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ARNOLD BUCHLI Schweizer LegendenGUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967 Der Kopf des Umschlages stammt aus einer Illustration zur Offenbarung des Johannes (Niederländisches Blockbuch, ungef. 1470, Königliche Bibliothek, Kopenhagen)
Diese Bürde des verlorenen Sohnes scheint die Heiligen der vorliegenden Sammlung nicht zu drücken. Es sind feurige Bekenner, Märtyrer und strahlende Glaubenshelden, vom Volk in liebevoller Überlieferung zu Leitbildern gemacht, zu Helfern erhöht, den Schwachen zuliebe an die Kirchen und Kapellenwände gemalt. Die Versuchungen des Antonius sind den meisten von ihnen fremd, und der paulinischen Warnung: «Wer da steht, sehe zu, daß er nicht falle!» bedürfen sie kaum. Selbst im Tode wandeln sie, Felix und Regula, Ursus und Victor, aufrecht zu ihren Begräbnisstätten. Gleich dem Pariser Heiligen Dionysius tragen sie die abgeschlagenen Häupter in den Händen, und Fridolin ruft sogar einen längst Verstorbenen aus der Gruft, vor Gericht für ihn auszusagen. Diesen flammenden Zeugen aus der Zeit der Christenverfolgung stehen Widersacher gegenüber, finstere Heiden, verstockte Ungläubige und böse Quälgeister. Unter ihnen sind Männer, die für ihr Vergehen büssen müssen, selbst über den Tod hinaus: Pilatus, Ahasver und der trotzige Hirte von Bethlehem gehören zu ihnen, «Zeugen wider Willen» nennt sie der Verfasser. Die «Schweizer Legenden», denen diese Auswahl entnommen ist, bilden das Kern- und Herzstück im Werk des großen Sagensammlers Arnold Büchli. Ihre Gestaltung war ihm ein ganz besonderes Anliegen. Legenden wissenschaftlich zu durchleuchten, sie nach ihrem geschichtlichen Kern zu durchsuchen oder gar psychologisch zu deuten, das lag ihm stets fern. Er fühlte zu gut, wie damit das Wesentliche verloren ginge. Er sah seine Berufung darin, die alten Berichte behutsam-ehrfürchtig mitsamt den Zeichen ungebrochenen Glaubens wiederzugeben. Nach seinen Worten sollen sie erklingen als «Stimme aus der Ewigkeit, die auch im einfachen Gemüt das himmlische Heimweh. die stärkste Kraft der Menschenseele, weckt.»Neben zahlreichen andern Quellen diente ihm als Grundlage für die Legenden hauptsächlich die Sammlung des im Jahre 1638 in der Kartause Ittingen verstorbenen Paters Heinrich Murer. Verschiedene Stücke hat er jedoch unmittelbar dem Volk abgelauscht, so etwa die von ihm besonders geschätzten Weihnachtsgeschichten aus der Mesolcina. Bei all dieser Arbeit kam ihm seine Ausbildung als Philologe und Theologe trefflich zustatten. Als Erbe der Reformation. wie er sich einmal nennt, ist er stets bemüht, «über das Trennende der Bekenntnisse hinwegzusehen» und für die gemeinsame Würdigung der Heiligen einzustehen. Dr. Arnold Büchli ist dieses Jahr zweiundachtzig geworden und hat eben den fast tausend Seiten umfassenden zweiten Band der Mythologischen Landeskunde von Graubünden herausgegeben. Wir hoffen mit allen, die von der großen Bedeutung dieser Sammlung überzeugt sind, daß es dem Autor vergönnt sein werde, auch den schon längst vorbereiteten dritten Band zu vollenden. Die Guten Schriften Zürich freuen sich, mit der vorliegenden Auswahl auf die Gesamtausgabe der «Schweizer Legenden» hinzuweisen. Legenden sind - das Wort sagt es - zum Lesen und Beherzigen da, einem ungläubigen und von der Technik oft verblendeten Zeitgeist zum Trotz! Hermann Anliker
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Auf diesem Stein hier auf der Aaren Die heilig Verena ist gefahren Ohne Ruder, Schiff und Schalten, Wie solches erzählt die frommen Alten. |
Man schreibt ihm wunderbare Kraft zu. Als einst eine Feuersbrunst das Dorf einäscherte, blieb das Kirchengewölbe mit dem Stein von den Flammen unberührt.
Als Verenas Ruf wegen ihrer Heiligkeit weit umher erscholl und der Zulauf leidender Leute mit ihren Anliegen zu ihrem Häuslein sich mehrte, beschloß sie, von dannen zu ziehen. Denn der hoffärtige Geist menschlichen Ruhmes pflegt sich gar gerne einzumischen und viele gute Werke zunichte zu machen.
Indem sie ihren Fuß von Koblenz weiter setzte, erreichte sie von ungefähr den alten Flecken Zurzach. Sie wurde berichtet, daß dort Christen seien und ihr Gottesdienst ungehindert geübt werde. Sie fand ebenda auch eine Kirche, zu Ehren der Muttergottes erbaut, und ging andächtiglich hinein. Und sie dachte, nachdem sie aus so weit entfernten Landen dahin gekommen, all das Ihre und die Ihrigen aufgegeben und also allein und verlassen durch unbekannte Gegenden gezogen, wäre es nun an der Zeit, einen Ort zu erwählen, wo sie ihrer Pilgerschaft ein Ende setzen könnte.
Als sie ihr stilles Gebet geendet, trat ein Priester in die Kirche, um seine Messe zu halten. Er fragte sie, woher sie komme und aus welcher Ursache sie in diesem Lande weile, da er sie gleich als eine Fremde erkannte. Sie gab ihm zur Antwort: «Ich bin eine Blutsverwandte Mauritius', des Obersten der thebäischen Legion, und mit dieser über Meer gezogen, die heiligen Orte in Italien zu besuchen und die Marterkrone zu erlangen. Weil es aber dem lieben Gott anders gefallen, so bitte ich demütiglich, Ihr wollet mir gestatten, allhier ihm zu dienen bis zum Abschied meiner Seele.» Darauf entgegnete der Priester: «Ist dies Euer Wille, Jesus Christus, unserm Herrn, und seiner Mutter Maria Euer Leben zu weihen, so verbleibet bei mir! Ich will Euch genugsam Unterhalt zukommen lassen.» Und er vertraute ihr sein Hauswesen an, es zu verwalten.
Nahe beim Rhein war eine alte, zerstörte Stadt, welche vorzeiten die Römer erbaut. Diese hatte man den armen Leuten und den Siechen zur Behausung angewiesen. Verena, die aller-
wegen mit den Bedürftigen Erbarmen gehabt und ihnen nach Kräften geholfen, ging alle Tage dahin zu den Bresthaften und Armen, wusch von ihnen den Unrat ab, säuberte ihre Häupter, verband ihre Geschwüre und brachte ihnen zu essen und zu trinken nach ihrer Notdurft mit großer Freundlichkeit des Herzens.Einst lag im Siechenhaus auch ein Kriegsgesell, beinahe noch ein Knabe an Jahren. Den pflegte St. Verena gar gut mit Kamm und Lauge und Wein aus ihrem Kruge. Er war dieser leiblichen Tröstung sehr froh, dankte ihr zu tausend Malen, indem er sich die feuchtgewordenen Augen wischte, der rauhe Söldner, und reichte ihr zum Andenken eine Wurzel, die er aus seinem Ranzen hervorgesucht. «Nehmt diese und tut sie in die Erde!» sagte er zu ihr. «Sie wird eine Blume treiben, Euch und allen zur Augenweide. Ich habe sie im Valtellin, wo ich im Felde gestanden und gestritten, ausgegraben.» Verena tat nach seinen Worten und setzte die Wurzel in des Pfarrers Garten. Aber sie mochte den ganzen Sommer und Herbst über nur Stengel und Blätter treiben, bis endlich zur Weihnachtszeit unter Eis und Schnee hervor eine wunderschöne Blume auf brach, die hatte die zartesten weißen Blättlein mit feinen, rötlichen Rändern. Diese trug die liebreiche Jungfrau ins Siechenhaus, die nothaften Leute damit zu erfreuen. Und sie schenkte von den Wurzeln den Frauen zu Zurzach, und seither blüht die Blume, Christrose geheißen, um die Zeit der Geburt des Herrn landauf und ab in den Gärten, wo man ihrer wartet.
Aber der Erzfeind aller Menschen, welchem Demut und Barmherzigkeit ein Dorn im Auge sind, gab einem boshaften Menschen ein, die heilige Verena bei ihrem Herrn zu verunglimpfen. Er verleumdete sie, daß sie seinen Haushalt untreulich verwalte. Er habe gesehen, wie sie alle Tage zu den Siechen hinaus sich begebe, zu den Bettlern und Dürftigen, ihnen Brot und Wein aus seinem Hause zu bringen. Der Priester wollte ihm nicht Gehör schenken, wurde aber zuletzt von dem falschen Knecht genötigt, selber an der Straße, wo sie vorüber mußte, einen Augenschein zu nehmen.
So begab es sich, daß St. Verena den beiden in die Hände lief, nach ihrer Gewohnheit Kamm und Weinkrüglein mit sich führend. Sie ward von dem Priester angesprochen, wohin sie gehe und was sie mit sich trage. Sie antwortete sittiglich, sie besuche die armen Leute und wolle ihnen dienen und sie pflegen. Deswegen habe sie in dem Geschirrlein Lauge mitgenommen. Ihr Herr begehrte zu sehen, ob dem auch also sei und ob nicht vielleicht Wein sich darin befinde. Als er aber den Krug abgedeckt, sah er oben auf der Flüssigkeit Kohlen herumschwimmen und darunter eine graue Lauge. Der Priester erschrak sehr und merkte, daß er von dem neidischen Knecht betrogen worden, stellte ihr den Krug mit zitternden Händen wieder zu und bat sie um Verzeihung, welche die heilige Verena willig gewährte. Da er heimgekommen, fand er in Kästen und Trägen sowie im Keller reichlichen Vorrat, ja Überfluß an allem. Der arge Knecht aber erblindete und ward mit fallendem Weh bestraft zeit seines Lebens. Und auch alle seines Geschlechtes suchte Gott heim mit Bresten und Plagen an ihrem Leib, bis es ganz abgegangen.
Weil aber der Gottlosen kein Ende, kam ein anderer Schalk, ein Verwandter des bösen Knechts, der trug einen besondern Widerwillen gegen Verena und suchte Gelegenheit, sie bei dem Priester in Verdacht zu bringen.
Auf eine Zeit zu Anfang der Fasten, da der Priester allen Schmuck von sich tat, darunter auch einen goldenen Ring mit einem Edelstein, gab er ihr alles zu verwahren. Jener Bösewicht aber entwendete heimlich den Ring und warf ihn in den Rhein. Als der Priester hierauf nach dem Kleinod fragte, fand die Jungfrau es nicht mehr. Sie tat nichts denn weinen und seufzen und bat Gott Tag und Nacht, er möchte den Ring wieder zum Vorschein kommen lassen.
Darnach begab es sich, daß die Fischer eines Tages auf den Rhein hinausfuhren. Da fingen sie außer andern Fischen einen großen Salm. Den teilten sie nicht unter sich, sondern verehrten ihn dem Priester. Dieser ließ ihn durch die Fischer selbst vor seinen Augen in Stücke schneiden, und da fanden sie im
Magen des Saims den verlorenen Ring. Der Priester erkannte ihn als den seinigen und zeigte ihn St. Verena, welche sich höchlich freute, daß ihre Unschuld an den Tag gekommen.Da nun die Jungfrau so das ungetreue Wesen der schnöden Welt wahrnahm, begehrte sie sich gänzlich abzusondern und bat den Priester demütig, ihr eine Klause bauen zu lassen, darin sie die übrige Zeit ihres Lebens unserm Herrn Christus und seiner gelobten Mutter allein dienen könnte. Denn unsere Stärke liegt im Stillschweigen und in der Hoffnung auf Gott, so dachte sie. Der Priester wollte erstlich ihrer Bitte nicht stattgeben. Als sie aber in ihrem Vorhaben beständig blieb, ließ er ihr nicht weit von Unserer lieben Frauen Kirche eine Zelle errichten, da, wo jetzt die Stiftskirche steht. Darauf geleitete er mit allen Geistlichen der Nachbarschaft und vielem Volk die Heilige hinein.
Daselbst lebte sie noch elf Jahre, täglich heimgesucht von Bresthaften, Besessenen, Blinden und Lahmen, Krüppeln und Gehörlosen. Und sie wischte manche Zähre von kummerbleichen Wangen, und alle erlangten durch ihre Fürbitte die gewünschte Genesung.
Nachdem sie 15 Jahre zu Zurzach sich aufgehalten, hat der Allmächtige ihrer Mühe ein Ziel gesetzt. Als ihr Sterbestündlein nahe war, erschien ihr Maria, die allerheiligste Mutter Gottes, mit einem schimmernden Chore zierlicher Englein und sprach zu ihr: «0 du standhafte und dem Herrn getreue Jungfrau Verena, mache dich auf und komme mit uns!» Darauf verschied die Gute, und ihre ganze Zelle ward erfüllt mit himmlischem Glanz und gar lieblichem Duft wie von lauter Rosen.
Wegen der vielen Wundertaten, die bei ihrer letzten Ruhestätte geschehen, ist darüber eine gar herrliche, große Kirche errichtet worden. In deren Krypte wird Verenas Grabmal heute noch gezeigt und viel besucht. Da liegt sie, in Stein gehauen, Krug und Kamm in den Händen. Ein kunstvoll gearbeitetes Gitter umschließt sie. Hundert und hundert Weihekerzen sind daran entzündet worden, und das duftende Wachs ist von ihnen
niedergeträuft wie einst die Zähren aus den Augen der Betrübten auf der guten Verena Hand.Ihr erzenes Krüglein war lange verloren gewesen, bis es Hirtenknaben am Rheinufer wieder gefunden. Es ward reich verziert, mit einem vergoldeten Deckel versehen und als kostbares Andenken beim Stiftsschatz verwahrt. Seitdem hat das Wasser, das man mit ihm aus dem Verenabrünnlein schöpfte, die alte Heilkraft oft bewiesen. Als einmal eine Witwe vom vielen Weinen über den Tod ihres Gatten erblindete, gab es ihr das verlorene Augenlicht wieder.
So blieb die Erinnerung an die heilige Verena weit in der Umgebung, im Surb- wie im Aaretal, Jahrhunderte hindurch lebendig. Sie ist auch die Patronin der Fischer und Schiffsleute und sorgt noch immer dafür, daß die Müller nicht allein an sich denken dürfen. Wenn sie das Wasser, das die Wiesen der kleinen Bauern tränken soll, ihren Rädern zuleiten, so führt Verena ein Gewitter herauf. Die Bäche schwellen an und zerreißen den habsüchtigen Müllern die Wuhre.
