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Einleitung des Herausgebers . 7
Novellen . 21
Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich . 23
Die Bettlerin vom Pont des Arts. . 28
Othello . 116
Jud Süß . 154
Die Sängerin . 213
Die letzten Ritter hon Marienburg . 254
Das Bild des Kaisers . 306
lnhalt des 5. Teiles


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Hauffs Werke Fünfter Teil Novellen

Herausgegeben von

Max Drescher

Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Sang & Co.



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Einleitung des Herausgebers.

So schnell und teilweise flüchtig Hauff arbeitete, wenn er Mit der Konzeption eines Werkes selbst beschäftigt war, so bezeichnend ist doch sein Streben, sich theoretisch mit der Eigenart der einzelnen Dichtungsgattungen vertraut zu machen und diese seine Auffassung womöglich einer seiner Schöpfungen auf dem betreffenden Gebiete einzuverleiben. So findet sich in der Rahmenerzählung des "Märchen-Almanach auf das Jahr 1827" seine Ansicht über das Wesen der Märchen, beziehungsweise der den Märchen ähnlichen Geschichten, in den "Allgemeinen Bemerkungen" über Scott (vgl. H. Hofmann, S. 229 ff.) hat er sich ausführlich über den Roman, in " den letzten Rittern von Marienburg " speziell über den historischen Roman ausgesprochen, und auch über die Novelle äußert er sich bei nicht weniger als drei verschiedenen Gelegenheiten. Zunächst spricht er sich in einer Rezension der Taschenbücher auf 1828 in Nr. 92 und 94 des Literaturblattes für 1827 gegen die zu starke Produktion auf dem Gebiete der Novelle, insonderheit der sogenannten historischen, aus und wendet sich gleichzeitig gegen die allmählich zu eintönig gewordene Art Tiecks, dessen Autorität als Schriftsteller er — wie wir später sehen werden — sonst durchaus anerkennt. Der für uns in Betracht kommende Passus jener Rezension lautet: "Denn so jämmerlich ist es mit dem größten Teil der 860 Almanachsarbeiter und -arbeiterinnen beschaffen, daß jeder, der von einer unwahrscheinlichen Hexengeschichte einmal geträumt hat, jeder, der es versteht, eine Chronik mit Auslassung ungehöriger Stellen abzuschreiben und etwa seine beiden schönen Nachbarskinder hineinzufügen, sich nicht nur für einen Van der Velde oder Scott hält, sondern auch seine "historische Novelle" . d. h. sein Chronikstücklein in einem der 30 oder



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40 Almanache abdrucken läßt, die es geben soll. Damit aber keiner dieser Schwachen allzuempfindlich sich getroffen fühlte, wenn wir jetzt anfingen, z. B. dieser T. oder dieser B., so gehen wir lieber zu einem Almanach über. den solches gerade nichts angeht. Ohnedies gebührt Ludwig Tieck schon der Ehre wegen die erste Stelle. Also.

Taschenbuch für 1828, herausgegeben von L. Tieck. Berlin, Räumer.

Nach seiner genialen und doch so bequemen Weise führt uns Tieck in der ersten Novelle — doch wir schau so eben im Meßkatalog, daß dieses Taschenbuch unter den zukünftigen Schriften aufgeführt, also noch nicht fertig ist; es wäre daher höchst indiskret von uns, Tiecks Novellen, ehe sie noch gedruckt sind, rezensieren zu wollen."

