überlegenem Scherz behandelt, und noch der gefallene
Gegner wird mit ironischem Spott traktiert. Keine Klage des
Besiegten wird laut. Der Kampfgenosse, der, ohne dies zu
ahnen, durch List zum Beistand gegen einen übermächtigen
Gegner gewonnen wurde, ergibt sich, wenn er erliegt, mit
trockenem Humor in sein Schicksal.
Sehr häufig entwickeln sich aus dem Streit zweier Gegner
Fehden ganzer Kämpfergruppen, ja es kommt zu wirklichen
Feldschlachten. Die furchtbarste stellt die"Saga vom Hochlandskampf
" dar. Wegen der Ermordung eines Mannes wurden
von dessen Bruder und seinen Mördern ganze Streitmächte
auf beiden Seiten aufgeboten, und erst der kluge Snorri setzt
dem furchtbaren Blutvergießen auf der Zweitageheide ein
Ziel.
Dem offenen Kampf steht der heimtückische oft nächtliche
Überfall entgegen, wobei sich auch häufig mehrere zur Vernichtung
eines Gegners zusammentun. Die furchtbarste Form
dieser Kampfart ist die"Brenna" . Das Haus des Gegners wird
umstellt, und alle im Innern finden durch einen rings um das
belagerte Gebäude des Gegners entfachten Feuerbrand den
Tod. Einen solchen furchtbaren Mordbrand schildert außer
der Njalssaga besonders eindrucksvoll die Geschichte vom
Hühnerthorir.
Daß man sich auf echt bäuerlichem Boden befindet, eigen
die oft dürftigen Motive, die einen Heldenstreit hervorrufen
können.
Um strittige Wiesen, Acker und Wälder entspinnen sich häufig
erbitterte Fehden, die mit Blutvergießen enden. Diebstahl von
Korn und Vieh wird leicht beim Nachbar vermutet und bildet
die Quelle neuer Streitigkeiten. Oft wird von dem unachtsamen
Knecht die Grenze des Nachbars bei der Viehweide überschritten.
Schadenfroh weigert sich auch wohl in seiten der
Hungersnot ein Eigennütziger, von seinen reichen Hausvorräten
zu verkaufen. In allen diesen Fällen waren durch Aussprache,
Vergleich oder Geldbußen schwere Konflikte zu vermeiden.
Aber gern griff man gleich zu bewaffneter Selbsthilfe. Eine
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Heuernte konnte üch im Umsehen in eine kleine Schlacht verwandeln
, wenn man einen Gegner traf, dem man etwas nachzutragen
hatte, oder der selbst kam, um eine alte Abrechnung
zu halten.
Daß die Spiele, bei denen viele ehrgeizige Männer zusammen
waren, oft in Streit ausarteten, war nur natürlich. Nächst
Ballspiel und Ringkämpfen führten besonders die seltsamen
und unerquicklichen Pferdekämpfe zu ernsten Fehden. Der Besitzer
der Pferde identifizierte sich mit der Ehre, die sein Roß
einlegen sollte. So traf er mit dem Stab, der das Roß auf sein
hochaufgerichtetes Gegenüber anspornen sollte, oft absichtlich
dessen Besitzer und leitete eine regelrechte Fehde ein.
Noch häufiger führte ein Wortstreit auf Festen und Trinkgelagen
zum Waffengang. Selbst wenn das Gelage aber
friedlich verlief konnten im Trunk abgelegte Gelübde neue
Fehden zur Folge haben. Solche eidlich abgegebenen Gelöbnisse
brach man nie, auch wenn sie im nüchternen Zustande bitter
bereut wurden. Nicht selten war der Wunsch nach dem Besitz
einer Frau die Ursache für das leichtsinnige Gelöbnis.
Aber auch Frauenübermut machte sich bei den großen Festlichkeiten
bemerkbar. Man verglich sich und neidete sich bei
dem Platz in der Halle den Vorrang, und dem Wortwechsel
der Weiber folgte später der Zwist der Männer. Nicht selten
spielt die Frau, so unromantisch man auf Island auch im allgemeinen
über sie dachte, bei den Motiven zum Kampf eine
recht erhebliche Rolle.
Es kommt häufig vor, daß der Verlobte eines Mädchens im
Auslande die für die Hochzeit angesetzte Zeit versäumt und sie
dann einem andern vermählt wird. Kehrt der erste Liebhaber aus
der Fremde zurück, dann ist der Konflikt da, und Zweikämpfe
sind die Folge; die gewöhnlich mit dem Tode eines der beiden
Gegner enden. Oft macht es die tragische Ironie voll, daß die
beiden Feinde früher die besten Freunde gewesen sind.
Waren die Nebenbuhler Skalden, dann schüren auch aufreizende
Spottverse, die hin- und herfliegen, die Todesfeindschaft.
Überhaupt ist angeborene Seeck- und Hohnlust oft Anlaß
zum Streit. Ein skelettartiges Pferdehaupt, auf einer
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Stange errichtet, in die Spottrunen geritzt waren, eine sogenannte
Neidstange; errichtete man als Kriegserklärung.
Die Herausforderung zum Zweikampf aus angeborenem Übermut
und Fehdedrang beschränkt sich nicht auf die mythischen
Berserker. Diese Art des Fehdetums findet nur in jenen
den schärfsten Ausdruck. Ganz von dieser Gesinnung waren
schon manche Landnahmemänner beseelt, die sich ihren Besitz
ers um nicht durch Landschenkungen Verpflichtungen
einzugehen oder sich ein Gebiet kaufen müssen. Neben der
Habsucht wirkte auch bei solchen Raufbolden die lüsterne Begier
nach schönen jungen Mädchen oft zur Ansage einer Fehde
mit.
Die Domäne dieser Männer war der Zweikampf. Bei den
großen Feldschlachten und Mordbränden der Sagas konnte der
einzelne leicht durch tüchtige Bundesgenossen eine persönliche
Niederlage vermeiden. Hier war er ganz auf seine eigene Kraft
angewiesen. Nirgend wurde die Persönlichkeit so rückhaltlos
aufs Spiel gesetzt wie im "Holmgang".
Diesen Namen trug der Zweikampf, weil er fast immer auf
einer der im Norden zahlreichen,"Holm" genannten, Schären
ausgefochten wurde. Der Termin für den Holmgang wurde
lange vorher bestimmt, der Preis, den der Sieger erhalten
sollte, in Geld oder Landbesitz, ward genau vereinbart. Der
Platz, innerhalb dessen der Streit vor sich ging, wurde abgesteckt
. Die den Göttern heilige Haselrute, die sonst dazu verwandt
wurde, mußte auf Island in Wegfall kommen. So
fest eingewurzelt war diese Einrichtung des Zweikampfs, daß
sie; ehe man das oberste Gericht einsetzte, die letzte Zuflucht bei
allen strittigen Rechtshändeln blieb.
In den meisten Fällen war doch der Grund des Kampfes
für den Mann nicht Abenteuertum, sondern eine Pflicht, die
jeder unbedingt auf sich nehmen muste: die Blutrache.
Der gewaltsame Tod eines Mannes, er mochte erfolgt sein
unter welchen Umständen er wollte, erforderte unerläßliche
Sühne. Die gan ;e Sippe war für die Bestrafung des Mörders
verantwortlich. Als Njals ganzes Geschlecht im Mordbrand
vernichtet ist, ruht der einzige Überlebende, Kari, nicht eher,
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als bis die Rache vollzogen ist. Die Nächstverpflichteten sind
natürlich Vater; Sohn und Bruder. Auch Schwurbrüder
müssen für den Freund Blutrache nehmen. Die Strenge dieser
Verpflichtung tritt oft in ergreifender Weise bei denen zutage,
die aus Mangel an Kraft selbst nicht imstande sind, sie ohne
Bundesgenossen zu vollführen. An Greisen, die mit unerschütterlicher
Zähigkeit den Gedanken der Rache in sich herumtragen,
bis er doch irgendwie zur Tat wird. An Frauen, die
Männern und Söhnen keine Ruhe lassen, bis sie ihrer Pflicht
genügt haben.
Abgelöst werden konnte die Blutrache nur mit Zustimmung
der ganzen Sippe durch einen Vergleich. In diesem Falle
mußte für den erschlagenen Mann Wergeld, das heißt"Mannesbuße"
, bezahlt werden. Dieses wurde entrichtet in Silber oder
Gold, das damals noch gewogen wurde, auch in Ballen Friestuch
oder einer Zahl von Kühen. Die geringste Buße für einen
Mann betrug in unserm Gelde etwa 5400 Mark. Kam es
wegen anderer Dinge, besonders Vermögens streitigkeiten, zu
einem Vergleich beider Parteien, dann mußte der Schuldige
ebenfalls ähnliche Bußsummen zahlen, deren Wertbestimmung
er oft freiwillig dem Geschädigten überließ.
Kam es zwischen beiden Parteien weder zur persönlichen
Rache noch zu einem gütlichen Vergleich mit oder ohne Schiedsmann,
dann blieb nur der Rechtsgang übrig.
Nichts spricht vielleicht so für den durch und durch kriegerischen
Sinn des Volkes, als daß auch der Prozeß in seinem
ganzen Verlaufe das Bild eines Kampfes trägt. Nach wie
vor stehen sich die beiden Parteien wie zwei Kämpferscharen
gegenüber. Schon in der Art, wie die Partei des Klägers und
des Beklagten sich Bundesgenossen werben, erinnert vollständig
an die Vorbereitungen zu einer großen Schlacht. Die Art,
wie sich in der Saga vom Hühnerthorir die Mordbrenner
Spießgesellen werben, ist äußerlich gar nicht so verschieden
von der Weise, wie in der Egilssaga Thorstein sich Bundesgenossen
in dem Prozeß gegen Önunds Sohn Steinar sucht.
Man hat, wenn man auf dem Allthing die Njalssöhne um
Bundesgenossen für ihre Rechtssache werben sieht, kaum einen
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weniger kriegerischen Eindruck als bei den Vorbereitungen, die
Bard in der Saga vom Hochlandskampf trifft, um die Häuptlinge
der Umgegend für diese mörderische Schlacht zu gewinnen.
Die Freunde, die der Kläger oder der Beklagte für seine
Sache gewinnt, sind seine Bundesgenossen wie im wirklichen
Kampf. Nicht darauf kommt es an, daß jene den Sachverhalt,
um den es sich bei dem Prozeß handelt, aus eigener Anschauung
kennen, sondern daß der Mann, dem sie helfen sollen,
ihnen als zuverlässiger Ehrenmann bekannt ist. In naiver
Weise machen die Parteien gar kein Hehl daraus, daß es vor
allem gilt, sich mächtige, angesehene, reiche Männer zur Unterstützung
zu sichern.
Wie bei der Einleitung des Prozesses, so hat man auch bei
dessen Verlauf selbst den Eindruck, daß sich zwei regelrechte
Kämpferscharen gegenüberstehen, die ihre Sache selbst ausfechten.
Der Gerichtshof leitet den Rechtsgang nicht in dem Sinne,
daß er den Verlauf der Verhandlung im einzelnen bestimmt.
Diese entwickelt sich vielmehr von selbst aus Rede und Gegenrede
der streitenden Parteien. Ihre Sache war es, die Beweismittel
richtig zu stellen, um den Gegner von seinem Unrecht
zu überführen. Kläger wie Beklagter wollen nicht dem unparteiischen
Richter, sondern ihrem Prozeßgegner die Aussichtslosigkeit
seiner Klage oder Verteidigung dartun. Nicht
die Wahrheit oder Unwahrheit des fraglichen Tatbestandes
ans Licht zu bringen ist im letzten Grunde das Bestreben der
streitenden Parteien, sondern diesen zum Nachteil des Gegners
außer Streit zu stellen.
So sind auch die Männer, die sich die Partei des Klägers
oder die des Verklagten zur Unterstützung ihrer Sache verschafft
hat, durch das diesen gegebene Versprechen auf eine bestimmte
Aussage festgelegt. Auf ihre Vernehmung haben die
Richter keinen Einfluß. Deren Aufgabe ist es allein, wenn sich
die streitenden Parteien nicht selbst einigen können, ein Urteil
abzugeben. In jeder Phase des Prozesses ist indes ein Umschlagen
in freiwilligen Vergleich, aber auch in kriegerische
Selbsthilfe möglich.
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Ein neues Verfahren tritt dann ein, wenn die Richter bei
normalem Verlaufe des Prozesses zu keiner Einstimmigkeit
des Urteils gelangen. Auf der obersten Instanz des Allthings
war indes schon Stimmenmehrheit entscheidend.
Im übrigen war nur die feierliche Eröffnung und Schließung
des Things sowie die Wahrung des Thingfiedens während
der Verhandlung Sache des sonst bei ihr so pasiven Gerichts
Auch den Strafbestimmungen und deren Folgen kommt
wieder der kriegerische Charakter des Volkes zum Ausdruck.
Geldbußen im Strafprozeß wurden, wenn sie nicht durch
den Vergleich der Parteien selbst festgesetzt waren, durch den
Urteilsspruch der Richter in der Regel nicht verhängt. Leichtere
oder schwerere Verbannung war für Totschlag und andere
Vergehen die gewöhnliche Strafe, auf die geklagt wurde. Die
teichtere"Friedlosigkeit", die Landesverweisung, wurde bereits
bei der Verbannung Gunnars von Haldenende erwähnt,
Auch sie hat wohl schon wie jenem manchem tapferen Manne
damals das Leben gekostet.
Furchtbar aber war der "Waldgang" oder die lebenslängliche
Verbannung, die den Betroffenen für immer ächtete. Der
Ausdruck stammt aus den norwegischen Verhältnissen, da im
Mutterland die Ausgestoßenen in die großen Wälder der
Heimat flüchteten. In Island waren sie auf die entsetzlichen
Steinwüsten des Innern angewiesen. Da der für immer
Geächtete vogelfrei und deshalb ganz in diese Einöden gebannt
war, so harrte seiner M gewöhnlich ein Leben voller
Verzweiflung.
Die Strenge der Strafe entsprach jedoch keineswegs immer
der Schwere des Vergehens. Auch bei ihrer Zumessung waren
oft persönliche Verhältnisse maßgebend. Einflußreiche Persönlichkeiten
wurden infolge ihres Anhangs oft gelinder bestraft,
wo Geringere, denen der Schutz von Freunden fehlte, die härteste
Achtform zugesprochen erhielten. Überhaupt spielten Rang
und Besitztum in allen Phasen eines Prozesses eine beträchtliche
Rolle. Selbst direkte Bestechlichkeit der Richter kam vor. Das
alles erklärt sich nur aus der Auffassung des Rechtsganges ab
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eines Streites. Wie bei diesem ließ man in jener alten Zeit
ist und Gewalt naiv walten.
Wir sahen, wie Staat und Familie in den Persönlichkeiten
Snorris und Njals klassische Vertreter des altisländischen
Volkes boten. Das isländische Fehdewesen ist nirgends stärker
und menschlich ergreifender verkörpert als in der Gestalt des
jungen Grettir. Neben dem ehrwürdigen Greisentume Njals
und der kraftvollen Männlichkeit Snorris steht hier der Jüngling,
dessen Leben Fehde ist vom Beginn bis zum letzten Atemzuge.
Grettir ist vier Jahre vor der Einführung des Christentums
996 geboren, und im Jahre 1031 erlag er einem Leben voll
unerhörter Unruhe und Verfolgung. Zwanzig Jahre mußte
er als Geächteter seinem Vaterland gegenüberstehen. Aber als
er fünfunddreißigjährig starb, hatte er ein Heldenleben ohnegleichen
hinter sich. So mächtig lebte und webte die Kraft des
heidnischen Wikingertums noch im ersten Menschenalter nach
der Einführung des Christentums.
Schon in der Saga des Goden Snorri und in der Geschichte
vom weisen Njal fanden sich äußerliche christliche Einwirkungen
. Sie hängen damit zusammen, daß gerade den monumentalen
Sagas, die in "Thule" neben den Eddaliedern vorangestellt
wurden, in der christlichen Zeit, wo ihre endgültige
Ausgestaltung folgte, eine besonders liebevolle Behandlung zuteil
ward. Auch die Saga von den Leuten aus dem Lachstal
und vor allem die größte, die Geschichte vom Skalden Egil,
eigen solche späteren Einflüsse. Mit den beiden letztgenannten
teilt die Saga von Grettir auch den heroischen, ja romantischen
Charakter, der dem Durchschnitt der Isländergeschichten sonst
fremd ist und die Gestalt des Helden fast ins Mythologische
steigert. Aber auch diese spätere Stilfärbung der Saga schmiegt
sich dem durch das unstäte Verbannungsleben Grettirs bedingten
Abenteuertum verständnisvoll an.
Fünfzehn Jahr ist Grettir; als ihn die erste dreijährige Verbannung
trifft. Sein im Grunde tiefer und gemütvoller Charakter
wird durch die schwere Strafe, mit der er einen unbedachten
Totschlag zu büßen hat, verdüstert und trotzig. Sein
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frühes Selbstbewußtsein der Knabenzeit wandelt sich in Hochmut
, seine Stärke und Hilfsbereitschaft, die ihn auch in den
schlimmsten Zeiten nicht verlassen, schlagen oft in staatsgefährliche
Gewaltsamkeit um. Die bittere Not der Achtung
führt ihn wiederholt nach Norwegen. Kampf gegen Berserker,
, kriegerische Untaten bei veranstalteten Kampfspielen,
Fehden mit Bären, Riesen, Unholden und Gespenstern lassen
seinen Ruhm überall kund werden.
Ein großer Mordbrand in Norwegen, in den Grettir wider
seinen Willen verwickelt wird, steigert seine bisher schon unerquickliche
staatliche Lage zu verzweifelter Hoffnungslosigkeit
. Wegen seiner angeblichen Hauptschuld an jener Brenna
wird er auf dem Allthing sum Waldgang verurteilt. Von
jetzt an wählt er, in wildem Trotz gegen den allmächtigen
Spruch des Gerichtes und voller Liebe doch gegen das
Vaterland, das ihn ausstieß, gerade Island zum Schauplatz
seiner verzweifelten Taten, die ihn in immer neue Konflikte
bringen.
Dabei ist im letzten Grunde die Sympathie jedes, der seine
Saga liest, immer bei dem unglücklichen Mann, der in Lagen
gerät, die seiner großen Seele so weh tun müssen. Mit andern
Geächteten, oft wirklichen niedrigen Verbrechern, muß er in der
Einöde hausen. Bei den Halbriesen im Gebirge findet der von
den Menschen so unmenschlich Behandelte vorübergehend liebevolle
Aufnahme.
In all seinem Unglück hält Grettir fest an der Sippe und
behält auch als Verbannter Zeit, ihre Interessen zu vertreten.
Er rächt den Tod seines Bruders. Er kehrt immer wieder in
Pausen seiner furchtbaren Einsamkeit zur Mutter zurück, die
das eigenwillige Kind schon gegen die Unduldsamkeit des
Vaters schützte. Erschütternd ist der letzte Abschied, den er von
jener nimmt, ehe ihn endlich auf einer Felsenwildnis, in die
er sich vor der Übermacht der Verfolger zurückzog, der Tod
ereilt. Keinen größeren Mann, so urteilt noch im dreizehnten
Jahrhundert der Gesetzessprecher Sturla am Schluß der
Saga, habe es gegeben als Grettir den Starken. Keiner habe
so gefochten und sei, solange er wohlauf war, so unverwundbar
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gewesen wie er. Und keiner auf Island habe je eine so
furchtbare Verbannung ertragen.
Dieses Urteil zeigt die Achtung und Anerkennung des Helden
Grettir selbst dort, wo das Interesse des Staates sprechen
müßte. Auch unter befreundeten Geschlechtern hat Grettir
während seiner Verbannungszeit seinen Anhang. Björn, der
Held der Saga aus Hitardal, und Snorri der Gode sehen
den Hilfe aus der schrecklichen Einsamkeit Suchenden vorübergehend
bei sich auftauchen. Ja, der große Politiker sucht wie
andere Freunde seine Verbannung auf dem Allthing durch seine
Fürsprache rückgängig zu machen.
Aber die Macht des Staates zeigt sich darin, daß auch jener
mächtige Häuptling es nicht wagt oder es doch nicht für richtig
hält; ihn bei sich aufzunehmen. Und an dem Widerstand der
alten Familien, die Grettir feindlich sind, scheitert doch die
Wiederaufnahme in die isländische Gesellschaft selbst bei diesem
gewaltigsten Vertreter isländischen Fehdetums.
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9. Eddadichtung und Sagazeit
Ein so tatkräftiges und praktisches Volk wie die alten
Isländer hatte im allgemeinen mehr zu tun, als seine
Anschauungen über Götter und Menschen, über Anfang und
Ende der Welt in systematischen Bekenntnissen niederzulegen.
Und doch besitzen wir ein solches Denkmal. Es ist die Völuspa,
das Hauptgedicht jener stattlichen Sammlung von Götter- und
Heldenliedern aus alter seit, die man gemeinhin Edda nennt.
Einer weissagenden Frau ist diese Dichtung nordischer Weltanschauung
in den Mund gelegt.
Ihre Grundanschauung ist der Kampf der weltpreundlichen
Götter mit den weltfeindlichen Riesen. Er setzt gleich nach Erschaffung
der Welt ein und endet erst bei deren Zerstörung.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Weltenschicksals
wird in einer prophetischen, mythendurchtränkten Sprache
vorgetragen. Eine Reihe glänzender Gemälde aus der Götterwelt
zieht unter dem Gesichtspunkt des Werdens und Vergehens
an unsern Blicken vorüber.
Die Grundstimmung des Gedichtes ist heidnisch. In dem
ewigen rücksichtslosen Kampf der göttlichen und riesischen
Mächte spiegelt sich das tatenfrohe Kämpentum, das, wie
wir sahen, alle isländischen Verhältnisse durchdrang. Auch
der Götterstaat, der nach dem Untergang der Welt zu einem
neuen Leben emporsteigt, ist der verjüngte alte. Eine ewige
Walhallfreude, wie sie bisher dem tüchtigen Kämpfer nach
dem Tode zuteil wird, soll jetzt schon im Leben Götter und
Menschen umfassen.
Das Gedicht trägt isländische Lokalfarbe. Es entspricht ganz
der Natur der Insel, wenn die Welt durch Wasser und Feuer
zerstört wird und wenn sie als Eiland wieder neuverjüngt aus
dem Meere emporsteigt. Auch in den Göttern erkennt man jene
rücksichtslosen Reckengestalten wieder, wie sie Skarphedin und
Egil am glänzendsten verkörperten. Es sind Gewaltmenschen
wie ihre Gegner, die Riesen. Nicht eine höhere Sittlichkeit oder
Moral stellt die Götter über jene, sondern die weitausschauende
Klugheit, wie sie äch im Göttervater Odin verkörpert. Selbst
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wo von Schuld und Sühne die Rede ist, hat man es mit heidnischen
Begriffen zu tun. Sippenmörder und Eidbrüchige wünschte
der Mann der Sagazeit ganz natürlich in die Wasserhölle.
Und doch hat das erste Menschenalter des Christentums schon
die Darstellung beeinflußt. Gegen Ende des heidnischen Freistaates
gab man dem Ganzen einen Schluß, der nur auf das
Erscheinen des Christengottes gedeutet werden kann. Wer hier
Gott als obersten Richter der neuen Welt auftreten ließ, dachte
sich den Tod des guten Gottes Balder gewiß schon unter dem
Bilde Christi. Er faßte die Zerstörung der Welt auch schon als
eine nicht nur tatsächliche, sondern moralisch notwendige Folge
der Greuel, die in der Welt eingerissen waren.
Der Prophet, der sich hinter der Weissagerin versteckt, ist in
Wirklichkeit der Dichter selbst. Wie alle großen Künstler schuf
er über seine Zeit hinaus. Selbst noch für die wilden wikingerhaften
Verhältnisse vor dem Untergang des Freistaates behielt
die Dichtung ihre Wahrheit.
Dieses großartige dichterische Gemälde eines genialen Mannes
ist mitten in der Blütezeit der heidnischen Republik entstanden
. Das Volk im ganzen stand der alten Götterwelt, die
es darstellt, damals wohl schon erheblich kühler oder nüchterner
gegenüber.
Von einer ausgeprägten Stellungnahme sum Göttertum kann
man bei der seltsamen religiösen Gleichgültigkeit des Volkes, die
schon in der Landnahmezeit hervortrat, kaum sprechen. Noch
weniger aber von einer ausgebildeten Ethik, die für uns mit
dem Begriff Weltanschauung in irgendeiner Form immer verbunden
ist.
Als alles beherrschende Norm des Empfindungs- und Tatenlebens
des heidnischen Freistaates trat bei Männern wie Frauen
die rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Persönlichkeit hervor
. "Selbst ist der Mann", dieser stets in die Tat umgesetzte
Grundsatz schuf fast alle Konflikte im Staatswesen, im Familienverband
, in der Kriegergilde. Er war wohl auch bestimmend
für das Verhältnis des Isländers zur Gottheit. Schon
in der ersten Zeit des Freistaates sind die Männer nicht selten,
die offen erklärten, nur an ihre eigene Kraft zu glauben. Und
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in den letzten dreißig Jahren, wo das Christentum aus rein
praktischen Gründen eingeführt war, war die Schar solcher
Glaubenslosen gewiß viel größer.
All dies wäre kaum möglich gewesen bei einem innigen Verhältnis
des ganzen Volkes zur Götterwelt. Von der Fülle interessanter
Züge, mit denen die Fabulierkunst der Eddalieder
die Götter ausstattet, ist in den Darstellungen der Sagas wenig
zu spüren. Auch der Olymp, den die Dichtung der Edda
kennt, schrumpft erheblich zusammen, sobald man den nüchternen
isländischen Sagaboden betritt.
Wo wir hier Mythisches treffen, da hat es fast immer die Furcht
oder der an die unwirtliche Natur Islands sich heftende Aberglaube
hervorgebracht. Es wimmelt in den isländischen Sagas
von unnatürlichen Himmelserscheinungen, wie Blutregen und
gespenstischen Halbmonden, von bösartigen Geistern, von umgehenden
Toten, von tückischen Kobolden und Heren, von unheimlichen
Tiergestalten und Berserkern. Der Dämonenglaube
ist im Volke stark entwickelt. Auch Weissagerinnen und Zauberinnen
ziehen im Lande umher und verkünden vom hohen
Seherthron aus den Abergläubischen die Zukunft. Und unendlich
oft ist von Träumen die Rede, die ja in dieser ältesten Zeit
auch als Offenbarungen der Götter gelten. In der Reichhaltigkeit
der Träume zeigen die Sagas mit der Dichtung der Edda
am meisten Berührung.
Das Verhältnis des vornehmen Isländers zu seiner Gottheit
war denkbar nüchtern und praktisch. Daß die altin Hochsitzsäulen
der Tempel und Wohnhäuser aus Norwegen mitgebracht
und auf Island zu neuen Heiligtümern derselben
Gottheit verwandt wurden, wird oft erzählt. Der Besitz eines
Tempels aber war ja für den Isländer zugleich die Ouelle
der Macht und des Reichtums. So stand die Zahl der Tempel
wohl umgekehrt im Verhältnis zur Innigkeit des Glaubens
.
Der praktische Isländer verehrte die Gottheiten am meisten,
von denen er am sichersten Macht und Wohlstand erwarten
durfte. Vor allem wird der alte norwegische Stammesgott
Thor angerufen: der Wettergott, der für die Seefahrt seinen
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Lavaformen im Odádahraun (Missetatenwüste). Nordisland
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Schutz leihen sollte. Dann aber der Gott des Reichtums und
der Fruchtbarkeit, Frey. Einen Eifrer in dessen Kult haben
wir in einer der interessantesten Gestalten des Ostlandes, dem Goden
Hrafnkel. Er hat dem Frey ein Roß geweiht, das nach seiner
Bestimmung niemand reiten durfte, es brächte ibm denn den
Tod. Die Tötung eines Mannes, der diesem Gebot widerstrebt,
bringt dann dem rücksichtslosen Goden selbst Verderben. Aber
auch in Fällen wie bier wirkt die Götterverehrung mehr wie
ein eigenwilliger Trumpf, um die Godenmacht zu dokumentieren
, denn als eine Komme Handlung.
Charakteristisch ist es, daß der Wikingergott Odin aus der
Verehrung des Volkes fast völlig ausschied. Die große Rolle,
die er in der Eddadichtung spielt, wurde ihm wohl nur von
besonders dichterisch interessierten Helden zuerkannt. Sie feierten
ihn als Gott der Runen, des Symbols aller höheren Weisheit,
als den Gott der Dichtung und vor allem als den Gott
des Krieges. Aber seine Gestalt ist fast ganz vermenschlicht.
Junkerhaft prahlend betört er die Mädchen und tritt dem
starken aber plumpen Bauerngott Thor gegenüber. Solche
Wikingerlaunen überkamen, besonders im Ausland, zuweilen
auch den isländischen Bauer. Dieselbe Vermenschlichung zeigen
die beiden andern großen Götter Frey und Thor in der Edda.
Jener wird als schmachtender Liebhaber, dieser als Kraftbramarbas
gegenüber den Riesen dargestellt.