Darum steht sie auch als Wetterheilige etterheilige in hohen Ehren. Ihr Namenstag, der Erste des Herbstmonats, wird zu Zurzach feierlich begangen. Da strömt alles Volk in die alte Stiftskirche, an der Verenagruft eine Andacht zu verrichten. Und die Alten halten frühmorgens schon Ausschau, ob vielleicht ein linder Regen zu erwarten sei. Denn sie sehen es gerne, wenn die Heilige, die durch das Wasser so mancherlei Wunder wirkte, an ihrem Feste von dem erfrischenden Segen des Himmels auch etwas über die Fluren ausgießt.
FELIX UND REGULA
In einer Hütte am Gestade der Limmat lebte in grauer Vorzeit ein Geschwisterpaar, dessen Namen in Zürich Jahrhunderte lang heilig gehalten wurden und noch jetzt jedem sinnigen Gemüte teuer sind, Felix und Regula. Ihre Wiege stand in Ägyptenland, und von frühester Jugend an hatte ihnen das Licht des Evangeliums geleuchtet, welches zwischen den geschwisterlichen Seelen ein Band knüpfte, das weder Not noch Tod zu zerreißen vermochten.
Vereint flohen sie aus ihrer palmenüberrauschten Heimat, als auf das Gebot des Kaisers Diocietianus die Christenheit grausam verfolgt wurde. Vereint zogen sie mit der thebäischen Legion über das Meer nach Rom und von dannen bis ins Wallis. Darauf begaben sie sich ins Land Glarus. Über die Senke am Tödi zwischen den Muttenbergen und den Felsabstürzen zum Limmernboden sollen sie gekommen sein und sich zuerst in der Gegend von Linthal aufgehalten haben. Noch zeigt man dort die Felix- und Regulaquelle. Nicht weit von dem Hauptflecken ließen sie sich sodann in einer Höhle am Berg nieder, wo eine alte Inschrift im Felsen von ihnen Zeugnis gibt. Daselbst führten sie ein stilles Dasein und verkündeten den Bauern und Jägern der Umgebung das Evangelium. Ein Stein aus der Grotte des Burghügels zu Glarus wird in einer kleinen Kapelle aufbewahrt, weil auf ihm Felix den Eindruck seiner Hand hinterlassen.
Nachdem sie aber das Volk größtenteils zum wahren Glauben bekehrt, wollten sie nicht müßig sitzen und wanderten deshalb nach dem Limmatfluß und dem Zürichsee entlang abwärts. Durch Gottes Schickung beschlossen sie, an diesem Orte Wohnung zu nehmen und erbauten sich ein schlechtes Hüttlein an der Stätte nahe der Limmat, wo jetzt die Wasserkirche steht.
Auf der Höhe, die man noch den Hof nennt, erhob sich die Feste Turicum. Dort wohnte ein römischer Landpfleger mit Namen Decius. Diesem kam von Kaiser Maximianus ein Befehl zu, fleißig achtzuhaben, daß der christliche Glaube nicht
fortgepflanzt würde, welchen die Thebaner Felix und Regula in dem bevölkerten Turicum allbereits ausgesät hatten. Des Decius Schergen nahmen die Geschwister gefangen und führten sie vor den Richter. Der Landpfleger sagte zu ihnen: «Ich weiß, daß ihr Christen seid und aus der thebäischen Schar kommt, die euch wegen Verachtung der unsterblichen Götter des römischen Reiches mit Pein und Todesstrafe vorangegangen ist. Deshalb begehre ich von euch zu wissen, wie ihr euch verhalten wollt.» Darauf antwortete St. Felix: «Wir bekennen Christen zu sein und hoffen mit denen, die du genannt hast, durch Gottes Barmherzigkeit die himmlischen Freuden zu teilen.» Und weder durch Martern noch durch gute Worte ließen sie sich vom christlichen Glauben abwendig machen und dazu bewegen, den römischen Göttern Mars, Jupiter und Mercur zu opfern.Da nun Decius merkte, daß er bei ihnen nichts ausrichten könne, saß er zu Gericht und sprach das Urteil, daß sie als Verschmäher der Götter mit dem Schwert sollten vom Leben zum Tode gerichtet werden. Und auf dem Platz, wo sie vordem ihre Hütte gehabt, boten sie williglich ihr Haupt dem Scharfrichter dar und erlangten dadurch die Siegerkrone ewigen Lebens und die gläubige Verehrung der Nachwelt.
Gott der Allmächtige aber wollte ihnen durch ein Wunderzeichen seine Gnade erweisen. Mit Entsetzen sah das zuschauende Volk, mit Wonne die kleine Schar ihrer heimlichen Anhänger, wie die Geschwister vereint gleichwie im Leben sich erhoben, die abgeschlagenen Häupter von der Erde aufnahmen und diese in den Händen tragend den nahen Bühl erstiegen. Trotzig ließ der Landpfleger ihre Leichname unbestattet. Allein zur Nachtzeit erzeigten ihnen die frommen Christen, die sie bekehrt hatten, heimlich die letzte Ehre. Und sowohl über ihrem Grabe wie über der Stätte, wo sie müde die Häupter niedergelegt, erstanden später berühmte Gotteshäuser ihres Glaubens, das Großmünster und die Wasserkirche.
Im Munde des Volkes geht die fromme Sage, es habe, als das Schwert die Geschwister traf, ein Blitz aus hellem Himmel den
Stundenweiser an der Zeittafel des benachbarten römischen Tempels heruntergeschlagen, und auch das Großmünster müsse aus diesem Grunde der Tafel entbehren. Denn so oft man es auch versucht, eine solche anzubringen, immer sei der Zeiger vom Blitz herabgeworfen worden.
DER TOTE ZEUGT
Der heilige Mann Fridolin, denen von Glarus und Säckingen als ihr erster Apostel wohlbekannt, war, wie sein Name anzeigt, sehr beflissen, den Frieden als das beste Kleinod der Christen allenthalben zu befördern und Zwiespalt hinzunehmen. Über sein Herkommen wird gemeldet, sein Vater, Conranus mit Namen, sei König in Schottland gewesen und er, Fridolin, um das Jahr Christi 465 geboren. Desto mehr ist er zu loben, daß er das Geistliche vor das Weltliche gesetzt und von Jugend auf sich aller Leichtfertigkeit und bösen Gesellschaft entschiagen hat.
Er nahm also das priesterliche Amt an und begann mit Ernst und Eifer, in seinem eigenen Vaterland das Wort Gottes zu verkündigen. Doch als ein wahrer Nachfolger Christi und seiner Apostel entschloß er sich, die zeitlichen Güter, so er hatte, an Witwen und Waisen auszuteilen und in freiwilliger Armut davon zu gehen. Als aber in dem Land kundbar geworden, daß Fridolin wegziehen wollte, begleitete ihn eine große Menge Volk mit Trauern und Weinen. Da nahm er von ihnen Urlaub, gab ihnen den Segen und trat in das Schiff.
Nach viel ausgestandener Seenot kam er an das Gestade Frankreichs und zog von einer Stadt zur andern in großer Armut. Etliche Jahre verblieb er zu Poitiers und wartete des Predigtamtes. Darnach gab ihm Gott ein, er solle aus Frankreich ziehen und sich in die Lande am Rhein begeben, um den Völkern dorten den christlichen Glauben zu verkündigen. Es reiste aber der heilige Fridolin nach Deutschland und stieg
auf den Wasichenberg' im Elsaß. Folgends kam er in die namhafte Stadt Straßburg und richtete daselbst ein neues Stift und drei Kirchen auf. Von dannen zog er nach Burgund und weiter zu den Graubündnern. damit er den Bischof von Chur heimsuchen könnte. Er verblieb aber in der Stadt Chur so lange, bis er das neue Stift samt Kirche jenseits des Wassers Plessur auf einem erhöhten Boden aufgeführt, wo heutigen Tages noch Anzeichen eines Gotteshauses gefunden und «zu St. Hilan» genannt werden.Als St. Fridolin noch zu Chur war, fragte er fleißig, ob sie ihm nicht von einer Insel zu sagen wüßten, die im Rhein gelegen und noch wüst und unbebaut wäre. Darauf ist ihm eine solche gezeigt und der Weg dahin gewiesen worden. Im Jahre Christi 516 kam er nicht ohne große Mühe der langen Reise nach Säkkingen. Nach seiner Ankunft aber verwunderten sich die umwohnenden Völker sehr, daß er als fremder Mann ohne Gefährten diese öde Insel ohne ihre Erlaubnis besiedelte. Sie meinten, er wäre ein Ausspäher und Viehräuber. Deswegen stießen und schlugen sie ihn unbarmherzig und beleidigten den unschuldigen Mann Gottes, und letztlich jagten sie ihn mit Gewalt und nicht ohne Gefahr seines Lebens von der Insel.
Da zog er gen Paris an des Königs von Frankreich Hof und erzählte Chlodwig die Beschwernisse und Unbilden, so er zu Säckingen von den Einwohnern erlitten hatte. Der fromme König ließ sich die Sache angelegen sein und verlieh Fridolin alle Rechte und Gewalt, die Insel unwidersprechlich zu besitzen, gab ihm auch einen besondern Schirmbrief und einen Geleitsmann. Die Bauern aber, die den heiligen Mann gehörtermaßen übel gehalten hatten, wollte der König nach Gebühr bestrafen. Aber St. Fridolin bat ihn, er sollte den gefaßten Zorn fallen lassen und sie verschonen, dieweil sie aus Unwissenheit solche Schuld begangen.
Nun trachtete er mit allem Fleiß, an welchem Ort der Insel er ein Kloster aufrichten sollte. Als er durch sein getreues Gebet
Glarus, ein Hauptflecken und Ort der Eidgenossenschaft, war zu den Zeiten des heiligen Fridolin von zwei gewaltigen Brüdern und Landesherren, etliche sagen, Grafen, regiert. Dieselben hießen Ursus und Landolf, waren mit großen Reichtümern begabt und hatten im ganzen Land ein großes Ansehen. In diese Gegend zog Fridolin, predigte das Evangelium treulich, bekehrte viele, unter andern auch die beiden Brüder Ursus und Landolf. Denn zu derselben Zeit waren wenig getaufte Christen um Zürich und Glarus zu finden.
Ursus aber faßte eine besondere Liebe zu St. Fridolin wegen seines untadeligen Lebens. Als er nun vermerkt, daß der heilige Mann sich gar emsig der Aufrichtung des Stifts zu Säckingen annahm, hat ihm diese Arbeit so wohl gefallen, daß er aus freiwilligem Herzen dem Gotteshaus Säckingen all sein Gut schenkte, dazu auch den Teil, welchen er von seinem Bruder Landolf ererben sollte. Und damit solche Schenkung ihre ewige Kraft hätte, ließ Ursus Brief und Siegel aufrichten und alles in gebührender Weise vor Gericht bestätigen mit Vorwissen und Gutheißen seines Bruders Landolf. Nun forderte Gott den frommen Herrn Ursus aus diesem Jammertal zu den ewigen Freuden.
Aber Landolf, sein Bruder, wiewohl ein Christ, so war er doch vom Geiz verblendet, vergaß seiner Versprechung und machte dem heiligen Fridolin viel zu schaffen. Er forderte ihn vor das weltliche Gericht, setzte sich wider das aufgerichtete Testament und begehrte den Teil der hinterlassenen Güter, die Ursus dem Gotteshaus Säckingen mündlich und schriftlich vermacht hatte.Also mußte der geduldige Fridolin abermals das Kreuz tragen, mit dem Zeitlichen bemüht zu sein und vor den weltlichen Regenten im Rat angesprochen und befragt zu werden. Aber was er vorbrachte und mit Briefen bestätigte, konnte ihm das Recht nicht verschaffen. Er sollte mit Zeugen beweisen, daß Ursus die Erbschaft dem Kloster geschenkt habe. Mit diesem Ausspruch war der Mann Gottes zufrieden in der Hoffnung, der wahre Richter werde ihm aus der Not helfen und die angefochtene Wahrheit an den Tag bringen. Er begehrte aber von dem Richter, daß er ihm Zeit und Ort angebe zu dem künftigen Urteil und Rechtstag, da beide Teile sollten zusammenkommen, und das geschah.
Darauf zog der heilige Fridolin gen Glarus, wo er eine Kirche erbaut hatte, darin Ursus etliche Monate lang begraben lag. Dasselbige Grab ließ er sich öffnen. Da stund nun der heilige Fridolin und rief unerschrocken dem verstorbenen Landesherrn Ursus zu: «Stehe auf in dem großen Namen Gottes, komme hervor und sei mein Zeuge, daß du mir dein Gut geschenkt hast!» Wunderbarlich ist es zu sagen, noch viel wunderbarlicher aber war es anzusehen, wie der hohläugige Kopf und die starren Gebeine aus dem Grab hervorkamen und sich aufrichteten. Den Toten nahm Fridolin an seine rechte Hand und führte ihn den ganzen Weg von Glarus bis zu dem Dorfe Rankweil. Denn allda befand sich das königliche Landgericht an dem bestimmten Tag und Ort. Auch der Landesherr Landolf mit seinen Gönnern, welche die Gerechtigkeit zu unterdrücken begehrten, war zugegen.
Als nun beide Parteien gegenwärtig waren, wendet sich der tote Ursus zu seinem Bruder und spricht mit heller Stimme:
«Mein Bruder Landolf, warum hast du mich nicht in meiner Ruhe gelassen und hast meine Seele berauben wollen der Gnade, welche ich jetzt empfange darum, weil ich mein Gut an das Kloster Säckingen gegeben habe?» Über diese Rede war Landolf sehr erschrocken und in seinem Gemüt verändert, und er gab ihm zur Antwort: «Lieber Bruder, jetzt stelle ich dir gern deinen Teil zu und will den meinen zu größerer Ehre Gottes auch dargeben. Ich schenke hiemit dies Land Glarus dem Gotteshaus Säckingen.» Und Landolf bat den heiligen Fridolin, er wolle ihm verzeihen, was er wider ihn gehandelt und Gott den Allmächtigen bitten, daß er auch ihn zu Gnaden aufnehme. Also hat Ursus sein Amt, des heiligen Fridolin Zeuge zu sein, verrichtet. Nachdem das geschehen, nahm derselbe den Toten wie vorher bei der Hand und führte ihn zurück gen Glarus. Dort legte sich Ursus wieder in sein Grab.Es lebte darnach Sankt Fridolin noch sechzehn Jahr. Und er wirkte in dieser Zeit mit seiner Liebe zum Frieden noch an manchen Orten Gutes, so auch im Solothurner Land.