Eine zweite ausführlichere Auseinandersetzung enthält die Einleitung Hauffs zur Gesamtausgabe seiner eignen Novellen, das vertrauliche Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich, das der Überschrift sowohl als dem Tone nach an Scotts Manier erinnert (vgl. das Schreiben des Dr. Driasduft an Clutterbeck usw.). Hier spricht sich Hauff im wesentlichen über die Quellen aus, die den berühmten Dichtern " aus dem unerschöpflichen Schatz der Phantasie" fließen, während den "geringeren Sterblichen" , zu denen er sich natürlich auch rechnet, "nichts übrigbleibt, als nach einer Novelle zu spionieren." Kaffeehäuser, Restaurationen, italienische Keller, Weinstuben sind Stätten. die er zu solchem Zwecke empfiehlt, als wahre Fundgrube aber bezeichnet er Frauen, die das fünfundsechzigste hinter sich haben" , da man von ihnen "allerlei kuriose Sachen" , auch " wie es in diesem oder jenem Haus zugeht" , "galante Abenteuer von jenem ältlichen, gesetzten Herrn, der nicht immer so gewesen" , und anderes Interessante hören könnte. und er behauptet, daß er mehrere seiner Novellen . ,teils in Berlin. teils in Hannover, Kassel, Karlsruhe, selbst in Dresden eben von solchen alten Frauen. den Chroniken ihrer Umgebung, gehört und oft wörtlich wiedererzählt" habe. Wenn er dann weiterhin sagt, daß " in einer solchen miserablen Zeit," in der die "wundervolle Märchenwelt" kein empfängliches Publikum mehr findet, die lyrische Poesie nur noch von wenigen geheiligten Lippen tönen zu wollen scheint, und uns vom Drama — sagt man — nur die Dramaturgen übriggeblieben sind, die Novelle " ein ganz bequemes Ding" sei, so merkt man aus diesen Proben deutlich genug, worauf es ihm in diesem Schreiben ankommt. Er will einmal die Berechtigung der Novelle darlegen, zum andern aber seinen Werken das Gepräge



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der Glaubwürdigkeit geben, indem er selbst Namen nennt. denen er die eine oder andere Fabel verdanke. Ja, er zieht sogar eine Parallele zum historischen Roman und nimmt für seine Novellen eine gewisse geschichtliche Wahrheit in Anspruch, die ihm freilich von manchen Leuten als nicht dichterisch verdacht werde. Er weiß sich indessen darüber zu trösten und fragt gegen den Schluß seiner Darlegungen — schon im Eingange hatte er sich in Gegensatz zu den besten und berühmtesten Novellendichtern einen " geringen Burschen" genannt —: " Aber ist denn hier von echter Poesie, von echten Dichtern die Rede? Man lege doch nicht an die Erzählungen einiger alten Damen diesen erhabenen Maßstab!" So sehr diese Einleitung von Humor, Scherz, Ernst und Satire in der schon aus den "Memoiren" bekannten, Hauff eignen Weise durchseht ist, so vorsichtig man daher jeden Satz prüfen muss, so geht doch eins entschieden daraus hervor: Hauff weiß, daß er mit den meisten seiner Werke auf wirklichen realen Verhältnissen fußt, sei es nun, daß er wahre Ereignisse seiner Zeit oder ihm überlieferte sagenhafte Stoffe ausbaute und ausschmückte, sei es, daß er Personen seiner Umgebung in eine Situation seiner Phantasie einsetzte und poetische Gestalt gewinnen ließ. Es ist in der Tat interessant zu beobachten, wie scheinbar völlig belanglose Ergebnisse unseres Dichters und seines Bekanntenkreises in seinen Werken wiederkehren, wie er sie bisweilen idealisiert, nicht selten aber auch mit der Physiognomie des Alltagslebens realistisch wiedergibt. So wissen wir z. B., daß sein Freund Riecke im Winter 1825/26 als Graf von Gleichen einen Maskenball in Ellwangen besuchte. In zwei Hauffschen Novellen, im "Jud Süß" , wo die betreffenden Szenen sicherlich zu den allergelungensten gehören, und in der Sängerin" wird ein Maskenball eingeflochten, und dem Namen eines Grafen von Gleichen begegnen wir nicht nur in dem (et. Skizzen) Entwurfe "Das Fischerstechen" , sondern auch in dem ausgeführten unbetitelten Singspiele. Der Russenschuster der "Freien Stunden am Fenster" ist (cf. Hans Hofmann, S. 60) " der wegen seiner Unterschleife im russischen Kriege in Stuttgart berüchtigte Bäckermeister Rupfer, gegen den Riecke am 27. März 1827 eine Verhandlung hat." Auch der Kommerzienrat Bolnau, der Buchhändler Kaper, der Magister Bunker mögen auf Stuttgarter Persönlichkeiten zurückzuführen sein. Vor allem hat unser Dichter seinem Großvater, dem Landschaftskonsulenten Johann Wolfgang Hauff, in der Gestalt des alten Lanbeck im "Jud Süß" ein ehrenvolles Denkmal gesetzt. Den Sommer des Jahres 1825 verbrachte er mit seinen Zöglingen


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auf dem der Familie von Hügel gehörigen Schlosse Guttenberg. Die dort empfangenen Natureindrücke verdichten sich später zu den Landschaftsgemälden im "Bild des Kaisers" .