Neben jenen in Balladenform vorgetragenen Götterfabeln
stehen dichterische Wettkämpfe mythologischen Inhalts oder
lange Zankgespräche, aus dem isländischen Alltagsleben in die
Götterwelt übertragen.
Diese Göttermärchen und mythischen Gedichte sind fast alle
in der Zeit entstanden, in der die Ereignisse der Saga sich abspielten.
Sprichwörtliche Ausdrücke und gnomische Weisheit, die in
der Edda so gern mit dem tiefsinnigen Denken des Göttervaters
Odin in Verbindung gebracht werden, durchziehen auch
die Sagas in großer Fülle. Sie zeigen, daß Eddadichtung
und Saga aus demselben Boden wuchsen. Aber jene Dichtungen
von einer zum Teil schon raffinierten Technik standen
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zu hoch, als daß sie Eigentum des ganzen Volkes in der Sagazeit
gewesen wären.
Manches, das Urwüchsigste, wie Thors Fahrt zu den Riesen
nach seinem Hammer, entstand schon in der norwegischen
Heimat. Dies und jenes mag im Auslande dazu gekommen
sein. Auf den englischen Inseln wohnten ja überall Nordländer.
Da vor allem sind aus einer höheren Kultur jene
Züge in die Darstellung der Götterwelt gekommen, die sich
schon weit vom naiven Volksglauben entfernen und uns fast
modern anmuten.
Skalden sangen in der mit mythologischen Bildern gezierten
Prunkhalle des reichen Häuptlings Olaf Pfau im Westlande.
Sie deuteten dichterisch jene kunstvollen Gemälde. die Balders
Leichenverbrennung und den Fang der Midgardschlange durch
Thor darstellten. In solcher Umgebung mögen vielleicht auch die
farbenprächtigen Göiterballaden der Edda schon damals voll
gewertet sein. In mündlicher Überlieferung auf Island bekamen
jene Götterlieder schließlich im wesentlichen die Form, in
der sie später dort aufgeseichnet wurden.
Einen unmittelbaren Einfluß auf die isländische Saga hat
die Götterdichtung der Edda weder in der Zeit des heidnischen
Freistaates noch später geübt. So wenig phantastisch jene
Lieder auch sind, sie blieben doch immer dichterisches Ideal
gegenüber der nüchternen Wirklichkeit der Saga.
Anders steht es mit dem Teil der Eddalieder, der ein jener
Zeit vorausliegendes Heroentum aus mannigfachen Sagenkreisen
verherrlicht. Die Dichtung der Edda, die doch auch
von gewaltigen Menschen, freilich aus der Vorzeit, handelte,
steht den heldenhaften Gestalten der Sagas näher. Hier ergaben
sich schon in deren ältester Fassung zu den Heroen der
Eddadichtung natürliche und ungewollte Parallelen. Und in
ihrer letzten Gestaltung sind hier auch sichtbare Einflüsse der
Eddadichtung vorhanden.
Eine Gestalt wie der Gode Snorri oder Grettir der Starke
sind so eng mit dem Boden der Heimat verwachsen, daß sie in
den alten Liedern kaum ein Gegenstück haben. Auch der gelegentlich
durch seine Empfindungen fortgerissene Njal wurzelt
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doch fest in )finer nüchternen Umgebung und ist nur in
dieser zu begreifen. Eine strenge Kluft trennt selbst ihn von
der Sentimentalität, wie sie jüngere Heldenlieder der Edda in
den Klagen Brynhilds und Gudruns über ihr Schicksal verraten
. Aber gewiß hat schon jeder Isländer damals bei
Gunnar von Haldenende und seiner dämonischen Gemahlin
Hallgerd an den Gunnar und die Brynhild der Edda gedacht.
Und noch mehr erinnert an jene Walküre die Heldin in der
Geschichte der Leute aus dem Lachstal. Diese prächtige Saga
mit ihren starken Charakteren ist eine prosaische Schwester der
eddischen Dichtung.
Aber gerade diese Saga zeigt in der Gestalt von Osvifrs
Tochter Gudrun auch wieder in der Darstellung den Unterschied
von der Eddadichtung.
Wir hören in der Edda oft, wie Brynhild und Gudrun ihr
Schicksal beklagen. Wir bewundern die feine Kunst der Dichter,
die ihrem Gegenstande immer neue Seiten abzugewinnen
wissen. Die Taten dieser dämonischen Frauen behalten trotz
der feinen psychologischen Ausmalung ihres Charakters etwas
Übermenschliches, schwer Faßbares.
Schon eine Hallgerd aus der Njalssaga erscheint uns aus
ihrer bäuerischen Umgebung heraus in ihrem stolzen Unabhängigkeitsdrange
menschlich verständlicher. Noch näher tritt
uns die leidenschaftliche Osvifrstochter Gudrun aus dem
Lachstal.
Sie ist viermal verheiratet gewesen, aber nie mit dem, den
sie wirklich liebte. In allen Unternehmungen, auch in der Aufreizung
zur Rache, zeigt sie sich klüger und energischer als
alle Männer ihrer Umgebung. Sie ruht wie Brynhild nicht
eher, als bis ihr Mann, der ihr einst den Jugendgeliebten
Kjartan abspenstig machte, diesen mit seinen Verwandten er
; ching. Aber sie ist keine Teufelin, wie Kriemhild im Nibelungenliede
genannt wird.
Es spricht für sie, daß ein Menschenkenner und Menschenwäger
wie der Gode Snorri üch ihrer nach dem Tode jenes
Gatten Bolli helfend annimmt und sie sogar zum vierten
Male vermählt. Diese beiden lebensvollen, tatkräftigen Charaktere
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verstehen einander. Das Rätsel ihres Lebens spricht
Gudrun am Schluß der Saga in tragischer Kürze ihrem
Sohn gegenüber aus. Auf dessen Frage, wen sie am meisten
geliebt habe, charakterisiert sie erst ausweichend ihre vier
Gatten. Dann sagt sie, auf den Jugendgeliebten anspielend:
"Dem schadete ich am meisten, deir ich am meisten liebte."
Ergreifender und schlichter konnte die hochbetagte Matrone
nicht sprechen, die hier das Bekenntnis eines reichen, aber verfehlten
Lebens ablegt.
Nicht nur die dichterischen Klagen einer Brynhild oder Gudrun
in der Edda, auch alle andern Erzeugnisse der alten
Heldendichtung sind Lieder in Balladenform. Zu einem zusammenhängenden
Epos wie die südgermanischen Länder hat
es das nordische Altertum nicht gebracht. Die Entwicklung
der Handlung war im ganzen vorgezeichnet. Sie reichte von
der Herkunft des Goldhortes, den die Edda an die Götterwelt
knüpft, bis ;u seinen letzten unheilvollen Wirkungen in der
Rache von Gudruns Söhnen aus ihrer dritten Ehe. Immer
aber sind nur einzelne Abschnitte dieser Riesenhandlung balladenartig
gestaltet. Sigurd den Drachentöter und Sigurds
Tod, Brynhilds Erweckung aus dem Zauberschlaf und die
Ermordung Atlis, alles besangen in mannigfacher Stilform
ältere und jüngere Dichter.
Die Nibelungentragödie ist wie auf deutschem Boden auch
der Hauptvorwurf der Eddalieder. Daneben steht die Trilogie
von dem immer wiedergeborenen Helgi und seiner romantischen
Liebschaft mit den Walküren Svava, Sigrun und
Kara. Auch der kunstfertige Schmied Wieland wird uns
in seiner Haft bei König Nidud und in seiner furchtbaren
Rache an dessen Söhnen und Tochter vorgeführt. Und in
Hildebrands Sterbelied haben wir eine freilich sehr veränderte
Gestalt des tragischen Vorganges, den unser deutsches
Hildebrandslied schilderte. Der Gesippe mit dem Gesippen in
todbringendem Kampf, ohne das Unheil abwenden zu können.
Eine prachtvollere Schilderung hat aber kaum ein Gegenstand
in der alten Heldendichtung erfahren als das Gedicht,
das man König Olaf dem Heiligen auf seinen Wunsch am
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Morgen seines letzten ihm den Tod bringenden Schlachttages
im Jahre 1030 vortrug.
Es konnte keine bessere Kampfmahnung an des Königs
Mannen, keinen besseren Trost für jenen geben als dies alte
Bjarkilied. In den Wechselgesprächen zweier treuer Mannen
des alten Dänenkönigs Rolf Krake wird dessen Überfall auf
seiner Königsburg Lejre dramatisch vorgeführt. Der eine ganz
Jugend, der andere lebenserfahrenes Alter, beide aber voll hingebendster
Treue gegen ihren Herrn. Konnten sie auch dessen
Leben gegen die Übermacht nicht schützen, beide sind, als
er gefallen ist, nur von dem Wunsch beseelt, neben ihn im
Tode gebettet zu werden. Hier haben wir zugleich ein Beispiel
, wie ein altes Heldenlied weiter kampfschürend wirken
konnte.
Wie die Götterlieder sind auch die Heldenlieder der Edda in
stabreimende Strophen gefaßt, die in ihrer Form und ihrem
Tonfall sich dem Inhalt verständnisvoll anschmiegen. Die
alte epische und gnomische Strophe der Germanen liegt diesem
dichterischen Gewande zugrunde.
In derselben seit, wo die meisten dieser balladenartigen
Schößlinge der altgermanischen Heldenzeit auf Island entstanden
und gesungen wurden, blühte das neue Heldentum
des heidnischen Freistaates am kräftigsten. Auch dessen Taten
und Schicksale wurden künstlerisch verherrlicht. Freilich auch
sie in keinem zusammenhängenden Epos. Neben den Liederhalladen
der Edda erblühte die isländische Saga. Und ihr Gewand
war die Sprache der Wirklichkeit, eine edle und ungemein
gegenständliche Prosa.
Die Eddadichtung und die Sagaerzählung des zehnten Jahrhunderts
sind, obwohl sie in derselben Zeit und auf demselben
Boden erwuchsen, in ihrem Gesamtbilde ganz verschieden.
Mosaikartiger kann kaum ein Gemälde sein als das, das die
Götter- und Heldenlieder im einzelnen gewähren. In einem Betracht
wirken sie doch völlig einheitlich. Die ehrwürdige Vergangenheit
ließ die Helden, die Zeitlosigkeit die Götter als
rein ideale Gestalten erscheinen. Die Götter- und Heroenwelt
kennt keine festen historischen oder geographischen Grenzen."In
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der Urzeit war es" : damit ist die Phantasie des Hörers in die
richtige dichterische Stimmung versetzt.
Der Donnergott Thor mag noch so viel Züge des tatkräftig
dreinschlagenden, der böse Gott oki noch so viel Wesenheit
eines verschmitzten isländischen Bauern haben, sie sind doch
nun einmal Götter, so vertraut sich der Dichter mit ihnen
stellt. Die Darstellung des Zuges der Burgunden zu Ätti und
ihrer Kämpfe dort kann in vielen Zügen die kleinen Verhältnisse
isländischen oder gar grönländischen Lebens widerspiegeln:
es sind für den Hörer durch alte Überlieferung geheiligte
Helden, für die er in der Wirklichkeit keine genauen Gegenbilder
findet.
Die fahrenden Sänger, die diese Gedichte schon an den Höfen
der Kleinfürsten in Norwegen und dann auf den Gehöften der
isländischen Großbauern vortrugen, schmückten ihren Liederschatz
bewusst mit neuen Sagenzügen aus, wenn sie sie auch der
Umgebung der Heimat anglichen. Den Kern der Eddadichtung
kann man als "Dichtung und Wahrheit" bezeichnen.
Wir kennen den Namen keines Eddadichters. Aber auch kein
Name eines Sagamannes ist uns überliefert. Doch wurden
die Sagas ebenfalls wie die Eddalieder in ihrer ältesten Form
von fahrenden Leuten auf Island vorgetragen.
Deren Aufgabe aber war eine ganz andere als die der Sänger
der Eddalieder. Nicht Sagen, interessante Erdichtungen
einer freien Phantasie, wollten sie vortragen. Ihr Bestreben
war es, wahre Begebenheiten aus der Heimat oder aus der
Fremde, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten, zu erzählen.
Die Gegenwart war die Welt, aus der sie ihre Stoffe wählten.
Sie durften nichts melden, als was "wirklich"geschehen war,
da ihre Angaben von den eigenen Volksgenossen auf Schritt
und Tritt nachgeprüft werden konnten. Die Vergangenheit kam
für sie nur so weit in Betracht, als das Gedächnis namhafter
Zeitgenossen für die "Echtheit" der Ereignisse sich verbürgen
konnte. Das Wunderbare und Abenteuerliche ist für unsere
Anschauung von dem Begriff Götter- und Heldensage, wie
sie in der Edda lehr, unzertrennlich. Für das Wesen der Saga
ist es keineswegs die Hauptsache oder auch nur wesentlich.
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Der Sagaerzähler soll, will und kann wahre Begebenheiten
berichten. Auch er mag dichterisch ausgestalten und gelegentlich
auch ausschmücken, um zu ergötzen. Aber seine Erzählung
muß wahrscheinlich bleiben. Er darf sich doch im Kern und
im ganzen Gefüge seiner Darstellung nie von der Wirklichkeit
entfernen. Ein Egil, ein Grettir, ein Njal und ein Gode Snorri
lebten. Ihre Taten standen im hellen Bewußtsein des Volkes. So
waren ihrer Idealisierung durch den Sagamann natürliche
Grenzen gezogen. Die Saga ist im Gegensatz zur Eddapoesie
"Wahrheit und Dichtung" .
Schon äußerlich zeigt sich der geschichtliche Sinn der Saga in
ihrer ganzen Überlieferung.
Im Mittelpunkt steht jedesmal ein Heldenleben aus der
kräftigsten Zeit des heidnischen Freistaates, mag dieses auf Island
sich entfalten oder im Ausland bei nordischen Fürsten
den Schauplatz seiner Betätigung finden. Aber die Bauern der
isländischen Familiengeschichten, wie die isländischen Skalden
der Königssagas wurden fast immer im Zusammenhang mit
ihrem gesamten Geschlechte dargestellt. Die Einleitung greift
in der Regel auf ihre Väter in der Landnahmezeit und weiter
auf ihre Vorfahren in der norwegischen Heimat zurück. Die
Saga schließt aft mit den Nachkommen der Helden in christlicher
Zeit und knüpft diese an die ruhmvollen Männer der alten
Sagazeit an.
Die Erzählungen und Novellen" in Thule entsprechen nach
Umfang und Form etwa den ursprünglichen Berichten, wie sie
ein Sagamann im Heldenzeitalter vortrug. Die"Geschichten"
tragen in Anlage und Ausführung schon mehr den Stempel
der literarischen Zeit des dreizehnten Jahrhunderts.
In den großen Geschichten am Anfang unserer Sammlung
tritt dieser Einfluß am meisten hervor. Hier sind, wie in der
Njalssaga, selbständige Geschichten zu einer neuen Einheit verbunden
oder der historische Sinn des Endredakteurs hat, wie
in der Egilssaga, die jetzige Gestalt bestimmt. Aber in ihren
Grundzügen zeigen doch alle Sagas den Charakter des Heldenzeitalters
930 —1050, in dem ihre Handlung sich abspielt.
Der immer wiederkehrende ?Ausdruck "Sa war es in alter
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seit üblich" ist dafür charakteristisch. Die Männer, die den
Sagas bei der Niederschrift ihre endgültige Form gaben, hatten
ein festes Bewußtsein von der Altertümlichkeit und Ehrwürdigkeit
ihres Inhalts.
Daß die Saga nüchterne Wirklichkeit, nicht unterhaltende
Phantasiegebilde darstellen soll, beeinträchtigt ihre ästhetische
Wirkung nicht. Die durch eine festgefügte Überlieferung verbürgte
Gegenständlichkeit von Inhalt und Form lassen doch der
individuellen Auffassung und dem Kunstgeschmack des Autors
genügenden Spielraum.
Der Inhalt der Saga erinnert schon darin an das wirkliche
Leben, daß er oft eine schier unübersehbare Fülle von Personen
und Begebenheiten vor uns hinstellt. Aber das starke Heldentum,
dessen glänzende Siege oder ruhmvolle Niederlagen ihren
Vorwurf bilden, schafft einen festen Mittelpunkt. Trotz aller
Abschweifungen und Zufälligkeiten der Darstellung bleibt in
den meisten Fällen eine straffe künstlerische Einheit.
Die Konflikte, in die die heldenhaften Männer und Frauen
der Saga geraten, sind immer die des täglichen Lebens. So
fällt auch auf die isländische Alltagswelt ein heroischer Schimmer.
Den allgemeinen Kulturboden, auf dem die Handlung
der Saga vor sich geht, haben wir bereits gezeichnet. Staat
und Familie, Kriegerleben und Volksdichtung entfalten in den
Sagahelden ihre höchsten und reichsten Kräfte.
Der Glanz jener Persönlichkeiten wirkt um so echter, als der
Untergrund, von dem sie sich abheben, mit voller realistischer
Deutlichkeit gemalt wird. Die große Masse des Volkes verschwindet
nicht wie im Heldenepos vor den Gestalten der
Heroen. Sie wird bis auf den geringsten Knecht geschildert.
Auch so unheldenhafte Vorgänge wie Schafdiebstahl oder
Hühnerhandel berichtet die Saga mit liebevoller Ausführlichkeit
Selbst wo Personen als reine Statisten auftreten oder
Ereignisse nur Episoden bilden, können sie als Kulturhintergrund
wertvoll sein.
Der Gegenständlichkeit des Inhalts entspricht die glückliche
äußere Form der Saga. Natürlich wie das Alltagsleben wirkt
ihre schmucklose Prosa. Der ruhige epische Fluß der Erzählung
Thule-Bd.00-104a Einfuehungs Band. |
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Der Wasserfall Godafoß. Nordisland
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bekommt durch die dem wirklichen Leben abgelauschten Dialoge
der auftretenden Personen oft einen dramatischen Charakter.
Starke lyrische Stimmungen kennt die Sagaprosa
nicht. Nur in den gelegentlich eingestreuten Skaldenstrophen
kommt die Gedanken- und Empfindungswelt ihrer Helden unmittelbar
zum Ausdruck.
Allein in einigen der als "Skaldengeschichten" bezeichneten
Sagas unserer Sammlung sind diese Dichtungen Selbstzweck.
Hier bilden sie das Rückgrat der Handlung selbst. Sonst dienen
sie nur als Mittel, um einem schon in der Erzählung vorbereiteten
Vorgang oder einem Stimmungsbilde der Handlung
Farbe und Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Zuweilen sind die Dichtungen der Sagahelden auch nur zu
jenem Zwecke erfunden. Hierin liegt das stille Einverständnis,
daß die Prosaerzählung das Seelenleben der Personen nur
indirekt in dem äußeren Verlauf der Handlung charakterisieren
will. Auch im Leben selbst sprechen doch am besten die Taten.
Eine Gefühlsäußerung oder gar ein Urteil des Sagamannes
über seinen Bericht findet sich fast niemals.
Diese persönliche Zurückhaltung, die sich der Erzähler auferlegt,
gewinnt ihm leicht das Vertrauen seines Publikums.
Bei der chronikartigen Form seiner Berichterstattung vermutet
man kaum je eine Willkür in der Darstellung.
"Ein Mann hieß Glum" —so etwa führt der Sagamann
jede Gestalt ein. "Thorkel kommt nun nicht mehr in dieser
Saga vor" — in der Art läßt er seine Personen abtreten.
"In dieser Angelegenheit wird nun nichts weiter berichtet" —
so heißt es, wenn der Stoff der Saga in einem Punkt versagt.
"Einige meinen dies, andere fassen die Sache so auf" — mit
solchen Wendungen stützt der Erzähler die Genauigkeit seines
Berichtes. Das klingt alles so zuverlässig.
Wer so spricht, dem folgt der Hörer auch einmal auf ein Gebiet;
das ihn nach seiner Kenntnis des heimatlichen Lebens
fremdartiger anmutete. So konnte in der Darstellung des
Sagamannes selbst das Wunderbare gelegentlich wie ein natürliches
Ereignis wirken.
Zufälle spielten auch in das sonst so festgeregelte Altagsleben
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des Isländers hinein. Schon das Volk witterte in jenen
leicht übernatürliche Mächte. Der Sagaerzähler blieb in diesem
Sinne bei der Wahrheit, wenn erin den Grenzen des
Volksglaubens Spuk- und Gespenstergeschichten als Belebung
seiner Darstellung verwandte.
Ein Rätsel war im Grunde mancher bedeutende Mensch auch
schon im alten Island. Die Kraftanspannung der isländischem
Männer und Frauen leistete oft schon im gewöhnlichen Leben
schier Unglaubliches. So durfte der Sagamann auch wohl
einmal übernatürliche Taten seiner Helden schildern, ohne daß
seine Erzählung unwahrscheinlich wirkte. Von den Gestalte-
der"Heldenromane", in "Thule" sind Männer wie Grettir der
Starke oder der Skalde Egil noch immer sehr verschieden.
Aus einer späteren seit, wo jene mythischen Sagas Mode
wurden, ist mancher romantische Zug auf die alte Saga übergegangen.
Ihrem Wesen nach stehen jene Heldenromane zu
dieser in schärfstem Gegensatz. Nicht das isländische Wirklichkeitsleben,
sondern die dichterische Welt der alten Götter- und
Heldenlieder war für sie Vorbild der Darstellung. Die in der
Heroendichtung vietbesungene Saga vom mythischen Dänenkönig
Rolf Krake wurde phantastisch aufgeputzt. Die Dichtung
von den Nibelungen trug man auf Grund der Edda in zusammenhängendem
Romane vor. Mit der alten Saga haben
jene mythischen Ersäblungen nur den köstlichen Prosastil gemein
. Sie wollen nicht Geschichte darstellen, wie jene, sondern
sind Sagen in unserm Sinne des Wortes.
Diese mythischen und romantischen Zusätze haben indes den
Charakter der alien Saga ebensowenig verändert wie die
christlichen Einflüsse einer späteren Zeit. Die Einführung der
neuen Religion wird öfter als segensreich erwähnt, aber weniger
aus innerer Sympathie, als weil sie erträgliche staatliche
Zustände schaffte. Wo sich wirklich christlich gefärbte Episoden
in der Saga finden, tasten sie doch das heidnische Gesamtbild
nicht an. Ebensowenig haben die Gestalten der Saga durch
ihre dort chronikartig gebuchte Bekehrung zum Christentum
etwas von ihrem heidnischen Charakter verloren. Gudrun,
die Heldin der Lachstalsaga, bleibt eine heidnische Brynhild
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figur; auch wenn sie ganz am Schluß ihres Lebens fromme
Einsiedlerin wird. Vollends ist das Leben keines einzigen
Sagahelden mit der christlichen Lebensauffassung oder Moral
in Einklang zu bringen.
Der Sagamann ist ein Kind des Zeitalters, dessen Ereignisse
er schildert. Das verrät seine Darstellung auf Schritt und
Tritt. In seinen Helden und Heldinnen wohnt eine unvergleichliche
Frische und Lebenskraft. Man empfindet unmittelbar
, daß erselbst solche Männer und Frauen auf dem Thing
und in der Schlacht, im Haus und auf dem Felde beobachter
hat. Die Handlungen dieser Menschen sind ihm nichts Fremdes,
in das er sich erst für die dichterische Gestaltung vertiefen
muß. Ihre Konflikte stellen ja nichts anders vor, als was er
jeden Augenblick in der ihm vertrauten Umgebung seines
Volkes aufs neue erleben kann. Der Sagamann kennt genau
die Gedanken- und Empfindungswelt seiner künstlerischen Urbilder
. Die starke naive Auffassung des Lebens teilt er mit
jenen wie mit seinem Publikum.
Einheitlichkeit des Wesens ist bei den Helden und Heldinnen
der Sagas die Hauptsache. Die Willensstärke jenes Zeitalters
ist in ihnen zur höchsten Vollendung gesteigert. Wie im täglichen
Leben finden sich auch bei den Hauptpersonen der Sagas
gute und schlechte Eigenschaften gemischt. Alle aber sind bei
ihnen in den Dienst eines festen Heldenwillens gestellt.
Ein Held, der sich durch Kühnheit und Klugheit vor allen hervortut
, ist bisweilen von brutaler Grausamkeit und unersättlicher
Habsucht. Eine Heldin, die durch Schönheit und wirtschaftliche
Tüchtigkeit alle gefangen nimmt, kann sich unter
Umständen hinterlistig und niederträchtig benehmen. Eine
Schwäche der Gesinnung aber, Ohnmacht bei der Verfolgung
eines Zieles kennt das Heldentum nicht.
Der Stammbaum der alten Geschlechter wird stets mit der
größten Genauigkeit verzeichnet. Knappe Charakteristiken werden
den einzelnen Personen beigegeben. Sie gehen aber selten
über eine flüchtige Beschreibung hinaus, wie sie etwa der
Nachbar von dem Nachbar gab. Vornehme Geburt, Wohlhabenheit
und angeborene Tüchtigkeit werden im allgemeinen
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bei beiden Geschlechtern vorausgesetzt. Gern werden die gleichen
körperlichen und geistigen Vorzüge durch mehrere Generationen
verfolgt. Manche Saga gebt ja durch vier Menschenalter.
Neben Tatkraft und verständigem Sinn wird beim Mann
auf ansehnliche Erscheinung Gewicht gelegt. Schönheit spielt
keine Rolle. Im Gegenteil. Gewaltige Sagahelden sind zuweilen
abschreckend häßlich. Selbst bei den Frauen tritt die äußere Erscheinung
in der Wertung hinter weiblicher Tüchtigkeit zurück.
Unter den Helden und Heldinnen finden sich keine Unholde,
wie sie das nordische Berserkertum malt. Aber auch reine
Lichtgestalten, wie sie das deutsche Nibelungenlied in Siegfried
darstellt; fehlen ihr. Das Grundelement der Männer wie
der Frauen ist eine unhemmbare Tatkraft im Guten wie im
Bösen, die nicht ruht, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Sie sitzt oft
wie eine Krankheit im Körper und bricht sich in plötzlicher
jähzorniger Entladung bis zur Vernichtung des Gegners
Bahn. Sie hält sich aber auch oft jahrelang abwartend zurück
und weiß dann immer im rechten Augenblick die Aufgabe,
die sie sich gestellt hat; durchuzufüren. ist für dies harte
Zeitalter bezeichnend, daß in dieser zähen Willenskraft sich
Männer und Frauen begegnen, ja daß die Frauen oft wilder
und berechnender sind als die Männer.
Gütige, weiche und heitere Naturen findet man bei den Frauen
noch seltener als bei den Männern. Sie überwinden nicht
selten die Schwäche ihres Geschlechts, um selbst blutige Rache
an ihren Feinden zu nehmen. In der Aufreizung der Männer
zur Erfüllung dieser Pflicht sind Mütter und Gattinnen unermüdlich
Sie war ihnen die beste Gewähr für die kriegerische
Tüchtigkeit ihrer Männer und Söhne. Aber auch in den Geschäften
des täglichen Lebens sind die Frauen oft die klugen
Beraterinnen ihrer Männer. Diese folgen ihnen auch gegen
ihre eigene Meinung. Selbst erfahrene Helden, die in Gesetzeskunde
und Rechtshändeln wohl Bescheid wissen. Und doch ist
diese Kenntnis neben der Waffentüchtigkeit ein Hauptstolz der
Sagahelden. Der größte jedoch, wenn sie auch von der Skaldenkunst
etwas verstehen. In seinen Liedern leben des Mannes
Taten noch einmal.
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Anschaulich wie die Personen der Saga vor uns hintreten,
spielen sich die Begebenheiten ab. Der Schauplatz der Vorgänge
wird meist so eingehend geschildert, daß man noch beute auf
Island viele Örtlichkeiten nach alten Angaben bestimmen
kann. Bilder landwirtschaftlicher Tätigkeit oder Feste und
Spiele prägen sich dem Leser unvergeßlich ein. Man meint als
Zuschauer dabei gewesen zu sein. Noch lebhafter hat man dies
Gefühl an den Stellen, wo die Konflikte mit Waffen oder vor
Gericht vor sich gehen. Wird ein Kampf oder Rechtsstreit dargestellt,
dann tritt jede Phase ihres Verlaufs, soweit dadurch
die Entwicklung der Handlung gefördert wird, mit vollendeter
Deutlichkeit hervor. Hier herrscht zuweilen in den epischen
Wiederholungen, die bei Aufzählungen von Waffen und
Rechtsformeln sich einstellen, eine gewisse Einförmigkeit. Aber
gerade sie unterstützt die Empfindung von der Wahrhaftigkeit
der Vorgänge.
Solche Kampf- und Gerichtsszenen bilden gewöhnlich den
Höhepunkt in den Sagas. So bekommen sie leicht schon im
Aufbau der ganzen Handlung einen dramatischen Charakter.