Da hatten auf dem Stürmenkopf die heidnischen Bewohner der Gegend um Bärswil und Grindel einen Tempel gebaut, wie eine Burg so groß und so fest, darin den Göttern der Waldberge Opfer darzubringen. Sie ward aber «die Höllenburg» geheißen. Denn kaum hatte man drinnen die Götzenbilder aufgestellt, als der Satan mit seinem Gefolge von bösen Geistern aus der ganzen Umgebung von dem stolzen Bau Besitz ergriff. Da pflegte er sie um sich zu versammeln und in den Nächten die hohen Mauern in einem Zuge taumelnden Übermutes unter greulichem Pfeifen, Johlen und Winseln zu umjagen, daß den Heiden im Tale selber davor bange wurde.
Die Greuel dieses Götzendienstes schrien zum Himmel, und darum sandte Gott den heiligen Michael hinab, das Gezüchte zu vertreiben. Und der Erzengel scheuchte mit seinem Flammenschwerte die Geister der Hölle. Den Bösen aber ergriff er mit starker Faust und warf ihn zu Boden, daß unter ihm der Felsen sich spaltete und den Teufel verschlang. Darauf stob die Rotte seiner verruchten Anbeter auseinander.
Und St. Michael wies allen Winden die Höllenburg auf der felsigen Höhe als Zufluchtsort an, und von Stund ab umbrausten Unwetter den Stürmenkopf. Wenn im Sommer die Sonne weit umher im Tale die Ernte reifte, dann türmten sich um die zerfallenen Burgmauern Wolken auf, brauten Gewitter und schlugen die fruchtbaren Fluren mit schwerem Hagel, Mühe und Arbeit des Landmanns vernichtend. Und zuletzt wurden die Bewohner der jedes Jahr wiederkehrenden Sorgen müde und beschlossen, die Gegend zu verlassen, um nicht Hungers sterben zu müssen. Sie rafften ihre Habe zusammen und bereiteten sich, Männer, Weiber und Kinder, auszuziehen.
Da kam durch göttliche Schickung St. Fridolin des Weges geschritten. Der sprach zu den Bekümmerten: «Lieben Leute, mit nichten tut ihr gut daran, von hinnen zu gehen, wo eure Ahnen gelebt und gestorben. Gottes Zorn wird euch folgen ins fremde Land, wohin ihr auch wandert, so ihr nicht ihn allein ehrt, dem alle Macht Himmels und der Erden gegeben. Wendet euch ab von dem heidnischen Götzenwesen, und baut Gott dem Herrn ein Heiligtum da droben auf dem Berge! Dann wird er seine Hand halten darüber und den Fluch, der auf dem Lande lag, in Segen und Wohlfahrt wandeln.»
Da wurden die Bewohner des Tales gar froh, dankten ihm seines Zuspruchs und ließen sich von dem heiligen Fridolin taufen. Und sie taten das Gelübde, ein Kirchlein zu errichten auf der Felsenhöhe. Das geschah. Bald erstand auf «Kirchstätt» am Stürmenkopf eine Kapelle, und seit der Zeit wich die Verwünschung von dem Berge. Die Felder an seinem Fuße waren gesegnet, und in den Heimstätten, die sich um sie erhoben, wohnte ein glückliches Volk.
Noch sieht man auf der Höhe zerfallenes Gemäuer der Höllenburg und den Spalt im Felsen, darin der Böse auf St. Michaels Gebot versank.
Der heilige Fridolin aber kam zu hohem Alter und verschied seliglich zu Säckingen, als man zählte nach Christi Geburt 540.
ST. GALLUS
In Hibernien, dem stillen, grünen Eiland im Ozean, lebte ferne von dem Kampfgetriebe der Völker des Festlandes ein friedlicher Keltenstamm. Bei ihm fanden römische Lehrer des christlichen Glaubens Zuflucht und stifteten zahlreiche Klöster. Deren Insassen aber trieb es, den Pilgerstab zu ergreifen, um drüben die Gaue der Franken und der rauhen Alemannen zu durchziehen und dort das Evangelium zu verkünden.
Zu Bangor in dem Kloster wurde Gallus, der in Schottland um das Jahr Christi Jesu 550 geboren, von seinen hochedeln Eltern in blühender Jugend dem berühmten geistlichen Vater Columban anbefohlen und wohl erzogen. Wegen seines hohen Verstandes von einer geistlichen Weihe zur andern erhöht, ward er wider seinen Willen zum Priester eingesegnet.
Nun begehrte aber Columban der Evangelisten Leben fortzusetzen. Er sprach mit seinen Brüdern im Kloster, daß ihrer 13 sich verbanden, ihr Vaterland zu verlassen und andern den christlichen Glauben zu verkünden und ihn auszubreiten. Und als sie von ihrem Abt die Erlaubnis erlangt, ist Columban als der Vater mit dem frommen Gallus und noch elf Mönchen im Jahr des Herrn 586 von Hibernien oder Irland nach England und von dannen nach Frankreich geschifft.
In der Wildnis des Wasgenwaldes fanden sie einen Ort, vor alters mit Mauern umringt, die nun aber verfallen waren. Er wurde Luxovium genannt und war reich an warmen Wassern. Allda bauten sie eine Kapelle und ein Hüttlein, in welchem sie wohnen konnten. Und es schlugen sich sowohl Burgunder als Franken zu ihnen, an ihrer Seite ein geistliches Leben zu führen und in den Orden aufgenommen zu werden.
Weil aber die christlichen Männer aus Irland gesinnt waren, den Samen des göttlichen Wortes in der Völker Herzen weiter zu pflanzen, zogen sie von dannen, besuchten viele Orte und Gegenden und kamen endlich nach Alemannien an den Limmatfluß. An dem zogen sie hinauf bis an den Züricher See, und als sie dem Gestade entlang gingen, gelangten sie zu einer Ort-
schaft, Tuggon geheißen. Die schien ihnen gelegen, allda zu wohnen. Aber die Einwohner dieser Gegend waren grausam und gottlos und opferten den Göttern. Die heiligen Männer unterwiesen sie, an den wahren Gott zu glauben. Als jedoch Gallus, des Columban Jünger, aus inbrünstigem Eifer ihren Tempel anzündete, beschloß das ergrimmte Volk, Gallus zu töten, Columban aber zu geißeln und aus dem Lande zu treiben. Da verließen die Mönche die Gegend mit ihren widerspenstigen Bewohnern.Von dannen kamen sie gen Arbon am Bodensee, das ehedem ein Sitz der Römer. und trafen dort einen christlichen Priester namens Willimar. Er beherbergte sie, und als Columban ihn fragte, ob er nicht einen Ort wüßte, der zu einer klösterlichen Wohnung dienlich wäre, nannte er ihm einen Platz in der Nähe, wo ein altes, zerfallenes Gebäude sich befinde. Und er gab ihnen auch ein Schifflein und Ruder, und sie fuhren dorthin, Bregenz zu. Nachdem sie ausgestiegen, fanden sie eine Kapelle. Die war entweiht, und dafür hatten die Bewohner der Umgegend drei vergoldete erzene Bilder an der Wand befestigt, welche sie als die alten Götter und Beschirmer dieses Ortes anzubeten pflegten.
Columban forderte Gallus auf, er solle dem Volke zusprechen und ihm seinen Irrtum zu verstehen geben. Denn dieser konnte als der einzige von ihnen auch Deutsch. Und als sich an einem Festtag bei der Kapelle Männer und Frauen in großer Zahl versammelten, auch um die Fremdlinge zu sehen, von deren Ankunft sie gehört hatten, begann Gallus zu ihnen zu reden. Er ermahnte sie, den wahren Gott zu verehren, und vor aller Augen ergriff er die Erzbilder, zerbrach sie in Stücke und warf sie in den See. Darauf bekehrten sich etliche von der Abgötterei zum christlichen Glauben, andere aber liefen Gallus wegen der Zertrümmerung der Götterbilder schmähend voll Wut hinweg. Columban weihte die Kapelle wiederum und hielt darin Gottesdienst.
An diesem Orte blieben die heiligen Männer drei Jahre. Denn der Boden daselbst bot viel Raum und war gar fruchtbar. Etliche von Columbans Gefährten bauten Zellen auf, andere rüsteten
den Garten zu und pflanzten darin. Gallus aber strickte Netze und fing damit so viel, daß die Brüder an Fischen keinen Mangel hatten.In einer Nacht warf er seine Garne aus. Da hörte er, wie ein Waldgeist vom nahen Berge herab einem andern, der sich im See aufhielt, zurief und, als dieser ihm vom Ufer aus Antwort gab, klagte: «Mache dich auf, mir beizustehen! Fremdlinge sind gekommen, welche mich aus meinem Tempel vertrieben und meine Bilder zerschlagen haben. Auf, hilf mir, meine Schmach zu rächen und die Widersacher aus dem Lande zu verjagen!» Ihm erwiderte der Seegeist: «Auch ich erdulde Arges. Sieh, einer von ihnen dringt in die Tiefe hinunter und verstört mir mein Getier, und ich vermag seine Netze nicht zu zerreißen und ihm weder mit List noch mit Gewalt Schaden zuzufügen. Denn er ruft seinen Beschützer ohne Unterlaß an.»
Da Gallus das vernommen, befahl er sich Gott noch eifriger und beschwor die bösen Geister, von dannen zu weichen. Darauf fuhr er an das Ufer und erzählte Columban, was er gehört. Dieser ging in die Kirche und rief durch das gewohnte Zeichen die Brüder zusammen. Aber ehe sie zu singen anhoben, vernahmen sie ein greuliches Heulen und Brüllen der Geister von der Bergeshöhe, wohin sie sich zurückgezogen. Die Mönche aber begannen noch emsiger zu beten und Gott um seinen Schutz anzurufen.
Nicht lange danach verklagten etliche der Einwohner, um für die Zerstörung der Bilder Rache zu nehmen, die Mönche bei dem Herzog Gunzo, Jagd und Fischfang werde von ihnen verderbt. Entrüstet gab dieser den Befehl, sie des Landes zu verweisen. Den Brüdern wurden ihre Kühe weggetrieben und zwei der Ihrigen, welche diese suchten, von den Viehräubern erschlagen. Zu allem Unglück erreichte sie das Gebot des Herzogs, die Gegend zu verlassen. Als Columban seine Brüder darüber sehr bekümmert sah, sprach er ihnen väterlich zu und tröstete sie, er sei voller Hoffnung, Gott werde ihnen Agilulph der Langobarden König, geneigt machen, ihnen eine friedsame Wohnstätte zu weisen.
Als sie allbereits zur Reise gerüstet waren, wurde Gallus von einem gefährlichen Fieber befallen. Columban erlaubte ihm, zurückzubleiben und für sich allein zu leben. Gallus legte seine Netze und Hausgeräte in einen Kahn und fuhr mit zwei Brüdern, welche ihm sein Abt zum Trost gelassen, über den See nach Arbon zum Priester Willimar. Dieser empfing ihn gar freundlich, überließ ihm ein kleines Haus zunächst der Kirche und legte seinen Gefährten Magnoald und Theodor ans Herz, daß sie ihn sorgsam pflegten.
Unter ihrer Wartung genas Gallus. Aber sobald er wieder zu Kräften gekommen, fragte er Hildebald, Willimars Diakon, der auf dem Fisch- und Habichtsfang alle Winkel des Waldes ausgekundschaftet, nach einem abgeschiedenen Orte. Denn er hatte großes Verlangen, fürder in der Einsamkeit zu wohnen. Da versetzte der Diakon: «Diese Wildnis hier, mein Vater, hat viele ungestüme Wasser, enge Täler, die sich hin und her winden, und ist von rauhen Bergen umschlossen. Darin hausen neben Hirschen und anderem Wild auch Bären, Eber und reißende Wölfe. Ich fürchte, die möchten dich anfallen, wenn ich dich dahin geleite.» Doch Gallus entgegnete: «Ist Gott mit uns, wer kann wider uns sein?»
Und des folgenden Morgens machten sie sich in der Frühe auf, den wilden Forst zu durchstreifen. Schon war die neunte Stunde des Tages verflossen, da sprach der Diakon: «Vater, es ist Essenszeit. Laß uns rasten und mit Brot und Wasser uns etwas erquicken, damit wir wieder leichter fürbaß wandern mögen!» Gallus aber antwortete: «Tue nach deiner Notdurft! Mir soll nichts in den Mund kommen, bis Gott mir den Ort meiner künftigen Wohnung gewiesen hat. » Also setzten sie ihren Weg fort und gelangten an ein Wasser, die Steinach genannt. Diesem entlang aufwärts gehend erreichten sie einen Felsen, über den das Flüßlein mit großer Gewalt und lautem Tosen herunterstürzte. Dort war eine Höhle, die ihnen Unterkunft für die Nacht bot, und in dem Gießen, den der Bach bildete, wimmelte es von Fischen. Hildebald fing einige, schlug Feuer und briet sie, und daneben legte er Brot bereit. Indessen
hatte Gallus sich etwas abseits begeben zu stillem Abendgebet. Als er niederknien wollte, blieb er mit dem Fuß im Dorngesträuch hängen und fiel zur Erde. Sein Gefährte bemerkte es und wollte ihn aufheben. Er aber wehrte ihm mit den Worten des Psalmisten: «Laß mich! Denn dies ist mir ein Zeichen. Hier ist meine Ruhestatt, hier gefällt mir's wohl.» Darauf machte er aus Haselruten ein Kreuz und steckte es in die Erde, und nachdem sie ein Gebet gesprochen und ihr Mahl eingenommen, legten sie sich für eine kleine Weile zur Ruhe.Bald jedoch erhob sich Gallus wieder, um vor dem aufgerichteten Kreuz Gott abermals um seinen Beistand zu bitten zu dem Vorhaben, diese Waldgegend bewohnbar zu machen. Da kam ein Bär den Berg herunter getrottet und las fleißig die Überreste des Mahles zusammen, sonderlich die Brotstücklein, die den beiden beim Essen entfallen waren. Wie ihn Gallus erblickte, rief er ihm furchtlos zu: «Du ungeschlacht Getier, im Namen unseres Herrn Jesu Christi gebiete ich dir: Nimm Holz und wirf es ins Feuer!» Der Bär gehorchte, lief hinweg und kehrte mit einem mächtigen Baumstrunk im Maule zurück, den ließ er auf die Glut fallen. Zum Lohne reichte ihm der heilige Mann aus seiner Weidtasche ein ganzes Brot, das der Bär, auf seinen Hinterbeinen emporgerichtet, verzehrte. Dann aber sprach Gallus zu ihm: «Nun weiche aus diesem Tal und halte dich droben in den Bergen und Tobeln auf, wo du weder Menschen noch Vieh Schaden zufügen kannst! Das sei dir zum andern Male im Namen unseres Herrn Jesu Christi geboten.» Und der Bär lief von dannen und verschwand im Walde. Des Gallus Gefährte aber, der das alles nicht ohne Furcht und Bangen mitangesehen, warf sich ihm zu Füßen und sprach: «Jetzt bin ich gewiß, daß der Herr mit dir ist, da dir auch die wilden Tiere untertan sind.»
