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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes
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Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig |
Karte von Ernst Blatter, Interlaken
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Zum Geleit
Die vorliegenden Sagen möchten in erster Linie dazu beitragen, das Band zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrer und Schüler, das heute zu zerreißen droht, wieder enger zu knüpfen. Sie müssen aber frei erzählt, nicht vorgelesen werden, und genau dem Alter und Verständnis des Kindes angepaßt sein. Die Mutter mag dies am Abend tun, im Zauber des Zwielichts, oder auch später, in einer traulichen Ecke beim Lampenschein, der Lehrer in einer Stunde am Ende der Woche. Man halte die Seit, die darauf verwendet wird, nicht für verloren. Eine gute Geschichte, gut erzählt, wirkt besser als alles mahnende Reden und Strafen, wirkt wie ein Beispiel, das noch lange, oft das ganze Leben hindurch, in der Seele haftenbleibt und Früchte trägt. Auch vermag schon das bloße Erinnern an jene freundlichen Stunden, wo das Herz noch für alles Schöne und Edle empfänglich war, manch grauen Tag, manche Not des spätern Lebens erträglicher zu gestalten.
In vergangenen Jahrhunderten gab es besondere Märchenerzählerinnen. Möchte doch jede Mutter, feder Lehrer diese Kunst auch ein bißchen üben und pflegen, zur eignen wie zur Freude und zum Gedeihn der Kinder und Schüler!
Die Sagen geben uns, sichrer als die Geschichte, das Denken und Fühlen unsrer Vorfahren wieder. Aus ihnen mag auch der heutige Mensch, ob sung, ob alt, manches lernen, was zu tun und was zu lassen ist zum Heil seiner Seele.
Die Sagenkinder
Die Fischerleute
In alten Zeiten sah es in unsrer Heimat anders aus als heute. Die Berge waren wilder, die Winde rauher, die Flüsse breiter. Schwarze Wälder bedeckten das Land, und nur hier und dort guckten daraus die Giebel und Türmchen eines Dorfes oder einer Stadt. Es gab auch viel, viel weniger Menschen als heute dafür hausten in der Erde, in der Luft und im Wasser allerlei Wesen, denen man bald Gutes, bald aber auch Böses nachsagte. Die guten liebte man, den bösen gingen die Leute soviel wie möglich aus dem Weg.
Zu diesen Wesen gehörten zuerst die kleinen Leutchen, die in die Erde hinabstiegen, Gänge bauten und nach Gold und Silber gruben. Man nannte sie Erdmännchen oder Zwerglein. Dann gab es auch schöne Männer und Frauen in wehenden Gewändern, die des Nachts, wenn der Mond schien, über den Wäldern Ringelreihen tanzten. Wasser endlich wohnten die Wasserfrauen oder Nixen, die durch ihren schönen Gesang die Menschen ans Ufer lockten, um sie in die Tiefe zu ziehen und zu verderben.
Still und einsam war es in jenen Zeiten an den Gestaden der beiden Seen, durch welche die Aare ihre Fluten ergoß, und statt eines Kranzes freundlicher Dörfer gewahrte man nur kleine Gruppen ärmlicher Hütten, die um so seltener wurden, se weiter man seeaufwärts ging. Das oberste Hüttchen aber, das lag nicht mehr am See, das lag bereits im Tale droben, am Ufer der Aare, die damals schon dort gar breit und mächtig daherrauschte.
In diesem Häuschen wohnte ein armer Fischer mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, einem Knaben und einem Mägdlein. Der Knabe hieß Ibert, sein Schwesterchen Rautendelein. Das waren nun zwei so herzige Geschöpfchen, als ob sie frisch vom Himmel gefallen, beide blondhaarig, blauäugig und feingliedrig gewachsen, dazu immer lustig und voll harmlosen Uebermuts. Das hinderte sie aber nicht,
den Eltern überall an die Hand zu gehen und eifrig zuzugreifen, soweit es ihre kleinen Kräfte erlaubten.So half das Büblein dem Vater beim Fischen, fuhr mit ihm auch ab und zu flußabwärts und über den See, und am Abend eines solchen Tages wußte es dann jeweilen gar viel zu erzählen. Das Mägdlein dagegen wirbelte mehr um die Mutter herum, half ihr im Hauswesen oder beim Ausbessern der Fischernetze, oder sie gingen wohl zusammen in den Wald, sammelten Holz, pflückten Beeren und suchten Kräuter, um damit einen wohlriechenden Tee zu bereiten. Waren die Kinder nicht bei den Eltern beschäftigt, dann vertrieben sie sich die Zeit am Flusse, tummelten sich im Walde, oder sie weideten auf der Alp droben die beiden Ziegen, die den armen Leuten die nötige Milch lieferten.
Am Flusse
So wenig wie ihre Eltern, konnten auch die Kinder weder lesen noch schreiben und kannten von der ganzen weiten Welt nichts als ihr winzig Stückchen Heimat. Doch sahen und erlebten sie hier gar manches, und der Dinge gab es genug, an denen sich ihr einfach Herz erfreuen konnte.
Da war der Fluß, der im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, mit mächtigen Wellen dahersprang, Baumstämme und Felstrümmer mit sich riß und oft gar über die Ufer trat und das Land überschwemmte . Dann war die Not groß bei den armen Fischerleuten, und der Vater hatte alle Hände voll zu tun, auf daß ihr Häuschen von
den Fluten nicht fortgetragen wurde. In der übrigen Zeit aber war der Bösewicht ein gar friedliebender Geselle, mit dem man sich recht vergnügt unterhalten konnte.Im Sommer und Herbst nämlich, wenn es warm war, übten sich die Kinder im Schwimmen und brachten es darin bald so weit, daß sie es wie die Fischlein konnten, die im blanken Wasser hin- und herzogen . Waren die beiden des Schwimmens müde, dann legten sie sich auf den Sand und ließen ihre Körperchen von der Sonne braun werden , also daß das Büblein und das Mägdlein im Herbste aussahen wie zwei Negerlein.
Ab und zu ergötzten sich die Kinder auch damit, daß sie aalglatte Kieselsteinchen über die Wasserfläche trieben. Der Zunge besonders war hierin gar gewandt, und seine Steinchen glitten in flitzenden Sprüngen fast bis zum Inselchen hinüber, das mitten aus dem Flusse hervorguckte. Das Mägdlein dagegen mühte sich umsonst ab, es ihm gleichzutun, renkte sich das Aermchen aus oder fiel wohl gar aufs Näschen, was das Büblein jeweilen über alle Maßen belustigte.
Und wiederum kauerten die Kinder stundenlang am Strande, bauten ein Häuschen aus Steinchen und machten ein Feuerlein hinein, daß die blauen Nauchwölkchen hoch in die Luft wirbelten. Oder sie leiteten ein Bächlein ab und formten darinnen mächtige Seen, in die sachte sachte die kleinen Fischlein der Aare hineinhuschten. Weiter unten mußte sodann das Wasser des Bächleins über einen Felsen stürzen und also ein Wasserfall werden, wie das Bübchen einen gesehen hatte weit droben im Tale. Und über den Wasserfall wurde ein Brücklein gebaut; darunter aber ließen die Fischerkinder ein Schifflein aus Rinde lustig in die Tiefe stürzen, daß es umkippte und alle Leute ertranken.
Im Winter aber, wenn es kalt war und der Fluß bis weit hinaus gefroren, dann schlitterten das Büblein und das Mägdlein, sich an den Händen haltend, über das spiegelblanke Eis, oder sie schauten wohl auch von hier aus den Scharen von Fischlein zu, die man setzt in dem still fließenden Wasser gar deutlich erkennen konnte.
Im Walde
Und wie lustig war doch das Leben im grünen Wald!
Frühmorgens, wenn die Sternlein verblichen und die Berge ihre goldenen Heimchen aufsetzten, neuen die Kinder die Ziegen aus dem Stall, hüpfen über die Miese, die hinter dem Häuschen liegt, und betreten auf weichem Teppich den hohen Tannenfaal.
Und alsogleich hebt ein Raunen an. Ein Finklein, sich auf einem Aestchen wiegend, entdeckt sie zuerst. "Zi düi, zi dai ? " wißt ohr s schon ; "Fuid, fuid ?" " was denn ? fragt das Rotkehlchen. "Zididi, zididi! die Sagenkinder kommen! Und wie ein Lauffeuer geht es setzt durch den Wald. |
Das Rotkehlchen erzählt es dem Meislein, das Meislein pfetft's dem Zeislein, das Zeislein jubelt s dem Hänfling, der Hänfling trillert's der Amsel. Die aber, wie sie vernimmt, schüttelt den Tau von ihrem schwarzglänzenden Gefieder und wetzt den Schnabel am Gezweig. Dann schaut sie sich um, schwingt sich auf den Gipfel der Lärche, die einsam mitten im Walde hoch über die Tannen ragt, und schmettert die frohe Botschaft:
"Tüi, tüi, tüi! " die Sagenkinder kommen! in den hellen Sommermorgen hinaus. |
Da schauert's dem listigen Füchslein im Herzensgrunde. Es zieht sein Schwänzchen tief zwischen die Veine, stiehlt sich ums nächste Gebüsch und verschwindet in seiner Höhlt. Der Marder steigt verdrossen wieder in sein Rest hinauf, und du Eule, der Freßsack, verzieht sich seufzend in die dickästige Krone einer alten Kiefer.
Unter den andern Tieren aber hebt setzt ein munter Leben an, und alle, ein jegliches auf seine Art, machen sich noch ein wenig zu schaffen.
Das Fröschlein am Weiher wiederholt geschwind das hübsche Liedchen, das es erst gestern gelernt, das Häschen am Waldrand seinen neuen Luftsprung. Das Eidechschen schwänzelt gar hurtig auf einen
bemoosten Felsen hinauf, weil es von dort aus den Aufzug besser zu übersehen erhofft. Auf einem Stämmchen ihm gegenüber putzt sich ein Eichkätzchen sein Näschen blank, und im Gezweige droben werden Schnäbelchen geschliffen, Federröcklein geglättet und an die Nesthäkchen eindringliche Ermahnungen erteilt, wie sie sich während des voraussichtlich ganztägigen Fernseins von Vater und Mutter zu verhalten hätten.Endlich kommen die Gäste lärmend angezogen. Sie lachen und scherzen, sie singen und springen, sie locken oder wehren den Ziegen, wenn sich diese zu fehr in des Waldes Wildnis einlassen wollen, wo doch so gar kein Weg, kein Steg und kein Bänklein zu finden ist. Und um sie her tanzt und flattert und hüpft jetzt das vor Freude trunkene Völklein der Tiere.
Ach, für heute wenigstens ist alle Furcht aus diesen Geschöpfchen verschwunden, wissen sie doch, daß wenn die beiden Kinder durch den Wald ziehen, sich kein einziger ihrer Feinde an sie heranwagt. Und daß die Kinder selber es gut mit ihnen meinen und keinem, selbst nicht den Kleinen und Unansehnlichen, se ein Leid angetan, das war einem jeden von ihnen wohlbekannt.
Sie fingen, also erzählten sich die Tierchen untereinander, keine Fliege, kein Mücklein ab, um sie zu zerdrücken. Sie halfen dem Spinnlein sein Netzchen flicken. Kroch ein Würmchen über den Weg, hastete ein grünes Käferchen eilfertig daher, dann setzten sie ihre Füße sorgsam auf den Boden, um das Tierchen sa nicht zu zertreten. Fiel ein Bögelchen aus seinem Nest, gleich hoben sie es auf und suchten so lange, bis seine Wohnung gefunden war. Suchten sie aber vergeblich, dann nahmen die mitleidigen Kinder das zarte Geschöpfchen gleich nach Hause und pflegten es dort, bis es fliegen und vielleicht im Walde seine Eltern wiederfinden konnte. Und erst im Winter, wie sie da um all die Tierchen besorgt waren! Sie sprangen mit dem schönfarbigen Pfiffolterlin und der blauschimmernden Wasserjungfrau um die Wette, taten ihnen aber nichts.
Eben hat das Rautendelchen eine Handvoll Beeren gepflückt, und
alsogleich drängen sich auch die lieben Vögelchen um sie her. Ein paar klammern sich rings um das geöffnete Händchen und beginnen die roten und schwarzen Früchtchen zu picken. Andre wieder lassen sich auf seine Schultern nieder, und eins, ein Goldhähnchen, setzt sich gar auf sein Köpfchen und hebt aus Leibeskräften zu piepen an. Noch andre flattern um sie her, berühren im Fluge die Wange des guten Kindes, oder sie halten sich einen Augenblick vor ihr in der Luft, die zarten Füßchen an den Leib gezogen und unaufhörlich mit den Flügelchen schlagend.ES ist ein gar lieblich Bild zu schauen. Inmitten all des Jubels und Gezwitschers ringsumher vergißt aber das Nautendelein auch sein Schnäbelchen nicht. Es lobt die Artigen, ermuntert die Furchtsamen, schilt dafür die, welche zu lange auf seinen Händchen verweilen und den andern nicht Platz machen wollen, oder auch die auf seinen Schultern , welche sein Ohrläppchen für ein Erdbeerchen halten und zu eifrig daran herumpicken.
Und lärmend geht der Zug weiter, bald durch geheimnisvoll dunklen Tannenwald, wo die Sonne nur schmale Goldstreifen über den Boden wirft, bald über lichtgekringelten Nasen unter dem freundlichen Blätterdache der Buchen, bald wieder neben hohen Eichen vorbei, wo wischen den Kronen der Himmel blaut. Und überall sudeln ihnen die Vöglein entgegen, singt die Amsel, lockt der Kuckuck, summen die goldgrünen Fliegen, schwirren die Wasserjungfrauen, tanzt das Pfiffolterlin.
Ab und zu sagt ein Reh oder gar ein Hirsch mit zackigem Geweih an ihnen vorüber. Wie jedoch das Tier die Kinder gewahrt, bleibt es stehen, tritt sorglos auf sie zu, läßt sich streicheln und schreitet, die Lauscher schüttelnd, gemächlich von dannen.
Auf einmal aber kracht es im Dickicht, und heraus windet sich, mit mächtigen Pranken die Zweige niedertretend, ein großes braunes Tier, wie sie noch keins gesehn. Es ist gar dick und rund und zottig und kommt auch gleich brummend auf die beiden zugewackelt. Ein Weilchen schnuppert es erst am Büblein, dann am Mägdlein herum,
"Ach, wie herzig!" schreit jetzt das Rautendelein. Aber was willst denn von uns ? Wir haben nichts zu fressen für dein großes Maul.
Da läßt sich das gewaltige Tier wieder auf seine Vorderfüße fallen, schaut die beiden nochmals fragend an und trottet von dannen.
Gegen Mittag lagern sich die Kinder mit ihren Ziegen an einem Bächlein, essen ihr Stücklein Brot und ein paar Beeren und trinken aus dem klaren Wässerlein. Dann schlendern sie weiter.
Gegend Abend aber, wenn die Sonne ihre goldnen Netze über die Berge spannt, treiben sie heimwärts zu Vater und Mutter, die die Kinder beseligt in ihre Arme schließen. Sind sie doch ihr Alles auf Erden!
Auf der Alp
Und schweigend standen rings die Berge.
Hier hinauf gingen ab und zu nur der Vater und das Büblein, um seltene Blumen zu pflücken oder nach den schönen Steinen zu suchen, die in der Sonne funkelten und von denen einige die Wände und das Fenstergesims des Stübchens schmückten.
Von den Bergen hernieder brauste im Frühjahr der heiße Wind. Dann flogen am Himmel die fahlen Wolken in Fetzen auseinander, dann donnerten die Lawinen, und die Lärchen im Hochwald stürzten krachend zusammen. Im Fischerhäuschen aber wurde das Feuer gelöscht , und während der Sturm die Hütte schüttelte und rüttelte, als ob er sie gleich mitnehmen wollte, lagen drinnen vier Menschen auf den Knien und beteten zu Gott, daß er sie vor solchem bewahren möge.
Im Sommer und Herbst aber war es anders. Da trieben die Kinder die Ziegen auf die Alp, die nicht allzuhoch über dem Wald auf freier Höhe lag und wohin selbst das zarte Mägdlein, wenn auch mit etwelcher Mühe, zu gehen vermochte.
Schön war es besonders im Herbst, wenn bei ihrem Aufbruch am Morgen noch der Nebel im Tale lag und sie hoffen durften, auf der Alp droben die Sonne zu begrüßen. Dann gingen die Kinder eilig durch den Wald, und die Hänge hinauf kletterte sich das Mägdlein fast außer Atem für das Büblein und die Geißen aber war das alles eitel Lust und Freude. Endlich aber lichteten sich wohl die Nebel,
es blitzte und funkelte in den Lüften, es blaute der Himmel, und während klein Rautendelchen noch mühsam an einer mächtigen Baumwurzel herumkrabbelte, stand der Junge mit seinen Geißen schon hoch oben auf einer Felsenecke und jubelte aus voller Kehle :"Die Sonne!
Dann leuchteten der Kinder Augen vor Stolz und Entzücken, und sie konnten sich nicht satt sehen an all den Wundern, die sich Setzt vor ihnen auftaten.
Dicht unter ihren Füßen lag das hellschimmernde Nebelmeer. Eingebettet zwischen die schwarzen Hänge der Berge, breitete es sich weit über das ganze Tal bis hinunter zum See. Gleich wie beim Flusse, nur langsamer, fluteten auch hier die Wellen lustig auf und nieder- und die blitzenden Sonnenstrahlen trieben mit ihnen ein muntres Spiel. Begraben und ertrunken waren jetzt der Wald und das Fischerhäuschen; nur hier und dort streckte ein neugieriger Fels feine Nase in die Höhe, und der runde Rücken des Höhenzuges, der dort drüben aus dem Meere ragte, erschien den Kindern wie der Rücken eines gewaltigen Fisches. Ringsherum standen leuchtend die Berge, und wie eine blaue Glocke wölbte sich der Himmel über dem wundersamen Bilde.
Den Ziegen freilich lag wenig an der schönen Aussicht. Die fanden mehr Geschmack an einem Büschel saftigen Alpengrases, und se weiter oben sie solches suchen mußten, desto schmackhafter erschien es ihnen. Also kam es, daß die Tiere verschwunden waren, als sich du Kinder endlich nach ihnen umschauten. Doch war das flinke Büblein den Ausreißern gar bald auf der Spur und trieb sie zurück auf den gewohnten Weideplatz.
Nun sammelten die Kinder Holz und zündeten ein Feuerlein an. Dann legten sie sich nieder, stützten das Köpfchen auf den Arm und buben zu plaudern an, derweilen ihre Aeuglein unverwandt über das weite Nebelmeer schweiften.
Wie still war es jetzt hier oben! Kein Lüftlein regte sich, kein Laut drang an ihre ewig wachen Oehrchen. Auch den Fluß hörten sie
nun nicht mehr lärmen, den Wald nicht mehr rauschen, solange der Nebel über dem Tale lagerte.Plötzlich aber gellte ein Pfiff.
"Die Murmelchen! " flüsterte das Büblein.
Sie wandten sich um und, die Aermchen auf den Boden gestemmt, äugten die beiden scharf hinüber nach dem kleinen Bergsee, wo sie die Tiere zu sehen gewohnt waren.
Und wirklich, da begannen sie wieder ihr Spiel, die drolligen Geschöpfe mit dem Etchhörnchenkopf, den stumpfen Ohren und dem langen Schnurrbart, ihrer drei, vier, fünf und mehr, dort drüben am Wässerlein, wo soviel große und kleine Felsblöcke beisammenlagen.
Und heute schienen sie auch gar übermütig zu sein. Sie hüpften wie närrisch über Stein und Halde, sie richteten sich kerzengerade in die Höhe, die Aeuglein spähend nach allen Seiten gewendet, sie trieben Versteckens rings um die Felsen oder legten sich einen Augenblick hin, sich zu sonnen. Und als sich erst noch ein paar Junge zu ihnen gesellten, jene läppischen Dingerchen, die aussahen wie große Mäuse, und nun ein herzig Spielen und Fangen anhub, da konnte das Rautendelein nicht anders: es sprang auf und tat einen Freudenschrei.
Da ertönte wieder ein Pfiff, dann ein zweiter, ein dritter, und husch husch husch! verschwanden die Tiere in ihren Löchern, um bald darauf das Spiel von neuem zu beginnen.
Und wie die Tierchen, taten setzt auch die Kinder. Sie sprangen plötzlich auf, faßten sich an den Händen und wirbelten in tollem Tanze um das Feuerchen. Dann ließen sie die Hände fahren und jagten einander über Stock und Stein, um Baum und Fels und den Hang hinauf und hinunter, bis sie sich, müde geworden, wieder ums Feuer setzten.
Und wieder erspähten die scharfen Aeuglein des Jungen drei Gemsen, die hoch oben auf einem Felsgesimse sich neckten und mkr den Hörnern hinunterzustoßen suchten. Plötzlich aber, eine Gefahr witternd , hoben alle drei die Köpfe, blickten gespannt nach einer Richtung hin und sagten dann in hellem Laufe den Hang hinunter.
Das Nebelmeer sank tiefer und tiefer. Endlich zerstoben auch die letzten Fetzen in alle Winde, und das ganze Tal mit dem Walde und dem lieben Fischerhäuschen erglänzte wie frisch gewaschen im Strahl der Mittagssonne.
Am Nachmittag, wenn es recht warm war wie im Sommer, da ließen es sich die Kinder wohl sein. Sie legten sich rücklings auf den Boden und bliesen die Flöte, die das Büblein aus langstieligem Nohr zu schneiden verstand. Oder sie hörten den Käferchen zu, die umherfchwirrten, und schauten dabei aus runden Aeuglein in den blauen Himmel hinauf. Mit Entzücken folgten sie dem Fluge der Vögel mit den mächtigen Schwingen, und ihr Blick ruhte träumend auf den lichtweißen Wolken, die sich in der Ferne wie Burgen und Schlösser auftürmten .
Gegen Abend aber, wenn es kühler zu werden begann und die Nebel schon wieder an den Verggehängen herumkröchen, da trieben die Kinder ihre kleine Herde jauchzend zu Tal.
Die Mutter
Ja, wo konnte es auch schöner sein auf der Welt als hier im Tale mit dem rauschenden Flusse, dem stillen Walde und den hohen Bergen! Und dann waren die Kinder sa auch nicht allein, hatten sie doch einen guten Vater und eine gute Mutter, denen ihr Wohl gar sehr am Herzen lag.
Den Vater, freilich, bekamen sie oft tagelang nicht zu sehen. Der war weit im Tale droben, dort wo das Wasser gar hoch über den Felsen stürzte, oder dann drunten auf dem See, wo er die Fische verkaufte oder gegen Waren umtauschte. Die Mutter dagegen, die hatten sie, wenn sie wollten, den ganzen Tag um sich, und zu ihr sprangen die Kinder denn auch immer, wenn ihnen dies, wenn ihnen jenes fehlte, oder wenn die kleinen Köpfchen etwas nicht begreifen konnten.
Ja, die Mutter! Die half immer! Die wußte alles!
Die lehrte sie die lustigen Liedchen, du die beiden so gerne sangen, wenn sie hinter dem Hause Ringelreihen tanzten oder mit den Geißen auf die Weide zogen. Die gab all den zarten Blümchen einen Namen, die ihnen auf Schritt und Tritt entgegenlächelten, und auch den hohen Bäumen im luftigen Waldesgarten. Und von jedem Pflänzchen wußte sie etwas Besonderes zu erzählen, wie die Würzlein Wasser trinken, wie die Blättchen atmen, wie es wächst und blüht und stirbt — gleich wie du Menschen wachsen, blühen und sterben.
Das aber wollte nun nicht so recht in des Mägdleins Köpfchen.
"Was sagst du da?" unterbrach es hier die Mutter. "Müssen denn auch wir einmal sterben ?"
"Gewiß, mein Kind."
"Aber ich will nicht sterben ", schmollte das Mündchen. "Und ich werde ganz gewiß nicht sterben. Und Ib auch nicht. Und du nicht. Und der Vater nicht.
Dann lächelte du Mutter geheimnisvoll, schlang den Arm um das lebenshungrige Mägdlein, zog es an sich und sagte:
"Du hast recht. Der Vater und die Mutter freilich, die müssen nun einmal sterben, ob sie wollen oder nicht. Ib und mein Rautendelchen aber werden niemals sterben, solange noch ein Sternlein am Himmel funkelt.
Da war das Kind zufrieden.
Und wiederum wußte sie gar viel zu sagen von den Tieren im Walde, von ihren Freuden und von ihren Leiden.
"Und das sind alles Geschöpfchen pflegte sie dann immer hinzuzufügen, die der liebe Gott geschaffen hat, auf daß wir sie in Ehren halten und sie nicht plagen oder gar töten. Wir müssen ihnen vielmehr helfen, wenn sie in Not sind und sich nicht mehr selber helfen können.
Und an den langen Winterabenden, wenn draußen der Schneesturm um die Hütte fegte und es drinnen im Scheine des Holzfeuers so wohlig warm war, erzählte die Mutter wohl auch aus ihren frühern Jahren, als sie noch weit drunten in einer Stadt bei fremden
Leuten arbeiten mußte. Dann begannen die vier runden Aeuglein zu leuchten, und weit schöner als es die Mutter zu sagen vermochte, erschauten die Kinder in der Ferne die prächtigen Häuser und Schlösser, wo die Menschen nichts als Kuchen aßen und in seidenen Kleidern schlafen gingen . . .
Ab und Rautendelein
Und am Ende hatten die Kinder auch sich selber. Und die beiden liebten einander um so mehr, als sie ihr Herz nicht mit andern Spielgefährten teilen mußten.
Sie waren unzertrennlich vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zum Morgen. Sie löffelten die Milch miteinander, sie spielten, sangen und wanderten zusammen, sie schliefen, eng umschlungen , zusammen im gleichen Bettchen. Waren sie nur ein Weilchen auseinander, gleich schien einem jeden etwas zu fehlen.
Allein nicht nur äußerlich, auch innerlich fühlten sich die beiden Kinder eng verbunden. Was das eine gerne wollte, das war auch dem andern recht, und also stritten sie nie miteinander.
Sie dachten auch nichts Böses oder Häßliches, sa sie ahnten nicht einmal, daß es solches überhaupt geben könne. Ihre Herzen waren so rein wie der blaue Himmel, der sich über ihnen spannte, und die ganze Welt um sie her mit all ihren Geschöpfen erschien ihnen wunderbar.
Sie liebten alles.
Für sie waren nicht allein die Tiere, für sie waren auch die Pflanzen , sa die toten Dinge lebendige Wesen, mit denen die beiden verkehrten wie mit Vater und Mutter. Und es war seltsam, wie auch diese Wesen den Hauch der Liebe zu verspüren schienen. Begegnete das Nautendelein einem Blümchen, das sein Köpfchen hängen ließ, gleich beugte es sich nieder und hub mit ihm zu plaudern an, tröstete es und sprach ihm Mut zu. Und es geschah wohl alsdann, daß das Köpfchen sich wider aufrichtete, wenn auch nur ein klein wenig, und
die müden Blättchen sich entfalteten. Rief aber das Mägdlein gar einen Sonnenstrahl zu Hilfe, dann lebte das Pflänzchen erst recht wieder auf. Das kranke Tännchen im Walde setzte neue Nädelchen an, das träge Bächlein floß muntrer, und selbst das Lüftchen blies nicht mehr so rauh, sobald sie die freundlich zusprechenden Worte des Kindes vernahmen.Sie liebten alle Jahreszeiten und jedes Wetter. Sie liebten den Frühling und seine Tollheiten, die ruhigen Tage des Sommers und die schönen Nächte mit den leuchtenden Sternen, den leise plätschernden Herbstregen und den Wirbeltanz der Flocken im Winter. An jedem neuen Tag entdeckten die ewig staunenden Aeuglein ein neues Wunder, und in den seligen Träumen der Nacht erlebten sie das Wunder zum zweiten Male.
Wie einfach sie lebten!
Sie nährten sich von Brot und den Früchten und Beeren des Waldes. Sie tranken, frisch vom Euter weg, die Milch der Ziegen oder aus hohler Hand das schäumende Wasser des Wildbaches. Sie atmeten Tag und Nacht die reine Luft des Waldes und der Berge, und die Sonne durchstrahlte ihre Körperchen mit dem Lichte des Himmels.
Und wie sie dabei gediehen!
Schön war das Büblein mit seinem fein geschnittenen Gesicht, den blitzenden Augen und dem leichtfüßigen Gang; ein Märchenwunder aber war das Nautendelein. An Höhe freilich reichte es seinem Brüderchen nur bis zum Ohrläppchen; doch war es schlank und zierlich gewachsen wie ein Bäumchen im Wald und trug das holde Köpfchen gar anmutig wie ein Prinzeßlein. Auf dem schmalen Gesichtchen leuchteten die zarten Farben der Apfelblüte, aus den vergißmeinnichtblauen Aeuglein aber strahlte der ewige Frühling, und über die aus Himmelsluft und Sonnenglanz gewobene Gestalt floß in Fülle das golden schimmernde Haar.
Und wirklich wie ein Wunder erschien das liebreizende Kind gar oft
auch dem Knaben, wenn er es mit wehenden Haaren und behenden Füßchen, einem Elfchen gleich, über Stock und Stein hin fliegen sah. Und er tat ihm alles zuliebe, was in seinen Kräften lag.Von seinen Fahrten mit dem Vater brachte er ihm oft schön schillernde Fischchen heim, die er in den kleinen Teich setzte, der hinter dem Hause lag. Auch baute er ihm dort eine niedliche Grotte aus Muscheln und bunten Steinen. Im warmen Sommer kletterte er ab und zu in die sähen Felsen hinauf und pflückte für das Schwesterchen ein Sträußchen. Und wenn er dann heimkehrte, da sprang es ihm wohl jauchzend entgegen und rief schon von weitem:
"Hast auch etwas für mich, Ib?"
"Nein! " rief da wohl das Büblein zurück, und machte ein ernstes Gesicht. "Diesmal nicht.
Da verstummte das Kind, legte das Köpfchen schief und schaute betrübt zu Boden.
Im nächsten Augenblick aber zauberte das schalkhafte Büblein ein blühendes Sträußchen vor ihr Gesichtchen, also daß das betrübte Mägdlein jählings einen Freudenschrei tat und dem guten Brüderlein an den Hals flog.
Und alsogleich wand es jeweils all die himmelblauen und die blutroten und die silberweißen Pflänzchen mit den samtweichen Sternen zu einem Kränzchen, das es sich aufs liebliche Köpfchen setzte, legte sich ein aus Buchenzweigen geflochtenes Laubgewind um die Lenden und tänzelte nun wie ein närrisch gewordener Schmetterling um den staunenden Knaben herum, indem es hiebei mit seinem glockenreinen Stimmchen fang:
"Bin ich nicht das Rautendelein, Das schöne Wald- und Bergmaidlein ?" |
Dann klatschte wohl der Knabe vor Vergnügen in die Hände und rief:
"Ja, ja, das bist du. Doch sag, wer holte dir die Blümlein vom Berge herunter ?"
Und die kleine Tänzerin fang:
"Ich hab ein Brüderlein gar fein, Holt mir die schönen Vergblümelein. Ich schmück mir damit mein golden Haar, Nun bin ich ein Prinzeßlein gar. |
"Nein, ein Herlegen bist! " rief alsdann das Büblein, ergriff das Hexlein schnell bet der Hand und sagte mit ihm wie der Wind dem Häuschen zu und zur Mutter, auf daß auch sie sich ihr bekränztes Kind anschauen möge.
Ein Rehlein wird gefunden
Eines Abends kehrte das Büblein nach Hause mit einem Rehlein auf den Armen. Wie er so durch den Wald gegangen war, hatte er plötzlich ein kläglich Blöken vernommen und am Fuße einer Tanne, unter Nadeln und Laubwerk halb vergraben, das arme Tierchen entdeckt , das wohl seine Mutter verloren.
Als Rautendelein das liebliche Geschöpf erblickte, war es ganz außer sich. ES schrie vor Freude und weinte aus Erbarmen, trug den Pflegling alsogleich in ihr Bettchen, wo er auch, eingenestelt zwischen den beiden Kindern, die ganze Nacht zubringen mußte. Das gute Pflegemütterchen tat fast kein Auge zu, so sehr bekümmert war es um das Wohl des Gastes, und als kaum der Morgen graute, hämmerte auch schon der kleine Pflegevater gar eifrig an einem Beschlage herum , in dem das Rehlein künftig untergebracht werden sollte.
Von nun an hatten die Kinder wochenlang alle Hände voll zu tun, um das Tierchen zu ernähren und aufzuziehen. Da es aber damals noch keine Milchflaschen gab, so behalf sich der findige Zunge mit dem dicken Stück eines Holunderastes, aus dem er das Mark trieb, dann das eine Ende verschloß und am andern Ende ein Saugröhrchen anbrachte. mer- oder fünfmal am Tage füllte er nun dieses seltsame Gefäßchen mit Milch, und das Rehlein erhielt zu trinken.
Das aber besorgte setzt das Schwesterchen, dem dieses Geschäft
lein immer einen Augenblick hoher Freude gewährte. Sie setzte sich auf das niedre Bänklein vor dem Hause, nahm das hellbraune Geschöpfchen auf ihren Schoß, also wie eine Mutter ihr Kindchen, und führte das Röhrchen behutsam in sein Mäulchen. Beseligt schaute sie ihm dann zu, wie es begierig trank, streichelte es, gab ihm tausend zärtliche Namen und küßte es ab und zu auf sein Schnäuzchen. Gar oft setzte der Pflegling das Trinken für ein Weilchen aus, um zu husten oder zu erniesen dann wartete das Mägdlein geduldig, bis der Anfall vorüber war. Oder er nagte und zupfte wohl auch an des Kindes Ohrläppchen und schaute es dabei aus braunen Augen treuherzig an, als ob er fragte: So, bist du also mein neues Mütterchen ?"Endlich aber konnte das Rehlein die Milch selber trinken. Es fraß auch Gras und Heu und übte sich fleißig im Springen. Und wenn es hiebei noch oft hinfiel, gleich waren die Kinder zur Hand und stellten es wieder auf du Veine.
Und dann kam die Zeit, wo es mit ihnen ums Haus und im Walde herumhüpfen konnte, zur großen Freude der kleinen Pflegeltern, die das lebhafte Tierchen mit all seinen drolligen Einfällen keinen Augenblick aus den Augen verloren.
So verstrich ein Tag nach dem andern, und die beiden jungen Menschenkinder im stillen Tale droben lebten recht vergnügt und glücklich.
Das geheimnisvolle Inselchen
Dem Hause gerade gegenüber ragte aus der Mitte des breiten Flusses ein liebliches Inselchen, das über und über mit hohen Tannen bewachsen war und also aussah wie ein schwimmendes Wäldchen. Rings um die Tannen schlang sich noch allerhand Erlen- und Weidengebüsch , so daß man von außen nicht merken konnte, wie das Innere des Eilandes beschaffen war.
Für die Fischerleute war dieses Inselchen eine Stätte, die keins
von ihnen se betrat. Nie fuhr der Vater hinüber, dort seine Netze auszuwerfen, und oft bemerkten die Kinder, wie er nachdenklich auf das stille Wäldchen blickte. Auch der Mutter Auge ruhte manchmal versonnen auf jener Stelle. Doch sprach weder sie noch der Vater je ein Wort davon.Die Kinder spürten wohl, daß es dort drüben uschi ganz geheuer sein müsse, und hüteten sich, hinüberzufahren oder hfnüberzuschwimmen. Auch wagten sie nicht, die Eltern darüber zu befragen, und also blieb das Eiland für die Kleinen lange ein Geheimnis. Sie sprachen davon fast jeden Tag. Oft, wenn die beiden beim Zunachten hinter dem Hause Fang mich! spielten, standen sie jählings still und schauten aus erschrockenen Augen zum Wäldchen hinüber, weil sie vermeinten, von dort her ein gar seltsam Singen und Klingen vernommen zu haben. Und am Abend, ehe die zwei ins Bett schlüpften, standen sie noch lange am Fenster und betrachteten die hohen Tannen, deren Wipfel sich leise im Winde bewegten und über denen die Sterne des Himmels zu funkeln begannen.
An einem Herbstabend erzählte das Büblein:
"Vater, da hab ich heut, wie ich den Fluß entlang ging, einen großen schneeweißen Vogel mit langem Hals und rotem Schnabel auf dem Wasser schwimmen sehen. bin ihm am Ufer nachgegangen, und setzt ist er auf der Insel drüben gelandet und hinter den Bäumen verschwunden. Sag, was ist das für ein Vogel und was tut er auf der Insel ?"
"Das ist ein Schwan ", antwortete der Vater. .Er dient den Zwerglein, wenn diese auf die Insel zu gehen wünschen. Die Neugier der Kinder wuchs.
"Zwerglein, sagst du? drängte der Knabe. ,Sind denn das Menschen ?"
"Ja, aber nur ganz kleine. Sie sind nicht größer als Ihr zwei. Sie haben einen langen Bart und tragen ein braunes Röcklein mit einer Kappe, du sie sich über den Kopf ziehen.
Und was tun sie?
"Sie arbeiten im Innern der Erde, in weiten Hallen. Hier hämmern sie das Gold von den Wänden herunter und schmelzen es in großen Oefen. Und aus dem geschmolzenen Golde erstellen die geschickten Leute gar schöne Sachen.
"Ja, und wann gehen sie denn auf die Inseln
"Wenn sie müde sind und sich ausruhen wollen, oder ein Fest feiern. Dann steigen die Bergmännchen durch schmale Gänge ans Licht herauf, und die Schwäne tragen sie vom Ufer auf die Insel.
"Dann muß wohl drüben eine Höhle sein, damit sie darinnen wohnen können ;
"Ich weiß es nicht. Ich bin noch nie drüben gewesen.
"Und warum nichts Sind denn die Zwerglein höfe ? Und würden sie dir etwas zuleide tun, wenn sie dich sähen ?"
"Vielleicht. Die Zwerglein sind zwar gute Leute und tun sonst keinem Menschen etwas an. Doch haben sie nicht gern, wenn man sie belauscht oder neckt.
"Deswegen also gehst du nie nach dem Inselchen hinüber?"
Ja, deswegen. Und Ihr solli es auch nicht tun. Nie. Leicht daß es euch sonst schlimm ergehen könnte.
"Das werden wir sa auch nwt, Vater.
Ein Weilchen blieb es still in der Stube. Da fragte das Rautendelein:
"Vater, gibts noch andere kleine Leute auf der Welt so wie diese Zwerglein ?
"Kleine nicht, Kind. Aber große, wie erwachsene Menschen. Man nennt sie Elfen und Sien.
"Elfen, Vater ? Was sind denn das ?
"Das sind Wesen, du in der Luft wohnen und die des Nachts, wenn der Mond scheint und die weißen Nebel über die Wälder ziehen, die Hände reichen und Ringelreihen tanzen.
Und die Nixen, Vater ?
"Die Nixen leben im Wasser. Das sind schöne Frauen mit blondem Haar, mit grünen Augen und blendend weißer Haut. Vor denen
— und der Vater lächelte schalkhaft — müssen besonders du kleinen Mägdlein auf der Hut sein. Denn wenn sie ein solches erblicken und es kommt nahe ans Ufer, schlingen sie ihre langen Haare um seine Füße und ziehen es zu sich in die dunkle Tiefe hinab.Dem Mägdlein gruselte.
"Brr! " machte es und schüttelte seinen Schopf. "Von nun an, Vater, will ich immer gut achtgeben, wenn ich am Wasser bin, damit sie mich nicht erwischen können.
"Du hast recht, Kind. Freilich, wer ein gut Gewissen hat und nichts Böses tut, der braucht sich weder vor Zwergen, noch vor Elfen und Nixen zu fürchten. Dem tun sie schwerlich etwas zuleide.
Am Herdfeuer wird etwas beschlossen
Am folgenden Morgen sprangen die Kinder schon früh aus ihrem Bettchen, tranken ihr Näpflein Milch und trieben die Ziegen durch den Wald und hinauf gegen die Weide. Das Rehlein hüpfte munter um sie her.
Als die beiden auf der Weide anlangten, suchten sie Reisig und trockene Aeste zusammen, zündeten ein Feuerlein an und setzten sich drum herum. Die Ziegen grasten friedlich in ihrer Nähe ; das Rehlein aber bettete sich das Mägdlein sorgsam auf ihren Schoß.
Ein Weilchen betrachteten die Kinder die Rauchwölklein, die lustig in die herbstlich klare Luft stiegen. Plötzlich aber, fast wit auf ein Zeichen, drehten sich ihre Köpfchen dem Inselchen zu, das ihnen von hier aus, da es so gar tief im Tale drunten lag, nur wie ein Pünktlein erschien. Und alsogleich öffnete das Mägdlein seinen Mund und hub an:
"Es nimmt mich nur wunder, was es denn auf dem Inselchen zu sehen gibt. Da muß ganz gewiß ein Häuschen sein.
"Ein Häuschen ?" rief das Büblein, und machte große Augen. "Du glaubst also, daß du Zwerglein in einem Häuschen wohnen wie wir ?
"Ei freilich ", eiferte das Mägdlein. "Nur, da sie nicht größer sind als wir, so wird auch ihr Häuschen kleiner sein als das unsrige. Und wie niedlich wird es darinnen aussehn! Da wird gewiß alles ganz klein sein: Tische, Stühle, Teller, Gabeln, Löffel, Messer — alles, alles, alles! Ach, das möchte ich ums Leben gern einmal sehen. Und du ?
"Ich auch."
Die Mündchen verstummten für eine Weile. Dafür schauten die Augen um so sehnsüchtiger hinab nach dem geheimnisvollen Eiland. Plötzlich flüsterte das Mägdlein:
"Was meinst, Ib, wenn wir einmal hinübergingen ?"
"Wir? " rief der Knabe erschrocken. "Das dürfen wir nicht. Der Vater hat es ja verboten.
"Freilich ", meinte das Mägdlein, "doch seh ich dabei nichts so Schlimmes. Wir fahren einfach hinüber, gucken ein bißchen durch die Bäume und kehren geschwind wieder um.
"Aber der Vater hat doch gesagt, es könnte uns leicht etwas geschehen.
"Etwas geschehen ? Ich wüßte auch nicht was. Ach, , sei doch mein liebes Brüderchen und tu mir den Gefallen. Uebrigens werd ich dem Vater alles sagen, aber erst, wenn wir einmal drüben gewesen
sind. Und auch der Mutter will ich's sagen. glaube nicht, daß sie uns böse sein werden.Der gute Junge ließ sich überreden, und den ganzen Tag hüpfte das Rautendelerin ihrer Vorfreude wie toll auf der Weide umher.
Das Abenteuer
An einem der folgenden Nachmittage, als die Sonne gar warm schien wie Sommer und die Eltern draußen im Walde zu tun hatten, eilten die abenteuerlustigen Kinder zum Ufer des Flusses, um auf des Vaters Schifflein zum Inselchen hinüberzusteuern. Doch siehe da! Das Schifflein war so fest angebunden, daß die vier flinken Händchen sich vergeblich mühten, die Stricke zu lösen. Dem Mägdlein standen schon fast die Tränen in den Augen, da ihm nun sein sehnlicher Wunsch nicht erfüllt werden sollte, als es plötzlich rief:
"Jetzt weiß ich was wir tun, Ib. Wir schwimmen einfach hinüber.
Das gefiel auch dem Büblein, und beide eilten alsogleich Hand in Hand flußaufwärts zu einer Stelle, von wo aus sie die Insel schwimmend zu erreichen hofften.
Hier angekommen, warfen sie ihre Hüllen ab, Ib sein Fellhöschen, Rautendelein ihr Schürzchen, und sprangen kopfüber ins Wasser. Emsig ruderten die vier Aermchen, um ja nicht zu weit flußabwärts getrieben zu werden, und die beiden Flachsköpfchen schaukelten auf den Wellen gar lustig auf und nieder. Einen Herzschlag lang vermeinte das Rautendelein, seine Veine wären in die Haare einer Wasserfrau geraten ; doch war es nur ein Wirbelchen gewesen. Und als sie ihrem Ziele schon gar nahe waren, da schnellte gerade vor seinem Kopf ein großer Fisch in die Höhe, daß es jählings einen Schrei tat und beinahe das Schwimmen vergessen hätte. Endlich aber fühlten sie festen Grund unter ihren Füßen, die Hände haschten gierig nach dem Schilf- und Seerosengeflecht, und im nächsten Augenblick standen die beiden Nixenkinder glücklich auf dem Ufer des lang ersehnten Eilandes.
Das Mägdlein schüttelte das Wasser aus seinem Schöpfchen und schnappte nach Luft; dann aber faßte es gleich des Brüderleins Hand,
denn ihm war mit einem Male so gar schwül ums Herz. Auch dem Büblein lief es plötzlich recht kalt über den Rücken, obwohl die Sonne ordentlich warm auf sie herniederfchien. Die beiden mochten wohl fühlen, daß es halt doch ein gar gefährlich Unternehmen war, das sie sich da in ihren Köpfchen ausgeheckt, und konnten sich erst nach längerm Zögern entschließen, nun ihre Entdeckungsreise zu beginnen.Furchtsam trippelten die Kinder, die Händchen fest ineinander verschlungen, dem Ufer entlang, schauten bald nieder auf das glänzende Wasser, das sie eben durchschwommen, oder hinauf zu den geheimnisvollen Tannen, die über dem gelblichen Gezweig der Erlen und Weiden in die Höhe ragten. Fiel ein Blättlein vor ihnen nieder, raschelte ein Eidechschen durchs Laub, oder flog ein Vögelchen über sie hin, so standen die zwei erschrocken still, oder wollten gleich entfliehen. Ein Eichkätzchen, das auf dem Aste einer Tanne saß und an einer Haselnuß knusperte, schaute die ungefiederten Gäste aus klugen Aeuglein verwundert an. Dann warf es die Nuß von sich, die dem Mägdlein gerade vor die Füßchen fiel.
Endlich aber faßten sich die Kinder ein Herz und drangen gegen das Innere des Inselreiches vor. Behutsam arbeiteten sie sich durch das Gezweig, taten auch ein paar Schrittchen unter den Tannen, die sich mehr und mehr lichteten, und setzt sahen sie mit einem Male etwas, das sie weder im Wachen noch im Traume se zu sehen erhofft hatten.
Ihnen gerade gegenüber erhob sich, in einen Felsen eingebaut, ein dunkelblau schimmerndes Schlößchen nitt goldnen Erkerchen und Türmchen und mit in Gold gefaßten Fensterchen und Türchen. Ein breites Treppchen führte zum Schlößchen hinan. Davor lag ein zierlich angelegtes Gärtlein mit gar seltsamen Blumen und Blattpflanzen, mit Weglein, grünen Bänklein und Grotten und mit einem Wässerlein in der Mitte, wo ein glitzernder Strahl hoch in die Luft stieg und ein leuchtend weißer Schwan langsam hin und her ruderte. Und rings um dieses entzückende Bild standen wie Wächter die hohen Tannen der Insel.
Das Strafgericht
Wie Bildsäulen standen die Kinder. Mit weit aufgesperrten Augen und halboffnem Mund, die nackten Körper vornüber gebeugt und die Hände fest verkrampft, starrten sie hinüber auf das Märchenwunder und vergaßen in wonnigem Erschauern alles um sich her und die ganze Welt.
Da öffnete sich plötzlich eins der goldumrahmten Fensterchen, und die beiden erblickten Kopf und Bart eines Zwergleins, das sie einen Augenblick aus schwarzen Augen anfunkelte, um gleich darauf zu verschwinden und unter der Türe zu erscheinen.
Jetzt fuhr ein jäher Schrecken durch ihre Glieder. Die Hände lösten sich, sie wandten sich um und rannten über Kopf und Hals, das Büblein voran, durch das Dickicht zurück und den Weg entlang, den sie gekommen, das Zwerglein — sie spürten es deutlich — in hellen Sätzen hinter ihnen her.
In seiner Hast strauchelte das Büblein an einer Baumwurzel und stürzte zu Boden. Das Mägdlein tat einen Schrei und purzelte über sein Brüderchen hin. Im Schwick aber standen sie wieder auf den Füßen und wollten nun kopfüber ins Wasser springen, um so schnell wie möglich das jenseitige Ufer zu erreichen.
Gerade in diesem Augenblick aber holte sie das Wichtelmännchen ein, erhaschte mit flinken Händen die beiden Fröschlein am Fußknöchel und zerrte sie trotz ihrem Geschrei und Gezappel zum Ufer zurück.
Da standen nun die Kinder, die Aermchen an die Stirn gepreßt, und schluchzten herzbrechend, also daß ihre Brust zuckend auf und nieder wogte und ihnen die Tränen stromweise über die Wangen liefen.
"Wißt Ihr nicht ", herrschte sie setzt das Zwerglein mit böser Stimme an, daß man uns nicht belauschen soll?
"Doch ", jammerte das Büblein. "Der Vater — hat es — uns gesagt —
"Warum habt Ihr es dennoch getan ?"
"Weil — weil — wir gerne — gewußt hätten — wie es — bei euch — aussehe —"
"Wollt Ihr es nicht wieder tun ?"
"Nie — nie wieder ", kam es wie erlösend über die Lippen der beiden.
Das Zwerglein fragte nicht weiter. Und als die Kinder nach einer Weile ihre Aermchen von der Stirne zogen und sich scheu umblickten, da war es verschwunden.
Am Abend erzählten sie ihren Eltern bleich und zitternd, was sie angestellt hatten und wie es ihnen auf dem Inselchen ergangen war. Der Vater hielt die Kleinen für genug gestraft und ermahnte sie nur, seine Gebote künftig genau zu beachten und nicht um Fingerbreite davon abzuweichen. Die Kinder versprachen es unter Tränen, und mählich kehrten Glück und Freude in ihre Herzen zurück.
Das blaue Schlößchen aber mit den goldenen Türmchen und dem wundersamen Gärtlein wollte ihnen nicht mehr aus dem Sinn.
Der Seidenweg
Seitab vom Wege, der von Meiringen nach der Grimsel hinaufführt, liegt das Gadmental.
In alten Zeiten, so erzählt uns die Sage, hauste auf der einen Seite dieses Tales ein Riese. Der war so groß, daß ihm die gewöhnlichen Menschen nur bis zu den Knien reichten, und also gewaltig stark, daß er Bäume wie Strohhalme aus dem Boden riß. Auf seinen Schultern trug der gewaltige Mann beständig eine Keule, und mit dieser erschlug er die Kühe und Schafe der Herden, oder auch die Bären und Wölfe. Doch auch Menschen, die etwa in feine Nähe kamen, tötete und verzehrte der Unhold gleichermaßen, also daß es am Ende niemand mehr wagte, Sene Gegend zu betreten.
Dem Niesen aber war das Menschenfleisch seine Lieblingsspeise, und als er merkte, daß die Leute ihm auswichen und ihre Hütten auf der andern Seite des Tales aufschlugen, da beschloß er, auch hinüberzugehen.
Es führte aber ein Steg über den Bach, der du beiden Talseiten trennte. Dieser Steg war nur leicht aus Baumästen zusammengefügt und hing zu all dem recht hoch zwischen Felsen über einem schauerlichen Abgrund. Wie nun der Niese seinen schweren Fuß auf dieses Brücklein setzte, da brachen die Aeste plötzlich entzwei. Er taumelte, ein schrecklich Geschrei ausstoßend, zwischen die Wände hinab und hinunter in das wilde Wasser, wo er elendiglich ertrinken mußte.
Also ward das Tal von dem bösen Manne befreit. Die Menschen stellten nun das Brücklein mit großer Freude wieder her, gaben aber wohl acht, es wiederum ebenso leicht und lose zu bauen, wie es vorher gewesen, damit, wenn se wieder ein Niese in ihre Gegend käme, er dem gleichen Schicksale verfallen möchte wie sein Stammgenosse.
Jene Stelle aber, wo noch heute im Gadmentale ein schwindliges Brücklein von einem Felsen zum andern hinüberleitet, nennt man den Heidenweg.
Lauterbrunnen
In grauer Vorzeit waren unsre Berge wilder, die Täler aber fast über und über mit Wald bedeckt. Und einsam lagen die Weiden. Keine Hütte erglänzte im Sonnenstrahl, noch hörte man das trauliche Bimmeln der Kuhglocken oder den sehnsuchtsvollen Klang des Alphorns. Auch gab es keinen Weg, der etwa von einem Tal ins andere geleitet hätte, keinen Steg über die Wasser, die ungebärdig von den Felsen herniedersprangen. Also war es denn nicht zu verwundern, wenn die Menschen von damals sich fürchteten, ihren Fuß in diese Wildnis zu fetzen, und lieber im ebenen Lande blieben, wo sie sich sicher fühlten.
Einst aber beschloß ein wagemutiger Mann, vom Oberland über die Berge ins heutige Wallis zu steigen, zu sehen, wie die Welt auf jener Seite beschaffen wäre. Er bestieg also sein weißes Pferd und ritt der Lütschine entlang aufwärts. Das Tal war brett, und das Pferd hatte anfangs ein gutes Gehen über den trocknen Sand und Kies, die der Bach über die Ufer geschwemmt hatte. Weiter oben aber ward das Tal enger, der Bach tiefer und reißender, das Ufer nur schmal. Aus dunklen Schluchten ergoß sich bald hier, bald dort ein rauschendes Wasser, und über die hohen Wände herab sprühten gleich mächtigen Brunnenstrahlen die weißen Sturzbäche.
Also war das Reiten immer mühsamer und gefährlicher. Oft mußte sich der Schimmel, bis zum Bauche im Wasser watend, mitten durch die reißenden Fluten kämpfen oder sich aufbäumen, um über mächtige Steine zu setzen. An andern Stellen wieder versank er knietief im schlammigen Sand. Er prustete und wieherte, stürmte aber unverdrossen vorwärts, angefeuert durch seinen Herrn, der von seinem Vorhaben nicht lassen wollte.
Als aber das Talbett immer wilder ward und die Bächlein von allen Seiten heranströmten, da sah sich der wackere Netter zur Umkehr gezwungen. Und wie er wieder nach Hause kam, da ging ein Fragen unter den Leuten, wie es ihm ergangen wäre.
"Ich hätt' es gerne bezwungen ", sprach der Mann. "Doch mußte
ich am Ende umkehren; denn Sand und lauter Brunnen versperrten mir den Weg.Die Leute vergaßen die Worte nicht und nannten das Tal von da an das Lauterbrunnental.
Adelboden
Hoch oben an der Küste der Nordsee wohnte in alten Zeiten ein kriegerisch Volk, die Friesen.
Es brach aber unter ihnen eine Hungersnot aus. Da verließen viele ihre Heimat, wanderten den Rhein aufwärts und gelangten in die grünen Täler unsres Landes. Hier, zu Füßen der hohen Berge, bauten sie ihre Hütten, hirteten ihre Herden und trieben die wilden Tiere in die Wälder zurück.
Also hatte sich ein Teil von ihnen auch im Frutigtale niedergelassen und dort, wo heute das schöne Dorf Frutigen steht, seine Wohnstätten aufgeschlagen.
Einst hütete in gener Gegend ein Friesenjunge mit blondem Schopf und blauen Augen seine Ziegen.
Eines Abends, wie er die Herde zu Tale treiben wollte, schien es ihm, als seien nicht mehr alle beisammen. Er hub sie also zu zählen an und stellte auch wirklich fest, daß einige fehlten. Als guter Hirte, dem ein jegliches Tier ans Herz gewachsen und der auch nicht ein einziges von ihnen preisgeben will, suchte er nach ihnen auf der ganzen Weide. Doch keins der Verlornen ließ sich blicken. Da sperrte er kurz entschlossen alles, was da war, in die Bergstatt und machte sich auf den Weg, auch an abgelegenen Stellen nach ihnen zu spähen.
Er eilte hin durch Wald und Schlucht, rief, lockte oder blies in sein Horn, daß es weit hinaustönte in die Stille des sinkenden Abends. All sein Mühen aber war umsonst, und da es inzwischen völlig dunkel geworden und der arme Bub sich todmüde gelaufen, legte er sich endlich unter eine Tanne und schlief ein.
Da träumte ihm, ein lieblich Glockengeläute klinge von einer fernen Höhe an sein Ohr. Er geht flinken Schrittes darauf zu, steigt über Hang und Hügel und gelangt endlich in ein schönes Tal, wo inmitten grüner Auen ein Kirchlein steht.
Als der Knabe erwachte, war der Tag angebrochen und es schon recht hell im schattendunklen Walde. Da sprang er auf, ergriff seinen
Hirtenstab und eilte weiter, immer hoffend, seine Ziegen zu finden, immer auch das schöne Bild vor Augen, das er im Traume gesehn.Er stieg über Hang und Hügel, kletterte über Fels und Geröll. Heiß brannte die Sonne hernieder, der Schweiß troff ihm von der Stirn, der trockne Mund lechzte nach einem Trunk Wasser.
Da öffnete sich plötzlich vor ihm ein weites Tal mit herrlichem Wiesengrund und hohen Bergen ringsherum: es war das Tal, das er im Traume geschaut. Aber kein Kirchlein war weit und breit zu sehen, keines Menschen Spur zu entdecken. Dafür gewahrte der junge Hirte mitten im Wiesengründe seine verlornen Ziegen, die sich an einer Quelle gütlich taten. Da lief er freudig hin, begrüßte die Wiedergefundenen und liebkoste sie, kniete dann nieder und trank nun selber in vollen Zügen von dem köstlichen Labsal, nach dem er sich so lange gesehnt hatte. Als aber der Knabe aufstand, erquickt an Leib und Seele, und niederschaute auf das Wässerlein, das frisch und munter aus dem Boden sprudelte, da jubelte er:
"Du lieber Quell, wie dank ich dir, daß du meinen Durst gestillt hast! Und auch dafür, daß du meine Tiere zu du gelockt, auf daß ich sie wieder finden möge! Doch sag, wie heißest denn ? Hast wohl noch gar keinen Namen. Wart, ich werd dir einen geben: Geißbrunnen sollst von nun an heißen, und die Leute im Tale drunten werden kommen und aus dir trinken.