Dieser wird dann verstärkt durch den lebendigen und mit
scharfen Pointen gewürzten Dialog der Personen. Man braucht
nur Zwischensatze wie "sagte Kjartan", "erwiderte Gudrun"
fortzulassen, um den täuschenden Eindruck dramatischer Auftritte
zu erhalten. In den Reden und Gegenreden der Streitenden
kehrt die Neigung der Saga zu gnomischem und sprichwörtlichem
Ausdruck wieder. Ursprünglichkeit und Natürlichkeit
werden auch in den einfach erzählenden Partien oft dadurch
verstärkt, daß der Sagamann die indirekte Rede abbricht und
seine Personen sich plötzlich direkt äußern läßt.
Auch sonst wirkt die Saga trotz der ihr durch das Zeitalter vorgezeichneten
chronikartigen Berichterstattung fast immer lebendig
und anschaulich. Sie sucht sich der Art, wie sich die Vorgänge
im natürlichen Leben abspielen, in der Darstellung ungezwungen
anzuschmiegen. Vieles bleibt ja auch in der Wirklichkeit zunächst
unerklärt und rätselhaft, was bei späterer Gelegenheit
seine Aufklärung findet. Die Saga bemüht sich durchaus nicht,
hier vorzeitig ihre Hörer aufzuklären. Anfängliche Ungewißheit
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erhöht doch die Spannung, und die Hörer wissen aus Erfahrung
, daß ihnen der Erzähler die Aufklärung schließlich
nicht schuldig bleibt. Die Saga geht in der zwanglosen Anordnung
des Stoffes sehr weit. Personen und Gegenstände werden
früh erwähnt, die erst viel später eine Rolle spielen. Ja
sogar für die Handlung höchst bedeutsame Ereignisse erscheinen
zunächst als ganz unverständliche Episoden.
Die Charakteristik der Helden erfolgt außer durch die Personalbeschreibung
der Saga und die eigenen Dialoge jener
vor allem durch Handlung selbst. Auch hierbei zeigt sich wieder
die Neigung, das wirkliche Leben nachzuahmen. Durch
äußere sinnfällige Vorgänge sollen die Empfindungen und Gedanken
der Helden ins Licht treten. Errät der Hörer nicht sofort
den Zusammenhang zwischen dem äußeren Vorgang und
dem Seelenleben des Helden, dann mag er staunen, wenn er
ihn später aus dem Verlauf der Saga erfährt. Ingibjörg in der
Lachstalsaga sagt, das Tuch, das sie Kjartan gegeben habe,
sei zu gut für Gudrun. Das soll ihre Liebe zu jenem malen.
Wenn König Harald Haarschön einmal schweigt und blutrot
wird, als er in seines Vasallen prächtige Halle tritt, dann errät
jeder leicht seine aufsteigende Eifersucht.
Solche ungewollte Symbolik der Handlung zeigt das tägliche
Leben hundertfach. Sie durchzieht auch die Reden der
handelnden Personen an vielen Stellen der Saga. Diese geht
so weit in ihrer Gewohnheit; das seelische Leben ihrer Personen
erraten zu lassen, daß sie jene nur das sagen läßt, was man
auch im gewöhnlichen Leben ausspricht. Der Wahrscheinlichkeit
zuliebe setzt sie sich selbst der Gefahr aus, einmal undeutlich
zu werden. Lügen von Personen werden nicht als solche
kenntlich gemacht, und wenn zwei heimlich miteinander reden,
kann man den Sinn wie im wirklichen Leben auch in der Saga
nur erraten. Gern malt jene uns ihre Helden nach voraufgegangener
Charakteristik am Anfang der Erzählung kurz vor
einem bedeutenden Ereignis noch genauer aus. Darin engt
sich der Wirklichkeitssinn der Saga vielleicht am glänzendsten.
Wir beobachten die Gesichtszüge eines Menschen nie genauer,
als wenn plötzlich stark unser Interesse für ihn geweckt wird.
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Eine so einheitlich durchgeführte Weltauffassung, wie sie in
dem Eddaliede "Die Weissagung der Seherin" zutage trat, ist
in der Saga nicht zu finden. Von einer Ethik oder Moral in unserm
Sinne kann man schlechterdings nicht reden. Der Sieg
oder das Unterliegen eines Helden oder seines Gegners wird
niemals durch die Güte des einen oder die Bosheit des andern
bedingt. Auch der edelste Held siegt nicht, weil er gut ist, und
der nichtswürdigste Wicht fällt nicht, weil er schlecht ist. Eine
solche Auffassung wäre den Gestalten der Saga vollkommen
fremd. Sie finden es ganz natürlich, daß auch der Böse siegen
kann, wenn er sich durchzusetzen weiß, und daß der Gute
unterliegen muß, wenn er seinen Willen nicht durchdrückt. Die
Stärke der Persönlichkeit gibt den Maßstab des Wertes.
Der unversöhnliche Haß gegen den Widersacher schließt bei
dem Helden nicht aus, daß er jenem in Gedanken Gerechtigkeit
widerfahren lassen kann. Die Feindschaft des Gegners
erscheint ihm oft natürlich, und seine tüchtigen Eigenschaften
läßt er auch trotz der größten Erbitterung gelten. Ja nicht
selten zeigt ein Held im Bewußtsein der eigenen Kraftfülle
Hochherzigkeit und Edelmut gegenüber dem Widersacher. In
dem zähen Bestreben, ihren Willen durchzusetzen, sind doch
Freunde wie Feinde einig.
Einen solchen Standpunkt erkennt der alte Isländer auch
beim Gegner immer an. Er ist vielleicht einmal von einem
andern durch einen Eid zur Hilfeleistung verpstichtet und sieht
spät, daß man ihm verschwieg, es ginge gegen eine
Übermacht. So sehr er sich nun geschädigt fühlt, die Cist des
andern kann er nicht unberechtigt finden. Er selbst würde sie
zur Durchsetzung seiner Pläne jederzeit selbst anwenden.
In jener wilden Zeit eines Kampfes aller gegen alle ist der
Eid oder das gegebene Manneswort der einzig sichere Halt.
Nur wer sie verletzt, erscheint als ein"Neiding" und wird von
Freund und Gegner verachtet. Als am unverbrüchlichsten gilt
der von Blutsbrüdern geleistete Schwur. Wo die Schwurbruderschaft
mit der Liebe zu demselben Mädchen in Widerstreit
gerät, da hat die Saga ihre tragischsten Konflikte.
Eine heiße unwiderstehliche Neigung zum andern zum andern Geschlecht ist
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bei den Frauen doch häufiger als bei den Männern. Die Liebe
in der Ehe ist vom Mann aus fast immer auf die praktische
Umsicht der Hausbau gegründet. Die Liebe zu Vater, Sohn
und Bruder als den natürlichen Stützen des Geschlechtes ist
selbst den härtesten Männergestalten eigen. Neben der Eidestreue
ist die Blutrache vornehmste Pflicht des Mannes. Beide
sind aber im lesten Grunde auf keine ethische Erwägung gegründet
, sondern entspringen dem Selbsterhaltungstrieb, der
in Sippe und Freund einen Ouell der eigenen Kraft sieht.
Daß trotz der größten Willenskraft der Entscheid über Sieg
und Untergang nicht immer von ihnen selbst abhängt, das
wissen auch die tapfersten Helden. Nicht nur den Fall des
Gegners können sie mit eisigem Spott behandeln, auch den
eigenen Untergang ertragen sie mit grimmigem Humor. Sie
scherzen noch im Tode und haben für ein lächerliches Mißgeschick
, das etwa in diesem Augenblick dem Gegner zustößt;
immer noch ein Lachen übrig.
Die tragische Ironie, die im Mißlingen ihrer großartig
angelegten Taten liegt, empfinden die Sagahelden oft selbst.
So sprach der weise Njal seine trüben Ahnungen aus. Sehr
häufig kündigt sich in Träumen der Hauptpersonen das kommende
Verhängnis an. Oder die Schutzgöttin eines Helden
und seines Geschlechtes verläßt jenen. Hat ein Sagaheld trotz
aller Willenskraft sich nicht behaupten können, dann gilt er als
"Unglücksmann". Selbst diese Kraftnaturen, denen Lebenskraft
und Lebensluft alles ist, fühlen sich dem Zufall gegenüber
ohnmächtig. "Niemand kann gegen sein Schicksal ankämpfen
" —so denkt auch der Stärkste.
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Doppelkrater mit Schwefelquellen auf der Höhe der Krasla. Nordisland
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10. Die Familiengeschichten
Den Charakter des isländischen Heldenzeitalters spiegeln
am besten die "Familiengeschichten" wieder. Sie bilden
den Hauptteil von "Thule" .
Die Heldengestalten der fünf großen Sagas kennen wir bereits
. Die äußerste Grenze, bis zu der die Taten eines Njal
und Egil, eines Goden Snorri und Grettir, sowie der Heldin
Gudrun aus dem Lachstal gehen, ist das Jahr 1030.
Damals starben kurz hintereinander Snorri und Grettir.
Dieser war nach 990, jener nach 960 geboren. Noch eine Generation
weiter rückt dann Njal. Seine Geburt fällt 950. Nur
der Skalde Egil reicht noch in die Zeit vor der Gründung des
Freistaates. Er ist um 900 geboren. Aber seine größten Taten
fallen auch in die Epoche nach 930. Vorher teilt er noch den
Ruhm mit seinem Vater Skallagrim auf Island und seinem
Oheim in Norwegen.
Dies chronologische Verhältnis kehrt ähnlich in allen Familiensagen
wieder. Was aus dem Zeitalter der Landnahme
und aus dem Norwegen Harald Haarschöns in den Sagas berichtet
wird, betrifft die Ahnen ihrer Helden, nicht diese selbst.
Dagegen ist das letzte Menschenalter seit der Einführung des
Christentums im Jahre 1000 oft noch der Tummelplatz ihrer
gewaltigsten Taten. Durch nichts unterscheidet sich das Heldentum
jener ersten christlichen Zeit von den beiden ersten Menschenaltern
der Republik, wo das Heidentum noch anerkannte
Staatsreligion war.
Zehn Jahre vor Einführung der neuen Lehre auf dem Allthing
wurde Gunnar von Haldenende ermordet. Zehn Jahre
nach der Annahme des Christentums findet der große Mordbrand
statt, dem Njal und sein ganzes Geschlecht erliegt. An
großartiger Wildheit sind diese Szenen ganz gleich. Um 950
ruht Egil von seinen Jugendkämpfen in Norwegen auf Island
aus. Um 1030 besiegelt der junge Grettir mit dem Tode
sein unausgesetztes Kriegerdasein. Das Bild des jungen altisländischen
Helden hat sich in der Saga während eines
Jahrhunderts kaum verändert.
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Die Sagazeit ist in Deutschland die Periode der sächsischen
Kaiser. Hier wie überall im Süden von Europa herrscht bereits
das Christentum, und die heidnische Dichtung hält sich,
soweit sie noch da ist, mühsam neben der geistlichen Poesie.
Messiaden vertreten das einheimische Volksepos. Als dieses
dann zur Zeit der Staufer eine Wiederauferstehung erlebt
, ist das altgermanische Bild stark beeinträchtigt. In den
isländischen Familiengeschichten des zehnten Jahrhunderts
dagegen lebt es in unvergleichlicher Treue.
Der Schauplatz dieser Erzählungen ist Island selbst von den
blühenden Siedelungen der Landnahmemänner bis zu den
wüsten Hochebenen des Innern. Außer den Gestalten der Vorfabel
bewegen sich freilich) auch die Helden selbst auf ihren
Jugendfahrten oft im Ausland. Aber der Schwerpunkt ihrer
Taten und Leiden liegt in der Heimat. Selten nahmen die
Wikingfahrten im Ausland einen solchen Umfang an wie
beim Skalden Egil. Er durchschweift den ganzen Norden
Europas. Seine Geschichte wie die der anderen Skalden
nähert sich schon dem Stil jener isländischen Sagas, die die
Taten der norwegischen Könige erzählen.
Jede Gegend auf Island hatte ihre besondere Saga. Aber
die Sagamänner kamen weit im Lande herum. Bei den alljährlichen
Zusammenkünften auf dem Allthing besonders fand
mannigfacher mündlicher Austausch statt. Dabei ging wohl
manche Begebenheit von der einen Geschichte in die andere
über. Personen aus den verschiedenen Sagas wurden miteinander
in Zusammenhang gebracht. Stil und Erzählungsart
der Familiengeschichten bekamen dadurch schon im Heldenzeitalter
eine große Einheitlichkeit,
Durch die sorgfältig allerorts überlieferten Geschlechtsverzeichnisse
war die Sicherheit der Überlieferung verbürgt. Ganz
Island wurde durch jene wie eine große Familie zusammengeschlossen
. Sehr häufig treten Mitglieder derselben Familie
als Helden in verschiedenen Sagas auf. Ein Verwandter
Egils, der Skalde Björn, wird Held einer neuen Geschichte.
Eine Gestalt wie der Gode Snorri gibt in einer Reihe von
Sagas eine bemerkenswerte Gastrolle.
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Die schriftliche Aufzeichnung hat dann vollends alle Sagas
später zum Gemeingut des ganzen Volkes gemacht. Aber
die Redaktion bei der Niederschrift folgte auch nur wieder
der alten Fabulierkunst, die schon in der Sagazeit selbst
zur Vereinheitlichung des ganzen Sagagebietes tätig war.
Am kunstvollsten sind die fünf großen Familiengeschichten
aufgebaut. Sie boten schon im alten Island der gelehrten
Generation des dreiehnten Jahrhunderts ein ausgeprägtes
Gemälde der Wikingerzeit. So bildeten sie auch für die Schilderung
von Staat und Familie, von Kriegertum und geistigem
Leben den natürlichen Hintergrund.
Das Kulturbild der großen Sagas erweitern die kleineren
Geschichten in den Grundzügen nicht wesentlich. Aber im einzelnen
wird es selbst in den kürzesten Erzählungen durch
manche glückliche Kleinmalerei bedeutend ergänzt und vertieft.
Gerade weil die kleineren Sagas nicht das monumentale
Gepräge der großen Geschichten haben, wirken sie auf
einen unbefangenen Leser noch mehr wie jene mit der treuen
Naivität der alten seit.
Die großen Sagas berührten sich, trotz ihrer grundlegenden
Verschiedenheit, in dem heroischen Charakter ihrer Haupt
personen mit der Edda. Auch die reiche Verwertung von
Skaldenstrophen zur Ausmalung der seelischen Vorgänge im
Charakter der Helden erinnert an die mythische Dichtung.
Im Süden entstand die Saga von Njal, die von Grettir
im Norden. An den schönen Buchten des Breitfjords im Westlande
spielen die Geschichten vom Goden Snorri und von den
Leuten aus dem Lachstal. Die denkwürdigste Stätte des
Westens ist Borg. Hier; nahe einer Bucht des herrlichen
Faxafjords, an dem jetzt die Hauptstadt Reykjavik liegi, war
der isländische Schauplatz der Saga vom Skalden Egil. Von
dem starken Geist der aus Norwegen mitgebrachten ältesten
Eddadichtung sind auch seine Lieder am mächtigsten erfüllt.
Sie war schon in der Sagazeit im Westland und in den an-
grenzenden Teilen des Nord- und Südlandes besonders
heimisch.
Aber in der Zeit der schriftlichen Aufzeichnung war auch gerade
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in diesen Gegenden das Interesse für die Erhaltung der
Sagas besonders lebhaft. Hier lagen vor allem die gelehrten
Schulen, hier neben dem Norden die besten Klöster. Nirgend
war der Boden so günstig für eine monumentale Gestaltung
des Sagastoffes, wie sie gerade die fünf großen Geschichten
zeigen.
Von den kleineren Familiengeschichten stehen ihnen die"Skaldengeschichten
und die "Geschichten von Achtern und Blutrache"
am nächsten. Der Geist Egils durchweht die ersten, der
Geist Grettirs die letzten. Empfangen die Skaldengeschichten erst
durch die dichterische Tätigkeit ihrer Helden die volle Weibe,
so ist in den Geschichten von Achtern und Blutrache das isländische
Kriegertum ganz im heroischen Stil der großen Sagas
gemalt. Auch sie spielen alle im Westen oder in dessen
Nachbarschaft.
Je mehr der Norden Schauplatz der Saga wird, verliert äch
der heldenhafte Charakter. Schon in den Sagas des westlichen
Nordlandes tritt neben großzügigem Heldentum eine siegreiche
Bauernpfiffigkeit der Personen als Lieblingsvorwurf
der Darstellung hervor. In den Geschichten aus dem östlichen
Nordland nimmt das bäuerliche Wesen der Gestalten zu.
Auch hier erscheint noch unbändiges Kriegertum, wie es die
alte Zeit verlangte. Aber die bei allem Bauerntum ritterlichen
Kämpferfiguren des Westlandes ersetzen dort mehr
kondottierenhafte Haudegen. Auch wo jene Männer des Skaldensangs
noch mächtig sind, spielt er doch im Zusammenhang
ihrer Taten eine untergeordnete Rolle.
Am kleinbäuerlichsten ist dann der Saga-Hintergrund der
Geschichten von den Ostlandfamilien. Kleine nichtige Fehden
tragen hier oft etwas Spießbürgerliches in die Handlung hinein
Aber dem wirklichen Leben kommen sie gerade am nächsten
. Sie machen am meisten den Eindruck der mündlichen
Erzählung.
Auch dem Charakter der Landschaft entspricht diese allmähliche
Wandlung des Sagastils von heldenhafter Größe zu kleinbäuerlicher
Einfachheit.
Wir schilderten Neu-Island vom einfacheren Süden und Osten
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die Nordküste entlang bis zu den reicheren Kulturstätten des
westens. Man muß den umgekehrten Weg um Alt-Island
einschlagen, will man den Schauplatz der genannten fünf
Gruppen kleinerer Familiengeschichten in "Thule" sich vergegenwärtigen
.
Am schönen Borgfjord der Westküste spielt die bekannteste
der Skaldensagas, die Geschichte von Gunnlaug Schlangenzunge.
Sie schildert ein prächtiges, aber leider tragisch endendes
Liebesidyll zwischen ihm und der Enkelin Egils, der schönen
Helga. Und am winterlichen Eisfjord, im äußersten Nordwesten,
ist die Saga heimisch, die in dem alten lahmen Helden Havard
die rauhe Pflicht der Blutrache am erschütterndsten darstellt.
An der Nordküste, wenig landeinwärts, im anmutigen Vatnsdal
oder "Seetal", hauste Jngemunds schicksalbegünstigtes
Geschlecht, das wir schon aus der Darstellung des Besiedlungsbuches
kennen. Nach Osten zu schneidet dann tief in die Nordküste
der Inselfjord, an dem jetzt Islands zweite Hauptstadt
Akureyri liegt.
Alle Helden jener Gegend überragt der berserkerhafte Haudegen
Glum. Er weiß zwanzig Jahre hindurch mit List und
Gewalt seine ganze Umgebung in Atem zu halten.
Weniger kämpenhaft; aber seelisch reizvoller als alle diese
Geschichten wirkt die schönste der Geschichten von den Ostlandfamilien
, die Saga vom Freyspriester Hrafnkel. Dieser kleinbäurische
Selfmademan mutet uns schon beinahe modern an.
Durch den klaren Gang der Handlung und die Einfachheit
der Darstellung wirkt die Geschichte von Hrafnkel ursprünglich
wie die Saga von Gunnlaug Schlangenzunge. Über diese Erzählung
aus der Heimat Egil Skallagrimssons ist schon ein
leiser Hauch mittelalterlicher Romantik gebreitet. Es ist die
anmutigste Liebesnovelle des isländischen Heldenzeitalters.
Die Strenge des isländischen Familienlebens ließ für erotische
Abenteuer wenig Raum. Liebesverhältnisse habenin der Darstellung
der Saga fast immer etwas Peinliches. Sie führen zum
Streit mit den Verwandten des Mädchens, die dessen Ehre mißtrauen.
Es entspricht ganz dem Wirklichkeitssinn der Familiengeschichten,
wenn Liebeshändel als Hauptmotiv der Dich vor
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allem in den Skaldensagas auftauchen. Der bewegliche und
leichtentzündliche Dichtergeist hat sich natürlich am schwersten
mit der starren Solidität jener geschlechtsstolzen Bauernaristokratie
abgebenden.
In dem Leben des großen Tatenmenschen Egil war wenig
Platz M sanftere Stimmungen. Auf ihn wirkte die Liebe eher
wie eine lästige Krankheit. Um so mächtiger lodert die Leidenschaft
auf in den beiden Skaldensagas des Nordlandes. Sie
füllt die Jugend des"Königsskalden" Hallfred auf Island aus.
Sein Liebesverhältnis zur schönen Rolfinna und die Plänkeleien
mit ihren unzufriedenen Verwandten bilden ein farbenprächtiges
Vorspiel für die großen Taten und Erfolge beim norwegischen
Herrscher. Mit dämonischer Kraft aber ist Kormak "der
Liebesdichter" an die schöne Steingerd gefesselt, obwohl sie andern
Männern als Gattin gehört. Ruhelos eilt er zwischen den
Kriegstaten und Gesängen am Hofe ausländischer Fürsten stets
wieder in ihre Nähe. Noch kurz vor seinem ruhmvollen Tode
im Zweikampf hat er die Geliebte besungen.
Von starker Liebe zur schönen Oddny ist Egil Skallagrims
Verwandter Björn aus Hitardal beseelt. Aber er hat auch
einen innigen Freundschaftsbund geschlossen, wiesein großer Gesippe
einst mit Arinbjörn. Sein Gefährte Thord heiratet Björns
Geliebte, indem er verbreiten läßt, jener sei auf dem Wikingzug
gefallen. Als Björn aus Norwegen zurückkehrt, folgt scheinbare
Versöhnung. Björn wird sogar im Haus des Freundes
aufgenommem Aber die Nebenbuhlerschaft bricht zunächst in gehässigen
Liedern zwischen ihnen aus, bis zuletzt Björn der Oddny
halber durch Thord im Kampfe fällt.
Diesen Konflikt zwischen Liebe und Freundschaft hat auch die
Saga von Gunnlaug Schlangenzunge so ergreifend ausgestaltet
.
Das düstere Schicksal, das Egils Enkelin bestimmt ist, kündet
sich in einer Fülle von Träumen an. Am Hofe des Schwedenkönigs
hat Gunnlaug seinen Gegner und Nebenbuhler Hrafn
kennen gelernt. Der Sängerkrieg der beiden Skalden dort ist
ein Vorspiel ihrer beginnenden Feindschaft.
Auf dem Allthing trifft Gunnlaug Helga mit Hrafn vermählt
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Im Zweikampf wollen äch die Gegner dort messen, aber er
muß abgebrochen werden, weil ihn das neue Staatsgesetz verbietet.
So fechten sie fern in Norwegen ihre Sache aus und
fallen beide.
Die Saga ist eine kleine Schicksalstragödie. Die Schönheit
Helgas hat all das Unheil herbeigeführt. Es wäre verhütet
worden, hätte ihr Vater Thorstein sie, wie ihm die Träume
rieten, als Kind schon ausgesetzt. In zweiter freudloser Ehe
läßt sie die Saga am Schluß immer an Gunnlaug gedenken.
Er ist es wert — ein Mann vom Schlag der alten Helden. Aber
auch auf Hrafn, ihren ersten Gemahl, fällt kaum ein Makel.
Man kann ihm nicht grollen, wenn er treuherzig selbst erklärt,
nur die Liebe zu Helga hätte ihn die Treue gegen seinen Freund
Gunnlaug brechen lassen.
Die kleinen Skaldensagas mit ihren bedeutsamen Frauengestalten
ergänzen wirkungsvoll die Verherrlichung starker
Männlichkeit in der Geschichte von Egil. Auch die Saga von
Grettir dem Starken hat in den Geschichten von Achtern und
Blutrache lebensvolle Gegenstücke gefunden.
Von der wilden Tatenlust Grettirs ist auch Hard, Grimkels
Sohn, aus dem Südwesten der Insel, beseelt. Er erinnert in
seiner Jugend an die Kämpennaturen der Heldenromane. Mit
Odins Hilfe gewann er ein verhängnisvolles Schwert, das seinem
Besitzer den Tod bringt. Geächtet aber macht er wie Grettir
von einem entlegenen Holm aus seine Raubzüge in die Umgegend,
als Führer von zwölf Genossen, den "Holmleuten",
bis er im Kampf untergeht.
Nicht so kriegerisch geartet wie Grettir und Hard zeigt sich
im Nordwesten Suis Sohn Gisli. Er ist durch das Schicksal,
nicht durch seine eigene Abenteuerlust, zum unsteten Flüchtling
geworden. Gislis ganzes Wesen ist eigentlich auf Frieden
gestellt. Er ist ein geschickter Landwirt und vortrefflicher
Handwerker. Treu und ehrlich hält er zu seinen Freunden.
Aber gerade dies, die Liebe zum Bruder seiner Frau, stürzt ihn
ins Verderben. Um an diesem Blutrache zu nehmen, muß er
seinen anderen Schwager töten, den Gemahl seiner Schwester,
die ihn dann verrät. Ihr zweiter Mann erzwingt Gislis Ächtung,
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daß er fortan ruhelos umherirren muß. In schwermütigen
Träumen und Dichtungen, die schon hie und da
christliche Anwandlungen zeigen, bricht sich des mutigen und
doch so weichen Mannes Sorge Bahn. Treu aber folgt ihm
seine tapfere Gattin Aud in die Einsamkeit, ein Gegenstück zu
Bergthora, der Gemahlin Njals. Aud fürchtet den Zorn seiner
Feinde nicht und steht ihm noch im Augenblick seines Heldentodes
bei.
Auch die gewaltigen Mordbrände und Fehden der Geschichten
von Njal und vom Goden Snorri finden sich in den kleinen
Geschichten des Westens wieder.
Die Erschlagung eines Mannes hatte den gewaltigen Hochlandskampf
im Nordwesten zur Folge, der auf Tvidögra, der
"Zweitageheide", ausgefochten wurde. Diese Feldschlacht war
nur durch Snorris kluge Vermittlung beigelegt worden. Im
Südwesten gab sogar der Geiz eines reichgewordenen Hühnerhändlers
die Ursache zu erbitterter Fehde. Während einer Mißernte
hatte ihn der edle Häuptling Blundketil gezwungen ihm
Heu von seinem Vorrat zu verkaufen. Da hetzt jener einen anderen
Häuptling auf ihn, und in einem furchtbaren Mordbrand
wird Blundketil mit allen seinen Mannen vernichtet. Der Streit
zwischen den feindlichen Parteien endet erst, da Totschlag und
Friedlosigkeit auf dem Allthing die Schuldigen trafen.
Skaldensaga und Saga von Blutrache reichen sich am nachbarlichsten
die Hand am rauhen Eisfjord auf der nordwestlichsten
Halbinsel Islands, die schon fast grönländischen Carakter
trägt.
Dort dichtet der junge Skalde Thormod feurige Liebeslieder
auf ein schwärbrauiges Mädchen. Später aber ruft ihn die Botschaft
vom Tode seines Freundes Thorgeir nach Grönland. Er
ruht nicht, als bis er diesen durch die Vernichtung seines Mörders
und andere Bluttaten gerächt hat. Thormod fällt selbst
später als Held im Dienste König Olafs des Heiligen. Vorher
hat er noch dem toten Freunde ein herrliches Grablied gedichtet.
Und doch hatten sie sich zuletzt veruneinigt. Aber Thormod und
Thorgeir hatten einst Blutsbrüderschaft geschlossen. Ihre
Pflicht ist es, die die Saga wundersam verherrlicht.
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Der Wasserfall Brüarfoß in Südisland
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Die Verpflichtung der Verwandtschaft zur Blutrache ist in
der Geschichte des alten Havard vom Eisfjord am ergreifendsten
dargestellt. Wie in der Njalssaga erfahren wir vom Haupthelden
nichts über seine Jugendtaten. Mer der Vulkan in
seinem Innern, der ihn nach der Erschlagung seines Sohnes
Olaf nicht zur Ruhe kommen läßt, zeigt die gewalttätige
Natur, die ihm früher innegewohnt haben muß. Jahrelang
liegt der Alte lahm im Bette und muß sich mit dem Gedanken
an Rache begnügen. Und ihm beigesellt ist die energische Frau,
die ihm die Schmach des Geschlechtes ständig vorwurfsvoll
vorhält. Ihm stand nicht wie dem alten Njal ein Skarphedin
nr Seite, der die Rachepflicht übernehmen konnte. Als ihm dann
endlich die Vernichtung des verhaßten Gegners gelingt, muß
er noch in seinem Alter die Heimatgegend verlassen.
Alle diese Sagas schildern die Geschichte einer Hauptperson.
Mehrere Generationen durchläuft die Saga von den Leuten
aus dem Seetal, die schönste der westlichen Nordlandsgeschichten
Eine Geschichte, die durch mehrere Menschenalter ging, war
schon die Lachstalsaga. Zwar ihrer Heldin Gudruns Geschlecht
wird erst spät in die Handlung eingeführt. Aber die Lichtgestalt
des jungen Kjartan, ihres Geliebten, ist schon durch
wei glänzende Vertreter des Geschlechtes vorbereitet. Höskuld
, ein Nachkomme Kolls aus der Schar jener berühmten
Heldin Aud aus dem Besiedlungsbuch, hat mit einer gefangenen
irischen Königstochter Melkorka Kjartans Vater Olaf Pfau
gezeugt. Dieser stolze und prachtliebende Häuptling war es,
in dessen bildergeschmückter Halle die Skalden sangen. Durch
ihn ist freilich auch das Unglücksschwert "Fußbeißer" in das
Geschlecht gekommen, mit dem Ballt, Gudruns Gemahl, später
auf deren Geheiß den jungen Kjartan fällt.