Bei weitem sachlicher und ernster als das Schreiben an Herrn Spöttlich. das man mit gutem Rechte auch als ein Schreiben des Herrn Spöttlich, als eine einzige große captatio benevolentiae betrachten könnte. ist ein dritter Exkurs, den Hauff wenige Wochen vor seinem Tode schrieb und der am 6. und 7. Dezember 1827 von A. B. (wahrscheinlich A. Böttiger) in einem . .Wilhelm Müller und Wilhelm Hauff" betitelten Aufsatze im Literaturblatte veröffentlicht wurde. Das auf unser Thema bezügliche Stück des Artikels ist das folgende: "Die Richtung, die Hauptbeschäftigung der Almanache besteht jetzt in einer sonderbaren Erzählungsweise, die sie Novelle nennen, und doch wollte ich wetten, von allen jenen, die in dieser Form sich versuchen, sind nur wenige, die über die innere Natur dieser Erzählungsart und über die Gesetze ihrer Form nachzudenken sich die Mühe nehmen. In unserer Jugend, wo wir so gerne Erzählungen von Huber, Lafontaine und anderen lasen, bestand die Hauptaufgabe und der mächtigste Reiz der Erzählung in einer guterfundenen, interessanten Geschichte: die inneren Verhältnisse mußten gut geordnet, der Faden gleichmäßig und zart gesponnen sein, und es kam darauf an, die Verirrungen oder die Höhen des menschlichen Herzens nachzuweisen, weniger wie es sich in Empfindungen und Worten, als wie es sich in überraschenden und anziehenden Verhältnissen zeigt und ausspricht. Jene Art von Erzählungen hatte noch das Angenehme, Bequeme, ich möchte sagen Kindliche des Vortrags an sich. Es wurde in der Erzählung selten gesprochen, desto mehr gedacht und gehandelt. Daher konntest du auch mit ein wenig Aufmerksamkeit und Gedächtnis eine solche Erzählung in jeder Gesellschaft in derselben Ordnung wieder vortragen, wie du sie gelesen hattest; denn sie war schon ursprünglich so geordnet und eingerichtet, wie etwa ein Reisender eine Geschichte, die sich da oder dort zugetragen, erzählen würde. Eine der trefflichsten Dichtungen dieser Art ist das Fräulein von Scudéri von Hoffmann. und die Teilnahme, womit man dergleichen Erzählungen noch immer liest, beweist mir, daß der jetzt herrschende Geschmack vorübergehend sein werde. — Hast du Tiecks Novellen gelesen?"

Einige, z. B. die Gemälde, musikalische Leiden und Freuden, Dichterleben."

Gut; könntest du sie etwa wieder erzählen, in derselben Ordnung, wie der Verfasser sie zuerst erzählte?"



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Unmöglich; zwar steht das Bild, das sie in mir zurückgelassen, hell und klar vor meiner Seele; die einzelnen Figuren, die er so scharf und bestimmt zu zeichnen wußte, leben in mir als Bekannte, die Sätze, welche durchgesprochen wurden, stehen fest in meinem Gedächtnis, und sogar von der eigentümlichen Melodie der Gespräche ist etwas in meinem Ohr geblieben, aber —dennoch wäre ich nicht imstand, einem Dritten eine Tiecksche Novelle wieder zu erzählen mit seiner Farbenpracht, sondern nur den schmalen Rahmen, der es einfaßt, könnte ich beschreiben." "Und wohl aus demselben Grunde, weil du kein Schauspiel erzählen kannst. Jene Novellen haben das einfache Gebiet der Erzählung verlassen und sich dem Drama genähert. oder um es anders zu sagen, im Gespräch entwickeln sich jetzt die Charaktere von selbst, deren Entwicklungsgang uns sonst nur angedeutet oder beschrieben, erzählt wurde. Diese Manier, in welcher sich jener Meister, der sie für sich erschaffen, mit großer Umsicht und Sicherheit bewegt, haben nun alle unsere Almanachs mehr oder minder angenommen; ; sie ist Mode geworden. Du kannst dir aber kaum denken, wie linkisch sie sich dabei benehmen. Der kleine Raum solcher Büchlein. die oft vier bis fünf Novellen enthalten sollen, gestattet jedem einzelnen nur enge Grenzen. Nun soll die Bequeme Sprachweise des größern Romans in diesen Novellen mit kurzer scharfer Zeichnung der Charaktere verbunden werden ; auf achtzig Seiten soll nicht nur viel geschehen, sondern auch vieles wörtlich verhandelt werden, man will nicht von dem Autor sich erzählen lassen, Hans und Kunz haben dies oder jenes getan, sondern Hans soll es Kunzen aussprechen, was er gedacht, und Kunz soll diesen Ausspruch anfechten, fortsenden und also seinen Charakter zeigen. Bei diesem allen soll die Novelle noch die innere Einheit der Teile, die Rundung und den gleichmäßigen, sichern Gang der früheren Erzählung haben."