Dann trieb er seine wiedergefundenen Ziegen heimwärts und brachte die frohe Kunde den Seinen. Hierauf beschlossen die Väter, das Frutigland zu verlassen, zogen mit Weib und Kind hinauf in das hohe Alpental und siedelten sich hier an. Auch sie hießen den Quell, dem Buben zuliebe, Geißbrunnen, und dieser Name ist der Stelle geblieben bis auf den heutigen Tag. Den ganzen Talgrund aber nannten die Leute Adelboden, weil er über und über mit den edlen Gräsern und Blumen der Alpen bedeckt war.
Das Kirchlein jedoch, das der Geißbub im Traume gesehn, ward erst viel hundert Jahre später erbaut.
Die undankbaren Sennen
Auf einem Berge des Simmentals liegt hart unter seinem Gipfel eine schöne Grasfläche, die Galm genannt. Sie war von seher zu steil, die Kühe ohne Gefahr darauf weiden zu lassen, und so begnügte man sich damit, das dort wachsende Gras im Spätsommer zu mähen, aufzuschichten und dann ins Tal zu schaffen.
An dieser Halde wuchsen, von der Höhensonne beschienen, die schönen Alpenblumen in Fülle, die Bärenwurz, die schneeweiße Berglilie, das dunkle Alpenveilchen, und verbreiteten einen solchen Wohlgeruch, daß auch die Bergmännchen herkamen, sich an ihnen zu erfreuen. Sie legten sich jeweilen hin ins Gras, sogen mit ihren Näschen den herrlichen Duft ein, ließen ihre Körper von der Sonne bescheinen, oder spielten wohl auch, wie Kinder tun, Fang mich! auf der blumigen Au. Sobald sich aber ein Senne blicken ließ, dann huschten sie davon, von Furcht ergriffen, und verschwanden wie Mäuse in ihren Verstecken.
Unter den kleinen Leuten, die sich in jener Gegend aufhielten, war indessen eines, das sich vor den Menschen nicht fürchtete. , es half ihnen gar bei ihrer Arbeit, ergriff etwa eine Sense und mähte dann so geschickt, daß seine Mahden glatter waren als die der Sennen.
Ein Weilchen dauerte das so fort, und die Sennen hatten ihre Freude an dem kleinen Knirps, der das hirtliche Handwerk fast besser zu verstehen schien als sie selber. Wie nun aber die Menschen das Gute, das sie haben, gar oft nur für gering achten und dann dafür bestraft werden, also erging es auch unsern Sennen: durch einen losen Streich verscherzten sie die Gunst des Zwergleins und hatten obendrein noch ihren Schaden dazu.
Das Zwerglein pflegte jeden Morgen, ehe es an seine Arbeit ging, sich auf eine große Platte zu setzen und, das Köpflein auf die Hand gestützt, ein Weilchen ins Tal hinabzublicken, das sich hier gar anmutig vor ihm ausbreitete. Es mochte wohl seine heimliche Freude haben an dem schönen Wiesengründe, durch den die Simme
wie ein silbern Schlänglein floß und wo aus den Hütten der Menschen der erste Rauch in die klare Morgenluft emporstieg. Nun war aber die Platte, auf dem es saß, unterhöhlt, und dies benutzten setzt die undankbaren Sennen, dem Männchen einen schlechten Streich zu spielen.Eines Morgens früh nämlich, bevor es auf der Grashalde erschien , machten sie ein Feuerlein unter der Platte, also daß diese ganz heiß ward, und freuten sich schon zum voraus auf die lustigen Sprünge, die das Männchen tun würde, sobald es sich daraufsetzte.
Und wie setzt die Sonne höherstieg und die umliegenden Berge mit ihrem Golde umsäumte, da kam auch das Zwerglein herangesprungen und setzte sich, so wie es das gewohnt war, auf den Stein, um auch heute wieder, ehe es zur Sense griff, sich an Gottes schöner Welt zu erfreuen.
In dem Augenblicke aber, wo sich das Männchen ohne Arg niedersetzte, fuhr es mit einem gellenden Schrei gleich wieder in die Höhe, griff mit den Händchen nach der verbrannten Stelle und tat auch sonst ein paar drollige Sprünge, worüber die Sennen in ein schallendes Gelächter ausbrachen.
Jetzt wußte das Zwerglein gleich, wer ihm das angetan, und rief ihnen mit zornglühenden Augen zu:
"Weh euch, Ihr falschen Leute! Ihr habt mich heute zum letzten Male gesehen und sollt auch sonst noch zu spüren bekommen, wie es geht, wenn man Gutes mit Bösem vergilt.
Und husch! war s verschwunden und ließ sich nicht wieder blicken. Die Sennen aber verloren von da an, sie wußten nicht recht wie, manch schönes Stück Vieh, so daß sie es am Ende für gut fanden, die Galm zu verkaufen und auf eine andre Alp zu ziehen.
Die Milchriemen
In einem Dörfchen des Haslitales lebte vor Zeiten eine alte Frau. Die konnte, wie die Leute sagten, am Milchriemen ziehen. Damit verhielt es sich also:
Die Frau hatte jahrelang eine Kuh besessen — ein gutes Tier, das ihr reichlich Milch gab. Eines Tages aber erkrankte die Kuh und starb dahin. Die Frau ward darüber sehr betrübt, weil sie kein Geld hatte, eine andre zu kaufen, wußte sich aber zu helfen. Sie ging auch setzt noch jeden Morgen in den Stall. Statt nun aber, wie bisher, ihre Kuh zu melken, zog sie durch die Barrenlöcher zwei Niemen und stellte den Milcheimer unter die vier Enden. Nannte sodann den Namen irgendeines wohlhabenden Nachbars und sprach die Worte:
"Meister oder Knecht mir geben soll Von jeder Kuh zwei Löffel voll. |
Setzte sich hernach auf das Stühlchen, ergriff die Niemenenden, als ob es die Sitzen ihrer Kuh wären und hub zu melken an.
Und siehe da! Aus den rundlich geformten Lederspitzen zischten zwei scharfe Strählchen in den Eimer nieder, der sich nach und nach bis zum Rande füllte. Dann aber versiegte plötzlich der Quell bis zum nächsten Morgen. Für heute indessen hatte die Frau Milch genug , sa mehr, als sie für ihren eignen Bedarf gebrauchte. Sie war aber von gutherziger Art und brachte den größern Teil den armen Leuten, so daß die beiden wundersamen Niemen auch andern zum Segen gereichten.
Es lebte im Dörfchen um sene Zeit ein junger Bursche, der lieber auf der faulen Haut lag als arbeitete. Dafür steckte er seine Nase gerne in die Sachen andrer Leute und gab auf alles acht, was etwa vorging. An das, was man ihm von der alten Frau erzählte, glaubte er nicht. Das sei dummes Zeug, meinte er. Wie sollte denn aus einem Niemen Milch fließen können! Freilich, daß die Frau mit der Milch so verschwenderisch umgehen konnte, obschon sie sa keine Kuh
besaß, erschien ihm doch sonderbar, und also beschloß er, zu sehen, was denn an der Sache wäre.Er versteckte sich eines Morgens früh im Stall der Frau. Und wirklich! Da kam sie herein, sagte ihr Sprüchlein her, und der Eimer füllte sich am trocknen Barren. Setzt war er überzeugt, daß die Leute wahrgesprochen.
Voll Freude lief der Bursche heim in seinen Stall und bereitete gleich alles her, zu sehen, ob auch andern als bloß der Frau das Kunststück gelingen würde. Den Spruch hatte er sich wohl gemerkt. Zwei Löffel genügten ihm indessen nicht, er sprach:
"Meister oder Knecht mir geben soll Von feder Kuh zwei Kübel voll. |
Und, o Wunder! Aus den Niemen begann die Milch zu fließen und füllte in kurzem die beiden mächtigen Kübel, die er daruntergestellt . Da ließ er, mit dem Erfolg zufrieden, die Niemen fahren. Zu seinem Erstaunen aber floß die Milch weiter und sprudelte jetzt aus den vier Niemenenden hervor, als ob es Dachtraufen wären. Sie bedeckte erst den Boden des Stalles, stieg dann in unheimlicher Schnelle die Wände hinan und hinauf, und ehe sich der erschrockene Bursche klar ward, was denn geschehe, stand er bis zum Halse mitten in einem Milchmeer. Vergeblich schrie er um Hilfe. Im nächsten Augenblick wuchs ihm die Flut über den Kopf, also daß der Mann elendiglich ertrinken mußte.
Von da an hütete man sich wohl, die gute Frau noch weiter in ihrem Tun zu stören.
Die Heilquelle im Heustrich
Im Kandertal, am Fuße des Niesens, stand vor Zeiten eine kleine Hütte, darinnen ein armer Bauer und seine Frau wohnten. Die waren beide von einfach frommer Art, zufrieden mit dem, was sie hatten, und bei all dem fröhlich und vergnügt, also daß der Mann, wenn er auf dem Felde seine Arbeit tat, immerfort sang und jauchzte.
Eines Morgens aber fühlte er sich, kaum aufgestanden, recht matt und müde. Ihm schien, als hätte sich auf einmal ein schwerer Nebel auf sein Gemüt gelegt, und statt zu arbeiten, schlich er von nun an tage- und wochenlang mit blassem Gesicht im Hause umher. Er war krank geworden, ass nicht, trank nicht, und alles, was ihn bisher gefreut , ward ihm zuwider. Seine Frau, darüber sehr betrübt, tröstete den Armen mit freundlichen Worten und wandte auch bald dieses, bald jenes Mittel an, auf daß er wieder gesund werde. Vergeblich. Der Mann ward immer hinfälliger, dergestalt daß er sich am Ende nicht mehr auf den Beinen zu halten vermochte und das Bett hüten mußte.
Eines Tages nun, wie ihn die gute Frau also leiden sah, da wollte ihr fast das Herz brechen. In ihrem Jammer eilte sie hin in den nahen Wald, warf sich hier auf die Knie und dat Gott in heißem Flehen, doch die Leiden von ihrem Manne zu nehmen und ihn wieder gesund zu machen.
Und siehe da! Kaum hatte die Frau ihr Gebet beendet, da war ihr, als ob es plötzlich licht werde im dunklen Tannenwald. Sie blickte auf und gewahrte ein paar Schritte vor sich ein anmutiges Zwerglein mit langem weißem Bart, ein golden Krönlein auf dem Haupt und ein Herrscherstäbchen in der Hand. Und über dem freundlich lächelnden Männchen schwebte, von den Edelsteinen des Krönleins ausgehend, ein strahlend Licht in den Farben des Regenbogens.
Das Zwerglein sprach:
Fürchtet euch nicht, gute Frau, ich bin der König der Zwerge des Riesenreiches und gekommen, euch zu helfen. Sehet dort oben
jenes Gebüsch. Dort fließt seit Jahrhunderten ein Quell, der bis Setzt den Menschen unbekannt geblieben. Steiget hinauf, schöpfet daraus und gebt eurem Manne zu trinken. Nicht lange, und er wird euch wieder gesund sein wie zuvor.Das Zaubermännchen verschwand. Die Frau aber erhob sich, ging hin und fand auch wirklich unter dem Gebüsch ein freundlich sprudelndes Wässerlein, aus dem sie schöpfte und ihrem Manne von nun an fleißig zu trinken gab. Der Kranke genas auch bald, ward wieder fröhlich, und Glück und Sonnenschein kehrten in die Hütte zurück.
An der Stelle aber, wo damals die Hütte gestanden, bauten die Menschen lange danach ein großes Haus, das Heustrichbad, und gar viele Kranke eilten jedes Jahr hin, dort von dem gleichen heilkräftigen Wässerlein zu trinken und wie jener Bauer davon zu genesen.
Die Apfelprobe
Ein Bursche aus dem Frutigtal, der in fremden Landen als Soldat gedient hatte, kehrte nach Jahren in sein Heimatdörfchen zurück. Sein Vater war inzwischen gestorben. Seine Mutter dagegen lebte noch. Sie war freilich Setzt alt und krank, doch glücklich darüber, den einzigen Sohn an ihrem Lebensabend noch um sich zu haben. Eines Morgens sprach sie zu ihm:
"Mein Sohn, meine Tage sind gezählt. Jeder nächste kann mich von deiner Seite rufen. Es ist Zeit, daß du dich nach einer tüchtigen Frau umsiehst. So hab ich denn auf heute abend drei Mädchen, die du alle wohl leiden magst, zu einem Imbiß ins Haus geladen. Setzt euch auf die Laube, esset und trinket und seid vergnügt. Nach dem Essen aber stellst du ihnen diesen Teller voll Aepfel als kühlende Nachspeise auf den Tisch, gibst gut acht, wie sie sich dazu anstellen und erzählst es mir genau. Aus all dem will ich ersehen, mit welcher von den dreien du glücklich sein wirst. z-
Der Sohn tat, wie ihm geheißen. Sie aßen und tranken und waren guter Dinge. Als die drei Mädchen ihm einen guten Abend gewünscht und gegangen waren, trat er zur Mutter.
"So sage mir setzt ", sprach diese, "wie sich die drei verhalten haben , nachdem du ihnen die Aepfel angeboten.
Nun, Mutter ", begann der Sohn, das Elschen, nach meinem Gefühl etwas zu sehr aufgeputzt, schälte sie also hastig, daß die Hälfte des Fleisches an der Schale blieb. Das Lieschen dagegen, wie mir schien ein bißchen nachlässig angezogen, schlang alles gierig hinab, ohne lang zu schälen und zu wählen. Das Trudchen aber, bescheiden, , doch sauber gekleidet, griff freundlich dankend zu, schälte artig, was man in Ehren abschneiden mag, ass bedächtig und klappte den Mund nicht geräuschvoll auf und zu, wie die andern taten. Mich dünkte, sie hielt in allem trefflich die Mitte.
Antwortete die Mutter:
"Es ist gerade gegangen, mein Sohn, wie ich dachte. Auch mir hat das Trudchen am besten gefallen. Die wird einmal weder geizig noch verschwendrisch sein und auch sonst in allen Dingen wissen, was recht ist und sich schickt. So gehe denn hin und frage ihren Vater, und wenn du ihm als Schwiegersohn willkommen bist, dann biete seinem Töchterchen deine Hand an. Mit ihr wirst du glücklich sein. Dessen bin ich gewiß.
Der Sohn befolgte den Rat seiner klugen Mutter, heiratete das Trudchen und hatte es all seiner Lebtag nie zu bereuen.
Die Salzquelle
Betritt der Wandrer, vom Unterlande her kommend, das Städtchen Thun, erblickt er zu feiner Rechten eine hochragende Felskuppe. Es ist das Stockhorn. Schon die alten Römer müssen auf diesem Berge herumgeklettert sein, fand man doch daselbst tief unter der Erde zwei römische Münzen.
Auf einer der schönen Alpweiden, die sich rings um den Berg ausbreiten, hirtete vor Zeiten ein Senne feine Kühe. Die Weide war mager, die Tiere gaben wenig Milch. Auch hatte er eine große Familie zu ernähren, also daß der Senne mit bangem Herzen an die Zukunft dachte.
Wie er sich nun eines Abends aufs Heulager hinstreckte und seinen Sorgen nachhing, siehe, da öffnete sich leise die Tür und herein traten zwei Bergmännchen mit Spitzenkappe und einem Laternchen in der Hand. Sprechen tat keins von beiden ein Wort. Dagegen gaben sie dem Mann auf dem Heulager ein Zeichen, ihnen zu folgen, und wandten sich gleich wieder der Türe zu.
Nach einigem Besinnen erhob sich der Hirte und trat vor die Hütte. Jetzt winkten ihm du Zwerglein ein zweites Mal, und kurz entschlossen stapfte er hinter ihnen her die Weide hinan.
Im Scheune der Laternen erreichten sie bald einen Felsen und stiegen eine Schlucht empor, durch die ein Wässerlein sickerte. Vor einer hohen Wand hielten du Männchen plötzlich an, Woben den schweren Stein, der gegen die Wand lehnte, zum Verwundern ihres Begleiters beiseite, als ob es ein leichtes Stück Holz wäre, und betraten eine große Höhle. Ein bläulich Licht, von dem man nicht wußte, woher es kam, erfüllte den Raum, und in seiner Tiefe gewahrte der Senn eine grauweiße Masse, die sich wie eine Fluh auftürmte
Setzt wandten sich du Zwerglein gegen den Sennen, und eines sprach also:
"Das ist unsre Salzquelle. Sie liegt, wie du siehst, nicht weit von
deiner Hütte. Von nun an soll sie dir gehören. Schöpfe daraus jeden Tag und gib es deinen Kühen. Sie werden dabei gedeihen. Doch vergiß das eine nicht: erlaube auch den andern Sennen, ohne etwas dafür zu verlangen, den Zutritt zur Höhle, auf daß, wie die deinen, so ihre Kühe sich an der Lecke erfreuen mögen. Tust du es, dann soll der Quell nie versiegen. Tust du es nicht, dann klag dich selber an, wenn's dir schlecht ergeht. Denn wisse: wer unsre Güte mißbraucht und mit Gaben, die er von uns empfangen, nicht so umgeht, wie wir es verlangen, der wird dafür bestraft werden.Sie traten wieder vor die Höhle. Als sich jedoch der Senn umschaute und den kleinen Leutchen Dank sagen wollte, da waren diese wie vom Erdboden verschwunden. Der Stein aber befand sich an seinem frühern Platze.
Der Hirte tat genau, wie ihn die guten Zwerglein geheißen. Er ging von nun an jeden Morgen zur Höhle hinauf, wälzte den Stein auf die Seite und faßte von der herrlichen Gabe so viel, als er dachte, es werde seinen Kühen gut bekommen. Und diese wurden auch wirklich vom Salze fett und glänzend und gaben setzt die Hälfte mehr Milch als zuvor. Er führte aber auch die andern Sennen nach der Stelle und erlaubte ihnen, frei und umsonst zu nehmen, was sie zum Gedeihen ihrer Tiere für nötig fanden.
Der Senne ward in kurzer Zeit ein wohlhabender Mann, und der Segen ruhte auf ihm und seiner Familie. Nach Jahr und Tag aber kam ein andrer Küher auf Sene Alp. Der wollte nun, selbstsüchtig nur an sich denkend, seinen Vorteil aus der Quelle ziehen und schloß sie ab, also daß außer ihm niemand mehr dazu gelangen konnte. So mußten denn die Hirten der Umgegend das Salz von ihm kaufen, und der habsüchtige Mann strich schmunzelnd den Erlös in seine Tasche.
Seine Freude dauerte indessen nicht gar lange. Der Salzquell ward zusehends kleiner, er erneuerte sich nicht mehr und versiegte am Ende ganz. Auch verlor der Mann eine Kuh um die andre durch Krankheit oder Unfall und soll im Elend gestorben sein.
Wie der Blausee seine Farbe erhielt
Auf halbem Wege zwischen Frutigen und Kandersteg liegt, in den Frieden des Waldes gebettet, der Blausee.
Er wird also genannt, weil sein Wasser wundersam blau gefärbt ist. Gleiten wir in einem Schifflein über seine stille Fläche, dann sieht unser Auge in der klaren Tiefe die Fischlein sich tummeln und erkennt hier und dort auch einige vermoderte Baumstämme, derweil die alten Bergtannen, die rings um das Seelein stehen, sich in den Fluten spiegeln.
Eine rührende Sage berichtet uns, in welcher Weise das Wässerlein seine Farbe erhalten hat.
Vor Zeiten wohnte in seiner Nähe ein Mägdlein, das sein Herz einem jungen Hirten geschenkt hatte. An den hellen Abenden nun, wenn des Mondes Licht um die schwarzen Wipfel der Tannen spielte und eine silberne Furche durch das Wasser zog, wanderten die beiden die kurze Strecke zum Seeleben, bestiegen einen Kahn und verträumten dort manch freundliche Stunde ihres jungen Lebens.
Da fiel der Hirte, als er einst mit einer Bürde Heu von den Flühen niederstieg, über eine Felswand zu Tode. Von der Zeit an war das Mägdlein untröstlich. mitternächtlicher Stunde schlich es sich oft zum Steltzen, ruderte hinaus bis zur Mitte und überließ sich hier seinem Schmerze, indem es den Himmel in heißem Flehen um die Wiedergabe des Geliebten bat oder haderte über sein grausames Schicksal. So verwirrten sich mählich des Kindes Sinne. Vergeblich mahnten die Eltern, die nächtlichen Besuche aufzugeben — eine geheimnisvolle Macht zog du Unglückliche immer wieder an den Ort zurück, wo sie früher so glücklich gewesen.
Eines Morgens fand man Schiff und Mägdlein auf des Seeleins Grunde. Das Wasser aber, das sich bisher kaum vom Wasser andrer Seen unterschieden, war plötzlich tiefblau geworden: es seien, also sagten die Leute, die Tränen des armen Mägdleins, die feinen blauen Augen entquollen.
Geschlechternamen
Wie Menschen früherer Zeiten oft zu einem Namen gelangten, der sich dann durch lange Geschlechter bis auf unsre Tage erhalten hat, erzählen die folgenden Sagen.
Hoch oben am Brienzersee, zwischen Brienz und der Aare, liegt das Dörfchen Kienholz.
Vor etlichen hundert Jahren stand hier ein großes Dorf nebst einem schönen Schlosse. Da fuhr eines Tages eine Erdlawine vom Brienzergrat hernieder, bedeckte Häuser, Gärten und Wiesen mit Schutt und schwemmte einen Teil davon in den See hinaus, daß dieser , so erzählten die Leute, vom Schlamme noch monatelang trübe gewesen sei.
Es begab sich aber, daß einige Zeit hernach tin Fuhrmann Waren von Brienz nach Meiringen zu schaffen hatte und ihn hiebei sein Weg mehrmals über den hohen Steinschutt führte, unter dem das Dorf begraben lag. Er beobachtete nun, daß sein Pferd sich jeweilen an einer gewissen Stelle unruhig zeigte, der Hund am Boden scharrte und beide nur widerwillig weitergingen. Jetzt bat der Mann um die Erlaubnis, an dieser Stelle ein bißchen zu schürfen. Die Erlaubnis ward ihm erteilt. Er stieß denn auch bald auf ein Kellergewölbe, darinnen sich ein alter Mann und ein Knabe noch lebend vorfanden. Die beiden hatten sich, wie sie erzählten, in dieser Gruft seit der Verschüttung mit Käse, Wein und herabsickerndem Wasser das Leben gefristet.
Der Fuhrmann half den beiden heraus. Der plötzliche Wechsel zwischen dem Modergeruch und der frischen Luft bekam indessen dem Greise nicht gut. Er starb kurze Zeit darauf, derweilen der Knabe am Leben blieb. Er hieß Schnewetter. Zum Andenken an dieses seltsame Ereignis aber nannten ihn die Leute von nun an Kienholz, und noch heute ist das Geschlecht der Kienholz in jener Gegend sehr verbreitet
Eine andre Sage berichtet, wie einst die Lütschine nach einem
schrecklichen Gewitter über die Ufer trat und das ganze Bödeli überflutete . Hierbei ward manch ein Haus fortgerissen, und viele Menschen ertranken.Da trieb auf dem Wasser zwischen schwimmenden Baumstämmen, Balken und Holzgeräten auch ein Büblein daher. Das konnte nun freilich nicht schwimmen, hielt sich aber durch. tapfres Rudern und Strampeln mit Händchen und Füßchen über den tobenden Wellen und ward endlich unter die Dachtraufe einer Hütte geschwemmt, wo es auf einem Brette erschöpft liegenblieb. Als das Wasser endlich abgelaufen, fand man den Kleinen, vor Hunger und Kälte wimmernd, sonst aber heil und ganz.
Man forschte nun nach Vater und Mutter. Die aber mußten wohl in der großen Wassernot ihren Tod gefunden haben. Also ward denn das verwaiste Büblein in Pflege genommen, und weil man seinen Namen nicht wußte, wurde es, der Fundstelle gemäß, Traufer geheißen und so das Stammbäumchen eines Geschlechtes, das sich bis um heutigen Tage in Interlaken und anderwärts erhalten hat.
Eine dritte Sage endlich erzählt uns, wie das Geschlecht der Sauser zu seinem Namen gekommen ist.
Auf der Alp Saus, hoch über dem Lauterbrunnental, stand in alten Zeiten ein hübsches Dörflein mit etwa zwei Dutzend Häusern. Die Dächer waren mit Schiefer gedeckt, ringsherum dehnten sich Gärten und grüne Matten. Der Winter war dort noch so milde, wie heutzutage der Mai. Von Reif und Frost und Eis auf dem Wasser wußte man nichts.
Da kamen eines Morgens vom Männlichen herüber graue Nebel gezogen, und als der Hirtenbub seine Geißen zum nahen Seelein trieb, war es zugefroren. Die Tiere schnupperten an der gefrornen Fläche, streckten die Hälse in die Luft, rümpften die Nase und fingen jämmerlich zu meckern an. Jetzt lief der Bub in seiner Angst ins Dörfchen und erzählte es seinem Vater, worauf alle Leute hingingen, mit eignen Augen zu schauen und zu staunen.
Nicht lange, verdorrten auch die schönen Blumen auf den Auen, der Kuhbrändel, das Silbermänteli und die Bibernell. Und dann fuhr eine schreckliche Seuche über die Leute selber, und alle, alt und jung, mußten sterben.
Einige Zeit nachher stiegen ein paar Leute von Isenfluh ins Saustal hinauf. Wie sie durch das Dörflein schritten, da war kein Mensch zu sehen und alles totenstill. Aus dem Hause aber am Ende der Gasse tönte plötzlich ein klägliches Wimmern an ihr Ohr. Sie traten ein und gewahrten ein Büblein in einer Wiege. Ueber seinem Köpfchen hing, an einer Schnur befestigt, ein großes Stück Brot, so daß es das Kind mit seinen Händchen ergreifen konnte. Die guten Eltern, als sie den Tod nahen sahen, hatten in ihrer Angst das Brot hier angebracht und auf diese Weise das Büblein vor dem Hungertode gerettet.
Die Leute nahmen sich dieses letzten Bewohners des Sausdörfchens an und brachten ihn nach Isenfluh hinab. Weil aber niemand wußte, wie er hieß, nannten sie ihn einfach den Sauser. Als junger Mann zog er später nach Sigriswil, und dort hat sich das Geschlecht der Sauser erhalten bis zum heutigen Tag.
Die Zwerglein am Wetterhorn
Auf den Bergen Grindelwalds wohnte vor Zeiten ein ganzes Zwergenvolk mit König und Königin. Die kleinen flinken Männchen, die man auch Toggeli nannte, weil sie nicht größer waren als acht- oder neunjährige Büblein, krabbelten gerne auf der Kuppe des Faulhorns herum, oder auch am Männlichen und am Lauberhorn ihr eigentlicher Wohnsitz aber war der gewaltige Steinbau des Wetterhorns .
Dort oben am Gleckstein, wo noch heute ein paar einsame Föhren aus den Felsen ragen, befand sich der Eingang in den Berg, in dem sie nach Gold und Silber gruben. Ab und zu aber strömten sie, wie Kinder aus der Schule, in Scharen ins Freie, legten sich auf den Felsen, sich zu sonnen und auszuruhen, oder wohl auch um die Gemsen zu melken, die ganz von selber von den Höhen zu ihnen herniederstiegen Und aus der Milch bereiteten die klugen Leutchen dann kleine Käslein, die sie den Armen und Kranken im Tale drunten auf die Türschwelle legten. Auch sonst taten sie viel Gutes. Sie schneiderten und schusterten für arme Leute die ganze Nacht, oder halfen ihnen beim Heuen und Ernten. Sie verlangten dafür keinen Lohn; sie erwarteten bloß, daß man, wenn es nötig war, auch ihnen behilflich sei und überhäuften in solchen Fällen den Helfer mit Geschenken.
In welcher Weise sie das taten, geht aus dem folgenden Geschichtchen hervor.
Noch spät in der Nacht saß ein Weiblein am Webstuhl und webte. Eilfertig flog das Schiffchen hin und her. Auf dem Tische war das Oellämpchen schon fast am Erlöschen. Da klopfte es plötzlich an die Tür. Das Weiblein griff nach dem Licht und öffnete. Draußen stand ein Zwerglein, ein Laternchen in der Hand, aufgeregt und zitternd am ganzen Lew.
Was willst ?" fragte die Frau.
Bitte lispelte ein dünnes Stimmchen, "kommt doch schnell mit
mir. Unsre Königin erwartet ein Kindchen, und niemand weiß zu helfen.Das gutherzige Weiblein sagte: ", band sich geschwind eine weiße Schürze um, zog eine Haube über den Kopf und folgte dem kleinen Männchen in die Nacht hinaus.
Sie stiegen und stiegen, gelangten erst an den Fuß des Berges, dann, nach mühsamem Gehen über böse Steine, hoch oben vor eine Tür. Das Zwerglein öffnete, und die beiden betraten einen niedern Gang, wo der Führer aufrecht, seine Begleiterin aber nur gebückt gehen konnte, sollte sich ihr Kopf nicht an der Decke stoßen. Nach und nach aber weitete sich der Stollen, ein ferner Lichtschimmer erhellte bereits die starren Wände um sie her, ein dumpfes Gemurmel scholl an ihr Ohr, dann stand das Weiblein plötzlich mitten im Zwergensaale und wußte sich vor Staunen kaum zu fassen.
Wie das funkelte und glitzerte! Das hohe Gewölbe ruhte auf kristallnen Säulen, die Wände erstrahlten in reinem Golde, und an der Decke hing ein mächtiger Kronleuchter, der mit seinen hundert Kerzlein ein helles Licht verbreitete. Und um sie her wimmelte es von Bergmännchen, die in Gruppen zusammenstanden oder geschäftig hin und her liefen. Das flisperte und pisperte, das summte und brummte, also daß es dem Weiblein zumute war, als wär es in ein Bienenhaus geraten.
Allmählich aber verstummte das Gemurmel, und jetzt erinnerte sich die Frau daran, warum man sie gerufen. So waltete sie denn ihres Amtes und legte alsbald der Königin ein feines Zwergenkind in die Wiege. Des freuten sich die guten Zwerglein über alle Maßen. Sie drängten sich um die Frau, drückten ihr die Hand, und nicht nur eins, nein, ein ganzes Dutzend begleitete die Wohltäterin aus dem Berge zurück ins Freie.
Kaum aber waren sie draußen, als noch ein weiteres Zwerglein herangesprungen kam und dem Weiblein ein ganzes Körbchen voll Kohlen in die Schürze schüttete.
"Da habt Ihr euren Lohn, gute Frau ", sagte es.
Die Frau dankte, gab aber auf die Kohlen, deren sie ohnehin zu Hause genug hatte, nur wenig acht. Sie hielt die beiden Zipfel der Schürze nur lose in der Hand, und so kam es, daß ab und zu ein Stücklein auf den Boden fiel. Die Zwerglein aber, die sie noch eine Strecke weit den Berg hinunterbegleiteten, riefen ihr jeweilen zu:
"Gib acht, gib acht! Je mehr du zatt'st, ) Je minder hast! |
Zu Hause angelangt, schüttete das Weiblein die Kohlen verdrießlich auf die Feuerplatte und ging zu Bette.
Als sie aber am Morgen in die Küche trat, da schimmerte und flimmerte es im Herdwinkel — die Kohlen hatten sich in lauter Goldstücke verwandelt. Setzt ging der Frau ein Licht auf, und als sie dachte, wie viel der kostbaren Dinger sie auf dem Wege verloren, da rannte sie stracks den Berg wieder hinauf, fand aber nicht ein einzig Stücklein mehr.
Der Strahler
In einem Dörfchen des Haslitales wohnte vor Zeiten ein Mann namens Günter.
Er war arm, hatte eine große Familie und bestellte anfänglich, sie zu erhalten, sein kleines Stück Land. Mit den Jahren aber behagte dies seinem unruhigen Blute nicht mehr. Viel lieber stieg er in die Berge, die Gemsen zu jagen, oder legte wohl auch das Gewehr beiseite und suchte nach den glänzenden Kristallen, um sie im Tale drunten an durchreisende Fremde zu verhandeln. Indessen gelangte der Mann auch damit nicht weit. Die Arbeit war mühsam und gefährlich, und es verstrichen oft Monate, ehe er einen ordentlichen Fund tat. Also verarmte der Strahler, wie ihn die Leute nannten, mehr und mehr. Am Ende blieb ihm nichts übrig, als auch die Ziege, das letzte Stück seines Viehstandes, zu verkaufen: unter Tränen gab sie die Hausfrau einem Händler, der gerade des Weges kam, für wenig Geld hin.
In jener Nacht tat der Unglückliche kaum ein Auge zu. Was sollte er nun beginnen, seine Familie zu ernähren ?
Gegen Morgen endlich überkam ihn ein leichter Schlummer, und da hatte er einen seltsamen Traum.
Er sah sich droben am Zinkenstock, auf der Grimsel, mit dem Hammer gegen den Felsen schlagend, wie er das früher so oft, doch vergeblich , getan. Jetzt aber öffnete sich plötzlich der Berg, er trat in ein Gewölbe und gewahrte in der Tiefe dieses Gewölbes ein grünschimmerndes Lichtlein, das wie von Geisterhand gehalten an den Wänden hin und her irrte.
Der Mann erwachte. Das Traumbild aber beschäftigte ihn den ganzen Tag, und da es ihm in den folgenden Nächten ein zweites, dann ein drittes Mal erschien, war er überzeugt, daß das geheimnisvolle Licht ein Glücksstern bedeute, dem man zu folgen habe.
Er packte also Hammer, Pickel und Steigeisen, auch Speis und Trank, zusammen, begab sich mit einem Begleiter auf die Grimsel
und kletterte über Stein und Gletscher zu der Stelle hinan, die er im Traume gesehen.Drei Wochen mühten sie sich im Schweiße des Angesichts, immer hoffend, nimmer verzagend, der Günter beseelt von der Kraft, die die Sorge um Weib und Kind dem Manne verleiht, der andre im treuen Glauben an seinen Gefährten. Der Schacht ward groß und größer, immer tiefer drangen sie ins Erdreich hinein, reichlicher sickerte aus der Tiefe das Wasser.
Da — es war am Anfang der vierten Woche — klang es auf einmal hohl unter dem Pickel der Männer, und ihnen war, als rolle ein Stück des Gesteins nach hinten in hallende Weite. Voll frohen Erwartens arbeiteten sie fort. Immer schneller sauste das Eisen nieder , immer hohler tönte der Schlag, wie im Fieber flogen die Pulse. Endlich war die Scheidewand gesprengt, und wie jetzt Günter erst seine Hand mit der Lampe, dann seinen Kopf durch die Höhlung streckte, da sah er vor sich eine Schatzkammer, wie sie noch keines Strahlers Auge erschaut.
In Säulen und Spitzen, neben- und hintereinander ragend, tauchten die Kristalle aus dem Halbdunkel empor, vom kleinen weg, den ein Kind zu heben vermag, bis zum zentnerschweren, alle frei .von Nebel und Schnee und rein wie des Diamanten herrlich Gebilde. Und wie aus ihnen ein tausendfältig Licht erglänzte, da ward das bescheidene Lämpchen, das Günter in seiner Hand hielt, zum strahlenden Sterne.
Der Mann vermochte das Wunder kaum zu fassen. Schüchtern zog er endlich den Kopf aus der Kristallkluft zurück, um gleich darauf die funkelnde Pracht noch einmal zu erschauen, weil es ihm undenkbar erschien, daß sie nicht trügend davonschwand. Der Schatz war noch da.
Jetzt war alle Not des armen Günter zu Ende. Der Berg hatte ihn zum reichen Manne gemacht, und Händler aus fremden Ländern betraten seine Hütte an der Grimsel, um sich hier das frisch gebrochene Strahlgut zu erwerben.
Die Schlangenkönigin
Im Frutigtale lebte vor langen Jähren ein reicher Bauer. Der hatte nur ein einzig Kind, ein Töchterlein, das, als es herangewachsen, sein Herz einem armen Sennen schenkte. Der Vater, wie er das erfuhr, war sehr zornig. Er war ein geiziger Mann, wünschte sein Kind reich verheiratet zu sehen und hatte sich hiezu den Sohn eines begüterten Nachbars auserkoren.
Das Mägdlein aber war darüber zu Tode betrübt. ES urte Tag und Nacht in Haus und Hof umher und floh am Ende in die Berge hinauf, um sich dort, fern von den Menschen, feinem Schmerze ungestört hingeben zu können. Eine Ziege war das einzige, das es mit sich führte, um sein Leben zu fristen.
Nun stand einsam in den Felsen droben eine fast zerfallne Hütte. Die ward von allen gemieden; denn darinnen hause, also erzählten die Leute, eine mächtig große Schlange, die jeden mit Haut und Haar verschlinge, der es wage, ihr Versteck zu betreten. Das Mägdlein aber fürchtete sich nicht. Es liebte die Tiere, hatte sein Leben lang keinem einzigen etwas zuleide getan und betrat also, da der Tag sehr heiß war, das schützende Dach, um hier in Ruhe elne Schale Milch zu trinken.
Da rauschte es plötzlich im Laube, das aufgeschüttet den Boden bedeckte, und aus dem Halbdunkel stiegen zwei glühende Augen langsam in die Höhe. Dicht über den Augen aber begann es in allen Farben zu glitzern und füllte den kleinen Naum im Augenblick mit strahlender Helle.
Setzt gewahrte das Mägdlein eine schwarze Schlange, den Kopf mühsam emporgerichtet, und auf dem Kopfe ein Krönlein, von dem das wundersame Licht ausging. Es erkannte auch auf den ersten Blick, daß das Tier wohl krank sein müsse und dürstete. Da trat denn das gute Kind furchtlos hinzu, bot ihm aus hohler Hand die frische Milch dar, und sah mit Freuden, wie gierig das arme Geschöpf trank.
Auf einmal aber hielt die Schlange inne, hob den Kopf, wie um zu lauschen, und fuhr dann raschelnd ins Laub nieder. Und wie sich jetzt das Mägdlein nach dem Störenfried umsah, siehe, da stand unter der Tür ihr Geliebter, der arme Senn, aufgeregt und außer Atem.
Um Gottes willen, Kind ", rief er, was tust du hier ? Weißt denn nicht, wie gefährlich es ist, diese Hütte zu betreten ?"
Der junge Mann hirtete auf einer nahen Alp die Kühe. Er hatte seine Liebste in die Felsen steigen sehen und war herbeigeeilt, sie zu begrüßen, als das Mägdlein zu seinem Schrecken in das verrufne Gelaß getreten.
Dieses aber wies setzt hin auf das kranke Tier und beruhigte ihn. Dann setzten sich die beiden vor der Hütte draußen auf den steinigen Boden, und das Mägdlein erzählte schluchzend, wie ihr der Vater den reichen Nachbarssohn bestimmt, von dem sie doch nichts wissen möge, und ihr darüber fast das Herz breche.
Jetzt führte der Jungsenn sein Liebchen rasch entschlossen ins Tal hinab, trat keck vor den Vater und bat um die Hand seiner Tochter. Dieser aber, dem der arme Bursche zu gering war, wies ihn mit schnöden Worten von der Tür und verbot ihm jeden weitern Umgang mit seinem Kinde.
Die Strafe für ein solch hartherzig Vorgehen ließ nicht auf sich warten.
Noch in Senem Sommer verlor der Bauer eine Kuh um die andre, und die Leute wollten wissen, es wäre die Schlange gewesen, die die
Tiere vergiftet hätte. Was ihm noch übrigblieb, das raffte eine böse Seuche hinweg. Die Habe des armen Sennen dagegen, man wußte nicht, wie das geschah, mehrte sich von Tag zu Tag. Herbst kehrte er als wohlhabender Mann ins Tal zurück, derweilen der reiche Bauer arm geworden. Indessen machte das Glück den jungen Burschen nicht übermütig. Er klopfte wieder an die Tür des Mannes, und diesmal erfüllte der vom Schicksal Geschlagene gerne seine Bitte.Bald darauf wurde die Hochzeit gefeiert. Fröhlich saßen die Geladenen beim Festmahl. Da öffnete sich plötzlich die Tür, und in den Saal rauschte, wie von unsichtbaren Flügeln getragen, eine herrliche Frau in duftigem Gewande, mit rosigen Wangen und einem Krönchen auf dem Haupte.
"Ich bin die Schlangenkönigin ", sprach sie. "Ich komme nicht, euer Fest zu stören. Ich komme, dieser Braut hier zu danken, weil sie mir in der Felsenhütte den Trunk geboten, als ich krank und elend lag. Nimm ", fuhr sie fort, zur Braut gewendet, "nimm also dieses Krönlein zum Lohne dafür. Es wohnen ihm wundersame Kräfte inne. Und sei auch fürderhin hilfreich und gut gegen die Tiere, selbst gegen solche, die sonst von den Menschen verachtet und zertreten werden.
Also sprach die schöne Frau. Dann rauschte sie wieder zum Saale hinaus.
Dem Mägdlein aber und ihrem Manne erging es gut, solange sie lebten.
Das Tanznärrchen
In einem Dorfe des Simmentals lebte vor Zeiten ein Mägdlein. Das war gewachsen wie ein Tännchen im Wald, hatte ein rosig Köpfchen, zwei helle Augen, ein zierlich Näschen, und wenn's lachte, blitzten die weißen Zähne. Und wie es außen so artig beschaffen, so auch in seinem Herzen. Es war freundlich und bescheiden, war folgsam und fleißig, kurz, war ein Kind, wie es sich Eltern gerne wünschen . Wie nun aber ein jegliches etwas hat, das nicht sein sollte, so auch unser Mägdlein aus dem Simmental: es war ab und zu vom Tanzteufelchen besessen.
Rückte nämlich so ein Sonntag heran, wo die jungen Leute sich dem Tanzvergnügen hingeben durften, schien das Züseli, so hieß das Närrchen, auf einmal wie verhext. Hin war jetzt feine Ruhe, an ein ordentlich Arbeiten kaum mehr zu denken. Wie ein Heupferdchen schoß es, ein Liedchen trällernd, in Haus und Garten herum, sudelte ein bißchen in der Küche, tänzelte dann hinüber in die Stube, das neue Kleidchen zu besehen, schwirrte von hier in den Gaden hinauf und gleich wieder hinab in den Stall, mit den Ziegen zu schäkern. Zum Essen nahm es sich kaum noch die Zeit, und der Nacht fuhr das Mägdlein bald lachend, bald kreischend aus dem Schlafe — lachend, wenn es geträumt, sein Tänzer hätte ihm etwas Luftiges gesagt, kreischend, wenn es etwa vermeinte, man sei ihm aufs Füßchen getreten oder wäre plötzlich nebst seinem Tänzer mit einem andern Pärchen zusammengeputscht. Die guten Eltern, wie sich denken läßt, gaben sich alle Mühe, die Sucht zu bekämpfen, mahnten, wehrten, stellten dem unerfahrnen Ding die bösen Folgen vor Augen. Ach, sie hätten ebensogut dem Fischlein im Wasser sagen können, es solle doch das Schwimmen lassen! Es half alles nichts, und so begnügten sie sich am Ende damit, ihrem Unwillen durch Spötteln Luft zu machen.
Da näherte sich wieder solch ein festlicher Sonntag — es war ein Sonntag im Mai — und schoß dem Züselt auch gleich gewaltig in die Glieder. Tagsüber quecksilberte es nur so herum, war überall und
nirgends, tat alles und nichts. In seinen Nächten aber ging es setzt stürmischer her denn se, also daß die guten Eltern in der Nebenkammer erschrocken die Hände zusammenschlugen und sich fragten, ob ihr Kind etwa fieberkrank geworden und man nicht besser täte, den Arzt zu holen.Endlich war es Sonntag.
"Ich bin dann schon froh ", seufzte der Vater nach dem Mittagessen , .wenn dieser Tanzsonntag für einmal wieder vorbei ist. Das ist ja nicht mehr zum Aushalten.
Das Züselt strahlte.
"Und ich ", meinte es lachend, ich möcht am liebsten, ein jeder Tag wär ein Tanzsonntag.
"Das glaub ich schon ", fuhr der Vater ärgerlich fort. Aber weißt, Kind, irgendein rechter Bursche, der dich etwa zu einem Glase Wein einladet, der tanzt sicher nicht mit einem solchen Närrchen wie du bist. Man hat mir sa auch erzählt, du müssest immer im Gange stehenbleiben.
Jetzt fuhr das Mägdlein auf.
Wen geht's was an ?"" sagte es schnippisch. "Uebrigens ist es mir gleich, mit wem ich tanze.
"Dann, von plötzlichem Uebermut ergriffen, sprang es vom Stuhl, legte die beiden Hände, nach außen gekehrt, an die Schläfen, riß seine Aeuglein sperrangelweit auf und rief:
"Und wenn ich selbst mit dem da tanzen müßte, so ist mir das gleich. Wenn ich nur tanzen kann!
Rief's, schwänzelte hinauf in die Kammer, besah sich im Spiegel, zupfte an den Kettlein, glättete die Falten seines Röckchens und husch! ging's hinunter auf die Straße und gleich hinüber zum Tanzplatz, um nur sa keinen Tanz zu versäumen. Es tanzte bald mit diesem, bald mit jenem, keinem aber fiel es ein, das Mägdlein zu einem Glas Wein einzuladen, und mißmutig gedachte es der Worte des Vaters.
Da erschien gegen Abend ein flotter Bursche auf dem Platze. Er war braun gekleidet, hatte schwarzes Haar, und ein seltsames Feuer glühte aus seinen Augen. Er kam auch gleich auf das Mägdlein
und lud es zum Tanze. Hei, wie jetzt die Veine flogen! Einen solch gewandten Tänzer hatte sie noch nie gehabt! Und als der Tanz zu Ende, ließ er das Dirnchen auch nicht stehen wie die andern. Er führte sie vielmehr recht artig zu Tische, bestellte ein gutes Glas Wein, plauderte und scherzte und tanzte dann den ganzen Abend mit ihr — nur mit ihr. Sie war selig. Und als der ritterliche Bursche sich erbot, sie nach Hause zu begleiten, da durfte das Mägdlein doch auch nicht nein sagen, um so weniger, als sie gedachte, ihn dem Vater zu zeigen. Wie wollte sie dann seine Worte Lügen strafen!Als die beiden zu Hause anlangten, klagte der Verehrer plötzlich über Schmerzen in den Füßen. Sie wäre halt, meinte er lächelnd, eine gar flinke Tänzerin, wie er noch keine gehabt, und wenn er selber auch kein übler Tänzer sei, so habe sie ihm doch ein bißchen zu schaffen gemacht. Das Mägdlein glaubte das gerne, und als sie ihr Liebhaber ersuchte, ihm doch die Schuhe auszuziehen, da ließ sie sich auch gleich in die Knie, löste die Riemen und zog den einen Schuh aus.
Jetzt aber tat das Mägdlein jählings einen Schrei, und das Köpfchen flog in die Höhe. Das war sa nicht der Fuß eines Menschen, der da zum Vorschein kam, das war ein Bocksfuß — sie hatte mit dem Teufel getanzt!
Heulend lief sie hinüber zu den Eltern und war kaum imstande, zu erzählen, was sich zugetragen, so sehr hatte der Schrecken ihre Zunge gelähmt. ging der Vater hin, sich den seltsamen Vogel näher anzusehen. Der aber war verschwunden, verschwunden von Stund an auch die Tanzsucht des Mägdleins, und Eltern und Kind lebten wieder im Frieden.
Die vornehme Mailänderin
Auf einer Alp in der Nähe der Grimsel, dort wo die Berge des Bernerlandes und des Wallis sich scheiden, hütete vor Zeiten ein junger Senne seine Herde.
Eines Tages bemerkte er, daß ihm ein Rind fehlte. Als guter Hirte machte er sich sogleich auf, es zu suchen, verirrte sich aber dabei mehr und mehr und geriet endlich in eine wilde Gegend, wo nur Fels und Gletscher zu sehen waren. Darüber hing ein trüber Himmel, und es dauerte auch nicht lange, da hub es gelinde zu regnen an.
Wie er nun weiterschritt, mit scharfen Augen überall nach seinem verlornen Rinde spähend, gewahrte er nicht gar weit vor sich eine Gestalt, die langsam dem Gletscher zu wandelte. Es war eine Frau, das sah er gleich. Was aber hatte die in dieser weltverlassnen Gegend zu schaffen ?
Der Senne beschleunigte seine Schritte, und wie er jetzt der Gestalt nahe kam, befiel ihn fast ein Gefühl von Scheu und Furcht. Das war keine jener einfachen Frauen aus den Bergen, wie er sie zu sehen pflegte, das war vielmehr eine vornehme Dame, die Gott weiß woher kommen mochte.
Sie schritt barhäuptig und barfuß dahin. schwarzen Locken fiel das Haar weit über ihre Schultern hernieder. Um den schneeweißen Hals trug sie eine goldene Kette, die mit roten Edelsteinen verziert war, und ihren schlanken Leib umspannte ein kostbarer Gürtel. An den Armen glänzten goldene Reifen, und wie Tautropfen in der Gonne, also blitzten die Diamanten an ihren schmalen Fingern. Mit der einen Hand zog die Dame sorglich das seidene Kleid ein wenig in die Höhe, um besser gehen zu können; in der andern hielt sie einen langen Reisestock. Das edle Gesicht war blaß. An den großen Augen schimmerten Tränen, die feinen Lippen schienen zu beten. Die zarten Füße aber, die vor Kälte und Nässe gerötet waren, mieden sorgsam jeden spitzen Stein, um sich nicht daran zu verletzen.
Ein Weilchen schritt der Senne bald hinter, bald neben der feltsamen
"So saget mir doch, liebe Frau ", sprach er endlich, "was suchet Ihr denn in dieser wilden Gegend und bei solchem Wetter ? Ihr habt wohl eure Leute verloren und euch verirrt, oder nicht ? Wo aber sind sie ? Sprecht! Ich werde euch zu ihnen zurückbegleiten.
Die Frau war stehengeblieben. Als sie die Worte des Hirten hörte, glitt ein müdes Lächeln über ihr bleiches Gesicht, sie öffnete den Mund und sprach mit leiser Stimme:
"Mein guter Junge, mach dir meinetwegen keine Sorgen. habe mich nicht verirrt und habe auch keine Leute, die mich erwarten. Höre mich an. Ich war das einzige Kind meiner Eltern und wohnte mit ihnen in einem glänzenden Palaste in Mailand. Vor zwei Tagen bin ich gestorben, und mein Leib liegt setzt noch zu Hause auf dem Totenbette, das Vater und Mutter mit ihren Tränen benetzen. Nun hat Gott die Seele von meinem Leibe gelöst und mich verurteilt, hier auf diesem Gletscher zu büßen. Bei meinen Lebzeiten bin ich nämlich ein gar verzärtelt Kind gewesen. trat nur selten auf die bloße Erde, ich fuhr immer in der Kutsche. Nie fiel ein Tropfen Negen auf mein Haupt, ich wich jedem kalten Lüftchen aus und verließ im Winter das Haus überhaupt nicht, um mich sa nicht zu erkälten. Ich tat alles, was mir beliebte, doch durfte es nicht etwas sein, das mir Mühe machte. Zur Strafe dafür muß ich jetzt, wie du siehst, in dieser Wildnis barfuß gehen, muß mich dem Negen und der Kälte aussetzen und über Fels und Gletscher wandern bei Tag und bei Nacht.
Kaum hatte die Frau diese Worte gesprochen, fuhr ein dichter, fast schwarzer Redel daher und hüllte die beiden ein. Als sich aber nach einem Augenblicke der Nebel verzogen, war die anmutige Gestalt wie vom Erdboden verschwunden.
Nun dachte der junge Hirte, Gott habe ihm wohl die Frau erscheinen lassen, auf daß er sie erlöse. Also hub er denn nach ihr zu rufen an, rief laut und immer lauter und ging auch gar über den
Gletscher und blickte in die Spalten hinab. Doch die schöne Mailänderin ließ sich für heute nicht mehr sehen, und traurig kehrte er in seine Hütte zurück.Von da an zog es den Hirten noch manches Mal hin in sene wilde Gegend, besonders dann, wenn Wind und Negen ihn an die seltsame Stunde gemahnten. Die herrliche Gestalt wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn und er meinte, sie müsse ihm noch einmal erscheinen. Umsonst. Schwermütig rauschte der Bach, durch die Gletscherspalten ging ein Knirschen und Krachen, seltsame Nebelgestalten tauchten auf und verschwanden — die verwunschene Frau hat er nie wieder gesehen.
Schillingsdorf
Im Tale der schwarzen Lütschine, dort wo sich heute das Dörfchen Burglauenen befindet, stand vor langer Zeit ein Ort namens Schillingsdorf.
Viele Jahre lebten die Schillingsdorfer schlecht und recht dahin, bebauten den Acker, weideten das Vieh und waren dabei glücklich und zufrieden. Da entdeckten sie eines Tages eine Schwefelquelle, die in ihrer Nähe der Tiefe des Berges entströmte. Das Wasser enthielt heilende Kräfte, und nun kamen reiche Leute von allen Seiten hergereist, das Wasser zu gebrauchen und wieder gesund zu werden. Durch diesen Zustrom fremder Gäste wurden die Schillingsdorfer mit der Zeit recht wohlhabend. Je besser es ihnen indessen erging, desto mehr verhärteten sich ihre Herzen. Sie wurden hochmütig, ließen es sich wohl sein und wiesen mitleidslos den Armen von der Tür, der um eine Gabe anklopfte. Da ward ihrem Treiben mit einemmal ein Ende gemacht.
Es war an einem schwülen Sommerabend, als über dem Tal ein Gewitter heraufzog.
Am schwarzen Himmel begann es zu wetterleuchten. In gelbem Feuer zuckten die Blitze, erst leis, dann laut und drohend murrte der Donner nach. Bald folgten sich in saher Schnelle Strahl und Schlag, in blendender Lohe flammten die Wolken, es rollten und grollten die Berge. Dann öffneten sich plötzlich die Schleusen des Himmels, und in Strömen prasselte der Regen hernieder. Im Augenblick verwandelte sich die Lütschine in ein Wildwasser, brauste schäumend daher mit hochgetürmten Wellen, sprang hier und dort gar über die Ufer und fuhr haltlos über Weg und Steg. Solch ein Unwetter hatten die Schillingsdorfer noch nie erlebt. Erschrocken trieben sie ihr Vieh in die Ställe und schlossen in aller Eile Tür und Fenster ihrer Häuser, um sich, so gut es ging, vor dem Sturme zu schützen. Auch war es auf einmal recht dunkel geworden, fast wie in der Nacht.
Da stieg ein Zwerglein von den Bergen hernieder und eilte dem
Dorfe zu. Es war pudelnaß, und aus dem langen Barte floß der Negen wie aus einer Dachtraufe. Dennoch guckte das Männchen recht freundlich unter seiner Zipfelmütze hervor. Gleich beim ersten Hause hielt es an, schüttelte das Wasser aus Rock und Kappe und klopfte mit seinem Stecken bescheiden an die Tür.Eine Frau schaute zum Fenster heraus und fragte barsch, was es denn bei diesem Wetter in Schillingsdorf zu tun hätte.
"Hab mich verlaufen ", antwortete das Männchen bescheiden, ,und möcht euch um ein Obdach bitten, bis das Unwetter vorüber ist. Die Frau aber fuhr ihn an:
"Scher dich nur fort. Haben keinen Platz für solch ein Gesindel wie Ihr seid.
Und klirrend flog das Fenster zu.
Das Zwerglein sagte kein Wort und trippelte weiter zum zweiten Hause. Doch auch hier wiesen es die Leute ab. Ebenso erging es ihm beim dritten, beim vierten und allen andern: überall bekam der Kleine nichts als Scheltworte zu hören, und bei einem Hause gar trieb es ein Mann mit Schlägen fort.
Unten am Ende des Dorfes stand ein ärmliches Häuschen. Anfangs wollte das Zwerglein gar nicht anklopfen und gleich weitergehn, weil es meinte, die Leute da drinnen wären nicht imstande, selbst wenn sie es wollten, ihm ein ordentlich Nachtlager anzubieten. Nach einigem Besinnen aber pochte es dennoch an die Tür.
Ein altes Mütterlein trippelte heraus. Das hieß das Männchen freundlich eintreten und führte es in die Stube. Hier saß der Mann der guten Frau, und der hieß das nasse Kerlchen gleichfalls herzlich willkommen. Das Mütterchen gab ihm ein trockenes Gewand — es war das Kleidchen ihres längst verstorbenen Bübleins — sein nasses aber hing sie an den Ofen zum Trocknen. Dann stellte die Frau Brot und Milch auf den Tisch und machte ihm einen warmen Laubfack zurecht . Das Zwerglein ass und trank, dann aber sprang es plötzlich auf, sagte ein Vergeltsgott, öffnete die Tür und verschwand.
Iesi eilte das Männchen durch die grausige Nacht den Weg durch das Dorf zurück und rief bald hier, bald dort mit durchdringender Stimme:
"Die Burg ) ist gespalten, Sie wird nimmer halten. Schillingsdorf muß untergehn! |
Die Schillingsdorfer hörten die Worte wohl, doch glaubten sie ihnen nicht. Droben in der Burg aber wurde es setzt mit einem Male lebendig wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Hunderte von Bergmännchen schlüpften aus Höhlen und Klüften hervor, krabbelten auf das Felsenhorn, das die Burg krönte, und begannen hier mit rasender Hast zu pickeln und zu hämmern, daß die Funken sprühten.
Auf einmal ging ein Donnern und Krachen durch die sturmbewegte Luft, die Erde erbebte, und gellend widerhallten die Flühe. Der Felszahn hoch oben hatte sich gelöst und fuhr jetzt unter dem Jauchzen der Bergmännchen durch Nacht und Graus als Steinlawine zu Tal — voran mit polternden Sätzen hausgroße Felsblöcke, hinter ihnen her ein reißender Strom von Geröll und Schutt, der Schillingsdorf und seine Bewohner im Augenblick unter sich begrub.