Des andern Morgens begab sich Hildebald auf des Gallus Geheiß mit seinem Netz nach dem Gießen. Denn sie gedachten,
Willimar ein paar Fische nach Arbon zu bringen. Allein sowie der Diakon sein Garn auswarf, sieh, da tauchten zwei Waldgeister in Gestalt von Wasserfrauen aus der Flut, ganz bloß, als wollten sie baden! «Warum hast du jenen fremden Mann hieher geführt, welcher uns alle nun aus der Wildnis verbannen wird? Denn seine Macht ist groß.»Zitternd eilte Hildebrand zu Gallus zurück und bat ihn, die Geister zu verscheuchen. Als der Heilige zum Strudel kam, hatten sich die Wasserfrauen den Fluß hinauf ins Bergtobel zurückgezogen, aus dem ihr Zetern und Geschrei herunterschallte. Er trat an den Gumpen und rief ihnen zu: «Ich gebiete euch durch die Gewalt der hochheiligen Dreifaltigkeit, verlaßt diesen Ort und flieht ins unwirtliche Gebirg!» Darauf warfen sie ihre Netze aus, und da sie die gefangenen Fische ans Ufer zogen, hörten sie droben von der Schlucht her ein lautes Gejammer, das tönte, als ob zwei Weiber ihre Toten beweinten. Sie verstanden nur die Worte: «Ach, was tun wir hier? Wohin sollen wir uns wenden? Dieser Fremdling vertreibt uns aus Fluß und Forst.» Und noch zweimal ließen sich die beiden klagenden Stimmen vernehmen. Ja, auch später, als Hildebald einst dem Habichtsfang nachging, riefen die Waldfrauen ihn unsichtbar aus dem Dickicht an und fragten, ob der mächtige fremde Mann noch in der Wildnis sei. «Wohl», gab er ihnen zur Antwort, so laut er vermochte, «er ist noch allhier und wird hier wellen immerdar! » Da hörte er tief im Walde ein Schelten und Winseln, das sich allgemach in der Ferne verlor.
Da nun die beiden Wanderer das Tal durchforschten, fanden sie in der Nähe einen schönen Wiesenpian, auf der einen Seite vom Walde, auf der andern durch das Gebirge geschützt. Dieser Ort gefiel Gallus überaus gut, und er entschloß sich, hier eine Klause zu bauen. Und nachdem er Hildebald nach Arbon hatte heimgehen lassen, verharrte er noch drei Tage bei dem Kreuz, das er aufgerichtet, im Gebet und Fasten, um die Wildnis als künftige Stätte der Andacht zu weihen.
Als die Gottesmänner nach des heiligen Gallus Rückkehr wiederum miteinander beim Mittagsmahle saßen, sagte der
Diakon Hildebald scherzend zu Willimar: «Wenn jetzt ein Bär da wäre, so würde ihm Gallus ein Brot reichen.» Auf die Frage des Priesters, was diese Worte orte zu bedeuten hätten, erzählte ihm Hildebald, was sich im Walde an der Steinach zugetragen.Gleich Columban hatte Gallus zwölf Brüder zu sich genommen und im Dienste Gottes unterrichtet. Mit ihnen begann er nunmehr in seiner Wildnis zwischen der Steinach und dem Irabach eine Kirche und Zellen für die Brüder zu errichten.
Einmal, da sie sich nach der Mette zur Ruhe begeben, geschah es, daß der heilige Gallus frühmorgens seinen Diakon Magnoald aufforderte, ihm den Altar zuzurüsten, denn er habe in der Nacht gewisse Kunde bekommen, daß Columban aus diesem Leben ins himmlische Paradies aufgefahren sei, und für seiner Seele Ruhe möchte er die Totenmesse lesen. Man gab mit dem Geläute das Zeichen, und die Brüder kamen zum Gottesdienst. Dann erteilte der heilige Gallus seinem Diakon den Auftrag, unverzüglich nach Italia zu reisen, um in der Bobienser Kloster zu erfahren, wie es bei Columbans Tode zugegangen. Er solle sich achtsam Tag und Stunde merken, da jener verschieden. Nachdem Magnoald erst gezagt, er sei des Weges nicht kundig, ermunterte ihn Gallus, sich getrost dahin aufzumachen, und gab ihm seinen Segen auf die Reise. Und der Diakon gelangte glücklich nach Columbans Kloster. Da vernahm er, daß alles sich so verhielt, wie es dem heiligen Gallus war geoffenbart worden, und die Brüder sandten ihm Columbans Stab als ihm wohlbekanntes Pfand. Da er ihn empfing und dazu den Brief, den die Bruderschaft Magnoald mitgegeben, weinte er bitterlich.
Zu jener Zeit begehrten ihn die Mönche von Luxovien zum Abte, aber er ließ sich nicht bewegen, das Tal der Steinach zu verlassen, gleichwie er vordem dem Herzog Gunzo es abgeschlagen, ein Hirt über das ganze Volk des Bistums Konstanz zu werden. Auf seinen Wunsch aber wurde darauf Johannes, sein Diakon, der in Churrätien geboren, zum Bischof erwählt. Da nun Gallus schon hochbetagt, kommt eines Tages Willimar
der Priester zu ihm in die Zelle mit der Klage, warum er dem Volke zu Arbon den Trost seines Zuspruchs so lange entzogen. Und willig machte sich der heilige Mann noch einmal dahin auf, von wo er einst ausgezogen, um eine Stätte seines Wirkens zu finden. Zu Arbon der Stadt erbaute er die Gemeinde, die zu des Erzengels Michael Fest zusammengekommen, mit einer gar kräftigen und liebreichen Predigt über die Vergänglichkeit des Irdischen, daß ihm alle mit höchster Andacht zuhörten.Noch steht zu Arbon neben der Pfarrkirche die alte Galluskapelle. Zur Seite ihres Portals ist in einer Nische der Mauer eine unbehauene Steinplatte zu sehen. Sie hat zwei Vertiefungen von der Größe eines Fußpaares, und das Volk erzählt, daß der heilige Gallus auf dieser Schwelle gestanden, als er zum letzten Male Gottes Wort verkündete. Dabei soll er also gewaltiglich geredet haben, daß die Fliese unter seinen Füßen sich erweichte und die Eindrücke seiner Sohlen darin zurückblieben. «Der Gallusstein» wird darum die Platte bis auf den heutigen Tag genannt.
Doch danach schied er selbst, der greise Gottesstreiter. Zwei Tage noch hielt er sich zu Arbon bei Willimar auf. Am dritten aber ergriff ihn ein Fieber, an dem er zwei Wochen darniederlag, worauf er den i6. Weinmonats Anno 645 im 95. Jahr seines Lebens zu den ewigen Freuden eingegangen.
Sowie Johannes, der Bischof von Konstanz, vernommen, daß der heilige Gallus zu Arbon von einer Krankheit befallen worden sei, fuhr er über den See dorthin, um den geliebten Lehrer zu besuchen, hörte aber an der Schifflände ein lautes Jammern von Trauernden. Da sprang er ins Wasser und ans Land, Willimars Behausung zu. Allein er fand des Gallus Leichnam schon im Sarge zugenagelt. Schmerzerfüllt ließ er sich diesen öffnen und warf sich weinend über den Toten. Nachdem er lange bitterlich geklagt, daß er seinen geistlichen Vater und Tröster verloren, zu dem er Zuflucht hatte nehmen dürfen in seines schweren Amtes Sorgen, begab sich der Bischof mit den Geistlichen in die Kirche zum Totenamt.
Aber als man den Sarg auf die Tragen setzen wollte, um ihn in der Gruft zu bestatten, vermochte man ihn mit aller Kraft nicht zu heben. Bischof Johannes erkannte daran, daß der heilige Gallus seine Ruhestätte nicht zu Arbon haben wolle; und er gab Befehl, zwei ungezähmte Pferde einzuschirren und vor einen Wagen zu spannen. Gallus werde diesen dann selbsten leiten, wohin es ihm gefalle. Und jetzt ließ sich der Sarg auf den Wagen laden, und Johannes sprach: «Nehmt den Rossen die Zäume ab, damit sie frei gehen, wohin Gott und der heilige Gallus sie führen werden!» Sie schritten geraden Wegs nach seiner Zelle, und das Leichengeleite folgte ihnen Psalmen singend mit brennenden Leuchtern in den Händen.
Als die Brüder des Klosters hinabeilten gen Arbon, den Leichnam abzuholen, folgten sie dem vielgewundenen Pfad, der über Rotmonten und weiterhin durch eine hohle Gasse bis an den See führte. Von Arbon her aber kam ihnen ein anderer Leichenzug entgegen bis nach Howenbühl und Gommiswil. An der Stelle, wo er dann auf das Trauergeleite der Ordensbrüder des heiligen Gallus traf, ward ein Kreuz errichtet zum Angedenken, und es steht noch, wiewohl oftmals erneuert. Es ist das Kreuz zu Hofen.
Bei des heiligen Gallus Zelle angekommen, trugen seine Jünger die Bahre in die Kirche. Darauf bereiteten sie zwischen Altar und Wand die Gruft und legten den Sarg hinein. Zu Häupten seines Grabes hängten sie die lederne Tasche auf, die der Heilige zeit seines Lebens unter dem härenen Hemde am Halse getragen. Darin hatten sie einen schweren Kieselstein und eine blutige eiserne Kette gefunden. Sein Leib trug davon tiefe Wunden, so hatte er ihn kasteit. An der Gruft stellte man auch zwei Kerzen auf, die waren zu Arbon angezündet und hinter der Totenlade her getragen worden und brannten 30 Tage lang, ohne sich zu verzehren.
So geschahen an des heiligen Mannes Grabe allerlei Wunderzeichen. Neidisch auf diese wollte einst Victor, der Churrätier Graf, das Kloster, dem die Mönche ihres geistlichen Vaters Namen gegeben, mit Kriegsmacht überfallen. Allein sein Anschlag
ward ruchbar, und man stellte heimlich Wachen von Klosterleuten und Bauern auf. In einer Nacht, da man des Grafen Herannahen befürchtete, sahen die Hüter eine große Helle vom Himmel herabkommen, welche den Kirchenbau wie mit hundert und hundert Lichtern umgab. Die Wächter zogen ab, da sie erkannten, daß Gott selbst der Beschützer seines geliebten Dieners Gallus war. Und als Graf Victor nun auf das Kloster zuritt, um den Leichnam zu rauben, da stürzte er vom Pferd und brach eine Hüfte, also daß er mit großen Schmerzen nach Hause getragen werden mußte.Noch Jahrhunderte später erzählte das Volk von Wundertaten des Gottesmannes Gallus. Einmal sei er durch den Arboner Forst gewandert. Von weitem Gange ermüdet, beugte er sich nieder auf den Waldboden, um sich mit einem Trunk aus der kühlen Quelle zu erquicken, die dort aus der Erde hervorsprudelte. Gott für die Labe dankend segnete er den Born und wünschte, daß er stetsfort so reichlich fließen und Menschen wie Tiere in gleicher Weise letzen möge. Von der Zeit an hieß er der Gallusbrunnen. Noch heute lagert sich der dürstende Bauersmann auf dem Felde von Mörschwil gerne auf dem grünen Rasen, der ihn umgibt, um aus dem köstlichen Quell zu schöpfen und sich zu erfrischen. Aber auch die Fuhrleute halten dort gerne an, denn das Wasser ist den Pferden besonders zuträglich. Ja, man will wissen, daß von der Burg Grimmenstein ein unterirdischer Gang zum Gallusbrunnen führe, da die Ritter an ihm ihre Rosse zu tränken pflegten.
St. Gallus, dem auch Macht gegeben war über die reißenden Tiere der Wildnis, haben die Hirten in alten Zeiten, da auf unsern Bergen allenthalben Bären, Wölfe, Luchse und Lämmergeier hausten, um Beistand beim Hüten angerufen, und bis auf den heutigen Tag heben auf den Alpen des Sarganserlandes die Sennen ihren Abendsegen an mit den Worten:
«Ave Maria! Bhüet's Gott unser lieba Herr Jesus Christ Lyb, Hab und Guot und alles, was do ummen ist! Bhüet's Gott und der lieb heilig Sant Gall Mit sina lieba Gottsheiligen all!» |
DER LEUCHTENDE HIRSCH
Hildegard und Bertha, die Töchter König Ludwigs des Deutschen, fanden kein Gefallen an dem geräuschvollen Hoflager mit seinem Gepränge und seinem Ränkespiel. Sie sehnten sich nach friedlicher Stille, um ganz ihrem Hange zu gottseliger Beschaulichkeit folgen zu können. Auf den Rat ihres Vaters erkoren sie Zürich als Wohnsitz, den Ort, wo die thebäischen Blutzeugen Felix und Regula hohe Verehrung genossen. Schon ihrem Ahnherrn Karl dem Großen war die schön gelegene Stadt am heiteren See ein Lieblingsaufenthalt gewesen, und sie fühlten sich durch gar manche Erinnerung an ihn und seine Tochter Theodrada hingezogen zu dem königlichen Hof am Limmatufer. Doch bald wurde das geschäftige Tun und Treiben in der Stadt, das bunte Hin und Her der Händler und Landfahrer auf Markt und Gassen ihrem frommen Sinne unbehaglich, und sie sehnten sich hinweg in die Einsamkeit. Nun besaß König Ludwig nicht weit ob Zürich ein alt, herrlich Bergschloß, Baldern genannt. Gern weilte er dort inmitten seines Forstes Albis. Da hinauf zogen jetzt die beiden Schwestern, froh, in dieser waldigen Abgeschiedenheit ungestört Gott dienen zu dürfen Tag und Nacht.