"Und dies verstehen alle jene zweihundert Novellisten?"

"Ach, das gerade ist ja der Jammer, daß sie sich nicht darauf verstehen, jene Forderungen zu befriedigen, und dennoch Novellen schreiben!"

An allen angeführten Schwierigkeiten, worunter selbst die Besseren erliegen, haben unsere Novellenschreiber nicht genug. Seit Sir Walter auf dem Dudelsack historische Romane vorspielte, zwitschern auch die Deutschen diese Melodie. und die Mode will. daß auch die Novellen historisch-romantisch sein sollen. So muß nun in den engen Raum einer solchen Novelle auch ein Stück der Welthistorie oder der Chronik gespielt werden, und die redenden Figuren, die den armen Novellisten ohnedies Mühe genug



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machen, müssen auch noch historische Leute sein und in dem gehörigen Kostüme auftreten.

"Welch jämmerliches Treiben!" rief ich. "Warum ahmen denn alle jene Herren und Frauen nur fremde Formen nach, statt ihren Ruhm in Natürlichkeit, in Neuheit der Erfindung, in Originalität des Entwurfs und der Zeichnung zu suchen?"

In mehrfacher Beziehung sind diese Betrachtungen Hauffs aufschlussreich. Sie zeigen deutlich, worin für ihn die wesentlichen Momente im Begriffe der Novelle liegen, sie lehren aber auch, wie er den Wandel, den diese Form im Laufe der Jahre erfahren hatte, sachgemäß erkennt und beurteilt. Beachtenswert scheint auch seine Stellung 3u Tieck, zu dem er übrigens mit aufrichtiger Hochachtung emporblickt; hat er ihn ja ein halbes Jahr früher um Rat gefragt, ob es rätlich sei, mit dem geplanten Romane über die Kämpfe in Tirol im Jahre 1809 anzufangen. "Ich fühle," schreibt er am 30. März 1827 an Tieck, " in mir ein Bedürfnis nach Trost und Ermunterung zu diesem Werk, und lieber lasse ich das Bild in seinen ersten Umrissen, als daß ich es ohne Ihre Zustimmung beginne. Diese Bitte um ein paar Zeilen guten Rats könnte sonderbar und lästig erscheinen, wenn es nicht von alten Zeiten her Sitte gewesen wäre, daß die Jünger ihre Meister um Rat fragten. Auf das Urteil öffentlicher Kritik, wie sie gewöhnlich heutzutage betrieben wird. darf ich um so weniger hören, da sie mir zuweilen ohne Grund schmeichelte, mich zu verwunden suchte, ohne mir meine Blößen anzudeuten. Ich wünsche, Sie möchten versichert sein, daß mich zu diesem Brief, welchen ich zu schreiben einige Tage zauderte, nur ein offenes redliches Herz und jene Bewunderung, jenes ehrfurchtsvolle Zutrauen bereden konnten, womit ich bin . . ." Wenn sich Hauff trotz alledem in dem vorher zitierten Artikel über die Tieckschen Novellen zwar nicht gerade abfällig, aber doch skeptisch ausspricht und er dessen Manier als dem Drama zu stark angenähert auffaßt , so bringt er eben damit seine ehrliche, subjektive Meinung zum Ausdrucke, die auszusprechen sein gutes Recht war, um so mehr, als mit der erweiterten Kenntnis Tieckscher Werke eine veränderte Beurteilung —der allgemeinen Verehrung unbeschadet — recht wohl möglich wurde. Der letzte Abschnitt der Hauffschen Ausführungen, in dem er von der Verwendung geschichtlicher Elemente in der Novelle redet, muss wieder mit großer Vorsicht behandelt werden. Fast könnte es darnach scheinen, als ob er, der selbst einen "Lichtenstein" verfaßte, der sich mit der Absicht trug, die Freiheitskämpfe der Tiroler dichterisch zu verherrlichen ein Gegner des historischen Prinzips in der Erzählung sei, was



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natürlich völlig in Widerspruch zu der Ansicht steht, die er in "den letzten Rittern von Marienburg" äußerte.