Glück und Unglück beherrschen so auch Jngemunds, des Seetalhäuptlings
Geschlecht, Generationen hindurch. Wir kennen
ihn schon aus der Landnama. Unter glücklicheren Auspizien
als die andern Siedler, in Freundschaft mit dem gefürchteten
König Harald Haarschön, war er nach Island gezogen. Die
Weissagung, die ihm noch in Norwegen durch die Seherin
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ward, erfüllt sich auf Island. Vater, Sohn und Enkel herrschen
glücklich und weitgeachtet in der ganzen Gegend.
Zwar mit blutigen Fehden ist auch das Leben dieses Geschlechtes
ausgefüllt. Vor allem gerät der haderlustige weite
Sohn Ingimunds, Jökul, mit dem starken Finnbogi aus der
Nachbarschaft in ununterbrochenen Kampf. Die nach ihm benannte
Saga hat jenen starken Helden mit übernatürlichen
Kräften ausgestattet und ließ ihn im Auslande die berserkerhaftesten
Taten verüben. Sie hat Finnbogis und Jökuls Zwist
in noch abenteuerlicheren Farben gemalt als die Saga der Leute
aus dem Seetal.
Hochherzigkeit und Klugheit ist immer auf die ältesten Söhne
von Ingimunds Geschlecht übergegangen. An ihnen hat sich vor
allem die Weissagung der glückbringenden Schutzgöttin erfüllt.
Aber wie die Lichtgestalten der Egilssaga, Thorolf, Oheim
und Neffe, ereilt auch die der Seetalgeschichte ein tragischer
Tod. Den alten Ingimund, der im menschenfreundlichen Bestreben
, einen Hader mit Nachbarn zu schlichten, heimtückisch
niedergestreckt wird, und seinen gleichnamigen Enkel, der so
schön war, daß alle Mädchen des Seetals, wie es im Liede
hieß, nur mit ihm geben mochten.
Der romantische Glanz, der die Geschichten von Ingimund
und noch mehr von Finnbogi umstrahlt, fehlt den andern
Sagas dieser Gegend.
Mit köstlichem Humor ist in der Saga Ofeigs der Sieg durchtriebener
Bauernschlauheit über mächtige Gegner dargestellt.
Dieser alte geriebene Fuchs greift wiederholt und immer mit
Erfolg in die Prozesse ein, die sein reichgewordener und vielbeneideter
Sohn mit eifersüchtigen Nachbarn hai. In Wirklichkeit
sind diese Bundesbrüder", wie die acht Häuptlinge
nicht ohne pikanten Scherz in der Saga beißen, gar nicht so
einig, wie sie tech in ihrem Haß gegen Ofeigs Sohn geben.
Durch Bestechung und schlaue Ausnutzung der Schwächen dieser
Ehrenmänner macht der Alte alle ihre Umtriebe zuschanden.
Aber nur mit Worten wird gestritten. In der ganzen Saga
fließt kein Blut. Diese Männer leben nicht mehr im Heldenzeitalter.
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Die Saga vom durchtriebenen Ofeig istdie einzige Familiengeschichte
, die erst um 1050 entstanden ist. Sie zeigt die Wandlung
an, die sich in den beiden ersten ruhigeren Jahrzehnten des Christentums
in dem Charakter des Volkes allmählich vollzogen hatte.
Ein Kranz von Sagas umgibt im Nordosten den Inselfjord.
Hier herrscht noch Fehde und Blutvergießen. In Reykjadal
und Svarfadardal, am Ljosavatn, dem "Lautersee", überall
spielen erbitterte Kämpfe zwischen den einzelnen Geschlechtern
. Man denkt dabei an den Zwist der Leute von Eyr mit den
Männern vom Schwanenfjord aus der Saga des Goden Snorri
zurück. Vor allem erinnern an diesen die Fehden der Esphölinger
mit dem Geschlecht des Haudegen Glum".Mut und Verschlagenheit
sichern ihm wie am Breitfjord dem Goden Snorri
lange den Erfolg gegen alle Gegner. Aber eine weitblickende
Natur wie jener ist er nicht.
In Glum ist ein berserkerartiges Draufgängertum mit ausgesuchter
Hinterlist gepaart. Jenes läßt ihn über alle Gegner
triumphieren, diese zwingt ihn schließlich im Alter noch aus
seiner Heimat zu gehen.
Aus blöder und träger Jugend ist Glum plötzlich in seine
Kraftnatur emporgewachsen. Die Saga verleiht ihm eine Ungeheuerlichkeit;
die an Egils dämonisches Auftreten in der Königshalle
erinnert. Als Glum von einem Gegner verhöhnt wird,
da bricht erin ein solches Lachen aus, daß sein Gesicht ganz
fahl wird und Tränen aus seinen Augen gleich großen Hagelkörnern
fallen. Der mächtigste Häuptling der Gegend war dem
Besitzstand der Mutter während Glurns Wikingfahrt ins Ausland
;u nahe getreten. Mit der Erschlagung von dessen Sohn
eröffnet der junge Glum seine Heldentaten.
Eigenartig berührt bei einem Helden wie Glum die unritterliche
Art, wie erden Totschlag eines Gegners von sich auf einen
andern Helden abzuwälzen sucht. Lange gelingt es ihm, die
ganze Nachbarschaft über den wirklichen Täter in Ungewißheit
zu halten. Ja er scheut sich nicht, in drei Godenbezirken
auf die in Opferblut getauchten silbernen Tempelringe einen
höchst zweideutigen Reinigungseid zu schwören, den man zu
seinen Gunsten auslegt.
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Verliert Glum durch dies selbstsüchtige Vorgehen bei uns an
Teilnahme, so gewinnt er sie einigermaßen wieder durch seine
Dichtung. Wie Gisli den Geächteten, verrät ihn sein eigener
Skaldensang. Was er sonst mit äußerster Hinterlist verbirgt,
kann er dort nicht zurückhalten. Diese tragische Ironie stimmt
uns milde. Wir haben ein Mitgefühl mit Glum wie mit dem
alten Egil, wenn er wie jener im Liede voll Lebensüberdruß
über das ibn erdrückende Alter klagt.
Der Skaldensang fehlt fast vollständig in den Sagas der
Ostlandfamilien. Sie bilden in ihrem prächtigen kleinbäuerlichen
Milieu eine Welt für sich, wenn sie auch bier und da in
die großen Sagas des Westlands übergreifen. So wird Gunnar,
der Töter Thidrandis, in der Lachstalsaga von Gudrun und
dem Goden Snorri vor den Folgen seines Totschlages sicher
nach Norwegen gerettet. Die Geschichten der Leute von der
"Waffenförde", von Thorstein dem Weißen und Thorstein
Stangenhieb, sie alle tragen untereinander mehr den Charakter
ein und derselben Saga als die Geschichten in den andern
Gegenden Islands.
Der Held der schö der Priester Freys, Hrafknkel,
eine eigensinnige, halsstarrige Bauernnatur. Er herrscht
als allmächtiger Gode in seiner Gegend. Dein Tempel seines
Gottes hat er das Roß Freymähne geweiht. Er hat geschworen,
jeden zu töten, der auf diesem heiligen Roß einen Ritt wage.
Die Erfüllung dieses Gelübdes bringt ihm Verfolgung auf dem
Allthing. Er muß sein Godentum in Jökuldal räumen und
findet in der Fremde eine neue Heimat. Dort kommt er bald
durch seine wirtschaftliche Tüchtigkeit zu neuem Wohl tand
und reichem Ansehen. Inzwischen haben seine Gegner aen
Tempel zerstört und das verhängnisvolle Roß vom Felsen
ins Meer gestürzt. Da erklärt Hrafnkel allen Glauben an eine
Gottheit für Unsinn. Er schwört dem Frey ab. Es gelingt ihm
aber in seinen alten Tempelbezirk zurückzukehren und an
seinen Gegnern gebührende Rache zu nehmen. Jetzt herrscht
der gottlose Mann als Gode mächtiger denn zuvor,
Ein rationalistischer Zug geht durch diese Saga, der ihr eine
so moderne Färbung verleiht. Hrafnkels Sieg bedeutet den
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Sieg der kraftvollen Menschennatur, die sich in allen Widerwärtigkeiten
des Schicksals durchsetzt.
Kleinere und engere Lebensverhältnisse schildern die Sagas,
die auf dem 980 von Island aus entdeckten Grönland spielen.
Einem dort entstandenen Eddalied erschienen der mächtige
Hunnenkönig Atli und seine Helden schon heroenhaft, wenn es
sie in den Verhältnissen einer isländischen Großbauemifamilie
schilderte. Eine noch bescheidenere Umwelt setzen die vielen
Abenteuer voraus, die der Held Thorgils aus der Saga von
den Leuten aus Floi auf Grönland erlebte, nachdem er, vergeblich
von seinem alten Schutzgott Thor in Träumen gewarnt
, in die fremde Glescherwelt segelte.
Aber ein frischer Zug, eine Robinsonstimmung herrscht in
den eigentlichen Grönländergeschichten. Mit naiver Fabulierlust
werden die neuen Wunderländer vorgeführt. Grönland mit
seinem Walreichtum und kostbaren Pelzwerk, mit seinen
Eisbären, die zum Geschenk für norwegische Könige verwandt
werden.
Das von Erich dem Roten entdeckte Land wird "Grünes
Land" genannt, um die Ansiedler anzulocken. Dann taucht gar
ein "Weinland" auf. Erichs Sohn Leif kommt an die nordamerikanische
Küste. Sein Begleiter, der Deutsche Tyrkir, giebt
dort den ibm aus Deutschland wohlbekannten Weinstock.
Schiffe werden mit köstlichen Trauben beladen und andere mit
den Ranken der Rebstöcke. Der Sagaerzähler stellt sie sich naiv
als Bäume und diese Schiffsmacht als eine Ladung Bauholz
vor. Auch die Indianer Kanadas tauchen auf ihren schnellen
Boten auf. Es kommt zum Kampf und friedlichen Warenaustausch
. Die erste Entdeckung Amerikas ist vor sich gegangen.
Das Kulturbild der Entdeckung Erichs des Roten und Leifs
ergänzt dann die Geschichte von Einars Sohn Sökkvir. Hier
sind wir schon in einer späteren Zeit. Ein Bischofssitz soll auf
Grönland errichtet werden.
Eine höchst ergötzliche Novelle spielt auf Grönland zur seit
König Haralds des Harten von Norwegen.
Fuchs der Listige ist ein virtuosenhafter Schiffsbauer und
noch genialer im Hausbau. Um seine Burg auf Grönland
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hat er eine künstliche Wasserleitung gelegt, die das Feuer löscht,
das die zum Mordbrand anrückenden Feinde seiner Vernichtung
sicher, angefacht haben.
Ebenso vielgewandt ist Fuchs in der Rede. Nachdem er zwei
Mannen des Norwegerkönigs, die ihm und der Ehre seines
Weibes zu nahe traten, getötet hat, teilt der Verwegene dies
jenem verkleidet in rätselhafter Rede mit. Vergebens sucht der
kluge König, der allein den Sinn des in Wortspielen versteckten
Bekenntnisses erraten hat, seiner habhaft zu werden.
Er ist längst auf und davon beim Dänenkönig.
Auch auf den Faröern haben die isländischen Familiengeschichten
ein interessantes Gegenstück. Selbst in diesen kleinen Verhältnissen
treten zwei Helden hervor, die ein ungewöhnliches
Interesse beanspruchen.
Sigmund ist fern der Heimat bei einem vornehmen, aber geächteten
Norweger in völliger Einsamkeit zum Helden herangereift.
Er hat im Dienst der Könige ander großen Schlacht
gegen die Seekrieger auf Jomsborg teilgenommen. König
Olaf Tryggvason hat ihn für das Christentum gewonnen,
Sigmunds Verwandter Thrand aber ist eimer Heide. Der
kluge ränkevolle Mann weiß alle Versuche Sigmunds und
nach dessen Tode auch andrer, die neue Lehre auf den Inseln
einzuführen, zuschanden zu machen. Selbst König Olafs des
Heiligen sonst so glückliche Bekehrungskunst versagt gegenüber
Thrand. Erst nach dem Tode des zähen und listigen Mannes
siegt endlich der neue Glaube.
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11. Die Königsgeschichten
Das norwegische Königtum, das an der Wiege des isländischen
Volkes und des isländischen Freistaates stand,
hat das ganze Heldenzeitalter hindurch auf die Verhältnisse
der Insel seinen Einfluß geübt.
Auch in der stolzesten Zeit ihrer Unabhängigkeit haben die
Isländer nie vergessen, daß in Norwegen ihre Kultur wurzelte
Dem Herrschertum des Mutterlandes hatte Harald Haarschön
die charakteristische Form gegeben. Sein Kriegsruhm, sein glänzendes
Gefolgschaftswesen, seine Protektion des Skaldentums
hasteten dauernd in der Phantasie des neuen Volkes. Während
der ganzen Besiedelungszeit blieb dieser König als Feind oder
Freund eine Macht, mit der man rechnete.
Kurze Zeit nach der Gründung des isländischen Einheitsstaates
war der Begründer des norwegischen gestorben. Nach
seinem Tode beginnt eine Zeit des Zwists unter seinen zahlreichen
Nachkommen. Schon die Söhne des Königs befehden
sich, und auswärtige Herrscher bekommen dadurch auf die Gestaltung
des Reichs vorübergehend Einfluß. An allen diesen
Kämpfen haben Helden der isländischen Sagazeit teilgenom
Allmählich wächst aus den hundertjährigen Unruhen in
Norwegen eine festere Gestalt des Einheitsstaates hervor.
Das bisher noch in Abhängigkeit vom Herrscher lebende
Kleinkönigtum, die Ouelle der ewigen Thronstreitigkeiten,
schwindet immer mehr. Unter Olaf Tryggvason und Olaf
dem Heiligen erfolgt durch harte Kämpfe und friedliche Mission
die Einführung des Christentums nr Norwegen. Das
Heiligtum in Nidaros wird der Mittelpunkt.
Dort; im heiligen Drontheim, ersteht, von Olaf Tryggvason
gegründet; von Olaf dem Heiligen weiter ausgebaut, die neue
Hauptstadt des Reiches. Die Königoresidenz ist gleichzeitig ein
lebhafter Handelsplatz, wo zahlreiche Isländer verkehren. In
den Jahren, wo Snorri und Grettir, die letzten großen Helden
des isländischen Freiheitsstaates, starben, fiel auch Olaf der
Heilige in der Schlacht bei Stiklestad.
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In die isländischen Familiengeschichten spielen die Ereignisse
des norwegischen Mutterlandes fortwährend hinein. Ihre
Handlung ist aufs engste mit jenen verflochten. Daher die
häufige Berufung auf norwegische Verhältnisse nr Zeitbestimmung
. "Als Hakon der Gute zur Regierung kam"" ,als
Jarl Hakon starb" : solche Wendungen finden sich oft zur Orientierung
an bestimmten Abschnitten der Erzählung.
Mit den Söhnen Harald Haarschöns liegt der Skalde Egil
in ständiger Fehde, wenn er sich auch bei Erich Anerkennung
und bei Hakon sogar Unterstützung in seinem Vermögensstreit
erzwingt. Der Feind und Nachfolger der Erichssöhne auf dem
Throne, Jarl Hakon, hat in Norwegen den Söhnen Njals
böse mitgespielt und diese zu töten versucht. Später aber ragt
in die Njalssaga wie in die Geschichte vom Goden Snorri die
mächtige Gestalt Olaf Tryggvasons hinein. Er steht hinter den
spannenden Vorgängen bei der Einführung des Christentums
auf dem Allthing. Am Hofe desselben Herrschers weilen Kjartan
und sein Freund Bolli aus der Lachstalsaga. Sie kehren
als Anhänger der neuen Lehre nach Island heim. Und endlich
bei Olaf dem Heiligen sucht Grettir vergeblich durch ein Gottesurteil
Befreiung von dem Verdacht des Mordbrands zu erlangen,
der später durch die Verurteilung auf dem Allthing
das Unglück seines Lebens wird.
Es gibt kaum einen größeren Gegensatz als die kriegerische
Stimmung, die Egils Aufenthalt in Norwegen bei den Söhnen
Haralds durchweht, und das Friedensidyll, das die Helden
der Lachstalsaga mit Olaf Tryggvason verbindet.
Diele beiden Kulturbilder veranschaulichen gut den Umschwung
, der sich allmählich in dem Verhältnis zwischen norwegischem
Fürsten und isländischem Großbauer vollzogen hat,
Die Jugend Egils durchzittert noch ganz die Erbitterung gegen
das Königsgeschlecht, das seine Ahnen zur Auswanderung
nach Island zwang. Kjartans Jugend richtet sich auf an dem
Glanz des norwegischen Herrscherhofes. Reich beschenkt und
von des Königs Schwester hochgeehrt kehrt er wieder in djs
Heimat zurück.
Bei aller Gegensätzlichkeit zeigen doch die Geschichten von Egils
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Vigabjargafoß der Jökulsá i Axarfirdi. Nordisland
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und Kjartans Aufenthalt am Königshofe das gleiche Hochgegefül
vaterländischen Stolzes.
Die Königsfamilie und ihr Anhang kann sich in der Geschichte
Egils nicht genug tun in Haß und Verfolgung gegen diesen
ihren gefährlichsten Gegner. Das Bewußtsein erfüllt alle, daß,
solange dieser Gewaltmensch lebt oder wenigstens in Norwegen
weilt; dem Königshause ständige Gefahr droht. In der
Lachstalsaga ist der König und sein ganzes Gefolge dem jungen
Kjartan zugetan. Alle stimmen darin überein, daß kein besserer
Mann je von Islands Gestaden herübergekommen sei. Beidemal
lebt bei den Ausländern das Bewußtsein, daß der isländische
Großbauernsohn ihrem König an Tüchtigkeit gewachsen
ist. Beidemal haben Auftreten und Taten des Isländers diese
überzeugung hervorgerufen.
Egil hat dem kriegsgewaltigen König Erich gegenüber, dessen
Tapferkeit erselbst im Liede anerkennen muß, in siegreichen
Fjordschlachten bewiesen, daß er dem Herrschergeschlecht ebenbürtig
ist. Aber noch größer ist seine Geistesgegenwart, als er,
nachdem er den König und seine Gemahlin Gunnhild mit
Spottversen überhäuft hat, in dessen Gefangenschaft gerät.
Hier singt er sein unerschrockenes Befreiungdlied.
Kjartan mißt sich unerkannt mit dem König im Schwimmkampf.
Er zieht ihn in die Tiefe, schont aber dann sein Leben.
Als er den Namen des Königs erfährt, macht dies auf ihn
keinen Eindruck. Und ebenso unerschrocken gibt er, zur Rede
gestellt, in der Königshalle zu, daß er dem Herrscher seiner
Bekehrungsumtriebe halber am liebsten habe das Haus über
dem Kopfe anzünden wollen.
Aber die Egilssaga wie die Lachstalsaga werden doch auch
der Ritterlichkeit der Könige gerecht.
Nicht nur Hakon der Gute läßt Egil trotz aller seiner Übeltaten
gegen sein Geschlecht Gerechtigkeit widerfahren. Auch
der sonst so grausame Erich Blutart schenkt dem Gegner edelmütig
das Leben. Und das Lob, das ihm der Skalde dafür
im Sange spendete, war verdient und kam aus dem Herzen.
Den gleichen Edelmut zeigt Olaf Tryggvason Kjartan gegenüber
. Schon als jener nach dem Schwimmwettkampf keine Notiz
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von seinem gekrönten Haupt nimmt, lohnt Olaf ihm doch
seine Tüchtigkeit durch das Geschenk eines prächtigen Mantels.
Indem er aber Kjartan auf sein freimütiges Bekenntnis des
beabsichtigten Mordbrandes hin edelmütig verzeiht, gewinnt
er ihn nach deßen eigenem Geständnis innerlich gan; und bereitet
seine Bekehrung vor.
Das schroffe Vorgehen Egils gegen das Königtum wird in
der Vorgeschichte seiner Saga schon aus der Zeit König Harald
Haarfchöns motiviert.
Die Geschichte von Egils Oheim Thorolf ist zugleich eine
Saga von jenem König. Es wird dort berichtet, wie Thorolf
beim König zu den höchsten Ehren aufsteigt und in seinem
Dienste die größten Taten vollbringt. Dann aber folgen Verdächtigungen
. Die Eifersucht erwacht bei dem König. Endlich
wird er von diesem getötet. Aber noch im Tode zeigt doch die
Anerkennung des Herrschers, wie er seinen Vasallen geliebt
hat.
Das Gemälde, das die Geschichte von Thorolf in der Egilssaga
hinstellt, ist nicht mehr im Stil der Familiengeschichten gehalten
. Hier haben wir bereits eine der vielen Sagas von norwegischen
Königen, deren Handlung auf dem Boden des Mutterlandes
den isländischen Ereignissen parallel geht. In ihnen
herrscht nicht das dortige Großbauerntum, sondern allein der
Wille des Königs, der im Kampf wie in der Festhalle nach
seinem Gutdünken straft und belohnt.
Gan; ähnlich wie Harald Haarschön sind die Könige Olaf
Tryggvason und Olaf der Heilige in ihren Sagas geschildert.
Auch hier haben wir dieselbe Einheit des Wesens. Der feigebigste
Edelmut gegenüber dem fügsamen Vasallen, die rücksichtsloseste
Härte in der Verfolgung des Gegners entspringen
auch bei ihnen dem Staatsgedanken, der in jenen kritischen
Zeiten keinen Widerstand duldet.
Auch in den Sagas dieser beiden Könige gerät ein norwegischer
Edler, Erling Skjalgsson, durch seinen stolzen und unabhängigen
Charakter in unlösbaren Konflikt mit der Herrschergewalt
, die ihn anfangs mit Geschenken und Ehren überhäufte.
Das Mißtrauen König Olafs des Heiligen diesem mit fürstlichem
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Gefolge auftretenden Manne gegenüber wird nie ganz
beigelegt, so oft auch wohlmeinende Vermittler Frieden zu
stiften suchen. Erling Skjalgsson schließt sich endlich, nachdem
er das Land verlassen hat, Olafs größtem Gegner, dem Könige
Knut von Dänemark und England, an. Von ihm unterstützt,
wagt er dann die Entscheidungsschlacht, die ihm den Tod
bringt. Aber der Sang von Olafs des Heiligen Lieblingsskalden
Sighvat ehrt den tapferen Gegner im Tode.
Von jenem Dichter gab es wie von Hallpred dem Königsskalden
eine besondere Saga. Es reizte die Isländer wohl frühzeitig
, diese beiden nächst Egil größten Dichtergestalten mit den
kräftigsten Herrschergestalten nach Harald Haarschön in einer
Saga zu vereinigen. Die Lebensdarstellungen Olaf Tryggvasons
und Olafs des Heiligen sind die ältesten und schönsten
Königsgeschichten. Sie bilden den Mittelpunkt von "Snorris
Königsbuch" in "Thule" . Die Preislieder der Skalden Hallfred
und Sighvat sind ihr höchster Schmuck.
Aber diese Skalden find auch Haupthelden der "Kleinen Novellen
aus der Umgebung der norwegischen Könige", die an
Stil und Umfang mehr den "Er;, blunden" unter den Isländergeschichten
entsprechen.
In den"Königsgeschichten" tritt der isländische Mann, meist
ein Skalde, in seiner Eigenschaft als Kämpfer und Dichter
großen Stils ebenbürtig neben den Herrscher, dem er dient.
Die"Königsnovellen" zeigen das einzigartige Vertrauensverhältnis,
das so oft Norwegerkönig und Isländerhelden verbindet
. Der kluge, schlagfertige, humorvolle Skalde darf sich,
besonders bei Herrschern, die geistig ähnlich geartet sind, mehr
erlauben als alle Männer in der Halle.
Olaf Tryggvason spricht den Skalden Hallfred in Drontheim
auf der Straße an und ermahnt ihn, das Christentum anzunehmen
. "Nur, wenn der König mein Pate ist", lautet die Antwort.
Der König willigt ein und hängt seitdem an dem Dichter,
der im Lied noch gern mit den alten Göttern liebäugelt, voll
starker Treue.
Ein vornehmes Weib am Königshof schenkt Olaf dem Heiligen
in der Nacht einen Sohn. Da das Kind schwächlich ist, verlangt
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ein anwesender Priester seine sofortige Taufe. Man bittet den
Skalden Sighvat, das Ereignis dem Könige zu melden, doch
dieser weigert sich, den schlafenden König zu wecken. Da der
Priester fürchtet, das Kind möchte unchristlich sterben, riskiert
es der Skalde, ihm selbst einen Namen zu geben und tauft es
"Magnus".
Am nächsten Morgen stellt der König den Skalden ornig zur
Rede. Der Dichter meint, er habe lieber zwei Menschen Gott
übergeben wollen als einen dem Teufel. Olafs Sohn würde
zum Herrn eingehen, und er selbst, der Skalde, hoffe es auch,
selbst, wenn ihn der König töten lasse.
Der König herrscht ihn weiter an wegen des seinem Geschlecht
so fremden Namens Magnus. Als aber Sighvat auf "Karl
den Großen"hinweist, den berühmtesten Herrscher, von dem die
Geschichte zu melden habe, da lacht Olaf der Heilige erleichtert
auf. Er bezeichnet seinen Lieblingsskalden als Glücksmenschen
und lobt seinen gescheiten Einfall.
Das Christentum der Könige Olaf Tryggvason und Olafs
des Heiligen tritt in diesen Anekdoten schon als selbstverständliche
Bedingung hervor. Es drückt auch ihren Sagas im
Königsbuch das charakteristische Gepräge auf.
Wir sehen dort Olaf Tryggvason mit dem alten Heidengotte
Odin im Gespräch. Sie unterhalten sich angeregt bis in die
tiefe Nacht hinein über alte Zeiten, aber der Versuch des
Heidengottes, Olaf Tryggvason wieder in den alten Glauben
hineinzuziehen, prallt machtlos an dessen christlicher Gesinnung
ab. Auf einem Weihnachtsfest zu Drontheim gibt der
König eine Probe von seinem schlauen und zielbewußten Vorgehen
bei der Bekehrung. Er lädt zwölf Häuptlinge und Großbauern
an seinen Hof und erklärt, sie ihren alten Göttern
opfern zu wollen. damit sie für immer mit diesen vereint sein
könnten. Die Gäste wissen den Gefallen, den ihnen der König
tun will, zu würdigen. Olaf Tryggvason hat es bei ihrer Bekehrung
leicht, sie zu überzeugen, daß ihre Anhänglichkeit
gegen die alten Götter denn doch hinter der Innigkeit des
Christenglaubens zurückstehe.
Mehr noch als auf seinen Vorgänger ist auf Olaf den Hei
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ligen bei der Niederschrift seiner Saga der Geist der mittelalterlichen
Kirche übergegangen. Den Herrscher, der nach einer
siegreichen Schlacht für die Seelen seiner toten Feinde Messen
lesen läßt, umgibt eine Fülle von Wunderglauben. Der heilige
Schrein, in dem seine Leiche ruhte, wurde in Drontheim
als Reliquie aufbewahrt. Zu ihm pilgerte man das Mittelalter
hindurch, als der Dom ein Mittelpunkt der nordischen
Christenheit wurde. Auch in den Sagas wirkt Olaf noch nach
dem Tode fort. Er erscheint noch später norwegischen Herrschern
und nordischen Männern ratend und helfend in Träumen.
Der christliche Heiligenschein, der Olaf Tryggvason und Olaf
den Heiligen umgibt, läßt doch nie vergessen, daß beide, auch
in der Verfolgung ihrer kirchlichen Ziele, echte Wikingergestalten
sind.
Wohl zeigen sie unter den Einfluß von Priestern und aus
eigener schlauer Berechnung gelegentlich Versöhnlichkeit und
ungewöhnliche Milde auch gegen Widerspenstige. Aber im
ganzen steht ihre Rücksichtslosigkeit bei der Ausbreitung der
neuen Lehre der in ihren politischen Machtkämpfen nicht nach.
Sie begnügen sich nicht, die Tempel zu verbrennen und die
alten Götterbilder zu zerstören, um Raum für christliche
Kirchen zu schaffen. Wo sie auf hartnäckigen Widerstand gegen
die neue Lehre stoßen, da gehen sie mit ausgesuchter Grausamkeit
vor. Verbannung, meist aber Verstümmelung der
Glieder oder Tod ist die Strafe der Schuldigen.