Und er ließ sie seine Gnade merken und sandte ihnen, wenn sie schon in der Morgenfrühe die Burg verließen, einen stolzen Hirsch entgegen. Der trug auf seinem vielzackigen Geweih zwei brennende Lichter und ging ihnen allerwegen voran bis in die Au zwischen dem See und der Sihl. Daselbst stand eine Kapelle der Stätte gegenüber, wo das heilige Geschwisterpaar Felix und Regula den Märtyrertod erlitten. Und nachdem die Königstöchter dort ihr Gebet verrichtet, kehrten sie zurück, und der Hirsch begleitete sie wieder bis vor das Tor der Burg, worauf er verschwand. Jeden Morgen erschien das edle Tier und harrte vor der Zugbrücke, bis die Schwestern herauskamen, um ihnen dann zu leuchten auf dem einsamen Gang hinunter zu ihrer Andacht im Angesicht des von ihrem Ahnherrn so reich begabten und begünstigten Stiftes zur Propstei.
Das währte einige Zeit. Da ward ihrem Vater kundgetan, wie die Schwestern des Nachts allein miteinander aus dem Schlosse gingen, und niemand wüßte, wohin, noch was sie täten. Nun traute der König den Töchtern wohl und hielt sie für fromm, weshalb er ihnen auch die Sache nicht vorstellte. Aber er hatte selbst acht darauf, und als sie einstmals wieder an jenen Ort gingen, um zu beten, folgte er ihnen nach und sah all ihr Tun und Lassen, tat jedoch ihnen gegenüber nicht dergleichen. Denn er erkannte, daß Gott den beiden mit dem frommen Tier ein großes Zeichen seiner Gnade gegeben.
Er dachte darüber nach, wie er ihnen seine Meinung bedeuten sollte, und einmal rief er die Töchter zu sich und sagte zu ihnen: «Liebe Kinder, ihr seid nunmehr zu mannbaren Jahren gekommen. Es werben Könige und Herren um euch. Darum möchte ich euern Willen wissen, damit ich jenen antworten kann.» Da entgegneten sie ihm: «Wir sind willens, Gott zu dienen und nicht der Welt zu leben. Deshalb bitten wir, du wollest uns dazu behülflich sein. Wir begehren nicht mehr als unseres Leibes Nahrung.» Sie sagten ihm auch, das Wunder des leuchtenden Hirsches habe ihnen den Willen Gottes geoffenbart, daß an der Stelle, wo sie ihr Morgengebet zu halten pflegten, ein Kloster gebaut werden sollte.
Willig bot König Ludwig die Hand zu diesem Gott wohlgefälligen Werke, und so wurde die Fraumünsterabtei errichtet, der Hildegard als erste Äbtissin vorstand. Zur dankbaren Erinnerung an das göttliche Zeichen des Hirsches aber ward sein Bild, in Stein gehauen, über den Torbogen des Hauptportals gesetzt.
Nach dem frühzeitigen Tode Hildegards folgte ihr Bertha in der gleichen Würde, und mit königlicher Freigebigkeit fuhr ihr Vater Ludwig fort, das neue Gotteshaus mit Vergabungen und Rechten zu bedenken.
DIE RÄCHENDEN RABEN
Es lebte zu der Zeit Karis, des großen Kaisers, ein wohlgeborener Graf mit Namen Berthold von Sulgen an der Donau, reicher an Tugenden und Gottesfurcht als an vergänglichen Glücksgütern. Dieser hatte unter andern Kindern einen Sohn, Meginrad geheißen, der war geboren im 805. Jahr nach der heilbringenden Geburt Christi. Als der Knabe fünf Jahre alt geworden, führte ihn sein Vater auf die Insel Reichenau in das Kloster, dessen Abt Hatto ein naher Blutsverwandter des Grafen war. Und Meginrad befliß sich, in der heiligen Schrift zu lesen, und die übrige Zeit legte er in der Abschreibung des alten und neuen Testamentes und anderer guter und nützlicher Bücher an, wie die Merkbücher der Reichenau klärlich bezeugen.
Zu denselben Zeiten war am Züricher See oberhalb Jona ein Klösterlein, Oberbollingen genannt. Dessen Mönche begehrten von dem Abt zu Reichenau. daß er ihnen einen Lehrmeister schicken sollte. Da ward im Kloster keiner gefunden, der zu diesem Amt tauglicher gewesen wäre als Meginrad. Er verwaltete es mit allem Fleiß; allein obwohl er mit vielen großen Geschäften beauftragt wurde, dachte er doch, wie er Gott in einer Einöde dienen und alldort sein Leben beschließen könnte.
Nun ward er von dem Landvolk berichtet, daß jenseits des Sees ein hoher Berg wäre, der Etzel, und dahinter eine große Wildnis, der Finstere Wald genannt. Meginrad begehrte diese Gegend selbsten zu erkunden, nahm einen jungen Mönch mit, und sie fuhren in einem Schifflein über den See. Darnach führte ein Knabe sie auf den Etzel. Als er aber gemerkt, daß in dem Finstern Wald viele wilde Tiere waren, ging er jenes Mal nicht weiter, sondern nachdem er den Platz seiner künftigen Wohnung beschaut, stieg er den Berg wiederum hinab.
Nun hatte er keine Ruhe. Sein Sinn stand täglich nach der Einöde, und zuletzt verließ er mit seines Abts Erlaubnis die Schule und das Kloster, fuhr über den See und ging allein auf den Etzel, im Jahr nach Christi Geburt 852. Dort machte er sich selber ein Hüttlein, darin er sich aufhielt und Gott mit Fasten
und Beten diente. Eine fromme, reiche Witfrau zu Altendorf aber versah ihn wöchentlich einmal mit Speise und sonstiger Notdurft und ließ ihm auch eine Kapelle errichten. Da er nun sieben Jahr auf dem Etzel gewohnt und von seinem heiligen Leben allenthalben herumgesagt ward, kam täglich viel Volk zu ihm, seine geistliche Ermahnung anzuhören.Den großen Zulauf aber mochte er auf die Länge nicht erdulden. Deswegen gedachte er seine Wohnung tiefer in der Einöde aufzurichten. Nun begab es sich auf eine Zeit, daß etliche Mönche von Oberbollingen ihn als ihren geliebten geistlichen Vater und Lehrer besuchten. Mit denen ging er in den Wald zu einem dort vorbeifließenden fischreichen Wasser, die Sihl genannt. Und indes die Gefährten sich mit dem Fischen belustigten, ging der heilige Mann in Betrachtung der Wildnis allein spazieren. Da fand er einen ebenen Waldboden und einen schönen Brunnen, jetzt Unserer lieben Frau Brunnen genannt. Diese Stätte gefiel Meinrad zu einer Wohnung gar wohl.
Nun lebte damals zu Zürich in dem Kloster, zum Fraumünster geheißen, eine andächtige Äbtissin, Hildegard, König Ludwigs des Frommen Tochter, die den heiligen Meginrad auf dem Etzel oft besuchte. Derselben offenbarte er, wie er willens wäre, sich weiter fort in den Wald zu begeben. Als die Äbtissin solches hörte, erbot sie sich zu aller ihr möglichen Hilfe. Darauf verließ Meginrad die Wohnung auf dem Etzel und zog in den Finstern Wald, der an das Land Schwyz stößt und ringsum von Bergen umgeben ist. Da die Äbtissin Hildegard vernommen, daß der heilige Mann seine Wohnung verändert hätte, schickte sie unverzüglich Werkleute in den Finstern Wald, ihm eine Zelle und daneben ein kleines Gotteshaus nach seinem Begehren zu bauen. Auch seine Nahrung bekam er von ihr und frommen Pilgern. Doch er gebrauchte wenig davon, das übrige teilte er den Armen aus.
Es hatte sich Meginrad aber von Jugend auf die Muttergottes als seine fürnehmste Patronin auserkoren. Deswegen weihte er der hochgelobten Jungfrau den Ort und die Kapelle. Und dies ist der kleine Anfang des fürstlichen Gotteshauses Einsiedeln.
Als sich nun Meginrad, späterhin Meinrad geheißen, im Finstern Wald seßhaft gemacht und auf eine Zeit seinem Gebet oblag, umgab ihn plötzlich eine Menge höllischer Geister, sodaß er die Helle des Tages nicht mehr sehen konnte. Diese setzten ihm stark zu und machten ihn mit großem Schrecken müde und matt. Er fiel nieder zur Erde und befahl sich Gott. Da sah er vom Aufgang der Sonne her das Licht wieder leuchten, darin ihm ein Engel erschien. Derselbe drang mitten durch die höllischen Scharen mit großer Kraft und gebot ihnen, von dannen zu weichen und den heiligen Mann nicht mehr zu schrecken, worauf die Teufel mit lautem Geschrei und Getöse sich auf die Flucht begaben.
Einstmals kam ein Konventherr aus dem Gotteshaus Reichenau, ihn heimzusuchen. Wie es nun Abend geworden, führte St. Meinrad den Gast in ein besonderes, aus Holz aufgerichtetes Häuslein, daselbst zu schlafen. Und da er eine kleine Zeit gerastet, stand er wiederum auf und ging nach seiner Gewohnheit zum Gebet in die Kapelle. Der Konventherr aber verbrachte die Nacht auch mit Wachen und Beten, hörte den heiligen Mann hineintreten in das Gotteshaus und ging ihm nach bis zu der Türe. Daselbst blieb er stehen und sah, wie ein schöner Knabe, bei sieben Jahren alt, in strahlender weißer Kleidung vom Altar herabstieg und mit St. Meinrad die Psalmen betete, einen Vers um den andern. Darnach sprach das Kind mit dem Heiligen, so daß der fremde Bruder es zwar wohl hören, aber nicht verstehen konnte. Darauf kam der Knabe auch zu ihm und ermahnte ihn liebreich, verbot ihm aber, andern zu offenbaren, was er geredet. Dieses Gesicht hat der Bruder seinem Abt angezeigt, aber niemand sagen wollen, was das Kind mit ihm gesprochen.
Als nun St. Meinrad 25 Jahr im Finstern Wald gewesen, kamen zwei lasterhafte Gesellen, der eine mit Namen Richard, von Nördlingen gebürtig, der andere ein geborener Churwaldner namens Peter, zu Rapperschwil an der Schifflände zusammen. Weil sie von des heiligen Mannes Leben und Wandel viel vernommen, beredeten sie sich, daß er verborgenes Gut in den
Händen habe. Darum fragten die beiden verruchten Menschen fleißig nach dem Weg zu des Einsiedlers Zelle unter dem Schein. ihn heimsuchen und alldort ihre Andacht verrichten zu wollen. Sie fuhren vor Tag von Rapperschwil über den See gen Hurden. Von dannen eilten sie über den Etzel, zogen lange durch den Finstern Wald hin und her von der rechten Straße abirrend und kamen endlich spät noch zu der Zelle des heiligen Mannes.St. Meinrad aber hatte bei sich zwei junge Raben aufgezogen, die er täglich speiste. Als diese der beiden Gesellen ansichtig wurden, flogen sie in die Höhe, als wären sie von einem Raubvogel aufgejagt worden, mit solchem Geschrei, daß der ganze Wald davon widerhallte. Darüber entsetzten sich die Räuber, da sie ihre böse Absicht durch die Raben erkannt sahen.
Als am andern Morgen St. Meinrad vor dem Altar stand, Messe zu halten, ward ihm offenbar, daß er desselben Tages den Tod erleiden und die Märtyrerkrone erlangen sollte. Nach vollendeter Andacht legte er sich in Kreuzes Weise auf den Stufen nieder und bat Gott um Stärke und ein seliges Ende.
Indessen kamen die Mörder und klopften an die Tür. Da St. Meinrad sein angefangen Gebet zu Ende geführt, ging er starkmütig hinaus zu den beiden und grüßte sie, freundlich sprechend: «Warum habt ihr nicht geeilt, die Messe zu hören, daß ich Gott den Allmächtigen für euch hätte anrufen können? Gehet aber noch hinein und betet!» Die zwei traten hinein unter dem Schein zu beten, kamen aber bald wieder heraus und folgten dem Mann Gottes in sein Kämmerlein. Er gab ihnen seine Röcke, auch Brot und Wein und sprach: «Das nehmt von meiner Hand! Sonsten aber könnt ihr selber nehmen, was euch tauglich ist! Eins aber begehre ich von euch: Wenn ihr mich getötet habt - und ich weiß, daß ihr deswegen hier seid - so zündet die zwei Kerzen an, die ihr da seht! Eine setzt zu meinen Häupten und die andere zu meinen Füßen! Denn dazu habe ich sie gemacht.»
Diese sanften Worte vermochten bei den beiden Mordbuben aber nichts anderes, als daß sie den heiligen Mann ergriffen und
mit ihren Knütteln auf das Haupt schlugen, daß er zur Erde fiel. Und als er nach grausamen Martern den Todesstreich empfangen, legten sie den Leichnam auf die Lagerstätte, beraubten ihn seiner Kleider und bedeckten ihn mit einem Tuch. Sodann nahmen sie die zwei Kerzen und stellten die eine dem Toten zu Häupten. Die andere aber trugen sie in die Kapelle, sie bei der Ampel, die allzeit zu brennen pflegte, anzuzünden. Da sie jedoch in das Kämmerlein zurückkehrten, fanden sie die erste Kerze durch göttliche Kraft brennend. Darüber erschraken die Bösewichte so heftig, daß sie von dem Altar der Kapelle nichts rauben durften. Sie nahmen allein die Kleider und eine härene Decke und eilten hinaus.Die beiden Raben aber, die St. Meinrad selbst zu speisen gepflegt, flogen den beiden laut kreischend nach und hackten mit den Schnäbeln nach ihren Köpfen. Weil die Mörder so die Strafe Gottes augenscheinlich vor sich sahen, liefen sie aus dem Wald eilends Wollerau zu, damit ihre Untat und das unheimliche Rabengekrächz weniger in acht genommen würden.
Es wohnte aber zu Wollerau ein Zimmermann, welcher dem heiligen Mann vor Jahren das Häuslein und die Kapelle im Finstern Wald errichtet. Ihm hatte St. Meinrad ein Kind aus der Taufe gehoben. Da dieser die Raben mit solchem Geschrei um der beiden Landstreicher Häupter flattern sah, sagte er zu seinem Bruder: «Das sind ohne Zweifel meines Gevatters, des heiligen Einsiedlers, Vögel. Dem werden die zwei Männer, wie ich argwöhne, etwas Widerwärtiges zugefügt haben. Darum gehe du ihnen nach, so will ich in aller Eile mich zur Zelle begeben!»