Als der Morgen dämmerte, war der Sturm vorüber, und heller Sonnenschein leuchtete über den Bergen. An der Stelle aber, wo am vorigen Tage noch ein blühendes Dorf gestanden, lagerte setzt ein ödes Schutt- und Schlammfeld. Daraus ragte hier und dort der Kopf eines Felsblockes, und am obern Nande staute sich die Lütschine zu einem kleinen See. Häuser und Menschen, Ställe und Vieh: alles war verschwunden. Ein einziges Häuschen nur stand noch unversehrt: es war das der beiden Leutchen, die den kleinen Fremdling am Abend vorher so gastfreundlich aufgenommen. Das dankbare Zwerglein hatte sich nämlich gleich bei Beginn des Felssturzes auf einen gewaltigen Block gesetzt und diesen in der Weise hinter das Häuschen geleitet, daß die nachstürzenden Massen links und rechts niederglitten und also dem Hüttchen nichts antun konnten.
Seither ist Schillingsdorf vergessen. Auf seinen Trümmern aber entstand später das Dörfchen Burglauenen, das mit seinem Namen noch heute an den Untergang des frühern Ortes erinnert.
Das Alphorn
Wenn der Wandrer Meiringen verläßt, um über die Große Scheidegg nach Grindelwald zu gehen, bieten sich seinem Auge zwei schöne Alpweiden dar: zu seiner Rechten die Kaltbrunnenalp, zu seiner Linken die Reichenbachalp.
Vor langen Jahren hütete auf der Kaltbrunnenalp ein junger Hirte seine Kühe.
Er war von schöner Gestalt, blonde Locken umrahmten sein Gesicht, und träumerisch blickten die Augen. Singen und jauchzen wie die andern Sennen tat der Hirte nicht. Dafür vertrieb er sich seine einsamen Stunden damit, aus dem feinen Holz der Rottanne Schalmeien *) zu verfertigen, auf denen der seltsame Mensch lieblich zu spielen verstand.
Eines Tages nun, wie er an einer neuen Schalmei bastelte, siehe, da ward aus dem begonnenen Werk ein mächtig langes Nohr, das gegen das eine Ende hin sich mehr und mehr erweiterte. Und wie der Hirte setzt hineinblies, entquollen dem Rohre eigen dumpfe Töne, die sich in die Ferne fortpflanzten und dann von allen Flühen hallend wiederkehrten.
Das war das erste Alphorn.
Es liebte aber der Hirt ein Mägdlein, das drüben auf der Reichenbachalp seine Herde hütete. Er lehrte sie auf seiner neuen Schalmei ein paar Lieder, schenkte ihr das Horn und baute für sich ein neues.
Setzt begann zwischen den beiden ein eigenartiges Liebesspiel.
Frühmorgens, wenn die Firnen sich zu röten begannen, trieb der Hirte seine Kühe auf die Weide, setzte sich ins Gras oder lehnte feinen Rücken gegen einen Felsen und hub zu blasen an. Dann erschien auf der Alp gegenüber das Mägdlein und gab auf ihrem Horne Antwort, wie er es sie gelehrt hatte.
Sie bliesen bald eins nach dem andern, in anmutigem Wechsel; dann wieder vereinigten sich die Klänge zur zweistimmigen Weise. Sie neckten einander in heitrem Spiel und Gegenspiel; waren aber ihre Herzen bekümmert, erklangen die Töne schwer und lang und hallten auch wie klagend von den Wänden zurück.
So unterhielten sich die Liebenden manche Stunde, ihre Herzen verbanden sich noch inniger, und im Herbst, ehe sie zu Tale zogen, ein jegliches nach einer andern Talseite, gelobten sich die beiden, einander übers Jahr ganz anzugehören.
Der Frühling kam ins Land gezogen. Unter dem warmen Strahl der Sonne buben Gras und Blumen zu sprießen an. Da verließ der Hirte das Tal, stieg mit feinen Kühen auf die Alp und blies voll freudigen Erwartens den Lenzesgruß zur Weide der Liebsten hinüber.
Doch keine Antwort erfolgte, wie verlassen lag die Weide. Da blies er wieder und dann ein drittes Mal. Und immer lauter, immer stürmischer erklangen feine Töne.
Wie er nun gespannt hinüberhorchte, da war dem Hirten, als vernehme er eine Stimme, die sich mühsam einem Alphorn entringe, und deutlich unterschied jetzt der Lauschende die wehmütig gesprochnen Worte:
Im Frithof han myn Platz ich g'non, O möchtist bald doch zu mir chan! " |
Da ließ der Hirte, zu Tode betrübt, fein Horn auf den Nasen niedergleiten und wankte feiner Hütte zu.
Gegen Abend kam ein Senne des jenseitigen Tales auf die Weide gestiegen und bestätigte dem Unglücklichen, was ihm das Alphorn der Toten am Morgen geklagt.
Jetzt ergriff der Hirte in wildem Schmerze sein Horn und zerschmetterte es an einem Felsen. In jener Nacht aber verließ er seine Herde und stieg in die Berge hinauf. Niemand hat ihn wieder gesehen.
Noch lange Zeit nachher, wenn der Frühling über Berg und Tal wanderte und die frohen Sennen ihre Herden wieder auf die Weide getrieben, hörte man fast jeden Morgen auf den beiden Alpen die Töne zweier Hörner, die sich in lieblicher Zwiesprache Red und Antwort gaben. Später aber verstummten sie, und nur ab und zu, also berichtet die Sage, hätten die Leute von den Flühen her ein Weinen und Schluchzen vernommen.
Die Jungfrau
Ein
Engel stand vor Gottes Thron. Gott sprach zu ihm:
"Ich habe nun das Licht erschaffen, hab zwei der Lichter an des Himmels Fest gesetzet, ein großes, das den Tag regiert, ein kleines, das die Nacht regiert. Dazu die Sterne. Ich hab die Erd vom Meer geschieden und Samen auf die Erd gestreut, daß Gras und Kraut, auch Baum daraus erblühen mögen, ein jeglich Ding nach seiner Art. Setzt aber geh, steig nieder auf die Erde und sieh, ob alles wohl gedeihen tut.
Der Engel tat, wie ihm befohlen, schritt rüstig über Gottes junge Erde hin, sah hier der Saaten viel, dort duft'ge Blumen, erfreute sich am zarten Grün der Matten, flog über dicht belaubte Eichenwälder.
Und wieder stand vor Gottes Thron der Engel.
"Herr ", sprach er, "'s tut alles wohl gedeihn, und eine Lust war's, übers Land zu schreiten.
"'s ist gut ", sprach Gott. Nun hab ich hier und dort die Erd gefaltet, hab Berg und Tal geschaffen, auf daß das Land nicht eine Form nur haben möcht. Auf diese Höhn hab ich gesetzt die Quellen. Von ihnen soll'n die Wasser niederlaufen und fließen bis zum Meer. Setzt geh, steig auf die Erd und bring mir Kunde, ob auch dies Werk gelungen ist.
Der Engel tat, wie ihm befohlen, flog über Tal und Höhen hin und sah sich alles an. Dann stand vor Gottes Thron er wieder.
Herr", sprach er, es ist dir alles wohl gelungen, und staunen mußt ich über deine Wunderkraft. Eins aber hat vor allem mich erfreuet .
"Was ist es ? Sprich!
"Ich ging von mitternächtger Seite her den Fluß entlang. Da sah ich schon von ferne einen Bau sich türmen, strahlend Haupt an Haupt, in blendendweiß Gewand gehüllt. Ein Berg vor allen schien mir wundersam. Mich drängt, ihn näher zu beschaun, und wie ich
endlich hingelangt zu jener Stell, wo zwischen zweien Geen das Land sich ebnet, und hinaufblickt in das Tal, da wuchs mein Staunen zum Entzücken.Einsam lag er da, gebettet zwischen dunkle Waldgehänge, dir selber gleich gewaltig und erhaben an Gestalt. 's war um des Tages Mitte. Das große Licht, das du entzündet, strahlt feinen Glanz auf Schnee und Eis und schmückte Stirn und Brust des Bergs mit glitzerndem Geschmeide. edlem Gleichmaß, Licht und Schatten wohl verteilet, ruhten Leib und Glieder; hoch in den Himmel aber ragt sein Haupt, mit stolzer Würd die Welt um sich beherrschend, und blickte dennoch mild und freundlich auf mich nieder. Es war ein herrlich Bild zu schaun.
Und also stand ich lange, konnte kaum mich trennen. Dann aber flog ich weiter über Tal und Höhn, besah mir alles und bestaunt die Zeugen deiner Macht. Doch Schönres als jenen Berg vermocht mein Aug nicht zu entdecken.
Gen Abend endlich, als an des Himmels Nand dein großes Licht einem Flammenmeer versank, da trieb's mich nochmals hin zu jener Stell, wo um des Tages Mitte ich gewesen.
Und wie ich stand und schaut, da war es mir, als fang der Berg zu brennen an. Ein rötlich Schimmer legt sich mählich über Brust und Stirn, ward rot und röter, ward zur dunklen Glut, daß ich vermeint , sie werd am End den Berg verzehrn. Dem war nicht so. Denn mählich schwand die Glut wie sie gekommen, und weiß und schimmernd lag er da als wie zuvor. Doch hat dies Glühn des Bergs mich wundersam ergriffen und zittert jetzt noch nach in meiner Seel. Wie groß, o Herr, sind deine Werke!
Gott aber sprach:
"'s ist gut. gehe nun, den Menschen zu erschaffen. 's wird ein Geschlecht ans andre sich reihn, manch Volk erstehn, manch Volk vergehn. Der Berg jedoch, von dem du hast gesprochen, er wird bestehen bis ans End der Welt. Den hab ich hingesetzet als ein Fels, an dem
die Menschen solln erkennen, daß einzig Ich, der Herr, und nicht ein fremder Gott ein solches Werk zu tun vermag.Er sprach's, ging hin und schuf das Tier und dann nach feinem Bild den Menschen.
Das Grab am Sausbach
Ein eigen schöner Pfad führt von Lauterbrunnen hinauf nach dem Bergdörfchen Isenfluh.
Hat der Wandrer, gemächlich hinansteigend, die größre Hälfte des Weges zurückgelegt, so hört er aus der Ferne her ein dumpfes Rauschen . Das Rauschen wird mit jedem Schritte stärker, und endlich steht er auf einer Brücke und schaut hinab in die Wasser des Sausbaches, die sich über Fels und Stein lustig zu Tale stürzen, stolz über ihre kühne Fahrt von Bergeshöhe hernieder. Weiter unten aber, dort wo ein paar mächtige Blöcke den Wasserlauf in mehrere Arme teilen, klingt sein Lied nicht mehr so heiter, und an das Ohr des Wandrers dringen von jener Stelle her seltsam klagende Töne, die in ihm eine alte Sage wachrufen mögen.
Es ist lange her, da weideten auf den Alpen zu beiden Seiten des Sausbaches zwei junge Menschenkinder ihre Kühe und Schafe: auf der Alp zur Rechten ein schöner Hirtenknabe von Mürren, auf der zur Linken ein lieblich Mägdlein von Isenfluh. Es war im Mal, der Himmel voll Glanz, die Alpweiden im Schmucke des jungen Grüns: da trafen sich die beiden am Bache, und in ihren Herzen ging die Liebe auf. Und am Bache, da wo sie sich begegnet, wo sie sich zum erstenmal geküßt und einander Treue versprochen, da kamen sie von nun an manches liebe Mal wieder zusammen. Sie hörten ihn brausen und donnern, sie schauten hinab sein felsig Bett und wurden nicht müde, bald hier, bald dort dem wechselvollen Spiel des Wassers zu folgen. Eine geheimnisvolle Macht zog sie immer wieder zu ihm hin, und wenn ihre Herzen auch jubelten im ersten Glück der jungen Liebe, so schauerten sie bisweilen doch leise zusammen im Vorgefühl von etwas Schrecklichem, das ihnen gerade hier am Bache zustoßen könnte.
Und das Schreckliche geschah.
In einer Nacht war ein furchtbares Gewitter über die Berge niedergegangen , und als sich die beiden Liebenden am folgenden Tage trafen, brauste der Bach solchermaßen daher, daß der Hirtenbub es
nicht wagte, ihn zu überschreiten. Also standen sich denn die zwei einander gegenüber, zwischen ihnen das reißende Wasser, hätten sich gerne gehalst und geküßt und konnten doch nicht zusammenkommen. Sich redend unterhalten ging nicht an, das brüllende Wasser übertönte fast jedes Wort. Und gleich wieder voneinander Abschied nehmen, das konnten sie auch nicht übers Herz bringen. Was sollten sie tun ?Da riß der Bub zur Kurzweil ein Rasenstückchen aus dem Boden und warf es zum Mägdlein hinüber. Diesem schien der Einfall willkommen, denn gleich darauf flog als Antwort ein Bällchen Erde dem Liebsten zu. So hub denn ein lustiges Spiel an, wobei es nach Kinderart immer eifriger zuging. Erdfchöllchen flogen hinüber, herüber. Der Bub lachte, traf oder streifte ab und zu das Mägdlein; dieses schrie auf vor Entzücken, renkte sich fast die Arme aus und traf doch nichts.
Jählings aber verstummten die Freudenrufe, das Spiel brach ab. Dort drüben fuhr sich das Mägdlein plötzlich mit der Hand nach der Schläfe, es erbleichte, schwankte einen Augenblick hin und her und schlug auf den Boden.
Mit einem Satz war der Bub im Wasser, kämpfte sich durch die schäumende Flut ans andre Ufer und beugte sich über die Geliebte.
"Um Gottes willen! Was hast denn, sag ?"
Das Mägdlein aber lag still und blaß wie ein Linnen. Ihre Augen waren geschlossen, aus einer kleinen Wunde an der Schläfe sickerte das rote Blut in den grün bemoosten Waldboden: eine Scholle, in der wohl ein spitzer Stein verborgen gewesen, hatte sie getroffen und das junge Leben mit einem Schlage vernichtet.
Sie war tot. Der Jungknab aber konnt es nicht fassen, wollt es nimmermehr glauben. Wie von Sinnen schlang er seine Arme um ihren Hals, rief ihren Namen, küßte und küßte immer wieder den toten Mund und barg schluchzend sein Gesicht an ihrer Brust.
Gegen Abend fand man die beiden. Der Bub hatte setzt das tote Liebchen auf seine Knie gebettet und weinte still vor sich hin.
Das Mägdlein wurde begraben, wo es hingefallen. Der Hirtenbub aber ward von Stund an seines Lebens nimmer froh. Er zog sich scheu vor den Menschen zurück und erbaute ein Hüttlein am Bache, dicht neben dem Grabe seiner Liebsten. Hier verbrachte er noch ein paar Jahre in heißem Gebet, übergab seine Seele Gott und verschied.
Die weiße Gemse
Im Frutigtal lebte vor langen Jahren ein Gemsjäger, der Nieggi genannt. Dem ging die Jagd über alles. Tage- und wochenlang streifte er im Gebirg umher, und selbst am Sonntag frönte er seiner Lust. Kein Berg war ihm zu hoch, kein Grat zu steil. Mochte das Wetter noch so stürmisch sein, mochten Nacht und Nebel ihn inmitten himmelhoher Felswände überraschen, er trotzte allen Gefahren, und wo der Mann je eine Gemse wußte, da ruhte er nicht, bis sie erlegt war. Dabei schonte er auch nicht die Gemsgeiß, also daß ihre Jungen elend verhungern mußten. Eindringlich dat ihn seine Mutter, es doch nicht so arg zu treiben; die Leute warnten. Umsonst. Nieggi schlug ihre Ratschläge in den Wind und jagte wie und wann er wollte.
Schon hatte er neunundneunzig Gemsen erlegt.
"Gib jetzt acht", sagte ein alter Freund zu ihm. Die hundertste, die dir begegnet, wird ein weißes Tier sein, und wehe, wenn du es töten solltest.
"Und mag sie zehnmal weiß sein ", lachte der Sager, "so werd ich doch nicht rasten, bis auch diese zur Strecke gebracht ist.
Nicht lange danach ging der Nieggi auf die Jagd. Sein Weg führte ihn diesmal hinauf ins Gsür — dem mächtigen Gebirgsstock zwischen St. Stephan und Adelboden, der zu jener Zeit als geheiligter Zufluchtsort der Tiere galt, wo diese nicht verfolgt werden durften. Dem Rieggi aber war kein Berg heilig.
Wie nun der Jäger hoch in den Felsen ein bißchen ausruhte, gewahrte er plötzlich einen gewaltigen Gemsbock, der auf einem Fluhband friedlich äste. Doch war der Bock nicht braun wie ein gewöhnlich Tier, er war schneeweiß, also wie es ihm sein alter Freund geweissagt hatte.
Einen Augenblick stutte der Mann. Dann aber sprang er auf, schlich auf Seitenpfaden an das Fluhband heran, duckte sich nieder und feuerte. Wie ein Donnerschlag hallte der Schuß durch die Berge. Als sich aber der Rauch verzogen, da sah er, wie das Tier in ungeftümen
Sätzen davonsprang, den weiß glänzenden Kopf mit dem starken Gehörn hoch in der Luft.Betroffen blickte ihm der Sager nach.
"Wie sonderbar ", murmelte er. "Ich hatte ihn doch scharf aufs Korn gefaßt und hätte meinen Kopf geweitet, er würde fallen. Was tuis! Noch ist nichts verloren, und ein zweites Mal werde ich ihn sicher nicht verfehlen.
Er hing sein Gewehr um und folgte hastig den Spuren des flüchtigen Wildes, die ihn höher und höher führten — hoch über die Alpenrosen, wo auf Fluhbändern nur mehr das Edelweiß sein einsam Dasein fristet. Ab und zu kam ihm das Grattier wieder zu Gesicht, doch immer nur für Augenblicke. ES sauste etwa über eine Felsenkante, in zwanzig Fuß langen Sätzen, kaum daß die Läufer den Boden berührten, den weißen Kopf in unbändigem Stolz in die Höhe geworfen. Dann riß der Jäger seine Waffe an die Wange. Zum Schusse aber kam er nicht, denn windschnell war das herrliche Tier verschwunden.
Und immer wilder ward die Gegend, zerrissener das Gestein. Den Nieggi aber schreckte das nicht. Rastlos ragelte *) er weiter den Felsbändern entlang, die Steilhänge hinan, wie besessen vom bösen Geist, der ihm zuflüsterte, der seltene Vock müsse ihm werden um jeden Preis.
Er sollte es nicht. Denn auf einmal — was war das ? Der Rieggi konnte nicht mehr weiter, nicht einen Schritt. Das Felsband, dem er entlang geklettert, brach jählings vor ihm ab. Da versuchte er, den Weg zurückzugehen. Unmöglich, kaum daß es ihm gelang, auf dem fußbreiten Gesimse sich ein wenig zu drehen und seinen Rücken an die Wand zu stemmen. Unter seinen Füssen schoß die Wand senkrecht nieder , und in der Tiefe dämmerten die grünen Gletscher.
Dem Sager graute. Eine Weile noch mühte er sich ab, einen neuen Griff, einen neuen Halt zu erlangen, um sich seiner Lage zu
Mählich erlahmten seine Kräfte. Seine Hände, mit denen er sich bisher links und rechts an den Felsen geklammert, fielen ab, seine Beine zitterten. Und plötzlich war ihm, als fingen die Bergspitzen
ringsherum zu laufen an, schnell und immer schneller, und er hörte über sich die Stimme des Berggeistes:"Warum verfolgtest du meine Gemsen, die mich mit Milch und Käse versorgen ? Nimm setzt den Hut vor deinen Kopf, Nieggi, auf daß du nicht siehst, wie tief du fallen wirst!
Da ward ihm dunkel vor den Augen. Er breitete seine Arme aus und fiel lautlos in die Tiefe.
Die ungangbare Stelle aber, wohin sich der verwegene Gemsjäger einst verstiegen, nennen die Bergleute noch heute den Rieggis Pfad.
Der schwarze Mann
Auf einer Alp im Haslital war es vor Zeiten nicht ganz geheuer . So oft ein Senn es unternahm, hinaufzusteigen und dort sein Vieh zu weiden, verlor er, man wußte nicht wie, ein paar seiner schönen Kühe. Also kam es, daß die Hirten ihre Herden lieber auf eine andre Weide trieben, wo sie sich sicher fühlten. Die verrufne Alp blieb aber gleichwohl nicht ganz verlassen. Man sehe auch jetzt noch, so sagten die Leute, aus dem Hüttendach den blauen Rauch aufsteigen und höre die Herdenglocken erklingen; doch sei nicht ein einzig Tier zu erblicken. Ab und zu nur weide eine Kuh im saftigen Grase. Dann vernehme man eine Stimme: "Wer mich in einer Stunde fertigmelkt und eine Nacht in der Hütte verbringt, wird die Alp erlösen.
Manch wackrer Bursche ging hinauf, das Wagestück zu versuchen, kehrte aber nicht wieder zurück. Da kam eines Tages ein junger Melker aus dem Entlebuch ins Tal. Als der hörte, was die Leute sich erzählten, erklärte er gleich, auf die Alp zu steigen und sie zu erlösen. Man wehrte ihm ab. Umsonst. Der kühne Sennbursch bestand auf feinem Vorsatz, und an einem Morgen, zur Zeit der Alpauffahrt, machte er sich auf den Weg.
Als er die Alp betrat, ward ihm doch ein bißchen seltsam zumute. Kein Lüftchen wehte von den Felsen, die starr wie Totengesichter auf ihn niederblickten. Wie erstorben schienen auch Gras und Blumen unter seinen Füßen, und leiser als anderswo murmelten hier die Wässerlein.
Vor der Sennhütte angelangt, rief er mit lauter Stimme, ob denn niemand da sei. Tonlos verhallte die Stimme, und still blieb es wie zuvor. Jetzt graute dem jungen Melker, daß er nahe daran war, zu entfliehen. Er ermannte sich aber und pochte an die Tür.
Die Türe sprang auf wie von selber, und der Senn trat in die Hütte. Ueber dem Herde hing ein mächtiger Käskessel, darunter flackerte ein Feuer. Doch hörte man weder das Holz knistern noch
einen andern Laut. Da erblickte er eine Seitentür. Er öffnete sie und betrat einen Stall, in dem eine Kuh mit vollem Euter stand. Das mußte wohl die Kuh sein, die er zu melken hatte, wenn du Alp erlöst werden sollte, dachte der Senn, setzte sich hin auf das Melkerstühlchen und begann seine Arbeit.Einen Eimer um den andern entzog er dem Euter. Schon hatte der Tapfere fein Werk beinahe vollendet, da hörte er auf einmal schwere Tritte, du sich der Hütte näherten. Im nächsten Augenblick ward die Türe aufgerissen und herein trampte eine fürchterliche Gestalt, schwarz und rußig und mit einem ungeheuerlichen Kopfe, der von einem wilden Wald von Haupt- und Barthaaren umrahmt war.
Der Ungeheuerliche trat auf den Sennen zu und faßte ihn an der Schulter.
"Was tust du hier ?" schnaubte er.
Der Senn fuhr ruhig mit Melken fort und sagte kein Wort.
"Antworte ", brüllte der Niese, oder es wird dir ergehen, wie es den andern ergangen.
Der Melker schwieg auch jetzt.
Nun versuchte ihn der Schwarze auf mancherlei Art in seiner Arbeit zu stören. Der Senn aber achtete seiner nicht, und als die Stunde herum war, hatte er auch seine Arbeit beendigt.
Er stand auf, öffnete eine andre Tür und trat in die Alpstube. Auf einem Tische stand alles sauber zum Essen hergerichtet. Er setzte sich hin und begann zu essen. Der andre setzte sich neben ihn und tat wie er. Nach dem Essen legte sich der Senn zu Bette. Gleich legte sich der Schwarze neben ihn, und der Senn fühlte, wie seine Glieder eiskalt waren.
Um Mitternacht erhob sich der Riese, holte aus der Küche Licht und Schaufel herbei und befahl dem Sennen, ihm in den Keller zu folgen.
Der Melker aber tat, als hätte er's nicht gehört und blieb ruhig liegen.
Jetzt bat ihn der Niese ein zweites, dann ein drittes Mal, und seine Stimme klang immer ängstlicher, flehender.
Da stand der Melker endlich auf und folgte dem unheimlichen Mann hinunter in den Keller. Hier begann der Niese zu hacken und zu schaufeln, bis endlich ein großer Kessel zum Vorschein kam, der mit Gold- und Silberstücken angefüllt war. Sie hoben den Kessel zusammen aus dem Loch, worauf der Schwarze den Schatz in drei Haufen teilte.
"Du hast dich wacker gehalten ", sagte er mit fast menschlich klingender
Stimme, "und die Alp ist nun erlöst. Zum Dank dafür magst du diesen Haufen für dich behalten, den mittleren gibst denen, die hier ihre schönen Kühe verloren haben, den dritten aber den Angehörigen der jungen Sennen, die bei ihrem Wagestück ihr Leben gelassen.Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein Donnerschlag erfolgte, daß die Wände wankten und dem Melker zumute war, es breche die Hütte über seinem Kopfe zusammen. Wie aber der letzte Widerhall in den Bergen verklungen und er sich umschaute, stand neben ihm nicht mehr der ungeschlachte Riefe, da stand neben ihm ein schöner junger Senn mit feinem, doch blassem Gesicht, der ihm dankbar zulächelte, dann sich umwandte und langsam zur Türe hinaustrat .
Einen Augenblick später verließ auch der Melker die Hütte. Wie umgewandelt war setzt die Alp, über die er mit erleichtertem Herzen hinabschritt. Ringsherum weideten ein paar Kühe das saftige Gras, und ihre Glocken himmelten und bammelten, daß es eine Lust war. Auch blies ihm ein frisches Lüftchen um die Ohren, das Bächlein an seiner Seite lief wieder eilig plaudernd über Sand und Stein, und aus der Ferne erklangen die freudigen Töne eines Alphorns. Die tote Alp, auf der so viele Jahre ein Fluch gelastet hatte, war durch eines Sennen Mut und Klugheit zu neuem Leben erstanden und wieder ein Segen für den, der dort sein Vieh weidete.
Das Hardermannli
Vom Städtchen Unterseen weg bis wett hinaus über Ringgenberg zieht sich ein mächtiger Gebirgsstock den blauen Fluten des Brienzersees entlang. Es ist der Harder. Er ist über und über mit Wald bedeckt. Einzig auf der gegen Interlaken zugekehrten Seite befindet sich eine kahle Felswand, die aus dem schwarzen Nahmen der Tannen und Arven wie eine Gedenktafel hervortritt.
Auf dieser Tafel nun entdeckt der Beobachter, wenn er genau hinsieht, ein aus Vorsprüngen geformtes Menschengesicht, das se nach dem Standort, den er wählt, einen verschiedenartigen Ausdruck annimmt. Von unterseen aus betrachtet, erscheint das Antlitz finster und traurig; vom Kloster Interlaken aus gesehen, schaut es dagegen mit höhnischem Lächeln nieder auf den frühern Wohnsitz der Mönche.
Dieses Menschengesicht heißt das Hardermannli. Wie es entstanden, erzählt uns die folgende Sage.
Seit alten Zeiten war das Kloster Interlaken eine Stätte des Segens für die ganze Umgegend. Ein feder, der Nat oder Trost suchte, ging hin zu den guten Mönchen und war sicher, bei ihnen zu finden, was er bedurfte.
Das änderte sich, als einst dem Kloster aus Rom ein neuer Vorsteher gesandt ward. Er hieß Leonhardus, wurde aber von den Leuten kurzweg der Harder genannt. Der sah nun nicht gerade wie ein Mönch aus. Er war derb und breitschultrig gewachsen und von gewaltiger Körperkraft. Auf dem dicken Halse saß ein Raubvogelkopf mit zwei grauen Augen, die aus tiefen Höhlen lauernd hervorblickten, mit langer Hakennase und schwülstigen Lippen, um die ab und zu ein böses Lächeln zuckte. Und wie das Aeußere eines Menschen nur das Spiegelbild seines Innern ist, also konnte auch das Denken und Sinnen dieses Mannes nicht von rechter Art sein.
Seitdem der Harder seine Stelle im Kloster angetreten, durfte den Armen kein Almosen mehr verabreicht werden und kein Mönch das Haus verlassen, den Kranken Hilfe zu bringen. Mit Strenge
wurden die Zinse eingefordert, und der geizige Mann sann nur darauf, den Leuten immer neue Abgaben aufzubürden. Um so mehr wurde jetzt im Kloster gebetet und gesungen, und morgens und abends donnerte der geistliche Herr seine Strafpredigten in die Ohren der erschrockenen Gottesleute.Indessen raunte man sich bald allerhand Geschichten zu. Der hohe Herr, hieß es, verstehe es sehr wohl, den Leuten ihre Sünden vorzuhalten er selber aber führe nichts weniger als ein frommes Leben und tue im geheimen Dinge, die er vor Gott und den Menschen niemals verantworten könne. Und dem war auch wirklich also. Wer aber hätte es gewagt, dem Gewaltigen seine Fehler zu rügen ?
Nun wohnte zu jener Zeit in Ringgenberg ein Fischer mit seiner Frau und einem Töchterlein von achtzehn Jahren. Das war ein liebliches Menschenkind, schön wie eine Blume im Mai und voll frohen Sinns, und war also der Stolz von Vater und Mutter.
Ach, ihr Glück sollte nur von kurzer Dauer sein!
Wie die andern Mägdlein des Dorfes, also besuchte auch das Fischerliseli, wie es genannt ward, ab und zu die Messe Kloster zu Interlaken. Und wenn der Harder anfänglich auch ihr gegenüber sein strenges Gesicht zur Schau trug, so wurde er nach und nach freundlicher, erkundigte sich liebevoll nach dem Befinden von Vater und Mutter, erzählte ihr vom schönen Italien, von Roms Kirchen und Palästen, vom ewig blauen Himmel des Südens, von Blumen und goldnen Früchten. Mit jeder Woche mehr schmeichelte er sich in das Herz des schönen Mägdleins ein, das ihm am Ende völlig vertraute und ihn wie einen zweiten Vater verehrte.
Das änderte sich aber, als der geistliche Herr von Dingen zu sprechen anhub, die den reinen Sinn des Kindes verletzten. Das Vertrauen schwand, sie besuchte die Messe seltener und ging zuletzt gar nicht mehr hin. Sie verlor auch über all dem ihr fröhlich Wesen, ward still und verschlossen, und die guten Eltern zerbrachen sich umsonst den Kopf, wie denn das gekommen.
Als der Harder merkte, wie das Mägdlein seinen Händen entglitt,
Einen Augenblick blieb der Verfolger stehen, mit höhnischem Lächeln den Hang hinabschauend. Da löste sich plötzlich aus der Wand ein Hagel von Steinen und Blöcken und fuhr donnernd nieder. Und als sich der Staub verzogen, da war der Mann selber wie vom Erdboden gefegt, sein höhnisches Gesicht aber mit seiner Habichtnase in Stein verwandelt und verflucht, von nun an Jahrhunderte und Jahrtausende auf die Stelle seiner Verbrechen niederzuschauen.
Von der Zeit an nannten die Leute den Höhenzug den Harder und das steinerne Wandbild das Hardermannli.
In dem Gebirgsstock aber waltet der finstre Geist des Mönches weiter bis auf den heutigen Tag. Fast jedes Jahr geschieht es, daß sich dort oben irgendein Unfall ereignet, oder daß ein blühendes Menschenkind , das am Morgen noch voll Lebensfreude die waldigen Hänge hinanstieg, am Abend als Leiche zu Tal getragen wird.
Die Zwerglein im Haslital
Die Zwerglein, auch Bergmännchen genannt, waren kleine Wesen, nicht größer als sieben- oder achtjährige Büblein, und meist mit Spitzenkappe und braunem Mäntelchen angetan. Sie wohnten in Wäldern und Klüften oder auf Felsenspitzen, gruben in der Erde nach Gold und Silber oder hüteten auf den Alpweiden die Gemsen, so wie die Hirten ihre Ziegen hüten. Sie waren von frommer Art, treuherzig und wohlmeinend, liebten das Gute, mieden das Böse und sahen es gerne, wenn auch die Menschen also taten.
Von den Menschen, freilich, hielten sich die kleinen Leutchen meistens fern und lebten lieber still für sich in den Bergen droben. An Orten aber, wo es ihnen besonders gut gefiel, ließen sie sich auch näher zu ihnen heran, und manch eine Sage erzählt uns, in welcher Weise das geschah und wieviel Gutes sie dabei gewirkt haben.
Ein Ort, wo sich die Bergmännchen lange Zeit sehr gern aufhielten , war das Haslital.
Hier stiegen sie oft, besonders zur Zeit der Ernte, von den Flühen hernieder, lagerten sich auf einem Stein oder kletterten auf die Bäume, von wo aus die Leutchen, nach Art der Bögel im Schatten des Laubes sitzend, den Arbeiten im Felde zuschauten. Legte sich nun ein Schnitter, im heißen Sonnenschein müde geworden, zu einem Schläfchen hin, flugs eilten sie herbei, mähten den Acker zu Ende, banden das Korn in Garben und legten obendrein noch Speise und Trank auf den Nasen.
ein Zwerglein zur Stelle und führte sie ihm wieder zu. Und an den langen Winterabenden halfen sie wohl auch den fleißigen Frauen beim Spinnen des Flachses. War die Arbeit schäkernd beendigt, dann nahmen die Männchen einen Knäuel Hanf zwischen die Beine und ritten auf ihm zum Ergötzen der Frauen durch das Fenster in die Nacht hinaus.
Wohnte da in einem Dörfchen ein Fadenbeißer. Der hatte so viele Kinder, wie es Steinchen auf der Straße gab, so daß seine Frau am Ende nicht mehr wußte, womit sie all die hungrigen Schnäbelchen füttern solle.
Wie er nun eines Abends Tuch zugeschnitten, um daraus ein Kleid zu arbeiten, lag der Anzug am folgenden Morgen fertig auf dem Tisch, genäht, gebürstet und gebügelt. Der Schneider nahm die Arbeit in die Hand, und als er sah, wie alles so sauber und feder Stich wie von Meisterhand gestochen, da lachte ihm das Herz vor Freude, fragte sich aber vergeblich, wer es denn geschaffen.
Eine geraume Zeit ging das so fort. Alles, was am Abend zurechtgelegt war, lag am Morgen verarbeitet auf dem Tisch, also daß der Mann sein ehrlich Auskommen fand und die hungrigen Mäulchen sich wieder satt essen konnten.
Am Ende aber hätte der Schneider gern gewußt, wie das eigentlich zugehe. Er verbarg sich eines Abends, statt zu Bette zu gehen, in der Stubenecke, hinter den Kleidern, die da aufgehängt waren, und gab acht.
Und siehe da! Um Mitternacht kamen ein paar Männchen hereingeschlichen, setzten sich auf den Tisch und buben an, mit flinken Stichen zu nähen, zu putzen und zu plätten, legten zusammen und ließen nicht nach, bis alles zu Ende gebracht und fertig auf dem Tische lag. Dann sprangen sie schnell wieder fort.
Der Schneider, als er das sah, war hoch erfreut und sann dar
auf, sich den kleinen Helfern dankbar zu erweisen. Er hatte bemerkt, wie sie alle recht ärmlich angezogen und verfertigte also ein paar winzige Kleidchen, die, wie er dachte, für sie passen würden, legte die Geschenklein statt der zugeschnittenen Arbeit auf den Tisch undUm Mitternacht kamen sie auch wieder herangesprungen und wollten sich gleich an die Arbeit machen. Wie die Zwerglein aber statt des Tuches die niedlichen Kleidchen fanden, verwunderten sie sich erst und bezeigten dann eine gewaltige Freude. Sie zogen sich an, beguckten sich von oben bis unten, strichen die Falten des Kleidchens zurecht und tänzelten vor Vergnügen in der Stube umher. Endlich verschwanden sie, kamen jedoch von da an nicht wieder, weil die kleinen Leutchen es nicht leiden konnten, daß man sie in ihrem Tun belausche.
Dem Schneider aber ging es gut, solang er lebte.
Lebte da in Guttannen ein Gemsjäger. Der hatte schon so viele Gemsen geschossen, daß die Leute ihre Zahl im Wirtshaus mit einem
glühenden Eisen einbrannten. Dem stellte sich einmal, als er wieder auf der Jagd war, ein Erdmännchen in den Weg."Lege setzt dein Gewehr auf die Seite! " rief es ihn an. "Die Tiere leben so gern wie du, und es ist ein Unrecht, sie zu töten. Laß sie von nun an in Ruhe, und ich verspreche dir, daß du deswegen nicht darben sollst.
Der Jäger versprach es und kehrte heim. Von da an fand er jeden Sonntagmorgen auf der Schwelle seiner Hütte einige Gemskäsletn, Brot, Aepfel und alles, was er zum Leben bedurfte.
Ein paar Monate dauerte das so fort, und der Mann dachte kaum mehr an sein früher Handwerk. Eines Tages aber erwachte in ihm die alte Mordlust. Er griff nach seiner Waffe und ging aufs neue die gefährliche Bahn.
Kein Mensch hat ihn se wieder gesehn.
Mitten im Winter stieg einst ein junger Mann aus Guttannen in die Berge, um Holz zu rüsten.
Wie er nun den verschneiten Wald hinanschritt, schlug plötzlich ein klägliches Geschrei an sein Ohr, gleich dem Geschrei eines kleinen Kindes, das sich nicht mehr zu helfen weiß, und ihm folgte kurz darauf ein Wimmern. Rasch entschlossen eilte der Mann hinter den Felsen , von woher das Geschrei zu kommen schien, und gewahrte hier zwischen den Tannen einen greulichen Stollenwurm ), der seinen schwarzen Leib um irgend etwas geringelt hatte, es zu erwürgen.
Wie der Wurm den Holzer erblickte, rollte er sich blitzschnell auseinander , bäumte sich auf und erwartete zischend und mit gespreiztem
Erst jetzt sah der Holzer, daß das Opfer des Stollenwurms ein Zwerglein gewesen, mit weißem Bart und mit einem roten Mäntelchen angetan. Da hob er das bewußtlose Männchen vom Boden auf, setzte es auf seine Knie, rieb seine Schläfen und träufelte ihm ein paar Tropfen belebenden Enzianwassers ein.
Endlich kam das Männchen wieder zu sich, öffnete die Augen und schaute seinen Retter dankbar an.
"Kennst du mich nicht " fragte es nach einem Weilchen.
"Wirst halt ein Zwerglein sein ", machte der Holzer.
Freilich bin ich das ", fuhr der Kleine fort. "Aber. . .
Da griff es plötzlich an sein Köpfchen, sprang auf seine Füße und überflog mit den Augen den zerstampften Boden. Im nächsten Augenblick setzte sich das Zwerglein ein goldenes Krönchen aufs Haupt und wandte sich wieder dem Manne zu.
Setzt weißt, wer ich bin ", sprach es lächelnd. "Nun, Zwerge sind dankbare Geschöpfe, und ihrem Könige geziemt es erst recht, sich dankbar zu erweisen.
Mit diesen Worten griff der kleine König in die Tasche und entnahm ihr eine Handvoll Steinchen.
"Hier ", fuhr er fort, sind ein paar Steinchen. Bewahre sie wohl, sie werden dir gute Dienste leisten. Eins davon wirfst ins Wasser an deinem Hochzeitstage, ehe du mit deiner Braut in die Kirche gehst, und später immer wieder eins, wenn du und die Deinen in Not sein sollten. Doch nur dann. Für andre Dinge würdest du dich umsonst bemühen.
Sprach's, wandte sich um und verschwand zwischen den Tannen.
Der junge Holzer verwahrte die Steinchen wohl, und an seinem Hochzeitstage vergab er nicht, vor dem Gang zur Kirche eins davon in die Aare zu werfen.
Als sich am Mittag die Gäste um den Tisch gesetzt und der Bräutigam den Deckel der Schüssel abhub, die Suppe auszuteilen, siehe, da war die Schüssel statt mit Suppe mit Goldstücken angefüllt.
Da kamen einst böse Buben auf den Gedanken, den Baumast, auf dem sie mittags zu ruhen pflegten, bis auf eine dünne Stelle durchzusägen. Als sich nun die guten Leutchen zur gewohnten Stunde arglos auf dem Aste niederließen, brach er entzwei, und die ganze Schar purzelte auf den Boden.
Da riefen sie zornig aus:
"Wie ist der Himmel so hoch Und die Untreu so groß! Heut noch kamen wir her, Nun kommen wir nimmermehr. |
Sie hielten Wort. Sie zogen sich ins Innere der Berge zurück, und im ganzen Haslital hat man seitdem nicht ein einzig Zwerglein wiedergesehen.
Bären
Bis ums Jahre 1800 gab es den Bergen unsrer Heimat noch Bären und Wölfe, und Namen wie Bärenfalle, Bärenweg, Bärenfluh , Wolfbach und Wolfsgrube erinnern noch deutlich an die Orte, wo diese Tiere etwa aufgetreten sind.
Junge Bärchen sind gar drollige Wesen. Gleich Hündchen spielen sie miteinander, oder balgen sich herum, und es ist ein groß Ergötzen, ihnen am Bärengraben in Bern zuzuschauen. Auch später bleibt der Bär ein ziemlich harmloses Tier und greift keinen Menschen an, wenn er nicht etwa vom Hunger gequält, gereizt oder verwundet wird — erzählt man sich doch, ein Bär habe einst einem kleinen Mägdlein, das im Walde Erdbeeren suchte, die Früchte aus dem Körbchen gefressen , ohne dem Kind etwas zuleide zu tun. Unter den Raubtieren ist Meister Petz der ehrliche Kerl, ohne Falsch und Tücke. Nicht schlau wie der Fuchs, nicht also schnell wie der Adler geht er, nur auf seine Kraft vertrauend, geradewegs auf den Feind zu, umfaßt den Mann mit seinen gewaltigen Pranken und kämpft mit ihm auf Leben und Tod. Kaum daß er hiebei von seinem furchtbaren Gebisse Gebrauch macht. Fressen tut der braune Geselle, neben Fleisch, mit Vorliebe Gras und Wurzeln, Erdbeeren und Honig, ist aber besonders auf Birnen und Trauben erpicht, also daß er im Herbst viele Stunden weit in die Täler hinabstieg, solche zu erhaschen.
In frühern Jahrhundenen, als der Bär noch in unsern Bergen hauste, war er besonders den Herden gefährlich, und die Menschen wandten oft gar seltsame Mittel an, ihn unschädlich zu machen.
Die Tiere wohnten in Schluchten und Höhlen hoch in den Felsen droben. Tagsüber ließen sie sich nur selten blicken. Wenn es aber zu dunkeln begann, stieg Herr Petz auf die Alpweiden hinab, riß hier ein Kalb nieder, dort gar eine Kuh, und fraß sie auf. Der Senne, wenig erfreut über ein solch Benehmen, suchte erst den Weg ausfindig zu machen, über den der Räuber gewöhnlich herniederstieg. Belegte sodann die schmalen Stellen dieses Weges mit saftiger Tannenrinde,
deren glatte Seite er nach oben kehrte, und bestreute zudem die Rinde mit Tannennadeln, um den Bösewicht zu täuschen. Betrat dieser nun eine solche Falle, glitt er fast unfehlbar aus und purzelte über die Felswand zu Tode.Auch Sage und Geschichte wissen einiges vom Bären zu berichten.
Ein Mann aus Frutigen, Peter Zahler, hütete im Kiental droben seine Herde.
Eines Tages fingen die Kühe heftig zu brüllen an, und in der Nacht rasselten sie im Stalle so laut mit den Ketten, daß der Senn irgendein Raubtier in der Nähe vermutete. Da die Unruhe auch in den folgenden Tagen nicht von der Herde weichen wollte, bewaffnete er sich kurzerhand mit einem Spieß und machte sich auf, dem Störenfried nachzustellen.
Wie nun der Mann den gewundenen Pfad hinanstieg, der vom Talgrund auf die Gornerenalp führt, siehe, da kam ein mächtiger Bär den Weg herab und auch gleich auf ihn zu. Der Senne stemmte sich mit dem Rücken im Augenblick gegen eine Tanne, um sich einen festen Standort zu sichern, und stieß dem wütend heranstürmenden Ungeheuer den Speer in den Nachen. Wie er setzt aber des Speeres Schaft gegen seine Brust stützte, um vom Gewichte des verendenden Tieres nicht überworfen zu werden, da fuhr ihm der Schaft mitten durch den Leib, und Mensch und Tier sanken tot zu Boden.
An der Stelle, wo die Tat geschah, wurde später auf eine Felsplatte eine Inschrift nebst der Jahreszahl gesetzt, die sich bis heute erhalten hat. Den Pfad selber nannten die Leute von da an den Bärenpfad.
Glücklicher verlief ein Abenteuer, das sich nach der Sage auf dem nämlichen Wege abspielte.
Eines Tages stieg ein Senn von der Gornerenalp zu Tal.
Da sah er sich plötzlich einem großen Bären gegenüber, der gemächlich den gleichen Weg heraufgetrottet kam. Der Pfad war schmal, auf der Seite gähnte der Abgrund, ein Ausweichen gab es nicht. Auch stellte sich Meister Petz, als er den Mann erblickte, gleich auf
seine Hinterpranken und kam aufrecht und brüllend mit aufgerissnem Nachen auf ihn zu.Der Senn, ein baumstarker Mann, besann sich nicht lange. Er umfaßte mit seinen Armen das Ungeheuer, als gelte es einen Wettkampf, und rang mit ihm auf Leben und Tod. Indessen merkte der Mann bald, da ihm jede Waffe fehlte, daß er am Ende den kürzern ziehen müsse, und weil ihm lieber war, plötzlich zu sterben, als langsam aufgefressen zu werden, drängte er mählich gegen den Abgrund hin, bis Mensch und Tier, eng umschlungen, die Tiefe stürzten. Der Bär, als der schwerere der beiden, schlug zuerst auf den Boden und war auf der Stelle tot. Der Senn aber kam auf ihn zu liegen, blieb am Leben und kam mit dem Schrecken davon.
Eine andre Sage endlich erzählt uns von einem Kampfe zwischen Bär und Stier.
Hoch über dem Brienzersee, dort wo der Gießbach schon recht lustig einherspringt, liegt die Aias. Sie ist im Westen von wilden Felsen umschlossen, und diese Felsen dienten in frühern Zeiten den Bären als Schlupfwinkel. Von hier aus brachen sie nieder auf die ruhig weidenden Herden, bevorzugten indessen jene Stunden, wo das Wetter schlecht und die Kühe unter den mächtigen Schirmtannen Schutz suchen mußten.
Es war an einem solchen Regentage, als ein Bär von seinem Versteck herabstieg, sich seine Beute zu suchen.
Da traf es sich, daß ein großer Stier, der bei der Herde das Amt eines Hüters übernommen, den Seind herankommen sah. Er ging auch gleich auf ihn zu, mit vorgestrecktem Kopf, den Schwanz in den Lüften, und ein gewaltiger Kampf hub an, also daß die Wälder ringsum von dem furchtbaren Gebrüll widerhallten. Neugierig schauten die Kühe aus der Ferne zu.
Eine Weile wogte das Ringen hin und her. Da trieb der Stier den Gegner einer mächtigen Schirmtanne zu, stellte ihn an den Stamm und stieß jetzt seine Hörner mit solcher Wucht in des Bären Leib, daß die Knochen krachten und er stöhnend verendete.
Wie nun aber der Sieger zurücktrat, neigte der noch immer aufrechtstehende Tote den Kopf nach vorn. In dieser Bewegung sah der Stier ein Lebenszeichen und begann den Kampf aufs neue. Und immer, wenn er zurücktrat, erfolgte dieselbe Bewegung des Bären, und ebensooft erneuerte der getäuschte Stier seinen Angriff, bis auch er endlich, zu Tode erschöpft, zusammenbrach.
Von jener Tanne, bei welcher der Kampf stattgefunden, ist noch heute ein morscher Wurzelstock von Mannshohe zu sehen, und der Senne, der seinem Begleiter etwa Sene Sage erzählt, weist im Vorübergehen auf den Stock und sagt:
"Lue, da isch die Tanne g 'stande, wo der Muni der Bär töt
Das Waldhorn
Nicht weit von Iselwald, dem anmutig gelegenen Dörfchen am linken Ufer des Brienzersees, wohnte vor Zeiten ein Jäger. Dem ging sein Handwerk über alles. Schon in der Morgenfrühe kletterte er in den Felsen herum, Gewehr und Waidtasche umgehängt, den gestachelten Bergstock in der Hand, und keine größre Freude konnte ihm werden, als am Abend mit einem oder gar zwei erlegten Tieren in seine Hütte heimzukehren.
In dieser Weise trieb er es jahrelang mit Eifer fort. Dann und wann, freilich, überfielen ihn gar sonderbare Gedanken. "Wer gab denn dem Menschen das Recht ", also sprach er zu sich selber, solch friedliche Geschöpfe wie die Gemsen so zu ängstigen und zu morden ?" Und hatte er nicht oft genug im Auge des sterbenden Tieres die stumme Frage gelesen: Was hab ich dir denn getan, daß du mich nicht leben lassen willst 2" " Nach solchen Gedanken und Erlebnissen war der Jäger jeweilen nahe daran, sein Gewehr fortzuwerfen und ein neues Leben zu beginnen.
Eines Tages, als der Mann der Jagd oblag, überfiel ihn ein schreckliches Gewitter, daß er unter eine Tanne flüchtete, dort Schutz zu suchen. Da aber fuhr der Blitz in den Baum, spaltete ihn von oben bis unten und zerschmetterte des Jägers Arm.
Einarmig geworden, war es von da an mit dem Sagen zu Ende, und unmutig hing der Mann sein Gewehr an die Wand. Was sollte er setzt beginnen, sein Leben zu fristen ?
Er sann lange hin und her, eine Arbeit zu finden, die nicht gleich beide Hände verlangte. Wie er nun eines Tages im Gaden droben unter alten Sachen kramte, blitzte ihm plötzlich ein heller Schein entgegen. Es war ein Waldhorn, das ihm einst in jungen Jahren sein Liebchen geschenkt.
Er setzte es an den Mund und hub zu blasen an. Und siehe, es klang noch immer so hell und freudig wie vor ,Zeiten, als er seinem Liebchen aufspielte, und frischweg gelangen ihm auch die Lieder, die er damals erlernt.
Da zog eine heimliche Freude in sein Herz. Von nun an spielte er Tag für Tag, versuchte neue Lieder, blies Jodler und Tänzchen, ahmte die schwermütigen Klänge des Alphorns nach. Und wie er lange Seit solchermaßen geübt, da zog der Wackere an einem schönen Morgen seinen Jägerrock an, schlang das Horn um seinen Arm und verließ die Hütte, um in der Welt draußen als Spielmann sein Glück zu versuchen.
Er wanderte von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Und wo er hinkam, da eilten die Leute herbei und scharten sich um den einarmigen Mann im grünen Kleide, seinen Klängen zu lauschen. Und alle, jung und alt, lauschten ihm gerne denn er verstand es, einem jeglichen etwas zu bieten. Die Kinder entzückte er mit lustigen Tänzchen , die Liebenden mit Weisen, in denen es jubelte von Sonne, von Blumen und Mai, und manch ein Alter wischte sich heimlich eine Träne von der Wange, wenn sene sehnsuchtsvollen Töne erklangen, die das Gemüt mit Lust und Weh zugleich erfüllen. Und die Menschen, die er dergestalt erfreute, zeigten sich dankbar, warfen ihm Kupfermünzen in Menge zu, bewirteten ihn reichlich mit Speise und Trank und sahen den immer frohen Gast nur ungern weiterziehn.
Manch einer, der dem Spielmann auf seinem Wege begegnete, entbot ihm einen schönen Gruß, blieb auch etwa stehen und hub mit ihm zu plaudern an. Und wenn er dann im Laufe des Gesprächs, mit Bedauern auf den Armstumpf blickend, nach dem Unglück fragte, das ihn betroffen, da klopfte ihm der vormalige Jäger lachend auf die Schulter und rief:
"Unglück, meint Ihr ?" Sagt lieber Glück. Und ein großes dazu, das ich mit jedem Tage mehr zu würdigen weiß. Hört mich an, und ich will euch sagen, warum dem so ist.
Und er begann zu erzählen und schloß seine Rede stets mit den gleichen Worten:
"Schaut, Freund, es kommt in dieser Welt immer drauf an, daß man das, was einem widerfährt, auch richtig auffaßt. Anfangs dacht ich wie Ihr, meinte, es wär ein großes Unglück, nur noch einen
Arm zu haben, und ich sei nun zu nichts mehr nütze. Jetzt aber weiß ich das besser. Wäre der Blitz damals nicht in den Baum gefahren, würde ich wohl noch zur Stund unschuldige Geschöpfe morden, oder läge vielleicht schon lange in einem Abgrund — ein Gerippe, an dem die Geier nagen. Heute aber, wie Ihr seht, verdiene ich mein Leben auf redliche Weise und kann auch zur Freude andrer Menschen mein Scherflein beitragen. Ist das nicht auch etwas wert ?"Und derweilen er mit dem Kopfe schmunzelnd nickte, fügte der Einarmige bei:
"Unser Herrgott, der ist halt ein ganzer Mann. Auf den kann man sich verlassen, wenn man ihm vertraut. Der schickt den Unfall, wo er frommen tut, und gibt Ersatz dafür nach seinem Gutfinden. Und also hat er's auch mit mir gehalten.
Sprach's und zog, ein Liedchen anstimmend, fürbaß, wanderte jahrelang durch die Lande, ohne se darben zu müssen, hatte immer ein froh Gesicht und Sonne im Herzen und verbreitete überall, wo er hinkam, ein bißchen Glück und Freude.
Nach Jahr und Tag kehrte der Spielmann, alt geworden, in seine Heimat zurück. Wie er sich nun einst im Walde erging, überkam ihn plötzlich Sein letztes Stündchen. Nicht weit von ihm stand, auf seinen Krückstock gestützt, ein Bettelmann. Den rief er an und sprach:
Komm her, du sollst mein Erbe sein. Da nimm dies Säcklein Geld und auch den Ring, den mir einst mein Liebchen geschenkt. Dafür mußt du mich, wenn ich kalt und starr bin, im Walde hier begraben . Und mein Waldhorn, dessen Klänge mich und andre so oft erheitert, legst mir auf die Brust. ES soll, will s Gott, auch im Grab nicht müßig bleiben.
Also sprach der alte Spielmann, legte sich hin und starb. Der Stelzfuß begrub ihn.
Der müde Wandrer hatte seine Ruhe gefunden. Sein Waldhorn aber, das ihm im Leben so treu gedient, verstummte auch nach seinem Tode nicht. Bald klangen feine Töne leise und dumpf, bald wieder hell und schmetternd wie du Klänge einer Orgel. Es ver
Die Töne sind verklungen. Doch fortleben tut im Gedenken der Menschen der wackere Spielmann, der ihnen ein Beispiel gibt, wie denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.
Von guten und bösen Geistern
In frühern Zeiten glaubten die Bergleute noch an Geister, an gute wie an böse, die in den Lüften wohnten. Die guten wirkten, also dachten sie sich, im Frühling und Sommer und brachten ihnen Freude und Glück. Die bösen dagegen trieben ihr Unwesen im Winter. Die waren Mensch und Tier feindlich gesinnt und erfüllten sie mit Angst und Schrecken.
Ein guter Geist war das Hauri. Das liebte die Menschen und tat für sie, was es nur konnte.
Im Frühjahr streifte das Hauri mit leisen Schwingen über die Alpweiden hin, schmolz den Schnee, lockte Gras und Blumen aus dem starren Boden und bereitete alles her, auf daß die kommenden Gäste einen gedeckten Tisch fänden. Und wenn diese dann anrückten, die Kühe mit den bimmelnden Glocken, die Ziegen mit den klingenden Schellen, hüpfte es ihnen freudig entgegen und kitzelte sie, daß die Tiere vor Mutwillen zu springen anhuben. Es blies dem Sennen ein frisches Lüftchen um die Ohren, damit ihm die schwere Last der Milchgeräte und Lebensmittel leichter erscheine, und breitete auch einen Dunst über die Berge, auf daß der ungewohnte Glanz der Sonne ihn nicht allzusehr belästige.
All diese Wohltaten verrichtete das Hauri indessen im stillen und verlangte dafür keinen Dank. Ja, es ward sogar böse, wenn man von ihm sprach, auch dann, wenn man es lobte. Wer aber dennoch feinen Mund nicht halten konnte, von dem zog es seine Hand ab, dessen Kühe fraßen schlechte Kräuter, gaben wenig Milch und wurden mager, dessen Ziegen kletterten an unzugängliche Orte, wo sie nicht mehr vor- noch rückwärts gehen konnten. Da mußte denn der ungehorsame Hirte Tag und Nacht in den Bergen herumstreichen und am Ende das wiedergefundene Tier auf halsbrechendem Wege zur Weide hinabtragen.
Im Winter dagegen traten die bösen Geister auf den Plan und bedrohten den Menschen mit Tod und Verderben.
Im Sommer wohnten sie hoch oben in den Eispalästen der Jungfrau und des Finsteraarhorns. Wenn aber der Winter sein weißes Tuch über die Alpweiden gebreitet, wenn in den verschneiten Hütten des Tales die Männer Holzwaren schnitzten und die Weiber an der Spindel zupften, dann stiegen die Bergriesen, die Schnee- und Eisfrauen von den Höhen hernieder, versammelten sich in den Felsschlünden und begannen hier ein seltsames Spiel. Sie scherzten oder heulten mit den Winden, sie stellten sich auf die eisigen Firsten, forderten einander höhnisch zum Kampfe heraus und bewarfen sich nach Knabenart mit gewaltigen Schneeballen. Stürzte der Gegner, vom Ball getroffen, kopfüber in die Tiefe, so jauchzte der ganze Chor der Zuschauer und klatschte in die Hände, daß die Wände donnernd widerhallten.