Das gleiche rücksichtslose Vorgehen wenden beide dem Ausland
gegenüber an. Der Aufenthalt vornehmer isländischer
Jünglinge in Norwegen nimmt besonders im letzten Menschenalter
der Sagazeit unter Olaf dem Heiligen bedeutend zu. Wenn
es nicht gelingt, die Isländer für die christlichen Zwecke. die
man mit ihnen verfolgt, gefügig zu machen, behält man sie im
Lande zurück. Schon zu Harald Haarschöns Zeit spielte das
Ausfahrtsverbot aller Schiffe aus den norwegischen Häfen in
kritischen Zeiten eine große Rolle. Mit der Gefährlichkeit der
inneren Zustände konnte jeder König, auch wenn er es nicht
mit den Ausländern verderben wollte, eine solche Hafensperre
stets rechtfertigen. Man hatte auf diese Weise Geiseln, die
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jederzeit getötet werden konnten, und gewann so auf die Bekehrung
Islands, Grönlands und der norwegischen Kolonien
leicht einen entscheidenden Einfluß.
Mehr noch als die Ausbreitung des Christentums nahmen
die politischen Kämpfe die ganze Heldenkraft der beiden Könige
in Anspruch.
Erling Skjalgsson, der Widersacher Olafs des Heiligen, war
keine vereinzelte Erscheinung des Widerstandes im Inland.
Die Selbständigkeitsgelüste der einzelnen norwegischen Landschaften
machten das Erscheinen der Herrscher bald im hohen
Norden bei den Helgeländern, bald im mittleren Gebirgsland,
bald im Süden am Kristianiafjord notwendig. Dazu traten
die Kämpfe mit auswärtigen Herrschern, die Olaf den Heiligen
sogar zwingen, das eigene Land zu verlassen und seine
Königsresidenz in Drontheim mit einem Aufenthalt bei seinem
Schwager, dem Normannenfürsten Jarisleif, ;u Nowgorod in
Rußland zu vertauschen.
Die Porträts, die die Saga von den beiden Königen entwirft
, lassen keinen Zweifel, daß sie nicht nur ihrer Geburt und
ihrem Rang nach wert waren, die Ersten in ihren Ländern zu
heißen. Ein ganz besonderer Glanz des Wikingertums umgibt
die Jugend und die letzten Lebensschicksale der beiden Könige.
Beide haben ein unstetes Wikingerleben geführt, ehe sie sich
in schweren Kämpfen die Anerkennung in Norwegen errangen.
Olaf Tryggvason ist in harter Jugend am Hofe des Normannenfürsten
Waldemar in Nowgorod aufgewachsen, hat als Wiking
in Rußland, Dänemark, Flandern und Friesland geheert,
das ganze britische Normannengebiet durchschweift und auf
den Scillyinseln in Südengland die Taufe empfangen. Auch
Olaf den Heiligen haben seine Jugendkämpfe dort überall hingeführt
Er hat mächtig auf der Themsebrücke in London gekämpft
und in Frankreich Fehden ausgefochten, bis ihm zu
Rouen in der Normandie ein Traum kündet, daß er um
König in Norwegen bestimmt sei,
Bei Svoldr an der pommerschen Küste fand die große Seeschlacht
statt, in der Olaf Tryggvason im Jahre 1000 der
Übermacht der Feinde erlag. Es war die Gegend, wo die wilden
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dänischen Wikinger von Jomsborg ihren Seeräuberstaat
gebildet hatten.
Allen voran focht der König, um den die Schildburg klirrte,
gegen die anstürmenden Dänen und Schweden, deren Herrscher
sich gegen Olaf verbündet hatten. Ihr norwegischer Bundesgenosse
, des Königs treuloser Jarl Erich von Lade, und Thorkel
, der das stolze Schiff Olafs führte, taten Wunder der
Tapferkeit. Von Wunden bedeckt sprang der Herrscher in die
Tiefe. Manche erzählten, der König sei gerettet. Doch der
Dichter glaubt es nicht! "Wehe, der Norwegerkönig ist tot.
Ehe werden Himmel und Erde zusammenstürzen, als solch ein
Mann wie Olaf wiedergeboren wird." So klang das Totenlied
Hallfreds des Skalden aus.
In des Skalden Sighvat Totenlied auf König Olaf den Heiligen
wird auch dieses Herrschers letzte Schlacht, die ihm das
Leben kostete, als seine höchste Ruhmestat gepriesen. Bei
Stiklestad im Drontheimfjord wollte König Olaf von den mit
Knut von Dänemark verbündeten norwegischen Großen sich
das Reich wieder ertrotzen, aus dem er nach Rußland hatte
flüchten müssen.
"Neben dem Bannerträger schritt der König. Zu wenig Mannen
brachte er, der das goldgezierte Schwert schwang, aus
dem Osten mit. Aber die Erde erdröhnte unter den Schritten
der erzgepanzerten Helden, die der Übermacht der Drontheimer
Bauern entgegenrückten. Das war ein Waffensturm
in Stiklestad! Die Bauern wagten nicht in Olafs stolze Löwenaugen
zu schauen. Die Drontheimer ertrugen nicht die Schärfe
seines Schlangenblicks. Das Volk griff seinen teueren König
an. Wehe, er fiel! So stark war die Macht der Freisassen und
des Bauernvolkes nie, daß sie einen solchen König töten
konnten."
An den Schlachten von Svoldr und Stiklestad hafrete das
Gedächtnis der Isländer. Ihre Skalden hatten sie besungen.
Aber auch König Knut von Dänemark und England, Olafs
des Heiligen großer Gegner, war ein Freund der Skalden.
Und in dem heißen Kampf von Lid-Vaag an der norwegischen
Küste, wo die Seekrieger von Jomsbarg den Norwegerkönig
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Hakon Jarl vernichten wollten, hatten vornehme
Isländer mitgefochten.
So entstanden auch Sagas, die den von dem Dänen Palnatoki
gegründeten Wikingerstaat in Pommern verherrlichten.
Und neben den Geschichten der norwegischen Könige erzählte
man auch von den Dänenherrschern, vor allem von Knut, der
letzten großen Heldengestalt des Wikingerzeitalters.
Die historisch sichere Regierungszeit der Herrscher gibt den
Königssagas noch mehr den Charakter geschichtlicher Wahrheit
als den Familiengeschichten. Die Zeit, in der jene spielen,
schloß mit dem Jahre 1030. Anderthalb Jahrhunderte länger
währt die Zeit für die alten Königsgeschichten und für die
diesen nahe verwandten Sagas von den ritterlichen Jarlm
auf den Orkneys. Alle diese Geschichten umspannen noch die
etwa fünf Menschenalter währende verhältnismäßig friedlichste
Zeit Islands nach dem Heldenzeitalter. Besonders die
"Kleineren Novellen aus der Umgebung der älteren norwegischen
Könige" treiben noch weit über die eigentliche Sagazeit
hinaus treffliche Blüten, wo die Geschichte vom durchtriebenen
Ofeig in den Familiengeschichten als einziger verspäteter
Schößling erscheint.
Vor allem am Hofe Haralds des Harten durften der Witz
und die Sangeskunst vornehmer Isländer sich geltend machen.
Dieser Herrscher war noch ein lebensvoller Nachzügler der
Wikingerzeit. Er hatte sich im Dienste der griechischen Kaiser
zu Konstantinopel hervorgetan. Mit einer tausend Mann
starken Elitetruppe von jungen Nordländern hatte er sich auf
Kriegszügen im Orient getummelt. Aber er war auch geistsprühend
und redegewandt. Er hetzt seine Skalden gern im
Lied und Wortgefecht aneinander. Er sieht einmal einen
Schmied und einen Gerber sich auf der Straße in Drontheim
zanken. Da läßt er sich jene durch scherzhafte Skaldenverse
in der Rolle von Sigurd und Fafnir und dann in der Thors
und eines feindlichen Riesen vorführen. Und der König freut
sich, als ein Skalde ihm seine eigene Saga aus Griechenland
vorträgt, die jener von einem isländischen Teilnehmer an Haralds
Kriegszügen auf dem Allthing hat erzählen hören.
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Kratersee an der Krafla. Nordisland
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12. Skaldentum und Skaldendichtung
Staat, Familie und Kriegertum hatten dem isländischen
Heldenzeitalter seinen einheitlichen Charakter aufgeprägt.
In der Eddadichtung war dieser mehr als"Dichtung und
Wahrheit", in der Prosaerzählung der Saga mehr als"Wahrheit
und Dichtung" hervorgetreten. In den isländischen Familiengeschichten
erscheint der isländische Großbauer vor uns
auf der Scholle seiner Heimat. In den Königssagas lernten
wir ibn als Wikinger im Ausland kennen. Immer mehr ragten
dabei im Verlauf der Darstellung, daheim wie in der Fremde,
aus dem übrigen Volke die Skalden heraus. In den Persönlichkeiten
dieser Männer hat der heldenhafte und künstlerische
Geist des alten Island seinen vielseitigsten Ausdruck gefunden.
Der kriegerische Sänger am Fürstenhof stand bei allen Völkern
des germanischen Altertums in hohen Ehren. Ihn feierten
die deutschen, englischen und skandinavischen Heldenlieder
gleichmäßig. Ganz natürlich erscheint es, wenn ein Kämpfer
und Dichter wie Egil in der Königshalle auftritt und seine
hohe Kunst bestaunt wird. Das war schon so in der germanischen
Urzeit. Aber wenn diese starke Seele alle Stimmungen ihres
reichen Innern im Liede wiederklingen läßt, dann ist schon
an die Stelle des Volkssängers der isländische Skalde getreten
.
In der Saga sprechen aber auch Grettir und Glum, ja Njal
und Snorri in Versen. Jeder Sagaheld kann in gehobenen
Augenblicken zum Dichter werden. Selbst Nebenpersonen und
Sklaven können sich der gebundenen Rede bedienen. Darin
offenbart sich jene angeborene Liebe zur Dichtung und jene
Lust, sich in ihr selbst zu betätigen, wie sie noch jetzt das neuisländische
Volk erfüllt.
Die Hochachtung der Dichtung auf Island zeigt sich schon in
der sorgsamen Weiterpflege der alten Eddadichtung. Dort wird
Odin als Meister und Beschützer der Skaldenkunst hingestellt.
Nach dem Mythus hat sich der Gott mit eigener Lebensgefahr
den Skaldenmet erobert, den vordem der Riese Suttung besaß
. Er war mit List in dessen Felsverließ gedrungen, hatte
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seine Tochter Gunnlöd in Liebe betört und das kostbare Naß
in Adlergestalt nach Walhall geführt.
Die Skalden spielen auf diesen geheimnisvollen Ursprung
ihrer Kunst oft in ihren Gesängen an. Sie fühlen sich stolz im
Schutz des höchsten Gottes.
Der seines Lieblingssohnes beraubte Egil hadert mit Odin,
dem Kriegsgott, daß er jenen im Meer ertrinken und nicht im
Schlachtentod nach Walhall kommen ließ. Aber dem Dichtergott
Odin ist er dankbar, daß er ihm vor allen andern die Kunst
verlieh. seinem Schmerz im Skaldensang Ausdruck ;u geben.
Auch die großen Kriegerhelden der Wikingerzeit, die in Odin
ihren Schutzgott sahen, stellte eine spätere Zeit sich als Skalden
vor. So den berühmten Normannmenkönig Ragnar Lodenhose
und den Wikingerkämpen Starkad am alten dänischen Königshof
zu Lejre.
Neben Odin taucht dann später ein Dichtergott Bragi auf.
In ihm haben sich die ersten Skalden selbst ein Denkmal gesetzt
. Der einige bedeutende Skalde vor Harald Haarschöns
Zeit trug diesen Namen. Ihn hat man später dem norwegischen
Olymp eingereiht.
In Südnorwegen, von wo die meisten norwegischen und isländischen
Skalden ihr Geschlecht herleiteten, hat Bragi an
Fürstenhöfen gesungen. Er hat die Bilder auf einem ihm geschenkten
kostbaren Schilde verherrliche, die Thors Fang der
Midgardschlange und andere Szenen aus der Helden- und
Götterwelt darstellten. Er sang ein Fürstenpreislied: "Die
Haupteslösung". So nannte man es, weil er dadurch sein Leben
aus der Gefangenschaft eines feindlichen Herrschers rettete.
Solche Dank- und Preislieder sind die ersten Skaldengesänge
gewesen.
Bragis des Alten Geschlecht war für die Skaldenkunst besonders
veranlagt. Aus ihm stammte Gunnlaug Schlangenzunge
auf Island. So hingen später Egil Skallagrimsson und sein
Verwandter Björn durch die Skaldenkunst eng zusammen.
Und noch im dreizehnten Jahrhundert stand Snorris Dichterbegabung
die andrer Männer aus dem Sturlungengeschlecht,
vor allem seiner Neffen Olaf und Sturla zur Seite.
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Der Stolz der alten Familien wurde in dem Bewußtsein der
Skaldenkunst aufs höchste gesteigert. Aus den edelsten Geschlechtern
stammten die Skalden. Kriegerische Tüchtigkeit war
Voraussetzung. Wie daneben bei den Isländern jede andere
Kunst hoch gewertet wurde, so auch die Dichtung. Ein erfinderischer
Häuser- und Schiffsbauer, ein kunstvoller Schmied und
Holzschnitzer stand in hohem Ansehen. Im höchsten der Skalde.
Die äußere Form der Skaldenkunst lernte man. Ein bestimmtes
Wissen war Vorbedingung, das sich von Geschlecht zu Geschlecht
im mündlichen Gedankenaustausch übertrug. Notwendig
war aber auch eine hohe Gewandtheit im sprachlichen
Ausdruck und eine große Geschicklichkeit in der Anwendung
glücklicher, dichterischer Bilder. Dazu trat endlich die genaueste
Vertrautheit mit den kunstvollen Weisen und Versen.
Das Wissen der Skalden umfaßte zunächst die Vergangenheit
. In den alten Götter- und Heldensagen sind jene Dichter
ebensogut ;u Hause wie die der Eddalieder. Vor allem aber
mußte der Skalde in der Gegenwart Bescheid wissen. Seine
Lieder waren stets Gelegenheitsgedichte. Er mußte genau
über die Verhältnisse und den Charakter der Männer orientiert
sein, vor denen er sang, um im Lied Erfolg ;u haben.
Dieser Erfolg konnte dem Skalden nicht gleichgültig sein.
Er sang um Lohn. Keine Kunst wurde auch materiell so hoch
gelohnt wie die der Skalden. Als der Norweger Eyvind Skaldaspillir
ein Preislied auf alle Isländer gedichtet hatte, wurde
ihm nach einem Beschluß des Allthings ein Ehrensold zugesprochen
, zu dem das ganze Volk beitrug. Die Gefolgschaftsskalden
König Harald Haarschöns und die isländischen Skalden
im Dienste der Norwegerkönige erhielten Geld und
Ländereien, vor allem aber kostbare Segel oder Schiffe, Streitäxte,
Schwerter und Schilde, die sie dann im Liede priesen.
Der Dienst bei einem mächtigen und freigebigen König war
der natürliche Ehrgeiz der Skalden. Höher als der materielle
Lohn stand den tüchtigsten unter ihnen aber doch die Ehre und
der Ruhm, der auf sie selbst zurückfiel.
An den sommerlichen Feldzügen und Seeschlachten der Könige
nahmen die Skalden persönlich, oft auf hohen Vertrauens
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posten teil. Sie selbst durften dann wiederum im Winter, besonders
zur Weihnachtszeit, die Ruhmestaten, an denen sie
selbst mitgewirkt hatten, in der Königshalle besingen. Harald
Haarschöns Skalden hatten dort den Ehrenplatz. Er wußte
ihre Kunst wohl zu werten, da er selbst Liebeslieder auf ein
schönes Finnenmädchen gedichtet hatte.
So liegt der Reiz des Persönlichen, Selbsterlebten über Thorbjörn
Hornklofis Rabenlied, das Haralds Seesieg im Bocksfjord
verherrlicht. Hierin übertrifft es eins der schönsten Eddalieder,
das eine Wikingerschlacht auf sturmbewegter See darstellt.
Meersturm, Schlachtensturm und Sturm in den Reden Helgis
und seiner Gegner wirken dort vielleicht zu einem anschaulicheren
Gesamtgemälde zusammen. Dramatische Bewegung erfüllt
in höherem Grade das Skaldenlied.
Das Bild der Schlacht durfte der Skalde als bekannt voraussetzen.
Augenblicksbilder, die mit aufgerissenen Drachenhäuptern
nahenden Schiffe, die in ihren Wolfspelzen heulenden
Berserker, die mit aufgerecktem Steiß vor Furcht unter die
Ruderbänke kriechenden Feinde, sie riefen das Gesamtgemälde
der Schlacht in die Erinnerung zurück und durften der Anerkennung
und des Jubels der Versammlung in der Königshalle
sicher sein.
Im Mittelpunkt steht natürlich der König, und eine Darstellung
des fröhlichen Treibens in seiner Halle vervollständigt
das Bild des Schlachtenfürsten. Aber Kampf- und Hofleben
des Fürsten sind in einen anziehenden mythologischen Rahmen
eingekleidet. Eine Walküre Sagt einen auf der Klippe sitzenden
jungen Raben: "Woher dein blutiger Schnabel "
. Er war
bei der Königsschlacht dabei, und nun folgt in weiterer und
lebendiger Frage und Antwort die ganze Handlung.
Der Gegensatz zwischen Edda- und Skaldendichtung tritt besonders
lebhaft hervor, wo ihr äußerer mythologischer Hintergrund
der gleiche ist. Odins glänzende Asenburg mit den auf
Erden in der Schlacht gefallenen Helden ist ein Hauptschmuck
der Götterlieder. Ein wunderbarer Glanz fällt auch in der Heldendichtung
auf den toten Helgi, wenn er mit Einherjarscharen
von den aus die treue Geliebte an seinem Grabhügel besucht.
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Mächtiger wirkt doch diese ideale Götter- und Heldenwelt im
Skaldenlied, das sie unmittelbar an die Gegenwart knüpft.
Aus Schlacht bei Stordö holt den gefallenen König Hakon
den Guten die von Odin gesandte Walküre. Er selbst empfängt
den Fürsten mit den Göttern Bragi und Hermod. Wenn der
letzte große norwegische Skalde Eyvind Skaldaspillir sein Lied
beschließt: "Seit Hakon ging zu den heidnischen Göttern, kam
manche Plage ins Volk", dann drückt er eine Zeitstimmung aus.
Jene Lieder über König Harald Haarschön und Haken den
Guten waren in den alten volksmäßigen Weisen der Edda
gedichtet. Fast alle anderen Skaldengedichte haben viel künstlichere
Strophenformen. Zu dem Stabreim, den die Eddadichtung
mit der deutschen und englischen Volkspoesie gemeinsam
hat, tritt in der Skaldendichtung zuweilen schon der Endreim.
Besonders hat ihn Egil Skallagrimsson in dem Preislied auf
König Erich, durch das er sich aus dessen Gewalt befeit, mit
grandioser Wucht verwendet. Vor allem aber wendet die Skaldenkunst
Voll- und Halbreim innerhalb der einzelnen Verszeilen
an. Die Strophe bekommt dadurch, besonders in der
an klangvollen Vokalen reichen altnordischen Sprache, einen
großen Wohlklang. Der herben Kraft des Stabreims wird
durch die blühende Farbe, die diese Binnenreime auszeichnet,
ein anmutiges Gegengewicht geschaffen.
Fast alle Skaldenlieder sind in einer achtzeiligen Prunkstrophe
gedichtet. Je wei Zeilenpaare sind durch Stabreim gebunden,
außerdem aber durch Binnenreime, die in den ungeraden Zeilen
unrein, in den geraden rein sein müssen.
Weil diese Strophe zunächst in den Preisliedern auf Fürsten
angewandt wurde, trägt sie den stolzen Namen"Königsweise".
Man gab dann aber diese Form auch den sehr beliebten Skaldenimprovisationen
in Einzelstrophen.
| Aste Feind, der Ostwind,
Ewig pfeift vorm Steven.
Aufwühlt Ägirs Wellen,
Eisige, Sturmes Meisel. |
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| Stets um Meerschwans Steuer
Frostige Stürme tosen.
Brandend flog ums Bugspriet
Brüllende See in Fülle. |
Diese Probe gibt, soweit es eine Verdeutschung vermag, die
Königsweise wieder. Der Stabreim ist dabei durch Striche, der
Binnenreim durch Punkte unter dem Texte veranschaulicht.
Die Weise dichtete Egil auf dem Meer, als er vom Wikingerzug
in die Heimat zurückkehrte. Sie würde, wörtlich übersetzt,
so lauten: "Gewaltig und unablässig haut das wütendschnaubende
zweigvernichtende Riesenungeheuer das kalte Meer mit
dem Meißel der Stürme vor dem Steven auf dem Wege des
Schiffes, und der frostige Wolf der Weide dringt ohne Schonung
ein auf den Schwan Gestels mit Windstößen über Steven
und Bugspriet."
Die Weise ist voller poetischer Umschreibungen. Eine Übertragung
, die der Kunstform der Strophe und der Verständlichkeit
im Deutschen gleich gerecht werden will, kann die Umschreibungen
nur mit Einschränkung wiedergeben.
"Sturmes Meißel" für den Orkan, "Meerschwan" für das
Schiff, vielleicht auch "Aste Feind" für den Sturm könnten
als kühne Bilder auch in unserer Dichtersprache den Platz behaupten
. Der Ausdruck "Weg des Schiffes" für das durchfahrene
Meer würde fremdartig und rätselhaft klingen. Die
wörtliche Übertragung"Schwan Gestels" statt "Meerschwan"
bliebe unverständlich, da nur die alten Normannen wußten,
daß Gefiel ein berühmter Seekönig war.
Vollends versagt die Wiedergabe, wenn das Original den
Sturm "Wolf der Weide" nennt. Nur ein ausgeführtes Bild
"der Sturm, der wider die Schiffe auf dem Meere wütet, wie
der wolfartige Orkan in den Zweigen der Weide" könnte im
Deutschen hier einen verständlichen Ersatz bieten.
Diese prägnanten Umschreibungen und kurz angedeuteten
Bilder muten einen modernen Leser leicht befemdlich an. Sie
sind aber das Wesen der Skaldendichtung. In ihrer glänzen-
und virtuosenhaften Handhabung ist das Künstlertum deo
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Skalden beschlossen. Wie an die kunstvolle Strophe ist er auch
an jenen kunstreichen Stil gebunden. Beide sind durch alte
Überlieferung für ihn geheiligt.
Eine Fülle von Bildern, aus der Natur und der Menschenwelt
, aus den Mythen der Vorzeit und aus dem Wikingerleben
der Gegenwart steht jedem Skalden zur Verfügung. Diese aus
sprunghaft und blitzartig hingeworfenen geistvollen Andeutungen
seine Hörer erraten zu lassen, ist seine Aufgabe. Tritt
aus diesem sprachlichen Wunderwerk der dichterische Vorwurf
den Hörern zugleich verständlich und interessant entgegen, dann
ist das Skaldenlied gelungen.
Der Schmuck dichterischer Umschreibung war auch dem deutschen
und englischen Heldenepos eigen. Viel reicher ziert er die
nordischen Balladen der Edda. Im Skaldenlied wird fast jeder
Ausdruck des gewöhnlichen Lebens durch eine hochpoetische
Wendung ersetzt. Dennoch bleibt bei bedeutenden Dichtern der
Ausdruck stets so, daß ihn jeder Mann in der Halle verstehen
und an ihm sein Ergötzen haben konnte. Wirksam unterstützt
wurde das Verständnis durch den Vortrag des Skalden. Die
großen Skaldenlieder waren keine Improvisationen. Sie wurden
vom Dichter gewöhnlich zur Nachtzeit geschaffen und während
der Produktion fest dem Gedächtnis eingeprägt.
Egil Skallagrimsson jubelt auf seinem dritten Wikingerzuge,
daß er zum Lohn für seinen Sang " den Felsen der Helme"
von König Erich erhalten habe. Die Männer in der Königshalle
verstanden alle diese Hindeutung auf sein eignes Haupt,
das er durch seine Gewalttaten gegenüber dem Herrscher verwirkt
hatte. Wie einst Bragi hatte ein kunstvolles Preislied
ihm das Leben gerettet.
Dei Held war, wie der König und sein versammeltes Kriegsvolk
wußte, von Island herübergekommen und trug, wie alle
Skalden, einen Vorrat von dichterischen Stoffen in seinem
Innern. Durch die geistvolle Wendung: "Ich belud den Hintersteven
meines Seelenbootes mit der Beute des Liedes" reizte
er von vornherein das Interesse seiner Zuhörer.
Es wird verstärkt dadurch, daß der Dichter aus "Odins
Skaldenmet" ein Preislied des Königs zum Dank für die an
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dem Feinde geübte Gastfreundschaft verspricht. Noch einmal
heischt Egil besondere Aufmerksamkeit von König und Volk.
Er kündigt des Herrschers Kriegstaten als Hauptthema seines
Liedes an.
Der Dichter spricht von den Speergeweben der munteren Krieger
des Königs und von dem Brandungsgefilde, das unter
ihren Fahnen rauscht. Den Kriegern ist eine Seeschlacht, in der
sie sich in der Schildburg um ihren König scharten, mit wenig
Strichen in Erinnerung gerufen. Aller Augen ruhen auf dem
Herrscher. Der Liedrefrain "Erich den Held ehrte die Welt"
ertönt zum ersten Male.
Die Schilderung der Schlacht geht weiter. Bei der Erwähnung
der"Schildespalter", der"Mundensäger der Waräger"greifen
die Recken verständnisinnig an ihr Schwert und denken an die
genannten Wikingbrüder im Osten. Die gefällten "Odinseichen"
erinnern sie an ihre gefallenen Freunde und Feinde, die
nun in Walhall weilen. Mieder darf der Skalde den ruhmvollen
Refrain auf Erich erklingen lassen, dem sie alle zum
Siege verhalfen.
Wilder wird der Kampf. Üppiger werden des Dichters Bilder.
"Vernichter der Schotten" nennt Egil den König. Das Bild ist
für Erich in jedem Zusammenhang möglich. Hier aber wissen
die Recken zugleich genau, daß nur ihr größter Sieg für den
Herrscher gemeint sein kann.
Jeder von ihnen hat die krächzenden"Kampfkraniche"auf die
Leichen fliegen sehen. Sie sahen den Schnabel der schwarzen
"Wundenmöven" sich in der "Welle des Schwertes" röten.
Rabe, Adler und Solf folgten ja stets den Kriegerscharen.
Die Helden kennen alle die Todesgöttin Hcl, sie wissen, daß
bei Balders Begräbnis die Riesin Hyrrokin auf einem Wolfe
ritt. Die alte Mythenwelt tritt vor ihre Augen. Sie wissen,
was es bedeutet, wenn im Kampfe der "Riesin Roß" gefüttert
wird oder wenn Hcl auf des "Adlers Beute" tritt.
Auch das überkühne Bild "Erich an Bord ast Wölfe dort ,
das von jetzt ab den Refrain schmückt, hat für die Zuhörer
nichts Ungewöhnliches. Rabe und Wolf sind im dichterischen
Sprachgebrauch eben unzertrennliche Gäste an der Leichengabe
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Lavalandschaft am Mývatn (Mückensee) in Nordisland
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des Fürsten. So konnte der wolf seinen Spießgesellen
auch bei einer Seeschlacht vertreten.
Das Sausen der Speere, das Klirren der Bogen, der Bis
der Schwerter hat den höchsten Grad erreicht. In ganz Island
und Norwegen ist König Erich berühmt. Ein "Blutverschwender
" wird König Erich genannt; bevor zum letzten Male der
Refrain durch ibn den Wölfen freigebige Ätzung zuteil werden
läßt.
Das Wort"Verschwender" ruft unter den Mannen eine angenehme
Bewegung hervor. Der freigebige Herrscher ist im
Liede vorbereitet, dessen Lob nun im letzten Teile des Gedichtes
mit dem des Schlachtenhelden Erich wetteifert. Der Schwertgott,
dessen Schlag die Schildburg der Drachenschiffe ertönen
machte, weicht im Preise des Skalden allmählich dem "Ringbrecher
. Schon das germanische Heldenepos kennt ja den König,
der die Goldringe zerhieb und sie zum Lohn an seine Mannen
verteilte. Oft haben die Helden Erichs den König auf der
Jagd mit dem Falken auf der Faust gesehen. Jeder hat von
den beiden Riesenmägden gehört, die König Frodi auf einer
Zaubermühle unerschöpfliches Gold malten, oder von dem Nibelungenhort,
der in der Tiefe des Rheines ruht.
"Frodis Mehl" aus des Königs "Habichtsstrand" war ein
willkommenes Bild für die lauschenden Mannen. Man sieht sie
vor Freude die Schilde aneinanderschlagen, wenn zuletzt unter
dem Gesamtbilde "Des Flußfeuers Verschwender fest schützt
er Länder" die Persönlichkeit des Herrschers in seiner ganzen
Größe, die auch dem Feinde Egil Achtung abnötigt, charakterisiert
wird.
Der Preis des Königs ist zu Ende. Aber der Skalde fügt
noch ein Schlußwort an den König und die wannen hinzu.
Er ist sicher, daß er etwas Gutes in der Halle gesungen hat.
Erichs Kriegstüchtigkeit und Freigebigkeit war Wahrheit. Er
weiß, daß jede öde Schmeicheln mit Verachtung von dem selbstbewußten
Königshofe zurückgewiesen worden wäre. Darum bestätigt
er sich selbst, daß ein schönes Lied aus seiner Brust
emporgestiegen sei.