Als nun der Zimmermann in den Finstern Wald gekommen, fand er den heiligen Meinrad ermordet auf seinem Bette liegen und beide Kerzen brennend ihm zu Häupten und Füßen stehen. Erschrocken über die schändliche Tat, küßte er des Einsiedlers Leib, verrichtete bei ihm ein Gebet und lief gen Wollerau zurück, den Seinigen den Mord zu melden, schickte auch seine Hausfrau mit andern ehrbaren Leuten in den Wald, daß sie den Leichnam behüteten. Er aber eilte den Mördern nach und fragte alle, die ihm begegneten, ob sie nicht zwei Männer gesehen,
denen zwei Raben mit unablässigem Geschrei nachsetzten. Da wurde er nach Zürich gewiesen.Nachdem er Tag und Nacht gelaufen, fand er endlich seinen Bruder und die beiden Mörder in dem Wirtshaus an der Schifflände auf dem «Dorf», und die Raben waren auch da, schossen durch die Fenster herein mit grausigem Gekrächze, stießen den Zweien die Becher um und fuhren ihnen ins Gesicht, um ihnen die Augen auszuhacken. Denn der allwissende Gott wollte den schmachvollen Tod seines Dieners Meinrad offenbaren. Der Zimmermann zeigte seinem Bruder heimlich den Tod des heiligen Meinrad an, den die beiden Männer ermordet haben müßten, da die treuen Raben sie so gewaltiglich verfolgten.
Sie gingen sogleich und verklagten die Übeltäter bei der Obrigkeit. Diese wurden gefangen genommen, bekannten die Untat und erzählten, wie alles zugegangen.
Also ward von dem Reichsvogt und den Richtern geurteilt, daß man die beiden Mörder zur Richtstätte hinausschleifen, nach kaiserlichem Recht radbrechen und mit den Rädern zu Asche verbrennen, diese aber in das fließende Wasser werfen solle. Die Raben sind auch nicht von der Richtstatt gewichen, als bis die beiden getötet worden.
Zu Zürich wird jenes Wirtshaus an der Schifflände noch jetzt zum Raben genannt, und ebenso führt das Kloster Einsiedeln bis auf den heutigen Tag die Rächer des heiligen Meinrad in seinem Wappen.
Als St. Meinrads Tod dem Abt der Reichenau kundgetan worden, sendete er nach dem Leichnam, damit er im Kloster begraben werden könnte. Die Brüder kamen in den Finstern Wald, luden den heiligen Leib auf ihre Schultern und trugen ihn hinweg. Auf dem Etzel ruhten sie da, wo die Kapelle steht, eine Weile. Doch als sie den Toten wieder aufnehmen wollten, vermochten sie ihn mit aller Kraft nicht mehr zu heben und von der Stelle zu bringen. Da schnitten sie das Herz aus seinem Leibe und bestatteten es in der Kapelle.
Und da das geschehen und des heiligen Meinrad Herz an der Stätte begraben war, wo er seinen Einsiedlerstand angefangen
und sieben Jahre gewohnt hatte im Angesicht des Finstern Waldes, ließ sich der Tote von dannen tragen, und die Brüder brachten ihn glücklich in das Gotteshaus Reichenau. Daselbst ward er neben dem Münster mit großem Kirchengepränge ehrenvoll beigesetzt.
ST. JODERN GLOCKE
Zu den Zeiten Kaiser Karis des Großen lebte in Burgund ein Priester mit Namen Theodulus. Der ward wegen seines tugendsamen Lebens und seiner Geschicklichkeit von männiglich geliebt und hoch geachtet. Und als um das Jahr unseres Heilands und Erlösers 790 der selige Althaus, Bischof im Wallis, entschlief, wurde durch gemeinsame Wahl der Walliser mit Kaiser Karis Bewilligung der Priester Theodulus zu seinem Nachfolger erwählt. Aber je höher dieser in Würden erhoben ward, desto mehr nahm er zu in der Andacht und wohltätigem Trachten.
In einer Nacht wurde dem Bischof Joder' offenbar, daß der heilige Vater in Rom des Augenblicks in Gefahr schwebe und gewarnt werden müsse. Unschlüssig, wie er das ausführen könnte, öffnete der heilige Theodul das Fenster und sah vor dem Schlosse Valeria drei Teufel munter miteinander tanzen. St. Joder rief sie an und fragte sie, wer von ihnen der flinkste sei. Da antwortete der erste, er sei so geschwind wie der Wind. Der zweite sagte, er laufe wie die Kugel aus dem Rohr. «Das sind nur faule Bäuche gegen mich», lachte der dritte, «ich fliege durch die Welt wie ein Weibergedanke. » Diesem als dem Schnellsten machte der Heilige den Vorschlag, er wolle sein werden, wenn er imstande sei, ihn unverzüglich nach Rom und wieder nach Sitten zurück zu bringen, noch bevor am Morgen die Hähne krähten. Der Teufel nahm das Anerbieten mit Freu-1
Die Reise ward angetreten. Der Teufel spannte seine Fledermausflügel aus, und im Nu war der heilige Theodul in Rom. Er warnte den Papst noch zur rechten Zeit und erhielt von ihm aus Dankbarkeit eine Glocke zum Geschenk. Der Satan mußte nun auch noch diese mit aufladen und nach Sitten heimtragen.
Die Turmuhren hatten noch nicht die zweite Stunde des Morgens angezeigt, als der behende Teufel mit seiner Doppellast glücklich zu unterst auf der Planta ankam. Das ward der weiße Hahn auf dem Schloßdach auch sogleich inne und fing schleunigst aus vollem Halse zu krähen an. Jetzt erwachte auch der schwarze Gockel auf der Stadtmauer und schrie ebenfalls. so laut er konnte.
Da ergrimmte der Teufel sehr, daß er die Wette verloren, und warf die Glocke mit solcher Gewalt zu Boden, daß sie neun Ellen tief hineinsank. Der heilige Theodul aber rief: «Dona, Dona, lit!» Und die Glocke fing in der Erde drin zu läuten an, immer lauter, bis sie läutend wieder zum Vorschein kam.
Der Teufel mußte sie ihm lassen. Sie wurde in den Turm gehängt, als «St. Jodern Glocke» gar berühmt und tat gegen Ungewitter Wunder, wie es denn von ihr in einem alten Liede heißt:
«Wan man die glock anziechen tut und gat nach irem willen, daß man si lut mit reinem mut, das wetter tut sich stillen: gar grusamlich sicht mans in lufften schyben, 2 die glock tut es vertriben mit irem ton so rych, uff erd ist nit jr gelych.» |
DIE WEISE DES HIRTEN
Ein junger Hirt war gekommen mit all den andern, die das wunderbare Kind schauen wollten, dessen Geburt die Engel des Himmels Bergen und Tälern verkündet hatten.
Da drängten sie sich am frühen Morgen vor der Grotte und suchten einen Blick hinein zu tun nach dem Kindlein in der Krippe. Und alle trugen sie eine Gabe in den Händen nach ihrem Vermögen, ihrer Hantierung und dem glücklichen Gedanken des Gebers. Und einer nach dem andern trat hinein, um sein Angebinde den heiligen Eltern zu überreichen.
Der schmächtige Bursche aus Galiläas Bergen aber blieb in einem Winkel neben dem Eingang stehen und hielt seinen Kopf mit den dunkeln, krausen Locken gesenkt. Er scheute sich, näher zu der Krippe heran zu gehen. Doch die Muttergottes hatte ihn bemerkt, kam mit einer gütig einladenden Gebärde auf ihn zu und munterte ihn auf, zur Krippe zu treten. «Ich kann dem Kinde keine Gabe reichen, aber ich möchte ihm ein Lied auf meiner Hirtenpfeife blasen», sagte er verschämt. «Tu das, mein Sohn! Du wirst es damit erfreuen», ermutigte ihn die junge Mutter.
Doch da erschien eben eine gar vornehme Schar von Besuchern im Eingang. Die drei Könige aus dem Lande gen Morgen waren angekommen mit ihrem stolzen Gefolge von Leibwächtern und Dienern in prächtigen Gewändern. Herrlich schimmerten die elfenbeingeschnitzten Kästchen und Büchsen, in denen die Kämmerer ihrer Herren Gaben trugen: Gold, Weihrauch und Myrrhen.
Eingeschüchtert wich der Hirt zurück in den Winkel und drückte seine einfache Rohrpfeife an die Brust. Doch Maria suchte ihn mit den Augen, indessen die drei Könige und ihr Geleite die Knie beugten vor der Krippe, anzubeten den Neugeborenen, über dessen Haupt die Magier den Wunderstern hatten aufglänzen sehen. Und sie kam abermals auf den Felsenwinkel zugeschritten, wo der Bursche stand, faßte ihn bei der Hand und nickte ihm liebreich lächelnd zu. «Komm zur Krippe
und schenke dem Kinde ein Lied deiner Hirtenpfeife, guter Knabe!» forderte sie ihn noch einmal auf. Und sie führte ihn, den scheuen, barfüßigen Sohn der galiläischen Berge in seinem Schaffell, durch das prunkvolle Geleite der drei Könige bis zur Krippe. Dort blieb er stehen und setzte zaghaft die Pfeife an den Mund. Aber wie er den Blick in ehrfürchtigem Staunen auf das heilige Kind richtete und dieses ihm aufmerkend zulächelte, da faßte er Mut und spielte mit Kraft und Andacht sein allerschönstes Lied, das er sich ausgeprobt auf einsamer Berghöhe unter seinen Schafen. Und siehe, in der weiten Grotte herrschte Stille, daß der Ton der Pfeife hell erklang am felsigen Gewölbe! Und alle lauschten, Könige und Bauern, Wanderer und Jäger und auch die Frauen und Kinder, die eben noch so eifrig gewundert und geplaudert von dem göttlichen Kinde und von den fremden Fürsten und ihren köstlichen Gaben. Es horchten Esel und Öchslein im Hintergrunde der Grotte und die Schafe, die hinter ihren Hirten hergelaufen waren. Die Tauben und die Schwalben, die in den Felsennischen ihre Nester hatten, hörten auf zu gurren und zu zwitschern. Ja, selbst der Bach, der sonst so eilig und geschwätzig draußen am Eingang vorüberschoß, stand eine Weile still, um das träumerische Lied des Schäfers nicht mit seinem Rauschen zu stören. Und alle die Menschen drinnen und draußen vor der Grotte lauschten mit feuchten Augen und stimmten in ihren Herzen mit ein in den Ton der frommen Ehrfurcht und in den Dank aller Sterblichen an Gott den Vater, der ihnen den Erlöser gesandt. Und als das Lied ausklang in süßes Hauchen, ging es wie ein tausendstimmiges Schluchzen durch den Raum, als schauten in diesem Augenblick alle Mütter der Welt kniend auf das himmlische Kind, seinen jungen Schlummer und seinen Erdenweg zu segnen.Auch der Schäfer war auf die Knie gesunken. Der Blick des Knäbleins in der Krippe ließ ihn die Menge ringsum vergessen. Ihm war, als sei er allein auf der Welt vor der heiligen Mutter und ihrem Kinde. Sein Herz wollte ihm in der Brust zergehen vor einem unnennbaren Glück, als der neugeborene Gottessohn seine Händchen ihm entgegenhob, wie um ihm zu danken.
Und da er sein Lied geendet und seine Schalmei an die Brust drückte, während ihm die Tränen der Freude über die sonngebräunten Wangen rollten, trat die heilige Mutter auf ihn zu, legte ihre weiche Hand ihm auf das Haupt und sagte leise, zu ihm niedergebeugt: «Sei gelobt für dein Lied, Knabe! Du hast an diesem Morgen die allerschönste Gabe dargebracht dem Sohne Gottes, da du deines guten Herzens Stimme tönen ließest.» Und laut vor allem Volk fügte sie hinzu: «Gesegnet sei dein Stand und Amt in der ganzen Welt für immer, Schäfer! Mein Sohn, er wird Besseres nicht zu wirken vermögen als dir es gleichzutun und ein guter Hirte zu werden allen Menschenherzen.»
Und als der junge Schäfer schüchtern wieder und linkisch wie zuvor dem Ausgang zuschritt, da neigten sich die purpurbekleideten Könige vor ihm, und bewundernd schauten alle, die stolzen Kämmerer und die Bauern, die Frauen und Kinder auf ihn und gaben ihm Raum, wie er durch die Menge davonging, wieder zu hüten und zu hirten seine Herden auf den Bergen Galiläas.
DER EWIGE WANDERER IN DER
HEILIGEN NACHT
In jener Nacht, da Jesus geboren ward, hatten einige Hirten ihre Hürden unweit von Bethlehem aufgestellt und hüteten die Herden. Schon waren sie fast alle eingeschlafen. Da kam um Mitternacht der Engel in blendender Helle herniedergefahren, sie aus dem Schlummer zu wecken mit dem Rufe: «Heute ist der Erlöser geboren zu Bethlehem, in der Stadt Davids. Daselbst werdet ihr ein Kindlein finden, in Windeln gehüllt, liegend in einer Krippe.» Und alsbald umflügelte ihn eine strahlende Schar des himmlischen Heeres, und ihr Gesang erfüllte die Höhen: «Ehre sei Gott in den Himmeln und Friede auf Erden allen Menschen, die eines guten Willens sind.»
Voll Staunen und Freuden machten die Hirten sich auf und eilten hinab gen Bethlehem, während über ihren Häuptern ein Stern von nie gesehenem Glanze die blaue Nacht durchblitzte. Sie vergaßen auch nicht, eine Gabe mitzutragen, das göttliche Kindlein damit zu beschenken: der eine ein Lamm, ein Käslein der andere, und wer gar nichts darzubringen hatte, trug ein frommes, aufrichtig frohes Herz dem Erlöser entgegen. Und so waren sie die Ersten, die Hirten, die vor der Krippe knieten, darin das Heil der Welten lag.
Nur einer von ihnen fehlte. Er hatte sich nicht aufwecken lassen, von dem Verkündeten nichts zu hören und nichts sehen wollen. So blieb die Trägheit Herrin über ihn, daß er dem Schlafe nicht zu widerstehen vermochte.
Als er sich endlich die Augen wachrieb, war es schon lichter Tag. Verwundert sah er sich allein. In der Ferne wallten Menschen in langem Zuge über das Feld. Neugierig trat er zu ihnen, sie zu fragen: «Wohin wandert ihr denn so eilig?» Doch da er die Antwort vernahm: «Nach Bethlehem gehen wir alle, alle, den Erlöser zu sehen!» zuckte er mit spöttischem Lächeln die Achseln. Wie jeden Morgen trieb er darauf die Schafe aus den Hürden und führte sie zur Weide auf der entgegengesetzten Seite des Tales.
Am Abend, da die andern Hirten zurückkehrten, schalt er sie, daß sie ihre Herden im Stiche gelassen hätten, und kehrte ihnen grollend den Rücken. So trieb er's zwei Tage. Am dritten aber erfaßte auch ihn das Verlangen, das Kindlein zu schauen, und er ging hinab nach Bethlehem. Doch sieh, die Grotte war leer! Im Stroh der Krippe gewahrte er noch einen zierlichen Eindruck - die Stelle, wo das heilige Knäblein gelegen.