Wehe dem Wandrer, der in dieser Seit über Eis und Firn stieg! Ihm folgte die Schneefrau auf Schritt und Tritt. Sie lockte ihn durch hellen Sonnenschein höher und höher, sie führte ihn irre durch falsche Bilder von Berggipfeln, die ihre Hand aus Nebeln geformt, sie überfiel ihn mit Hagel und Schnee. Und war die böse Frau endlich des grausamen Spieles müde, dann ließ sie ihn in einsamer Höhe verhungern oder stürzte den Armen in einen Abgrund, in dem man erst nach Jahren seine zerschellten Gebeine fand.
Oft auch vereinigten sich die bösen Geister zu einem gemeinsamen Angriff auf die Menschen im Tal, trugen gewaltige Massen von Schnee und Eis zusammen und wälzten sie als Lawine nieder auf ihre Hütten, Mann und Frau und Kind unter sich begrabend.
War das gute Hauri auch zu schwach, gegen diese höllischen Mächte des Winters zu kämpfen, so tat es dennoch, was in feinen Kräften lag, die Menschen vor ihren Anschlägen zu warnen. Scharrten sie etwa eine Lawine zusammen, dann hörten die Leute des Tales von der Stelle her, von der die Gefahr drohte, eine klagende Stimme, die nicht die Stimme eines Menschen sein konnte. Zögerten sie dennoch, sich zu retten, so warnte das Hauri ein zweites, dann ein drittes Mal. Beim dritten Male aber war es nicht mehr der nämliche Laut.
Da schienen Himmel und Erde aufzuheulen vor Angst und Sorge, und gleich einem Gewitterschein fleuchte der gute Geist über die bedrohte Stelle. Diesem letzten Warnruf aber folgte fast unmittelbar das Grausen. Ein dumpfes Donnern in der Höhe, und polternd fuhr die Lawine zu Tal, begleitet von den bösen Geistern, die, auf Felsblöcken reitend, sich hohnlachend ergötzten am Untergange der Menschen und ihrer Wohnstätten.Eine Sage erzählt uns auch, wie gut es das Hauri mit den Menschen meinte.
Ein Knecht mußte jeden Winter im Berghaus auf der Grimsel zubringen, es zu bewachen.
Eines Tages nun, wie der einsame Mann am Feuer faß, die beiden Bernhardinerhunde zu seinen Füßen, vernahm er plötzlich vom Juchlistock her einen klagenden Laut. Augenblick sprangen die Hunde auf, schossen gegen die Tür, öffneten sie selber und flüchteten ins Freie. Der Knecht, im Glauben, ein verirrter Wandrer rufe um Hilfe, folgte ihnen vor die Hütte und schaute sich um. Kein Mensch war weit und breit zu erblicken. Freundlich schien die Sonne, kaum ein Wölklein am Himmel. Nur um die Spitze des Juchliberges schwebte ein blaßroter Schimmer. Der Mann rief die Hunde, die unruhig umherschweiften, und kehrte mit ihnen in die Stube zurück.
Nicht lange, da hörte der Knecht den jammernden Ton zum zweitenmal, jetzt stärker, eindringlicher. Wieder forschte er nach dem vermeintlichen Wandrer. Vergeblich. Der Schein am Juchliberg aber war dunkler geworden.
Er trat wieder die Hütte, nun selber unruhig geworden gleich den Hunden, die setzt zu heulen anhuben.
Und das Unheil ließ nicht auf sich warten. Ueber dem Juchlistock verfinsterte sich plötzlich der Himmel, und dröhnend fuhr eine gewaltige Lawine den Berg hernieder, stürzte sich über das Haus und begrub es unter Schnee und Schutt. Gleich Strohhalmen waren die Sparren des Daches zusammengebrochen, feder Ausgang schien gesperrt. Nur ein Teil der festen Mauern war stehengeblieben und bewahrte
so das Haus vor dem gänzlichen Einsturz und die Bewohner vor dem Tode.Erst jetzt erkannte der Knecht, daß das Hauri ihm die Warnzeichen zugerufen. Dieses aber, in seiner erbarmenden Liebe zu Mensch und Tier, hatte noch mehr getan, hatte, über das Haus fliehend, den Deckel des Kamins aufgeklappt und dergestalt den fast Verlornen einen Rettungsweg bereitet. Also kletterte der Knecht vorsichtig durch den Schornstein ans Tageslicht, zog auch die Hunde herauf und eilte fort, die Kunde vom Unglück ins Tal zu tragen.
Der Hirtenknabe
Geht der Wandrer von Merligen aus dem Grönbach entlang aufwärts , so betritt er nach etwa anderthalb Stunden das stille Juftistal und erblickt jetzt zu seiner Linken das Sigriswiler Nothorn, das gleich einer trotzigen Burg gen Himmel ragt. Geht er nun weiter und steigt diesen Berg hinan, dann führt ihn ein Weglein über Alpweiden und Gehänge hinauf zum Eingang einer Felsenhöhle, das Schafloch genannt. Darinnen gibt es Grotten, wo Eissäulen vom Boden und von der Decke hernieder gegeneinander wachsen, die, wenn sie farbig beleuchtet werden, dem Auge ein märchenhaft schönes Bild gewähren.
Von dieser seltsamen Höhle weiß uns die Sage etwas zu berichten. Auf einer Alp am Sigriswiler Nothorn hütete einst ein schöner Hirtenknabe seine Schafe.
An einem Nachmittage nun, als die Sonne heiß vom Himmel strahlte, legte sich der Knabe neben seiner Herde hin ins Gras und schlief ein.
Da träumte ihm, er vernehme aus der Höhe hernieder das Klingeln eines silbernen Glöckleins. Er schaute auf und erblickte eine schöne blonde Frau in lichtblauem Gewande, einen Strauß rotglühender Alpenblumen in der einen, ein Silberglöcklein in der andern Hand, also daß der Schläfer vermeinte, es käme der Frühling den Berg herabgestiegen. Nun trat die schöne Frau zum weißen Leithammel seiner Herde und hing ihm das Glöcklein um den Hals, kam dann auf ihn selber zugeschritten, beugte sich nieder und sang mit lächelndem Mund ein schmeichelndes Lied:
"Komm, holder Knabe, geh mit mir, Manch selge Stunde bereit ich dir. Ich reich dir den Becher mit goldnem Wein, Ich schenk dir der Liebe Zauberschein. |
Schön ist die Weide, schön der Wald, Gar lieblich der Berge Aufenthalt. Es glänzet der Himmel in duftgem Blau, Es locken die Blumen auf grüner Au. Laß das, Knabe, und hör auf mein Wort! Ich weiß dir einen noch schönern Ort. Da gibt es nur Lust und der Freuden viel, Lachen und Tanzen und Saitenspiel. |
Wie sie nun aber dem Knaben winkte, ihr zu folgen, da erwachte dieser, schlug die Augen auf und blickte verwundert auf die holde Frau, die er im Traume gesehen, nun aber leibhaftig vor ihm stand. Da wußte er nicht, wie ihm geschah, sprang auf die Füsse und eilte behende hinter ihr her über die Weide und dann auf handbreitem Pfade der Felswand entlang, bis sie endlich zum Eingang einer Höhle gelangten. Es war das Schafloch.
Sie betraten die Höhle und drangen tief in den Felsen hinein. Die Augen der Frau funkelten, ihr goldnes Stirnband blitzte ab und zu auf. Dennoch mußte sich der Knabe schließlich an ihrem Gürtel festhalten, um nicht zu fallen und den rechten Weg zu verlieren.
Da dämmerte in der Ferne ein rötlicher Schimmer. Und wie die beiden jetzt darauf zueilten, betraten sie bald eine weite Grotte von gar wundersamer Art.
Mitten aus dem Boden erhob sich ein mächtiger Felsen, mit Moos und Schlingpflanzen bewachsen, mit lauschigen Wegen, mit Nischen und Vorsprüngen, das Ganze in rosigem Lichte schimmernd. Hier und dort aber entquoll dem Felsen ein Wasserfall, und an jenen Stellen durchbrach das dunkle Grün des Wassers und das Weiß der schäumenden Wellen den roten Dämmerschein. Ein paar farbige Vögelchen schwirrten lautlos hin und her. bläulichem Dufte dehnte sich hinter dem Felsen die Ferne.
Eine Weile starrte der Hirtenknabe traumverloren auf das schöne Bild. Dann aber fröstelte ihn, und es ward ihm auf einmal gar
Er wandte sich um und wollte den dunklen Gang zurückeilen. reichte ihm die schöne Frau einen goldenen Becher und sagte mit schmeichelndem Munde:
"Sicht, das ist der Becher des Vergessens. Trinke daraus, und du wirst glücklich sein, wie du es nie zuvor gewesen.
Zögernd blieb der Knabe stehen. Wieder hörte er eine Stimme, warnend: "Entflieh, sonst hifi verloren! " Dann aber glaubte er eine andre zu vernehmen, lockend: .Warum dich fürchten ? Greif zu und genieße die Freuden, von denen die schöne Frau gesungen.
Und er griff zu, setzte den Becher an die Lippen und trank aus vollen Zügen.
Da schien ihm, als ging ein Feuerstrom durch seinen Leib. Und wenn er sich einen Augenblick zuvor nach feinem Mütterlein, nach Hund und Herde zurückgesehnt, war das alles in ihm auf einmal wie erloschen.
Lange — die Sage spricht von zweimal sieben Jahren — lebte nun der Hirtenknabe bei der holdseligen Frau, lebte wie in einem Zaubergarten in Glanz und Glück und vergaß darüber das Heil seiner Seele.
Da war ihm einst, als er schlummernd lag, es wehe ein eisiger Wind um ihn her. Nur über sein Gesicht strich ein warmer Hauch, feuchte Lippen preßten sich auf seine Hände, und jemand rief seinen Namen. Da griff der Schlummernde nach dem Becher, der neben ihm stand und von dem die schöne Frau gesagt, daß er Wiedererinnern enthalte, und leerte ihn bis auf den Grund.
Setzt öffnete der Schläfer die Augen und schaute sich um. Und siehe, er lag auf einer Tragbahre im matt erhellten Felsenraum. Neben ihm kniete betend sein Mütterchen, und zu seinen Füßen winselte der treue Hund. Nicht lange, ward die Bahre emporgehoben,
und zwei Männer trugen ihn aus der Höhle und hinab ins Häuschen seiner Mutter.Aus dem schönen Hirtenknaben war setzt ein blasser Mann geworden , mit müdem Gang und ergrautem Haar. Seine Schafe hütete er hinfort nicht mehr. Man sah ihn oft im Gebet versunken, sah ihn bei Armen, denen er ein Almosen, bei Kranken, denen er Arzneien brachte, und sein gütig Wesen linderte überall die Schmerzen. Und als er nach wenig Jähren starb, da lag auf seinem Gesicht ein friedlich Lächeln: die ewige Liebe Gottes hatt' ihm seine Schuld verziehen und ihn zu sich genommen.
Der Friesenweg
In alten Zeiten wohnte an der Küste der Nordsee ein kriegerisches Volk, die Friesen genannt.
Einst brach unter ihnen eine Hungersnot aus. Da bestimmten sie durch das Los, daß jeder zehnte Mann auswandern müsse. Also verließen denn etwa fünftausend Männer ihre Heimat, zogen auf Roß und Wagen mit Frau und Kind den Rhein aufwärts und gelangten endlich an den Fuß der Alpen. Im Grindelwaldtal, im Frutigtal und auch im abgelegenen Saanenland schien es den Leuten zu gefallen. Denn hier siedelten sie sich an, reuteten den Boden, bebauten die Weiden und trieben die wilden Tiere in die Berge zurück.
Mit der Zeit starben die Friesen in unsrem Lande aus, konnten aber ihre alte Heimat im hohen Norden auch nach dem Tode nicht vergessen.
Sie stiegen nämlich, also geht die Sage, in mondhellen Nächten aus ihren Gräbern hervor, scharten sich zusammen und kehrten genau auf dem gleichen Weg, den sie einst hergekommen, heim zu den fernen Ufern der Nordsee. Hatten die Toten dort für einmal wieder das Meer gesehen und seine Wellen rauschen gehört, dann sauste der gespensterhafte Zug südwärts und zurück den Grabhügeln zu. Sie taten auf diesen nächtlichen Fahrten keinem Menschen etwas zuleide. Man mußte nur darauf bedacht sein, den Weg, den die Toten zu gehen gewohnt waren, immer offen zu lassen. Tat man es nicht, mochte es einem schlimm ergehen.
Um sene Zeit lebte auf einer Alp im Saanenland ein Senn. Dessen Hütte war so gelegen, daß der Friesenweg gerade mitten hindurch ging. Dem Sennen war das wohlbekannt, und um die toten Geister nicht zu erzürnen, pflegte er jede Nacht die beiden ein- und ausmündenden Türen weit offen zu lassen, auf daß die Friesen, wenn sie etwa umgingen, ihren Weg ungehindert durch feinen Stall nehmen könnten.
Es begab sich aber, daß der Senn zu Tale steigen wollte, seine Lieben zu besuchen, die er den ganzen Sommer über nicht gesehn.
"Habe derweilen gut acht auf meine Sachen ", sprach er zum Meisterknecht. "Und vergiß vor allen Dingen nicht, während der Nacht die Stalltüren offen zu lassen. Der Mond scheint licht, und da ist es schon möglich, daß die Friesen anrücken. Finden sie den Durchgang versperrt, ist's um dich geschehen.
Der Meisterknecht versprach es. Als aber der Senne gegangen, da hatte er mit den andern Knechten ein großes Gelächter. .Nur ein Narr ", spöttelte der Mann, glaube an solche Dinge, und an all dem sei nicht ein Tüpfelchen wahr. Wie könnten denn tote Menschen wiederaufstehn ? Sollte ihm aber also sein, wie der Senn gesagt, so verschließe er die Türen dennoch und steige auf die Gastern ). Dann mögen seinetwegen die Herren Friesen nur kommen: er rühre sich nicht und fchnarche ruhig weiter.
Also prahlte der Meisterknecht, riegelte die Türen zu, stieg mit den andern in die Gastern und legte sich aufs Ohr.
Draußen begann es zu winden, erst schwach, dann stärker. Sie beachteten es nicht und schliefen ein.
Nicht lange, wachten die Schläfer auf. Wie murrender Donner klang es an ihr Ohr. Sie glaubten, ein Gewitter ziehe herauf. Doch wie seltsam: durch die Spalten des Gadens schimmerten ja die Sterne. Das Murren kam näher und näher, schwoll an zum mächtigen Gebrause. Ein Gewirr von Tönen gellte durch die sturmbewegte Luft, Hörner tuteten, Pferde wieherten, Hunde bellten — gleich als käme ein wilder Jagdtroß mit Windesschnelle dahergeritten.
Da richteten sich die Knechte erschrocken auf. Deutlich unterschieden sie Setzt den flüchtigen Hufschlag der Pferde, hörten die Peitschen knallen, die wilden Stimmen von Männern. nächsten Augenblick prallte es gegen die Tür, es staute sich der Troß, und in der Nacht draußen ertönte jetzt eine gewaltige Stimme, die durch Mark und Bein drang:
"Tut auf den Stall, tut auf die Tür, Denn d's Friesenvolk will ja derdür *) !" |
Keiner der Knechte rührte sich. Wie gelähmt kauerten sie auf ihrem Heulager und wagten nicht, den versperrenden Weg frei zu geben.
Da erfolgte ein Krach. Das Hüttendach sami den schweren Steinen fuhr plötzlich in die Höhe, und mit entsetzten Augen sahen die Knechte für einen Augenblick Mond und Sterne über sich. Nach einer Weile aber legte sich das Dach langsam auf die Hütte zurück, und im Gaden ward es wieder dunkel wie zuvor.
Iesi merkte der Meisterknecht, daß es ihnen wohl böse ergehen möchte, wenn die Türe nicht geöffnet würde. Er faßte sich also ein Herz, stund auf und rief in den Stall hinab:
"So will ich euch in Gottes Namen auftun!
Mit diesen Worten stieg der Mann die Leiter hinunter und riß die beiden Türen auf. Dann drückte er sich beim Eingang an die Wand und wartete mit schlotternden Knien der Dinge, die nun kommen würden.
Er brauchte nicht lange zu warten, da schritten ein paar hochgewachsne Männer vorüber und wünschten ihm einen guten Abend. Dann aber rauschte und toste, einem Waldstrom gleich, ein ganzes Heervolk durch den Stall, der auf einmal wie erhellt und gar breit und mächtig geworden schien.
Er sah Scharen bärtiger Krieger vorübereilen, in Stierfelle gekleidet , den Speer in der einen, den Schild in der andern Hand, sah Reiter auf schnaubenden Rossen dahersprengen, nitt geflügelten Helmen, das Hüfthorn am Munde. Es rollten mächtige Wagen heran, auf denen Weiber und Kinder mit goldfarbenen Schöpfen hockten, derweilen flinke Knaben und zottige Hunde neben den Wagen hersagten . Ihnen folgte wieder ein langer Zug von Kriegern, und also ging es fort und schien kein Ende nehmen zu wollen.
Die Hände krampfhaft an die Wand gepreßt, sah der Unglücksknecht mit weit aufgerissnen Augen den Spuk vorübereilen. Das Lachen war ihm vergangen, ihm und den andern Knechten, die auf der Gastern droben atemlos lauschten.
Endlich war auch der letzte Krieger vorüber, und bleich und verstört stieg der Meisterknecht zu seinem Heulager hinauf. Dort legte er sich hin und berichtete stockend, was er gesehen.
"Der Senn hat also recht gehabt ", schloß der Mann. "Ich habe nun die Friesen mit eignen Augen geschaut.
Er ging am folgenden Morgen nicht an die Arbeit, lag auf dem Heu den ganzen Tag. Fieberschauer schüttelten seine Glieder. Am Abend war er eine Leiche.
Die verlornen Kühe
Die Zwerglein wohnten im Winter tief in den Bergen drin. Sommer aber stiegen die muntern Leutchen auf die Alpen hernieder und beschäftigten sich hier ganz wie die Sennen, nur daß sie statt Kühe und Ziegen Gemsen hüteten. Aus der Milch dieser Tiere, die sich ohne Scheu von ihnen melken ließen, bereiteten sie wohlschmeckende Käslein, welche die wundersame Eigenschaft besaßen, daß sie nie aufgingen, wenn man ein Stücklein von ihnen übrigließ. Auch halfen die Bergmännchen oft den Hirten, doch nur solchen, die sich redlich mühten, und knüpften daran gewöhnlich noch ein Gebot, das diese strenge zu befolgen hatten, sollte ihnen kein Schaden widerfahren.
Worin ein solches Gebot etwa bestehen mochte, geht aus der folgenden Sage hervor.
Auf der Alp von Stramen, westlich von Grindelwald, war einst ein Hirte mit Heuen beschäftigt.
Wie er sich nun mitten in seiner Arbeit nach dem Wetter umschaute und sich fragte, ob es bis zum Abend noch halten werde, stand plötzlich ein Zwerglein vor ihm und bat um eine Handvoll Heu. Der Senn sah den Knirps verwundert an, und da dieser nicht größer war als ein siebenjähriges Büblein, rief er lachend:
Et warum auch nicht! Und nimm dir nur gleich so viel, als du in einer Bürde fortzuschaffen vermagst. An einer bloßen Handvoll haben deine Gemslein sicher nicht genug.
Das Zwerglein schien mit diesem Bescheid zufrieden. Es trat in den Stadel ), und bald darauf regnete es Heu aus dem Giebel.
Der Senn schaute ihm zu, verwunderte sich erst, wie flink die Arbeit vonstatten ging, staunte, als in kurzem ein gewaltiger Haufen Heu am Boden lag und traute endlich seinen Augen nicht, als er sah, wie das Wichtlein alles in eine Bürde zusammenband, diese auf seine Schultern lud und sich anschickte, sie fortzutragen. Da rief er:
"Halt, du kleiner Schelm! Also war die Sache nicht gemeint.
Das Zwerglein aber sagte:
"Mach dir deswegen keine Sorge. Ist all dein Heu verbraucht, werd ich wieder zur Stelle sein, und alles wird sich finden.
Sprach's, und lief mit seiner Bürde dem nahen Walde zu.
Ein harter Winter zog ins Land, der Frühling war noch fern, da hatte der Senn all sein Heu bis auf ein Restlein verbraucht. Jetzt ward ihm angst und bang um seine lieben Kühe.
Wie der Hirte nun eines Tages auf dem Heuboden hin und her ging und sich in seiner Not keinen Nat wußte, siehe, da streckte plötzlich das Bergmännchen sein Köpflein aus dem Balkenwerk und rief:
"Von heut ab vertraue deine Kühe nur mir an. Du aber geh jeden Morgen in den Stall und verrichte dein Tagwerk, als ob all deine Tiere noch im Stalle ständen. Eins aber mußt du mir versprechen: du darfst während dieser Zeit nicht fluchen oder sonst ein grobes Wort gebrauchen.
Der Mann traute anfänglich der Sache nur halb, willigte aber endlich ein und sprach:
"So nimm sie halt, in Gottes Namen. Auch versprech ich dir, genau zu tun, wie du sagst.
Einen Augenblick später trieb das Zwerglein die Kühe aus dem Stall und über die verschneite Alp hinauf in die Berge. Mit wehem Herzen schaute ihnen der Hirte nach.
Er tat getreulich, wie ihm geboten. Jeden Morgen und Abend ging er in den Stall, zog dort den Kittel an, nahm die Gabel zur Hand und stellte sich, als ob er den Mist fortschaffe. Warf sodann mit Gebärden Heu in den Nechen, führte sein Vieh hinaus zur Tränke, nahm die Melchter, hockte nieder und tat, als melke er eine Kuh um die andre, rief sie beim Namen, pfiff oder summte ein Liedlein und verrichtete alles genau, wie er es zu tun gewohnt war, als die Tiere noch im Stalle standen. Auch gab der Hirte wohl acht, daß seinem Munde kein Fluch oder sonst ein böses Wort entschlüpfte — eine
Sache, die ihm gar nicht so leicht fiel, da er bisher im Umgang mit den Tieren stets wacker geschimpft und geflucht hatte, wenn nicht gleich alles nach seinem Wunsche ging. Er merkte setzt auch, warum ihm das Zwerglein gerade dieses Verbot auferlegt, und wunderte sich über die klugen und alleswissenden Leutchen.Eines Abends nun, wie er im Begriffe stand, die Leitkuh, den Gabel, zu melken, oder doch sich vorstellte, er tue es, da riß ihm plötzlich die Geduld: er sprang auf, schmetterte den Melkstuhl in eine Ecke und hub zu wettern an, was das Zeug hielt.
"Das ist sa gar keine Arbeit ", schrie er, "und nur ein Narr kann sie verrichten. Ein Narr ist aber auch der kleine Wicht, der sie mir auferlegt hat. Wär der doch nur droben in seiner Höhle geblieben, statt mir meine Kühe wegzunehmen! Wer weiß übrigens, ob er sie mir jemals zurückbringen wird.
Er beruhigte sich indessen wieder, schämte sich gar der bösen Worte und tat seine Arbeit noch getreulicher als zuvor. Sein loses Maul aber nahm der Senn von nun an fest in die Zucht.
Da lachte endlich der Frühling ins Land, und als der Mann sah, wie setzt das Gras unter dem warmen Strahl der Sonne zu grünen anfing, da ward ihm das Herz schwer, und er sehnte sich mehr denn
se nach seinen lieben Kühen. Wie würde er sie hätscheln und pflegen! Kein böses Wort sollten sie se wieder zu hören bekommen!Es war am ersten Maitag. aller Frühe schon öffnete der Senn die Stalltür und tat, als ließe er, nach gutem Landesbrauch, sein Vieh hinaus ins Freie treten.
Da war ihm plötzlich, als höre er den lieblichen Ton des Glockengeläutes . Er schaute auf und gewahrte auf der Höhe der Weide eine ganze Sennerei von Kühen, sieben Stück an der Zahl, die setzt bimmelnd und bammelnd zu ihm herabgeschritten kamen. Das mußten wohl seine Kühe sein. Mit dem scharfen Auge des Aelplers entdeckte er auch gleich, daß sie setzt alle rund und fett geworden. Und neben jeder Kuh sprang, bald mit den Vorderfüßen, bald mit den Hinterfüßen auffchaukelnd, ein lustiges Kälbchen. Hinter dem Häuflein Vieh aber schritt das Zwergmännchen, ein Salztäschlein auf der Seite und eine mannslange Rute in der Hand. Das blickte heimlich lächelnd schon aus der Ferne nach dem erstaunten Hirten, der wenig begriff, wie ihm geschah, und der nur immer das stattliche Vieh anstarrte
Endlich war es völlig nahe gekommen, so daß der Senn auch die strotzenden Euter der Kühe wahrnehmen konnte. Da trat das Zwerglein durch den Haufen hervor, wies, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Euter der Leitkuh, legte sodann seine Hand auf den Mund, zeigte nach dem Himmel und wies abermals nach der Kuh hin. Jetzt lief dem Hirten ein Schauer den Rücken hinab: dem Euter fehlte eine der vier Zitzen. Nun verstand er auf einmal die Gebärden des Männchens und erinnerte sich, wie er im leeren Stande gerade diese Kuh, den Gabel, melken wollte, als seinem Munde die bösen Worte entschlüpften.
Den Sennen hat man von jener Stunde an nie mehr fluchen gehört. Er ward, dank dem guten Zwerglein, ein wohlhabender Mann.
Die weiße Frau von Weißenau
M der Gegend zwischen Unterseen und dem Thunersee wohnte vor Zeiten ein Bauer, gewaltig von Gestalt, ein stolzer und verschlossner Mann. Seine Frau, die er leidenschaftlich geliebt, war längst gestorben, hatte ihm aber ein Töchterlein hinterlassen, das nun zur blühenden Jungfrau herangewachsen. Dieses Töchterlein war der Sonnenschein seines Lebens, und alle Liebe und zärtliche Fürsorge, wie er sie einst der Mutter gegenüber gehegt, trug der einsame Vater setzt über auf sein Kind.
An einem Nachmittage sammelte das Mägdlein Beeren an den waldigen Hängen des Harders.
Da ritt der junge Freiherr von Weißenau vom Berge hernieder. Er war auf der Jagd gewesen und im Begriff, auf seine Burg am Thunersee zurückzukehren. Wie nun der Freiherr das liebreizende Kind gewahrte, hielt er sein Pferd an und begann zu plaudern, erzählte ihr erst von der Jagd, dann von seinem Schlosse, das wohl von außen mit den grauen Mauern und Türmen wenig freundlich aussehe , darinnen aber gar lieblich geziert und voll Lust und Kurzweil wäre. Redete endlich mit lockenden Worten von goldnem Geschmeide, von Kettlein und Ringlein, womit er Hals und Arm des schönen Mägdleins zu schmücken gedenke, wenn sie ihm auf seine Burg folgen würde, und betörte solchermaßen ihr arglos Herz. Sie vergaß ihres Vaters und seiner Mahnungen, sie überhörte die warnende Stimme ihres Gewissens, stieg auf des Ritters Pferd und sagte mit ihm dem Schlosse
In jener Nacht forschte der alte Bauer nebst feinen Nachbarn vergeblich nach seinem Kinde, und erst am folgenden Morgen ward ihm kund, was geschehen. Da begab er sich gleich nach der Burg und ließ den Freiherrn bitten, ihm sein Töchterchen zurückzugeben. Dieser aber schien wenig gewillt, seinem Begehren zu entsprechen, um so weniger, als auch das Mägdlein selber nicht mehr von dem
jungen Ritter lassen wollte, und unverrichteter Dinge mußte der alte Mann nach Hause kehren.Rasend vor Wut, schwor der Bauer dem Verführer seines Kindes blutige Rache.
Der Freiherr pflegte sich jeden Sonntag in die Kirche von Unterseen zu begeben und dort die Messe zu hören. Er war hiebei stets von seinem Gefolge begleitet, und alle ritten auf weißen Pferden. Gerade auch um sene Zeit grollten die Bauern dem Freiherrn, weil er sie mit Abgaben arg bedrückte, also daß man sich im Schlosse täglich auf einen Angriff von ihrer Seite gefaßt machen mußte.
Auf diese beiden Umstände baute der alte Bauer seinen Plan.
Mit viel Mühe und Kosten gelang es ihm und seinen Nachbarn, die er in sein Vorhaben eingeweiht, sich eine Anzahl weißer Rosse und Rüstungen zu verschaffen, und an einem Sonntagmorgen, zur Stunde, da sich der Freiherr mit seinem Gefolge in der Kirche befand, sah der Burgwart die gerade Straße von Unterseen her eine Schar Reiter auf Schimmeln heransprengen. Und hinter ihnen sagte eine Menge bewaffneter Bauern. Im Glauben, die Heranstürmenden wären sein Herr und dessen Gefolge, ließ er augenblicklich die Zugbrücke niederrasseln und öffnete das Tor.
Kaum langten indessen die vermeintlichen Ritter im Burghofe an, als sie die Schwerter zogen und mit gewaltigen Streichen auf die Schloßknechte einbieben. Keine Gnade wurde gegeben, und in kurzem waren die Leute die Herren der Burg.
Jetzt suchte der Bauer nach seiner Tochter und fand diese endlich hoch oben auf einer Warte, wohin sie in ihrer Angst geflohen. Noch wollte das Mägdlein den Vater um Verzeihung bitten. Wie sie ihn aber erblickte, mit seinem von Wut und Mord immer noch verzerrten Gesicht, Schwert und Harnisch vom Blute rot, da erfaßte sie das Grausen. Sie sprang auf die Brustmauer, und mit dem Schrei: "Vater! " stürzte sich die Unglückliche in den Schloßhof hinab.
Der Freiherr, der von dem Ueberfall rechtzeitig Kunde erhalten,
Seine Burg, in sumpfiger Gegend am Einfluß der Aare in den Thunersee gelegen, ist heute zerfallen. Moos und wirre Gräser schlingen sich um die Mauerreste, und eine einsame Kiefer überschattet die Höhe des Turmes. Seit jener Zeit aber, also erzählt die Sage, erscheine dort in mondhellen Nächten eine weiße Frau, die, begleitet von einem mächtigen Hunde, in der Trümmerstätte wehklagend auf und nieder wandle. ES sei dies niemand anders als das unglückliche Mägdlein des Bauers, das selbst im Grabe seine Ruhe nicht finden könne.
Lämmergeier
Je höher der Wanderer im Gebirge hinansteigt, desto einsamer wird es um ihn her. Die ihm vertrauten Pflanzen der Voralpen verschwinden mehr und mehr, und auch die Tierchen, Fliegen, Käfer und Falter, werden seltener. Ab und zu noch huscht ein einsames Vögelchen über seinen Weg, ein Schneehuhn schwirrt aus dem nahen Busch, auf einem Felsenband weidet friedlich ein Trüpplein Gemsen. Dann glaubt er sich allein. Wohin er auch blickt, starren ihm graue Wände entgegen, dehnen sich kalte Schneefelder, türmen sich eisige Gipfel, derweilen unter feinen Füßen die menschlichen Wohnstätten im blauen Dunste verschwinden.
Da horch! Hoch in den Lüften droben ertönt ein gezogenes "Pfyii — Pfyii —pfyii! " Er schaut auf und gewahrt im Blau des Himmels einen dunklen Punkt. Jetzt schwebt der Punkt in schraubenförmig gewundener Bahn hernieder, wird größer und größer, und dann rauscht mit mächtig ausgespannten Flügeln der königliche Geier der Hochalpen heran. Ein Weilchen noch kreist er umher, mit feinen scharfen Augen in die Tiefe spähend, und fährt dann pfeilschnell mit zusammen geschlagenen Schwingen nieder auf die entdeckte Beute, einen Hasen, einen Fuchs oder ein Lämmchen, verzehrt das Tier auf dem Flecke oder steigt mit ihm gleich wieder die Lüfte und hin zu feinem Horst am steilen Felsen, seine Jungen damit zu füttern.
An größere Tiere, wie Siegen, Gemsen und Rinder, wagt sich der gewaltige Vogel seltener, weil feine Füße nicht stark genug sind, sie zu tragen. Grast aber solch ein Tier am Nand eines Abgrundes, kreist er erst nahe über ihm hin, es zu ängstigen, saust dann heran und stößt es mit scharfen Flügelhieben in die Tiefe, wo er sich auf der zerschmetterten Beute niederläßt, sie zu verschlingen.
Zuweilen kommt es vor, daß der Lämmergeier auch Menschen angreift: kleine Kinder, die nicht bewacht sind, oder selbst den Jäger, wenn er etwa, auf schmälern Felsgefimse stehend, sich nicht recht zu wehren vermag. Büchern ist darüber gar manches zu lesen. Es
sind das freilich keine Sagen, es sind Geschichten, die sich vor nicht allzu langer Zeit begeben haben. Doch mögen einige von ihnen auch hier erzählt werden.Nicht lange, kehrte er, eine Bürde Heu auf den Schultern, zum Stadel zurück und schaute sich auch gleich nach seinem Kinde um. Das aber lag nicht mehr am Platze, wo er es hingelegt. Voll Angst suchten nun die Eltern, und mit ihnen auch andre in der Nähe weilende Bergleute, nach der Kleinen. Umsonst, es fand sich keine Spur.
Es begab sich aber, daß um sene Zeit ein Senn, den sein Weg über einen Felsenpfad hoch oben im Harder führte, plötzlich ein Kind schreien hörte. Verwundert darüber, in einer solch wilden Gegend ein kleines Kind anzutreffen, schaute er sich erst um, dann in die Höhe, und gewahrte nun einen großen Lämmergeier. Der hielt in seinen Krallen ein Mägdlein und schoß setzt nieder auf einen Felsen, um es hier zu zerfleischen. Da sprang der Senn in mächtigen Sätzen auf den Felsen zu und erschreckte den Räuber durch Geschrei und Gebärden dergestalt, daß er seine Beute fahren ließ und das Weite suchte.
Das Mägdlein hatte auf seiner sausenden Fahrt durch die Luft Schuhe, Strümpfe und Käpplein verloren, war aber im übrigen noch heil und ganz und nur leicht an Arm und Händchen verletzt. Der Senne verband die Wunden, hob das Kind, das ihm wohlbekannt war, auf seine Schulter und brachte es wohlbehalten zu seinen Eltern zurück, die Gott nicht genug danken konnten für die wundersame Errettung ihres Lieblings.
Das Mägdlein hieß Anna Zurbuchen. Von senem Tag an aber *)
Derweilen er nämlich am Feuer saß und an einem Weidenzweige schnitzte, schoß plötzlich ein Geier herab, umschritt die Herde und schickte sich an, ein Lamm zu ergreifen und fortzutragen. Da sprang das zehnjährige Büblein auf den Räuber zu, ihn zu vertreiben. Setzt wandte sich dieser gegen den kleinen Verteidiger, stieß die Krallen von der Seite her in seine Hüften und hob den Kopf, ihm mit Schnabelhieben das Gesichtchen zu zerfetzen. Das Büblein aber, ein kleiner Held, faßte den Bösewicht mit beiden Händen um den Hals und drückte ihn gegen den Boden. Spreizte sodann das eine Bein über Flügel und Leib, so daß er rittlings auf den Räuber zu sitzen kam, und versuchte nun, ihn in dieser Klammer festzuhalten. Das war aber leichter gedacht als getan. Der Vogel sträubte sich aus allen Kräften und hackte fort und fort mit seinem krummen Schnabel nach den Händchen, die seinen Hals umschlossen hielten, und so wär es ihm am Ende auch gelungen, den kleinen Gegner abzuschütteln und dann zu zerfleischen, als man diesem unversehens zu Hilfe kam. Ein Senn, der in der Nähe die Kühe hütete, hatte plötzlich die beiden Ringenden bemerkt und kam setzt in wilden Sätzen herangesprungen. Mann und Büblein zusammen wurden setzt des bösen Gesellen in leichter Weise Meister, töteten ihn aber nicht. Er ward, so ist in alten
Urkunden zu lesen, nach Bern gebracht und hier noch lange Zeit wie ein Wunder angestaunt.Der sprang, als er einst einer Gemse allzu eifrig nachsetzte, auf ein Gesims hinunter, das sich kaum fußbreit über einem schrecklichen Abgrunde der Wand entlang zog. Wieder hinauf konnte der Mann nicht. So legte er sich denn auf den Bauch nieder und kroch, mit einem Beile den Weg vor sich ebnend, Stücklein um Stücklein vorwärts, jeden Augenblick gewärtig, vom morschen Gestein unter ihm in die Tiefe gerissen zu werden.
Nachdem der Jäger sich in dieser Weise eine Stunde lang fortbewegt , gewahrte er an der Wand einen flatternden Schatten. Da hob er mühsam den Kopf und sah über sich einen Lämmergeier kreisen , bereit, sich auf ihn zu stürzen. Jetzt dachte der in Todesgefahr Schwebende nur noch daran, sich dieser neuen Beute zu bemächtigen. Er drehte sich langsam auf den Rücken und stützte den Kopf auf einen Absatz, derweil er das eine Bein um einen Vorsprung schlang, das andre aber frei über der Tiefe hängen ließ. Nach langem glückte es ihm auch, sein Gewehr an die Wange zu bringen.
Dann wartete er, mit dem Laufe der Büchse dem kreisenden Riesenvögel folgend. Und dann krachte der Schuß. Wie eine Feder wirbelte das getroffne Tier ein paarmal um sich selbst, überschlug sich und fiel senkrecht herab, mit seinen Flügeln den Körper des Jägers streifend.
Da drehte sich dieser wieder auf den Bauch und wand sich weiter über das Felsengesims, das sich endlos in die Länge zu ziehen schien. Nach dreistündiger Arbeit endlich setzte er seinen Fuß wieder auf festen Boden. Seine Kleider waren zerrissen, Hände und Arme blutig. Den Geier aber hat er nicht auffinden können. Der mußte irgendwo an einem Felsvorsprünge hängen geblieben Sein.
Das Britschenmännchen
Ein reicher Bauer aus dem Simmental besaß vor Zeiten eine schöne Alp hoch oben am Fuße des Wildstrubels. Er selber ging freilich nur selten hinauf, er überließ es drei Knechten, dort den Sommer über seine Kühe zu hirten.
Diese Knechte waren nun aber etwas leichtfertige Gesellen.
Eines Abends hatte eben einer von ihnen den Britschenreifen mit dem Britschen ) auf den Tisch gestellt. Statt nun daraus einen Käse zu bereiten, griff er in die weiche Masse und hub an, ein Männchen zu formen. Die beiden andern, als sie das sahen, eilten lachend herbei, ihm zu helfen. So erstellte denn der erste den Kopf, der zweite den Rumpf, und der dritte rollte Arme und Veine. Hierauf fügten sie die Teile zusammen und stellten das zwei Fuß hohe Menschlein auf den Tisch.
Befriedigt betrachteten die Sennen ihr Werk. Der dicke Kopf neigte ein wenig auf die Seite, die Augen blickten traurig, aus dem weit geöffneten Munde ragte das Zünglein. Am höckrigen Leib hingen zwei lange Aermchen, die Beinchen waren nach innen gebogen, die Füßchen nach außen gerichtet.
Nun trieben die drei mit dem mißgestalteten Männchen ihren Mutwillen.
Spöttelte der erste:
"Da schaut mir einmal den kleinen Wicht an, wie fein wir ihn hergerichtet haben. Jetzt aber geh, lauf, tu ein paar Sprünge und zeig uns ein bißchen, was kannst.
Das Männchen rührte sich nicht.
Spöttelte der zweite:
"Wenn schon nicht gehen willst, so tu uns den Gefallen und sing ein Liedchen. Mußt sa eine prächtige Stimme haben.
Das Männchen blieb stumm.
Spöttelte der dritte:
"Und wie stehts denn mit dem Abendgebet ? Hast es schon verrichtet ? Oder kennst das Sprüchlein etwa nicht ? Wart, ich werd es dich lehren. Und damit das Zünglein besser läuft, will ich ihm noch ein wenig nachhelfen.
Ging hin, holte in einer Tasse heiße Käsmilch herbei und goß ihm davon in den Mund. Bog sodann die beiden Aermchen nach innen, also daß die Händchen wie gefaltet in die Höhe ragten, hob den Finger und sagte:
So, mein Bürschchen! Jetzt sprich mir einmal nach, was ich dir vorsage! Und gib gut acht! Es könnte dir sonst übel ergehen.
Und hub an, unter dem Gelächter der beiden andern, in schwülstigem Tone zu beten:
"Unser Vater . . . der du bist . . . im Himmel . . .
Er kam nicht weiter, und jählings verstummte das Gelächter. Wie von einer Schlange gebissen, prallten die drei vom Tische zurück. Ihre Gesichter verzerrten sich. Die Haare standen ihnen zu Berge.
Das Zünglein des weißen Männchens hatte sich langsam zu bewegen begonnen und lallte setzt ein paar Laute, immer dieselben, derweilen der Kopf schwerfällig hin und her wackelte. Nicht lange, da regten sich auch die Aermchen und Beinchen, und erst mühsam, dann ein wenig gelenker, beinelte das seltsame Wesen auf der Tisch
platte umher, hüpfte plötzlich auf den Boden, von hier auf das Fenstergesims und verschwand in der Nacht.Nur langsam erholten sich die drei Gesellen von ihrem Schrecken. Dann aber belachten sie den Streich und legten sich aufs Ohr.
Mitten in der Nacht wachte einer der Sennen auf. Hatte da nicht jemand gesprochen ?
Noch schlaftrunken hob er den Kopf und schaute gegen das Fenster. Ueber den Gräten stand der Mond und warf einen bleichen Lichtstreifen auf den Boden des Gadens. Und diesem Lichte schwebte eine kleine Gestalt unruhig hin und her. Er erkannte sie gleich: es war das Britschenmännchen.
Setzt völlig wach geworden, starrte der Bursche erschrocken nach ihm hin.
Den Leib von einer Seite auf die andre werfend, die Arme in der Luft herumschlenkernd, torkelte der sonderbare Gast gleich einem Betrunknen über die weiße Fläche. Und gespensterhaft wie er selber gaukelte sein Schatten neben ihm auf dem Boden hin und her. Ab und zu gurgelte er ein paar abgebrochne Worte hervor, wie einer, der gerne sprechen möchte und doch nicht kann, oder ging wohl auch zum Fenster, klopfte mit seinen stechenden Fingern an die Scheiben und grinste nachdenklich zum gestirnten Himmel hinauf.
Es war für den Sennen ein unheimlich Hinschauen und Hinhorchen. Noch unheimlicher aber erschien ihm das Männchen, als es sich plötzlich nach ihm umwandte und ihn ein ganzes Weilchen bewegungslos anstarrte. Und als es gar wieder Arme und Beine zu bewegen anhub und unter schrecklichen Gebärden auf sein Lager zugetaumelt kam, da packte den Sennen das Grausen, und sein Kopf fuhr im Hui unter die Decke.
Nicht lange, da hörte er auch schon über sich das Schlucken und Lallen, spürte deutlich, wie das kleine Ungeheuer gleich einer Katze auf der Decke herumtälpelte, und ihm lief es heiß und kalt über den Rücken hinab. In seiner Angst, das Scheusal könnte unter die Decke greifen und ihn mit seinen Spinnenfingern erwürgen, hielt er den
Atem an und stellte sich tot. Und tat nur ab und zu einen kleinen Schnauf, um nicht zu ersticken. Es war ihm gräßlich zumute.Indessen nahm, wie alles auf der Welt, auch das ein Ende. Er hörte und verspürte endlich nichts mehr, und also streckte er denn seinen Kopf behutsam wieder hervor, um erst nach Luft zu schnappen und sich sodann in der Kammer umzusehen: er war wieder allein und der Spuk verschwunden.
Auch den beiden andern Knechten wartete das Britschenmännchen in den folgenden Nächten mit einem Besuche auf, und von nun an hatten die drei Gesellen keine ruhige Stunde mehr. Es plagte sie fort und fort, erschien ihnen des Nachts im Gaden, hüpfte von hier in die Küche, wo es sich mit Vorliebe am Käskessel zu schaffen machte, oder spukte auf dem Dach und um die Hütte herum. Der Käse, den die Sennen herstellten, blähte sich und verdarb, ein paar Kühe stürzten, man wußte nicht wie das geschah, über die Felsschöpfe zu Tode. Die Sennen hatten setzt das Spotten verlernt, und ihnen ward erst wieder wohl, als sie im Herbst zu Tale treiben konnten.
Die Alp kam in Verruf. Kein Senn getraute sich fürderhin, dort oben das Vieh zu weiden. Das bekümmerte den reichen Bauer sehr, und er fragte bald hier, bald dort, auf welche Weise wohl das böse Männchen zu vertreiben wäre. Doch niemand wußte Nat.
Da kam eines Tages ein Hexenmeister aus dem Wallis ins Tal herüber. Auch dem vertraute der Bauer seine Sorge an.
"Wählet euch im Stall einen jungen Stier aus ", sprach der Hexenmeister , nachdem er ein Weilchen in seinem Zauberbuche geblättert hatte. Gebt ihm reichlich zu fressen, zum Trinken aber nur Vollmilch, und pflegt ihn gut. Tut das sechs Jahre lang, und er wird zum starken Stier angewachsen sein. Dann läßt ihr ihn auf die Alp führen, und alles weitere wird sich finden. Und sollte er's gar mit dem Bösen zu tun haben — glaubt mir, Bauer, er wird auch mit dem fertig werden.
Der Bauer tat, wie ihm geraten. Nach sechs Jahren war aus dem jungen Tier auch wirklich ein gewaltiger Stier geworden, doch fand
sich weit und breit kein Knecht, der es gewagt hätte, ihn auf die Alp zu geleiten. Schon wollte der Bauer verzagen. Da erbot sich endlich ein Mägdlein, das Wagnis zu unternehmen.Eines Morgens stieg das wackre Kind die verrufne Alp hinan, den Stier am Seile führend, der gemächlich neben ihm hertrottete.
Kaum waren die beiden vor der Hütte angelangt, da flog die Tür auf und heraus wirbelte das weiße Ungeheuer und stürzte sich fauchend auf den Stier.
Und ein gewaltig Ringen hub an, ein Brüllen und Toben, als fahre eine Lawine zu Tal. Gleich einer Wildkatze krallte sich der Irrwisch am Tiere fest, bohrte seine stechenden Finger in Hals und Körper, biß und riß und zerrte, also daß das Blut in Strähnen herabtroff . Der Stier, Eisen und Stahl im Leib, den wuchtigen Kopf am Boden, den Schwanz in der Luft, wand und drehte sich, den Gegner abzuschütteln, stand einen Augenblick still wie ein Bock, um im nächsten in hirnwütigem Laufe herumzusagen. Umsonst. Er ward des höllischen Männchens nicht los.
Da — es hatte sich gerade auf seine Hörner geseit — schnellte der Stierkopf mit Riesenkraft in die Höhe, und diesem Ruck war das Ungeheuer nicht gewachsen: es verlor seinen Griff und sauste wie eine Sprungfeder in die Luft. Als es aber nieder kam und kaum den Boden berührte, da war der Stier auch gleich zur Stelle, spießte das böse Männchen auf sein Gehörn und zerstampfte es mit seinen Hufen.
Jetzt war die Alp erlöst. Von jener Zeit an durften dort die Sennen wieder ruhig ihrer Arbeit nachgehen, hüteten sich aber wohl, fürderhin mit heiligen Dingen ihr Gespött zu treiben.
Der Schatz im Hügel
Beim kleinen Gerzensee, nicht weit von Thun, lebte vor Setten ein alter Bauer. Der hatte Kasten und Speicher voll, sein Herz aber war leer, weil das Glück nicht darin wohnte. Denn, ob der Mann gleich reich war, daß man mit seinem Geld ein Schloß hätte bauen können, wär er ums Leben gern noch viel reicher geworden, und das geschwind, ohne sich länger mit Arbeit zu plagen.
Er grübelte darüber Tag und Nacht. Da munkelte man im Dörfchen von einem Schatze, der im nahen Hügel verborgen sei. Der Schatz ruhe auf einem mächtigen Wagen, und schon oft hätten Leute, die zu nächtlicher Stunde am Hügel vorbeigegangen, das Rasseln des Wagens vernommen.
Dem Bauer lief das Wasser im Munde zusammen, als ihm das zu Ohren kam. Er spürte begierig dem Gemunkel nach, horchte bald hier, bald dort, bis endlich ein altes Weiblein genauen Bescheid wußte.
Am Ostertage, um Mitternacht, also erzählte das Weiblein, öffne sich der Hügel ein wenig auf der Morgenseite, und des Wagens Deichsel trete aus dem Innern hervor. Wer nun den Schatz gewinnen wolle, der müsse um jene Zeit mit Roß und Rind zur Stelle sein, diese gleich einspannen und versuchen, den schweren Wagen herauszuschaffen. Gelinge ihm dies, bevor eine Stunde verstrichen, dann sei der Schatz sein eigen, wenn nicht, raßle der Wagen in den Hügel zurück. Schon mancher, fügte das Weiblein hinzu, habe das Wagestück unternommen, noch feder aber sei mit leeren Händen nach Hause gegangen.
Jetzt war des alten Nimmersatts Ruhe dahin, und all sein Geld und Gut freuten ihn nicht mehr. Was bedeutete das, also sprach sein töricht Mund, gegen den Schatz, der im Hügel vergraben lag ? Ein Vettel war s, eine Lumperei, nicht der Mühe wert, sich noch weiter drum zu scheren. Wenn es aber bisher noch keinem gelungen, den
Wagen ans Licht zu ziehen, so habe das Schicksal wohl ihn ausersehen das Werk zu vollbringen.Bon nun an zog der Narr allnächtlich aus mit einem großmächtigen Hammer, klopfte auf der nach Osten zugekehrten Seite an fede Grashalde, an jeden Sandhaufen, und horchte gespannt, ob es hohlklinge und ihm die Stätte des Wagens verraten täte. Und als sich ihm die gewünschte Stelle auch nach Monaten nicht kundtun wollte, da ward er nur hitziger darauf und fuhr unverdrossen fort, den Hügel von unten bis oben und von oben bis unten durchzuhämmern.
Viel gesprochen hatte der Geizkragen mit den eingefallnen Wangen und den zusammengekniffnen Lippen zeit seines Lebens nicht. Das trug ja nichts ein. Jetzt gab er niemand mehr ein Wort, brütete heimlich über seltsamen Büchern, die er um wenig Geld von einem Händler erstanden, und guckte fleißig zum Nachthimmel hinauf, zu erfahren, ob ihm wohl die Sternlein hold gesinnet und seinen Wunsch nicht bald erfüllen würden.
Als aber die Osterzeit näherrückte, ohne daß der Narr die Stelle im Hügel gefunden, da war ihm doch ein wenig bange, so daß er einen Schwarzkünstler aufsuchte, ihn um Rat zu befragen. Deren gab es zu jenen Zeiten gar viele. Die taten, als hätten sie Macht über allerlei Geister, sa über den Bösen selber, waren aber im übrigen geartet wie etwa unser Bauer: sie liebten das Geld über alle Maßen.
Fürs erste, und noch bevor der Hexenmeister seinen Mund auftat, mußte also unser Mann ein Säcklein Geld auf den Tisch legen, und wenn ihm hiebei auch die Finger juckten, so tat er es dennoch im Hinblick auf die zu erwartenden Schätze. Mit einer heißen Kohle beschrieb nun der Beschwörer ein paar Kreise auf den Boden und versah sie hier und dort mit einem Kreuze, wobei er gar seltsame Worte murmelte. Fuchtelte sodann mit einem Haselstocke in der Luft herum und starrte am Ende ein ganzes Weilchen in den schwarzen Rauchfang hinauf, also daß der Bauer jeden Augenblick vermeinte, es werde nun der Böse selber herabsteigen und mit dem Meister Zwiesprache halten.
Als der Alte nach acht Tagen wieder kam, teilte ihm der Schwarzkünstler mit, die Stelle sei gefunden, am nächsten Ostertage werde die Deichsel des Wagens mächtig in die Lüfte ragen, und er müsse nun alles bereitstellen, den Wagen herauszuziehen. Auch dürfe er ja nicht vergessen, an jener Stelle bis zur besagten Zeit etliche kohlschwarze Böcke zu schlachten; denn so manchen Bock er schlachte, so manche Goldkiste mehr würden die Geister auf den Wagen laden.
Der Narr tat, wie ihm geheißen. Er ließ sich das Geld nicht reuen und schaffte in den nächsten Tagen alle schwarzhaarigen Böcke herbei, die er etwa im Lande auftreiben konnte, schlachtete sie heimlich zu mitternächtlicher Stunde auf dem Schatzhügel ab und war fast ein wenig enttäuscht, daß der Boden nicht schon jetzt anschwoll von den Goldkisten, die er verdient zu haben glaubte.
Heimlich, auf daß kein Mensch ihm etwa den Raub streitig mache, richtete der Alte auch alles übrige her, schickte sodann am Ostermorgen seine Frau, seine Knechte und Mägde über Land, und atmete erst wieder auf, als er gegen Abend den Troß musterte, der dem Hügel den Schatz entreißen sollte.
Da standen nicht weniger denn vier Hengste nebst vier gewaltigen Stieren, durch nahrhaftes Futter stark geworden. Da lagen Ketten und Seile in Menge, Peitschen, die Tiere anzufeuern, Hebel und Stangen, die Räder zu fördern. Nichts war vergessen, und wenn der Beschwörer sich nicht etwa in der Stelle geirrt hatte, konnte die Sache nicht fehlen.
Die Nacht brach an. Die Fledermäuse schwirrten, die Käuzlein wehklagten, schaurig ertönte der Unke Geschrei. Da trieben die beiden Geldwölfe, die Peitsche in der Hand, die Herzen voll Gier, ihre Herde der Stelle zu, die ihnen wohlvertraut war. Dort angekommen, mühten sie sich im Finstern — denn Lichter zu brennen wagten sie nicht — Zugtiere und Geräte in Bereitschaft zu setzen. Und als sie damit zu Ende gekommen, band der Beschwörer dem Alten nochmals auf die Seele, während der Geisterstunde nur sa kein Wort zu sprechen. Geschehe
es dennoch, so fahre der Wagen wieder in den Berg zurück, und alles sei verloren.Da schlug es zwölf im Dörfchen drunten. Kaum war der letzte Ton verklungen, erfolgte ein Donnerschlag. Die Erde spaltete sich, und eine Deichsel, drei Spannen dick, die Spitze in einen bläulichen Schwefeldunst gehüllt, schoß dicht vor den Nasen der beiden Männer aus der Tiefe. Erschrocken prallten sie zurück. Doch da galt kein lang Besinnen. Stiere und Hengste wurden in Windeseile vorgespannt und auch gleich mit Peitschenhieben angetrieben.
Die kraftvollen Tiere zogen an. Und siehe da! Wenn auch nur Ruck um Ruck — es ging doch vorwärts. Die Erde öffnete sich mehr und mehr, schon traten die mächtigen Vorderräder ins Freie, Speichen und Felgen erglänzten im Schwefellichte, und auf dem Wagen — Herrgott! welch ein Schimmern und Flimmern von all den Reichtümern , die da aufgeschichtet waren!
Jetzt nur nicht nachgeben! Die Tiere dampften, sträubten sich, bäumten sich, und zogen wiederum an. Und wie die Tiere so mühten sich, der eine zur Linken, der andre zur Rechten, aus Leibeskräften die beiden Schatzgräber. Sausend fuhren die Peitschen nieder, mit Hebebäumen wurde nachgeholfen, und wie jetzt auch die schwefelgelben Hinterräder herausrückten, da griffen sie in die Speichen.
Nicht mehr lange, und der Schatz mußte gehoben sein. Dem
Bauer schwoll das Herz vor Wonne, und als er nun, einen Augenblick verschnaufend, die mächtigen Barren und Goldkisten vor sich aufgetürmt sah, da vergaß er die Mahnung des Beschwörers und wieherte plötzlich in taumelnder Gier:"Iuhei, jetzt haben wir's dann bald!
Kaum war ihm das Wort entfahren, da erdröhnte der Boden, und ein furchtbares Gerassel und Gestampfe hub an, so daß der Unglückliche , vom Lärm betäubt, auf den Boden schlug und bewußtlos liegenblieb. Roß und Stier und Wagen aber fuhren setzt, wie von unsichtbaren Händen gezogen, schnell und immer schneller in den Schlund zurück. Umsonst war all der Tiere Mühen, sich zu stemmen und zu wehren, vergeblich schlugen sie ihre Hufe und Klauen fußtief in den Grund. Gegen die höllischen Mächte, die da wirkten, waren all ihre Kräfte ein bloßes Kinderspiel, und der ganze Troß mitsamt dem Teufelsbeschwörer ward von der Erde verschlungen.
Als der Morgen graute, lag der Grasboden zerstampft, von Tier und Wagen aber, von Geschirr und Ketten war keine Spur mehr zu entdecken. Und wie der Mann aus seiner Ohnmacht erwachte und sah, daß nun all sein Hoffen dahin, dahin auch alles, was er dafür geopfert, da packte ihn der Wahnsinn. Er zerkratzte sich das Gesicht, er warf sich auf der Erde herum, sie mit zuckenden Fingern aufwühlend. Er sprang plötzlich hoch in die Lüfte, schaute dann mit stierem Blick um sich und rannte am Ende unter schrecklichem Geheul der nahen Aare zu.
Kein Mensch hat ihn se wieder gesehen.
Die Felsenjungfrau
Hinter dem Grate, der sich von der Sulegg nach den Schwalmernhörnern hinüberzieht, liegt eine Weide, die Sulsalp genannt.
Es ging gegen den Herbst. Die Alp war abgewendet, und Hans, der Senn, trieb seine Kühe zusammen und fuhr zu Tal. seinem Dörfchen angelangt, kam ihm indessen in den Sinn, daß er in der Hütte droben etwas vergessen, und also machte sich der junge Hirte am folgenden Morgen wieder auf, das Vergessne zu holen.
Der Weg führte ihn neben einem Brunnen vorbei, an dem er seine Herde schon oft getränkt hatte. Vom langen Gehen durstig geworden, , ging er hin und trank nun selber von dem Wässerlein.