Selbst diese Wendung weiß er durch kunstvolle Umschreibung
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geistreich zu gestalten. Er hat "Odins Sangmet" aus dem
Grunde der Seele" und " dem Sitz des Gelächters" emporgeholt
. Beides geläufige Skaldenumschreibungen für Brust.
Und doch liegt wohl im letzten Ausdruck eine versteckte Pikanterie.
Man meint aus ihm das seines Erfolgs sichere Hohnlachen
herauszuhören. Der in die Gewalt des Königs geratene
Skalde fühlt es, daß seine Kunst ihm die Freiheit bringen
werde. Der wassengewaltige Mann in der Halle empfindet,
daß über alle Königsmacht hier eine geistige Kraft triumphiert,
die den äußeren Sieger zum Besiegten macht.
Die Anerkennung, die das Lied Egils fand, zeigt; daß es allgemein
verstanden und gewertet wurde. Freilich ist es in der
Form einfacher als die meisten anderen Skaldenlieder. Aber
auch Gedichte von viel dunkleren mythologischen Anspielungen
und mit viel künstlicheren Umschreibungen konnten bei der allgemeinen
Vertrautheit mit dem dunklen skaldischen Stil auf
Erfolg rechnen.
Von der Fülle und Vielseitigkeit der skaldischen Bilder gibt
Egils Haupteslösung eine Vorstellung. Das Gedicht zeigt aber
auch, wie bei aller Formelhaftigkeit die meisten dieser künstlichen
Ausdrücke mit dem Wirkungs- und Vorstellungskreise
des isländischen Heldenzeitalters aufs engste verwachsen
waren.
Das Gedicht stellt endlich den äußeren Rahmen eines isländischen
Preisliedes anschaulich dar. Den kunstvollen symmetrischen
Aufbau, in dem wirkungsvolle Refrains die Ausführung
des dichterischen Vorwurfs belebend unterbrechen.
Der berichtende epische Stil, der von des gefeierten Königs
Taten spricht, ohne ihn anzureden. Das selbstbewußte Eingangs-
und Schlußwort, in dem der Skalde sein Lied ankündend
für sich Gehör heischt oder es abschließend seine
eigene Kunst preist.
Die Macht der Konvention, die den Skalden als Kämpen
und Gefolgsmann wie als Künstler und Mitglied der Dichterzunft
band, scheint die Entfaltung einer freien menschlichen
Persönlichkeit in ihm fast zur Unmöglichkeit zu machen. Die
Lieder, die Bragi und Egil furchtlos und siegesgewiß zu
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ihrer Befreiung sangen, zeigen das Gegenteil. Die "Haupteslösung
" bekam einen Ehrenplatz in der Skaldendichtung.
Aber auch in Fürstenliedern, wo die Aussicht auf klingenden
Lohn oder ehrende Auszeichnungen die Sangeskunst der Skalden
bestimmten, ist gegenseitige Achtung, oft Liebe von König
und Dichter die Regel. Das innere Verhältnis löste der Tod
ächt: gerade unter den Erinnerungsgedichten an die toten
Könige sind die schönsten Skaldenlieder. Am feinsten kam die
Persönlichkeit des Skalden doch in den kleineren Improvisationen
um Ausdruck.
Fürstenlieder haben der Liebesdichter Kormak, der Königsskalde
Hallfred und der letzte große Dichter des isländischen
Heldenzeitalters, Sighvat, gesungen. In ihren Improvisationen
gaben sich diese nächst Egil Skallagrimsson phantasievollsten
Skalden doch am anziehendsten.
Kormaks ganzes Leben wird durch die unglückliche, aber
bis in den Tod treue Liebe zur schönen Steingerd bestimmt.
Des Dichters rastloses Kämpendasein nimmt diesem Verhältnis
doch alle schmachtende Weichlichkeit. Im Zweikampf hat
er äch mit seinen begünstigten Nebenbuhlern gemessen, und
dem Streit mit dem Schwerte gesellt sich der Kampf im Liede.
Wilde Hohnworte hat Kormak auf seine Rivalen mitten in
seine Liebeslieder geschleudert, die glutvollsten, die je auf Island
gedichtet sind.
Auch die gekünsteltste Form der Königsweise kann nicht verhindern,
daß die starke Empfindung des Dichters sich Bahn
bricht zu unserm Herzen, wenn wir ihn klagen hören:
"Die Frau verließ den Saal. Nur um so heftiger steht mein
Sinn nach der Herrin des Feuers der Flut (des Goldes). Was
schmückt jetzt noch die Halle : Das ganze Haus durchschweifte
ich mit den Wimperstrahlen (den Augen) nach der Göttin der
Speerruhe (des Friedens). Ich wollte sie noch einmal erblicken.
Ehe schwimmen Steine schnell wie Saatkörner auf dem Wasser
, eher versinkt die Erde, ehe stürzen die herrlichen mächtigen
Berge ins Meer, als wieder ein Weib geboren wird so schön
wie Steingerd. Aber ich bin der jungen Spange des Reichtume
(der Frau) noch immer gleichgültig."
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Hallfreds treuer und ehrlicher Charakter trat uns schon in
seinem Preislied auf König Olaf Tryggvason entgegen. Am
schönsten offenbart er sich in den Improvisationen, wo er sich
mit seiner Bekehrung zum Christentum auseinandersetzt. Unter
der Übergangszeit des alten und neuen Glaubens leidet
er, der als Skalde einst dem alten Dichtergotte opferte, am
meisten. Freimütig gibt er im Liede noch nach seiner Bekehrung
der Vorliebe für Odin und Freyja Ausdruck. Es war
nicht blinde Unterwürfigkeit, wenn er den Tadel des Königs
darüber ertrug. Er liebte und verehrte den König. Der kluge
und sonst so weltgewandte Skalde mochte sich sagen, daß jener
in Sachen des Christentums recht hatte. Innerlich währte der
Zwiespalt bei Hallfred wohl fort, und erst die herrlichen Verse
in seiner Todesstunde sind von reinem Christenglauben erfüllt.
Der ersten Generation des isländischen Heldenzeitalters gehörte
Kormak, der zweiten, Hallfred an. In seinem letzten
Menschenalter dichtete Olafs des Heiligen Skalde Sighvat.
Beim Tode seines Königs in der Schlacht von Stiklestad
weilte er in Rom. Sighvat war, wie er selbst im Liede ehrlich
zugibt, kein Kämpe ersten Ranges. An Takt und Klugheit
übertraf er alle seine neiderfüllten Mitwlden am Königs
Der stolzen Form der Königsweise hat Sighvat den anmutigsten
Inhalt einverleibt. Er hat seine Fahrten im Auftrag des
Königs nach Schweden, England und Frankreich in lustigen
und scherzhaften Reiseschilderungen besungen. Ein Lied von
unerhörtem Freimut aber dichtete er an Olafs Sohn und
Nachfolger Magnus, dem er einst selbst den Namen gab. Das
Gedicht ist ein politisches Dokument. Es enthält eine scharfe
Mahnung an den jungen zu Willkür neigenden Herrscher, gerecht
und im Sinne seines großen Vaters das Volk zu beherrschen,
um mit ihm in Einklang zu bleiben,
Wie das Staatswesen im Goden Snorri, die Familie in Njal,
das Fehdewesen in Grettir dem Starken, so haben die Dichtkunst
und das Skaldentum in Egil Skallagrimsson auf Island
ihren glänzendsten Vertreter gefunden. Bei keinem anderen
Dichter bat das Skaldentum so den ganzen Geist durchdrungen,
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so die Skaldenkunst das ganze Leben ausgefüllt. Egil
dichtete nur, was erlebte, und lebte nur, wenn er sang.
Gleich dem Geist des unbekannten Dichters, der die "Weissagung
der Seherin" schuf, beherrscht Egil Skallagrims Skaldenkunst
das ganze isländische Heldenzeitalter. Wie die Zustände,
die das große Eddagedicht schildert, noch für die Zeit
der isländischen Renaissance im dreizehnten Jahrhundert ihre
Gültigkeit behalten, so steht unter dem Bann von Egils Leben
und Dichtung noch der größte Mann jenes Zeitraums, Snorri
Sturluson.
Niemand auf Island hat im Heldenzeitalter dem heidnischen
Staat mehr Ruhm eingetragen wie Egil. Nächst dem alten
Recken Starkad und dem Normannenkönig Ragnar Lodenhose
hat es im germanischen Norden keinen berühmteren Wikingerhelden
gegeben als ihn. Den Widerstand der alten Geschlechter
gegen Harald Haarschön, der zur Besiedelung der Insel und
zur Gründung des heidnischen Freistaates führte, hat niemand
so unerbittlich in Norwegen selbst fortgesetzt wie er. So erbitterte
Kämpfe gegen das norwegische Königstum hat kein
Isländer in der Zeit des Freistaates ausgefochten. Aber um
den Staat, dessen Ruhm er in die Fremde trug, hat sich Egil
kaum gekümmert. Wir hören nie, daß er auf dem Allthing
oder sonst im Staate durch Wort und Tat eine entscheidende
Rolle gespielt hätte.
Die isländische Familie kannte kaum ein vornehmeres und selbständigeres
Geschlecht als das Egil Skallagrimssons. Und doch
hören wir in seiner Saga nur einmal, daß Egil von der Macht
seiner Familie auf Island selbst Gebrauch machte. Auf dem
Thingstreit zwischen seinem Sohn Thorstein mit einem Nachbar
erscheint er und wirft sein mächtiges Wort zur Verurteilung des
Gegners in die Wagschale. Dem Sohn selbst, einer schönen und
ritterlichen Erscheinung, stand er jedoch fremd und mißtrauisch
gegenüber. Überhaupt bestand kaum ein tieferes Verhältnis
Egils zu einem Familienmitgliede, das sein innerstes Wesen
berührt hätte. Der Preis seines im Kampf gefallenen Bruders
Thorolf und seiner Tochter Thorgerd, als sie ihn über den
Vertust seines ertrunkenen Sohnes Bödvar tröstet, gilt der
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Kraft, die beide beseelte. Sie setzte er aber in seinem Geschlecht
als selbstverständlich voraus. Selbst in dem tiefempfundenen
Gedächtnislied auf jenen Lieblingssohn Bödvar ist der Verlust
von so viel Kraft und Mannhaftigkeit der Hauptakzent seiner
Klage.
Der Mann, der in Staat und Familie seine eigenen Wege
ging, tat dies auch im Kriege. Egils vier Wikingerzüge sind
der schönste Schmuck seiner Dichtung. Ihre Motive sind gan;
verschieden. Der Drang, die ersten Lorbeeren zu pflücken, der
Wille, in der Verteidigung seines Besitzes dem verhaßten König
Erich einen Streich zu spielen, die übermütige Lust, sich selbst
in eine Lebensgefahr ohnegleichen zu begeben, und endlich die
Laune, als Helfer und Schirmer der Bedrängten aufzutreten.
Auf dem Ehrensitz in König Adalsteins Halle, beim Errichten
der Neidstange gegen König Erich, in Mrk, da er sein Haupt
löste, und im Eidawald, wo er allein gegen erdrückende Übermacht
stritt, sind die vier Höhepunkte dieses seltsamen Lebens.
Mut der eigenwilligen Abenteurerlust des Dichters hat sich der
Kämpe Egil alle diese Situationen selbst geschaffen.
Egil Skallagrimsson ist der einzige Sagaheld, dessen Bild
ganz allein aus seiner Dichtung emporsteigt. Die Saga mochte
diesen merkwürdigen Mann mit noch so viel Anekdoten ernster
und heiterer Natur umgeben, um sein Bild der Mitwelt und
Nachwelt zu ergänzen und verständlicher machen: sein
tiefstes Wesen liegt beschlossen in seinen Liedern. Die Saga
hat das richtig gefühlt, wenn sie schon den dreijährigen Knaben
dichten läßt und noch dem achtzigjährigen Greis in seiner
Hilflosigkeit ein Skaldenlied in den Mund legt.
Das Skaldentum war die größte Kulturmacht des isländischen
Heldenzeitalters. Aber kein Skalde hat die Dichtung als
elementare Gewalt stärker und tiefer empfunden als Egil, der
Stolz seines Volkes und doch im letzten Grunde ein einsamer
und unverstandener Mann.
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Isländische
Wikingerkultur
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Stöd und Rirkjufell am Bredifordur. Westisland
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13. Christentum und Renaissance
Im Heldenzeitalter waren alle Keime von Islands Wikingerkultur
enthalten. Damals waren die großen Taten,
die die Saga erzählte. vollbracht. Damals waren die schönsten
und denkwürdigsten Skaldenlieder entstanden.
Aber weder Saga noch Skaldenlied wurden in jener tatenreichen
Zeit aufgezeichnet. Es mag sein, daß hie und da ein
besonders schöner Skaldensang in Runen auf Hol; geritzt
wurde, wie dies Egils Tochter mit dem Lied "Der Söhne Verlust
tun wollte. Die Mehrzahl der Lieder und Geschichten
pflanzte sich mündlich fort von einer Generation auf die andere.
Erst im dreizehnten Jahrhundert erhielten die Sagas das
äußere Gewand, in dem wir sie jetzt lesen. Damals wurden
Eddadichtung und Skaldenlieder auch in der Schrift zum Gemeingut
des ganzen Volkes. Der isländische Staat ging in
jener Zeit schon seiner Auflösung entgegen. Er wurde durch
innere Uneinigkeit wieder eine Provinz des alten Mutterlandes
Norwegen.
In etwa zweihundert Jahren, von 1030-1264, war die
jetzt christliche Republik allmählich zu einer Stätte auserlesener
Bildung geworden. Das Christentum stand der Überlieferung
der heimischen Lieder und Sagas, solange diese mündlich
erfolgte, nicht feindlich gegenüber. Als dann später die schriftliche
Aufzeichnung im großen Maßstabe begann, waren gerade
die Geistlichen mit die besten Hüter der nationalen Schätze.
Dieses, wenn man an die Vorgänge in Deutschland und
England denkt, merkwürdige Verhältnis des Christentums
zur heidnischen Kultur erklärt sich aus dem Wesen und der
Abgeschlossenheit des isländischen Volkes. Wir haben die religiöse
Gleichgültigkeit und Skepsis der alten Götterwelt gegenüber
schon bei den Männern der Landnahmezeit und des
Heldenzeitalters beobachtet. Man übertrug sie im allgemeinen
auch auf den neuen Glauben. Die Einführung des Christentums
auf der Insel war ein Akt nüchterner Staatsraison gewesen.
Von einem religiösen Fanatismus, wie ihn die Könige
Olaf Tryggvason und Olaf der Heilige den norwegischen Verhältnißen
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aufprägten, war auf Island keine Rede. Die isländischen
Geistlichen fühlten sich immer zuerst als Kinder
ihres Volkes.
Die Entfernung der Insel von Europa kam dieser Sonderstellung
der isländischen Kleriker sehr zu Hilfe. Die fremden
Bischöfe; die auf die Insel gesandt wurden, fanden wie früher
die Missionare wenig Anklang im Volk. Ein isländischer Episkopat
aber entwickelte sich erst langsam auf der Insel. blieb
unabhängiger als irgendwo von der Zentralgewalt in Rom.
Endlich bildeten sich zwei einheimische Bischofssitze heraus,
Skalholt im Westen und Holar im Norden wurden unter den
ersten beiden Bischöfen gegründet. Aber erst in der Folgezeit
wurden sie durch reiche Erhebung des Zehnten und Gründung
von Schulen die geistlichen Mittelpunkte der Insel. Die Erzbischöfe
von Bremen, dann von Lund, endlich von Drontheim
führten aus der Ferne die schwierige Oberaufsicht.
Auf die Abnahme des kriegerischen Geistes hat das Christentum
wohl allmählich gewirkt, doch von einem christlich frommen
Leben war wenig die Rede. So staunte man Männer, die
die Fastenzeit streng innehielten, naiv an. Bei der geringen
Zahl und der Unbildung der Geistlichen ging das kirchliche
Amt oft auf die früheren Besitzer der Godentümer über. Reiche
Häuptlinge bauten sich jetzt statt der Tempel geräumige Kirchen
. Denn es war ein Aberglaube, daß so viele Seelen in den
Himmel kämen, wie Menschen Platz in einer Kirche hätten.
Jene Großen oder Stellvertreter, die diese für ihre Kirche bestellten,
bekamen oft auch bei ganz unchristlicher Denkart die
kirchlichen Weihen.
Der Zölibat der römischen Kirche fand auf der Insel keinen
Eingang. Die Priester waren verheiratet und blieben so ihrem
Volke näher. Selbst die Bischöfe lebten in Ehe oder Konkubinat
und waren bei der Entfernung der erzbischöflichen
Aussicht in Bremen und dann in Lund unabhängig wie früher
die Großbauern oder Kleinfürsten. Erst als Drontheim Sitz
des Erzbistums für Norwegen und Island wurde, hörte das
allmählich auf.
Bei der geringen Kluft, die in altgewohnter Lebensweise
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zwischen Geistlichen und Laien bestand, wurde auch die Erinnerung
an die Taten und Sagas der Väter dort wie hier mit
gleicher Liebe gepflegt. Jemehr Streitigkeiten und blutig verlaufende
Rechtsprozesse auf der Insel aufhörten, bekam der
Charakter des Alltagslebens etwas Friedlicheres. Die Versammlungen
auf dem Allthing, auf denen jetzt auch die Geistlichkeit
Sitz und Stimme bekam, hörten nicht auf, den lebendigen Geistesaustausch
des Volkes zu fördern.
Wir haben in der Geschichte vom durchtriebenen Ofeig gesehen,
wie ein geschickter Sagaerzähler auch durch die Vorführung
unblutig verlaufender pikanter Geschichten sein Publikum
zu unterhalten wußte. Wem noch wikingerhafter das Blut
in den Adern pochte, der mochte sich an die Geschichte von König
Harald dem Harten halten. Wir wissen ja, daß auf dem Allthing
ein Kriegsteilnehmer an den Zügen des Königs im Orient seinen
Zuhörern dessen Saga erzählte. Die friedlicheren Anekdoten des
Tages, die alten wunderbaren Abenteuer der Väter wurden
in gleicher Weise gepflegt. Das Leben war nicht mehr so aufregend
und tatenreich. So wandte man sich doch oft wieder der
Vergangenheit zu.
Die kleinen novellenartigen Erzählungen der Sagas erhielten
hier erst vielfach ihre volle Abrundung.
Man lachte über die raffinierte Art, wie der Sohn des Häuptlings
Siduhall dein guten Thorhall Biermütze aus der Verlegenheit
geholfen hatte. Der arme Kerl, der auf dem Allthing
in seiner Bude Bier verkaufte, sollte durch Unvorsichtigkeit
einen Waldbrand verursacht haben. Sechs geschädigte Goden
sielen über ihn her. Alle mußten durch des Häuptlings schlaue
Verteidigung unverrichteter Sache absieben. Das alles war ja
kürzlich hier auf dem Allthing passiert.
Aber ein anderer, der noch in der Jugend der Heldengeneration
angehört hatte, wußte von ernsteren Auftritten hier
auf dem Allthing aus alter Zeit. Hier hatte der junge Grettir
verzweifelt gestanden, dem auch ein Brandverbrechen zur Last
gelegt wurde. Er wurde erbarmungslos verurteilt. Er eilte in
Raserei und Verzweiflung von Ort zu Ort. Er war doch so
treu und mußte so elend enden.
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So mischten sich auf dem Allthing neue und alte Geschichten.
In dem Aberglauben und Spuk der Familiengeschichten waren
die Geistlichen bewandert wie alle. Wie leicht war es, hier
christliche Wundermärchen und Legenden einzuflechten. Nannte
man nun auch die weissagende Völva entrüstet heidnische
Hexe: ein Liebling der Volkserzählung blieb sie doch.
Hier mögen dann endlich die ersten Ansätze zum Heldenroman
aus mündlichen Erzählungen entstanden sein. Noch
immer kamen Ausländer zum Besuch auf die Insel. Sie
wußten von der Liebe Frithjofs aus dem Sognefjord zur schönen
Ingeborg zu erzählen, von dem stolzen Wiking, der durch
seine Heldentaten sich doch schließlich die Geliebte gewann. Die
Geschichte kannte man doch etwas. Das war ja eine Liebesgeschichte
wie die von Gunnlaug Schlangenzunge und Helga.
Man verglich. Die mußte man im Gedächtnis behalten.
So bekamen allmählich auch diese romantischen Heldennovellen
aus dem Ausland den alten liebgewordenen Stil der Saga,
Nun kam vielleicht ein Skalde. Er kannte die neueste witzige
Improvisation seines Freundes Thjodolf, die er am Hofe Haralds
des Harten gehört hatte. Es war jenes Gedicht, das einen Gerber
in Fafnirs, einen Schmied in Sigurds Maske darstellte.
"Der Sigurd des Schmiedehammers reizte die schreckliche
Gerberschlange, und der Drache der Heide wand sich heraus
aus der Lohgrube. Die Menschen fürchteten den Wurm der
Stiefel, bis der langnasige König der Zangen die Natter des
Rindleders überwand." Man lachte. Mancher dachte an die
alten Heldengedichte von Sigurd dem Fafnirtöter und Brynhild
zurück. Es mochten dabei auch hier schon gelegentlich
Stücke in Prosa erzählt werden, die unwillkürlich die gewohnte
treue und schlichte Form der Saga annahmen. Die heldenromanartige
Paraphrase der Völsungensaga war in einem
Stück vorbereitet, dem bald mehr in gleichem Stile folgte.
Diese glückliche Friedenszeit währte auf Island etwa fünf
Menschenalter. Die Bischöfe und Geistlichen, die häufig auf
Reisen im Auslande ihre gelehrte Bildung empfingen, verloren
darüber nicht das Interesse an der Geschichte der Heimat. Das
glänzendste Beispiel dafür ist der Priester Ari aus vornehmem
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Häuptlingsgeschlecht, der jene erste vaterländische Geschichte in
isländischer Sprache schrieb, deren alte Geschlechterannalen M
das Besiedelungsbuch von so großer Bedeutung wurden. Als
Aris grundlegendes historisches Werk entstand, mehrten sich
bereits die gelehrten Bildungsstätten im Lande.
Vor allem wurden die beiden Bistümer Skalholt im Westen
und Holar im Norden der Insel Mittelpunkt der Bildung.
Als dort der Bischof Thorlak, hier der Bischof Jon Ögmundarson
heilig gesprochen wurde, strömten die Zehnten aus dem Lande
und Weihgeschenke aus dem ganzen christlichen Norden nach
diesen Plätzen. Besonders Skalholt wurde ein Sitz der Wohlhabenheit
. Eine Schulbildung in großem Umfange konnte dort
gepflegt werden und weit in das Land hin wirken.
Neben diesen Domschulen aber entstanden, besonders im
Südwesten, andere mehr privater Natur. Sämund der Kluge,
den die Überlieferung lange als Dichter der Eddalieder bezeichnete
, unterrichtete in Odde. Eine andere berühmte Schule,
wo Ari, der Vater der isländischen Geschichte, seine Ausbildung
empfing, war in Haukadal, nahe dem großen Geysir.
Hierzu traten dann endlich von 1130 ab Klosterschulen. Unter
diesen nahmen die Benedictinerklöster zu Thingeyrar und Munkathvera
im Nordlande die hervorragendste Stellung ein. Aber
auch im Westen und Süden, gerade dort, von wo die schönsten
Sagas überliefert sind, entstanden Klöster, wo deren Aufzeichnung
vorbereitet wurde. In allen diesen Schulen wurden neben
der lateinischen Gelehrsamkeit, neben heimischer Geschichte und
Rechtskunde auch Sagaerzählung und Skaldenkunst gepflegt.
Von 1200 ab beginnt eine emsige Tätigkeit in der künstlerischen
Redaktion der alten Sagas, der Familiengeschichten und
Königsgeschichten.
Der Stil der Saga war ein so einheitlicher und fest gefügter,
daß er für jede Form der Prosaerzählung fortan das äußere
Gewand blieb. Im Inhalt der Sagas aber ging allmählich
eine Veränderung vor. Jene schöne Mischung von Wahrheit
und Dichtung, die die alten Familiengeschichten des 10. Jahrhunderts
auszeichnete, ging verloren.
Der romantische Charakter, der uns schon in der endgültigen
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Redaktion mancher älteren Familiengeschichte, wie der von Grettir
, entgegentrat, wird jetzt zur Regel. Ein ungeheurer Apparat
von wunderbaren Ereignissen und übernatürlichen Personen
wird in den Heldenromanen aufgeboten. Wikingerfahrten im
Osten spielen eine Hauptrolle. Ihre Helden und Heldinnen sind
in eine Fülle von Glanz und Schönheit getaucht. Von dem
düsteren Geschick, das so viele der alten Familiengeschichten
durchzieht, ist nichts in ihnen zu finden. Die Fabel endet meist
glücklich.
Die meisten dieser Sagas spielen in Norwegen, Schwede
und Rußland. Aber auch in Finnland, dessen als Zauberer
verschrieene Einwohner so recht in die phantastische Welt des
Heldenromans passen. Auch wo diese Sagas historische oder
halbhistorische Männer zu Helden haben, sind diese doch in der
Darstellung zu typischen Heroen geworden, die mehr den Gestalten
der Edda als denen der isländischen Saga gleichen. Einige
der schönsten Eddalieder in Thule, so das Gedicht, in dem Hervor
das Zauberschwert Tyrfing von ihrem Vater Aegantyr aus
dessen Grabhügel erhält, stammen aus solchen Sagas.
In die Form des Heldenromans wurden dann zuletzt sogar
fremde Stoffe gekleidet. Die Ritterdichtung kam nach dem
Norden. Aus Frankreich zogen die Gestalten der Artusromane,
Parzival und Gawan, in die Saga ein. Aus Deutschland aber
erzählte ein Nordländer auf Grund mündlicher Berichte niederdeutscher
Männer die Saga von Dietrich von Bern. Diese Geschichte
ist also eine deutsche Heldensage im nordischen Gewand.
Hier war alles, was deutsche Männer erzählt hatten, auch
die Geschichte von Wieland dem Schmied und den Nibelungen,
um den großen Gotenkönig gruppiert.
An Sigurd den Fafnirtöter als seinen angeblichen Verwandten
knüpfte man die Heldengestalt des berühmten Wikingerkönigs
Ragnar Lodenhose, der in Frankreich und England große Taten
vollführt hatte. Die Helden der Nibelungendichtung in
der Edda, die Völsungen, wurden nun auch als zusammenhängende
Saga der Lebensgeschichte jenes Königs vorangestellt
.
In den Heldenromanen gingen "Wahrheit und Dichtung"
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der alten Saga fast in reine Dichtung über. So nannte man
sie wohl auch Lügensagas.
Die Königssagas trugen schon in alter seit einen mehr geschichtlichen
Charakter als die Familiengeschichten. Jetzt schwindet
allmählich die Dichtung fast ganz. Äußerlich behalten sie
wie die Heldenromane den Stil und die Erzählart der alten
Saga bei. Sind aber diese dem Inhalte nach wirkliche Sagen
geworden, so haben wir in den Königssagas jetzt einfache Geschichte.
Aus Ibsens Kronprätendenten ist der Streit der Birkebeiner
und Bagler bekannt, vor allem die Seele des ewigen
Aufruhrs Bischof Niklas. Von alledem erzählt schon die Geschichte
des Königs Sverrir, des Großvaters von König Hakon
in Ibsens Stück. Diese Geschichte ist von einem isländischen
Abt nach genauer Anweisung König Sverrirs und
unter gewissenhafter Benutzung der königlichen Archive verfaßt.
Sie ist Geschichte wie später die seines Enkels Hakons
des Alten.
Auch die Bischofsgeschichten tragen geschichtlichen Charakter.
Neben den norwegischen Königen, die immer mehr ansingen,
auf die isländischen Verhältnisse Einfluß zu gewinnen, erregte
das Leben dieser oft mächtigen und energischen Kirchenfürsten
vornehmlich das Interesse des Zeitalters. Auch die Kirchengeschichte
gruppierte man echt sagamäßig um berühmte Persönlichkeiten.
Eine Herrschernatur war der zweite Bischof von Skalholt,
Gissur. Er hatte die auf ihn gefallene Wahl nur unter der
Bedingung angenommen, daß sämtliche Häuptlinge des Landes
sich förmlich ihm gegenüber verpflichteten, allen kirchlichen Geboten,
die er erlassen werde, unbedingt zu gehorchen. Von ihm
schrieb der gelehrte Historiker Adam von Bremen am Hofe des
dortigen Erzbischofs Adalbert: "Die Isländer haben einen
Bischof als König. Auf seinen Wink gehorcht das ganze Volk.
Was er bestimmt, halten sie für Gesetz." Harald der Harte aber,
der gescheite und witzige Norwegerkönig, rühmte Gissur nach,
daß er zu dreierlei gleichmäßig das Zeug habe, zu einem guten
Bischof, zu einem tüchtigen Wikingerführer und zu einem
regiersamen Könige.