Er war zu spät gekommen. Voll Schmerz und Sehnsucht zugleich ergriff er seinen Dudelsack und ließ ihn erklingen. Die Freude der andern und seine eigene Wehmut mischten sich in den herben Weisen. In diesem Augenblick erschien ein Bote des Himmels, umhüllt von rosigen Wolken, breitete die leuchtenden Hände aus, über dem Hirten einen großen Bogen, das Zeichen der Unendlichkeit, beschreibend - die Ankündigung
ewiger Buße, und verschwand. Seither erschallt jedes Jahr inmitten der Heiligen Nacht das traurig-süße Getön eines Dudelsackes durch die Lüfte, den Menschen auf Erden die Geburt des Erlösers zu verkünden.Kaum sind in der Christmette die Lieder und Orgelstimmen zu Lob und Preis des Gottessohnes verklungen, so schrillen geheimnisvolle Klänge durch die mitternächtliche Stille. Dann wandert ein gebeugter Greis draußen durchs Dunkel, das Haupt überschattet von einer mächtigen Hutkrempe, welche tief hinunterhängt auf den ungeheuren schwarzen Mantel. Der streift den Boden, da der Uralte dahinschreitet auf den Straßen der Welt, durch Dorf und Stadt, über Berg und Tal, durch Ebenen fort, ruhelos, um seine ewig unsühnbare Schuld zu büßen. Dabei hängt ihm auf der Brust der Dudelsack, dessen Pfeifen sich heben und senken gleich riesigen Schneckenhörnern. Gar bleich ist das Gesicht des alten Hirten, und traurig blicken seine Augen aus dem schneeweißen Bartgenist, während er seine eintönigen Pfeifen nach allen vier Himmelsrichtungen klagen läßt. Denn nirgendwo darf er innehalten auf seiner Wanderschaft, nie erfreut er sich menschlicher Gesellschaft. Allein muß er den Gottessohn suchen gehen bis zum jüngsten Tag.
DES KÖNIGS TRAUM
Zu Jerusalem war der erste christliche König, Balduin von Flandern, vom Aussatze befallen worden. Als keine Arznei und kein frommes Werk mehr zu helfen vermochten, stiftete er dem heiligen Lazarus einen Orden.
Da träumte ihm einst, er befinde sich allein in dem neuerbauten Gotteshause, den Herrn der Heerscharen um seine endliche Genesung anzuflehen. Plötzlich stand der Heilige mit einem grünen Kreuze in der Hand vor ihm und winkte, er möchte ihm folgen. Darauf führte er ihn über einen hohen Berg in ein rauhes Land und darin zu einem kleinen Frauenkloster, dessen Insassen
ihn gar freundlich empfingen. Sie begleiteten ihn in ihre Kirche und baten Gott die ganze Nacht, daß er das Leiden von dem Könige nehme. Während des Gebetes wurde ihm Linderung seiner Schmerzen. Er sah, wie seine Haut sich erneuerte, und da er erwachte, setzte er festes Vertrauen in seine Heilung.Voll Begierde, das Land und das Klösterlein kennen zu lernen, wo man im Traume für ihn Genesung erbeten hatte, befahl er, alle Pilger zu Jerusalem danach auszufragen. Unter diesen war auch ein Urner, ein Edelmann aus dem Geschlechte derer von Beroldingen. Als dieser vernahm, daß der König nach einem Lande mit schrecklich hohen Gebirgen, die selbst im Sommer mit Schnee bedeckt seien, forsche, ließ er sich zu ihm führen.
Balduin beschrieb ihm die Reise, die er in seinem Traume gemacht, nannte den schmalen Pfad, der den Felsen entlang und über eine Brücke führe, unter welcher die Wasser zu Staub zerschmettert gen Himmel steigen und gewaltige Steinblöcke den Weg zu versperren drohen. Da brach der Beroldinger in einen Freudenruf aus: «Herr, ich zweifle nicht, das ist der St. Gotthardsberg, dort ist mein Vaterland!» Und wie der König weiter das schmale Tal schilderte, welches zwischen den mächtigen Felsenhöhen liege und die Dörfer beschrieb, durch die er gekommen sei, da rief der Ritter immer freudiger: «Herr, das ist das Urnerland, meine Heimat!» Und als Balduin fortfuhr zu erzählen, wie ihn der Weg zu einer Burg und darauf zu einem Kloster geführt habe, das an einem See zwischen hohen Gebirgen gelegen, da war des Kreuzfahrers Erstaunen und Jubel noch größer, und er fragte mit Eifer: «Herr, das ist Attinghusen, das ist Seedorf, dort bin ich zu Hause! Habt Ihr denn nicht auch etliche geistliche Frauen gesehen? » Ihm antwortete der König: «Mich empfing eine stattliche Frau mit bräunlicher Hautfarbe, großen, schwarzen Augen und einer gebogenen Nase. Neben ihr schritt eine junge Nonne von seltener Schönheit. Aber deren linke Hand verunzierte ein rotes Mal.» Bei diesen Worten des Königs stürzten dem Ritter Tränen aus den Augen. «0 Herr», sagte er, «das ist meine Tochter Hedwig, und die stattliche Frau
ist die Äbtissin, eine geborene von Rhäzüns. Zweifelt nicht mehr, das ist Seedorf in meinem lieben Heimatland!» Da fielen der König und alle seine Begleiter auf die Knie und dankten Gott, denn nun waren sie gewiß, daß der Ort gefunden sei, wo Balduin Heilung werde.Ohne Verzug brach er auf und kam in Begleitung des Ritters von Beroldingen nach langer Meerfahrt und Reise über das wilde Gebirge nach dem Lande Uri. In Seedorf empfing ihn der ganze Konvent des Klosters, so wie er es im Traume gesehen hatte. Und nachdem die Frauen die Nacht hindurch für ihn gebetet und Psalmen gesungen, fing seine verdorbene Haut zu heilen an, und er genas in kurzer Zeit.
Er bat die Nonnen, sie möchten doch die Regel des heiligen Lazarus annehmen, und gründete ein Haus und ein großes Spital für die Ritter des Ordens. Darauf verließ er das Kloster, um sich von Kaiser Heinrich die Freiheiten und Rechte für seine neue Stiftung bestätigen zu lassen.
Auf dem Wege dahin kam er unweit von Zürich an den Ort, wo später das Klösterlein Gfenn stand. Dort hielt sein Pferd an und wollte nicht weiter, weder mit Lieb, noch mit Gewalt. Das nahm der König für ein Zeichen, daß er auch hier ein Kloster gründen solle. Darum schickte er nach Seedorf, damit zwei Frauen kämen, den Bau zu überwachen. Als er vom kaiserlichen Hoflager zurückkehrte, um wieder nach Jerusalem zu fahren, war dieser schon im Gange, und mit Freuden vernahm er, daß ihn die Edeln in der Umgebung mit reichen Spenden förderten.
ST. NIKOLAUS VON TSCHAMUT
Wenig unterhalb des letzten Hauses von Tschamut lehnt sich hart an der Talstraße nach Selva eine alte Kapelle gegen den Felshang. Jetzt hat man sie hübsch hergerichtet einem Gelübde zufolge, das ein junger Mann getan, als er droben auf Meighels in eine Gletscherspalte stürzte. Da unten zwischen den Eiswänden
gelobte er, das zerfallene Kirchlein wieder zu Ehren bringen zu lassen, wenn er aus der furchtbaren Gefahr errettet würde. Und er wurde gerettet und die Kapelle zu St. Nikolaus erneuert.Dabei ist leider eine uralte hölzerne Bildtafel verloren gegangen. Darauf war ein Begebnis festgehalten, das die Erinnerung des Volkes bewahrt.
Einmal gegen den Frühling hin waren zwei alte Leutchen von Selva, Mann und Frau, damit beschäftigt, auf einem Handschlitten Dünger zu führen auf ihre Wiese in Val Martin hinter den Hügeln von Crestas. Der Boden war noch gefroren, der Wieshang aber sehr abschüssig, und mit einmal sausten sie auf ihrem Schlitten, den sie nicht mehr zu lenken vermochten, abwärts, die Lehne hinunter gegen den Rhein. Schon sahen sie dem tödlichen Absturz entgegen, als das Gefährt plötzlich auf dem Felsen, der sich dort über dem tief unten dahinschäumenden Fluß erhebt, stehen blieb, wie von einer starken Hand aufgehalten. Und zugleich erblickten die beiden zitternden Alten oben auf dem Hügel den heiligen Nikolaus, der seine Rechte mit dem Stabe über sie ausstreckte.
Sie blieben unverletzt, die guten, alten Leutchen. Nicht einen Kratzen, nicht die geringste Schürfung trugen sie davon. Die Frau hatte in der höchsten Not ein Stoßgebet um Hilfe an den Schutzpatron der Kapelle von Tschamut gerichtet.
Das Ereignis war auf eine einfache Holztafel ohne Rahmen gemalt und diese in der Kapelle aufgehängt worden zum Gedächtnis der wunderbaren Errettung vom sicheren Tode. Die neue Zeit jedoch hat die rührende, ungelenke Sprache der altertümlichen Malerei nicht mehr verstanden und sie beseitigt.
Wie manches Mal im Laufe der Jahrhunderte das Dörflein Selva zwischen seinen Bergen von der Lawine heimgesucht worden ist, wer wüßte das zu sagen? Darum ging man im Winter nicht gerne auf der Straße von Rueras aufwärts, wenn es nicht sein mußte.
Einmal war aber ein Bauer von Tschamut doch genötigt, zur Winterzeit sich hinunter nach Selva zu begeben, wo er mehrere
Tage zu tun hatte. Die Seinen waren indessen in großer Angst um ihn, da er länger ausblieb, als sie erwartet hatten. Denn man fürchtete die Lawine.Jetzt machte er sich eines Morgens auf den Weg. Er schlug aber den steileren Fußpfad ein, der unter den Hügeln von Crestas entlang führt; der war weniger lawinengefährlich als die Landstraße über Carmiola. Glücklich kam er bis zur Kapelle unterhalb Tschamut und ging hinein, um ein Dankgebet zu sprechen dafür, daß er auf seinem Heimweg wohlbehalten so weit gelangt war.
Als er wieder aufstehen wollte, wurde es plötzlich ganz finster in dem Kirchlein. Der Mann weiß sogleich, was das bedeutet: Nun ist die Lawine gekommen! Und er ist nicht verschüttet worden, weil er in die Kapelle getreten, deren Mauern ihm Schutz geboten. Wäre er vorbeigegangen, so hätte ihn die Lawine zugedeckt.
Wie viel inniger wird er jetzt St. Nikolaus gedankt haben!
1 GOTTSNAME
Es isch emol en arme Holzer gsi. Er isch no jung gsi, aber scho ghürotet und het es härzigs Büebli gha, und das und sy Frau sy ihm s Liebsten uf dr Wält gsi. Wenn er numen a se dänkt het, isch's ihm bi syr Armuet scho viel wöhler worde. Aber, was het au so ne Holzer sälbmol verdienet! Nit s Salz i d Suppe. Dr Schmalhans und dr Hättimeh sy eister bi ihm a dr Chost gsi, und das het em gar grüsli weh to, bsunders wäge sym Chind. Däm hätt er alls Guets möge zueha und rächt viel: aber wo neh und nit stähle?
Einisch, wo-n-er wider so ghocket isch und Plän gmacht het, chiopfet ihm ufs Mol Einen ufe Rügge; er isch ganz erchlüpft drob. Grad vorhär het er dänkt gha: Früecher het's albe no Härdmänndli ge, wo brave Lüüte ghulfe hei. Er het nüt anders gmeint, weder so eis heig ihn gmüpft. Aber nei, das isch en
andere gsi: Läng und mager wie ne Schmalen im Heuet und isch au so voryne glampet i sym schwarze Chleid und het grad de Zilinderhuet abzoge, aß sys Hooggenasegsicht vüre cho isch, und seit ganz fründtli: «Nüt für unguet, gället? Dihr syd arm, Ma. 1 gsehn ech's a. Ig aber ha nume zviel Gäld. Do!» Er längt i Sack und bringt e ganzi Hampfele Näpi vüre und schüttlet sie im Holzer i Filzhuet. Dä, wo-n-er dä BrägelGuld gseht, meint nüt anders, weder er traumi. «Herjesis nei! Was dänket ihr au! Das darf i nit neh. 1 Gottsname, so viel Gäld für nüt und wider nüt.»«Henu», macht dr Frörnd, «wenn's fit vergabe wotsch, so chönne mr jo öppis zäme handle.» Aber euse Ma schüttlet dr Chopf: was wött är z'handle ha, wo-n-er sälber nüt het! Do seit dr Frörnd: «Wüsset ihr was: Verchaufet mir das, wo dihr deheimen im Chunstegge heit!» Do mueß dr Holzer graduse lache. «Guet, dä Handel gfallt mr», seit er, «es sy doch nume Hudlen oder düri Öpfeischnitz dört.» «Mir glych», lachet dr ander au und wirft no ne Hampfele Näpi us. «Aber abgmacht! 1 drü J ohre chummen i's cho reiche.» «So will dr's uf d Syte tue», seit der Holzer.
«Adie!» het dr Frörnd no gseit und isch d Tannen uf ghülpet.
Dr Holzer isch abghocket, dr Filzhuet zwüsche de Beinen und het afo Guld zelle, 's het ihn dunkt, er chönn nie fertig wärde drmit. Und e Freud het er gha, er hätt grad möge tanze. 's erst, was er dänkt, isch: «Jetz will i nes Heimetli chaufe, und dr Bueb mueß mr e Buur ge.»
Norne Will isch ihm wider i Sinn cho, wie das von gange syg. E chlei kurlig isch's ihm doch vorcho, aß Ein für soviel Gäld e sättige dumme Handel machi. 's het ihn afo ploge: Was hesch ächt verchauft? Und nit lang, so isch's ihm scho, dä Handel chönn nUt guets syundsälb Frörnd kei rächte Händler. Yschcholt lauft's ihm dr Rüggen uf. Er packt zäme und springt dr Bärg ab, hei, chunnt i d Stube - und dört hocket sys Büebli im Chunsteggen und gfätterlet.