Wie aber der Senn weitergehen wollte, gewahrte er plötzlich einen großen Schlüssel, der hinter dem Brunnen auf dem Nasen lag. Er hob ihn auf, und es zeigte sich, daß der Schlüssel alt und rostig, doch sehr kunstreich geformt war, wie ihn kaum ein Schlosser jener Gegend hätte verfertigen können.
Derweil nun Hans verwundert dastand und sich fragte, wozu der seltsame Fund wohl dienen möchte, fiel sein Blick wie von ungefähr auf eine Felswand, die sich nicht gar weit von ihm in die Höhe zog, und auf eine eiserne Türe darinnen, die er zuvor noch nie gesehen. Es fuhr ihm durch den Kopf, daß der Schlüssel vielleicht zum Oeffnen dieser Türe bestimmt sei, eilte hin, und wirklich: er paßte genau ins Schloß. Der Senn drehte ihn nicht ohne Mühe um, und knarrend sprang die Tür auf.
Ein dunkler Gang starrte ihm entgegen, vorn von des Tages Licht ein wenig erhellt. Durfte er es wohl wagen, einzutreten ?
Nach einigem Besinnen tat er zögernd ein paar Schritte vorwärts , tappte, mit den Händen den Wänden entlangfahrend, Dunkel weiter und weiter und erreichte nach kurzem eine geräumige Höhle. Durch eine schmale Spalte in der Decke fiel ein Lichtstrahl, der den Naum ein wenig erhellte.
Bon wachsender Neugier getrieben, durchschritt der Senn die
Höhle, tastete sich wieder durch einen dunklen Gang und betrat ein zweites Gewölbe, worinnen es indessen schon heller und freundlicher aussah. Der Boden war mit bunten Steinen belegt, Wände und Decke schienen aus Kalkstein, am Ausgang aber hing zum Verwundern des Mannes ein mächtiger Vorhang aus schwarzem Samt, der mit Sonnen und Sternen übersäet war.Behutsam schob er die beiden Schöße ein wenig auseinander und steckte den Kopf durch die Spalte.
Eine Flut von Licht strahlte ihm entgegen, daß er auf einen Augenblick zurückprallte und erst nach und nach einen Saal unterschied , wie er ihn so herrlich nie erträumt hatte.
Das Licht ging aus von einem goldnen Kronleuchter, der von der Decke herniederhing und dessen Arme wohl hundert Wachslichter trugen. In rötlichem Marmor schimmerten die Wände. Ihnen entlang , aus Marmor geformt und auf hohen Sockeln stehend, blickten schöne Hirtenknaben und Hirtenmädchen träumerisch vor sich nieder auf das Lämmchen zu ihren Füßen. der Mitte des Saales aber erhob sich ein rnarmorner Tisch mit einem einzigen Untersatz von mächtiger Art, und auf diesem Tische funkelten ein Häuflein Gold und daneben eine goldene Kuhglocke.
Derweilen der Senn noch ins Anschauen der ihm ungewohnten Dinge verloren, vernahm er aus der Tiefe des Saales einen Seufzer und bald darauf eine sanfte Stimme:
"Was zögerst du? Tritt ein!
Nicht ohne Bangen ließ Hans den Vorhang fahren und tat ein paar Schritte auf den Tisch zu.
Da trat ihm eine Jungfrau entgegen, hoch und schlank von Wuchs, bis zu den Füßen in ein weißes Gewand gehüllt. Schön und lieblich war ihr Angesicht, ihre Augen voll Milde und Liebe, und wie ein Mantel fiel das golden schimmernde Haar über ihren Nücken nieder.
"Sei mir willkommen, o Sohn der Berge ", sprach sie. "Möge Gott dich bestimmt haben, mich zu erlösen. Höre auf meine Worte.
Ich lebte vor langen Jahren als zwanzigjähriges Mägdlein in einem Dörfchen hier in der Nähe und hirtete die Schafe meines Vaters. Ich war glücklich. Mein Vater, ein wackerer Mann, ließ es mir an nichts fehlen und behütete mich, sein einziges Kind, wie seinen Augapfel. Da geschah es, daß ein Bettelweib — es war die böse Waldfrau, vor der sich alle Leute fürchteten — eines Abends bei uns anklopfte und um ein Almosen hat. Mein Vater aber, der das Weib auch nicht leiden mochte, wies sie von der Tür. Da ergrimmte die Frau, hob drohend die Faust und schrie:
Wart, Bauer, das sollst du mir büßen. Dein Töchterlein, dein Eins und Alles, soll von Stund an verflucht sein, und das so lange, bis ein Senn sie dereinst erlösen wird.»
Bon senem Tag an war ich verdammt, hier in dieser Felsenhöhle mein Leben zu verbringen, in Glanz und Pracht freilich, doch einsam, fern von den Menschen und ohne ihre Liebe, verzaubert durch den Spruch der bösen Frau, und warte nun schon seit langen Jahren auf den Sennen, der den Bann von mir nehmen soll. Setzt aber, glaube ich, ist meine Qual zu Ende. Denn du bist wohl der Senn, von dem das böse Weib gesagt, er werde mich erlösen.
"Und was hätte ich denn zu tun, dich zu erlösen ?" " fragte dieser mit unsicherer Stimme.
Das will ich dir sagen ", fuhr sie fort. ,Siehe, unter drei Gaben hast du dir eine auszuwählen. Die erste Gabe besteht in dem Häufchen Gold, das hier auf diesem Tische liegt, die zweite in der goldenen Kuhglocke, die dritte aber bin ich selber. Wählst du eine der beiden goldenen Gaben, bist du mit einem Schlag ein reicher Mann. Ob freilich der Reichtum glücklich macht, ist eine andre Frage. Wählst du dagegen die dritte Gabe und nimmst mich zur Frau, so wirst du damit nicht reich — denn ich muß alle diese Schätze hier zurücklassen —, aber glücklich und zufrieden. Und hast damit zugleich eine edle Tat getan und ein armes Menschenkind aus seiner Qual erlöst. Nun wählt! Bedenke aber wohl, was du tust!
Der Senn ließ seine Augen eine Weile auf den drei Gaben herumgehen und überlegte.
Die beiden goldenen Gaben gefielen ihm über alle Maßen, besonders die herrlich geformte Glocke, die wohl auch einen wundersamen Klang haben mußte. Seine Leitkuh würde nicht wenig stolz sein, wenn er sie ihr eines Tages umhängen würde! Mit der Jungfrau dagegen war das so eine Sache. Ein wenig freilich tat ihm ihr Elend leid. Doch was ging ihn das am Ende an? Er war sa nicht schuld daran. Und wollte er einmal heiraten, dann gab es der Jungfrauen genugsam im Tale drunten. Eine Gelegenheit aber, schnell reich werden, bot sich ihm nicht alle Tage, und also entschloß er sich für die zweite Gabe.
"Ich nehme die Glocke ", sprach er, erfaßte sie auch kurzerhand oben am Ring, hob das schwere Ding nicht ohne Mühe vom Tisch und schickte sich an, den Saal zu verlassen.
Verzweifelnd stand die Jungfrau da — einer Ertrinkenden gleich, die sich mit Mühe und Not dem Strande genähert und gerettet glaubt, dann aber von einer mächtigen Welle erfaßt und sich wieder in die Tiefe zurückgeschleudert sieht.
"Unmensch ", rief sie, "mußtest du nur darum zu mir kommen, mein Leid noch größer, mich noch unglücklicher zu machen, als ich es bis dahin gewesen ? So möge denn auch dir kein Glück mehr blühen, wohin du auch deine Schritte lenken magst!
Da schlich der junge Mann eina mit der Glocke von dannen. Der Boden schien unter seinen Füßen zu wanken, ihm war, als müßten die Höhlen über seinem Kopfe zusammenbrechen.
Im Freien angelangt, stürzte der Senn wie betäubt auf den Rasen nieder und fiel einen dumpfen Schlaf, aus dem er erst am folgenden Morgen erwachte.
Er hätte gerne alles für einen Traum gehalten. Die Glocke aber, die neben ihm lag, belehrte ihn eines andern, wenngleich die geheimnisvolle Türe verschwunden war.
Hans kehrte nach Hause, das Herz voll Neue darüber, daß ihn das Gold also betört hatte. Was ihm aber die Jungfrau angewünscht , traf ein.
Hin war von jenem Tag an der Friede seines Herzens, und er fand ihn nicht mehr bei Tag und bei Nacht. Da verkaufte er all seine Habe, verkaufte auch die Glocke und zog in die Welt hinaus.
Doch auch im fremden Lande fand Hans das Glück nicht, ward gequält von seinem Gewissen, gemieden von den Leuten, die, also deuchte ihn, ihm sein Unglück von der Stirne lasen.
Nach Jahr und Tag kehrte er wieder in seine Heimat zurück und kam eines Abends zu einer abgelegenen Alphütte, vor der ein alter Mann mit weißem Haar auf den Knien lag und Holz spaltete.
Kann ich hier die Nacht zubringen?" fragte der Senn. "Ich bin müde und bedarf der Ruhe.
"Ich will hingehen und den Vater fragen ", erwiderte der Alte.
Mit diesen Worten verschwand er, erschien aber bald wieder und führte den Sengen in ein Stübchen, darinnen ein steinalter Mann am Tische saß.
"Dich scheint ein Kummer zu drücken ", sprach der Greis zum Gaste, nachdem er ihn aufmerksam betrachtet hatte. Komm, setze dich her zu mir und erzähle, was dein Herz betrübt. Alles Schwere im Leben wird leichter, wenn man von ihm reden darf.
Der müde Wandrer setzte sich an den Tisch und erzählte, wie es ihm ergangen und warum er nirgends Ruhe finden könne. Als er geendet, erhob sich der Alte und sprach:
"Ich bin zeit meines Lebens immer gastfreundlich gewesen und werde es auch heute sein. beherberge dich diese Nacht. Morgen aber in der Frühe packe dich fort. Denn wisse: dtn der Vater gener Jungfrau, die du damals hättest erretten können, es aber nicht getan hast, und die nun noch unglücklicher fein wird als zuvor. Wußtest du denn nicht, daß eine Menschenseele aus Not und Qual erretten mehr wert ist als alles Gold auf der Welt?
Mitten in der Nacht verließ der ruhelose Mann die Hütte, und niemand hat ihn von jener Stund an wieder gesehen.
Vom goldenen Zeitalter
Gar schön und lieblich sind die tiefer liegenden Täler unsrer Heimat , bedeckt mit grünen Matten und dunklen Wäldern, durchflossen von rauschenden Bächen und blauen Geen. Steigen wir aber in die Hochtäler hinauf, dann blickt uns überall nackter Fels entgegen, zwischen himmelanstrebenden Zacken und Zinken schlängeln sich grünlich schimmernde Gletscher, lagern sich Eismeere mit erstarrten Wogen und klaffenden Tiefen, dehnen sich stundenlange Schneefelder. Kein Haus, kein Baum ist da zu sehen, kein Laut zu vernehmen als dann und wann das Donnern einer Lawine, das Heulen des Windes oder der langgezogene Pfiff eines Lämmergeiers im dunklen Blau des Himmels. Ob in der Ebene drunten das Korn reift und die Rebe blüht — hier oben ist alles kalt und weiß und tot. In wilder Schönheit leben diese Hochlandstäler dahin, einsam und unberührt gleich einem Stück Vorwelt, das erst gestern aus Gottes Hand hervorgegangen.
Dennoch — so erzählt uns die Sage — soll einst eine Zeit gewesen sein, wo auch in diesen Tälern frisches Leben blühte. Um den schäumenden Bach, der den Talgrund hinabfloß, stand hier und dort ein freundlich Dörfchen, breiteten sich blumige Wiesen aus. Tannen- und Arvenwälder bedeckten die Hänge, darüber erglänzten die sonnigen Alpweiden. Auf ihnen weideten, neben den Kühen, ganze Herden von Gemsen das saftige Gras und näherten sich zutraulich den Sennhütten, um aus des Hirten Hand das Salz zu lecken. Von Zank und Streit wußten die damaligen Menschen nichts. Sie taten auch keinem Tier etwas zuleide und lebten glücklich und sorglos dahin wie die Kinder.
Die Kühe jener Zeit waren von gewaltiger Größe. Sie wurden dreimal des Tages gemolken und ergaben einen solchen Ueberfluß an Milch, daß man Teiche graben mußte, sie darin aufzubewahren, und mit einem Schiff hinausfuhr, den Rahm von diesen Milchseen abzunehmen.
Die ganze Bergwelt unsrer Heimat muß in jenen Zeiten ein gesegnet Land gewesen fein, und überall dort, wo sich heute gewaltige Eisströme zu Tale winden, breiteten sich damals herrliche Alpweiden aus, die man, weil sie über und über mit Blumen besät waren, Blümlisalpen nannte. Eine solche zog sich von der heutigen Blümlisalp ing Kandertal hinab, eine andre von der Jungfrau ins Tal von Lauterbrunnen. Auch die Täler, durch welche sich jetzt die blauen Fluten des Unteraar-, des Lauteraar- und des Gauligletschers ergießen , sollen einstmals solch blumige Alpen getragen haben.
Wenn es nun aber den Menschen allzugut ergeht, werden sie leicht übermütig, und manch eine Sage berichtet uns, in welcher Weise Gott diese Uebermütigen strafte und die Alp untergehen ließ.
Vom Städtchen Thun aus blicken wir voll Staunen hinauf nach der Blümlisalp — senem Berge, der, in die Lücke des Frutigtales gebettet, wie eine gewaltige Burg gen Himmel ragt. ein blendendweißes Gewand gehüllt, liegt sie breit und mächtig da und schaut von der Höhe ihrer Zinnen ruhig und heiter hernieder auf die furchtbar vergletscherte Welt zu ihren Füßen.
Vor Zeiten aber prangte der Berg in grünem Schmucke, und von den Zinnen weg bis hinab zum Felfenhang breitete sich eine herrliche Alpweide aus. Kaum daß im Sommer ein schmaler Streifen Schnee dicht unter dem Gipfel ungeschmolzen blieb. war es denn eine Lust, die Kühe zu weiden, die Alp ernährte Hirten und Herde in reichlichem Maße, also daß ein wackerer Mann das wohl hätte zu schätzen vermögen.
Es hauste aber auf dem Berg ein Senn. Als der sah, wie die Milch in Strömen floß und sein Reichtum mit jedem Tage wuchs, da faßte ihn der Uebermut beim Schopf. Er riß seine alte Hütte nieder und baute sich eine neue aus braunem Arvenholz, mit Täferwerk und blitzenden Fenstern. Statt aus Brettern und Balken richtete er eine Stiege her aus Käselaibern und schweißte sie zusammen mit goldener Butter. Mit Käselaibern ward auch das Dach beschwert, aus Quark
ein Zaun um die Hütte erstellt. Und um das Maß noch voll zu machen, lebte er von nun an, die reine Sitte des Landes verachtend, mit einer Magd zusammen, einer schamlosen Dirne, und tat dieser alles zuliebe, was er ihr von den Augen ablesen konnte.Es begab sich aber, daß seine alte Mutter an einem Sonntag zur Hütte hinanstieg, ihren Sohn zu besuchen.
Müde und durstig geworden vom langen Gehen, erreichte sie endlich die Alp, traute aber ihren Augen nicht, als sie den neuen Stafel *) gewahrte und sah, wie alles außen und innen mit Gottes heiligen Gaben hergerichtet und geschmückt war. Auch ihr Sohn, das merkte sie gleich, war nicht mehr derselbe. Statt wie früher die Mutter herzlich zu begrüßen, sie zu Tische zu laden und ein einfaches Mahl bei muntrer Red mit ihr zu teilen, stand der Junge heute breitspurig vor der Tür, neben ihm die Dirn, beide lachten ihr frech ins Gesicht und boten der freundlich Bittenden höhnisch eine Schale saurer Milch, die sie zu alledem noch mit Sand vermischt hatten.
Der alten Mutter schnürte es das Herz im Leibe zusammen. Ohne die Schale zu berühren, wandte sie sich ab und wankte wie zu Tode getroffen die Alp hinab. Als die Frau aber den Waldsaum erreichte, da drehte sie sich um, hob zornglühend die Faust und rief, daß ihre Stimme gellend in den Flühen widerhallte:
"Ihr Berge, brechet nieder und decket zu meinen Sohn und seine Dirn, die Hütte und all sein Vieh, und rächet den Frevel, den er an feiner Mutter verübt hat!
Schlaff sank die Hand nieder, die zornrote Wange erblaßte. Ein Grauen überlief ihren Leib, und vom Schwindel erfaßt fiel sie hin auf den Boden.
Da ging ein Aechzen und Stöhnen durch du Luft, die Bäche begannen zu rauschen. Ueber den Bergen verfinsterte sich der Himmel, die schwarzen Wolken zuckten ein paarmal auf, murrend grollte der Donner nach. Dann — ein Flammenschein, ein fchmetternder Schlag.
Im Abendscheine wankte die arme Mutter zu Tal.
"Du hast gerichtet, Gott murmelte sie leise vor sich hin. Sei gnädig nur der Seele sein!
Melkt denn keiner die Kuh, die uns so böse verfolgt? Müssen wir ewig verdammt sein ?
Es versuchte aber ein wagemutiger Hirt aus dem Tale, die Kuh zu melken, um die Alp zu erlösen und auch aus Erbarmen mit den beiden Verdammten.
In finstrer Nacht stellte er das grimme Tier, löste vom Euter du Dornen, mit denen es über und über umwunden war, und hub an, es zu melken. Schon hatte sich der Eimer bis zur Hälfte gefüllt, da klopfte plötzlich jemand dem Hirten auf die Schulter und fragte:
"Schäumt's auch wacker ?"
Nichts argwöhnend, versetzte der Hirte:
"Et freilich. Warum sollt es auch nicht ;
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da griffen seine Hände ins Leere. Die Kuh war verschwunden und stellte sich ihm nie wieder.
Denn schweigend nur vollbringt man solch ein rettend Werk.
Jahrhunderte sind seitdem verstrichen. Doch der Bann, der auf dem Berge lastet, blieb ungehoben und wird es wohl bleiben zum ewigen Wahrzeichen dafür, wie Stolz und Uebermut des Menschen Verderben sind.
Die feindlichen Brüder
Etwas unterhalb Zweisimmen liegt auf sonniger Höhe ein Weiler, die Hofstätten genannt. Er besteht aus einem Dutzend heimeliger Wohnhäuser, die von mächtigen Ahornbäumen beschattet sind, und gewährt einen weiten Blick über das anmutige Tal der Simme und hinauf zu den Hängen und Felsen des Niedtrhorns.
Hier oben lebte vor Zeiten ein Mann. Der war alt, und als er seine letzte Stunde nahen fühlte, rief er seine beiden Söhne zu sich und sprach:
Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet und es damit so weit gebracht, daß ich euch, meine Söhne, ein stattliches Haus sowie auch ein ordentliches Stück Land als Erbe zurücklassen kann. Verwaltet es gut, haltet treu zusammen und vergeßt der Worte nicht: Friede ernährt, Unfriede zerstört.
Sprach's und schloß die Augen.
Ein paar Jahre lebten die beiden Brüder, der Worte des Vaters gedenkend, friedlich beisammen, aßen am gleichen Tisch, bestellten das gleiche Feld, mühten sich und teilten Freud und Leid redlich miteinander.
Das Hauptstück, das der Vater hinterlassen, war eine prächtige Wiese, die sich bis weit zum Wald hinüber erstreckte. Mitten hindurch floß ein klares Bächlein, und neben diesem stand, auf vorfprlngender Anhöhe, ein mächtiger Ahorn, unter dem eine Bank zum Ruhen einlud.
Es war an einem schönen Maiabend. Der Duft der Blüten, die sinkende Sonne, du Fels und Grat vergoldete, lockten ins Freie. Also wanderten denn auch die beiden Brüder nach dem Essen über die Wiese hinauf zum Ahorn und ließen sich hier auf dem Bänklein nieder.
Eine feierliche Stille ruhte über Berg und Tal. In diese Stille hinein tönte, doch ohne sie zu stören, das friedsame Geläute der Kühe, Vie ringsherum weideten, es lispelten die jungen Blätter im
Ahorn, es plätscherte zu ihrer Seite das Bächlein. Vom Tale herauf, vom weißschimmernden Kirchlein Zweisimmen, hallten wie ein Abendgruß die letzten Glockenklange an ihr Ohr, derweil am Himmel droben ein paar goldumfäumte Silberwolken langsam der Ferne zustrebten.In solch geweihter Stunde, wo die Hände ruhen und es ist, als ob ein Engel segnend über die stillen Felder schreite, da öffnet sich das Herz gleich dem eines vertrauenden Kindes, und der Mund spricht Gedanken aus, die im sorgenden Alltag ungesprochen bleiben. Also erging es setzt den beiden Brüdern, nachdem sie ein Weilchen stumm und ergriffen in den sinkenden Abend hinausgeblickt. Es legte plötzlich der ältere seine Hand in die des jüngern und sprach mit bewegter Stimme:
"Wie schön ist es doch hier oben! Und gar jetzt, in dieser Zeit, wo alles wächst und blüht. Wie würde sich der Vater freuen, könnte er das auch heute wieder sehen! Und wegen uns beiden, mein ich, brauchte er sich nicht zu grämen, leben wir nun doch schon etliche Jahre zusammen, ohne uns auch nicht ein einziges Mal gezankt zu haben. Und so soll es bleiben."
Der jüngere drückte des ältern Hand.
Ja ", sagte er, ihm warm ins Auge schauend, "so soll es bleiben, solange wir leben. Eher möge dies Bächlein, das setzt so friedlich dahinfliegt, zum Wildbäche anschwellen und unsre schöne Wiese mit Schutt überfluten oder sie gar in die Simme hinunterspülen, als daß wir uns se entzweien werden!
"Das walte Gott! antwortete der andre.
Zwei Jahre nach diesem Frühlingsabend verheirateten sich die beiden, und das väterliche Erbe mußte geteilt werden. Alles ging friedlich vonstatten. Als man aber auf die Ahornwiese zu sprechen kam, hub der Streit an. Seiner Frau zuliebe wollte sie keiner dem andern überlassen, und die Abschiedsworte des sterbenden Vaters, alles gütlich zu schlichten, waren auf einmal vergessen. In den leidenschaftlichen Streit mischten sich auch die Verwandten; von den
Nachbarn hielten es die einen mit diesem, die andern mit senem Bruder. Bald kam es so weit, daß die beiden Brüder, die bisher keinen Tag getrennt leben konnten, sich mieden wie Feinde. Die Scheidewand zwischen ihnen ward höher und höher, und da alle Versuche , sie zu versöhnen, fehlschlugen, mußte am Ende der Spruch des Richters entscheiden.An jenem Tage, da der Richter sein Urteil gesprochen, widerhallten am Abend die Räume des Gasthauses in Zweisimmen von den Flüchen der beiden Brüder. Der Unterlegene gebärdete sich wie toll, beschimpfte den Richter und verwünschte seinen Bruder. Dieser blieb die Antwort nicht schuldig, und also waren die beiden nahe daran , aufeinanderzustürzen und sich ein Leid zuzufügen, wenn nicht die als Zeugen berufenen Nachbarn dazwischengetreten wären.
Und weiter glomm der Haß und wuchs in schlaflosen Nächten zum Niesen an. Da griff eine höhere Hand in ihr Schicksal.
Ein Monat war vergangen seit senem Gerichtstag. Da starb plötzlich der eine der Brüder an einem Herzschlag und ward begraben. Der andre, von Gewissensqualen gefoltert, weil sein Bruder unversöhnt von ihm gegangen, begann zu kränkeln, legte sich hin und starb nach kurzem Krankenlager.
Wie durch ein Wunder ward jetzt der böse Streit geschlichtet.
An jenem Tag aber, als man den zweiten der Brüder bestattete, begab es sich, daß ein Mann aus Hofstätten in später Abendstunde die Wiese hinanschritt, die so viel Unheil gestiftet hatte. Da tönte plötzlich vom Ahorn her ein Geräusch an sein Ohr: es schien, als ob dort oben jemand sich mit einem Pickel im Kiese des Bächleins zu schaffen mache. Dem Mann ward unheimlich zumute. Dennoch ging er auf den Baum zu und sah sich dort nach allen Seiten um, vermochte aber niemand zu entdecken, obschon es eine helle Nacht und die ganze Wiese im Lichte des Mondes lag.
Gegen Abend des folgenden Tages zogen sich über dem Niederhorn schwere Wolken zusammen, und in der Nacht brach über Hofstätten ein furchtbares Hagelwetter nieder, wie man es in jener Gegend
noch nie erlebt. Das Bächlein, das bis setzt so harmlos gewesen und auch bei Gewittern nie über seine Ufer getreten, schwoll im Augenblick zum wüsten Wildwasser an, dessen Fluten, mit Schlamm und Schlossen beladen, sich brausend über die Ahornwiese ergossen. Ein Teil der Wiese ward auch gleich fortgerissen und rutschte in den Simmengrund hinab, derweil der andre, als sich am Morgen du Wasser verlaufen hatten, als ödes Schutt- und Steinfeld zurückblieb.Doch auch diesem Teile der Wiese ward kein langes Dasein mehr beschieden. Jenes seltsame Pickeln am Ahorn droben ließ sich im Laufe des Sommers noch mehrmals vernehmen, und immer brach daraufhin ein schweres Gewitter aus, das ein Stück ums andre in die Tiefe riß, bis endlich auch die letzte Scholle weggefpült war.
Also hatte sich das Wort erfüllt, das der eine der Brüder an senem Maiabend gesprochen: ihre schöne Wiese ward von den Fluten des Baches hinweggefegt, als sie sich entzweiten und in ihren Herzen du Flammen des Hasses aufstiegen.
Auf der Bachalp
Auf einer schönen Weide nordwärts von Grindelwald, der Bachab, hütete vor Zeiten ein Büblein die Ziegen des Dörfchens.
Das Büblein führte ein recht armseliges Leben, hatte tagsüber nichts zu essen als ein Stücklein Brot und Käse, das oft schon verzehrt war, bevor es auf der Weide anlangte, und was der Kleine des Abends etwa erhielt von den Leuten, deren Ziegen es weiden mußte, reichte kaum hin, sein ewig hungriges Mäulchen zufriedenzustellen. Dennoch gedieh das Peterlein, also war sein Name, bei dem vortrefflich . Denn wenn ihm auch der liebe Gott nach außen hin gar manches versagt, so hatte er es dafür mit einem fröhlichen Herzen beschenkt, das ihn den Hunger und alle übrigen Mühen des Geißbubenlebens leicht ertragen ließ.
Nur etwas bereitete ihm gar manch kummervolle Stunde. Er hätte nämlich ums Leben gerne gesungen und gejodelt, wie das die andern Hirtenbuben so gut konnten, wenn sie etwa am Abend ihre Herde heimwärtstrieben. Doch hatte der Junge gar keine Stimme, und versuchte er es dennoch, ein Liedchen zu singen, dann klang es falsch, und die andern lachten ihn aus.
Es war im Spätherbst, Küher und Kühe, Buben und Geißen wieder zu Tal. Da stieg das Büblein um die Mittagsstunde zur Alp hinan, um in der Hütte droben für den Meistersennen einen Milchtrichter zu holen, den man beim Abzug vergessen hatte.
Es war ein trüber Tag. Schwere Wolken hingen am Himmel, schaurig wehte der Wind durch den Wald, öde und verlassen lag jetzt die Alp.
Der Junge fand den Trichter an der bezeichneten Stelle, stülpte ihn über den Kopf und trippelte gleich wieder dem Gehölze zu.
Da hub es zu regnen an. ein Weilchen noch trottete das Büblein, sein Schirmdach über dem Kopfe, munter fürbaß. Als aber der Negen immer stärker ward und es auch schon zu dunkeln anfing, da wandte es sich kurz entschlossen um und eilte wieder der Hütte zu,
dort die Nacht zu verbringen und erst am folgenden Morgen zu Tale zu steigen.Triefend wie einer, den man aus dem Bache gezogen, langte das Peterlein vor der Hütte an, stellte den Trichter auf die Bank und schüttelte das Wasser von sich ab. Er öffnete die Hüttentür, öffnete eine zweite Tür zu ebener Erde und sah sich in einer schönen Alpstube.
Durch die Mitte dieser Stube zog sich ein langer Tisch mit Bänken und Stühlen ringsherum. An der Wand stand ein sauberes Bett mit Vorhängen. Wie herrlich, dachte der Hirtenbub, wieder einmal in einem Bette zu schlafen! Als er aber an der andern Wand, auf einem Brette schön nebeneinander gereiht, die Zinnteller mit den runden Löffeln erblickte, da regte sich in ihm plötzlich ein gewaltiger Hunger. Wenn jetzt nur auch etwas zu essen da wäre!
Der Zunge durchstöberte die ganze Hütte nach einem Stückchen Brot, einem Restlein Käse, fand aber nichts. Betrübt schlich er in die Alpstube zurück, warf seine Zwilchhöschen auf einen Stuhl und schloff unter die Decke, den Hunger zu verschlafen.
Es war inzwischen völlig dunkel geworden. Gleichförmig plätscherte der Negen auf das Schindeldach. Ab und zu fegte ein Windstoß um die Hütte.
Nach einiger Zeit erwachte das Büblein. Ein Lichtschein erfüllte die Stube. War es denn schon Morgen ? Ihm schien, als hätte er kaum ein paar Stunden geschlafen.
Er stützte das Köpfchen auf seinen Arm und blinzelte durch die Spalte des Vorhangs. Und wirklich! Das war nicht des Tages Helle, das war ein bläulich dämmriger Schimmer, der auch eher aus dem Boden zu steigen als durch das Fenster zu leuchten schien.
Und wie setzt das Büblein verwundert in die Stube hinausstarrte, hörte er ein leises Knirschen. Im Fußboden, zwischen Tisch und Tür, ward von unsichtbarer Hand ein Brettchen ausgehoben, und gleich einem Mäuschen guckte ein Spitzkopf aus dem Loche. Der schaute sich erst nach allen Seiten um, zu sehen, ob nicht etwa jemand da wäre, fuhr dann vollends in die Höhe, und es zeigte sich ein Männchen, kaum drei Fuß hoch und feingliedrig gewachsen, mit roter Spitzkappe und blauem Wams. In der Hand hielt das Männchen ein rotes Laternchen. Mit dem zündete es in die Tiefe und rief:
"Herauf, geschwind! Die Stud ist frei, Und 's ist halb zwei. Wollen essen und trinken und fröhlich sein, Singen und tanzen und ringelreihn. Heißassa! Juheißassa! Unsre Feierstund ist da! |
Jetzt entstiegen der Tiefe, eins ums andre, noch weitere Erdmännchen, wohl ein ganzes Dutzend. Die aber kamen nicht mit leeren Händen wie das erste. Ein jegliches trug vielmehr auf dem Arm eine silberne Schale mit Speisen und Getränken, mit Messerchen und Gäbelchen und Becherlein, was sie nun alles wohlgeordnet auf den Tisch stellten, nachdem eins zuvor ein weißes Laken darüber gebreitet. Dann setzten sie sich, sechs auf dieser, sechs auf jener Seite, mit unterschlagenen Beinchen auf Stuhl und Bank und buben zu essen an.
Das Peterlein, setzt ganz wach geworden, starrte wie gebannt auf das geheimnisvolle Treiben der Nachtleutchen. Wie sie so dasaßen um den Tisch herum, im bläulich schimmernden Halbdunkel der Stube, ein jegliches sein rotes Laternchen neben den Teller gestellt, wie sie miteinander flüsterten, die schönen Kindergesichtchen sich freundlich zunickten, wie die kristallnen Messerchen und Gäbelchen, die sie so gefällig zu handhaben verstanden, ab und zu aufblitzten, derweilen die silbernen Schalen und Becherchen in mildem Licht erglänzten —
das war ein entzückendes Bild zu schauen, wie er es nicht einmal in seinen Träumen gesehen.Dem Büblein bangte bei all dem auch nicht einen Augenblick. Das mußten wohl die Bergmännchen sein, von denen ihm seine Großmutter erzählt. Und die taten den guten Menschen nichts, hatte sie immer gesagt.
Wie nun der Kleine so ein Weilchen hinblickte auf all die herrlichen Sachen, an denen sich die Leutchen gütlich taten, verspürte er plötzlich wieder feinen gewaltigen Hunger vom vorigen Abend, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Wenn doch nur ein paar Bröcklein zu seinem Bette hergeflogen kämen! Er wär sa schon mit wenigem zufrieden, und die guten Zwerglein hätten es ihm, dem armen Hirtenbuben, ganz gewiß von Herzen gegönnt.
Derweilen er aber die Speisen solchermaßen mit den Augen verschlang , steckte das Peterlein sein Köpfchen, ohne es gewahr zu werden, mehr und mehr durch die Spalte des Vorhangs, bis er es endlich so weit vorgeschoben, daß das Näschen mit Wonne den köstlichen Duft der Gerichte einatmen konnte.
Da trat indessen etwas ein, woran der Kleine in seinem hungrigen Verlangen nicht gedacht haie. Der Duft der Speisen kitzelte ihm nämlich sein Näschen dergestalt, daß er plötzlich, ob wohl oder übel, erniesen mußte und sein Hat-schi vom Himmelbette her dreimal mächtig in die Stube hinausscholl.
Erschrocken sprangen die Männchen von ihren Bänken. Eins aber griff gleich nach seinem Laternchen, schob den Vorhang zurück und zündete ins Bett. Da lag denn das Peterlein, nun selber erschrocken und betrübt darüber, daß er die guten Leutchen bei ihrem Mahle gestört hatte. Setzt kamen auch die andern mit ihren Lichtlein herzu und besahen sich den kleinen Störenfried, worauf sie sich gleich wieder zu Tische setzten und zu flüstern anhuben:
"Ich kenn ihn wohl ", sagte das erste. s ist das Geißenbüblein von der Bachalp ", das zweite. "Ein gutherziger Zunge ", das dritte. |
"Tut keinem Menschen etwas zuleide ", das vierte. Und auch keinem Tierchen ", das fünfte. "Hat einem Rehlein das Beinchen geflickt ", das sechste. Möcht so gern singen ", das siebente. Und kann s nicht ", das achte. "Wollen ihn's lehren ", das neunte. "Ja, ja ", jubelten jetzt alle zusammen. "Wollen ihn's lehren! |
Das zehnte aber erhob sich, legte auf eine große Schüssel einige der köstlichen Speisen und stellte sie vor das Büblein auf die Decke.
"Iss und laß! " sprach es freundlich, was soviel besagen wollte, man solle sich gütlich tun, sich aber nicht vergreifen am Silbergeschirr, :
Das Büblein dankte, setzte sich im Bette auf und griff ohne langes Besinnen zu. Er ass mit kristallnen Messerchen und Gäbelchen, er trank aus silbernem Becherlein, und Dinge, wie sie einem Hirtenbuben nicht alle Tage beschieden sind. Es war ein köstlich Mahl.
Eine Weile noch tafelten die Zwerglein weiter. Plötzlich aber standen sie auf und rückten den Tisch ein wenig gegen die Wand, so daß der Platz frei ward. Eins von ihnen hockte sich sodann auf
einen Stuhl, zog ein Geiglein hervor, setzte es ans Kinn und hub ein träumerisches Lied zu spielen an.Da faßten sich alle übrigen an den Händchen, und die kleinen Körper wiegten sich im bläulichen Dämmerlicht anmutig hin und her. Und wie setzt die Töne leiser und leiser erklangen, bewegten sich auch die kleinen Tänzer immer langsamer, und ihre Köpfchen knickten am Ende zusammen, als wollten sie in Schlaf versinken.
Mit einemmal aber spielte das Geigerlein ein wildes Tänzchen auf. Da fuhren die Männchen mit einem Schrei in die Höhe, so daß der Zunge, der ihnen vom Bett aus mit Entzücken zuschaute, fast erschrak. Sie ließen die Händchen los, und hei! wirbelte setzt ein jegliches wie besessen in der Stube herum. Plötzlich aber brach der Tanz ab, das Spielmännchen steckte das Geiglein unter sein Wams, und die Leutchen hockten sich Kreise auf den Boden.
Nach einer Weile legten sie die Händchen an die Wangen, und ihre Köpfchen hin und her wiegend, buben die Männchen singen an.
Sie sangen erst leis und feierlich. Dem Büblein war, als höre er von der fernen Kirche herüber die Abendglocken läuten, er sah die Sterne am Himmel heraufziehen, die Engel falteten die Hände zum Gebet. Dann gingen die Stimmchen in die Höhe, wurden heller und bewegter. Setzt stieg er, also vermeinte das Hirtenbüblein, frühmorgens mit seinen Geißen auf die Weide. Die Sonne stand golden am Himmel. Er hörte die Glöcklein klingeln, hörte die Geißeln knallen und, ach, das Jauchzen der andern Buben. Nur klang das Lied der Zwerglein noch viel, viel schöner und feiner — wie der Jubel einer Engelschar, deucht' ihn, die über die Berge hinfliegt.
Da war der Gesang zu Ende. Die kleinen Sänger legten die Händchen in den Schoß, und eine Weile ward es still in der Stube.
Dann buben sie wieder an. Diesmal aber klangen ihre Stimmchen dumpf und schwer. Setzt sah sich der Kleine auf dem Friedhof des Dörfchens, sah die weißen Grabsteine, darüber ragten die schwarzen Tannen, und am Himmel stand des Mondes blasse Kugel. Er mußte an sein totes Mütterlein denken und an sene schreckliche Nacht,
die er auf der Suche nach einer Ziege hoch oben in den Felsen hilflos hatte zubringen müssen. Da ward ihm immer weher ums Herz. Er fühlte sich unglücklich und verlassen wie damals, stromweis rollten ihm die Tränen über die Wangen, und er barg sein Köpfchen in die Decke, sich auszuweinen.Nicht lange, richtete er sich wieder auf. Ein Tanzliedchen umschmeichelte jetzt sein Ohr und stimmte sein betrübtes Herz im Augenblick wieder heiter. Das meckerte wie die Geißlein, das hüpfte wie ein Häschen, das jagte dahin wie ein Eichhörnchen und war dann wieder zart und duftig wie ein Elfentanz in mondheller Nacht. Es war zu schön. Das Büblein lauschte wie verzaubert. Ach, was hätte er drum gegeben, auch nur einen einzigen solchen Ton singen zu können!
Da sprangen die Nachtleutchen auf die Füße und eines rief:
"Hinab, geschwind! Die Zeit ist vorbei, s ist schon halb drei. Müssen schaffen, uns regen und fleißig sein, Hämmern und schlagen das harte Gestein. Heißassa! Juheißassa! Unsre Arbeitsstund ist da! |
Im Schwick *) ward der Tisch geräumt und an seinen Platz gestellt , und husch husch husch! stiegen sie eins ums andre ins Loch hinab. Das letzte aber blieb zögernd stehen, zog ein Gemskäslem aus seinem Wams und legte es dem Büblein aufs Bett mit den Worten:
"Iss all Tag, iss gnug, Iss es nie ganz, sonst bist unklug! |
Sprach's, wandte sich um und verschwand der Tiefe. Ein Knirschen, und das Brettchen war wieder an seinem Platze. Eine Weile noch starrte das Büblein, das Köpfchen auf seinen
Ein leuchtender Morgen brach an. Die Bergspitzen funkelten im Feuer des Frührots. Aus den Tälern stiegen die weißen Herbstnebel die klare Luft.
Den Milchtrichter über den Kopf gestülpt, das Gemskäslein unter dem Arm, eilte das Hirtenbüblein mit beflügelten Schritten über die Alp dem Walde zu. Er war noch wie verzaubert und fragte sich immer wieder, ob das, was ihm in dieser Nacht widerfahren, nicht etwa
ein bloßer Traum gewesen. Aber da war ja das Gemskäslein. Das hatte er am Abend zuvor noch nicht gehabt. Und das Sprüchlein des guten Männchens wußte er auch noch, verstand seinen Sinn und gelobte sich, es genau zu befolgen und jeden Tag ein Nestchen übrigzulassen. Und dann hatte er die Männchen tanzen gesehen. Und dann — sie singen gehört.Und wie das Peterlein an all die schönen Liedchen dachte, die sein Ohr vernommen, da war ihm auf einmal, als könne er es nun auch. Und wirklich! Gleich einem Wässerlein, das unter der Erde lange vergeblich nach einem Ausfluß gesucht, ihn endlich gefunden und sich nun lustig über Stein und Fels ergießt, also quoll ihm setzt ein Liedchen ums andre hervor. Das klang und fang und jubelte, und aus den Schluchten und von den Flühen hernieder tönte das helle Stimmchen hallend zurück.
Das war für den Kleinen ein seliges Niedersteigen zu Tal. Von nun an brauchte er nicht mehr zu hungern, und singen und jauchzen konnte er Setzt auch, und das noch schöner als die andern Hirtenbuben.
Der Venediger
1.
Nicht weit von Brienz liegt das Dörfchen Tracht, das mit seinen hellen Fenstern freundlich auf den See niederschaut.
In diesem Dörfchen lebte vor Zeiten ein junger Fischer. Der fuhr jeden Morgen auf den See hinaus und senkte sein Netz in die blaue Flut. Blies der Wind vom Tal hernieder, dann fing er nur wenig oder nichts. Blies der Wind dagegen seeaufwärts, dann stiegen die Fische aus der Tiefe und schwammen in du Maschen seines Netzes. Und der Fischer trug die Beute auf den Markt und verkaufte sie.
Der junge Mann war von schöner Gestalt, hatte tiefschwarzes Haar, und aus feinem sonnverbrannten Gesicht blickten die dunklen Augen fast rätselhaft. Er stammte auch nicht aus der Gegend, die Leute munkelten gar, der seltsame Bursche sei der Sohn eines Venedigers *), der vor Zeiten im Haslital nach Gold und Silber gesucht. Er lebte still für sich allein, tat nicht wie die andern Burschen, stieg nicht auf die hohen Felsen, den Mägdlein Flühblumen zu holen, und wenn am Sonntagabend unter der Linde getanzt ward, hielt er sich fern oder schaute bloß teilnahmlos zu. Manch ein Mägdlein versuchte dann wohl, den schönen Mann in den Reigen zu ziehen. Vergeblich. Er schüttelte den Kopf und lehnte ab, oder verließ gar den Platz.
Dem jungen Fischer war nur wohl, wenn er draußen auf dem See seinem Handwerk obliegen konnte. Da blieb ihm auch Zeit und Muße genug, einsam in seinem Schiffe sitzend, sich zu freuen an all den Schönheiten, die ihn umgaben, und Dingen nachzusinnen, an die andre Menschen kaum dachten.
Er liebte die Sonne, die ihm Gesicht und Arme braunfärbte und das Blut in seinen Adern erwärmte. Er schaute den Wolken zu, wie sie gleich Segelschiffen durch die blaue Luft dahinzogen. Er kannte jeden Berg nach seiner Gestalt, kannte jeden Vogel an seinem Flug.
Am meisten aber liebte er das Wasser.
Oft, an warmen Sommertagen, wenn der Fischfang wenig ergiebig war, beugte er sich über den Nand des Bootes, tauchte Hände und Arme in die laue Flut und plätscherte darin herum, oder ließ sie in kristallnen Bächlein durch seine Finger gleiten. Warf plötzlich die Kleider von sich und sprang ins Wasser, streckte in wohliger Lust die braunen Arme nach den Wellen aus, die er sich selber geschlagen, und schwamm eine Weile hin und her. Tauchte dann, einem Wildentchen gleich, in die Tiefe, und es erschien der schwarze Kopf erst nach geraumer Zeit wieder auf der Wasserfläche, doch weitab, auf der andern Seite des Bootes.
Träumte wiederum, in das Schiff zurückgekehrt, still vor sich hin, die Augen forschend auf die dunkelblaue Flut gerichtet.
"Wie schön bist du doch, Wasser ", sprach er zu sich selber, "wie groß und wie reich! Kaum daß ich das Kirchlein dort unten noch zu erkennen vermag! Und liegst da, zwischen die Berge gebettet, wer weiß ute tief? Die Leute sagen gar, du hättest keinen Grund. Ist's wahr? Fast möcht ich s selber glauben, wenn ich dein dunkles Auge also vor mir sehe. Ist es aber auch wahr, was sie weiter von dir sagen, daß in deinen Tiefen das Seevolk wohne — häßliche Männer, mit Fischschuppen bedeckt, aber auch schöne Frauen, die des Nachts aus den Fluten steigen und die Menschen durch ihren lieblichen Gesang entzücken, oder sie auch zu sich hinabziehen und verderben ? Ist das wahr ?"
Reglos lag die weite Fläche, vom warmen Glanz der Sonne überflutet. Er beugte sich tief über den Rand des Bootes und schaute hinab, sah aber nichts als sein Schattenbild und ringsherum einen bläulichen Dämmerschein, der sich im Nichts verlor.
"Ich werde einmal des Nachts herkommen ", murmelte er. Vielleicht daß mir dann die Wassergeister Antwort geben.
Und mitten in einer schönen Nacht fuhr der Venediger hinaus auf den See.
Der Mond stand dicht über dem linken Höhenzug und warf sein weißes Licht hernieder auf die leichtbewegte Wasserfläche, daß die Wellen hier und dort wie Silberschuppen funkelten. Leise flüsterten die Wälder, dumpf und einförmig ertönte das Rauschen des Gießbaches zu ihm herüber. Der junge Fischer hielt die Ruder in der Hand, bewegte sie aber kaum und überließ das Schiff dem Spiel der plätschernden Wellen und der Winde. Ganz versunken in die Schönheit der Nacht, starrte er vor sich hin, sah wie im Traum einen weißen Schwan an ihm vorübergleiten, sah in der Ferne einen Stern vom Himmel fallen.
Da fuhr er aus seinem Sinnen empor.
Vor ihm, nicht gar weit vom Schiff entfernt, stieg aus der schillernden Flut der Kopf und dann die Brust eines Weibes. In golden funkelnden Wellen floß ihr Haar über die Schultern hernieder, und da sie ihr Gesicht dem Monde zugekehrt, gewahrte er deutlich, wie es fein und edel und wie aus Elfenbein geformt war. Und noch ehe sich der Fischer von seinem Erstaunen erholt, öffnete die Seefrau auch den Mund und hub zu singen an.
Sie sang von dem Seevolk, das still und einsam auf dem Grunde des Wassers wohne, von Türmen und Palästen, aus Bernstein gebaut und mit Perlen geziert, von herrlichen Gärten, worin die Tulpen und die roten Nelken blühen, von kleinen Kindern, die lachend auf dem Rücken großer Fische reiten.
Dann aber sang sie von der Schönheit des Himmels und der Erde, von der Sonne goldnem Glanz, von Blumenduft und Vogelschall . Sang von dem herrlichen Gut der Menschenseele, der es gegeben, sich zu freuen und zu lieben, und wiederum vom Leide derer, denen dies nicht beschieden ward. Und immer weher klang ihr Lied, doch auch leiser und leiser. Und als der letzte Ton im duftgen Licht des Mondes verhallt, da stieg die schöne Frau in die Tiefe hinab.
Eine Weile noch starrte der junge Fischer wie verzaubert nach der Stelle hin, wo sie verschwunden. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.
War"s Wahrheit, was er da geschaut? Oder war"s ein bloßes Spiel seiner Gedanken und Wünsche, die oft den Menschen das als wirklich vor Augen führen, wonach sie sich von ganzem Herzen sehnen ? Er hätt' es nicht zu sagen vermocht, und ganz in sich verloren ruderte er heimwärts . . .
2.
Es war an einem Sonntagabend. Auf dem Dorfplatz erklangen die Hörner und Schalmeien, und Bursch und Mägdlein, festlich geschmückt, drehten sich in lustigem Neigen. An einen Baum gelehnt, schaute der braune Venediger dem Treiben zu.
Da trat aus dem Gebüsch ein fremdes Mädchen in den Kreis. Das hatte zwei helle Augen und ein fein geschnittenes Gesicht, und ihr langes Haar wallte frei um Hals und Busen. Ein seidenes Kleid umspannte die schlanken Glieder, und eine weiße Seerose zierte ihre Brust.
Und ohne sich lange umzusehen, schritt das schöne Mädchen lächelnd auf den Fischer zu und lud ihn zum Tanze. Und seltsam!
Als ob dieser nur auf sie gewartet, gewährte er auch gleich ihre Bitte, und nun sah man die beiden den ganzen Abend zusammen tanzen. Doch ehe die Glocke elf Uhr schlug, war sie wie vom Erdboden verschwunden.Von nun an kam die geheimnisvolle Fremde jeden Sonntag wieder , sobald die Hörner zum Tanze riefen. Zuweilen erschien sie wie ein einfaches Hirtenmädchen, ein Schnitterhütchen auf dem reichen Haar, dann wieder wie ein Schloßfräulein, eine Perlenschnur um den Hals, ihr Kleid mit goldnen Streifen geziert. Ein holdes Lächeln umspielte ihren Mund, und immer war der Venediger der einzige, mit dem sie tanzte. Doch wußte niemand ihren Namen, noch woher sie kam.
Einst aber, als der Tanz zu Ende und die beiden dem Ufer des Sees entlang schritten, da drang der Venediger in sie, sich zu offenbaren .
Kennst du mich denn nicht? fragte darauf das sonderbare Mädchen . "Und hat mich der junge Fischer noch nie gesehn ?
Der Mond schien hell, und wie jetzt der Venediger seine Tänzerin von der Seite her prüfend anblickte, da war ihm mit einemmal, er sähe die Seefrau wieder, wie sie ihm in jener Nacht erschienen war, und er stieß einen Schrei der Freude aus.
"Bist du ; " rief er. "Bist du es wirklich, an die ich seitdem Tag und Nacht gedacht, wenngleich ich nie recht wußte, ob ich damals bloß geträumt oder dich wirklich gesehen hätte ?
"Ich bin s ", sprach das schöne Mädchen lächelnd, "und du hast mich wirklich gesehen, wie ich dich gesehen habe. Höre mich an. Ich bin eines Königs Kind, doch nicht eines Königs von dieser Erde. Mein Vater ist ein Fürst des Wassers, und wir bewohnen einen Palast auf dem tiefen Grunde dieses Sees. Da ist alles schön und wunderbar, wie du es aus meinem Liede vernommen, und all die andern Seejungfrauen sind mir untertan und gehorchen meinen Befehlen . Und dennoch fühle ich mich unglücklich, weil mir das elne fehlt — die Liebe. Denn wisse: meine Mutter, die nun schon lange tot, war von dieser Welt, war ein Mädchen aus dieser Gegend
und wurde, als sie einst am Strande nach Blumen suchte, von einem unsrer Wassermenschen geraubt und, da sie schön war, dem Könige, meinem Vater, zugeführt, der sie zur Frau nahm. Mein Vater ist streng und grausam, ist ein heidnisches Wesen und kennt die Liebe nicht. Ich aber fühle wie die Mutter, habe ein Herz und sehne mich nach Liebe. Und wie ich dich in jener Nacht erschaute, da packte mich eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dir, also daß ich schon manchen Sonntagabend den Wellen entschlüpfte und her kam, dich zu sehen. Ich weiß es wohl: wenn mein Vater wüßte, daß ich mit Menschen verkehre, er würde mich töten. Und dennoch — meine Liebe ist stärker als alle Furcht, und nur der Tod vermag mich von dir zu scheiden.Von nun an trafen sich die beiden an manch schönem Abend am Ufer des Sees. Sie herzten und küßten sich in seliger Lust, und die Macht der Liebe knüpfte ihre Herzen noch enger zusammen.
Sie trennten sich immer um die elfte Stunde. Eines Nachts aber schlug es am Turme zwölf. Da stieß das Mägdlein plötzlich einen Schrei aus und rief:
"Das ist mein Tod. Leb wohl, Liebster! Du wirst mich nie mehr wiedersehen.
Mit diesen Worten sprang sie ins Wasser und tauchte in die Tiefe hinab . . .
Eines Morgens trieb sein Boot herrenlos auf dem Wasser. Doch niemand hätte zu sagen vermocht, was aus dem jungen Fischer geworden und wie er geendet.
Herr Heinrich von Strättlingen
In frühern Jahrhunderten gab es in unsrer Heimat noch Burgen und Schlösser, deren graue Türme hier und dort aus den schwarzen Tannen der Wälder ragten oder von hohem Felsen niederblickten ins Tal. Darinnen hausten oft wilde Gesellen, Raubritter genannt. Die lebten ohne Zucht und Gewissen auf eigne Faust dahin, stahlen dem friedlichen Hirten seine Kühe weg, überfielen, mit Keule und Speer bewaffnet, den ruhig vorüberziehenden Kaufmann und beraubten ihn feiner Waren, oder führten Krieg mit ihresgleichen oder mit den Bürgern der Städte. Nichts war diesen Leuten heilig, nicht Tier, nicht Mensch und sein Eigentum, und Raub und Mord oder Trunk und Spiel das einzige, woran sie Vergnügen fanden.
Ein Ritter andrer Art war der junge Herr von Strättlingen, dessen Schloß sich unfern vom Seeufer zwischen Spiez und Thun erhob. Er muß, also wird uns berichtet, ein schöner Mann gewesen sein. Blonde Locken umwallten sein edel Gesicht, und ein langes Kleid mit goldverziertem Kragen und goldnem Gürtel umschloß seine hohe Gestalt. Und vornehm wie sein Aeußres war auch sein Herz, das stets bereit, einem jeden Menschen Gutes und nichts Böses zu tun.
Herr Heinrich spielte gerne auf der Laute, und die Klänge, die ihren Satten entquollen, waren ihm lieber als der Schwerter Klang. Dazu sang er mit seiner mächtigen Stimme herrliche Lieder, sang von der Schönheit der Frauen, von Sonn' und Blumen, wenn der Frühling erwacht, von der Liebe felger Lust und ihrem Leide. Doch auch in der Liebe galt diesem Mann ein reines Mädchenherz mehr als aller Glanz und Reichtum, und manch esne stolze Ritterstochter wartete vergeblich auf den Tag, wo er um ihre Hand anhalten und sie als Braut auf sein Schloß führen würde.
Es lebte aber um jene Zeit drüben über dem See am Hünibach, einem Wässerlein zwischen Oberhofen und Thun, ein fromm Mägdelein, Stha genannt. Die hatt ', also stehet in Büchern zu lesen, einen goldnen Blumenkranz im Haar, hatt' spiegellichte Augen und ein
Mündel rot, und trug ein grünes Kleid, das an Hals und Händen mit Gold eingefaßt und mit goldnen Querstreifen gezieret war. Ihr Vater, Herr Gerhard, hatte unschuldig fast all fein Hab und Gut verloren und war darüber aus Herzenleid gestorben, Frau und Töchterlein in Armut zurück lassend. Nun fügte es aber der Himmel, daß der reiche und vornehme Herr von Strättlingen das arme Mägdlein kennen lernte, und ihr, da sie also züchtiglich und demütig war, seine Liebe schenkte, auf daß erhöhet werde, wie das oft geschiehet, die da bescheidentlich gesinnet sind.Es geschach nun oftmals bi nächtlicher Wile — also fährt der damalige Geschichtenschreiber in seiner altertümlichen Sprache weiter — wann der Mond stand am Himmel und tät werfen sin milden Glanz über das dunkele Wasser, da ritt der gut Herr Heinrich von sinem Vaters Schloß hinab zum See, bestieg allda ein Schifflein und ruderte selbsteigen dem Hünibache zu. Aber mitten uf dem Wasser zündet ' er ein Scheit Kienholz an und macht ' ein feurig Zeichen damit , drü Mal im Kreis geschwungen, und löscht's dann plötzlich us, daß es gar wundersam war zu sehen, und den Lüten Bucht, es spg ein bös Nachtgespenst.
Dem war aber nit also. Denn Fräulein Itha verstand solch Zeichen gar wohl, und freut ' sich deß in ihrem jungen Herzen us der Maaßen. Und wie nun Herr Heinrich landet' und still das Ufer hinauf eilet ', da fand er sin Herzlieb warten bi dem kleinen Steg, der über'm Bache lieget, und führt' es zum Bächihölzlin *) unter etlich Buchenbaum, und faßen allda vertraut in dem Waldeszelt, und koseten, also wie das etwa noch niemand in aller Süßigkeit hätt' ufschrieben könnt.
Dieweilen aber menschlich Sachen all wandelbar, und vorab Liebesglück unstet ist, also hat das auch der edel Herr Heinrich zu sinem großen Herzenleid erfahren müssen.
Es geschach nemlich uf ein Tag, daß Herr Wolfhart, der ein Zwingherr war zu Oberhofen, us zu sagen ritt, und kam gen Abend hin, da Fräulein Itha mit der fromm Mutter wohnete. Er sach das Fräulein in dem Wurzgärtlein steh'n, und wundert' sich ob ihrer lichten Schönheit sehr. Dieweil der Herr aber ein ungeschlachter Degen war und eines wüsten Angesichts, auch sonst nit ritterlich gen dem süßen Frauengeschlechte, mocht ' er sich nit getrauen, die schöne Maid zu gewinnen mit Sucht und Minnedienst, also daß er daruf dacht', sin Willen zu han durch Gewalt und Hinterlist.
Herr Wolfhart hatt' gar bös und tückisch Knecht, deren er etlich uschickt', und ließ das Fräulein hinweg führen des Nachts, und ihr Häubelin und Handtüchlin in das Wasser werfen, also daß bald ein Geschrey usging, wie das holdselig Mägdelein gar sämmerlich ertrunken wär in dem See. Da klageten denn gar viel, daß solch harter Tod sie betroffen hätt'. Doch füget es des Himmels Güte, daß die fromm und leidend Mutter des so großen Schreckens nit starb und gar viel Trostes fand bi redlichen Lüten, die sich höchlich verwunderten der bittern Armut, darin die gute Frau lebt', dieweil das Fräulein Stha nit viel Klagens se davon gemachet hatt'.