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Kraftvolle Erscheinungen aus späterer Zeit waren die Bischöfe
Thorlak und sein Neffe Pal.
Der erste fühlte sich schon mehr als seine fünf Vorgänger in
Skalholt als Vertreter der römischen Hierarchie. Jene hatten
sich in ihrer äußeren Erscheinung und Lebensführung wenig
von den weltlichen Häuptlingen ihres Volkes unterschieden.
Thorlak drang auf strenge Durchführung des unvolkstümlichen
kanonischen Rechtes. Er lebte in Ehelosigkeit und ging
so seinen Geistlichen mit gutem Beispiel voran. Darum wurde
er um 1200 auf dem Allthing von Rom aus heilig gesprochen.
Volkstümlicher war Thorlaks Nachfolger, Bischof Pal. Unter
ihm entfaltete sich auf Skalholt ein reiches und prächtiges
Leben. So stattlich war damals der Bischofssitz, daß Pal neben
seinen zahlreichen Gefolgsleuten noch 100 Gästen bei sich
Unterkunft gewähren konnte. Kräftig trat der Bischof für die
Interessen seiner Leute den weltlichen Häuptlingen gegenüber
ein. Nach einer Feststellung, die der Bischof in seiner Diözese
machen ließ, hatte er über 200 Kirchen unter sich, und an 300
Geistliche mußten dafür ordiniert werden.
Hinter den Bischöfen von Skalholt traten die von Holar zurück.
Der streitsüchtige Gudmund Arason dort zeigt schon den Dekadenzcharakter
der fehdereichen letzten Zeit des isländischen Freistaates.
Damals war die Macht in Händen von kaum einem
Dutzend alter Familien, die in ewigem Hader liegend den Untergang
der Republik herbeiführten.
In der Doppelgestalt der Geistlichen als Glieder der römischen
Hierarchie und als Förderer der alten einheimischen Kultur
liegt der Reiz aller dieser Bischofsgeschichten. Streitbare
Männer, kluge Juristen und treffliche Kunsthandwerker stellte
auch die Geistlichkeit. Es gab unter ihr treffliche Sagaerzähler,
aber auch Skalden. Neben geistlichen Gedichten betrieben auch
die Priester die weltliche Dichtkunst und sangen an Fürstenhöfen.
Die glückliche Friedenszeit, deren Sagaerzählung auf dem
Allthing wir schilderten, nimmt in dem Menschenalter von
1150 ab allmählich ein Ende. An den Wirren im Lande, die
es dem norwegischen Königtum ermöglichten, seine Macht
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Ringförmiger Krater bei Skútustadir am Myvatn (Mückensee). Nordisland
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Island gegenüber immer mehr geltend zu machen, hatte auch
die römische Kirche ihr Teil. Das Erzbistum Drontheim bekam
nun großen Einfluß auf die Insel.
Mehr wirkte nach dieser Richtung doch das Wiederaufleben
des Wikingergeistes in den edlen Geschlechtern auf der Insel.
Die Aufzeichnung der alten Geschichten und Lieder lenkte den
Blick mehr als vorher in die Vergangenheit. Der Stolz auf
diesen Besitz schuf auch im Alltagsleben ein ungeheures Bedürfnis,
sich wie die Ahnen, wie ein Egil, wie ein Gode Snorri
auszutoben und auszuleben.
Eine Renaissance des Heldenzeitalters beginnt im Staatsleben
wie in der Literatur. Wie später in der Zeit der großen
italienischen Renaissance gehen dabei zügellose Wildheit und
Unsittlichkeit wie tiefes Bildungsbedürfnis und bewundernswerte
Genialität eng nebeneinander her.
Wörtlich erfüllt sich in dieser Zeit, was in der Blütezeit des
Wikingertums der weitausschauende Dichter der"Weissagung
der Seherin"prophezeit hatte: "Es befehden sich Brüder und
fällen einander. Die Bande des Bluts brechen Schwestersöhne.
Arg ist's in der Welt. Viele Unzucht gibt es. Beilzeit, Schwertzeit
, es bersten die Schilde! Nicht einer der Menschen wird den
andern schonen". Diese allgemeine Auflösung kostet Island seine
Selbständigkeit und Freiheit. Nicht der Untergang der Welt,
wie jener Dichter weissagte, aber der Untergang des Staates ist
die Folge.
Aber dieselbe Zeit hat es überhaupt nur ermöglicht, daß die
alten Geistesschätze so emsig und treu auf der Insel bewahrt
wurden. Das große Eddagedicht, das den sittlichen Verfall
dieser Zeit voraussagt, ist durch den national-wikingerhaften
Seist, der sie beherrscht, uns allein in der schönen großen Liederhandschrift
erhalten, die jetzt der Stolz der Kopenhagener
Königlichen Bibliothek ist. Und so wie die Edda alle Sagas
und Skaldenlieder.
Die ganze Insel war damals in der Gewalt weniger aristokratischer
Geschlechter, die alle Godentümer in Händen hatten.
Im Osten traten die Männer von Svinafell und Hof, im
Norden die von Mödruvellir und vom Skagafjord hervor. Die
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Leute von Odde und Haukadal spielten im Süden die Hauptrolle
. Im Westen vor allem die Sturlunge. Endlos waren die
Fehden, in denen sich diese Geschlechter bekämpften.
Im Heldenzeitalter hatten sich Thord Gellir und Tunguodd
mit zweihundert wider vierhundert Mann gegenüber gestanden
. Mit vierhundert Mann sog der Gode Snorri gegen
fünfhundert Feinde, an denen er den Tod seines Schwiegervaters
Vigastyr rächen wollte. Nach dem Jahre 1100 kamen die Häuptlinge
schon mit 700, ja 1200 Mann Gefolge auf das Allthing.
Um 1200 wurden auf Island dann bereits große Landschlachten,
ja sogar eine Seeschlacht geliefert.
Aus diesen Aristokraten geschlechtern ragt als mächtigstes das
der Sturlunge heraus. Das Erbe der Nachkommen Snorri Godes
und Egils ging auf sie über. In den Streitigkeiten der Insel,
aber auch in den Kämpfen und diplomatischen Verhandlungen
mit dem norwegischen Königshaus vor dem Ende des Freistaates
spielen die Mitglieder dieses mächtigen Geschlechtes die
hervorragendste Rolle. Vor allem die Brüder Thord, Sighvat
und der größte Isländer jener Zeit, Snorri.
Aber das Sturlungengeschlecht hatte auch in der geistigen
Renaissance der Feit die unbestrittene Führung. Man beschränkte
sich nicht auf Inventarisierung der alten Geistesschätze. Man
wollte wie die alte Zeit dichten und erzählen.
Eddalieder und Skaldengedichte entstehen, im Stil der Heldenzeit
, dieser geistesverwandt, wenn auch nicht ebenbürdig.
Vorallem dichten Snorri und nach ihm seine Neffen als Königsskalden
am norwegischen Königshofe.
So lebten auch die"Familiengeschichten" und die"Königsgeschichten"
in der Darstellung der Gegenwart wieder auf. Sie
konnten jetzt aus den Aufzeichnungen der zeitgenössischen alten
Geschlechter, aus den Archiven der Könige direkt schöpfen.
Sturla, der letzte Große des Geschlechtes, schrieb die Geschichte
König Hakons des Alten und legte in der Isländersaga den
Grund zu den Geschichten von den Sturlungen. Eine Hauptrolle
in jener spielt sein genialer Oheim Snorri, in dessen Persönlichkeit
die isländische Renaissance ihre höchste Blüte erreichte,
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14. Snorri Sturluson
Genau dreihundert Jahre, nachdem Egil Skallagrimsson
in Borg geboren war, zog Snorri Sturluson als
Besitzer auf das alte ehrwürdige Bauerngehöft.
Snorri war damals ein dreiundzwanzigjähriger Mann. Er
hatte eine treffliche Bildung hinter sich. In Odde war er bei Jon
Loptsson, dem mächtigsten Häuptling seiner Zeit erzogen worden.
Sein Pflegevater war ein pracht- und kunstliebender Mann, aber
zugleich hervorragend klug und für alle Wissenschaft empfänglich
, die dort nach alter guter Tradition seit Sämund dem Weisen
gepflegt wurde. In einer Umgebung reicher vaterländischer
Gelehrsamkeit wuchs hier der junge Snorri bis zum 19. Jahre
Durch die Heirat mit der reichen Priestertochter Herdis war
Snorri dann in Borg an eine noch ehrwürdigere Stätte gekommen
Hier haue Egil Skallagrimsson, mit dessen Geschlecht er
durch seine Mutter Gudny verwandt war, gesungen. Nun war
er selbst dort am Borgfjord schon in jungen Jahren ein mächtiger
Mann.
Es reizte den Ehrgeizigen, der auch Skaldenkunst in sich verspürte
, sich in die Geschichte seines großen Ahnherrn zu vertiefen.
Vom Besiedlungsbuch, von den Königsgeschichten hatte er hier
und in Odde tiefe Eindrücke empfangen. So zeichnete er alles,
was die reiche mündliche Überlieferung von dem großen Dichter
bot, auf. Er lernte und kannte, wie viele andere, dessen
Skaldenlieder auswendig. Als er dann die fertige Egilssaga hinschrieb,
hatte er dem Geschlecht Skallagrims in der Landnahmezeit
wie in seinen Kämpfen mit den norwegischen Königen doch
wohl unwillkürlich eine sagenhaft überragende Stellung gegeben
.
Bald darauf siedelt Snorri nach dem neuerworbenen prächtigen
Landsitz Reykjabolt am Borgfjord über. Er kann dort
in seinem stolzen stark befestigten und mit reichen Badeeinrichtungen
versehenen Heim eine fürstliche Pracht entfalten. Sein
Blick war durch die Königssagas längst nach Norwegen gelenkt.
Seinen Ahnen Thorolf hatte erin der Geschichte vom Skalden Egil
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schon Harald Haarschön gegenüber nach dem Muster des Vasallen
Olafs des Heiligen Erling Skjalgsson eine mächtige Rolle spielen
lassen. Er selbst wollte nun auch den norwegischen Königen
gegenüber etwas vorstellen.
Dieser Ehrgeiz war um so berechtigter, als Snorri nicht nur
durch seinen geschickt vermehrten Reichtum auf der Insel etwas
galt. Er hatte in blutigen Fehden, wie sie bei der damaligen Rivalität
der vornehmen Geschlechter unausbleiblich waren, ges Rgt,
daß er seinen Mann stellen konnte. Und doch trat seine Friedfertigkeit
zutage und eine geringe Neigung, sich in anderer Händel
zu mischen, die ja einst auch auf Island Egil auszeichnete.
Er war vier Jahre lang Gesetzessprecher der Insel gewesen und
galt längst für einen guten Skalden.
Dreißigjährig kommt Snorri nach Norwegen, wo der junge
König Hakon und neben ihm der tapfere Jarl Skule regierten.
An beide Herrscher; die damals noch nicht entzweit waren,
schloß sich Snorri als Gefolgsmann an, doch besonders feierte
Jarl Skule im Liede. König und Jarl überhäuften ihn mit
Ehrengeschenken und Titeln, die seinem Erwerbssinn zusagten
und seinem Ehrgeiz schmeichelten.
Reibereien zwischen dem Königsgeschlecht und den großen
Häuptlingen auf Island waren damals an der Tagesordnung.
Auch jetzt noch war die Stimmung in Norwegen so erbittert,
daß König Hakon und Jarl Skule einen Kriegszug gegen Island
planten. Hier konnte sich Snorri als Politiker zeigen. Dringend
riet er den Fürsten von einem bewaffneten Angriff ab,
indem er versprach, bei seiner Rückkehr dafür zu wirken, daß
die Insel ohne Blutvergießen in die Gewalt des Königs komme.
Er stellte seinen Sohn als Geisel und wiegte die Herrscher in den
Glauben, daß er sein Vaterland verraten wolle. Zunächst hatte
er ihm als vermeintlicher Lehnsmann des Königs einen patriotischen
Dienst getan. Aber Snorri wurde seiner Rückkehr
nach Island mit Spott- und Hohnversen empfangen. Man
mißtraute dem ehrgeizigen Mann und neidete ihm die reichen
Königsgeschenke,
Doch gelingt es Snorri in kurzer Zeit, allen Argwohn und
alle Eifersucht zu zerstreuen. Er wird nun auf zehn Jahre
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als Gesetzessprecher der erste Mann und vermehrt durch ein Seies
Liebesverhältnis mit einer angesehenen und reichen Witwe
seinen Reichtum und seinen Einfluß auf der Insel.
Das schönste Gedicht, das Snorriwährend seines Aufenthaltes
in Norwegen auf die beiden Fürsten gedichtet hatte, war ein
über hundert Weisen umfassendes Preislied.
Das Lied besingt erst den Ruhm des Königs, dann den des
Jarles und endlich beider. Es weiß nicht genug die Tapferkeit
und Freigiebigkeit der Herrscher zu preisen. Es sollte ihm
gleichzeitig ihr politisches Vertrauen sichern. Es ist in der Form
ein nicht wieder übertroffenes Meisterwerk. Alle kunstvollen
Weisen der Skalden bis auf die einfachere Strophenform der
Edda waren in ihm nach einander veranschaulicht. Es beginnt
mit einem Lobe König Hakons in der prachtvollen Königsweise
und klingt eddamäßig einfach und natürlich in den
Wunsch für ein langes Leben der beiden befreundeten Herrscher
aus.
Das ursprünglich rein als Lobgedicht verfaßte Lied sollte
später noch eine besonders wichtige Aufgabe erfüllen. Es
wurde als Abschluß und größter äußerer Schmuck an das
erste der beiden gelehrten Meisterwerke Snorris gefügt, an seine
Edda.
Mit dem Namen Edda bezeichnen wir auch die Götter- und
Heldengedichte in"Thule". Sie wurden schon in älterer Zeit so
genannt. Da sie später wieder entdeckt wurden als Snorris
Werk, nannte man dann die der seit nach früheren Gedichte
"ältere Edda" im Gegensatz zur"jüngeren Edda" Snorris.
In Wirklichkeit verdient nur dies Werk den Namen Edda,
der"Poetik" bedeutet. Ein Skaldenlehrbuch sollte es trotz seiner
wunderlichen mythologischen Umrahmung sein.
Der erste Teil, die"Täuschung Gylfis"läßt einen schwedischen
König nach Asgard kommen. Dort erfährt er auf seine Fragen
von drei Göttern, in denen sich schon die christliche Trinität
wiederspiegelt; alles Wissenswerte aus der nordischen Mythen-
und Sagawelt. Als er das letzte; den Untergang und die Erneuerung
der Welt, gehört hat, verschwindet die Halle mit
den Göttern plötzlich, und er ist allein.
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Ein solches Frage- und Antwortspiel war ganz nach dem
Sinn der Isländer. Auch im gewöhnlichen Leben kramte man
gern sein Wissen in der Art aus. Die alte Eddadichtung ließ
so Odin über die ganze Mythologie mit einem Riesen äch
unterhalten. Solche alten Gedichte, aber auch das mythendurchwobene
Gedicht von der Weissagung der Seherin, hat
Snorri für sein umfassendes Sagengemälde benutzt.
Für die Auswahl der Mythen und den Umfang, den ihre
Darstellung bekam, waren Gründe der Zweckmäßigkeit maßgebend
. in Skaldenliedern behandelte Vorwürfe, wie die
Fahrten Thors, waren am meisten erwünscht. Bei ihnen nimmt
die Darstellung leicht die Gestalt einer kleinen Saga an. Oft
sind die Lieder, die einer solchen Erzählung zugrunde liegen,
uns nicht mehr bekannt. Dann bekommt das Skaldenlehrbuch
für uns auch den Wert einer selbständigen Dichtung.
Hierher gehören etwa die Abenteuer Thors bei Utgardalaki,
die in ihrer Mischung von Ernst und Scherz so unterhaltsam
sind. Auf anziehenden und dem Gegenstand angemessenen Stil
legt Snorri in seinem Skaldenlehrbuch überhaupt das größte
Gewicht. Balders Tod oder der Untergang der Welt wirken
auch in seiner Prosa gleich Tragödien wie in den Liedern, die
sie einst besangen.
Ähnlich wie in Gylfis Täuschung gibt in dem zweiten Teil
der Edda der Dichtergott Bragi dem fragenden Wassergott Ägir
über alles Wissenswerte aus dem Skaldentum Auskunft.
Die Herkunft des Dichtermetes spielt auch hier wie in Edda-
und Skaldenliedern eine Hauptrolle. Dann aber erörtert
Snorri alle Einzelheiten der dichterischen Sprache und der
poetischen Form und erläutert sie an Meisterstücken aus der
Skaldenkunst. Die Fülle künstlicher Umschreibungen und Bilder,
von denen wir aus Egils und Kormaks Liedern eine Andeutung
zu geben suchten, zieht in buntem Reichtum am Leser
vorüber. Die Ausdrücke für Gold, Schwert, Schiff und viele
andere des täglichen Lebens enthüllen eine Reibe glänzender
Mythenbilder. Die ganze sinnliche und übersinnliche Welt des
nordischen Altertums ist in diesen Ausdrücken beschlossen und
für den Skalden wertvoll.
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Das Gedicht auf König Hakon und Jarl Skule hatte Snorri
ursprünglich nur aus politischen Motiven gedichtet. Jetzt fügt
er es als dritten Teil seiner Edda an und erläutert an dieser
glänzenden Strophenfolge alle Feinheiten des skaldischen
Metrums.
Es spricht für die Lebendigkeit und Vielseitigkeit seines Geistes
, daß er so verschiedene Interessen gleichzeitig in sich vereinigen
konnte. Snorris häusliche Verhältnisse nahmen ihn
nach vieler Richtung in Anspruch. Sein ausgeprägter Erwerbssinn,
seine Liebeshändel mit Frauen, die Zwistigkeiten
in der eigenen Sippe schufen ihm manche Mühen und Schwierigkeiten.
Die Sorge um das Schicksal des Vaterlandes und
die zweideutige Stellung gegenüber dem König und seinen
Landsleuten, die ihm jene aufzwang, konnten wohl den ganzen
Seist eines Menschen in Beschlag nehmen. Bei aller dieser
äußeren Unruhe bleibt Snorris virtuosenhafte Vertiefung in
den Geist des alten Skaldentums bewundernswert.
Für sein zweites Lebenswerk, das Königsbuch, kam Snorri
die Gunst ruhigerer Zeiten zustatten. Die sehn Jahre nach
der Rückkehr von seiner ersten Reise nach Norwegen war die
fiedlichste Zeit seines Lebens. In dieser genoß er als dauernder
Gesetzessprecher der Insel am meisten das Vertrauen seines
Volkes. Die Edda, das Werk, das am tiefsten in dessen Seele;
den Geist des alten Skaldentums, hinabstieg, hatte er vollendet
. Keiner war, wie er, befähigt und berufen, die Zustände
der Vergangenheit und der Gegenwart zu vergleichen. Die
Sehnsucht, die innere Einheit seiner Künstlerseele mit den
Anforderungen seines durch innere Zerwürfnisse zerrissenen
Zeitalters in Einklang zu bringen, hat an der Wiege von
Snorris großem Geschichtswerk gestanden. Durch dies Bestreben
ist eine unvergleichliche Wahrheit und Innerlichkeit
über das Königsbuch gebreitet.
Die Macht, die in dem norwegischen Königtum lag, hatte
Snorri mit eigenen Augen in Norwegen beobachten können.
König Hakon, dessen tatkräftige und glückbegünstigte Gestalt
in vieler Hinsicht an Harald Haarschön erinnerte, war er nahe
getreten. Er dörte weiter auf Island von dessen Siegen, auch
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von seinem gespannten Verhältnis Jarl Skule gegenüber.
Das freundschaftliche Verhältnis der beiden, das er besungen
hatte, bestand nicht mehr wie früher. Wo Snorri sich in die
geschichtlichen Sagas vertiefte, fand er ähnliche Verhältnisse.
Auch von mächtigen Jarlen fanden sich Erzählungen. Aber
fast nie waren ihre Bestrebungen zum endgültigen Siege ausgeschlagen
. Die Reibe der Könige von Harald Haarschön an
bestätigte das Bild, das ibm die Gegenwart lieferte. Immer
waren es die starken Persönlichkeiten der Herrscher, die Geschichte
gemacht hatten. Sie mußten den norwegischen Mittelpunkt
seiner Darstellung bilden.
Mit dem gleichen scharfen Blick hatte Snorri die Verhältnisse
seines Volkes in der Gegenwart beobachtet. Auch hier
fand er die Zustände seiner Zeit beim Durchforschen der alten
Königssagas in der Vergangenheit bestätigt. Schon in der
letzten Zeit des Freistaates trat die politische Bevormundung
Islands durch die Könige Olaf Tryggvason und Olaf den
Heiligen besonders hervor.
Aber damals war von einer so unheilvollen Zersplitterung
der Isländer untereinander doch nie die Rede. Snorri konnte
in seiner eigenen Familie die wilden Roheiten und Grausamkeiten
bei Kämpfen und Überfällen beobachten, die die des
Heldenzeitalters weit hinter sich ließen. Mehr wie früher
wurde der Norwegerkönig von den eigennützigen Häuptlingen
selbst in ihren Wirren als Schiedsrichter angerufen. Auch hier
konnte Snorris Sympathie nur bei dem Königtum sein. Er
sah, daß sich Island selbst zugrunde richtete.
Snorri selbst kam in diesen Wirren des Heimatlandes für
seine Person kaum zu seinem Recht. Er geriet wiederholt in
Situationen, wo seine friedfertigen Absichten mißverstanden,
ja mit Verfolgung gelohnt wurden. Ihm schwebte aus der
Egilssaga sein großer Ahnherr vor, der sich nur im äußersten
Notfall in die Händel seiner Heimat gemischt hatte. Aber
Snorri war keine überragende Kriegergestalt wie jener, den
niemand anzutasten wagte. Auf der Insel hatte er als Gesetzessprecher
seinen Mann gestanden. Er mochte sich gern in
die Rolle eines alleinigen Schlichters der unerträglichen Zustände
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Kraterlandschaft am Myvatn Mückensee). Nordisland
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der Heimat träumen. So war es begreiflich, daß
ihm auch für seine Person ein heilsames Wirken für sein
Vaterland am ersprießlichsten unter dem Schutz des norwegischen
Königtums dünkte,
Der starken Verehrung des Königtums in Vergangenheit
und Gegenwart stand aber doch wieder sein nationaler Stolz
als Isländer gegenüber. Auch dieser war am Hofe des Königs
Hakon mächtig genährt worden. Snorri selbst war Fürstenskalde
gewesen wie in alter seit. Seinem klugen Rat gegen
die Vergewaltigung des Vaterlandes hatten sich jene Herrscher
gefügt. Er war königlich belohnt,
In der Vergangenheit stiegen Männer wie Hallfred und Sighvat
vor ihm auf. Auch sie waren ja in der Gefolgschaft der
Könige gewesen. Sie hatten durch ihre Selbständigkeit als
Skalden den Königen imponiert. Ja Sighvat hatte im Liede sogar
wagen dürfen, den jungen Königssohn, dem er selbst den
Namen gab, als er schlecht gegen das Volk auftrat, in seine
Schranken zu weisen.
So war für Snorri in seinem Königsbuche die Verherrlichung
des Skaldentums der zweite Hauptgedanke. Er beherrschte
ihn um so mehr, als kein Isländer vor ihm mit so kritischem
Blick den Wert der Skaldendichtung auch für die historische
Forschung erkannt hatte. Diese Lieder, durch die sorgfältigste
Tradition von Mund zu Mund fortgepflanzt, waren gerade
durch ihre künstliche Form vor Entstellung geschützt. Die zeitgenössischen
Skalden der Könige Harald Haarschön, Olaf
Tryggvason und Olafs des Heiligen geben auch deren Taten
aus unmittelbar lebendiger Anschauung wieder. Ihre Lieder
waren für Snorri zuverlässige Dokumente. Der Verfasser des
Skaldenlehrbuchs wußte wie keiner in ihnen Bescheid. Die
Beschäftigung mit den Skaldenliedern machte so Snorris Königsbuch
zu einer wahrhaft nationalen Tat.
Die doppelte Sympathie für das Königtum und Skaldentum
in Vergangenheit und Gegenwart haben dem Königsbuch seine
Eigenart gegeben. Mit ihr hängen auch die kritischen Grundsätze
zusammen, die Snorri bei Abfassung des Werkes beherrschten.
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Snorri hat diese selbst in einem meisterhaften Vorwort entwickelt.
Nur auf den zuverlässigsten Quellen hat er sein Geschichtswerk
aufgebaut. Neben den so hochgewerteten Skaldenliedern
waren es die besten schriftlichen Vorlagen, wie die isländische
Geschichte Aris, und die mündliche Mitteilung zuverlässiger
Männer, die Snorri genau kannte. Sein eigenstes
Werk aber bleibt die künstlerische Komposition des Ganzen.
Frühere Zusammenstellungen von Königsgeschichten waren
in der Hauptsache Sammlungen geblieben. Durch Snorris überlegenen
Geist war ein in der ganzen Darstellung einheitliches
Königsbuch geschaffen worden.
Die Form der Saga, die Snorri in seinem großen Ahnherrn
Egil so vollendet entgegengetreten war, hat er im Königsbuch
auch seiner kritischen Geschichtsdarstellung aufgeprägt. Mit
vollem Bewußtsein hat er einmal, wo er nach seinem Material
nicht historisch sichten konnte, die mythische Geschichte des vom
Gotte Frey abstammenden Königsgeschlechtes Harald Haarschöns
an den Ansang gestellt. Das war wohl eine Aufmerksamkeit
für die Norwegerkönige. Sie waren noch immer auf
den Gründer des Einheitskönigtums stolz.
Der Schmuck der Skaldenlieder durchzieht Snorris ganzes
Werk. Dessen schönste Zierde sind doch die inhaltsvollen Reden,
die der Geschichtsschreiber seinen scharf charakterisierten Personen
in den Mund legt. Gerade hier mag sich mancher Eindruck
von Snorris eigner Zeit widerspiegeln. Durch dieses
wirksame rhetorische Mittel hatte ja einst auch ein Thucydides
seine Geschichte belebt.
Es war wohl Snorris Lieblingsgedanke, die Sympathien, die
er für das norwegische Königtum und das isländische Skaldentum
als Künstler empfand, durch eine entsprechende Neuordnung
auf der Insel auch für seine Person in Wirklichkeit umzusetzen.
Als Landesverrat hätte man ihm dies kaum auslegen
können. Er sah den Untergang des Freistaates voraus, der ja
auch zwanzig Jahre nach Vollendung seines Königsbuches
wirklich eintrat. Wenn ein so kluges und künstlerisches Geschlecht
wie er und seine beiden Neffen Olaf und Sturla unter
dem Königsschutz die Herrschaft über die Insel angetreten
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Die drei Gipfelklippen des Snaefellsjökull von Südost gesehen. Westisland
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hätten, wäre es dieser nur zum Vorteil gewesen. Freilich hätte
Snorri wohl für den Glanz und die Pracht seines Hauses
weiter mit dem Geiz seines großen Vorfahren Egil vom Borgfjord
gesorgt.
Die ruhige seit für den Forscher Snorri war nach der Vollendung
des Königsbuches vorbei. Der friedfertige Mann wurde
in Fehden und Verfolgungen verwickelt, die schließlich mit seiner
Ermordung endeten.
König Hakon begann, nachdem er ein Jahrzehnt lang durch
innere Kämpfe daran verhindert war, seine Unterwerfungsgelüste
gegenüber Island aufs neue.
Da er Snorri selbst wegen dessen abwartender Haltung mißtraute
, wandte er sich an andere Mitglieder des tatkräftigen
Sturlungengeschlechtes, um seine Eroberungspläne durchzusetzen
. Vor allem hetzte der König den Sohn von Snorris
Bruder Sighvat, Sturla, auf, in seinem Sinne zu wirken.
Doch war auch Gissur, ein vornehmer Mann aus dem Geschlecht
der Männer vom Haukadal, für den König tätig, der
mit jenem verfeindet war.
Stur las rücksichtsloses Auftreten hatte sich auf der Insel
scharfe Gegner geschaffen. So auch Snorris Bastardsohn
Uräkja, der dem Vater schon viel durch seine Gewalttätigkeiten
zu schaffen gemacht hatte. Sighvat und Sturla überfielen
Snorri, da sie meinten, daß dieser mit seinem Sohn gemeinsame
Sache gemacht habe. So mußte Snorri von seinem
geliebten Reykjaholt fliehen, ein Jahr ruhelos umherirren und
sich auf seinen andern Besitzungen aufhalten.
Auch die Leute vom Haukadal aber hatten Sighvat und
Sturla gereist. So wurden beide von jenen in der blutigen
Schlacht bei Orlygsstadir besiegt und getötet. Dadurch wurde
ihr Gesippe Snorri ein Todfeind Gissurs, des anderen Günstlings
König Hakons, der jenen Totschlag verursacht hatte. Das
Verhältnis Snorris zu König Hakon wurde dadurch nicht
besser. Auf einer zweiten Reise nach Norwegen, die Snorri
dann unternommen hatte, war er nur bei Jarl Skule gewesen
und hatte dadurch den Zorn des Königs noch mehr auf sich
geladen. Gegen des Herrschers Verbot, aber mit ausdrücklicher
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Zustimmung von dessen Widersacher Skule war er nach Norwegen
zurückgekehrt. Nun befahl Hakon seinem Günstling
Gissur den staatsgefährlichen Mann lebend oder tot in seine
Gewalt zu bringern Snorri ward in Reykjaholt überfallen
und getötet.