Außer dem in die "Memoiren" verflochtenen "Fluch" hat Hauff in Summa sechs Novellen verfaßt, die er zunächst in verschiedenen Zeitschriften und Almanachen veröffentlichte. Als erste erschien in den Nummern 66 —76 der "Abendzeitung" von 1826 sein "Othello" , dessen Entstehung aber noch dem Jahre 1825 angehört. Möglicherweise liegen die ersten Anregungen dazu, die auf Stuttgarter Eindrücken beruhen, noch etwas weiter zurück, wie der Brief zu erkennen gibt, den Hauff Weihnachten 1825 bei übersendung des genannten Werkes an Theodor Hell, den Herausgeber der Abendzeitung, richtet, und worin es heißt: "Ich bin, wie aus anderen Arbeiten zu ersehen, nichts weniger als Fatalist, was man aus dieser Erzählung vielleicht folgern kann; ich habe das Faktum (dem einige wirkliche Fälle zugrunde liegen) zweifelhaft hingestellt und dem Leser überlassen, was er davon denken mag ; habe den Stoff aber doch nicht unbearbeitet liegen lassen wollen, da ich in der Tat einiges Interesse daran gehabt." Weshalb sich hier der Dichter ausdrücklich dagegen verwahrt, von den Schicksalsdramen seiner Zeit beeinflußt zu sein, wofür der Othello" doch zweifellos spricht, ist nicht recht einzusehen. Deutliche Anklänge zeigen sich (cf. H. Hofmann S. 69) an Hoffmanns "Don Juan" , namentlich am Eingange und am Schlusse. Beide Werke setzen — natürlich unter ganz verschiedenen Verhältnissen — mit einer Don Juan-Aufführung ein, und Hoffmanns letzter Satz "Signora ist heute morgens punkt zwei Uhr gestorben" zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit Hauffs Schlußworten: "Sie starb —acht Tage nach Othello." Immerhin hat hier — glaube ich — mehr der Zufall als die Absicht gewaltet.

Im "Morgenblatt" für 1826, Nr. 276 —305 ist die zweite hierhergehörige Arbeit Hauffs "Die Bettlerin vom Pont des Arts" abgedruckt. Als Veranlassung dazu kommt vielleicht jenes innerhalb der Novelle selbst verwertete Bild aus der Gemäldegalerie der Brüder Boisserée in Frage, dessen Kopie des Dichters Heim später schmückte; möglicherweise hat auch die verschleierte Engländerin das ihre dazu beigetragen, deren er von Paris aus in seinem Berichte über das Auftreten der Demoiselle Sonntag an der dortigen italienischen Oper (et. H. Hofmann, S. 243) mit folgenden Worten gedenkt: "Die schöne Engländerin, eine Dame, die sich alle Abende verschleiert auf den Boulevards sehen ließ, hatte Hunderte herbeigelockt; man hatte die Grazie ihrer Bewegung , die Majestät ihres Ganges, das wunderschöne Seiden