Was aber dem Fräulein geschach in dem Schlosse, da sie gefangen saß, zu Oberhofen, das kann einer glauben, und hatt' der Zwingherr doch kein Glück nit, und wollt ihm nit werden, was sin bss Herz bebegehrete. Drum, und als sich der Herr verschmähet sach von der minniglichen Maid, ergrimmet' er heftiglich, und ließ sie werfen in den finstern Turm, da siner Widersacher viel er hat verderben lassen, und wollt' nit genennet haben ihren Namen, bis sie gar verschmachtet wär. Das geschach aber nit, dieweil ein alter Mann Mitleid hatt mit dem gefangen Mägdelin und sie heimlich mit Speis und Labung erquickete.
Wie nun uf ein Tag der gut Herr Heinrich auch wieder kam gefahren
über den See und wollt' finden sin feines Lieb, und es aber nit fand an dem Steg, und den Buchen nit, da ward sin Herz beschweret us der Maaßen. Er fraget aller Stille den Sachen nach, und ward ihm bericht't von dem Häubelin und Nastüchlin, und da glaubet er's am End selber, dieweil das schön Mägdlein gar oft am Wasser zu wandeln pflegt', und doch das Ufer von der Wellen Ansprung gar übel unterfressen war.die Betrübnis des edelen Herrn, als er solch grimmen Unfall vernommen, kann nit in Worte gefasset werden. Er riß sich sin gelbes Haar us und jammert lut, daß er uf Erden nie mehr solch Mägdelein tät finden. Und ging hin in das Buchenwäldchen, und setzt' allda mit siner Hand einen Marfelstein ) zu einem Andenken an fein Lieb, und schnitzet' daruf fein säuberlich ein abgeknicket Veilchen. Darunter aber grub er in Reimesweis, wie hernach stehet:
Mir tät für minen ganzen Lenzen Ein einzig Blümlein gnuog erglänzen. Nun Itha nieder liegt, als welk ein Veil, Wird auch kein Frühling se min Tell. |
Und über etwas Zit, da macht' der edel Herr von Strettlingen sich uf und wollt' in diesen Landen nit fürder syn, und ritt gen Hof zu einem Herzogen in Schwabenland und wollt' sechen, ob er verwinden könnt sin Herzenleid. Er vermocht' es aber nit, denn uf allen Wegen vor sinen Augen stand das abgebrochen Veil, da kunnt er sich nit andrer Blumen se gefreuen, und auch nit sines schönen Saitenspiels.
Da geschach es, daß Ritter Wolfhart gar eines unverfechnen Todes verblich, also wie oft plötzlich hinfahret ein böser Mensch in siner schweren Sünd und Missetat. Und als nun der junge Herr Walther, des Herrn Wolfharts einziger Guhn, die Herrschaft übernahm, da ließ er ziechen us dem Schloß, was da gefangen saß, um durch Milde wieder gut zu machen, was der Vater gesündiget hatt'. Also auch
Es eilet alsobald die fromme Maid zu ihrer Mutter, die trurig saß bi frömden Lüten, und beklaget hatt' das herzliebe Töchterlin. Dann aber bezähmet die holdselig Maid nit mehr ihr groß Verlangen, und ging zu dem Hölzlin, da einst sie gar oft gewandelt mit Herrn Heinrich ihrem Fürgeliebten, deß sie in der Zit allstet gedenket hatt'.
Da machte denn das Mägdlein gar verwunderliche Augen, als sie allda ihr eigen Grab ersach und las die Denkgeschrift daran, derweilen sie doch mit lebendem Leibe herum gehet. Doch war gar bald auch des Fräuleins Herz betrübet ob des edlen Ritters Abwesensein in also fernen Gauen, und hätt' auch ihm setzen dürfen ein solches Mal, was aber unterblieben ist, dieweil von sinem Tod keine Mahr ins Land nie kommen war. Und wie jetzt das Mägdlein weiter darüber sinnet, da fasset' sie ein gar sonderbar Beschluß und ließ dar setzen einen zweiten Marfelstein neben den ersten, und daruf hauen ein ander Veil. Das aber stand gerader denn ein Bolz, und war darunter geschrieben ein Reim mit etwa solchem Bericht:
Wohl tut der Wintersturm es schicken, Daß Blümlein als ertödt sich bücken. Wann aber Lenz her kummt mit lichtem Schyn, Bald wieder sie ganz ufrecht syn. |
Nach zwey oder drü Zahren ward der gut Herr Heinrich aller Pracht und Hoffart in frömden Landen müd, und kehrt' in allem Stillen heim, da auch grad Herr Rudolf, sin Vater, großem Siechtum lag und nach sinem Suhne verlangte, auf daß er ihm möcht Schloß und Herrschaft überantwurten.
Wie nun der Junkherr von Thun us ritt, da gemahnt's ihn mächtiglich , daß er sollt' zu den alten Buchen gahn, allwo er sinem Lieb den Denkstein ufgerichtet hatt'. Also trieb er sin edeles Roß fürbas, und kam ungesäumet ins Hölzlin hinuf, tat vom Rößlin springen
und eilet voll Weh und Drang den Pfad hinan, der ihn zum Denkstein führete.Der großen Verwunderung aber war kein Maaß, als nun der gute Herr Heinrich die zwey ufstehenden Male sach, und las den gar trostrychen Spruch uf Fräulein Ithas Marfelstein, und betrachtet' den ufrechten Stock des Bells. Je und se ein unbändig Mann, sprang er vor Freuden hoch empor, und warf sin Hände nach allen Siten hin, als wollt' er greifen, ob es irdisch Ding noch wären da herum. Er hüpfete dann uf sin Roß und ritt durch Dick und Dünn und Stein und Gedörn zu dem kleinen Husele hin, da Fräulein Stha samt der alten Mutter ehmals gewohnet hatt', und stürmet hinyn ohn Ufenthalt mit aller Manneskraft, daß Niet und Nagel wichen. Darob ent
O was großer Freuden folget' Setzt aber da dem langen Herzenleid! Denn Fräulein Itha erkannte gestracks den viel lieben Herrn Heinrich, dem sie ganz ihr Herz verlobet, auch wann sie nit gewußt', ob er ihr die lange Zit her treu geblieben wär'. Da hätt' ob all dem Herzen und Umfangen nit ein Bienlein mögen unverdrucket inmitten fyn, und ward geküsset, die verlornen bösen Jahr mit ganzem Ernst zu bessern.
Erst am späten Abend, wann in den Bäum' die Nahtegal, das guot Vogelin, zu schleuchzen anhob, brach Herr Heinrich uf, und ritt im Sternenschyn nach sin Vaters Schloß. Und fand allda den guten Herrn us der Maaßen siech, doch hoch gefreuet, daß er sin Suhn noch vor dem Tode sechen kunnt.
Der gute Herr Heinrich, als der Herr Vater war gestorben, tat sin Bestes, daß guter Fried' im Lande blieb, und all sin Volk war ihm ganz freudiglich zugetan. Und uf einen Tag geschach es, daß er sin teures Lieb . . .
Das Zwerglein auf der Seebergalp
1.
Hoch über dem Dorfe Zweisimmen breitet sich eine schöne Alp aus. Sie heißt der Seeberg und wird also genannt, weil mitten drin ;n einer Talmulde ein Seelein liegt.
Nahe bei diesem See stand vor langen Jahren eine stattliche Sennhütte. Die gehörte einem reichen Mann, der hier jeden Sommer seine stolze Herde weidete. Oben am steilen Hang aber gewahrte man ein halbzerfallenes Hüttlein, das von der Familie eines armen Bäuerleins bewohnt war. Der hatte nichts als ein Kühleren und ein paar Ziegen, die auf den Fluhbändern das würzige Gras weiden durften. Indessen sollte dem Armen auch dieses Recht genommen werden, sobald er nicht mehr imstande sein würde, eine eigene Kuh zu halten.
Dem reichen Sennen war das unansehnliche Stäfelchen *) schon lang ein Dorn im Auge. Er wäre nämlich ums Leben gern der einzige Besitzer der schönen Seebergalp gewesen und mochte daher die Seit nicht erwarten, wo der Arme seine Kuh verkaufen und an einen andern Ort gsehen mußte.
Das Bäuerlein, ein wackeres Männchen, dem das Wohl der Seinen am Herzen lag, hatte auch wirklich feine liebe Not. War der Sommer gut, dann ging es freilich noch an. Dann konnte e nitt der reichlichen Milch der Kuh und der Ziegen die Familie ernähren, konnte eine Menge Wildheu sammeln und sich gar ein Käsletn aufspeichern für den Winter. Die reine Luft der Berge tat ein übriges und färbte die blassen Wangen seiner Kinder rot wie die Alpenrosen, die rings um das Seeleben in Menge erblühten. In einem stürmtschen Sommer dagegen gedieh das Futter nicht, die Tiere gaben nur wenig Milch, und mit bangem Herzen schaute dann der Mann der Zukunft entgegen.
In einem strengen Winter endlich, der gar jesu Ende nehmen wollte, sah sich das Bäuerlein zum erstenmal gezwungen, den Neis
Es war an einem schönen Samstagabend, als er zu seinem Nachbar niederstieg. Dieser saß gerade vor seiner Hütte und schaute mit Behagen seinen Kühen zu, du grafend am Ufer des Sees dahinzogen. Lieblich hallte das Glockengeläute von den Bergwänden zurück, und der Seegrund, der du Ufer widerspiegelte, schien die Zahl der Tiere noch zu verdoppeln.
Schüchtern nahte sich das Bäuerlein dem reichen Manne, entbot ihm einen freundlichen guten Abend und setzte sich neben ihn auf die Bank.
Kommst wohl, mir mein Geld zurückzubringen', hub der Seebergsenn zu reden an. Das ist mir recht angenehm. Denn auch bei mir, ich gestehe es offen, wird das Geld so selten wie das neue Holz an deinem Stäfelein. Es ist wirklich eine böse Zeit.
"Ja, es ist eine böse Zeit', wiederholte das Bäuerlein kleinlaut. "Doch drückt sie einen reichen Mann wie dich sicher nicht also wie mich, das arme Geißenmännchen mit seiner großen Familie, die Setzt kaum mehr zu essen hat. Drum wirst auch begreifen, daß ich nicht gekommen, dir das Geld zurückzubringen. bin vielmehr gekommen, dich zu bitten, mir eine weitere kleine Summe vorzustrecken, mit dem Zurückzahlen aber auf bessre Zeiten zu warten.
Der Seebergsenn blickte ein Weilchen nachdenklich zu Boden. Dann hob er den Kopf und sagte, derweil ein verschmitztes Lächeln über sein feistes Gesicht glitt:
"Ich will tun, Nachbar, was mkr möglich ist, und gebe dir noch eine Summe Geldes in der gleichen Höhe, wie ich sie dir das erste Mal geliehen. Mit dem Zurückzahlen aber ist das so eine Sache. müßte ich wohl noch an die hundert Jahr Seebergfenne sein, eh ich
mein Geld wiedersähe. wess dir einen bessern Rat: Gib du mir statt des Geldes dein Stäfelein, bevor es ganz baufälltg geworden ist, und wir sind im reinen.Bei diesen Worten war s dem Bäuerlein, als schnürte ihm jemand das Herz zusammen. Eine Träne rann über seine verhärmten Wangen Zu antworten vermochte es nicht.
Da stand auf einmal, wie aus dem Boden gewachsen, ein Zwerglein vor ihnen. Das war gekleidet wie ein Senn, trug eine Zipfelmütze , hielt einen Hirtenstab in seinem Händchen und schaute recht keck und munter in die Welt.
Gehört hatten die beiden schon manches von diesen Leutchen, und daß sie besonders dem Hirtenvolke sehr gewogen wären, gesehen aber noch keins, und so war es nicht zu verwundern, wenn ihnen bei dem plötzlichen Anblick ein gelinder Schrecken durch die Glieder fuhr. Endlich ermannte sich der Seebergsenn und fragte das Männchen, ob er ihm etwa einen Trunk Milch anbieten dürfe. Dieses aber wehrte ab und, scharf nach den Kühen spähend, als ob es sich unter ihnen eine besonders schöne auswählen möchte, sagte es in lebhaftem Tone:
Wenn du willst, kauf ich dir eine Kuh ab.
Oer Senn, im Glauben, ein gutes Geschäft machen zu können, war auch gleich einverstanden. Er bot aber dem Kleinen eine Kuh an von nur geringem Wert und forderte dafür einen recht hohen Preis.
Ohne ein Wort zu sagen, zog das Zwerglein ein Goldstück aus der Tasche, legte es in die Hand des Reichen und eilte fort, die bezeichnete Kuh am Glockenbande wegzuführen.
Entrüstet lief ihm der Senne nach.
"Ja ist denn das alles, was du mir geben willst?" rief er. "Für solch ein mageres Goldstücklein ist mir meine Kuh nicht feil. Da kauf dir lieber das Brüneli meines Nachbars dort am Hange droben und geh deiner Wege.
Der Knirps blieb stehen und warf einen flüchtigen Blick nach dem Kühleren am Berghänge, dessen Schelle traurig herniedertönte.
Dann ließ er schnell entschlossen die Kuh des Sennen fahren, nahm das Goldstück wieder zurück und trat zum Bäuerlein, das, wieder in sein Leid versunken, dem Handel fast teilnahmlos zugeschaut hatte."So nimm halt du das Goldstück und gib mir deine Kuh", sprach das Zwerglein. Gilt der Handel ?
Setzt ward dem armen Manne das Herz noch schwerer als zuvor. Vie Hütte mußte er wohl oder übel dem reichen Nachbar überlassen. Nun sollte er auch noch sein liebes Brüneli für ein einziges Goldstück hergeben! Doch — wer konnte wissen, ob nicht der Reiche am Ende auch die Kuh forderte? Da gab er denn lieber dem freundlichen Zwerglein.
"So nimm sie halt in Gottes Namen stöhnte er. "Aber pfleg es gut, mein Brüneli. Hat mir manches Jahr treu gedient.
Das laß nur meine Sache sein, erwiderte der Zwerg. "Du aber hab acht auf das Goldstück und gib es nicht in fremde Hände. soll dir nicht zum Schaden gereichen.
Damit legte er das gelbe Bögelchen in des Armen Hand und ellie den Hang hinan. Nicht lange danach sah man das Kühleren, vom kleinen Männchen am Stricke geführt, im verdämmernden Abend über die Gratlücke schreiten und hinter dem Berge verschwinden.
2.
Was der Seebergsenn schon fett Jahren gewünscht, hatte endlich erfüllt: sein Nachbar besaß weder Kuh noch Stäfelein mehr und mußte fortziehen. Jetzt war er alleiniger Herr und Besitzer der schönen Seebergalp.
Der Mann rieb sich die Hände. wie klug er doch alles eingefädelt und gelenkt hatte!
An jenem Abend saß das Bäuerlein noch bis tief in die Nacht vor feiner Hütte, um ihn herum Frau und Kinder, die vor Jammer bald laut aufschluchzten, bald leise vor sich hin weinten. Die guten Menschen konnten es nacht fassen, daß sie nun kein Heim mehr hatten und sich unter dem hellen Glockengeläute der grasenden Kühe du dumpfe Schelle ihres lieben Brüneli nicht vernehmen ließ. Auch war sa die kleine Summe Geldes, die der Vater vom reichen Sennen erhalten , bald verbraucht. Dann besaßen sie nichts mehr als das Goldstück des Zwergleins, das jedoch, also hatte das Männchen gesagt, nicht in fremde Hände übergehen durfte. Wovon aber sollte man dann leben ;
In später Stunde traten die armen Leute endlich in die Hütte. Unwillig warf der Mann das Goldstück auf den Tisch und begab sich zur Ruhe.
Schlafen aber konnte er nicht. Ihm war zumute wie einem Schiff
brüchigen auf dem Meere, der dem Versinken nahe ist. Keine Planke, kein Ufer weit und breit.Endlich fiel der Mann in einen kurzen Schlummer. Allein auch dieser ward ihm vergällt durch einen bösen Traum.
Er stand, also schien es ihm, am Ufer des Sees. Ein frischer Morgenwind strich über die grüne Fläche, und die Sonnenstrahlen spielten mit den Wellen. Ringsherum weideten die stattlichen Kühe seines Nachbars, von Bergeshöhe hernieder ertönten die frohen Lieder glücklicher Menschen. Aengstlich horchte er hin nach dem Glockengeläute der Kühe, vermißte aber den dumpfen Schellenton seines eigenen Kühleins. suchte es der Arme mit den Augen. Vergeblich . Auch seine Ziegen waren verschwunden, und an der Stelle, wo bisher sein Stäfelein gestanden, erhob sich jetzt eine stattliche Sennhütte.
Dem Manne traten die Tränen in die Augen. Er sah sich um nach Frau und Kindern. Ach, auch sie waren nicht da, waren wohl fortgezogen, die Hutte am Rücken, um von Hütte zu Hütte betteln zu gehen. Setzt musterte er sich selber: in Fetzen hingen ihm die Kleider am Leibe, die Schuhe starrten im Schmutz. Und an all dem Unglück, deuchte ihn, war einzig das kleine Männchen schuld. Er hatte gehört, es gebe nicht bloß gute, es gebe auch böse Zwerge, die dem Menschen übelgesinnt seien. Da war er, der sa seiner Lebtag immer ein Pechvogel gewesen, sicher einem solchen in die Hände gefallen.
Und wie sich der Schlummernde also elend und verlassen sah und schon daran dachte, seinem Leben ein Ende zu machen, fühlte er sich plötzlich von einer Hand ergriffen. Er schlug die Augen auf: neben ihm stand seine Frau und schaute lächelnd auf ihn nieder.
"Hast wohl einen bösen Traum gehabt, daß so unruhig gewesen bist ", sprach sie. "Inzwischen ist aber das Zwerglein gekommen und hat uns etwas Schönes gebracht.
Der Sonntagmorgen war angebrochen. Draußen lachte die Sonne und überflutete Berg und Tal mit neuem Leben. Sie vergaß selbst das Stäfelein des Bäuerleins nicht und guckte setzt neugierig durch
die runden Scheibchen in die niedrige Stube, zu erfahren, warum denn die armen Leute darinnen heute morgen also vergnügte Gesichter machten, derweil sie doch am vorigen Abend solchermaßen betrübt gewesen.Da sah denn Frau Sonne, wie von der Mitte des Tisches, den Vater, Mutter und Kinder mit leuchtenden Augen umstanden, ein rötlicher Schimmer ausging, und als sie nun flugs ein Strählchen nach der Stelle hin lenkte, ward ihr alles klar. ;:
Rings um das Goldstück, das der Mann am Abend zuvor mißmutig auf den Tisch geworfen, prangten heute morgen noch sieben andre, die setzt im Sonnenlicht wie ein siebenzackiger Stern aufblitzten und Glück und Freude um sich her verbreiteten . . .
3.
Viele Jahre nach diesem Sonntagmorgen auf dem Seeberg stand im Tale drunten ein stattliches Haus. Vor dem Hause dehnte sich eine große Wiese aus, und auf dieser weideten etwa zwanzig Kühe das saftige Gras. Die Kühe waren alle rotschäckig und von stattlicher Art bis auf eine. Die war braun und ziemlich klein gewachsen, und der
dumpfe Ton ihrer Schelle mischte sich fast wehmütig in den stolzen, weithin tönenden Klang der Kuhglocken.Wer mochte wohl der Besitzer dieses Heimwesens sein, das so viel Wohlstand verriet ? Es war niemand anders als das frühere Bäuerlein auf der Seebergalp, das sein Brüneli dem Zwerglein um ein Goldstück hingegeben hatte. Aus diesem Goldstück floß ein Segen, der gar kein Ende zu nehmen schien. Jeden Sonntagmorgen nämlich, wenn es der Mann am Abend zuvor auf den Tisch legte, lagen drum herum sieben weitere Goldstücke. Ihre Zahl blieb sich immer gleich. Auch vollzog sich das Wunder stets nur an einem Sonntag, dem Tage des Herrn, nie an einem Wochentage — dem Bäuerlein ein Fingerzeig dafür, daß es Gott gewesen, der ihm durch das Zwerglein geholfen hatte.
Trotz seinem immer noch wachsenden Reichtum ward aber der Mann nicht hochmütig. Er dankte jeden Morgen und Abend feinem Gott für das Glück, das ihm zuteil geworden, und auf daß er sich stets auch des Zwergleins erinnere, durfte unter seiner Herde nie ein Brüneli mit dumpfer Glocke fehlen. Er tat auch viel Gutes an andern, besonders an solchen, die ohne ihre Schuld arm geworden — hatte das Bäuerlein doch am eignen Leibe erfahren, wie wehe das tat.
Als aber der Mann starb, verschwand auch das geheimnisvolle Goldstück aus seinem Hause, und kein Mensch hätte zu sagen vermocht, wohin es gekommen. Einige Zeit freilich versuchte man es mit einem andern. Vergeblich. Das am Sonnabend hingelegte Stück lag am Sonntagmorgen auf dem Tische, ohne daß sich der gewohnte Stern darum gebildet hätte. Indessen war der Segen all die Jahre hindurch reichlich genug geflossen, also daß Kind und auch Kindeskinder noch davon zehren konnten.
Anders gestaltete sich das Schicksal des Reichen. Als der sah, welch ein Segen dem Armen aus dem Goldstück erwuchs, wie ihm dieser in kurzer Sett die Schuld zurückzahlte, wie er sein Stäfelein neu aufbaute, seine Herde sich mehrte und er sich endlich im Tale drunten einen freundlichen Wohnsitz schuf — da packte ihn der Reid,
fraß sich in sein Herz hinein und ließ ihm keine ruhige Stunde mehr bei Tag und bei Nacht. Und da er auch weiterhin niemand etwas gönnte und stets nur auf seinen eignen Nutzen bedacht war, ging es nach und nach mit ihm bergab — mit ihm und seinen Söhnen, die gleichgeartet waren wie ihr Vater. Endlich kam es gar so weit, daß die schöne Seebergalp in die Hände eines andern wanderte, und der ehemals so stolze Bergsenn soll, nach der Sage, als armer Mann gestorben fein.
Der Wolf von Ringgenberg
1.
In frühern Jahrhunderten gab es im Schweizerland noch Ritter und Zwingherren, die auf Burgen und Schlössern wohnten und sich das umliegende Land untertan machten. Das waren oft gar rohe Gesellen , quälten die Leute mit hohen Abgaben und Frondiensten und ließen solche, die sich ihnen etwa widersetzten, in ihre Verließe sperren und dort verhungern.
Ein Ritter solcher Art hauste einst auf der Burg zu Ringgenberg am Brienzersee.
Schon das Aussehen dieses Mannes flößte Furcht und Schrecken ein. Er war von mächtiger Gestalt, hatte rotes Haar und einen roten Bart, und ein gelblich Feuer glühte aus seinen Augen. Früh und spät sah man ihn im Harnisch und mit der Armbrust bewehrt, und diese verstand er zu handhaben wie kein andrer, also daß nicht der Vogel in der Luft, noch der Hecht im Wasser vor seinem Bolzen sicher waren. Gleich einem Wolfe lauerte der Mann überall auf Beute, war grausam wie dieser, war wild und heimtückisch zugleich, weshalb ihn die Leute des Tales den Wehrwolf, seine eignen Knechte aber kurzweg den Junker Wolf nannten.
Eines Tages bestieg der Ritter sein schwarzes Pferd, ritt über Goldswil und die Aare hinüber zum andern Ufer des Sees und auf steinigem Pfade hinauf nach Iseltwald. Das kleine Dörfchen gehör ihm; doch war er, wie das bei solchen Herren geschehen mag, seit Jahr und Tag nicht hingekommen und wußte wenig, was da ging und was es Neues gab.
Wie nun der Freiherr stolz bei den Hütten vorüberritt, sah er einen schönen Mann mit schwarzem Haar und Bart. Der war gekleidet wie ein Fischer, doch besser, als sonst des Gewerbes Brauch, und beschäftigt, seine Netze zum Trocknen aufzuhängen. Da hielt der Ritter sein Pferd an und fragte in barschem Ton:
Kerl, was treibst du hier, und woher bist du?
Bescheidentlich antwortete der Angesprochene:
Edler Herr, bin ein Fischer, wie Ihr sehet, und heiße Kunz. komme vom Lande herauf, bin ein freier Mann und bewohne hier ein freies Hüttlein, das ich mir vor drei Monden gekauft.
Der Junker schien über diese Antwort nur wenig erfreut. mochte auf seinem Boden keinen freien Menschen dulden, und auch die freimütige Art, wie der Fischer ihm gegenüber auftrat, war seinem Herrengeist zuwider. Indessen wollte der Wolf für diesmal sein r Wege reiten und später sehen, was er dem unliebsamen Manne etwa antun könnte, als des Fischers Töchterlein aus der Hütte trat. Das war ein gar schmuck und hold Mägdlein, mit zwei goldnen Flechten, die ihren Kopf und Nacken zierten, und nach des Landes Art in reines Zeug gekleidet wie der Vater.
Da kam dem Zwingherrn Arges in den Sinn, und er schnauzte den Fischer an:
"Wess' ist die Dirn ? Und was tut sie so üppig auf meinem Land und macht die Bauernweiber hoffärtig mit eitlem Prunk ?"
"Gestrenger Herr", antwortete der Fischer, es ist mein liebes Kind, und was sie trägt, geschiehet meinetwegen, derweil das Mägdlein weiß, daß ich gern eine schmuck und reinlich Jungfrau mag um mich sehn.
Jetzt fuhr der Zwingherr auf.
"Ich duld es nicht ", herrschte er den Fischer an, daß Gesetz und Brauch also verachtet werden und man meinen Grund und Boden
betritt, ohne mich auf meinem Schlosse zu begrüßen. Darum, wenn euch Nuh und Friede lieb sind, so kommet heute auf den dritten Tag hinüber auf mein Schloß und bringt auch gleich euer Mägdlein mit, auf daß wir sie lehren, wie man hierzuland in Zucht und Sitte wandeln soll.Es antwortete der Fischer demütiglich:
Edler Herr, so seid nicht ungnädig und zürnet mir nicht, daß ich es unterlassen, euch aufzuwarten. Ich bin hieher gekommen, mit den frommen Landleuten in Frieden zu leben und wollte euer Gnaden nicht mit meinem Besuche belästigen. Nun Ihr es aber wünschet, werde ich mich heut in drei Tagen bereitmachen und mit meinem Töchterlein auf eurem Schloß erscheinen.
"Wer klug ist, tut, wie ich befehle erwiderte der Zwingherr, schielte begehrlich nach dem schönen Mädchen hinüber, gab seinem Pferde die Sporen und ritt von dannen.
2.
Früh am dritten Tag zog der Fischer sein ledernes Wams an, setzte die befederte Mütze auf den Kopf und hing sein Schwert an die Seite, wie er solches bei feierlichen Anlässen zu tun pflegte, bestieg mit seinem Töchterlein das Schiff und fuhr gegen Ringgenberg.
Dort angekommen, schritten die beiden zum Schloß hinan. Beim Vorhäuschen hackte ein Knecht mit schwerem Beile Holz. Der Fischer wünschte dem Knecht einen guten Tag und dat ihn, dem Junker zu melden, daß der Mann von Iseltwald mit seinem Töchterlein nach seiner Gnaden Befehl vor dem Tore stehe. Der Knecht aber achtete des Angekommenen wenig, brummte etwas vor sich hin und mühte sich weiter ab, einen buchenen Klotz auseinanderzutreiben, was ihm indessen nicht gelingen wollte.
Da trat der Fischer an ihn heran und sagte ärgerlich:
"Hast mich denn nicht verstanden, Bursche? Zum Junker sollst gehen und ihm sagen, der Fischer Kunz sei da. Dein bißchen Holzspalten werd ich inzwischen schon besorgen.
Sprach s, griff mit beiden Händen nach seinem Schwert, schwang es über dem Kopf, daß es pfiff und der Knecht sieben Schritt auf die Seite fuhr und spaltete den gewaltigen Klotz mit einem Schlage mittendurch, daß die beiden Hälften nur so dahinhüpften.
Dem Knechte standen die Haare zu Berge. Ohne ein Wort zu sagen, lief er erschrocken durch Tor und Tür zum Zwingherrn und berichtete ihm vom Fischer Kunz und seiner greulichen Mannskraft, und daß er solches noch nie gesehen hätte.
Der Junker, wie er das hörte, biß sich in die Lippen, tat einen Fluch und schrie den Knecht an:
"Ist s auch wahr, was du sagst?"
"Wie Ihr sehet, eure Gnaden. Ich zittere vor Schreck noch setzt an allen Gliedern.
"Dann wünsch ich den Kerl nicht zu sehen", donnerte der Zwingherr. "Laß ihn laufen. Den Abschied aber werd ich ihm segnen, daß er meiner künftig nicht mehr vergessen soll.
Mit diesen Worten griff er nach seiner Armbrust, sprang treppauf in den Turm und hin zu einer Scharte nach dem See und legte sich auf die Lauer.
Dem Knechte lief es heiß und kalt über den Leib. Er schlich zaghaft zum Vorhäuschen hinab, tat vor dem Fischer einen Bückling, wie er dies sonst nie getan, und stammelte:
Der gnädige Herr läßt euch melden, er sei aufs beste zufrieden mit solchem Gehorsam und erlasse euch den weitern Besuch in aller Huld. Er wünscht euch seinen Segen auf die Heimfahrt und hofft, Ihr werdet noch lange Jahre des Glückes auf seinem Grund und Boden genießen.
Als der Fischer diese Worte vernahm, ward er nachdenklich und voll Sorgen. Er nahm sein Kind bei der Hand, kehrte hastig hinab zu dem Schifflein, ergriff das Ruder und trieb mit gewaltigen Schlägen vom Ufer weg auf den See.
Wie er nun aber, den Rücken dem Schlosse zugekehrt, aufrecht im Schiffe stand und sich eben vorwärtsbückte, um mit dem Ruder
auszuholen, da schwirrte es plötzlich durch seinen Federbusch und ein Pfeil, von der eisernen Armbrust des Zwingherrn abgesandt, flog mitten in die Brust seines Kindes und mordete das junge Leben mit einem Schlag. Der Schuß hatte dem Fischer gegolten, traf aber das Herz des unschuldigen Mägdleins, das, freundlich gegen den Vater gekehrt, am Ruder saß und, wie dieser, so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen wünschte.Der Fischer fuhr hin zu seiner Hütte und bestattete die Leiche seines Kindes. Dann ließ er, also erzählt die Sage wetter, Hütte, Schiff und Netze zurück und ging, ohne mit einem Menschen ein Wort zu reden, hinauf in die Berge und blieb spurlos verschwunden.
3.
Nach Jahr und Tag, derweil das Herz des Zwingherrn immer grausamer ward, fing er an zu sinnen und dachte am Ende darauf, eine neue Burg zu erbauen. Die sollte dreimal fester werden als sein altes Schloß zu Ringgenberg, sollte hochgelegen sein und wohlversehen mit dicken Mauern, mit schlanken Türmen, mit Gräben ringsherum , dazu, tief in der Erde drin, mit heimlichen Gängen und Mordgewölben .
Auf freier Höhe zwischen Ringgenberg und Niederried ließ er Steine führen und Bäume hauen und zwang die armen Landleute, zu graben, zu meißeln und zu zimmern, also daß es weit durchs Tal scholl und hoch hinauf in die Berge und alles den Bau mit Furcht erstehen sah.
Nach etwelcher Zeit aber merkte der Zwingherr, daß er eines solch gewaltigen Werkes nicht kundig genug war, und soviel er auch herumfragen ließ, so wußte doch niemand Nat.
Da trat eines Tages ein Mann auf den Bauplatz. Er schien von stiller Art, trug nahezu graues Haar und einen langen Bart und ging langsam und ein wenig gebeugt, als ob ein schwerer Gram fein Herz bedrücke. Er schritt auch gleich auf den Zwingherrn zu, begrüßte ihn ehrerbietig und bot sich an, die Arbeit an dem herrlichen Schlosse zu vollführen. Er wäre, also sprach der Mann, feines Gewerbes ein Baumeister, sei lange Jahre in Rom gewesen und hätte sich dort in seinem Handwerk gründlich umgesehen.
Der Zwingherr war es höchlich zufrieden, daß ihm ein Mann, wie er ihn gerade wünschte, also in den Weg lief. Er klopfte ihm derb auf die Schulter und rief:
"Das trifft sich sa gut, Männchen, und ich nehme deine Dienste an. Führe das Werk hinaus, und dir soll ein Lohn werden, wie du ihn noch nie erhalten. Setzt aber komm, Wau dir den Bau näher an und tue, was dich heiße!
Mit diesen Worten führte der Ritter den Baumeister mitten
durch die Arbeiter, stieg dann voran auf die Grundmauer und zeigte ihm, wie alles kommen sollte, und tat groß nach links, und tat groß nach rechts, also wie ein gewichtiger Mann zu tun pflegt. Der Baumeister hörte ihn ruhig an, sah und ergriff, als er mit dem Zwingherrn allein auf dem Gemäuer stand, wie von ungefähr einen langstieligen Hammer und schlug damit auf den Steinen herum, als wollte er prüfen, ob sie auch aus gutem Korn und wohlgefügt und nicht brüchig und locker wären.Da hatte der Zwingherr ein höhnisches Gelächter.
Klopfe nur zu, Meister", rief er, "klopfe nur zu! Das hält entgegen, und Gnade Gott denen, die hineinkommen. Die müssen gute Zähne haben, sich da durchbeißen zu können.
"Das müssen sie", versetzte der Meister gleichmütig. "Und wünscht der gnädige Herr das ganze Schloß also fest gebauet ?"
Freilich, das ganze Schloß. Auch die Türme.
"Mit einem Graben ringsherum ?"
"Mit einem tiefen Graben.
"Den Platz habt Ihr gut gewählt, gnädiger Herr", fuhr der Meister fort, derweil er um sich schaute. "Er gewährt einen freien Blick auf die Gegend und auf all die, so euch etwa schaden könnten.
"Wohl gesprochen, Meister", antwortete der Zwingherr, "und also soll auch des Schlosses Name sein.
"Wie meint Ihr das, edler Herr ? Wie gedenkt Ihr das Schloß zu nennen ?
Iesi hob der Freiherr seine Hand und wies nach dem Tale.
"Dies Schloß", rief er in herrifchem Ton, dies Schloß, das der Schrecken des Landes wird und einem jeden zum Schaden gereichen soll, der ihm zu nahe tritt — Schadburg soll es genannt werden!
Setzt richtete sich der demütige Mann mit einem Ruck die Höhe, schwang den Hammer mit beiden Händen in der Luft, und derweilen ein schreckliches Feuer aus seinen Augen glühte, rief er mit plötzlich veränderter Stimme:
"Schadburg, meinet Ihr, soll es genannt werden ? Ihr irret, Herr. Freiburg wollen wir es heißen!
Und sausend fuhr das schwere Eisen nieder auf des Zwingherrn Haupt, daß er dahinstürzte über das Gemäuer mitten unter die Werkleute. Der Meister aber stieg hinab und schritt ruhig und heitern Angesichts, als ob nichts geschehen wäre, durch die vor Schrecken starr dastehenden Arbeiter, grüßte sie mit Kopfnicken nach links und nach rechts, und verließ den Bauplatz. Nicht einer wagte ihn zu greifen,
denn einem jeglichen ward plötzlich offenbar, es könne der seltsame Mann niemand anders sein als der ehemalige Fischer von Iseltwald, der gekommen, sein Kind zu rächen. Und als die Leute erkannten, wie nun das Land von der Gewalt des grausamen Zwingherrn befreit , da buben sie zu jubeln an und fielen einander vor Freuden um den Hals.Wohin der Fischer gegangen, davon weiß die Sage nichts zu berichten . Einige aber meinen, er wäre erst in die Berge zurückgekehrt und sei dann nach dem heiligen Lande gezogen, um am Grabe des Heilandes Gnade zu erflehen für die blutige Rache, die er am Mörder seines Kindes genommen.
Die Burg ward nicht vollendet. Noch heute sind an jener Stelle nur spärliche Neste zu erblicken — nichts als die Grundmauern, die von den ersten Arbeitern errichtet worden.
Die Felsengrotte
Im Dorfe Zweisimmen lebte vor langen Jähren ein Mann mit Namen Schmutz. Der war arm und hatte eine große Familie zu ernähren . Statt nun aber fleißig zu arbeiten, lungerte er lieber umher, schimpfte bald über diesen, bald über jenen seiner Nachbarn, die es unverdient soviel besser hätten als er, oder sammerte über die schlechten Zeiten. Also gerieten die armen Leute immer tiefer ins Elend, bis sich endlich die Gemeinde ins Mittel legte und dem Schmutz ein Stücklein Wald am Berge droben zum Neuten übergab, auf daß er sich dort nach Jahr und Tag eine Heimstätte gründe.
Der Mann war über dieses Geschenk nur wenig erfreut, machte sich aber an die Arbeit.
Jeden Morgen stieg er auf Zickzackwegen zum Platze hinauf, der ihm angewiesen worden, und hub zu hacken an. Die Sonne schien heiß, die Wurzelstöcke waren hier und dort arg verästelt und ließen sich nur mühsam dem Boden entreißen, also daß der Schmutz vor Aerger fast aus der Haut fuhr, gar oft sein Werkzeug hinwarf und sich schwor, am folgenden Tage nicht mehr heraufzukommen. Er kam aber, der Not gehorchend, immer wieder, ward indessen von Woche zu Woche mürrischer. Die Lichtung klärte sich nur langsam, und wenn er abends ins Dorf niederstieg und an den fetten Wiesen vorbeiging, die ihrem Besitzer wohl nur wenig zu schaffen machten, da fraß der Reid an seinem Herzen, und er sprach zu sich selber:
"Schmutz, du bist ein Narr. Was hilft es dir, dich noch weiter zu plagen ? Hast am End doch nicht mehr als vorher. Die Reichen, ja, die haben s schon besser. Die brauchen nur ihre Leute anzustellen und ihnen zu befehlen, was zu tun sei, und gesotten oder gebraten fliegen den Herrschaften die Tauben ins Maul. Solltest halt reich werden, Schmutz! Herrgott, wär das ein Leben, wenn auch du nur fo im Gelde herumschwimmen könntest!
Eines Tages war er damit beschäftigt, sein Stücklein urbargemachtes Landes mit einem Lattenzaun zu umgeben, und ohne
Schimpfen ging auch das nicht vonstatten, weil ihm fremde Schafe und Ziegen das Gras abgefressen hatten, das in seinem neuen Reiche bereits recht ordentlich gedieh. Zwischenhinein brütete er auch darüber nach, warum denn die Güter dieser Welt so ungleich verteilt und gerade er, der Schmutz, fo kärglich damit beschert worden sei, als plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein Zwerglein vor ihm stand.Komm mit mir!" sprach es.
Halb erstaunt, halb erschrocken starrte der Schmutz auf das Männchen nieder und fragte endlich:
"Ja was willst denn mit mir, du kleiner Waldratz ?"
"Sollst es erfahren. Komm!
Mit diesen Worten wandte sich das Zwerglein um und schritt eilig dem Gehölze zu.
Nach einigem Besinnen ließ der Schmutz sein Beil auf den Boden sinken und stapfte dem Männchen nach. Er hatte von diesen Leutchen nur Gutes gehört, unter andrem, daß sie einmal einen armen Teufel, der nicht mehr wußte wo aus und ein, zum reichen Manne gemacht, und wie er daran dachte, da wässerte ihm der Mund. Hatte etwa das Zwerglein hier Aehnliches mit ihm vor ?
Sie stiegen einen Hang hinan und standen plötzlich vor einer Spalte, die sich am Fuß einer zerrissenen Felswand vor ihnen auftat. Ein Lichtschimmer drang aus der dunklen Tiefe.
Das Zwerglein wies mit der Hand gegen die Spalte.
"Dieses Felsentor', sprach es, "führt in eine Grotte, in der eine Menge Schätze aufbewahrt sind. Es öffnet sich nur einmal alle hundert Jahr. Geh setzt hinein, bewundre die herrlichen Dinge und wähle dir etwas aus, das dich freut. Das darfst du mitnehmen. Es wird dich zum reichen Manne machen. Bedenke aber das eine: länger als eine Stunde darfst du nicht der Höhle verweilen. Denn nach dieser Zeit schließt sich das Tor und wird sich erst nach weitern hundert Jähren wieder auftun.
Den letzten Worten des Zwergleins hatte der Schmutz nur mit halbem Ohr zugehört. Ihn blendete allein der Gedanke, daß er nun auf einmal ein reicher Mann werden solle, und ohne sich lange zu besinnen, schritt er keck durch das Felsentor in die Höhle.
Herrgott im Himmel, welch ein Glanz ihm da entgegenstrahlte! Es flimmerte nur so von Gold und Edelgestein im Scheine des mächtigen Kronleuchters, der von der Becke des Gewölbes niederhing, und ein paarmal mußte sich der Schmutz mit dem Aermel über die Augen fahren, die zu tränen anhuben ob der funkelnden Pracht.
Als er sich vom ersten Staunen ein wenig erholt und sich nun umsah, fuhr ihm doch ein gelinder Schrecken durch die Glieder. Gleich beim Eingang nämlich, zur Linken wie zur Rechten, erhoben sich, auf hohen Sockeln ruhend, zwei gewaltige Löwen aus Erz, die mit glühenden Augen auf ihn niederschauten. Schnell aber wandte er seinen Blick von ihnen ab und besah sich lieber die Dinge, die ihm besser gefielen.
Da zog sich durch die Mitte der Grotte ein kristallner Tisch von gar mächtiger Art, mit aufgekrempeltem Rande und schlanken Füßen, der also lang war, daß man sein Ende gar nicht absehen konnte. Und auf diesem Tische, dem der Schmutz nun entlang wandelte, lagen ausgebreitet die Schätze dieser Erde.
Da waren goldene Kronen, mit roten Edelsteinen besetzt, Kästchen aus Elfenbein, in denen sich auf schwarzem Samt allerlei zierliche Geschmeide ringelten. Es prangten auf silbernen Schalen rotbäckige Aepfel und Weintrauben von riesenhafter Größe, die freilich, wie sich der Mann schon dachte, nicht zum Essen hingesetzt waren. Dann wieder blinkten Becher, aus schlanken Kelchen stiegen herrliche Blumen- und Blattpflanzen gleich den Strahlen eines Springquells. Und Setzt — dem Schmutz benahm es fast den Atem — stand er vor Truhen, du mit ungezählten Goldstücken angefüllt waren, es türmten sich ganze Barren zum Spitzbau, in kristallnem Lichte glitzerten Burgen und Schlösser, und dort — sah er denn recht? — ragte gar ein kleines Gebirge in du Höhe, mit golden funkelnden Bergspitzen und
einem dunkelblauen Seelein mitten drin. Noch mehr der Wunderdinge vermochte der Schmutz nicht zu erkennen. Denn der weitere Teil des Tisches verlor sich dämmrigen Dunkel der Grotte, die wohl noch tief ins Innere der Erde führen mußte.Den beiden Seiten des Gewölbes entlang zog sich allerhand natürliches Busch- und Baumwerk, vom kleinen Tännchen weg bis zum hochstämmigen Lärchenbäumchen. Aus seinem Dunkel lugte bald hier, bald dort ein scheues Reh, und ein Uhu mit tellergroßen Augen, der nachdenklich von einem Aste niederblickte, ließ nun in regelmäßigen Abständen sein schauerliches Puhu ertönen, fast als ob das Zwerglein den Vogel eigens hieher bestellt hätte, den Schmutz gleich einer Wanduhr an die eilende Zeit zu gemahnen.
Der Schmutz aber hatte vorläufig kein Ohr für Warnungszeichen, und um die Zeit kümmerte er sich nicht. Er hatte Setzt nur Augen, und diese verschlangen denn auch gierig all die glänzenden Dinge, die sich vor ihm ausbreiteten. Nach Kinderart indessen konnte er nicht umhin, sie auch gleich zu berühren. Zudem mußte der Mann sich doch überzeugen, ob das Stück, das er am Ende zum Forttragen auswählte, ja nicht zu schwer sei, also daß kein Mensch, der etwa dabei gewesen wäre, ihm dieses Berühren hätte übelaufnehmen können.
Die Kronen, freilich, ließ er Kronen sein. Der Schmutz wollte la nicht König, er wollte bloß reich werden. Dagegen fuhr er mit seinen klobigen Fingern schon recht zärtlich über das feine Gold der Reifen und Ringe, die in den Kästchen lagen, und von denen einige also groß waren, daß man sie ohne Mühe um den Hals eines Kälbchens hätte legen können. Noch zärtlicher ward ihm ums Herz, als er einen der goldenen Aepfel in der Hand wog und dann eine wuchtige Weintraube am Stiele faßte und sie ein ganzes Weilchen vor sich hin und her baumeln ließ. Als aber der Mann gar in eine der Truhen griff, ihr eine Handvoll der Goldvögelchen entnahm und sie wie ein klirrend Bächlein in den Kasten hinabrieseln ließ, da schnürte es ihm vor Lust die Kehle zusammen, und er mußte ein paarmal schlucken und würgen, um nicht zu ersticken.
Der Schmutz hatte das Gold bis jetzt nur vom Hörensagen gekannt . Das war es also, dieses rötlich glitzernde Ding, das die Menschen, wenn sie's haben, resch und glücklich, wenn sie's nicht haben , arm und unglücklich macht ? Das Ding, nach dem sie unablässig streben und das ihnen keine Ruhe läßt weder bei Tag noch bet Nacht ? Nun, Gott sei Dank, er wenigstens, der Schmutz, brauchte sich nicht weiter darum zu plagen. Jetzt war er mit einem Schlag ein reicher Mann und konnte es sich . . .
"Puhu — puhu — puhu!"
Ein wenig erschrocken hob der Schmutz feinen Kopf und blickte hinüber nach dem schwarzbraunen Gesellen auf dem Aste. Was Batie ihn der zu stören ? Sage der doch seine Mäuse und Frösche und lasst ihn in Ruhe! Und er fuhr fort, im Golde zu wühlen, griff jetzt mit beiden Händen bald in diese, bald in jene der Truhen, zog sie gefüllt heraus und ließ nun die runden Herzplättchen langsam durch seine dicken Finger sickern. Wie das klang! Tag und Nacht hätte er dem Tone lauschen mögen!
Indessen hatte der Schmutz noch andres zu tun. Er musterte setzt die Goldbarren, du sich in Beigen oder Spitzbauform vor ihm auftürmten, legte so viel der schweren Stangen auf feinen Arm, als dieser zu tragen vermochte, worauf er sie wieder sorgsam an Ort und Stelle legte. Schon ein einziger von ihnen, also sagte sich der
Mann, mußte ihn zum wohlhabenden Bauer machen. Damit konnte er sich bereits ein schönes Gütlein erwerben, konnte mit einem zweiten . . .Ein Schatten huschte über den Tisch, und gleich darauf erscholl wieder, diesmal hinter ihm, das widerwärtige Puhu des Nachtvogels durch die Totenstille der Höhle.
Der Schmus kümmerte sich nicht darum. Er versank jetzt ganz ins Anschauen der herrlichen Gebirgslandschaft am Ende des noch deutlich sichtbaren Gabentempels, also daß die Freude daran seine Gier für ewen Augenblick überwog. Die Berge hier waren ihm freilich unbekannt ; schönre aber, dünkte ihn, gab es nicht auf der Welt. In reinem Golde strahlten die Gipfel, wie die Berge seiner Heimat im Abendrot. Von ihnen hernieder schlängelten sich die silbernen Gletscher , schäumende Bächlein sprangen über Fels und Stein. Weiter unten lagerten sich um ein tiefblaues Seelein die grünen Alpweiden, und auf ihnen entdeckte der Mann bei näherm Hinsehen ein paar braune Hüttchen und ein Dutzend rote Kühleren, die friedlich das Gras weideten . . .
Da war sie wieder, seine Gier! Gewiß, er würde sich im Tale drunten ein schönes Gütlein erwerben, mit viel Land darum, also daß arm und reich ihn darum beneiden sollte. Dann aber wollte er dem Stucki Sami seine Alp abhandeln samt der Hütte, dem Vieh und allem, was drum und dran hing. Die hatte ihm immer so in die Augen gestochen und war auch wirklich schöner als all die andern Weiden. Drei, vier oder mehr Sennen mußten die Arbeit besorgen. Er selber aber würde nur ab und zu . . .
"Puhu — puhu — puhu!"
Wieder tönte der unheimliche Schrei des Nachtvogels an sein Ohr, nun lauter und eindringlicher. Betroffen fuhr der Schmutz aus seinen Träumen und entsann sich plötzlich dessen, was ihm das Zwerglein gesagt: daß er nicht länger als eine Stunde in der Höhle verweilen dürfe. Ihn dünkte freilich, es wäre noch lange nicht soweit, und mehr als eine Viertelstunde, wenn's gut ging eine halbe Stunde,
konnte doch nicht verflossen sein, seit er hier eingetreten. Doch fand jetzt der Mann für gut, sich zu entschließen und das, was ihn am meisten freute, auszuwählen.Also wanderte er denn bedächtig bald auf dieser, bald auf jener Seite dem Tisch entlang, sich alles nochmals genau zu besehen. Was sollte er sich aussuchen ? Die Wahl fiel ihm nicht leicht, da der Schmutz am liebsten alles an sich gerissen und fortgetragen hätte.
Sich mit einem Kästchen zu begnügen, mit einem Apfel oder einer Weintraube — das fiel ihm nicht ein. Auch eine goldene Kette, die gleich einer Schlange zusammengeringelt da lag, war dem Schmutz zuwenig. Ums Leben gern dagegen hätte er die schöne Gebirgslandschaft auf feine Schulter geladen und sich nebenher die Taschen mit Goldstücken gefüllt. Doch war der Berg wie mit dem Tische verschmolzen. Also entschied er sich denn für die Truhen und Goldbarren.
Die Truhen waren nicht alle von derselben Größe. Der Schmutz faßte erst eine der kleinern ins Auge, hob diese ohne zu große Mühe vom Tisch und trug sie gleich zum Eingang der Höhle, wo er die Last vor den Löwen auf den Boden legte.
Mit dem Inhalte dieser Truhe allein hätte der Mann ruhig sein Dörfchen aufkaufen können. seiner Gier aber, die setzt gewaltig aufloderte, genügte ihm dies nicht mehr. Es fiel ihm plötzlich eta, man könnte ja mehrere der Truhen mit sich nehmen, ohne dadurch das Gebot des Zwergleins zu übertreten. Indessen wollte er sie vorerst alle am Eingang der Höhle aufstapeln, und dann von hier aus Stück um Stück hinausschaffen.
Gedacht, getan. Auf die erste der Truhen legte er eine zweite, auf diese eine dritte. Setzt heran an eine der größern . . . dann . . .
Da ertönte schon wieder, diesmal unwillig und fast wild, der düstre Schrei des Vogels: "Puhu — puhu — puhu!" gefolgt von ein paar schnaubenden Schnabelschlägen. Der Schmutz warf dem Störenfried einen wütenden Blick zu, setzte aber setzt seine Arbeit hastiger fort. Er hatte nun selber das Gefühl, die Zeit sei bald herum und man müsse sich sputen.
Mit zitternden Händen, doch bewehrt mit Riesenkräften, die ihm seine Gier verlieh, hob er jetzt eine der größern Truhen über die Tischkrempe, mußte diese aber, da sie sich zum Tragen als zu schwer erwies, über den Boden schleifen.
Auf halbem Wege ließ er sie jedoch stehen, sprang, vom wahnsinnigen Verlangen erfaßt, noch mehr zu erraffen, zu den Truhen zurück, hob eine gleichschwere vom Tisch und hub an, sie vorwärtszuschieben . . .
Da — ein unterirdisches Rollen und Grollen. Der Boden zitterte, die Wände wankten, die Lichter tanzten und löschten dann aus, also daß es plötzlich dunkel ward in der Höhle. Der Schmutz, halb auf den Knien, fuhr erschrocken in du Höhe und griff nach der Tischkrempe , sich daran zu halten. Nicht lange, da fegte aus der Tiefe
Der Mann erwachte erst am folgenden Morgen. Er erhob sich nur mit Mühe und fuhr mit der Hand über die Augen. Was war denn mit ihm geschehen ? Hatte er bloß geträumt oder wirklich etwas erlebt ? Er fühlte sich wie zerschlagen, und jeder Knochen im Leibe tat ihm weh.
Da tauchte plötzlich das Zwerglein vor ihm auf.
"Wie ist es dir in der Höhle ergangen?" fragte es und lächelte dabei. "Hast etwas gefunden, das dich freut?"
Der Schmutz starrte das Männchen ein Weilchen mit blöden Augen an. Allmählich aber ging ihm ein Licht auf. Er sah sich wieder in der Höhle, sah den Glanz des Goldes, sah die Truhen, die er mitnehmen wollte. Auch ward ihm plötzlich wieder schwarz vor den Augen, er hörte das Brausen des Windes, taumelte den Gang dahin . . .
Da ward er wütend.
"Spitzbuben seid Ihr", schrie er das Zwerglein an. "Da mast Ihr einem armen Teufel das Maul wässrig, zeigt ihm tausend schöne Sachen, und wenn er sich schließlich erlaubt, ein weniges davon nehmen, schwupp, werft Ihr den Mann zum Loch hinaus und läßt ihn halbtot liegen.
Das Zwerglein lächelte nur und sagte:
"Es ist, wie man's nimmt. Hättest genau getan, wie ich dir sagte, würdest setzt ein reicher Mann sein. Doch wär dir auch das nicht gut bekommen. Denn merke:
Jage nicht auf falschen Wegen Nach des Goldes rotem Schein. Nur durch Arbeit und Entbehren Will es errungen sein. |
Sprach's, und verschwand im nahen Gebüsch.
Die Stelle aber, die der Schmutz ausgereutet und die zum Teil noch heute bepflanzt wird, wurde von jener Zeit an Schmützenried genannt.
Die versunkene Stadt
Es ging gegen Mitternacht. Da stapfte ein Mann, sein Pferd am Zügel hinter sich herziehend, den Weg hinan, der zwischen Unterseen und Beatenberg die waldigen Hänge emporführt.
Der Mann schien müde, wie sein Pferd. Er war am Morgen :n aller Frühe von Beatenberg aufgebrochen und in Geschäften ins Unterland geritten, hatte am Nachmittag den Markt in Unterseen besucht, sich daselbst gesäumt, und kehrte nun zu solch später Stunde nach seinem Heimatdorf zurück.
Es war im Spätherbst, die Nacht düster. Schaurig wehte der Wind durch den Wald. Nur dann und wann trat der Mond aus grauem Gewölk hervor und warf sein gespenstisch Licht über den Weg.
Der Mann — eine kraftvoll hohe Gestalt, in einen Reitermantel gehüllt und den Federhut auf dem Kopf — kümmerte sich nicht darum . Er hatte den Weg schon hundertmal zurückgelegt und fand ihn auch im Dunkel. Er war von einfach schlachter Art, wenngleich begütert und von angesehnern Namen, war einem jeden Menschen wohlgesinnt und bemüht, in allen Dingen nach dem Rechten zu sehen.
Wie nun der müde Reiter den dunklen Bergwald hinanschritt, seinen Gedanken nachhängend, das Rauschen der Bäume und das einförmige Hufgeklapper seines Pferdes im Ohr, da raschelte es plötzlich im Gehölz. Er wandte den Kopf nach der Seite und gewahrte , wie ihn zwei Augen durch die Nacht anfunkelten. Gleich darauf trat auch die schlanke Gestalt einer Frau an ihn heran und fragte in flüsterndem Tone:
"Hast du ein mitleidig Herz für eine Unglückliche?
"Ich trau mir das zu antwortete der Mann, schnell gefaßt und ohne einen Augenblick zu zögern.
"Hättest du Geduld, mich eine Stunde anzuhören?" fragte die Frau weiter.
"Wenn dir damit gedient ist, warum nicht.
"Dann folge mir. ES soll dir nichts geschehn.
Furcht kannte der Mann nicht. Und wenn es galt, einem Menschen sein Los zu erleichtern, dann konnte ihn nichts abhalten, es zu tun.
"Soll ich das Pferd hier lassen ?"" fragte er,
"Nein, führe es mit dir."
Sie bogen vom Wege ab, schritten schweigend den finstern Tannenwald hinan und gelangten nach einer Weile auf die Höhe der Waldegg, wo nach der Sage eine Stadt gestanden haben soll.
Da hielt die geheimnisvolle Frau an.
"Ich bin gleich wieder bei dir", sagte sie leise und verschwand im Gehölz.
Wie jetzt aber der Mann zu sinnen anhob, was ihm wohl die Unglückliche zu sagen hätte, da geschah etwas Wundersames . . .
Er sah sich nebst seinem Pferd auf einmal mitten in einer Stadt. Es war gerade Jahrmarkt, gegen Abend, und die Straßen voll Leben. Bude reihte sich an Bude, mit weisen Tüchern überspannt. Händler boten ihre Ware feil, Wagen und Kutschen fuhren hin und her.
Da sprengte eine Reiterin auf weißem Zelter ) mitten durch die wogende Menge, hielt vor dem Manne an und gab ihm ein Zeichen, sein Pferd zu besteigen und ihr folgen. Er tat es, und beide ritten nun Seite an Seite gemächlich durch die Straßen, vom Sattel hernieder das Leben und Treiben der Leute beobachtend.
Nach einer Weile erreichten sie das Stadttor, gewannen das Frese und ritten nun einem einsamen Waldweg entlang in den stillen Abend hinaus.
Erst setzt warf der Mann einen prüfenden Blick auf seine Begleiterin.