Em Holzer isch vor Schreck dr Huet us de Hände gfalle, aß s Guld übere ganz Bode wäg gchrügelet isch. Er sälber isch gstande wie ne Stei und totebleich. «1 Gottsname, was isch?»
rüeft d Frau und het grad afo briegge. Aber s Büebli isch ab dr Chunst gumpet, a Boden abe, mitem Guld go reiflen und het die größti Freud gha. «Chumm mit mir i d Chuchi use, Frau!» het er drno gseit. Ihren isch's totenangst gsi. Ändtli het er's use brocht: «1 ha euse Bueb verchauft!» und vrzellt alls, wie's gangen isch. «Das isch dr Bös gsi! Jesis Maria! was hesch du gmacht! Was müeße mr jetz mache?» Keis het chönne rötige, 's ander tröste, und i däm Hüüsli isch 's so still gsi, as hätte sie nes Totnigs dinn.So sy die drü Johr vrby. 's Büebli isch gsund und zwäg gsi wie gwachsigs Holz und het scho gar aschicklig chönne handlangere. Sie hei das Büebli eister bi ne gha, d Muetter i dr Chuchi oder dr Vatter im Bärg, aß ömel jo eis vo ne drby syg, wenn der Bös jetz sött cho. Dr Vatter het eister gseit: «1 ha ne vrhandlet; mir chunnt er ihn au cho neh; lueget de, öb's nit so isch!»
Und er het rächt gha. Einisch eme Morge, sie hei grad welle afo holze, chunnt dr Frörnd d Tannen uf, tupfglichlig wie s erstmol. Do seit dr Vatter gleitig: «Lue, Büebli, das isch en jetz! Heb nume kei Angst, er cha dr nüt tue! Lue do, was dr mache!» Drno het er es Tannli gno und het's g'astet bis a die zwöi letzten Ästli ufe; 's isch jetz grad wie nes Chrütz gsi. «Nimm jetz das», seit dr Holzer gschwind zum Büebli. «Träg's eister schön i de Händen und lo's nit falle! Und wenn er seit: ,Wirf's furt!' tue's nit! Säg: ,Nei, i träge das i Gottsname'. Und lauf nume dys Wägs, lueg ne gar nit a! Dr Liebgott füehrt di scho as rächten Ort.»
Das het er ihm no alls chönne säge; aber drno isch dr Bös scho nähern Chind gstanden und het ihm dütet. Es het sys Chrüz ganz fest i de Hände treit und isch härzhaft gange. «Adie
Vatter! rüeft's no. Dä het nume no ghört, wie dr Bös brummlet: «Wirf's wäg!» Drno isch's ihm schwarz vor den Auge worde.Lang isch er am Bode näbem Ryswällehufe gläge, bis ne dr chalt Bärgluft gweckt het. Im Augeblick isch ihm alls wider i Sinn cho; aber sys Büebli isch niene meh gsi.
Wie nes agschoßnigs Wild isch er uf und drvo gsprungen und hei is Huus - und nimm a: dört isch sys Büebli wider im Chunsteggeli ghocket, ganz ergelsteret, s Chrüz no eister i de Händen, und het briegget, as hätt me's z'früeh usem Schlof gnoh. Es isch hei cho, 's het sälber nit gwüßt wie.
Ufern Chunstbänkli aber isch d'Muetter gchneulet und s luter Wasser isch 're über d'Backen abe gloffe. Der Vatter isch ganz süferli zuene düßelet und het sie i d Arme gno: «Briegget nümm; mr sy jo alli binander, Gott Lob und Dank!»
DIE GLUTBLUMEN
Seitab von der Landstraße, an die sich das neue Lostailo gestellt hat, steigen die letzten, noch übrig gebliebenen Häuser des ursprünglichen Dorfes am Hang empor. Über ihnen erhebt sich die Kirche zu St.Georg auf dem Platze eines einst berühmten heidnischen Tempels. Grauschwarz vor Alter und Rauch sind die Mauern der niedrigen Häuschen und dennoch von ehrwürdigem Aussehen mit den römischen Rundbogen ihrer Eingänge, mit ihren steil gewundenen Steintreppen und lauschigen Winkeln.
Von jenen fernen Zeiten, da die alte Ortschaft in ihrer Blüte war, erzählen die Legenden des Tales nichts Gutes. Die Bewohner, obschon wohlhabend, waren gewissenlos und von schlechten Sitten, fast alle auch den Göttern zugetan, denen droben im Tempel geopfert wurde. Die wenigen, die ihr Herz dem
Glauben an Jesus den Gekreuzigten geöffnet hatten, vermochten gegen die Überzahl der andern nicht aufzukommen.Der Schlimmste von ihnen war zugleich der Reichste und Angesehenste im Ort, in dessen Hand der Statthalter der römischen Provinz die höchste Gewalt gelegt hatte. Diese übte er nach Lust und Laune aus, und seiner Willkür waren keine Schranken gesetzt.
Als die Schönheit einer sittsamen, aber armen Jungfrau seine Liebe erweckte, wähnte er, sie sollte sich glücklich schätzen, als seine Gattin in sein Haus einziehen zu dürfen, das gleich einer Burg alle Dächer des Dorfes überragte. Allein das Mädchen wies ihn ab. Sie fühlte aus seinem hochfahrenden Gebaren die Falschheit und den bösen Sinn heraus und verachtete sein prahlerisches Reden. Zudem war sie Christin und verabscheute die blutigen Opfer, die er den römischen Gottheiten darbringen ließ.
Seine Schmeicheleien wurden zu Drohungen. Doch sie blieb fest, trotzdem die Ihrigen ihr zuredeten, dem Mächtigen sich zu beugen. Zuletzt aber, als er ihre Standhaftigkeit unerschütterlich erfand, schlug seine Liebe in Haß um, und der Heimtückische sann nur noch darauf, wie er seine Rachsucht an der Jungfrau stillen könnte. Er stellte sie vor Gericht, und weil er selber auch der Richter war, fiel das Verfahren kurz aus. Er verurteilte sie als Dienerin eines staatsfeindlichen Gottes zum Feuertode und befahl unverzüglich, auf einer Wiese außerhalb des Dorfes einen Scheiterhaufen zu errichten.
Und die Unglückliche ward darauf festgebunden und erlitt einen qualvollen Tod, indes die herzlose Bevölkerung, aufgestachelt von dem verruchten Statthalter und den Heidenpriestern, hohnlachend zuschaute. Doch der Himmel tat durch ein Wunderzeichen allen kommenden Geschlechtern die Unschuld der Jungfrau kund. Kaum hatten nämlich die Flammen ihren reinen Leib verzehrt, sieh, da sproßte zwischen der noch rauchenden Asche im Runde der Feuerstätte ein dichtes Gebüsch blutroter Blumen empor, die weit umher einen wundersüßen Duft verbreiteten! Und wo ein Funke über die Aschenstelle
hinausgesprüht war und einen Tropfen des schuldlosen Blutes hinausgetragen hatte auf die Wiese, da leuchtete im selben hellen Rot ein Blütenbüschel.Und bis auf den heutigen Tag blüht dieses Blumenwunder in jener Wiese der Centena, der Landsgemeinde, auf, so oft die sommerlichen Tage wiederkehren, da der Scheiterhaufen errichtet ward und jene fromme, makellose Seele sich aus den Flammen gen Himmel erhob.
Und wehe, wenn die Sense des Schnitters, den Bannkreis ihres blutfarbenen, duftenden Rots mißachtend, die Blumen trifft! Unweigerlich zürnt dann der Himmel, verhüllt sich mit Gewölk, und der Regen verdirbt dem Bauer die Heuernte.
Doch jenen ruchlosen Wüterich und die ganze Rotte seiner Anhänger ereilte die Strafe eines höheren Richters. In der Nacht, die auf den Rachetaumel der Hinrichtung folgte, brachen vom Berg Groven die Gipfelfelsen nieder auf das Dorf und begruben es samt seinen gottlosen Bewohnern unter einem Sturze von ungeheuren Granitblöcken. Auf die Wiese aber, wo die Jungfrau ihr Leben gelassen, fiel nicht ein einziger Stein.
Nur wenige Häuser blieben von der Verschüttung verschont. Eines, das älteste und graueste, steht heute noch, seltsamerweise ganz zu oberst im Dorfe unweit von Rugn, wie man den felsübersäten Irrgarten des Bergsturzes nennt, den Moos, Büsche und Bäume im Laufe der Jahrhunderte freundlich übergrünt haben. Und nahe dem Häuslein ragt in der Wiese ein gewaltiger Stein über die schmale First des Daches empor.
Dort wohnte zu den Zeiten des ersten Dorfes eine Witwe mit ihrer erwachsenen Tochter, arme, aber rechtschaffene Leute, die insgeheim auch dem Evangelium anhingen. Nun geschah es an jenem Abend des göttlichen Strafgerichtes, als die beiden am Kaminfeuer saßen, daß plötzlich ein Blitz die rußige Küche erhellte. Und in golden funkelndem Scheine stand eine hehre Gestalt gleich der eines Erzengels vor ihnen. Er ermahnte sie, diese Nacht nicht über die Schwelle des Hauses zu treten und weder Fenster noch Türe zu öffnen, was auch geschehen möge. Und sowie er dies gesprochen, war er verschwunden.
Nicht lange, so erhob sich ein furchtbarer Sturm, der die Mauern des Hüttleins umbrauste und das Dach wegzureißen drohte, und gleichzeitig war droben vom Berge ein entsetzliches Tosen und Donnern zu vernehmen. In großer Angst faltete die zitternde Mutter die Hände und flehte den Himmel um Beistand an. Die Tochter aber vermochte ihrer Neugier nicht zu gebieten und schaute aus dem Fenster, um zu erkunden, was draußen geschehe. Da sah sie, wie der Erzengel blitzumflammt eben mit starkem Arm einen ungeschlachten Stein aufhielt, der vom Bergkamm heruntergestürzt war und mit dumpfem Gepolter auf ihr Haus zurollte, während links und rechts sich andere Felsstücke donnernd gegen das Dorf hinunter wälzten.
Doch nur ein Wimperzucken lang war der Vorwitzigen das zu sehen verstattet. Im nächsten Augenblick taumelte sie mit einem Schmerzensschrei auf die Mutter zu. Sie war plötzlich erblindet.
Als am andern Morgen die Sonne aufging, wurde offenbar, welche furchtbare Zerstörung der Bergsturz in der Nacht angerichtet hatte. Weit umher lagen die mächtigen Steine zwischen den zertrümmerten Häusern und Ställen wirr durcheinander.
Dasjenige der frommen Witwe oben im Dorfe war stehen geblieben und dicht vor ihm auch der Felsblock, welcher es zermalmt haben würde, wenn der Erzengel ihn nicht zurückgehalten hätte. Noch ist der Eindruck seiner Hand in dem Gneis zu erblicken, so gewaltig war ihr Stoß gewesen.
Die beiden Bewohnerinnen waren gerettet. Die Tochter aber hatte der Engel bestraft für den leichten Sinn, mit dem sie, unerschüttert von dem Schrecken des Ungewitters, die empfangene Warnung mißachtet und mitangesehen hatte, was sterbliche Augen nicht sehen sollten. Und auf dem verschonten Häuslein lastete, so erzählt das Volk, der Fluch auch fürderhin, indem einer seiner Bewohner stets mit Blindheit geschlagen ist.
Die frühesten, verachteten und verfolgten Zeugen des Evangeliums waren doch die Verkünder einer neuen Zeit und Gesittung gewesen. Denn droben am Berghang, wo der heidnische
Tempel gethront, erstand die erste christliche Kirche im Tal, die lange die einzige der Mesolcina blieb.
DIE KLINGENDE TANNE
Im obern Gorns, da, wo die Bäche aus den Gletschern zu beiden Seiten des Tals in die Rhone rauschen, ragt eine hohe, weiße Kirche über sonnengeschwärzten Häusern. Das ist das stattliche Bauerndorf Reckingen. Der Ruf der Glocken unter dem geschweiften Turmhelm dringt weit über die Schindeldächer hinauf zu den steilen Roggenäckern und Alpweiden am Hohbach.
Aber noch eifriger als ihrem Läuten horchten einstens die Menschen auf ein wunderbares Klingen, das vom Walde herunter tönte, so oft das Ave vom Kirchturm erscholl. Niemand wußte, woher es rührte. Auch die sonst so findigen Hirtenbuben kamen nie hinter das Geheimnis. Viele Jahre vernahm man die lieblichen rätselhaften Weisen, und jeden Abend pflegten die Bewohner auf die Dorfgassen hinaus zu treten oder zur Winterzeit wenigstens die Butzlischeiben aufzustoßen, wenn sie vom Walde herunter hallten.
Nur einer im Dorfe achtete nicht darauf, weil er halb taub war und das herrliche Tönen nicht zu seinem Ohre drang. Dafür waren seine Hände begnadet, denn er wußte das Schnitzmesser zu führen wie kein zweiter die Rhone auf- und abwärts.
Einmal trug es sich zu, daß er beim Suchen nach geeignetem Werkholz im Hohbachwalde auf eine mächtige Tanne von gar ebenmäßigem Wuchse stieß. Die beschloß er zu fällen, denn er hatte vor, ein Muttergottesbild für die Dorfkirche zu schnitzen, und dazu brauchte er einen besonders schönen Stamm. Der Baum wurde umgeschlagen und zu Tal geschafft, und dann machte sich der geschickte Mann ans Werk. Noch nie war ihm eine Arbeit so leicht vonstatten gegangen. Ein glühender Eifer beseelte ihn, und der wegen seiner Schwerhörigkeit einsame Schnitzer legte die ganze Inbrunst eines gläubigen Herzens in
das Bildnis, daß es in Haltung und Antlitz himmlische Hoheit und natürliche Anmut gar wundersam vereinte. Und als es nach Wochen vollendet in der Werkstatt stand, rühmten es alle. Das ganze Dorf kam, es anzuschauen, denn ein so schönes Schnitzbild hatte noch keiner gesehen.An einem Muttergottestage wurde es in der Kirche aufgestellt. Gespannt schauten aller Augen hin, als es auf seinen Platz am Hochaltar gehoben ward; man hätte das Rieseln in der Sanduhr an der Kanzel hören können. In diesem Augenblick bewegte dasMarienbild leise die Lippen, öffnete sie, und jetzt schwebte ein wundersamer Gesang durch das Gotteshaus, der nämliche, den man früher immer vom Hohbachwalde herunter vernommen hatte, der aber unerklärlicherweise seit Wochen verstummt war. Nun wußte man es, das war die Bergtanne gewesen, die jedesmal das Aveläuten mit ihrem holden Echo begrüßt hatte.
Andächtig lauschte die ergriffene Gemeinde. In seinem Stuhl am Wandgetäfer aber weinte und schluchzte einer laut. Es war der Schnitzer, dem plötzlich die Ohren geöffnet wurden für die himmlische Weise, die ihm heute durch die Gnade der Muttergottes zum erstenmal zu Herzen dringen durfte, nachdem er sein Meisterwerk so eifervoll geschaffen.
Es war auch sein letztes Werk. Meißel und Hammer, die ihm bei der Vollendung gedient, rührte er hinfort nimmermehr an.