Snorris Tod war für den schnellen Untergang des Freistaates
entscheidend. Nach und nach gelang es Gissur, der vom
König zum Statthalter Islands ernannt wurde, alle mächtigen
Geschlechter der einzelnen Landesviertel zur Anerkennung der
norwegischen Oberherrschaft zu bringen. Nach der vollständigen
Einverleibung Islands in Norwegen unter Hakons des
Alten Nachfolger 1264 hörte auch die isländische Statthalterschaft
bald auf.
König Hakons Bemühen war es hauptsächlich zu verdanken
gewesen, daß die Romane des Auslandes nach Norwegen
kamen und dort in die isländische Sagaform gebracht wurden.
Er war schon mehr wie seine Vorgänger ein König im Sinne
des mittelalterlichen Rittertums. Er stand mit den Fürsten
Europas, besonders mit dem aufgeklärten Hohenstaufen
Friedrich ll. auf Sizilien, in enger Verbindung. Er hat als erster
schon den Lübecker Kaufleuten in Bergen Handelsprivilegien
verliehen. Diesem König hat dann auch der Preis der letzten
großen Gefolgschaftsskalden gegolten. Die beiden Söhne von
Snorris ältestem Sohn Thord hatten die Bildung und die Liebe
zur Dichtung vom Oheim geerbt. Eine eigentümliche Ironie
des Schicksals ist es, daß sie gerade im Liede die Verehrer des
Königs wurden, der ihren größten Verwandten hatte töten
lassen.
Von den mächtigen Aristokratenfamilien der letzten Zeit des
Freistaates ist nur der Name der Sturlunge durch Snorri
und diese beiden Neffen unsterblich geblieben.
Sie gehören unzertrennlich zu ihm, durch Neigung wie Veranlagung.
Olaf, der ältere, war mehr durch Snorris Skaldenwerk,
die Edda, beeinflußt. Unter seiner Leitung wurde diese
Lebensarbeit Snorris später noch überarbeitet und weitergeführt
. Manches, was der große Gelehrte nur angedeutet hatte,
wurde mit kundiger Hand ergänzt. Die weitere wissenschaftliche
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Forschung des nordischen Altertums war dadurch schon in
alter Zeit eröffnet. Sturla, der jüngere, war mehr durch
Snorris Königsbuch angeregt worden. So schrieb er die "Isländergeschichte"
, deren Glanzpunkt Snorri Sturlusons Leben
bildet. Sie ist denn auch der Mittelpunkt der Erzählungen
aus den "Sturlungengeschichten" in Thule.
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15. Die Kultur der Saga
Der isländische Staat hat das Schicksal aller Normannenreiche
geteilt. Er hat länger als irgendein anderes von
ihnen die ursprüngliche Kultur der alten Germanenwelt festgehalten
Er hat noch in einer Zeit, wo überall sonst der Geist des
christlichen Rittertums herrschte, eine kräftige Renaissance gehabt
. Aber endlich ist auch dieser eigenartigste Normannenstaat
den neu Kulturströmungen des Mittelalters erlegen. Die großartige
Wikingerkultur der alten Feit ist aber in der isländischen
Saga gerettet worden. Ja diese ist sogar in den skandinavischen
Ländern, im Mittelalter in Dänemark, in der Neuzeit in
Schweden und Norwegen, zu besonderem Leben wieder erwacht.
Sie ist durch Tegnér und Ibsen erneut in die Weltliteratur
übergegangen.
Von der außerisländischen Wikingerkultur der alien Zeit
mit ihren großen Staatenschöpfungen in Europa war nur
Deutschland unberührt geblieben. Rußland und Italien,
Frankreich und England haben zeitweise unter dem staatenbildenden
Kultureinfluß der Normannen gestanden.
Das früheste Ende nahm diese germanische Sonderkultur in
Rußland. Nach der Einführung des Christentums, wie auf
Island ums Jahr 1000, unter dem Normannenfürsten Wladimir
dem Großen verschmolz das schwedische Warägertum dort
allmählich mit dem Slawentum. Kjew und Nowgorod waren
die alten Kulturplätze, die die Normannenfürsten dort angelegt
hatten. Da standen die stolzen Wikingerburgen der normannischen
Herrscher, von denen aus sie ihre Wikingerzüge
weithin in die Länder ausdehnten. Dort liefen die alten Handelsstraßen,
auf denen die Wikinger ihre Pelzwaren gegen die
Schätze des Südens eintauschten. Noch tragen sieben mächtige
Stromschnellen des Dnjepr aus jener Zeit normannische
Namen.
Am längsten währte die Normannenherrschaft in Italien.
Erst um 1200, also zu Snorris Zeit, ging das Reich, das von
der Normandie aus gegründet war, in den Besitz der Hohenstaufen
über. Damals war es lange ein blühendes Staatswesen,
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das Sizlien und einen großen Teil des süditalienischen
Festlandes umfaßte. Echt wikingerhaft war es doch aus ganz
kleinen Anfängen heraus gegründet. Robert Guiskard und
seine Brüder, die bald nach dem isländischen Heldenzeitalter
jenen Normannenstaat im Süden schufen, waren als abenteuernde
Söhne eines armen Ritters aus der Normandie gezwungen,
durch jene Tat sich eine Existenz zu schaffen. Im
normannischen Baustil, der die herrlichen Kathedralen von
Palermo und Messina schmückte, ragte hier auf romanischem
Boden ihrem und ihrer Nachfolger Namen das ehrendste
Denkmal.
Am meisten haben nächst Island Frankreich und England
die staatenbildende Macht der Normannen empfunden.
Aus der ersten großen Wikingerperiode, in der dänische Männer
die Führer waren, steigt um die Zeit, da Islands Besiedelung
im vollen Werden ist, das Herzogtum der Normandie in
Frankreich empor. Da die Wogen einer zweiten Normannenbewegung
, die nach längerer Friedenszeit doppelt heftig einsetzte
, abnahmen, steht das Wikingerreich Knuts des Großen,
des Zeitgenossen Olafs des Heiligen, auf England in größter
Blüte.
Im Todesjahr Haralds des Harten von Norwegen, während
Islands glücklicher Friedensepoche, verbindet Wilhelm der
Eroberer nach der Schlacht bei Hastings die Normannenkraft
Englands und Frankreichs mit dem Angelsachsentum Großbritanniens.
Der Grund zu dem größten Kolonialvolke der
Erde ist gelegt.
Was an geistiger Wikingerkultur im Mittelalter auf England
und Frankreich überging, ist nicht die Kultur der isländischen
Saga. Aber das Heldentum, das die normannische
Blutmischung in der langen Zeit der Wikingerherrschaft in
diese Länder hineinträgt, ist dem Kämpentum der Saga verwandt
.
Die normannischen Dichter spielen in der französischen Literatur
eine besondere Rolle. Der Begründer der klassischen Literaturperiode
Frankreichs, Corneille, war ein Normanne. Der
ungewöhnlich heldenhafte Charakter seiner älteren Werke,
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besonders des Cid, ist oft betont. Shakespeares Jugendstück
Richard III., so sehr es mit der englischen Königsgeschichte
verwachsen ist, ist ein Wikingerdrama durch und durch. Sein
Hauptheld könnte in seiner reuelosen Rücksichtslosigkeit Held
einer isländischen Saga fein. Bei Corneille wie bei Shakespeare
hat der Wikingergeist noch in so später Zeit Pate gestanden.
Eigenartig berühren uns die kargen Reste normannischer
Sprache in Rußland, das heldenhafte Normannentum in der
französischen Literatur, die Wikingerart mancher shakespearschen
Heldengestalt und der prachtvolle Normannenstil sizilianischer
Dome. Aber sie sind nur ein letzter flüchtiger Widerschein
des einst so stolzen Wikingertums in jenen Ländern.
Der isländischen Saga, in der die Kraftnatur des staaten-
gründenden Normannenvolkes am stärksten ausgeprägt war,
wurde schon in Dänemark in alter Zeit ein bleibendes Denkmal
gesetzt. Von hier war die Wikingerbewegung zuerst ausgegangen
, deren letzte elementare Ausbrüche die isländische
Renaissance darstellte. Eine solche Wiedergeburt des Wikingertums
hatte schon früher unter dem König Waldemar dem
Großen auch Dänemark erlebt.
Die Kämpfe dieses Königs und seines streitbaren Bischofs
Absalon gegen die Wenden, die auch damals Heinrich dem
Löwen in Deutschland so viel zu schaffen machten, hatten die alte
Wikingerlust wieder aufleben lassen. Dort an der pommerschen
Küste hatte ja auch das alte Wikingernest Jomsborg gestanden,
Ein neuer Wikingerbund im Stile des alten wurde gegründet,
Die alte Wikingerdevise "Wir sind alle gleich" und dieselbe
strenge Manneszucht lebt in diesen Nachfahren der alten Wikinger
, deren Heldentum der König und der Bischof begünstigen.
Absalon aber ist auch ein gelehrter Kirchenfürst. Durch die
Erinnerung an die alten dänischen Heldensagen und das
Kriegertum, das die isländischen Sagas bieten, will er das
mannhafte Kämpentum seines Volkes unterstützen. Er plant
ein Geschichtswerk zum Ruhme Dänemarks.
Ein junger Geistlicher, Saxo, mit dem Beinamen Grammatikus,
d. h. der Gelehrte, brachte diesen Plan zur Ausführung,
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Er war ein Nachkomme jener Seehelden, die unter Waldemar
dem Großen den alten Ruhm der Wikingerzeit erneuert
hatten. In der Darstellung dieser und seiner eigenen Zeit ist
sein Werk, Die Geschichte der Dänen, rein historisch. Aber die
ersten neun Bücher steigen tief in die heimische Sagazeit hinab.
An vaterländischer Begeisterung und umfassender Kenntnis
des alten Heldenzeitalters seines Volkes war Saxo ein Gegenstück
zu Snorri. Aber obwohl er noch ein älterer Zeitgenosse
des großen Isländers war, hat er von dem großartigen Geistesleben
auf Island während dessen Renaissance kaum eine eingehende
Kenntnis gehabt.
Nicht die alten isländischen Familiengeschichten oder Königsgeschichten
haben auf Saxos Darstellung gewirkt. Isländische
und norwegische Heldenromane und Märchengeschichten sind
es, die vielfach in den sagengeschichtlichen Teil seines Geschichtswerkes
verflochten wurden. Sie wurden ihm von isländischen
Sagaerzählern am Hofe des Erzbischofs Absalon
zugetragen, und ihr Fabulierstil wurde ihm geläufig.
Berühmten dänischen Sagahelden hatte auch die Isländersaga
ihr Interesse zugewandt. Vor allem wurde von dem alten
König Rolf Krake auf der Königsburg von Lejre und dem
strengen Vertreter unverfälschten Wikingertums, dem unermüdlichen
Kämpen Starkad, auf Island wie in Dänemark
erzählt. Und ebenso gingen Mythen der Götter, von Odin wie
von Balder, in beiden Ländern von Mund u Mund.
Saxo hat sein Geschichtswerk in lateinischer Sprache verfaßt.
Weder an Volkstümlichkeit noch an kritischer Größe kann es
äch mit Snorris Königsbuch messen.
Aber das schlichte dänische Heldentum tritt uns selbst aus den
wunderlichsten Gedichten Saxos in vergilischen und horazischen
Versen doch plastisch entgegen. Das alte Bjarkilied, das an
Olafs des Heiligen Todestag vor der Schlacht bei Stiklestad
gesungen wurde, bleibt an Kraft und Schönheit hinter keinem
Eddalied in "Thule" zurück.
Auf dem Hintergrunde solches düstern, schicksalsschweren
Heroentums wirkt dann die Fabulierfreude des isländischen
Heldenromans in demselben Werke oft besonders anmutvoll
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und unterhaltend. Auch die Form der alten isländischen Saga
versagt in der geschraubten lateinischen Prosa Saxos nicht
ihre Wirkung.
Wie die Erhaltung der alten Sagakultur im Mittelalter bei
Snorri und Saxo Isländern zu danken ist; so haben sie allein
auch ihre Weiterwirkung in der Neuzeit ermöglicht. Zur Zeit
des dreißigjährigen Krieges wurden die alten Handschriften der
Eddalieder und von Snorris Skaldenlehrbuch wieder aufgehnden.
Allmählich kamen alle die alten Sagaschätze wieder ans
Licht. Sie wurden dann von den dänischen Königen zum größten
Teil den großen Kopenhagener Bibliotheken einverleibt. Vom
Ende des 18. Jahrhunderts beginnt allmählich ihr Bekanntwerden
in allen germanischen Ländern.
Für die Sichtung und kritische Durchforschung ihrer Nationalschätze
, die erst ein Wiederaufleben durch Übertragung und
Nachdichtung in der Jetztzeit ermöglichte, haben große neuisländische
Gelehrte mit das meiste getan.
In Deutschland übertrug Herder in den Stimmen der Völker,
für seine Zeit meisterhaft, das Eddagedicht "Die Weissagung
der Seherin". In seinen Ideen zur Geschichte der Philosophie
der Menschheit fand er die treffendsten Worte zur Wertung
der isländischen Lieder und Sagas.
Die Arbeiten von Jakob und Wilhelm Grimm, von Uhland
und Simrock setzten in Forschung und Nachdichtung zu ihrer
Verbreitung ein. In die romantische Dichtung hielten Eddapoesie
und isländische Saga ihren Einzug durch Fouqué und
Oehlenschläger. Noch heute ist bei den Neuisländern die Liebe
und der Idealismus, mit dem jene Männer sich ihrer heimischen
Sagastoffe annahmen, unvergessen. Aber das klassische Werk
jener romantischen Richtung entstand weder in Deutschland
noch in Dänemark, sondern in Schweden. Esaias Tegnérs Frithjofssaga
fand die begeistertste Aufnahme in ganz Europa, auch
beim alten Goethe. Sie wurde Gemeingut der Weltliteratur
und wirkt auf uns wie eine deutsche Dichtung.
Das Geheimnis der Wirkung von Tegnérs Frithjofssaga
lag in dem großen Dichter selbst. Tegnér, der Nachkomme kerniger
Bauerngeschlechter aus der anm Sagagegend Wärmland,
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trug ein Wikingertum der Seele in sich, das seinen Vorgängern
in der romantischen Dichtung fremd war.
Seine Vorlage, die isländische Frithjofssaga, gehörte nicht
zu den alten Geschichten des Heldenzeitalters. Sie war einer der
späten Heldenromane und ihr sagenhafter Vorwurf reine Dichtung
. Aber ihr eines Hauptmotiv, Fritdjofs Liebe zu Ingeborg,
war doch auch schon in alten Sagas wie der vor Gunnlaug
Schlangenzunge vorhanden. Das andere Hauptmotiv, der
Streit Frithjofs mit den Königssöhnen, bekam schon durch den
Schauplatz und die Zeit, wohin es verlegt wurde, etwas von
der Ehrwürdigkeit der ältesten isländischen Sagas. Noch vor
Harald Haarschöns Alleinherrschaft in der Gegend des Sognefjords
sollte der Hader Frithjofs mit seinen Pflegebrüdern vor
sich gegangen sein.
Die seelische Vertiefung jener späten Märchendichtung mit
dem Kulturanstrich der alten Saga ist allein Tegnérs Werk.
Aus dem phantastischen idealguten Frithjof und seinen unwahrscheinlichen
Bösewichtern bat der romantische
Dichter menschlich ergreifende Charaktere geschaffen. Aus der
für die Entwicklung der Saga in Tegnérs Quelle wenig bedeutsamen
Ingeborg ist die tiefempfundene Partnerin Frithjofs
geworden, die dies nordische Liebespaar für immer unsterblich
gemacht hat.
Die echt menschliche Ausgestaltung jener typischen Figuren
des Heldenromans ließen nun auch die Bilder alter Sagakultur
durch die Tegnér sein romantisches Liebesgedicht von Frithjof
und Ingeborg schmückte, mit der Natürlichkeit der alten
Saga wirken.
Der düstere Schicksalsgedanke jener fehlte freilich auch Tegnérs
Dichtung. Wie in isländischen Heldenromanen schließt
alles gut. Ingeborg reicht am Schluß Frithjof über Balders
Altar die Hand zu glücklicher Vereinigung. Dafür gibt aber
der männliche Zug, den das Ächtertum und die Wikingerfahrten
Frithjofs, die irdischen und himmlischen Walhallszenen
der Dichtung aufprägen, ein kampfernstes Gegengewicht.
Der Empfindung des Zeitalters, das in Tegnérs Fruhjofssaga
den wahrsten modernen Ausdruck der Wikingerzeit sah,
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gab der alte Goethe wohl den besten Ausdruck: "Die alte kräftige
gigantisch-barbarische Dichtart kommt uns, ohne daß wir
recht wissen, wie es zugeht, auf eine neue sinnig zarte Weise,
und doch unentstellt, höchst angenehm entgegen."
Ein großer Schritt aus der Romantik in die Wirklichkeit war
es, als in Norwegen der junge Bjömson und der junge Ibsen
den Prosastil der Saga selbst künstlerisch wirksam nachzubilden
begannen.
Björnsons Bauernnovellen spielen nicht in der alten Zeit.
Aber ihre Helden sind kräftige natürliche Gestalten mit einem
eigenartigen inneren Leben wie die Bauern der isländischen
Sagens. Hier war diese gegenständliche schmucklose Prosa das
wirksamste Kunstmittel, die dichterische Täuschung des wirklichen
Lebens zu vollenden.
In einem Drama aus der alten Sagazeit selbst wandte dann
Ibsen den scharfzugespitztcn Dialog der Sagas mit großem
Glück an. Es war die an Motiven aus der alten Saga überreiche
"Nordische Heerfahrt", in der der Dichter seine künstlerischen
Aktstudien für die "Kronprätendenten" machte.
Wie Tegnér gegen die Mitte, so ist Ibsen am Ende des 19.
Jahrhunderts fur die Verbreitung des Interesses an isländischer
Saga von Bedeutung geworden. Der klare, scharfpointierte
Dialog seiner Prosa, der an die isländische Saga erinnert,
ist ja in allen späteren Stücken Ibsens. Als von den achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts an die bürgerlichen Stücke
übersetzt wurden und jedes neue Stück in Deutschland ein Ereignis
zu werden begann, traten auch die Kronprätendenten
in deutscher Übertragung hervor, Sie bildeten den Abschluß
der Jugendstücke, ehe Ibsen sich gan; den Gesellschaftsstücken
zuwandte. Und sie tragen in dem Gegensatz von Hakon und
Jarl Skule am schroffsten den Gedanken, der alle Jugenddichtungen
Ibsens durchsieht, den Widerspruch zwischen Können
und Begehren, zwischen Willen und Möglichkeit. Hakon der
Glückliche löst ihn, Jarl Skule der Unglückliche geht an ibm zugrunde.
Dieser Grundgedanke Ibsens bekommt aber in dem Stück
auch eine tiefe historische Wahrheit, Hakon der 'Alte ist der
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Der östliche Eisstrom des Snaefellsjökull. Westisland
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Mann, der eine neue Zeit schafft und darum der geborene Herrscher
des norwegischen Staates. Jarl Skule wurzelt ganz in
den Traditionen der alten Zeit. Er wagt es nicht mit der durch
diese geheiligten Überlieferung zu brechen und legt so stets
die Erfolge seiner eigenen Tatkraft lahm. Er kann nicht König
werden, weil er in einer Zeit, wo das Neue bereits zum Durchbruch
gekommen ist, das Hakon mühelos pflückt, noch immer
die "alte Saga" wiederholt.
Die "alte Saga"ist in Snorris Königsbuch bei Olaf Tryggvason
und Olaf dem Heiligen. Aus ihr hat wie Tegnér auch
Ibsen den Stoff fin sein Drama nicht geschöpft. Es spielt während
der Sturlungenkämpfe auf Island und der ewigen Zwiste
der Birkebeiner und Bagler in Norwegen.
Der Gegensatz des Erfolgs und des Mißerfolgs, des Glücks
und des Unglücks in Hakon und Jarl Skule war durch die
Darstellungen der Sturlungengeschichten und die Saga Hakons
des Alten gegeben.
Die tapfere Größe die Jarl Skule in Ibsens Stück auszeichnet
und die in so seltsamem Widerspruch zu seinem traurigen
Ende steht, fand der Dichter bereits in den isländischen
Quellen scharf ausgeprägt. Hakons neidlose Anerkennung Skules
bei Ibsen ist tiefe innere Wahrheit und weit von dem leichten
Edelmut eines glücklichen Märchenprinzen entfernt.
In Snorris Lobgesang auf Hakon und Skule ist die größere
Liebe doch bei dem Jarl. Und selbst in den Zeiten des Zwists
beider verfaßt der ältere Neffe Snorris ein Preislied auf König
und Jarl, das neben Hakon, dem Günstling des Glücks, auch
Skule, dem Mann der kühnen Tat, volle Gerechtigkeit widerfahren
läßt.
Ibsens Kronprätendenten haben ihre literarische Bedeutung
nicht durch das Interesse, das sie für die alte isländische Saga
erweckten, allein bekommen. Die verwickelten Gedankengänge
König Hakons und Jarl Skules, die durch die Grundidee des
Stückes bestimmt wurden, waren der alten Saga und den
alten Skaldenliedern fern. Aber im ganzen bat sich doch das
Ringen eines modernen Geistes, der das Stück durchweht, so
einheitlich mit dem alten Stoff verbunden, daß der Charakter
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der Saga gewahrt bleibt. Mit Ibsens Kronprätendenten ist
die isländische Saga, am modernsten gestaltet, in die Weltliteratur
eingetreten.
Keine Gestalt gibt einen so lebendigen Widerschein aus der
alien Saga wie der Skalde Jatgeir, der treue Freund und
Sänger Jarl Skules während seines kurzen Königsglücks.
Die Gestalt des isländischen Skalden hatte es vor allem nötig,
unserem modernen Empfinden näher gebracht zu werden. Die
Vorstellung des Skaldentums ist bis auf unsere Tage im allgemeinen
kaum weniger nebelhaft gewesen als das phantastische
Bardentum der Klopstockzeit.
Der Skalde Jatgeir tritt in Ibsens Stück äußerlich nur episodenhaft
auf. Er ist nicht so tief in die Schicksale der Haupthelden
Hakon und Skule verflochten, wie der geniale ränkesüchtige
Bischof Niklas oder die Königin Margarete, eine der
entzückendsten Frauengestalten, die Ibsen je geschaffen hat.
Jatgeirs Auftreten gerade an dem bedeutsamen Wendepunkt
des Dramas genügt aber; um die Größe und Bedeutung des
alten Skaldentums in diesem modernen Gegenbilde eines Hallfred,
eines Sighvat und eines Egil Skallagrimsson unvergleichlich
zu offenbaren.
In der Königshalle beim Siegesmahl Jarl Skules singt der
Skalde Jatgeir sein Preislied und wird in die Gefolgschaft aufgenommen
. Aber der Ruhm des Königs und der Hohn über
die besiegten Feinde fliegt auch in bartgeprägten Scherzworten
in die Versammlung, die immer zünden. Jatgeirs Drängen nach
neuen Waffentaten, nach neuem Stoff für seine Lieder ist unersättlich
und reißt alle Mannen mit sich fort. Für seinen König
stirbt er gern. Das ist Hallfred der Königsskalde.
Aber in scharmintiertem Gespräch mit Jarl Skule tritt die
kluge und berechnende Art in Jatgeirs Wesen hervor. Der für
seinen König stirbt, kann doch nicht in dem Sinn für ibn leben,
daß er ihm seine Wesenheit opfert. Der Stolz der Skalden
macht sich geltend, der die gleiche Einheitlichkeit des Wesens,
die ihn selbst beseelt, auch vom Könige verlangt. Jatgeir ist der
feimütige Berater; den Skule sich zum Freunde wünscht. So
war auch Sighvat einst den Königen gegenübergetreten.
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Glänzender noch als der Skalde und Kämpe in der Halle,
als der Vertraute des Königs unter vier Augen leuchtet der
einsame Dichter Jatgeir hervor. "Am Tage mag das Skaldenlied
aufgezeichnet werden, in der Stille der Nacht wird es gedichtet
. Die Skaldenkunst lehrt man nicht. Durch den Schmerz
wird der Skalde zum Dichter." Dies Bekenntnis hebt Jatgeir
doch über den Kämpen, Sänger und Freund der Könige hinaus
. Hier lebt Egil wieder auf in seinen größten Liedern.
An ihn dachte Ibsen schon in der nordischen Heerfahrt, wo
er das Lied des höchsten Skaldenschmerzes, Egils "Der Söhne
Verlust" nachdichtete. Man mag es nun mit der Nachbildung
des Originals in Thule vergleichen. Vielleicht findet die Übertragung
der bilderreichen Skaldenlieder in der Geschichte vom
Skalden Egil gerade bei den Vertretern unserer modernen
L'art pour l'art'-Dichtung Verständnis. Trotz des großen
Zeitabstandes lebt in Egils Liedern etwas ihren künstlerischen
Idealen Wesensverwandtes.
Der Leser Thules wird selbst beurteilen können, wie weit
der Zusammenhang Ibsenscher Kunst mit den alten Liedern
und Sagas auf Wahrheit beruht. Er kann den Stil der alten
Geschichten mit dem Ibsens vergleichen. Er kann sich ein Urteil
bilden, inwiefern auch in den Gestalten der bürgerlichen Dramen
Ibsens etwas Wikingerhaftes steckt. Vielleicht werden
Charaktere wie die sehnende Frau Ellida am Norwegerfjord
oder die abenteuerlustige Hilde Wangel manchem in neuem
Lichte erscheinen. Am meisten wird vielleicht der alte wikingerhafte
Wolf John Gabriel Borkmann an Verständnis gewinnen.
Auch für die Grundidee von Ibsens Dramen ist die Saga von
Bedeutung. Neben den Schicksalsgedanken der Alten und der
modernen Vererbungstheorie hat auf jene auch die Idee von
dem eigentümlichen Walten des Geschickes in den isländischen
Familiengeschichten gewirkt. Inwieweit, kann der Leser Thules
selbst entscheiden.
In den Liedern und Geschichten Thules fehlt es nicht an
Vorwürfen, die zu moderner Nachdichtung reizen können. Der
Heldenroman ist in Tegnér, die spätere geschichtliche Saga in Ibsen
verjüngt auferstanden. Noch mehr verdient die ehrwürdige
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isländische Familiengeschichte mit ihren prächtigen Skaldenliedern
eine Wiedergeburt in moderner Dichtung. Keine ladet
dazu in ihrer großartigen Verbindung von Poesie und Prosa
mehr ein als die Geschichte vom Skalden Egil.
Gerade heute vor tausend Jahren kündigte der zwölfjährige
Egil in einer übermütigen Improvisation den Beginn seiner
Wikingerlaufbahn an. Vielleicht wird das Wort seiner schönen
Altersdichtung auch in der Poesie unserer Tage für ihn noch
einmal zur Wahrheit: "Der Ruhmeshügel, den ich errichtet,
wird dauernd stehen im Reich der Dichtung."
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Übersicht
über die Wikinerzüge und Entdeckungsfahrten
der Nordgermanen.
Dänen
Norweger Schweden
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Island zur Sagazeit.
Die riten Strich, bezeichnen annähernd den Hauptschauplatz
der betreffenden Geschichte. Die lat. Zahlen bezeichnen den Band
von Thule, in dem diese Geschichte erzählt ist, die deutschen,
Zahlen bezeichnen die einzelnen Erzählungen des betreffenden Bandes
___- —-------_______
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Inhalt und Reihenfolge der einzelnen
Bände von Thule:
Egil.
4. Njal.
5. Grettir.
6. Die Leute aus dem Lachstal.
7. Gode Snorri.
8. 1) Hühnerthorir.
2) Hörd.
3) Gisli.
4) Havard.
5) Hochlandskampf.
9. 1 Gunnlaug Schlangenzunge.
2) Björn und Thord.
3) Kormak.
4) Hallfred.
10. 1) Die Leute aus dem Seetal.
2) Finnbogi.
3) Thord und sein Ziehsohn.
4) Der durchtriebene Ofeig.
5) Thorhall Biermütze.
11. 1) Die Leute von Lautersee.
2) Die Leute vom Svarftal.
3) Ljot von Vellir.
41 Glum.
5) Die Leute aus dem Rauchtal.
12. 1) Thorstein der Weiße.
2) Die Männer an der Waffenförde.
3) Thorstein Stangenhieb.
4 Gunnar, Thidrandis Töter.
5) Hrafnkel, der Freyspriester.
6) Die Söhne der Dreplaug.
7) Thorstein, Siduhalls Sohn.
13. 1) Erich der Rote.
2) Erzählung von den Grönländern.
3) Die Leute aus Floi.
4) Die Schwurbrüder.