Sie war in ein schwarzes Samtgewand gehüllt. Ein kurzer Mantel hing ihr über die Schultern, und ein Federhut beschattete das feingeschnittene , doch totenblässe Gesicht. In der einen Hand hielt sie die
Nachdem die beiden eine Weile langsam dahingeritten, wandte sich die blasse Frau plötzlich ihrem Begleiter zu und hub in leisem, doch leidenschaftlich erregten Tone, wie er ihn vor kurzem im Walde drunten vernommen, zu sprechen an:
"Nun hör auf meine Worte. Ich lebt' vor langen langen Jahren in dieser Stadt, war das einzige Kind vornehmer Eltern und wurde, ach, als solches auch erzogen. Alles an mir gefiel ihnen, und ich durfte tun, was mir beliebte. Es gab keine Laune, der sie nicht nachgegeben, keinen Wunsch, den sie mir nicht erfüllt hätten. Ich war eitel — sie kleideten mich in Samt und Gelde. war hochmütig, prahlte vor andern Kindern mit unserm Haus und unserm Reichtum sie fanden das natürlich. Ich war grausam, hatt' meine Lust daran , ein jeglich Tier zu quälen und junge Hunde und Katzen zu ersäufen , auch draufloszulügen, wo es meinen Zwecken diente — sie wußten das und ließen dennoch mich gewähren. Und also wuchs ich auf, ward glücklich nicht, ward nie zufrieden, und statt das giftige Kraut, das sie mir eingeboren, aus Fleisch und Blut zu tilgen, gedieh es weiter, ward zum gewaltigen Schlinggewächs, am Ende mir und andern zum Verderben. Zum Weinen ist's, was Eltern sündigen an ihren Kindern, und nur in Zucht und Strenge kann der junge Mensch gedeihn und fühlt sich glücklich.
Die Frau seufzte tief auf und blickte einen Augenblick verloren vor sich hin. Dann fuhr sie fort:
"So wuchs ich auf zur schön und stolzen Jungfrau — schön nach außen, von der ganzen Stadt bewundert, im Innern aber voller Leidenschaften, die jeden Augenblick, weil nicht gebändigt, gleich wilden Tieren auszubrechen drohten. Zum Spielzeug wurden mir die Männer. tändelt' nur mit ihnen, und alle beugten sie sich meinem Willen. Doch lieben tat keinen.
Auf einmal aber fing es auch in meiner Seel zu brennen an, und einem Wahnsinn gleich erfaßte mich die Lieb zu einem großen
blonden Mann mit blauen Augen, nicht schön, doch edlen Anstands und voll hoher Denkungsart, der erst vor kurzem in die Stadt gezogen und in den Kreis der jungen Leut getreten war. Ich wußte nicht, woher er kam, noch, warum mein Herz gerad für ihn entbrannte - 's war wohl, weil er all das zu haben schien, was den Mann ausmacht in meinem Sinn. Ich war von da an wie verwandelt , war wie ein demütig Kind. Ich drängt' mich oft in seine Nähe, ging oft an ihm vorbei, war glücklich, ihn zu sehen, selig, wenn er mit mir sprach, an jedem Tage hoffend, daß auch sein Herz für mich höherschlagen möchte.Die Zeit verstrich. Zur verzehrnden Glut wuchs meine Liebe. Er aber blieb kühl und gemessen wie zuvor.
Da geschah's, daß auf der Jagd wir beide, von den andern fern, uns trafen in einsam abgelegner Gegend. Da versagt mit einemmal mein stolzer Wille, und ich gestand ihm meine Liebe. Er aber sah mich an und sprach:
"Ich kannte dich, eh du es ahntest, eh noch die Liebe ihre Netze um dich schlug. Du bist wohl schön, und herrlich wärs, wär auch die Seele gleich beschaffen wie dein Körper. Die aber ist ein Garten ohne Gärtner , darin des Unkrauts viel, doch wenig Blumen. lieb dich nicht.
Er hatte wahr gesprochen. Mir aber schien, als hätt' mich jemand ins Gesicht geschlagen. Weiß ward wohl die Wange, weiß mein roter Mund, es glitt die Hand hinab zum Gürtel — hätt ' ich den Dolch daran gefunden, fürwahr, ich hätt ' ihn auf der Stell getötet. Mir das! schrie es in meiner Seele. Mir das! Und glühend wie die Lieb zuvor flammt jetzt in mir der Haß empor.
Antworten tat ich nicht, ritt schweigend mit ihm zu den andern. Mein Herze aber brannte vor Begier, den Schimpf rächen, und ich sann zum Untergang des Manns auf eine böse Tat.
Er ritt ein jung und wildes Pferd. Da braucht's nicht viel, es scheu zu machen. Auch wußt ich wohl, daß uns der Weg bei unsrer Heimkehr von der Jagd ganz hart an einem Fels vorüberführen würde, der wandgäh tief zum Fluß hinunterstürzte. Drauf baut' ich
"Kaum war die schrecklich Tat geschehn, da kam die Neue über mich. Doch war's zu spät. Denn mich traf Gottes Zorn, so wie ich es verdient: am Abend jenes Tages war ich eine Leiche.
Doch auch im Grabe fand ich keine Ruh, mußt' seitdem an die hundertmal zu Pferde steigen und mich hinunterstürzen jenen steilen Fels, um hundertfach zu büßen das Entsetzen, das feuer edle Mann in jenem Augenblick empfunden. Heut aber ist s zum letztenmal, daß es geschieht. Doch mußt' ich ehzuvor es einem Menschen klagen, auf daß mein Herze sich erleichtert fühle, und auch, daß du und andre ziehen mögen ein gute Lehr aus meinem Unglück."
Die Frau hielt ihr Pferd an und fuhr fort:
"Jetzt haben wir das Ziel erreicht. Denn sieh: dort unten, wo der Weg sich naht dem steilen Hang, dort ist das furchtbar Schreckliche geschehn, dort hat ein einziger unbedachter Augenblick, aus ungezähmter Leidenschaft geboren, mein Leben und das Leben jenes edlen Manns vernichtet.
Nun aber, auf! Erweise mir noch diesen Dienst und sag mit mir hin zu dem Felsen. Dort gibst du meinem Pferde einen Schlag, und alles ist vorbei."
Dem Manne war, als sei der Wunsch der blassen Frau Befehl. Er sprengte mit ihr zum Felfenrand, sah ihren Zelter schnaubend in die Höhe steigen, hörte einen Schrei, und niederftürzten Roß und Retterin in den Abgrund . . . .
Und wieder ward es Nacht um ihn. Der Bergwald rauschte, der Mond schien hell. Doch als der Mann den Weg zurückritt, den er mit seiner Begleiterin gekommen, da war die Stadt verschwunden.
Das Zwerglein auf der Spiezer Fluh
1.
An den lieblichen Gestaden des Thunersees liegt das Dörfchen Spiez. Schloß und Kirche sowie ein Teil der Häuser sind hingebaut auf eine kleine Landspitze, die dem Orte seinen Namen gegeben, derweilen die übrigen Häuser den anliegenden Hügel schmücken, der also sonnig ist, daß hier die Neben blühen.
Das Dorf ist nicht also leicht sichtbar wie andre Ortschaften um den See herum. Es liegt nämlich halbversteckt in einer Bucht und wird zudem verdeckt durch eine Art Vorgebirge, den Spiezberg, der sich vom Dorfe weg abwärts hart dem Wasser entlang zieht. Der Berg ist stell, der See tief, und die Sage geht, daß hier zwei neuvermählte Paare aus den adligen Geschlechtern der Erlach und Bubenberg am Tage ihrer Hochzeit Schiffbruch gelitten und ertrunken seien.
Auf der Höhe dieses Vorgebirges nun erhebt sich eine Fluh, im Volksmunde Spiezer Fluh genannt, und auch von ihr weiß uns die Sage etwas zu berichten.
Vor langen Jahren lebte in dieser Gegend ein Zwerglein. Das stieg im Sommer an jedem schönen Morgen zur Spitze der Fluh, ließ sich hier auf einem behaglichen Plätzchen nieder und blickte, das Köpfchen in die Hand gestützt, stundenlang auf den See hinaus. Es mochte sich wohl ergötzen an seinem geheimnisvollen Blau, am Kräuseln des Wassers, wenn der Wind darüber spielte, an den weißen Segeln, die hierhin und dorthin zogen, an den anmutigen Gestade; i.
Die guten Leute von Spiez mochten das zierliche Kerlchen gar wohl leiden und machten sich ein Vergnügen daraus, ihm ab und zu ein Stücklein Brot und Käse, eine Schale Milch oder wohl auch Aepfel und Birnen zu bringen, wofür es jeweilen recht artig zu danken pflegte. War nun das Wichtlein besonders gut gelaunt, nannte es den Leuten, um sich ihnen erkenntlich zu zeigen, irgendeine Glückszahl, die dann für ihr Leben bedeutsam ward. Nannte es etwa die
Zahl sieben, so konnte der damit Beschenkte sicher sein, daß ihm nach sieben Tagen, sieben Wochen, sieben Monaten oder auch erst nach sieben Jahren ein Glück zuteil wurde. Ward das Zwerglein hingegen geneckt oder störte man es unvorsichtig in seinen Träumen, dann konnte der Knirps zuweilen recht unfreundlich sein.Kam da eines Tages ein Büblein auf die Fluh und brachte ihm ein Stückchen Brot und ein Töpfchen Milch. Das Männchen achtete seiner wenig und schaute auch während des Essens unverwandt auf den See. Das ward dem Büblein am Ende langweilig. Es konnte nicht begreifen, wie man also in einem fort an den gleichen Ort hinstarren könne, stellte sich plötzlich gewichtig vor ihn hin und fragte in spöttischem Tone:
"So sag mir doch, du kleiner Wicht, wie viel der Tropfen sind es denn im See?"
Jetzt hob das Männchen schnell sein Köpfchen und gewohnt, in Sprüchlein zu sprechen, erwiderte es mit blitzenden Augen:
"Wie viel der Tropfen es sind im See ? So viel der Flocken im Gletscherschnee. Und willst genauer du's noch wissen, So wirst du gehn und zählen müssen. |
Sprach's, stellte das Töpfchen unwirsch auf den Boden, sprang auf die Füße und eilte dem Walde zu. Verblüfft schaute ihm der Junge nach.
Ein andermal wieder kam ein armes Bäuerlein auf die Fluh, bot ihm Früchte an und bat um eine Glückszahl. Das Männchen war indessen an jenem Morgen sehr schlecht gestimmt und wäre lieber allein geblieben. Wie nun das Bäuerlein mit Bitten nicht nachließ, rückte es am Ende doch mit einer Zahl heraus, kleidete diese aber in ein zweideutiges Sprüchlein und sagte:
"Nimm Licht und Feuer wohl in acht, Des Bösen Gefährte ist die Nacht. |
Der Mann wußte nicht, was er mit dem Sprüchlein anfangen sollte. Er gelobte sich im stillen, dem seltsamen Kauz künftig nichts mehr zu schenken und trollte sich unzufrieden von dannen.
Nach acht Tagen brannte in der Nacht sein Häuschen nieder. Acht Monate später, als der Sommer wieder ins Land gezogen kam und der Mann den Boden aushub, um ein neues Häuschen zu erstellen, stieß er plötzlich auf einen Topf, der mit lauter Goldstücken gefüllt war, und aus dem armen Bäuerlein ward mit einem Schlag ein wohlhabender Mann. Erst jetzt merkte er, daß in dem Sprüchlein die Zahl acht verborgen gewesen, frug aber von jener Zeit an nach keiner Glückszahl mehr.
2.
Um jene Zeit lebte in Spiez ein reicher Mann. Der hatte ein einzig Kind, ein Töchterlein von zwanzig Jahren, das wohl schön war über alle Maßen, doch von stolzer Art und eitel auf ihres Vaters Reichtum. An Freiern aus dem Dörfchen fehlte es nicht. Indessen waren ihr alle diese zuwenig reich und vor allen Dingen nicht vornehm genug. Sie erträumte sich vielmehr einen schönen Mann, der eine Weile in fremden Landen gewesen und nun eines Tages, fein gekleidet und geschliffen im Benehmen, einem Prinzen gleich im Dorf erscheinen und um ihre Hand anhalten würde.
Indessen verstrich die Zeit. Das Kättchen, also hieß das hochmütige Ding, führte die jungen Burschen des Ortes fleißig an der Nase herum, der Ersehnte aber erschien nicht. Das Mädchen geriet darüber schon ordentlich in Unruhe, als ihm noch rechtzeitig das Zwerglein auf der Spieler Fluh einfiel. Von dem wollte es sich elne Glückszahl erbitten, und diese sollte dem Närrchen den Mann seines Herzens näherbringen.
Sie füllte eines Morgens ihre Schürze mit frisch gepflückten Erdbeeren und Kirschen und legte darauf noch allerlei Backwerk, nahm
auch ein Kännchen süßen Weins in die Hand und eilte damit nach der Spiezer Fluh.Das Zwerglein saß, in seine Träume versunken, unter einer Tanne.
Es war ein schöner Morgen. Kein Lüftchen regte sich. Ein duftger Glanz lag über der glatten Fläche des Sees, und in seinen Tiefen spiegelten sich die grünen Ufer, die Berge und der Himmel.
Also war es denn nicht zu verwundern, daß das Männchen den Besuch nicht gerne kommen sah. Sobald es indessen die lieblichen Dinge gewahrte, die das Mädchen vor seinen Füßen ausbreitete, griff es gleich zu, ass mit Lust von den Früchten und dem Gebäck und trank auch ab und zu ein Schlücklein Wein, den ihm das schöne Kind im gefüllten Becherchen reichte. Bei alldem aber ruhten die hellen Aeuglein fort und fort auf dem silbern schimmernden See, und es schien darüber der Spenderin ganz zu vergessen.
Eine Weile schaute diese zu, wie das Männchen ass und trank und erwartete jeden Augenblick, es werde nun auch zu sprechen anheben und ihm eine Glückszahl nennen. Als aber die Mahlzeit beendigt , das Zwerglein nur freundlich dankte und gleich wieder stumm auf den See hinausblickte, da fühlte sich das stolze Mädchen verletzt. Umsonst wollte sie nicht gekommen fein und beschloß also, dem schweigsamen Sonderling das Mäulchen zu lösen. Sie trat ein Schrittchen näher und sprach also
"Wenn s dir geschmeckt hat, Kleiner, komm ich ein andermal wieder und bringe du mehr. Denn wisse: ich bin reich, mein Vater hat Kisten und Kasten voll, hat Haus und Hof, hat Matten und Weiden, hat Trauben im Weinberg. Jetzt aber mußt mir eine Glückszahl nennen . Darfst mir doch auch einen Gefallen erweisen, wenn ich dich solchermaßen bewirte!
Setzt hob das Zwerglein fein Köpfchen und blickte der stolzen Jungfer voll ins Gesicht. Dann sprang es auf, schaute einen Augenblick nieder und auf das Haus des reichen Vaters, das mit seinem roten Ziegeldach aus einem Wald von Obstbäumen hervorguckte, und sagte:
Was Glück ist, Kind, weißt jetzt noch nicht, Wirst es erfahren, wenn d älter bist. Wirft es erfahren, wenn's heißt einmal: Zum ersten, zweiten und — dritten Mal. |
Auf threni Heimwege sann das Kättchen über das Sprüchlein bln und her, vermochte aber daraus nicht klug zu werden. Das war ja gar keine Glückszahl, also wie sie es sich gewünscht hatte. Das war ein einfältiges Sprüchlein über das Glück, mehr nicht. Oder sollte etwa die Dreizahl etwas zu bedeuten haben ?
Sie gab acht. Doch begegnete ihr weder am ersten, noch am zweiten oder dritten Tage etwas Besonderes, und auch die nächsten Wochen und Monate verstrichen, ohne daß ihr Liebestraum sich erfüllt hätte. Also verblaßte denn das Verslein mählich in ihrem Köpfchen.
3.
Es war an einem Tanzsonntag zur Zelt der Weinlese. Unter den Klängen der Hörner und Pfeifen drehten sich auf dem Dorfplatz die jungen Paare.
Auch unser Kättchen war erschienen, ein Sträußchen weißer Nelken auf der Brust, an Schmuck und Schönheit alle andern Mädchen überstrahlend. Dennoch blieb sie ein ganzes Weilchen fast ohne Tänzer, indem die ärmern Burschen sich nicht recht an das vornehme Kind herangetrauten, während die wohlhabenden nur wenig Lust bezeigten, von der stolzen Jungfer auch heute wieder am Gängelbande geführt zu werden.
Da brachte ein Kahn aus dem Oberland unerwartet einen neuen Burschen auf den Platz. Der war feingekleidet und unterschied sich von den andern auch dadurch, daß er beim Sprechen nach federn zweiten Satz ein paar fremdklingende Wörter einfließen ließ, die freilich kein Mensch verstand, dafür um so mehr bewundert wurden. Der
mußte, also sagten sich die Leute, wohl weit in der Welt herumgekommen sein. Er entpuppte sich zudem als flotter Tänzer, benahm sich gar artig, sa ritterlich gegen Burschen und Mädchen, kargte auch mit dem Gelde nicht, also daß der schöne Fremdling nach kurzer Zeit alle Herzen erobert hatte.Kattis Herz brannte gleich lichterloh. Das war sa gerade der, den sie sich in ihren Träumen herbeigesehnt hatte: er erschien ungerufen auf dem Plan, war von schöner Gestalt, wohl auch reich, heiter im Benehmen und hatte doch wieder etwas vornehm Zurückhaltendes, das sie entzückte. Auf der andern Seite schien auch der junge Mann Gefallen zu finden an dem schönen Kinde, und wenn er anfänglich ohne Unterschied mit jedem Mädchen getanzt, so bevorzugte er sie im Laufe der Stunden mehr und mehr und ruhte nicht, bis er ihr Köpfchen völlig verdreht hatte.
Sie war im Himmel. Doch die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen.
Der also plötzlich Heretngeschneite war in Wahrheit ein Spitzbube. Er hatte sich längere Zeit in fremden Landen herumgetrieben, hatte daselbst mit seinesgleichen sein Geld verpraßt und war, aller Mittel bar, erst vor kurzem in die Heimat zurückgekehrt. Nun wieder arbeiten, fiel ihm nicht ein. All sein Trachten ging setzt dahin, ein Goldfischchen zu ködern, um durch eine reiche Heirat aller Geldsorgen enthoben zu sein. Sein Aeußeres, der weltmännische Schliff und dergleichen Dinge mehr, du er sich in der Fremde erworben, sollten ihm hiebei zustatten kommen.
Der Mann ließ das Goldfischchen, das er an Senem Sonntag geangelt, nicht mehr aus den Augen, besuchte es von nun an häufig, umgarnte durch fein einschmeichelndes Wesen auch den kränkelnden Vater und ward in wenigen Wochen glücklicher Bräutigam. Der kurzen Brautzeit folgte eine Hochzeit, wie sie das Dorf noch nie gesehn, und da schon nach einem halben Jahr darauf der Schwiegervater starb, ward aus dem Habenichts mit einem Schlag ein reicher Mann.
4.
Eine Ehe aber, die sozusagen auf dem Tanzplatze geschlossen wird, taugt nichts.
ES stellte sich nach und nach heraus, daß der Mann seinen Aufwand vor der Heirat mit fremdem Gelde bestritten und auch in allem übrigen ein bloßer Prahler war, der, da er selber nie recht arbeiten und gehorchen gelernt, nun auch seinen Knechten nicht zu befehlen verstand. Die Frau ihrerseits beschäftigte sich mit Putz und Kleidern, gab das Geld mit vollen Händen aus und überließ das Hauswesen den Mägden. Es fielen die ersten bösen Worte zwischen den Gatten. Sie häuften sich, und bald war Sank und Streit bei ihnen so alltäglich wie das liebe Brot.
Was kommen mußte, trat ein.
Nach Jahr und Tag war des Vaters Erbe verzehrt, es begann das Borgen. Im Anfang freilich ging das ohne viel Mühe, und der Freunde gab es genug, die den beiden Leuten an die Hand gingen. Als sie aber das Geld nicht zurückerhielten, als der Mann im Trunke Worte fallen ließ, die verrieten, wie es in Wahrheit um Haus und Hof stehe, als der Knechte und Mägde immer mehr entlassen wurden und die Frau anfing, wertvolle Sachen zu verkaufen — da schwand das Vertrauen, man fühlte, wie das Schiff dem Sinken nahe, und die Gläubiger drängten sich heran und wünschten, bezahlt zu werden.
Jetzt begann eine böse Zeit für die ehmals so hablichen Leute. Sie schmähten sich stundenlang, gerieten nicht selten einander in die Haare, derweil das Büblein, ihr einziges Kind, in einer Ecke der Stube mit seinen hölzernen Kühen spielte und leise vor sich hin weinte, wenn es zwischen den Eltern gar zu laut herging. Der Mann ergab sich mehr und mehr dem Trunke, faß bis tief in die Nacht im Wirtshaus, schimpfte, fluchte und suchte Händel, bis ihn der Wirt am Ende vor die Türe stellte.
Eines Nachts aber — der Geldstag stand vor der Tür — kam der Mann nicht mehr heim. Er hatte wieder schwer getrunken, und
nun führte ihn der Weg zum See hinab. Am Morgen brachten zwei Schiffer den Leichnam auf einer Bahre nach Hause: sie hatten ihn seichten Wasser nahe beim Ufer aufgefunden.Das war ein furchtbarer Schlag für die Katti. Als nun aber die Tage folgten, wo man ihr Hab und Gut öffentlich versteigerte, da brach ihr hochmütiges Herz völlig zusammen.
In jenen Tagen strömten die Leute von allen Seiten herbei und sammelten sich um die Gerichtsbeamten, die auf einer Laube des Hauses Platz genommen. Die Gegenstände wurden herbeigeschafft und besichtigt, worauf sie der Weibel ausrief und versteigerte:
Zum ersten — zweiten und — dritten Mal!
Also ertönte jetzt feine Stimme drei lange Tage einem fort, und ein Stück ums andre, Tische, Stühle und Betten, Wäsche, Geschirr und Schmucksachen gingen erbarmungslos über in die Hände fremder Menschen, die, den Gewinn erwägend, mit dem ersteigerten Gegenstande schmunzelnd hierhin und dorthin zogen. Haus und Hof, Feld und Wald und Weinberg, das ganze ehmals so stolze Besitztum
des nun toten Mannes ward der lüsternen Menge angeboten, hto ein jeglich Ding seinen Käufer gefunden.
5.
Gegen Abend des dritten Tages, als die Gant ihrem Ende entgegenging , saß die Kans am Eckfenster der Wohnstube und starrte, die Hände in den Schoß gelegt, ins Leere hinaus. Bon unten herauf drang noch der Ruf des Weibels und das Schwatzen und Lachen der Leute an ihr Ohr. Doch rührte sie das jetzt nicht mehr. selbst die ewigen Fragen ihres Bübleins, warum denn die Leute dus und jenes forttrügen, vermochten ihr keine Tränen mehr zu entlocken. die arme Frau fühlte sich wie gelähmt, wie zerbrochen an Leib und Seele — als ob die eiserne Faust des Schicksals sie am Nacken erfaßt und zu Boden geschmettert hätte.
Da fiel ihr Blick wie von ungefähr auf die Spiezer Fluh, und aus der Flucht vergangner Tage stieg plötzlich jener Morgen empor, wo sie dem Zwerglein einen Imbiß gereicht und dieses ihr ein Sprüchlein gesagt, aus dem sie nicht hatte klug werden können.
Wie aber lautete denn das Sprüchlein? Genau wußte die Frau das nicht mehr. Doch war darin die Rede gewesen von einem Glück, das sie erst später erfahren werde, wenn . . . wenn es einmal heiße . . .
"Zum ersten, zweiten und dritten Mal! hallte Setzt die heiser gewordene Stimme des Weibels wieder zu ihr herauf. Nichtig! Also hatte das Männchen gesprochen, und der Sinn der Dreizahl war ihr plötzlich klar geworden.
Dennoch blieben ihr seine Worte immer noch ein Rätsel. War denn das wirklich ein Glück, nun eine arme Frau zu fein, die für sich und ihr Kind kaum zu leben hatte, eine arme Frau ohne Haus und Heim und verachtet von den Menschen ? Wohl kaum. Das Zwerglein, in seinem Aerger darüber, daß die stolze Jungfer mit ihrem Reichtum geprahlt, hatte sich einfach über sie lustig gemacht. Anders vermochte ihre tiefgebeugte Seele das Sprüchlein nicht zu deuten.
Es wohnte aber um jene Zeit in einem Häuschen abseits vom Dorf eine Näherin, die, wie man zu sagen pflegt, zu den Stillen im Lande gehörte. Es war eine Frau in mittlern Jahren, von einfach redlicher Art, und hatte, da sie selber viel Leid erfahren, ein gütiges Herz für alle Unglücklichen. In ihrer Klause schnurrte vom Morgen bis zum Abend die Spindel, klirrten die Stricknadeln, oder bohrte sich die Nähnadel in die schimmernde Leinwand.
Ein paar Tage nach der Gant verließ die Katti mit ihrem Büblein den schönen väterlichen Hof und siedelte über in das Häuschen der Näherin, die ihr ein freundliches Stübchen anwies.
Nun saß die blasse Frau tagelang in diesem Stübchen und sann nach über die vergangne Zeit mit all ihrem Elend, derweil aus der Stube nebenan das Schnurren des Spinnrades oder das Geklimper der Nadel an ihr Ohr drang. Sie kam sich furchtbar verlassen vor, setzt, wo man ihr alles genommen, an dem ihr Herz gehangen, wo ihr kein Vergnügen mehr winkte und ihre Freundinnen sich nicht mehr blicken ließen. Arbeiten konnte sie sa auch nicht, verstand nichts vom Hauswesen, nichts vom Nähen, vom Stricken und Sticken. Kein Mensch hatte die reiche Tochter jemals dazu angehalten, und aus eignem Willen etwas zu lernen, war ihr auch nie in den Sinn gekommen. Wozu auch ? Sie hatte ja der Mägde genug, die das alles besorgten . . .
6.
Was ihr die trüben Tage noch ein bißchen erhellte, war ihr Büblein, das sich nach Kinderart schnell in die neuen Verhältnisse gefunden. Es war ein drolliges Kind, und zauberte gar oft durch seine Einfälle ein Lächeln auf das vergrämte Gesicht der Mutter.
Eines Tages aber kam es zu ihr gelaufen und rief:
"Mutterli, warum tust denn nicht nähen und spinnen wie diese Frau? Dann brächten uns die Leute auch Geld und Brot und andre Sachen wie ihr."
Wie ein Strahl traf das Wort der Mutter Seele. Woran sie selber nicht gedacht — da wies ihr ein einfältiger Kindermund den Weg, den sie zu gehen hatte. Ihr Herz quoll über. Sie eilte ins Freie, und als sich die Frau ausgeweint, da trat sie in die Stube der Näherin, verlangte Faden und Nadel und bat, sie nähen und stricken zu lehren.
Freundlich erklärte sich diese dazu bereit, zweifelte indessen im stillen, ob jemand, der sein Leben lang müßig gegangen, es lange bei der Arbeit aushalten werde. Ihre Zweifel schwanden aber mehr und mehr dahin, als sie sah, wie die Katte von nun an jeden Morgen sich unverdrossen zu ihr setzte, wie gut sie acht gab auf das, was zu tun war, wie rasch und sicher sie alles auffaßte.
Auch sonst tat die Näherin alles, um das Los der gedemütigten Frau erträglich zu gestalten. Sie rührte mit keinem Wort an dem was vergangen, suchte statt dessen ihr geschwunden Vertrauen zu heben, wies sie hin auf Gott, der allen Menschen, die an ihn glauben, aus der Not helfe, und wirkte durch ihr ruhig heitres Wesen, das sich immer gleichblieb, wie ein milder Mondstrahl auf die schwarzverhängte Nacht.
In diesen Wochen und Monaten, wo sich die Katti zum erstenmal in ihrem Leben einer ernsten Arbeit hingab und nun nach sechs Tagen fleißigen Händeregens die köstliche Ruhe des Sonntags genoß, wo ein guter Mensch nebst ihrem eignen Büblein sich um ihr Wohlergehen mühten und alles um sie her Liebe und Friede atmete, da wuchs in ihrem Herzen still und freundlich ein Blümlein auf, das Blümlein Freude. Sie hatte von diesem Blümchen bisher so gar nichts gewußt, hatte nur die stolzen Blumen Lust und Vergnügen gekannt, die wohl das Auge ergötzten, die Seele aber unberührt ließen. Das Blümlein Freude dagegen verbreitete einen gar lieblichen Duft, füllte ihre Augen mit Glanz, die blassen Wangen mit Farbe, die Seele mit Licht und Wärme. Alles, was ihr bis setzt als einzig Glück erschienen, Reichtum und Guthaben, das schmolz dahin wie der Schnee vor der Frühlingssonne, und an ihre Stelle traten
die unverlierbaren Güter der Seele, Arbeit, Liebe und Freude, die allein das unruhige Menschenherz zu beglücken imstande sind.Die Jahre vergingen. Aus dem ehmals so stolzen Kättchen war eine stille Frau geworden. Sie hatte sich selbständig gemacht, erhielt Arbeit von allen Seiten und ward wieder von den Leuten geachtet — ja mehr geachtet als damals, wo sie noch als reiche Tochter auf dem Gute ihres Vaters die Herrin spielte.
Ab und zu, etwa an einem Sonntag nach dem Kirchgang, wanderte die Frau, von ihrem aufwachsenden Sohne begleitet, zur Spiezer Fluh hinauf und hin zu jener Stelle, wo die stolze Bauerntochter vom
"Ich war ein rechtes Hochmutsnärrchen', sprach sie wohl lächelnd zu ihrem Sohne, und meinte, was wunder ich wär mit all .meinem Gelde. Ich ging müßig den lieben langen Tag, ich suchte nur das Vergnügen und hatte im Grunde niemand gern als mich selber. Da schickte mich Gott ins Elend, und seitdem weiß ich erst, daß es einzig zwei Dinge sind, die den Menschen zufrieden machen:
Arbeit und Liebe.
Der Vollenküher
1.
Auf der Bättenalp, einer großen Weide zwischen Faulhorn und Brienzersee, zieht sich auf der östlichen Sette eine sähe Felswand trichterförmig gegen die Tiefe. Sie heißt die Volle.
Vor langen Jahren weidete auf dieser Alp ein Vater mit seinem Sohn eine Herde Kühe.
Der Vater war ein leidenschaftlicher Trinker und Kartenspieler und ging manchen Abend, auch tagsüber, wenn Zeit und Arbeit es erlaubten, hin auf die nahe Fangisalp, dort mit andern Sennen seiner Sucht zu frönen. Dem Sohne war diese Schwäche wohlbekannt, und als guter Zunge, der seinem Vater von Herzen zugetan, und auch der Mutter zu Hause zuliebe, gab er sich alle Mühe, dem Uebel zu steuern und ihn zu bewegen, seine Besuche auf der Nachbarsalp einzuschränken . Indessen mußte er schon in seinen jungen Zahren erfahren, wie schwer es dem Menschen fällt, einer Leidenschaft zu widerstehen, der er mit Leib und Seele ergeben ist. Denn, wenn ihm der Vater auch zuweilen in die Hand versprach, es zu lassen, so hub er dennoch nach kurzem wieder zu trinken an.
Eines Tages nun, um die Mittagsstunde, machte sich der Vater bereit, auf die Fangisalp hinüberzugehen, um dort, wie er vorgab, für eine kranke Kuh etwas zu holen.
Jetzt fing der Bub auch gleich wieder zu jammern an.
"Geh nicht, Vater", flehte er, geh nicht, ich bitte dich. Mit der Kuh steht es ja gar nicht schlimm, und wenn's nötig ist, mag ich ja am Abend selber hinübergehen. Mir ist gerade heute so bang ums Herz, es werde etwas geschehen, wenn du nicht da bist.
"Etwas geschehen?" machte der Vater unwillig. wüßte auch nicht was. Vom Wetter haben wir nichts zu befürchten, und auch sonst ist alles in Ordnung. Uebrigens werd ich in zwei oder drei Stunden wieder zurück sein.
"Das sagst du immer", greinte der Bub. Und doch weiss ich bestimmt, daß du erst spät in der Nacht heimkommen wirst. Dann muß ich alle Arbeit wieder allein tun.
Er drängte sich an den Vater heran, ergriff seine Hand und schluchzte:
Geh nicht, Vater, geh nicht. weiß es genau, es gibt ein Unglück. Mir hat letzte Nacht so schrecklich geträumt . . von der Volle, Vater . . von der Volle . . .
Der Vater aber ließ sich nicht bewegen. Unwiderstehlich zog es ihn hinüber nach der Fangisalp zu Trunk und Spiel. Er riß sich loszog seinen Kittel an und schritt den Fußweg hinab, den Knaben in Tränen zurücklassend.
Um jene Seit war das Wetter noch klar, und friedlich weideten die Kühe auf den Triften. Der Bub aber ward feiner Angst nicht los. Gleich einem Schäferhund lief er ruhelos um die Tiere, zählte sie immer wieder, ob alle noch richtig beieinander, lockte, wehrte, daß keins zu weitab geriet, und schaute jeden Augenblick nach dem Himmel, ob nicht etwa von dort her eine Gefahr zu befürchten wäre.
Da stiegen um die Mitte des Nachmittags ein paar Wolken auf, die sich zusehends mehrten und bald den ganzen Himmel bedeckten. Die Sonne verschwand, und still und düster lag eine Weile die Alp. Ueber den Firsten und Gräten ballten sich die weißen Massen zusammen, wurden dunkler und flammten ab und zu auf, daß die Schneefelder unter ihnen sekundenlang wie von glühender Lava übergossen schienen. Nicht lange, hub es dumpf zu rollen an, heiße Windstöße fegten daher, die Bergbäche rauschten.
Setzt wurden auch die Tiere unruhig. Sie drängten sich näher zusammen, hoben du Köpfe und horchten, ab und zu dumpf brüllend, auf das ferne Rollen des Donners. steigender Angst lief der junge Hirte hin und her, betreute einen Augenblick die Herde, und rannte im nächsten auf eine kleine Anhöhe, zu sehen, ob der Vater nicht bald heimkäme. Er glaubte auch, auf dem nach der Fangisalp
führenden Pfad einen schwarzen Punkt zu erkennen, der sich rasch nähere, und ihm war schon leichter ums Herz. Da brach das Hochgewitter mit furchtbarer Gewalt herein.Erst fallen ein paar schwere Tropfen. Dann fährt aus schwarzer Wolke ein lodernder Strahl in den nahen Felfen ein Schlag schmettert nach, als ob er die Erde spalten wolle, und in vierfachem Widerhall donnern ihn die Wände zurück. Und nun folgen sich Blitz auf Blitz und Knall auf Knall. Wie in einer Schmiede flammt der Himmel von Feuerfunken, es rollt und grollt, es dröhnt und kracht, der Boden wankt, du Berge beben, und in hellen Strichen rauscht Setzt der Hagel auf die Weide nieder.
Hochauf brüllen die getroffnen Tiere. Den Kopf wild umherwerfend, den Schwanz in den Lüften, stieben sie auseinander und rennen mit geschlossnen Augen gradaus — ein loser Spielball des Hagels und der Winde. Und hinter ihnen her der Bub. Der arme Junge weiß sich nicht zu helfen. Bald faßt er ein Tier bei den Hörnern, bald wieder eins beim Schwanz, er reißt und zerrt und wehrt, er schreit und jammert, derweil die scharfen Hagelschlossen auf seinen Kopf, auf die nackten Arme und Veine niederprasseln und ihn fast zu Boden werfen. Doch umsonst ist all sein Mühn. Das toll gewordene Vieh sieht und hört nichts mehr und ist jedem Unfall preisgegeben.
Wenn jetzt nur der Vater käme, ihm zu helfen! Dann würde es ihnen vielleicht doch noch gelingen, ein Unglück abzuwenden.
Die Wolken flammen, die Wände gellen, breiten Strähnen rauscht der Hagel nieder. Da gewahrt der Bub auf einmal, daß die Herde unvermerkt der Volle zutreibt, und in jäher Schnelle fährt ihm der Traum durch den Kopf. Von Todesangst ergriffen, eilt er in fliegender Hast über Hagelkörner und brausende Wasser hinweg gegen den Nand des Felsentrichters, taumelt ein paarmal zu Boden, springt aber gleich wieder auf die Füße, erhascht im Bett eines Baches einen Sparren, und schlägt nun, bei der gefährlichen Stelle angelangt, wie von Sinnen auf die wild heranstürmenden Tiere los. Diese aber, vom
Sturm fluchtartig in diese Richtung gedrängt, lassen sich nicht mehr aufhalten, und erst hier eins, dann dort eins stürzen sie blindlings über die schwindelnde Wand in die Tiefe hinab.Wie gelähmt vor Entsetzen sieht der junge Hirt ein Tier ums andre verschwinden. Dann aber rafft er sich noch einmal auf und hängt sich einer der letzten Kühe an den Schwanz, sie zu retten. Aber auch diese läßt sich nicht mehr halten, und ehe sich's der Bub versieht, gleitet er mitsamt dem Tier über die Wand hinaus und stirbt den grausen Tod der Herde . . .
Als das Unwetter vorüber, traf der Vater auf der Bättenalp ein. Doch schaute er sich vergeblich nach Bub und Herde um. Schlimmes ahnend, suchte der Mann die Weide ab und folgte der Tiere Spuren, die sich noch deutlich in Kot und Hagelsteinen abzeichneten und ihn an den Nand der Volle führten. Jetzt wußte er, was geschehen, kletterte den Trichter hinab und fand unter den noch zuckenden Leibern der Kühe den zerschmetterten Leichnam des Buben. Da begrub der Vater seinen Sohn an Ort und Stelle und stieg dann über den Berg hinab zum nahen Hagelseeli.
Man hat ihn nie wieder gesehn.
2.
An einem rauhen Tage im Spätherbst, lange Jahre nach diesem Ereignis, ging ein Sager von Iseltwald in die Berge, zu sagen. An diesem Tag war ihm das Glück nicht günstig. So suchte er denn am Abend eine Sennhütte auf, hier die Nacht zu verbringen, um am folgenden Morgen die Jagd fortzusetzen.
Die Hütte lag auf der Bättenalp. Im Scheine des Herdfeuers ass der Mann sein Abendbrot und rauchte sein Pfeifchen. Dann stieg er die Leiter hinauf in die Gastern, legte sich aufs Heu und schlief bald ein.
Mitten in der Nacht wachte der Jäger auf. Wie seltsam! Die Sennen hatten ihr Vieh schon längst zu Tale getrieben, und doch hörte er fest fernes Glockengeläute, das sich von der Fangisalp her der Hütte zu nähern schien.
Nach einer Weile öffnete sich unten die Tür, und zwei Hirten trieben die Kühe in den Stall. Aus dem Gespräche, das die beiden miteinander führten, merkte er bald, daß es Vater und Sohn waren. Sie machten Feuer auf dem Herde, molken die Kühe und begannen käsen. Damit zu Ende gekommen, setzten sie sich an den Tisch und aßen.
Da sprach der Sohn:
"Vater, wir sollten dem Sager in der Gastern droben auch etwas zu essen anbieten.
"So sage ihm, er solle kommen", erwiderte dieser.
Der Sohn stieg die Leiter hinauf.
"Jäger", sprach er, du bist freilich müde und bedarfst der Ruhe. Doch ein Bissen Brot und ein Trunk frischer Milch werden dir nicht schaden. Komm!
Dem Jäger ward unheimlich zumute. Doch folgte er dem jungen Sennen in die Hütte hinunter, setzte sich hinten auf eine Bank, und der Sohn reichte ihm eine hölzerne Schüssel mit Milch, einen Löffel und einen halben Laib Brot.
Wie jener aber den Napf an seine Lippen setzen wollte, ergriff der Vater plötzlich einen Schnitzer und schleuderte ihn gegen du Bank.
"Da", rief er. "Mußt auch ein Messer haben, dein Brot zu essen.
Das Messer fuhr dicht neben des Weidmanns linker Seite in du Wand. Dem erschrockenen Mann aber ward zumute, als hätte es ihn
Nach einer Weile hörte der Mann, wie die beiden Sennen das mitgebrachte Geschirr zusammenraffien, das Vieh aus dem Stalle trieben und den gleichen Weg zurückgingen, den sie gekommen. Das Kuhgeläute ward mählich schwächer und verklang endlich in der Ferne.
Der Sager aber vermochte vor Schmerzen nicht mehr einzuschlafen.
Also verließ er die Hütte schon am frühen Morgen und ging, statt auf die Jagd, gleich nach Hause.Hier wandte der Mann allerlei Mittel an, feines Uebels loszuwerden . Vergeblich. Seine Kräfte nahmen mehr und mehr ab, er wurde schwermütig und fühlte sich dem Tode nahe. Trotzdem vertraute der Kranke niemand an, was ihm in jener Nacht auf der Bättenalp begegnet war.
Da besuchte ihn eines Tages ein alter Jagdfreund, und diesem erzählte er nach einigem Zögern sein Erlebnis.
"Die beiden Sennen, die dir in jener Nacht erschienen", also sprach hierauf der Freund nachdenklich, "waren niemand anders als der Vollenküher und sein Sohn. Ich weiß es genau, hab es vor Jahren in der gleichen Hütte selber erlebt. Du hast aber dabei einen Fehler begangen, sonst wärst, wie ich damals, mit heiler Haut davongekommen Statt nämlich die Milch anzunehmen, hättest du gleich aufstehn und davongehen sollen. Und das mit dem Messer ist nichts andres als Angst und Schrecken, die dir heute noch in den Gliedern liegen und dich krank machen. Jetzt höre meinen Rat. Sobald du wieder kräftiger geworden, dann nimm Gewehr und Weidtasche, begib dich auf die Alp und verbringe den Abend in genau derselben Weise wie das erste Mal. Die beiden Hirten werden wieder erscheinen; auch wird dir der Sohn eine Schüssel Milch mit Brot anbieten. Diesmal aber nimm sie nicht an, stehe auf, sag ein (Vergelt's Gott!», greife nach Gewehr und Weidtasche und verlaß die Hütte. Von der Stund an werden die Schmerzen wie weggewischt sein.
Der Jäger befolgte den Rat und ward gesund. Auf die Jagd aber ging er nicht mehr.
Der heilige Beatus
Die Hirten von Sundlauenen
In frühern Jahrhunderten sah es an den Gestaden des Wendelsees , wie der Thunersee ehmals genannt ward, gar still und einsam aus, und statt eines Kranzes lieblicher Dörfer erblickte man nur hier und dort eine Gruppe ärmlicher Hütten. Die Gegend war noch rauh. Keine bequemen Wege führten rings um den See oder zu den Höhen hinan, und in den Wäldern, die die Hänge fast über und über bedeckten, hausten wilde Tiere, der Bär, der Wolf und das Wildschwein, also daß die Leute ihre Wohnstätten mit einem Pfahlzaun umgaben, sich vor ihnen zu schützen.
Und rauh wie das Land mußte auch das Leben der Menschen gewesen sein! Sie hüteten etwa das Vieh, sie Sagten das Wild oder fingen die Fische des Sees. Sie wußten auch nichts von Gott, nichts vom Heiland, bauten keine Kirchen und Kapellen. Statt dessen glaubten sie an Götter, und ihre Priester, Druiden genannt, brachten diesen Göttern, um ihnen zu gefallen, in einsamen Waldhöhlen Tier- oder gar Menschenopfer dar.
Es begab sich aber, daß vom Brünig her, dem schwarzen Berge, zwei fremde Männer in braunen Mänteln, den langen Pilgerstab in der Hand, gegen den Brienzersee hinabstiegen.
Der eine dieser Männer, der ältere, hieß Beatus, was besagen will, der Glückliche. Er entstammte einer vornehmen englischen Familie , hatte dann aber, von Gottes heiligem Geist ergriffen, der Welt des Wohlseins und des Vergnügens den Nücken gekehrt, hatte sein Hab und Gut unter die Armen verteilt, seine prächtigen Kleider gegen ein schlechtes Gewand vertauscht und war übers Meer gefahren, um in heidnischen Gegenden das Wort Gottes zu verkünden. Der andre der Männer, der jüngere, hieß Justus und war des Beatus Schüler und ständiger Gefährte. Nachdem die beiden lange in der Welt herumgezogen, befanden sie sich jetzt auf dem Wege, die frohe Botschaft auch in unsre Berge zu tragen.
Auf steinigen Pfaden wanderten die Pilger den Brienzersee entlang bis ins Bödeli hinab, überschritten den Lombach und gelangten endlich nach dem uralten Dörfchen Sundlauenen, oben am Wendelsee. Hier wurden sie von Hirten freundlich aufgenommen, wurden in ihre rauchgeschwärzten Hütten geführt, gespeist und aufgefordert, von ihrer Reise zu erzählen. Die beiden Männer taten das mit Freuden, kamen dann aber nach und nach zu sprechen auf die Botschaft, die sie ihnen zu bringen hatten.
Da vernahmen denn die Leute mit freudigem Staunen, daß es einen Gott im Himmel gebe, der es viel besser mit ihnen meine als ihre heidnischen Götter, die sie bis Setzt angebetet hätten. Und dieser Gott habe nun aus Liebe zu den Menschen seinen Sohn auf die Erde gesandt, den Heiland, um den rechten Weg zum Leben zu weisen . Der hätte wirklich gelebt, also wie irgendein andrer Mensch, und sie wären jetzt gekommen, seine Lehre im Lande zu verbreiten.
Ver Kampf mit dem Drachen
Setzt baten die Hirten den heiligen Mann, noch weiter bei ihnen zu bleiben, auf daß er sie in der neuen Lehre unterrichte. Beatus versprach es, wünschte aber, man möchte ihm irgendwo eine Felsenhöhle zeigen, wo er mit seinem Gefährten wohnen könne.
Eine solche Höhle sei gar nicht weit, erzählten die Hirten, und es lasse sich ganz gut darin wohnen. Auch wäre sie geschützt vor Wind und Wetter, und an schönen Tagen scheine gar die Sonne hinein. Gleich daneben sprudle auch ein muntres Bächlein aus den Felsen, an dem sie sich laben könnten. Vor Zeiten hätten dort weise Männer gewohnt, die Druiden, die den Leuten sagten, was den Göttern angenehm sei und welche Opfer sie ihnen darbringen müßten. Setzt aber hause in jener Höhle ein gar böser Lindwurm, der für Mensch und Vieh ein Schrecken bedeute.
Da rief der heilige Mann fröhlich aus:
"Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist. Namen des allmächtigen Gottes werde ich den Drachen vertreiben.
Als das die guten Leute hörten, erschraken sie sehr und mühten sich, den Mann von einem solchen Beginnen abzuhalten. Dieser aber blieb fest in seinem Vorhaben und beschloß, sein Werk gleich am folgenden Tage auszuführen.
Während der Nacht wachte und betete Beatus mit seinem Gefährten Dann, als der Morgen graute, betraten sie den Weg, wie er ihnen beschrieben worden, und erreichten die Höhle, als eben die Sonne aufging.
Ein wenig freilich bangte den beiden Männern doch, als setzt das Ungeheuer, einer fliegenden, mit Krallen bewehrten Eidechse ähnlich, schnaubend und flammenspeiend durch das Höhlentor auf sie losfuhr. Der Heilige faßte sich aber gleich, hob seinen Pilgerstab und rief:
"Im Namen des Allmächtigen befehle ich dir: Stürze dich hinab in den See!"
Und siehe da! Der Drache, durch die Gewalt des Glaubens gebändigt , gehorchte auf der Stelle. Zischend fuhr er über die Köpfe der beiden hinweg und die Wände hinunter in die Fluten des Sees, wo der unhold verschwand. Das Wasser abir hub jetzt zu sieden an, also daß der Lärm am gegenüberliegenden Abendberge widerhallte.
Nach einer andern Sagenkunde fuhr der Drache nicht nieder in den See. Er fuhr die senkrechte Wand aufwärts und schlug im Zorn mit seinem Schwanze dergestalt an die Fluh, daß zu ewigem Wahrzeichen das Drachenbild daran zurückgeblieben. Noch heute sieht man vom See aus, wenn die Stelle günstig beleuchtet ist, rechts über der Höhle eine riesige Schlange in der Fluh, wo sie, den Kopf nach oben, in ein Felsenloch hineinzuschlüpfen scheint.
Sein Wirken
Ein Anlaß zum Wirken ließ nicht auf sich warten.
Als nämlich der Drache in den Fluten verschwand und sich ein
schreckliches Getöse erhob, glaubten die Hirten von Sundlauenen und andre am See wohnende Leute, ein Felsen hätte sich an der hohen Fluh gelöst und wäre in den See gestürzt. Also eilten sie denn herbei, trauten aber ihren Ohren nicht, als Beatus ihnen erzählte, es sei nicht ein Felsen, es sei der Drache gewesen, den sie von nun an nicht mehr zu fürchten brauchten. Da hielten die Leute den Mann, der solches tun könne, in Wahrheit für einen Boten Gottes und wollten ihm hohe Ehren erweisen. Er aber wies alles demütig von sich ab und hub gleich an, von der Macht Gottes zu reden, die imstande sei, alle seine Feinde zu vernichten.Willig hörten die Leute zu. Und dies nicht nur an senem Tage. Sie kamen immer wieder zu dem heiligen Mann, der ihnen bald nicht mehr wie ein Fremdling, der ihnen wie ein Freund und Vater erschien.
Später halfen sie ihm bet der Höhle ein Kirchlein bauen. Jetzt eilten auch andre Umwohner des Sees herbei und wanderten hinauf zu der neuen Heilstätte an der Felswand droben, scharten sich um den Gottesmann und lauschten andächtig den holden Worten, die aus seinem Munde flossen.
Der redete so gar nicht, wie ihre Priester redeten. Der reizte sie nicht auf, Böses mit Bösem zu vergelten, den Feind zu hassen oder gar zu töten. Er gebot ihnen vielmehr, alles Böse zu verzeihen, einander zu helfen und zu lieben, also wie der Heiland die Menschen geliebet habe. Dann werde der Friede ihre Herzen und Hütten einziehen und der Segen Gottes auf ihnen ruhen. Und da die Leute fühlten, wie redlich der heilige Mann es mit ihnen meinte, und alles, was er sagte, so einfach und lauter war wie ein quellendes Bächlein im Strahl der Sonne, so glaubten sie ihm, gingen heim und begannen ein neues Leben.
Gar oft suchte Beatus die Leute in ihren Hütten auf, und wo er einen Kranken wußte, da brachte er heilsame Kräuter mit, tröstete ihn oder heilte den Leidenden durch sein kräftiges Gebet. Nach und nach dehnte er seine Besuche weiter aus, fuhr hinüber aufs jenseitige
Ufer und gewann auch hier viele Anhänger. Dörfchen Einigen erbauten diese gar ein Kirchlein. Indessen konnte der heilige Mann nicht überall sein. Also schickte er denn seinen Gefährten Justus hin, dort zu predigen und die Gemeinde im neuen Glauben zu stärken.
Der Wundermantel
Um die Leute ringsherum leichter besuchen zu können, hatte sich Beatus ein Schifflein gezimmert. Der Drache aber, der noch nicht völlig zur Ruhe gekommen und jetzt sein Unwesen in den Fluten des Sees weitertrieb, belästigte ihn auf seinen Fahrten fort und fort durch Sturm und Wellenschlag und brachte es am Ende dahin, daß das Fahrzeug in Trümmer ging.
Jetzt betete der Heilige zu Gott, er möge ihm doch ein Mittel an die Hand geben, um sicher über den See zu gelangen. Und siehe, Gott schenkte ihm einen von Engeln gewirkten Zaubermantel. Den brauchte er bloß auf dem Wasser auszubreiten und sich daraufzusetzen, und einem Schwane gleich fuhr der Mann hin nach dem Orte, wo er gerade zu tun hatte.
Eines Tages aber begegnete ihm etwas Merkwürdiges.
Er wollte nach Einigen hinüber und hatte sich schon ein ordentliches Stück vom Land entfernt, als der Mantel plötzlich seinen Dienst versagte: er drehte sich herum, über die eine Seite flutete bereits das Wasser, und der Heilige bemerkte, wie er statt vorwärts nach rückwärts trieb.
Da hub der Mann zu rudern an. Vergeblich. Wie von unsichtbarer Gewalt gezogen, strebte das seltsame Fahrzeug zum Ufer zurück. Was wollte das besagen?
Der Heilige sann nach, und plötzlich schlug ihm das Gewissen. Er hatte am Wege beim Hinabsteigen zum See einen Zaunpfahl ausgerissen , um ihn als Stütze zum Wandern und zugleich als Ruder bei der Ueberfahrt zu gebrauchen. Das war ein Unrecht fremdes Gut,
Also stieg er denn, am Ufer angekommen, den Weg hinan und brachte den Pfahl wieder an Ort und Stelle. Setzt versah der Mantel seinen Dienst wie früher, und mit erleichtertem Herzen fuhr der Heilige nach dem freundlichen Dörfchen hinüber.
Die guten Zwerglein
Lange Zeit verblieb auch Justus, der junge Begleiter des heiligen Mannes, in der Höhle am Wendelsee und half getreulich mit, die neue Lehre zu verbreiten. Später aber zog er hinauf in jenes einsame Tal, das zwischen den Felswänden des Beatenberges und des Sigriswiler Grates hoch über Merligen liegt und heute seinen Namen trägt. Ganz hinten in diesem Tale, in der Nähe einer Quelle, dort wo man nur die Spur der Tritte scheuer Gemsen gewahrte, erbaute er sich ein Hüttlein und führte hier, fern von den Menschen, das stille Leben eines Einsiedlers. Dennoch pilgerten gar viele Leute auch zu ihm hinauf und fanden bei dem guten Manne Rat und Hilfe in ihren vielfältigen Nöten und Gebrechen.
Um jene Zeit lebten am Wendelsee kleine gesegnete Leutchen oder Zwerglein, die den guten Menschen gerne an die Hand gingen und ihnen gar oft eine Arbeit in Haus und Feld abnahmen. Also kam es, daß sie bald auch zu den beiden Männern Zutrauen faßten und ihnen manch freundlichen Dienst erwiesen.
Besonders waren die Bergmännchen dem heiligen Beatus sehr zugetan, weil er den Drachen aus der Höhle vertrieben, der auch für sie ein Schrecken gewesen. Nun durften es die Leutlein wieder wagen, aus der Felsenspalte des Beatenbaches, wo sie ihren Wohnsitz aufgeschlagen , ans Tageslicht zu treten und den Menschen behilflich zu sein.
Auf gar mancherlei Art erwiesen sie sich dankbar.
Erhob sich Beatus am Morgen von seinem Felsenlager, so war er sicher, vor dem Herde dürres Holz zu finden, zu einem Beiglein zierlich aufgeschichtet. Auf dem Herde selber aber stand ein Gefäß mit frischem Wasser, das sie im klaren Bächlein geholt, daneben eine Schale gefüllt mit wohlschmeckender Gemsmilch. Später, als die Männchen bemerkten, wie der Heilige die Tiere so gar lieb hatte, führten sie ihm selbst ein paar Gemsen zu. Da richtete er denn neben dem Eingang zur Höhle einen Stall ein und konnte sie nun liebkosen
und sich mit ihnen unterhalten. Alles übrige aber, das Hüten und Melken, besorgten die guten Leutlein selber. Endlich halfen sie ihm, unterhalb der Höhle ein Gärtchen anzulegen und bepflanzten es mit Blumen und Obstbäumen. Waren die Früchte reif, dann füllten sie damit die Körbchen, die Beatus selber geflochten, und brachten ihm die Gabe in die Höhle.Von all dem Guten aber, das ihm die Zwerglein verschafften, brauchte der genügsame Mann nur wenig für sich selber. Das meiste davon, auch die seltenen Pflänzchen, die sie ihm von den hohen Bergen herniederholten und die eine besonders heilsame Kraft besaßen, trug er hin zu den Armen und Kranken, sie damit zu erfreuen und zu stärken.
Der Untergang von Noll
Eine kleine Strecke unterhalb Merligen, dort wo sich beim Schloß Ralligen noch heute ein paar Schutthügel erheben, stand um jene Zeit eine Stadt mit Namen Noll.
Die Leute, die dort wohnten, waren reich und mächtig. Sie hatten in der Nähe der Stadt ein Goldlager entdeckt und ausgebeutet und durch vorteilhaften Handel auch sonst viel Geld erworben. Mit dem Gold aber war der Hochmut bei ihnen eingezogen. Sie führten jetzt ein hoffärtiges Leben, gaben sich, statt zu arbeiten, der Lust und dem Vergnügen hin und schauten mit Verachtung nieder auf all die Leute ringsumher, denen es nicht so gut erging wie ihnen. Also waren sie auch dem Beatus nicht freundlich gesinnt, verkündete doch der Mann einen Gott, der ihr Leben nicht billigen konnte. Ihr Gott war das Gold, das beteten sie an, und von ihm wollten die Schlemmer nicht lassen.
Es geschah aber, daß einige Leute von Noll dennoch zum Felsenkirchlein hinanstiegen und sich in der neuen Lehre unterrichten ließen. Das freute den heiligen Mann über alle Maßen, so daß er beschloß, auch ihnen einen Besuch zu machen, um sie im Glauben zu stärken und wenn möglich noch weitere Anhänger zu gewinnen.
Als er aber die Stadt betrat, da zeigte sich keiner der neugewonnenen Jünger. Sie mochten wohl fürchten, von den andern ausgelacht zu werden. Dafür sammelte sich viel Gesindel um ihn her und hub an, den Mann auszuspotten oder zu schmähen. Einige zerrten an seinem Bart, einer gar drohte, ihn zu erwürgen.
Es hätte dem Gottesmann noch schlimm ergehen können. Da aber traten zwei fromme Eheleute, die ihm treugeblieben, aus der Rotte hervor, faßten den Bedrohten bei der Hand und führten ihn abseits unter ihr schützendes Dach.
Mit betrübtem Herzen verließ er die unfreundliche Stadt. Auf dem Wege zu seiner Höhle begegnete der Heilige seinen Freunden, den Zwerglein. Denen mußte er erzählen, was ihm in Noll widerfahren. Zornglühend hörten ihm die kleinen Männchen zu, und da nun noch andre herbeikamen, die von der Spitzen Fluh aus mit eignen Augen zugesehen hatten, wie schmählich man in Roll den ehrwürdigen Mann behandelt, da beschlossen sie, den Frevel zu rächen und die Stadt untergehen zu lassen.