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zeug ihres schottischen Kleides, den reichen geschmackvollen Faltenwurf ihres Schleiers bewundert, gepriesen, durchgesprochen, es kamen sogar viele Damen nur dieser Erscheinung wegen auf die Boulevards, und die Stuhl-Vermieter machten große Geschäfte in Sous. Aber auch diese blendende Erscheinung ging vorüber. und nachdem man einige Abende sich damit unterhalten hatte, zu fragen: "Weiß noch niemand, wer sie ist? Wo wohnt sie? Hat sie Equipage?" usw. —fehlte es wieder an einem interessanten Stoffe, und nur hin und wieder tauchte noch der Name des Stutzers auf, der in der Ekstase auf der Stelle den Stuhl gekauft hatte, auf welchem einmal die verschleierte Dame sich niedergelassen." Recht beachtenswert ist endlich die übereinstimmung des Hauptmotives der "Bettlerin" mit Georg Neinbecks Schwärmerin" (vgl. Euphorion IV, 319 ff. "Reinbeck als Vorbild von Wilhelm Hauff," von Ernst Müller, Tübingen). In der Erzählung Reinbecks handelt es sich gleichfalls um ein junges Mädchen, das, auf die Mildtätigkeit fremder Menschen angewiesen, hilflos ihrem Schicksale überlassen ist. Zwei Tage schon hat sie nichts gegessen, da geht sie nachts auf die Straße, um ihren Unterhalt zu gewinnen. Sie begegnet einem jungen Deutschen. Er kommt von einem seiner Freunde, bei dem ihn ein unterhaltendes Gespräch bei einem Glas Punsch bis gegen zwölf Uhr gefesselt hielt. Ganz ähnlich erzählt Fröben in der "Bettlerin" . daß er eines Abends, " es mochte nach elf Uhr sein," auf dem Rückwege von der Wohnung eines Freundes begriffen war, " wo wir oft noch bis tief in der Nacht vom Vaterlande, von Frankreich, von dem, was wir gesehen, von allem möglichen plauderten." Bernhard, so heißt bei Reinbeck der edelmütige junge Mann, berichtet nun Weiter: "Stille vor sich her ging ein Mädchen von hoher, edler Gestalt. Ihr ganzer Anstand trug ebensosehr das Gepräge der Sittsamkeit, als er bei den übrigen Nymphen der Themse das entgegengesetzte Gepräge trug, ihr Anzug war fest und bescheiden. Ihre Erscheinung zog mich unwillkürlich an ; ich ging langsamer und wartete, daß sie mich anreden sollte. Vergebens! Ein schüchterner Blick war alles, was mir zuteil wurde . . . Da redete ich sie an und fragte, ob ich sie nach Hause bringen sollte. Sie schrak zusammen, als sie meine Stimme hörte, und doch schien sie meine Anrede erwartet zu haben; denn sie lispelte mir zu: ,Wenn Sie die Güte haben wollen.' . . . Ich bot ihr den Arm. Sie lehnte sich so leise darauf, als schiene er ihr eben keine der zuversichtlichsten Stützen, und ich fühlte, wie ihr Arm zitterte. ,Ist Ihnen nicht wohl?' fragte ich besorgt. ,Es ist etwas kühl'. war ihre ganze Antwort. und kaum, daß ich noch die Anzeige


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ihrer Wohnung herausbringen konnte." Es kann wohl kein Zweifel darüber sein, daß Hauff diese Erzählung Reinbecks gekannt hat; doch verliert sein eignes Werk dadurch keineswegs an Wert. Im Gegenteil, es ist vielmehr wieder ein Beispiel dafür, wie er ein in den Grundzügen vorgezeichnetes Motiv in durchaus origineller Weise umzubilden und für seine Zwecke auszubauen, zu vertiefen und zu ergänzen verstand; gehört ja gerade "Die Bettlerin vom Pont des Arts" zu den Novellen, die infolge der äußerst spannenden Fabel — die Vorlage kann sich damit nicht im entferntesten messen — und wegen der kräftigen Realistik auch heute noch gern gelesen werden.