Noch am nämlichen Abend hörten die Leute von Noll ein geschäftiges Hämmern in den Felsspalten der Spitzen Fluh. In der Nacht aber brach ein schreckliches Gewitter aus, in fahlem Scheine zuckten die Blitze, ein Donnerschlag folgte dem andern, und nieder fuhr auf die gottlose Stadt ein Hagel von Steinen und Felsblöcken, der im Augenblick einen Teil der Häuser unter sich begrub, den andern aber in den See hinausschwemmte.
Vom Untergange verschont blieb einzig jenes Haus, wo man den Heiligen gastlich aufgenommen hatte.
Sein Tod
Heilige Menschen haben immer ein schweres Leben. Sie werden von der Welt verachtet, verfolgt, oder gar, wie unser Heiland, getötet. Also hatte wohl auch Beatus seine schweren Stunden, wie er sie etwa in der Stadt Noll erlebt, setzte aber, immer wieder auf Gottes Hilfe vertrauend, sein Werk unverzagt fort bis an sein Lebensende.
Er ward neunzig Jahre alt. Als der Heilige den Tod nahen fühlte, ließ er seinen Gefährten Justus rufen. Der pflegte sein in den letzten Tagen und Wochen. Auch die Leute um den See herum, die des Beatus Jünger geworden und sich zum Heilande bekannten, eilten in Scharen herbei, den Sterbenden noch einmal zu sehen und ein letztes Wort aus seinem Munde zu vernehmen. Der Heilige nahm Abschied von allen, ermutigte sie, am neuen Glauben festzuhalten, empfahl einen jeglichen der Hut Gottes und ging hinüber in jene höhere Welt, wo Leid und Sorge nicht mehr fein werden.
Sein Leichnam ward vor der Höhle begraben. Justus lebte noch lange Jahre und wurde dann, also wie er es gewünscht hatte, von den anhänglichen Leuten neben des Beatus' Grab zur letzten Ruhe gebettet.
Von feuer Zeit an trug die Höhle den Namen desjenigen, der hier gewohnt und gewirkt hatte. Der heilige Mann selber aber ward nicht vergessen, und noch jahrhundertelang pilgerten die Menschen hin zum Felsengrab am Wendelsee, um feiner mit dankbarem Herzen zu gedenken.
Wie der Kuhreihen entstanden
Steigt der Wandrer im Sommer auf die Berge, mag er hier und dort von einer Alpweide hernieder das Jauchzen eines Sennen vernehmen . Er bleibt dann stehen und lauscht mit Vergnügen diesem seltsamen Lied ohne Worte, das, schnell wechselnd, oft ein Weilchen in der Tiefe anhält, um dann plötzlich in die Höhe zu steigen. Und die bald heiter, bald traurig klingenden Laute des Hirten kommen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Sie klingen noch lange in seinem Herzen fort und stimmen es freudig und wehmütig zugleich, wie das Gedenken an entschwundene Jugendtage.
Wie ein einsam lebender Mensch oft zu singen anhebt, um sich nicht mehr so allein zu fühlen, also jauchzt auch der Senn auf der Weide. Hallt dann seine Stimme auf allen Seiten von den Flühen wider, so ist es, als antworteten ihm die Berggeister, und er wähnt sich nicht mehr so allein. Auch lockt er damit seine Kühe herbei, begrüßt einen befreundeten Sennen, der etwa die Weide hinansteigt, oder wohl auch sein Liebchen auf der nahen Alp. Sein Jauchzer dient ihm solchermaßen als Fernsprache.
Noch schöner aber als der einfache Jodel ist der Kuhreihen.
Der setzt sich zusammen aus Worten, langen Trillern und bald hüpfenden, bald gedehnten Tönen und bildet also eine Art Jauchzergesang . Er wird den verschiedenen Berggegenden auch verschieden gesungen. Am meisten bekannt ist der Kuhreihen der welschen Freiburger, genannt der Sang des Vaches, mit seinem schwermütigen Lockruf: Lioba, Lioba!
Bor Zeiten, als man auf den Schweizer Alpen noch nichts wußte vom Kuhreihen, hütete ein junger Hirte sein Vieh auf der Balisalp im Haslital.
An einem schönen Abend, nachdem der Senn seine Kühe gemolken und sie wieder auf die Weide getrieben, blieb er länger als sonst vor seiner Hütte stehen und sah dem Untergang der Sonne zu.
Noch stand der glühende Ball über dem Abendberg, Tal
grund aber fing es leise zu dämmern an. Ueber die spiegelblanken Flächen der Seen, über die Ufer und Wohnstätten der Menschen legten sich die stahlblauen Schleier der nahenden Nacht, und in scharf begrenzter Linie stiegen ihre Schatten die Hänge hinan. Sie bedeckten langsam die Tannen- und Arvenwälder, sie krochen gierig über die grünen Weiden, sie spannen sich um der Felsen braune Wände. Im Halbdunkel lagen jetzt die Täler und Vorberge, der Himmel war erloschen. Als ob nun aber der scheidende Tag der Welt noch einen letzten Gruß entbieten wolle, röteten sich mählich die eisgepanzerten Riesen des Hochgebirges und schauten, den Feuerschein auf der Brust, noch ein Weilchen nieder auf die im Dunkel entschwindende Erde. Doch höher und höher stieg die Nacht und löschte endlich auch die letzten Gluten auf den Zinnen und Spitzen. Und blaß wie Geistergestalten starrten Setzt die Berge hinaus in die Finsternis, derweil am Himmel droben die goldnen Sterne zu funkeln begannen.Der Nes, also hieß der junge Senn, trat in die Hütte, verrammelte Tor und Tür und stieg hinauf in die Gastern ), wo er sich auf das welche Bergheu legte. Tiefe Stille herrschte, kein Lüftchen regte sich. Nur von fern her erklangen die Glocken der Herde und wiegten den Sennen in Schlummer.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Was war das ? Hatte da nicht jemand die Tür aufgeschlagen, die er doch so fest verriegelt ? Auch hörte er jetzt deutlich, wie auf dem Herde das Feuer zu knistern anhub.
Der Senne richtete sich auf und blickte in die Hütte hinab. Da sah er zu seinem Erstaunen drei fremde Gesellen, die sich zum Käsen anschickten. Der eine von ihnen, ein Niese von Gestalt und gekleidet wie ein Küher, richtete unter lautem Knarren des Drehbaumes den Kessel über den prasselnden Flammen. Der zweite glich einem Jäger, trug ein grünes Hütlein und ein Wams von gleicher Farbe, und eine Weidtasche hing an seiner Seite. Der hockte am Herde, schürte das
Setzt gab der riesenhafte Senn dem Jäger ein Zeichen. Da zog dieser aus seiner Jagdtasche ein Fläschchen hervor und goß blutrotes Lab ) in die Milch, sie zu scheiden, worauf er sich wieder ans Feuer setzte. Der Senne seinerseits ergriff den Brecher ) und hub an, in der Milch zu rühren. Der Jüngling aber mit dem goldfarbenen Schopf schritt jetzt gegen die Tür, die von selber aufging, und trat vor die Hütte.
Jetzt vernahm der junge Senn Töne, wie er sie bisher nie vernommen . Das klang anfangs wie ein fchmetternder Jubel, der über alle Berge hinscholl, also daß ihm das Herz im Leibe lachte. Dann aber ging das Jauchzen über in ein wundersam Lied. Das klang gedehnt und wehmütig, und seine Töne schienen in den fernen Schluchten zu ersterben. Nun hörte er deutlich, wie seine Herde, von den zauberhaften Klängen angezogen, sich der Sennhütte näherte, merkte auch bald, wie das Klingeln der Schellen und das Geläute der Kuhglocken lieblich mit dem schönen Liede zusammenschmolz, als ob daz alles von seher so zusammengehört hätte, und vermeinte gar, seine Kühe zu sehen, wie sie in stillen Reihen um den bleichen Sänger herumschritten.
Da kam dieser in die Hütte zurück und ergriff ein langes, mit Weiden und Wurzeln umwundenes Horn, das in einer Ecke lehnte und Nes bisher nicht bemerkt hatte. Damit trat er wieder vor die Hütte und ließ die nämliche Weise in die sternhelle Bergnacht hinausklingen , nur langsamer als zuvor. Da schien ringsherum alles lebendig zu werden. Von den Felswänden kehrten die Töne mächtig zurück, aus den Wäldern hallten sie leiser nach und verloren sich am Ende wie ein Geflüster in den Lüften droben.
Inzwischen war der riesenhafte Senn am Herde mit seiner Arbeit fertig geworden und schöpfte nun die Schotte *) in drei bereitstehende Gepsen. Doch wie merkwürdig: in der einen Gepse erschien die Milch rot wie Blut, in der zweiten grün und in der dritten weiß wie frischgefallner Schnee.
Dem Nes auf der Gastern droben blieb indessen keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn der riesenhafte Küher rief plötzlich mit dröhnender Stimme zu ihm hinauf:
"Steig Setzt herunter, Menschenkind, und wähle dir eine Gabe!
Bei diesen Worten lief es dem jungen Hirten eiskalt den Rücken hinab, er zitterte an allen Gliedern. In diesem Augenblicke trat aber der blasse Jüngling mit seinem Horne wieder in die Hütte und nickte ihm freundlich zu. Da faßte er sich denn ein Herz, stieg das Leiterchen hinab und trat zu den Gepsen. Jetzt sprach der gewaltige Senn also:
"Siehe, hier sind drei Gepsen. Aus einer von ihnen mußt du trinken. Du hast die Wahl. Doch überleg es du wohl und wähle gut, leicht könnt es dir sonst übel ergehen. Die rote Gepse ist meine Gabe. Trinkst du aus ihr, so wirst du stark wie ein Niese und also mutig, daß dir kein Mensch auf Erden widerstehen kann. Dazu geb ich dir noch hundert schöne rote Kühe, die morgen früh auf deiner Alp grasen sollen. Greif zu!
Setzt erhob sich der Jäger und sprach also:
"Mein Sohn, laß dich uschi betören durch die Worte des großen Sennen. Was hilft dir auch die Riesenkraft, die er dir versprochen ? Bist du nicht schon stark genug, deine Händel selber zu schlichten ? Und erst die Kühe! Können sie nicht in kurzem dahinsterben oder in den Felsen erfallen ? Glaube mir, das ist vergängliches Gut. Ich aber biete dir, wenn du aus meiner Gepse trinkst, der grünen, ein bleibend Gut an: Ich biete dir Gold und Silber in Fülle. Damit magst du dir kaufen, was dein Herz begehrt, Haus und Hof und
Und er leerte vor des Hirten Füße einen Sack voll Silbertaler und roter Goldstücke.
Beim Anblick des gleißenden Haufens gingen dem Nes die Augen über. Die gewaltige Kraft nebst den hundert Kühen, die ihm der riesenhafte Senn versprochen und die er sich beide noch einen Augenblick zuvor fürs Leben gern gewünscht, waren vergessen, und ihm schien, als müsse er mit beiden Händen hineingreifen in die funkelnde Pracht. Da aber fuhr ihm durch den Sinn, daß der dritte noch nicht gesprochen, und also wandte er sich nach diesem um.
Der stand, auf sein Alphorn gestützt, schweigend hinter den andern und blickte zu Boden. Jetzt aber hob er sein schönes Gesicht und richtete zwei lichtblaue Augen auf den jungen Hirten. Dann trat er zur weißen Gepse und sprach in weichem Tone:
"Was dir die beiden andern geboten, vermag nicht zu verleihen. Uebermenschliche Kräfte und goldne Schätze stehen nicht in meiner Gewalt. Meine Gabe befriedigt keine der menschlichen Begierden, und nur ein einfach schlichtes Herz erkennt ihren Wert. Sie ist auch nicht geboren aus der Sucht nach Größe und Reichtum, sie ist vielmehr ein reines Kind der Berge. Die Berge und Felswände sind ihre Wiege, die brausenden Winde ihre Brüder, die rauschenden Quellen ihre Schwestern. Denn siehe, es sind nur Klänge, die ich dir zu schenken habe, nebst diesem Alphorn. Nimmst du sie aber an, so wirst du schon am kommenden Morgen jodeln und dies Alphorn blasen können, also schön, wie du's eben von mir gehört hast. Das wird dich glücklich stimmen, wird dich aufrichten in bösen Tagen, und die Menschen von nah und fern werden dir dankbar sein, dem Gesange lauschen zu dürfen. Trink also aus der weißen Gepse, und die Gabe des Gesanges wird auch dir zuteil werden."
Unschlüssig stand der junge Aelpler da, und die Mächte des Himmels und der Erde kämpften in seiner Brust. Bald blickte er hin auf den gewaltigen Sennen, der ihm seine Kräfte verleihen wollte, bald
wieder auf den weiß und rot schimmernden Haufen am Boden, der ihn mit einem Schlag zum reichen Manne machte, dann schaute er wieder den blassen Sänger an. Was sollte er wählen ?Da ging es wie ein Ruck durch seinen Leib. Er warf den Kopf in den Nacken und wandte sich gegen den blondlockigen Jüngling, der träumerisch vor sich niedersah.
"Ist es denn wahr, was du sagst?" fragte er mit bebender Stimme. "Ich werde also singen und blasen können wie du und auch andre Menschen damit erfreuen ?"
"Es ist wahr antwortete der Jüngling leise.
"So will ich die Riesenkraft und die goldnen Schätze nicht", rief setzt der Sohn der Berge mit blitzenden Augen. "Ich wähle dein Lied und dein Alphorn und trinke aus der weißen Gepfe!
Mit diesen Worten beugte er sich nieder, hob die Gepse an seinen Mund und trank. Es war nichts als frische Milch, die mit einem garten Rahmschaum bedeckt war.
"Du hast gut gewählt", sprach der Jüngling. "Denn wisse: viel hundert Jahre wären vergangen, bis ich mein Geschenk den Menschen wieder hätte anbieten dürfen. Nimm also das Alphorn, und morgen wirst du singen und blasen können wie ich. Und wenngleich du die Gaben meiner Begleiter verschmäht hast, so tröste dich: Kraft und Reichtum wohnen auch im Lied und in den Tönen.
Als sich der junge Senn einen Augenblick später umsah, da waren die drei Gestalten verschwunden. Mählich erlosch auch das Feuer auf dem Herde, und Nes stieg, fast ohne zu wissen was er tat, in die Gastern und legte sich schlafen.
Am frühen Morgen wachte er auf. Hatte er geträumt ? Es war nicht möglich, denn neben ihm lag das Alphorn, und noch setzt klangen in seinen Ohren die Weisen nach, die er in der Nacht vernommen.
Er trat vor die Hütte. Am fernen Ostrand stieg die Sonne lodernd empor, übergoß die Gipfel der Hochwelt mit ihrem Flammenhauch , warf ihren goldnen Glanz über die braunen Flühe der Vor
berge, zerriß den Dunst und Nebel in den Tälern und fegte die Seen blank.Da hub der Jungsenn zu jauchzen an. Und siehe, seiner Brust entquollen die gleichen wundersamen Töne, die ihn in der Nacht zuvor also bezaubert hatten. Er blies in sein Horn. Die gedehnten Klänge hallten hinaus in die klare Luft, brachen sich an den fernen Felswänden und kehrten freudig zu ihm zurück. Jeist sammelten sich auch die Kühe um ihren Hirten und schritten bimmelnd und bammelnd um ihn herum. Wundersam mischte sich ihr Glockengeläute mit Lied und Alphornklang, und an jenem Morgen hörten die Menschen von nah und fern zum erstenmal den Kuhreihen.
Der eigenartige Alpengesang hat sich von jener Sett an fortgepflanzt von Geschlecht zu Geschlecht und erhalten bis auf den heutigen Tag.
Wo die Alpenrose erblühte
1.
Vorn am Sigriswiler Grat, hoch über dem Dörfchen Sigriswil, ragt ein wilder Felszacken gleich einem Zeigefinger gen Himmel empor. ES ist die Spitze Fluh.
Bor langen Jahren lebte in Sigriswil ein Mädchen, Else genannt. Sie war eines reichen Vaters Kind, war schlank von Wuchs, hatt' dunkles Haar und feurige Augen und trug, ihres Reichtums und ihrer Schönheit bewußt, das schmucke Köpfchen wie eine Prinzessin . Die jungen Burschen des Dorfes mühten sich um ihre Gunst. Dem stolzen Mädchen schmeichelte es sehr, solchermaßen umworben zu sein. Sie tat auch mit allen ein wenig schön, liebte gelegentlich mit ihnen zu dorfen *) und zu scherzen, versprach aber keinem, was er wünschte — hoffte doch das hochmütige Bing im stillen auf einen vornehmen Herrn, der sie dereinst auf sein Schloß führen werde.
Da geschah es, daß ihr Herz dennoch für einen der Dorfburschen entbrannte.
Er hieß Hans, war, ein echter Sohn der Berge, hoch und sehnig gebaut, mit hagrem Gesicht und scharfem Blick, seines Zeichens halb Hirte, halb Jäger, und ein verwegener Felsengänger, von dessen gefährlichen Klettereien du Leute gar manches zu erzählen wußten. Viel reden und Wesensmachen lag nicht feiner Art. Er verschloß vielmehr seine Gedanken und Gefühle in sich felber, oder mochte sie auf einsamen Streifereien feinen Bergen anvertrauen, die ihm über alles zu gehen schienen.
An Mädchen und Liebe dachte der Mann kaum.
Es war im Ustig **), da traf er eines Tages, von den Bergen niedersteigend, auf einsamem Pfade mit der Else zusammen, die im Begriffe stand, nach ihres Vaters Hirtenhütte zu gehen. Sie blieben
"Da wird's wohl noch viel Schnee herum haben", meinte das Mädchen.
"Freilich", antwortete der Bursche, und an schattigen Stellen ist das Gehen recht mühsam. Da kann einer im Schnee fast versinken.
"Ach, und Blumen hast auch schon gefunden", rief sett das Mädchen erfreut, als sie das gelbe Sträußchen auf seinem Hute gewahrte. "Flühblumen! Wie herrlich! Das sind ja meine Lieblingsblumen!
"Hab sie auch gern", machte der Bursche. "Die da sind freilich noch klein und kaum aufgegangen. Und haben mich doch solch eine Mühe gekostet!
"Wo hast sie denn holen müssen ; Etwa" — und das Mädchen lachte — auf der Spitzen Fluh droben ?"
"Das nicht. Da müßte einer schon fliegen können, wollte er Blumen von dort herunterholen. Da hinauf ist noch keiner gegangen."
"Und warum nicht? Ist denn diese Fluh also gefährlich, daß nicht einmal du es wagst, hinaufzugehen ? Man hat mir doch erzählt, es gebe für dich nichts Unmögliches in den Bergen.
"Vielleicht. Vor der Spitzen Fluh aber hat mir immer gegraut, weiß selber nicht warum. Mir ist, sollte ich es dennoch eines Tages versuchen, ich werde an ihr erfallen.
"Wär ich ein Mann", erwiderte sie darauf mit stolzem Lächeln, "ich würd es doch einmal wagen . . ."
Ein paar Tage später trafen sich die beiden wieder, und nun loderten alle Feuer der Sehnsucht in ihren Herzen. Des Mädchens stolze Schönheit und ihr herrischer Wille hatten in dem jungen Burschen plötzlich all seine Leidenschaften geweckt, derweil sie in ihm den Mann bewunderte, der durch seine sehnige Kraft und seinen Wagemut die Berge bezwang. Indessen vertraute keins dem andern seine Gefühle an, das Mädchen aus eitlem Selbstbewußtsein, der junge Mann aus angeborner Verschlossenheit.
2.
An einem Sonntag im Mai war Tanz auf dem Dorfplatz.
Auch Else erschien. Das schöne Mädchen war heute schöner denn se und besonders guter Dinge. Eine weiße Rose im Haar, strahlend vor Lust und Lebensfreude, gewährte sie mit lachendem Munde bald diesem, bald Senem einen Tanz. Doch schaute sie sich vergeblich nach Hans um. Er war nicht gekommen, und der Gedanke, den heimlich Geliebten gerade heute nicht in ihrer Nähe wissen, trübte ihr mehr und mehr die festliche Freude.
Die Stunden flogen. Immer schriller erklangen die Hörner und Pfeifen. Jauchzend und stampfend drehte sich das junge Volk.
Gegen Abend endlich erschien er, groß und schön, mit sonnverbranntem Gesicht, als käme er gerade von den Bergen herabgestiegen. Nach kurzem trat der Bursche auf das schöne Mädchen zu und lud sie zum Tanze. Sie tanzten. Sie tanzten wieder, und dann ein drittes Mal. Reden taten sie wenig. Ihre Herzen aber loderten in verhaltner Glut.
Als der dritte Tanz zu Ende, faßte sich der junge Mann ein Herz und tat, ihre Hand noch immer in der seinen, die entscheidende Frage:
"Wer wird der Glückliche sein", also sprach er mit fester Stimme, "der diese Hand für immer behalten darf ?"
Das Lächeln auf dem schönen Gesichte verschwand. War sie auch dem jungen Burschen leidenschaftlich ergeben — ihr Hochmut gab noch immer nicht zu, es ihm offen zu bekennen. Auch sollte ihr Freier, wenn es am Ende doch einer aus dem Dorfe sein mußte, sie nicht so leichten Kaufs gewinnen. Ein Mädchen ihrer Art wollte verdient sein. Also entzog sie ihm denn rasch ihre Hand, trat einen Schritt zurück und erwiderte mit blitzenden Augen:
"Du sollst mich haben. Doch nur " — und sie wies mit der Hand nach den Bergen hinauf — "wenn du noch dieser Nacht einen Flühblumenstrauß von der Spitzen Fluh herunterholst und ihn mir, noch eh die Gonne aufgeht, vor mein Fenster stellst,
Sprach's, wandte ihm stolz den Nücken und schritt auf einen andern Tänzer zu.
Betroffen blickte ihr der Bursche nach, sah noch, wie sie am Arme des andern, ihr hochmütig Lächeln wieder auf den Lippen, unter den kreisenden Paaren hier und dort auftauchte, drehte sich um und mischte sich unter die Jungburschen, die, statt zu tanzen, sich bet Wein und Schwatzen die Zeit vertrieben.
Er blieb äußerlich ruhig, wie immer, redete wenig, schien zu hören und zu beobachten. seinem Innern aber wogten die Gedanken und Leidenschaften wie sturmbewegte Wellen auf und nieder.
Flühblumen sollte er für sie holen ? Und sie holen von der gefährlichen Fluh herunter, an die sich noch keiner gewagt und vor der ihm selber immer gegraut ? Und das bei Nacht, wo fede Gefahr sich verdoppelte und jeder Schritt ihm den Tod bringen konnte ? Sie verlangte viel, bei Gott! Sein Leben mußte er aufs Spiel setzen, ihrem herrischen Willen Genüge zu leisten. Gleichviel — er würde es tun. Der Entschluß stand fest. Die Tat war des Preises würdig, und noch jetzt klangen ihre stolzen Worte: "Du soll mich haben! in seinem Ohre weiter und erfüllten seine Seele mit einem berauschenden Glücksgefühl, wie er es in seinem Leben noch nie empfunden.
3.
Eine Stunde vor Mitternacht verließ Hans den Tanzplatz, schritt durch das Dorf und am Häuschen seiner Mutter vorüber. Sie hatte noch Licht. Saß wohl am Tisch und erwartete ihn. Er galt seiner Mutter alles, sie selber war für ihn der Inbegriff alles Guten auf Erden. Geh schlafen, Mutter ", sprach er vor sich hin. komm erst morgen wieder!
Vom Dorfe weg schritt der junge Mann über Bergwiesen dem Grate zu.
Es war eine laue Nacht. Am Himmel funkelten die Sterne. Schroff und steil, als ob er jeden Augenblick über den tiefschwarzen Bergwald niederstürzen wollte, drohte der Felszahn der Spitzen Fluh weithin über Tal und See.
Vertraut wie kaum einer mit Weg und Steg seiner Heimat, fand sich Hans auch im Dunkel leicht zurecht. Er folgte eine Weile dem obern Lauf eines Baches, überquerte in der Tiefe eines Tadels das lebhaft rauschende Wasser und stieg nun eine Alpweide hinan, die Wiler Allmend. Der Blick weitete sich. Näher, doch finster und abweisend wuchtete Setzt die Fluh vor ihm auf, als wenn sie von keines Menschen Können zu ersteigen wär '. Unter seinen Füßen spürte er das taunasse Gras.
Beim obersten Brunnen der Alp hielt der junge Mann an und lauschte einen Augenblick dem sprudelnden Quell. Tauchte sodann seine heißen Hände in die kalte Flut. wie das wohl tat! Als ob du geheimen Kräfte der Erde auf ihn überströmten und seine erregten Sinne kühlten und stärkten zugleich. Er benetzte seine Stirn, trank aus hohler Hand von dem köstlichen Labsal. Fast feierlich war ihm zumute.
Er schaute nach dem Dorfe zurück, vermochte noch ein paar Lichtlein zu erkennen. Schatten huschten vor den Lichtlein vorüber. Waren das tanzende Paare ? Seine Liebste am Arm eines andern ? Wie weit, wie fern lag das alles schon zurück!
Er wandte sich ab und stieg im Zickzack einen finstern Bergwald hinan, sich die Richtung des steilen Pfades an Tannen, an Felsen und Nasenhalden ertastend, und erreichte nach einer Stunde mühseligen Tappens die Höhe des Waldes.
Der Mond schien inzwischen gen Morgen, jenseits des Gratesaufgegangen zu sein. Der Himmel war heller geworden, und in seiner Helle zeichneten sich die schwarzen Umrisse der Spitzen Fluh, die seht zum Greifen nahe vor ihm stand, noch schärfer und härter ab als zuvor.
Prüfend schaute der junge Mann die Wand empor, die finster und hoch wie ein Kirchturm in die Höhe starrte. Kein Tännchen, kein Legföhrensträuchlein, geschweige denn irgendein Moosgebilde war an ihr zu erkennen. Und dennoch wußte Hans genau, daß solche vorhanden sein mußten — war er doch tagsüber gar manches Mal hier gestanden, die Fluh zu betrachten.
Und wie er also überlegte, da hub es hoch oben gleich einer Strahlenkrone zu flimmern an, und wie aus einem Fenster drang jetzt das Licht des Mondes durch die Sattellücke, die den Gebirgsstock der Spitzen Fluh vom Grate trennt.
Seltsam ergriffen, blickte Hans eine Weile hinauf, zog seinen Gürtel fester um den Leib und begann den Angriff.
Vorsichtig überkletterte er erst ein paar Felsblöcke, die sich im Laufe der Zeiten von der Fluh gelöst und hier zum Stillstand gekommen waren, und stieg dann die Wand hinan, im verwitterten Gestein die sichern Griffe und Tritte ertastend, ab und zu nach dem erhellten Felsenfenster emporblickend.
Da hörte er über sich, ganz in seiner Nähe, den Ruf eines Waldkauzes . Einen Augenblick hielt der Mann an, den Leib an die Wand gepreßt. Der Ruf war ihm vertraut, er lauschte ihm gerne, wenngleich die Leute im Tale drunten den scheuen Vogel den Totenvogel nannten.
Er kletterte weiter. Noch lag die Wand im Dunkel der Nacht und ließ ihn die Tiefe unter sich nicht ermessen. Mählich aber trat
jetzt der Mond über du Kante, strahlte ihm ins Gesicht und erhellte das Gestein um ihn her. Er kam nun rascher vorwärts und stieg endlich wohlbehalten in das Felsenfenster ein. Taghell leuchtete der grauweiße Kalkstein. Leichte Windstöße, die bereits den frühen Morgen verkündeten, spielten erfrischend um seine heißen Wangen und ließen die Gräser leise erzittern, die zu seinen Füßen in Ritzen und Nischen des Gesteins ergrünten.Doch wie nun weiter empor ?
Eine glatte Felshalde, die im Lichte des Mondes wie eine Tafel schimmerte, stieg starr und steil zur Seite der Lücke gegen die Fluhspitze hinan und schien allem menschlichen Können zu trotzen. Und wie der junge Mann ihre Steilheit prüfen wollte und ein verwittertes Felsstück auf die Fluhfläche legte, da geriet es auch sogleich ins Gleiten, sauste immer schneller abwärts und zersplitterte erst nach geraumer Zeit in der Tiefe.
Spähend blickte Hans die Wand empor, entdeckte auf der hell erleuchteten Fläche eine erste Griffstelle, dann, weiter oben, von dieser gut erreichbar, eine Ritze, breit genug, die Finger einzukrallen. Eräugte noch weiter oben andre Stellen zum Halt für Hände und Füße und zog endlich kurzerhand seine beschlagenen Schuhe aus, im Gefühl, der nackte Fuß werde ihm einen festern Halt gewähren.
Aus dem Felfenfenfter schwang er sich auf die bedachte Fluhseite. Und siehe, der erste Griff bewährte sich. Der zweite und dritte auch. An einer kleinen Legföhre angelangt, hielt er einen Augenblick an, um Atem zu schöpfen, und erreichte endlich von hier aus nach wenigen Griffen und Tritten den Gipfel der Spitzen Fluh.
4.
Er setzte sich nieder auf die scharfe Gratkante, um auszuruhen.
Wieder rief der Waldkauz: "Hu —hu —hu!", doch diesmal unter ihm, in nächtlicher Tiefe. Der junge Mann schauerte zusammen. So seltsam und wehmütig hatte er den unheimlichen Nachtvogel noch nie schreien hören.
Er blickte sich um.
Ueber ihm stand groß und voll der Mond und warf ein glitzerndes Band über den leicht bewegten See. Ringsum reihten sich die blauschwarzen Ketten der Vorberge, und über ihnen leuchteten in marmornem Glanze die Firnen der Hochwelt.
Im Dorfe drunten war kein Licht mehr zu sehen. Die Menschen waren schlafen gegangen, müde von des Sonntags Lust, von Tanz und Spiel. Und Else 2 Ob sie wohl schlief ? Oder bereute das stolze Mädchen etwa ihr rasch gesprochen Wort und konnte keine Ruhe finden ? Es ging am Ende um Leben und Sterben. Sie wußte das selber.
In seiner Seele war es mählich recht stille geworden — so ganz anders, als vor ein paar Stunden, wo er erregt und wie berauscht den Aufstieg begonnen. Sein Ziel hatte er erreicht, hatte, als Erster, seinen Fuß auf den Nacken der gefürchteten Fluh gesetzt und würde nun in einer Stunde, oder in zwei, dem schönen Mädchen einen Flühblumenstrauß unter ihr Fenster stellen und sie damit gewinnen.
Er dachte kaum mehr daran. Ihm war zumute, als wär' er auf einmal in eine höhere Welt entrückt — in eine Welt, wo der Mensch keinen Wunsch, kein Begehren mehr kennt und sich dennoch glücklich und zufrieden fühlt. Er konnt ' es nicht fassen.
Plötzlich ermannte er sich, legte sich plan auf die Gratkante und blickte in die Tiefe hinab. Richtig! Vom Monde beschienen, lachte ihm auf einem Felsbändchen ein kleines Meer von Flühblumen entgegen. Ein goldgelber Kelch neben dem andern und fede Blüte von Tauperlen verschönt!
Da überkam ihn wieder das wunschlos beseligende Gefühl von vorhin. Warum den Blumen wehe tun ? Das diente ja zu nichts. Und er stand auf und überlegte den Abstieg.
Dem Blumenbande abgekehrt, ließ sich Hans den Hang hinab, um mit einer Ferse den ersten Stützpunkt zu ertasten. Da vernahm er wieder eine innre Stimme: "Mußt sie doch brechen! Sie sind für die Else!
Und also wandte sich der junge Mann wieder den Blumen zu, klammerte sich mit der einen Hand an du lange Tauwurzel einer Legföhre, derweil er, auf dem Felsbändchen stehend, sich bückte, um mit der andern die Blumen zu pflücken.
Ein herrlicher Duft strömte ihm entgegen und berauschte ihn. Immer weiter griff die pflückende Hand aus, mehr und mehr verlängerte sich sein Schritt, er ließ gar auf einen Augenblick die Wurzel fahren, um, etwas weiter hin, noch eine besonders schöne Blume zu erhaschen.
Da gab es plötzlich unter seinen Füßen nach. "Mutter! tönte es in die Stille der Bergnacht. Im nächsten Augenblick lag er auf dem Rücken, den Kopf nach unten, und glitt schnell und schneller über die steile Halde in die Tiefe. Ein dumpfer Fall, ein harter Schlag. Dann ward es stille wie zuvor . . .
5.
In jener Nacht fuhr Else aus schwerem Traum empor. Von Blut und Tod hatte sie geträumt, und Hans war der Tote. Wär's möglich ? Sollte ihm wirklich etwas zugestoßen sein ? Noch den ganzen Abend zuvor hatte sie den Kopf recht hoch getragen, hatte sich vorgeredet, sie hätte dem kühnen Mann die kühne Tat gewiesen, die ihn mit einem Schlag zum Helden des Tales und — zu ihrem Hochzeiter machen würde. Setzt aber? Sie fühlte es deutlich: ein Wahn war's gewesen, solches von ihm zu verlangen. Hatte er nicht selber gesagt, damals, als sie einander zum erstenmal getroffen, er werde an der Spitzen Fluh noch einmal erfallen ? Weg war ihr Dünkel, ihre Seele geläutert, und einem Sturme gleich brach setzt aus ihrem Herzen die Sorge des liebenden Weibes um den geliebten Mann.
Sie eilte zum Fenster und schaute zur Spitzen Fluh empor, die schwarz und dräuend auf sie mederstarrte. Der Mond stand über dem See, über den Gräten aber kündete ein Lichtschein bereits das nahende Erwachen des Tages.
Voll Unruhe machte sich das Mädchen in ihrem Gaden zu schaffen,
Der Ersehnte kam nicht.
Der Tag brach an. Die Schatten verzogen sich aus dem Tale. Ueber den Gräten flammte der Himmel in roter Glut.
Da hielt es das Mädchen im Hause nicht länger aus. Ihr Herz war dem Zerspringen nahe, und mit unwiderstehlicher Gewalt zog es sie ins Freie und hinauf zur Spitzen Fluh.
Eine flinke Berggängern, dazu beflügelt von der wachsenden Angst, die ihr Riesenkräfte verlieh, hastete sie über die Alpweide hinan und den Bergwald empor. Ihr Atem keuchte, die Pulse flogen, ihr
Haar, das sich gelöst, flatterte um Hals und Busen. Sie achtete es nicht und sagte weiter über Hang und Fels — einem Wilde gleich, das vom Jäger verfolgt wird.Einen Augenblick blieb sie stehen und schöpfte Atem. Die Fluh konnte nicht mehr ferne sein. Sie horchte. Kein Lüftchen regte sich. Keines Vogels Laut war zu vernehmen. Starr und still lagen Fels und Wald um sie her.
Da eilte das Mädchen weiter, verließ den bequemen Pfad und stieg auf gradem Wege zur Fluh empor.
Endlich erreichte sie die Wand, mit der furchtbaren Gewißheit im Herzen, sie werde ihn hier finden.
Und sie fand ihn.
Da lag er, reglos auf dem felsigen Boden hingestreckt, ein paar Flühblumen in der erstarrten Hand.
Sie stieß einen Schrei aus, stürzte nieder auf die Knie und warf sich über den Toten. Zu weinen vermochte sie nicht. Ab und zu nur entrang ein Schluchzen dem vor Jammer und Schmerz sich verkrampfenden Herzen.
Nach einer Weile richtete sie sich mühsam empor und schaute auf den Toten nieder. Seine Augen waren geschlossen, das Gesicht schien tief in sich hinein zu sinnen. Unter seinem Kopfe rann das Blut hervor.
Da erfaßte sie des Toten kalte Hände und legte ihren Kopf auf seine Brust. So vertraut war sie dem Lebenden nie gewesen. Ihr Schluchzen ward leiser und leiser, und dann ward es still — die sich im Leben nicht zu finden verstanden, im Tode hatten sie sich gefunden . . .
An der Stelle aber, wo das Blut des Unglücklichen den Nasen gefärbt, soll nach der Sage bald darauf eine blutrote Blume emporgewachsen sein — die erste Alpenrose.
Vreneli
1.
Nicht gar weit über Isenfluh, dem hochgelegenen Dörfchen im Lauterbrunnental, erhebt sich ein spitzer Felsturm, der stolz auf Interlaken niederblickt und nach der andern Seite zur Jungfrau hinaufgrüßt . Er heißt die Dünne Fluh. Die Bergleute aber nennen ihn kurzweg Vreneli.
Woher der Name wohl kommen mag ;
In Isenfluh lebten vor nicht gar langer Zeit ein Bursche und ein Mädchen, die sich von Herzen lieb hatten. Der Bursche, hoch gewachsen, mit dunklem Haar und scharf geschnittenem Gesicht, sah trog seinen jungen Jahren schon recht ernst und nachdenklich in die Welt. Das Mädchen dagegen, fein und zierlich von Gestalt, mit goldfarbenen Zöpfen, großen blauen Augen und einem silbern Kettlein um den Hals, war gar lieblich anzuschauen und voll heitren Sinns. Die beiden hatten einander schon zwei Jahre Treue gehalten und hofften, sich nun bald ganz anzugehören. Da traten die Eltern des Mädchens dazwischen. Der Friedel, meinten sie, sei halt ein bißchen zu sung zum Heiraten; der müsse vorher noch in die Fremde und dort zwei oder drei Jahre Kriegsdienste tun. Im stillen erwarteten sie auch, da der Bub so groß und stark war, er werde dann mit Gold und Ehren beladen nach Hause zurückkehren und damit ihr Töchterchen erst recht glücklich machen.
Wenn auch schweren Herzens, fügten sich die beiden Liebenden dennoch in den Wunsch der Eltern. Am Tage vor der Abreise aber stiegen sie zum genannten Felsturm hinauf und ließen sich dort, wie sie das schon so manches liebe Mal getan, an seinem Fuß, im Sätteli, nieder. Die Stelle war, da sie einen gar herrlichen Ausblick nach Süden und Norden gewährt, zu ihrem Lieblingsplätzchen geworden. Die Hände verschlungen, ernst und traumverloren auf ihr Dörfchen hinabschauend oder hinauf zu den hohen Bergen, die in der Sonne
funkelten, plauderten die zwei nun lange von den glücklichen Stunden, die sie schon zusammen verlebt, von der schweren Trennungszeit, die ihnen bevorstand, und dann von dem gemeinsamen Leben nach der Rückkehr des Geliebten, das sie sich in goldenen Farben ausmalten .Wenn aber nicht wiederkommst! " fuhr das Mädchen plötzlich auf. "Mir ist so bang, Friedel, du bleibest im Krieg, und ich seh dich nie, nie mehr wieder.
"Sei nur ohne Sorge, Vreneli, tröstete der Bub. "Ich komme wieder. Und wenn s vielleicht auch länger als drei Jahre dauern sollte — es weiß es ja niemand, wies einem so im fremden Land ergehen kann — so bleib mir gleichwohl treu und warte."
"Ja, Friedel, ja ", stieß das Mädchen Setzt leidenschaftlich hervor und preßte die Hand ihres Geliebten. "Das will ich. Das werd ich. Treu will ich dir bleiben und sollt es zehn und mehr Jahre gehen. Einen andern Mann als dich könnt ich ja auch gar nicht lieb haben. Das wär mir unmöglich."
"Ich weiß es schon, Vreneli, sagte er gerührt, daß ich auf der ganzen Welt kein bessres Mädchen hätte finden können als dich.
Sie widersprach ihm und nannte diese und jene im Dorfe, die sicher besser seien als sie. Und auch schöner. Er aber ließ ihr nichts gelten, und so stritten die beiden eine Weile hin und her. Am Ende aber schloß er ihr den Mund mit einem Kuß, faßte die jugendzarte Gestalt unter den Armen und stellte sie mit einem Ruck auf die Füße.
"Komm! " sagte er. "Laß uns zum Abschied noch ein paar Blumen pflücken."
Sie suchten sich eins fürs andre die schönen Bergblumen aus, um damit ihre Liebe zu schmücken, und wanden sie zum Sträußchen. Und als sie einander die Buschen überreichten, da fand es sich, daß diese sich ganz ähnlich waren: der eine zwar ein bißchen größer, der andre zierlicher, beide aber umschlossen mit einem Kranz rot glühender Alpenrosen ein dunkelblaues Feld von Eisenhut.
Sie schauten lächelnd auf die Buschen nieder.
"Alpenrosen und Eisenhut — die Farben der Liebe und der Treue ", sagte der Bub.
"Unsre Farben, Friedel ", bekräftigte das Mägdlein.
Nach einem Augenblick fuhr der Bub fort:
"Du weißt, Vreneli, wie lieb uns beiden diese Blume, der Eisenhut , ist. Nun denk ich es mir also: Wenn ich nach zwei oder drei Jahren wiederkomme, dann pflück ich mir erst einen Busch von diesen schönen Blumen und stell ihn dir durchs Fenster auf den Tisch. Daran sollst du erkennen, daß dein Friedel heimgekommen und wir nun Hochzeit halten können."
Das holde Gesichtchen des Mädchens errötete, ihre Augen leuchteten . Dann sagte sie schnell:
"Ja, Liebster, tue das, und am folgenden Tage steigen wir zusammen
Die Sonne war schon vor einer Wellt untergegangen. Im Tale drunten begann es zu dunkeln, und höher und höher stiegen die Schatten die waldigen Hänge hinan. Ueber die silbernen Zacken und Zinnen aber ergoß sich jetzt ein rosiges Licht, das sich rasch tiefer färbte, und bald stand die ganze Kette der Hochwelt in Flammen.
Der Bub hatte seinen Arm um des Mädchens Hüfte gelegt, und beide standen nun lange und schauten stumm und ergriffen hinaus in die lohende Pracht.
"Wie schön sind doch unsre Berge! " sagte endlich der Bub mit bewegter Stimme. "Ich hab es mir ja immer gedacht, aber noch nie so empfunden wie jetzt, wo ich von ihnen Abschied nehmen muß. Und nicht nur das. Daß die Berge schön sind, das weiß am Ende jedes Kind. Allein es liegt noch etwas andres in ihnen, etwas, das ich nur nicht so recht zu sagen vermag. meine, sie stehen immer so fest und ruhig da. Da mag die Sonne darüber scheinen, der Sturm sie schütteln , die Lawinen an ihren Seiten niederfahren — immer bleiben sie dieselben. Und dann - weißt, Vreneli, die Berge, die lügen nicht, die betrügen nicht. Die schauen so auf einem hernieder wie strenge Richter, und schon oft, wenn ich etwas Schlechtes sagen oder tun wollte, da war s mir, als mahnten sie mich: Sag's nicht, Friedei! Tu's nicht! Bleib redlich! Sei ein guter Mensch! Und ich habs dann auch wirklich nicht getan.
"Also ist es auch mir schon ergangen ", sagte das Mädchen mit gepreßter Stimme.
Dann sprach keins ein Wort mehr. Sie schmiegten sich nur enger aneinander und schauten, von heiligem Schauer ergriffen, hinauf zu den Bergen, deren Spitzen setzt im letzten, fast überirdischen Glanze leuchteten. Sie fühlten beide in diesem Augenblick: ihr Schicksal lag, wie das aller Menschen, in einer höhern Hand; doch treu würden sie sich bleiben bis zum letzten Atemzug . . .
2.
Der Bursche zog ins Franzosenland, das Vreneli aber verrichtete Tag für Tag seine Arbeit wie bisher. Es nähte und strickte, es besorgte Haus und Garten ihrer Eltern, oder ging wohl auch hinüber ins Haus ihres ältern Bruders, dem vor einem Jahr die Frau gestorben, und betreute dort die beiden nun mutterlosen Kinder. Vom frühen Morgen an war das Mädchen tätig, und wenn es sich auch, besonders in der ersten Zeit, vor Sehnsucht nach dem Geliebten fast verzehrte, so tat es dennoch mit heitrem Gesichte die hundert kleinen und größern Pflichten und legte erst am Abend Hacke oder Nechen, Besen oder Nadel aus der Hand. Dann setzte es sich auf das Bänklein vor dem Hause und überließ sich hier seinen Gedanken. Briefe wurden damals unter einfachen Leuten nur selten geschrieben, und so mochten wohl Monate verstreichen, bevor ein solcher aus Frankreich eintraf.
Fast noch mehr als früher lebte das Vreneli von setzt ab still und zurückgezogen, verkehrte nur mit wenigen Freundinnen ihres Alters und dachte auch nicht daran, irgendeinem Vergnügen nachzugehen. Die ganze Woche hindurch aber freute es sich auf den Sonntag, der für dieses reine und feine Menschenkind ein wirklich heiliger Tag war, also wie er von Gott verordnet worden, und es widmete ihn ganz nur der Ruhe und der Pflege ihrer Seele.
Am Morgen dieses Tages besuchte das Mädchen die Kirche, am Nachmittag aber stieg sie auf steilem Weglein hinauf zur Dünnen Fluh und setzte sich dort an die ihr so vertraute Stelle im Sattelt. Da ging ihr dann so recht das Herz auf inmitten der heiligen Sonntagstille , wo die schönen Bergblumen um sie her ihr freundlich zulächelten , wo so ein eigen Duft und Glanz über Wald und Weide lag und die erhabene Welt der weißen Firnen feierlich auf sie herniederblickte. Dann schien auch die Sonne so golden schön, hiel schöner noch als am Werktag, und weiße Sommerwolken zogen wie stille Träume durch die blaue Luft. Das Mädchen schaute ihnen sinnend nach, und
denen, die nach Westen wanderten, übertrug sie tausend Grüße an ihren Geliebten. Oder sie schaute über die Wolken hinweg in den weiten Himmel hinein, der so gar kein Ende nehmen wollte, und legte getrost ihr und ihres Geliebten Schicksal in die Hände dessen, der über allem menschlichen Denken und Trachten stehet . . .So verstrich ein Jahr, als aus der französischen Hauptstadt zum erstenmal Kunde nach Isenfluh gelangte. Sie lautete nicht gut, erzählte vom Aufstand des Volkes gegen den König und von dem heldenmütigen Kampfe der Schweizer. Später erschien im Dörfchen ein Mann aus dem Luzernischen, der zu berichten wußte, daß das rote Regiment schwere Verluste erlitten und jedenfalls auch junge Oberländer ihr Leben gelassen hätten. Das Vreneli vernahm das wohl, ihm ahnte nichts Gutes, und am andern Morgen waren seine Augen vom Weinen rot. Doch klagte es nicht und tat weiterhin Tag für Tag seine Arbeit.
Aber auch das zweite, das dritte Jahr verstrich, ohne daß das Vreneli vom Soldaten im fernen Land eine Nachricht erhalten hätte. Dem Mädchen ward immer schwerer zumute, und es gab Tage und Zeiten, wo sie sich bei der Arbeit zusammennehmen mußte, um nicht hinzufallen, also zermürbten das vergebliche Warten und das Sichsehnen nach dem Geliebten ihr gutes und feines Herz. Aus einer jeden solchen Betrübnis der Seele richtete sie sich aber immer wieder auf in dem Gedanken, er würde sicher eines Tages kommen, sie brauche nur noch ein wenig Geduld zu haben . . .
3.
Die Jahre kamen und gingen, der Geliebte aber kam nicht und ließ auch sonst nichts von sich hören.
"Was willst denn noch weiter warten, Vreneli ; " sagten die Leute. "Dein Friedel ist sicher schon lange tot. Der ist im Kriege gefallen und kommt nimmer wieder. Mußt dich halt setzt nach einem andern umsehen. Und das schnell. Bist sa auch nicht mehr jung."
Solche und ähnliche Reden mußte das Vreneli nun oft anhören. Wie das schmerzte! Tot sei ihr Friedel ? Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein. Schon der bloße Gedanke war ihr unfaßbar. Wie? Das Liebste, das sie auf Erden hatte, das, mit dem sie sich schon setzt verbunden fühlte auf immer und ewig, das sollte ihr entrissen sein? Nimmermehr! Das durfte Gott, auf den ihr Herz wie auf einen Felsen baute, nicht zulassen. So grausam konnte er nicht sein. Wo wäre denn sonst seine Gerechtigkeit? Nur Geduld, Ihr lieben Leute! Der Friedel wird sicher kommen, wenn auch vielleicht erst nach Jahren. Hatte er nicht felber gesagt, es wisse sa niemand, wie's einem so im fremden Land ergehen könne?
Freilich, recht hatten die Leute Schon, wenn sie sagten, sie sei nicht mehr sung. Zehn Jahre verändern einen Menschen, und aus dem blühenden Mädchen war setzt ein Jümpferchen geworden, von dem der erste Hauch der Jugend gewichen. Dafür hatten sich die Züge des edlen Gesichtchens noch mehr verfeinert und auch die großen blauen Kinderaugen nichts von ihrem frühern Glanz verloren. Ja, man bemerkte mit Staunen, wie setzt von ihnen ein Leuchten ausging, als sähen sie mehr Dinge als die Augen andrer Menschen.
Und dennoch — sie war nicht mehr sung.
Sich nun aber nach einem andern Mann umzusehen, wie die Leute das nannten, daran dachte das Vreneli auch nicht einen Augenblick. Jhr ward von Gott das eherne Gesetz ins Herz gesenkt, nur einen Mann und diesen treu zu lieben. Bon diesem Gesetz auch nur um Fingerbreite abweichen wollen — das wäre ihrer Seele Tod, dann würde sie ja zur Verräterin an ihrem Geliebten werden und das Höchste, die Liebe und Treue, als ein Irrtum zusammenbrechen. Mochten denn die Leute sagen, was sie wollten: sie hatte nicht ihnen, sondern nur der Stimme ihres Gewissens zu gehorchen. Auf diese konnte sie sich verlassen. Die wies ihr untrüglich den Weg, den sie zu gehen hatte . . .
Die Jahre rollten dahin, flochten ins blonde Haar des alternden Mädchens die ersten Silbersträhnen, gruben in Stirn und Wangen
die ersten Falten, der Mund ward schmal, der Gang nicht mehr so anmutig wie ehmals. Fest aber blieb im Wandel der Zeit ihr Glaube an die Rückkehr des Geliebten.Und ihre Liebe zu Gott und den Menschen.
Die Kinder ihres Bruders waren längst erwachsen. Nun starben ihr auch kurz nacheinander Vater und Mutter, ohne daß der Traum ihres Lebens sich erfüllt hätte, das Töchterchen reich und glücklich verheiratet zu sehen. Setzt stand das Vreneli allein. Die Verblichenen hatten ihr ein ordentlich Stück Geld hinterlassen, also daß sie nicht zu sorgen brauchte. Indessen vermochte ein Leben für sich allein ihre große Seele nicht auszufüllen, und in ihrem Herzen mag damals etwas vorgegangen sein, um das nur sie und ihr Gott wußte, das aber mit jedem Jahre mehr zutage trat: sie stellte sich ganz in den Dienst für andre.
Wo das Vreneli im Dörfchen irgendeine Not wußte, da ging sie hin, pflegte die krank gewordene Mutter, kochte, reinigte die Wohnung, lehrte die Knaben und Mädchen oder flickte ihre Kleider. Sie nahm verwahrloste oder verwaiste Kinder in ihr Haus und nährte und betreute sie wochen- und monatelang. Sie ward die Freundin aller Armen und Verlassnen, aller Verschupften und Gebrechlichen, um die sich sonst niemand kümmerte, und verstand es, ohne viel Worte zu machen, einzig durch die Macht ihres menschenfreundlichen Wesens, die jede Lage, jede Regung des andern mitfühlt, zu trösten und wiederaufzurichten, was am Boden lag. ES schien, als ob die gewaltige Liebeskraft, die bisher in ihr durch die häuslichen Verhältnisse gebunden, sich plötzlich befreit und nun ungehemmt auf ihre Mitmenschen überströmte.
Von sich selber redete das Vreneli kaum mehr. Und doch wußten die Leute, daß sie die Hoffnung, ihren Geliebten wiederzusehen, noch nicht aufgegeben hatte. Und wirklich, die Sehnsucht nach ihm war geblieben. Sie hatte nichts von ihrer Kraft verloren. An die Stelle des frühern leidenschaftlichen Wünschens und Begehrens war aber mit den Jahren und Jahrzehnten ein Gefühl ruhigen Erwartens getreten,
das nicht mehr schmerzte, das sie vielmehr hester und glücklich stimmte und andern Menschen zum Segen ward.Jhre Wohnung hielt sie immer sauber und blank, damit er, der so lange Jahre die Mühen des Soldatenlebens ertragen mußte, bei seiner Rückkehr ein trautes Heim vorfände. Und wenn sie am Abend von ihrem Dienst an den andern nach Hause zurückkehrte, so fiel ihr erster Blick immer wieder auf den Tisch beim Fenster, zu sehen, ob nicht etwa der versprochne Blumenstrauß dort läge. Auch stieg sie in unwandelbarer Treue Sonntag für Sonntag zum Felsenturm hinauf. Und ging dies nicht mehr so leichten Fußes wie früher, wo das flinke Mägdlein mit ihrem Liebsten die felsigen Platten um die Wette hinaufgesprungen, so war doch ihr Herz jung geblieben und hatte immer noch seine Freude an der Sonne, und an den Bergen, und an all den Wundern, die der liebe Gott darüber hingestreut. Und ihre großen Augen schauten, wie früher, stundenlang nach Westen, von woher der Verschollene kommen mußte — und doch nicht kam . . .
4.
Jahre vergingen.
Da kam einst ein fremder Herr nach Isenfluh, bezog eine Stube und lebte nun hier monatelang das einfache Leben der Bergleute. Die meiste Zeit blieb er zu Hause, unter seinen Büchern vergraben. Dann und wann nur machte er Ausflüge in die nahen Berge.
Also stieg der fremde Gast eines Tages zu dem eigenartigen Felsturm hinauf, der dort oben so trotzig in den Himmel ragt. Er betrachtete ihn von allen Seiten und erwog einen leichten Weg, um auf seine Spitze zu gelangen. Da gewahrte er in einer Mulde ein altes Mütterchen mit schneeweißem Haar, das traumverloren in die Ferne blickte. Die Frau hatte ihn nicht bemerkt, und so machte sich der Fremde leise davon, um sie nicht zu erschrecken.
Später begegnete er dem Mütterchen auch im Dörfchen und freute sich an ihrer heitren Art und den großen reinen Kinderaugen, die ihn immer so fragend anblickten. Von feinen Hausleuten erfuhr er auch
ihre Geschichte, wie sie zur Wohltäterin des ganzen Dorfes geworden und im übrigen noch heute unveränderlich an ihrer Liebe zu dem längst Verschollenen festhalte."Viel mag das Vreneli jetzt freilich nicht mehr zu schaffen", fügten sie bei. "Es ist zu alt geworden. Aber das macht nichts. Das hat mehr als zwanzig Jahre lang für uns alles getan, was es konnte, und wir lieben und verehren es im ganzen Dorfe fast wie eine Heilige."
Gelegentlich traf er sie wieder beim Felsen droben, und als die gute Frau bemerkte, wie auch ihm diese Stelle lieb ward, faßte sie Zutrauen zu dem landesfremden Manne und erzählte jetzt manches aus ihrem Leben.
Später, im September, bestieg er an einem sonnigen Morgen einen Berg hinten im Saustal, die Sausegg, und genoß dort eine herrliche Aussicht. Auch war die Gipfelfläche über und über bedeckt mit der Staude des Eisenhutes, und der dunkelblaue Teppich hob sich gar wundersam ab von den roten, braunen und gelben Matten ringsherum . Da konnte er denn nicht anders, als einen großen Strauß von diesen Blumen zu pflücken und sie nach Hause zu nehmen.
Wie der fremde Herr nun, die Blumen in der Hand, durch das Dörfchen schritt, fiel ihm plötzlich ein, er könnte damit auch dem Vreneli eine Freude bereiten — hatte sie ihm doch schon so oft gesagt, wie lieb ihr gerade diese Blume wäre. Also stellte er denn der guten Frau einen hübschen Busch durch das Fenster auf den Tisch und entfernte sich eilig, um nicht gesehen zu werden.
Sein blauer Strauß hatte unerwartete Folgen. Noch am gleichen Abend lief das Vreneli zu den Nachbarsleuten und erzählte ihnen mit strahlendem Gesicht, der Friedel sei heimgekommen, er habe ihr die versprochenen Blumen auf den Tisch gestellt. Die Leute dachten, sie wäre plötzlich närrisch geworden und wollten ihr diesen Glauben ausreden. Doch war ihr Bemühen umsonst. Aufgeregt lief das Mütterlein weiter, fragte, freilich immer vergeblich, noch in diesem und jenem Hause nach, bis es endlich das Dörfchen verließ und den steilen
Es begann schon zu dunkeln. Dörfler, die von der Alp herniederstiegen und ihr begegneten, fragten erstaunt:
"Wohin geht's denn noch so spät, Vreneli ?"
Das eilige Mutterli aber gab keine Antwort. Es mühte sich weiter den ihm so vertrauten Weg empor, und als es endlich, schwer atmend und erschöpft, beim Felsturm droben anlangte, da zogen bereits die goldnen Sternlein am Himmel herauf . .
Am andern Tage entdeckte ein junger Hirte, der in der Nähe seine Kühe weidete, in der Mulde des Felsenturms den zusammengekauerten
Leichnam des Vreneli. In ihrer Hand hielt sie einige Zweige Eisenhut, auf ihrem Gesicht aber lag ein verklärtes Lächeln — glaubend, liebend und hoffend bis zum letzten Atemzuge war sie still hinübergegangen ins Land der Sterne, wo sich die wiederfinden werden, denen hier sich zu finden nicht beschieden ward.Auf einer Bahre trugen die Leute den Körper nach Isenfluh hinab und tags darauf nach dem Bergfriedhofe von Gsteig. Der Fremde warf in das offne Grab eine Handvoll leuchtenden Eisenhut, den er wieder auf der Sausalp geholt hatte.
Die Dünne Fluh nannte er von da hinweg nur noch den Vreneliturm, und im Dörfchen nahm man den Namen willig auf. Als aber der fremde Gast später einmal der Verstorbenen Grab besuchte, da las er auf einfachem Holzkreuze die Worte:
Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, Und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. |