Nicht auf derselben Höhe steht "Die Sängerin" . Sie wurde im "Frauentaschenbuch" für 1827 veröffentlicht, aber schon 1826 konzipiert, und der Umstand, daß sie motivlich wie stilistisch stärker als alle übrigen Novellen Claurenschen Einfluß zeigt, macht es sogar wahrscheinlich, daß — wenn nicht die wirkliche Ausführung, so doch mindestens der erste Entwurf — in die Zeit vor der Reise nach Paris, also vor den ersten Mai, zu setzen ist. Ob, wie H. Hofmann vermutet, die Abfassung dieser Erzählung mit dem Schicksale der gefeierten Friederike Primavesi in Zusammenhang steht, ist nicht endgültig festzustellen. Sicherlich aber hat "Die Sängerin" vielfache Berührungspunkte mit Claurens "Christpüppchen" . (cf. Günther Koch " Claurens Einfluß auf Hauff.") Bei Clauren wird Doralice, in Deutschland später Lidschen genannt , von ihrem eigenen Oheim aus purer Habgier an den als Wollüstling bekannten Lord Harald verkauft. Auch bei ihm entflieht das Opfer, es wird aber nicht erzählt, ob, beziehentlich in welcher Weise sich der um seine Beute betrogene Oheim zu rächen versucht. Hauff führt erst durch die Fortbildung der Claurenschen Episode, dadurch, daß den Missetäter der Arm der Gerechtigkeit noch ereilt, das Motiv zu einem einigermaßen befriedigenden Abschlusse, wenn uns auch gewisse Allgemeinheiten wie "Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so schönen Kopf, ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge waren nichts weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch ihre Verbindung und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er lange keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des Medizinalrates blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene Reinheit der Seele, jener Adel der Natur. was diese jungfräulichen Züge mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß" oder Sätze wie "Ihre Töne klangen schmelzend und süß wie die Klänge der Flöte" nicht recht behagen wollen. "Die Sängerin" ist eins der wenigen Werke Hauffs, von denen sich in



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seinem Nachlasse ein Entwurf vorfand. H. Hofmann veröffentlicht ihn S. 257/58 mit folgendem Wortlaute

Josephine wird von teutschen Aeltern in einer kleinen Stadt des Elsaß erzogen, ihr Vater ist Musiklehrer. Ein ihr fürchterl. Mann kommt alle Jahre, ihr Vater ist ihm Geld schuldig. D(ie) Schulden wachsen. Er macht Handel mit Mädchen und verk(au)ft s(ein)e Tochter. Man sagt ihr, man wolle sie in ein Institut bringen. Ankunft in Paris. s(ie) bekommt 1 Zettel worinn si (e) gewarnt wird sie seye in schlechten Händen. Flucht mit einem deutschen Gesandten. Sie wird Sängerinn, Verhältniß zu dem jungen —. Der Vater wird es nie zugeben. Der böse kommt, siehet sie, sucht sie auf und sucht sie zu tödten. Die Polizei legt sich darein. sie behauptet ihn an der Maske zu erkennen. D hie) Redoute. Sch —lpried wählt s(ich) e(in) sch(önes?) Kostüm; er wiro gefangen. Sacktuch mit eigener Parfümerie. Der Arzt wird zu einem Kranken geholt. Der Wirth sagt er sey schon längst tot. D (er) Kranke verlangt ein Sacktuch. Ahnl. Stoff und Parfüm. Er wird befragt, gesteht. Der alte und junge Schulpried kommen dazu; er stirbt und hinterläßt bedeutendes Vermögen. heurathsanzeige im hamb(urgischen) Correspondenten."

An tatsächlich geschichtliche Vorgänge innerhalb Stuttgarts, beziehungsweise Württembergs, schließt sich "Jud Süß" an, der in den Nummern 152 —182 des Morgenblattes für 1827 erschien. Schon frühzeitig interessierte sich Hauff bekanntlich für die politischen Verhältnisse seines Vaterlandes, und da er während der Blaubeurer Zeit nicht viel von den Ereignissen in der Hauptstadt erfuhr. mußte ihm sein Freund Riecke nicht selten ausführlich Bericht erstatten. So lesen wir z. B. unterm 14. Juni 1820: "Von den Landständen, sagst Du, hätte ich Dir schreiben sollen, allein das konnte ich bis jetzt nicht; denn seit der Vakanz erhaschte ich nur einmal ein Billett und außer, was Du, wie ich, in der Zeitung liesest, erfuhr ich weiter nichts. In den letzten acht Tagen aber war mir das Glück günstiger, indem ich so glücklich war, nicht weniger als 4 Sitzungen in dieser Zeit anzuwohnen und zwar sehr wichtigen über die Steuerverwilligung. Ich habe Darin mehrere Bemerkungen gemacht, die ich dir mitteilen will. Was mir vorzüglich auffiel, ist das Benehmen des Präsidenten. Anstatt daß dieser, wie z. B. in Frankreich, sich einzig und allein auf die Leitung der Debatten beschränkt, ohne selbst daran teilzunehmen, spricht er sagt so viel, als alle anderen Stände miteinander; seine Klingel, die er dazu hat, um, wenn mehrere durcheinander sprechen, Stille zu gebieten und zu entscheiden, wein das Wort als dem zuerst Sprechenden gebühre, braucht er



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(zuweilen, wenn selbst nur einer spricht) bloß dazu, sich selbst das Wort zu verschaffen; gegen den größten Teil der Abgeordneten (einige ausgenommen) beträgt er sich auffallend barsch und übermütig; Gegenstände, wobei er befürchtet, sie möchten heftigen Widerspruch finden, verschiebt er aufs Ende, weil er dann hofft, die bereits ermüdeten und auch hungrigen Stände werden sie in der Schnelligkeit bewilligen; und leider täuscht er sich selten in dieser Hoffnung. Hätte dieser Mann vollends einen starken Anhang in der Kammer, dann stände es schlimm. allein nicht selten fällt er gänzlich durch. . . ." —Jedenfalls hat Hauff über die Person des Finanzministers Süss-Oppenheimer schon in den Knaben- oder Jünglingsjahren von den Angehörigen seiner Familie mancherlei sprechen und erzählen hören, grenzte doch der Garten des ehemaligen Ministers an das Grundstück in der Keilstraße an, das des Dichters Großvater, der Landschaftskonsulent Johann Wolfgang Hauff, einst bewohnte. In technischer Hinsicht gehört "Jud Süß" nicht zu den besten Arbeiten Hauffs. Die Verbindung des historischen und phantasiemässigen Materials gelang ihm hier nicht so mühelos als im ",Lichtenstein" , wie z. B. der Beginn des 15. Abschnittes: " Es würde unsere Leser ermüden , wollten wir sie von dem Prozeß des Juden Süß noch länger unterhalten," deutlich zeigt. Außerdem kommen die beiden Hauptpersonen, die geschichtliche wie die erdichtete, in nur zu wenig Szenen zu wirklicher Geltung, und das Verhältnis des jungen Lanbeck zur liebenswürdigen. bemitleidenswerten Lea ist fast nur skizziert.

Glücklicher in der Verwendung geschichtlichen Stoffes ist die Novelle, die im Frauentaschenbuch für 1828 erschien und den Titel "Die letzten Ritter von Marienburg" trägt. In ihr sind eigentlich zwei Romane miteinander verflochten. Die wirklich geschichtlichen Elemente werden nun angedeutet, doch so geschickt und spannend, daß man an einzelnen Steilen bedauert, keine ausführlichere Darstellung zu hören. Für Hauff waren sie indessen nur Nebenzweck; sie dienten lediglich dazu, eine kritische Beleuchtung der literarischen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit zu ermöglichen. Bis zu einem gewissen Grade ist sie ihm gelungen, und Figuren wie der alte Magister Bunker und der Buchhändler Kaper tragen ebenso wie die Episode im Entenzapfen offenbar das Gepräge voller Lebenswahrheit. Für des Dichters Art bezeichnend ist der Gegensatz, der zwischen der Selbstrezension seines Werkes im "Morgenblatt" und den innerhalb der Novelle selbst ausgesprochenen Ansichten über den historischen Roman zu bestehen scheint, der sich aber löst, wenn man



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bedenkt, in welcher Absicht jene Rezension abgefaßt wurde. Sie lautet

"Die letzten Ritter von Marienburg," Novelle von W. Hauff. Auch wieder eine Novelle, doch gottlob keine historische, wie wir beim ersten Anblick geargwohnt hatten. Lieber wäre es uns gewesen, wenn Herr Hauff seinen Stoff, wie es im ersten Kapitel geschieht, durchaus zu einer Satire der historischen Romane, nicht aber zu einer ziemlich unnötigen Belobung derselben benützt hätte. Auch ist es nicht sehr bescheiden, daß der Herr Verfasser den Roman, die letzten Ritter von Marienburg, so oft als trefflich und unvergleichlich schildert, da er doch selbst es ist, der die Skizze davon entworfen hat.

"Die letzten Partien der Novelle sind abgerissener und eilender als die ersten und verfehlen dadurch den Charakter der besonnenen Ruhe und Rundung, den die Novelle haben soll. Herr Hauff scheint sich zwar diesmal in Hinsicht auf Sprache und Anordnung mehr Mühe gegeben zu haben. als im vorjährigen Frauentaschenbuch; aber auch hier sind die Figuren nur skizziert, flüchtig angedeutet und gelangen somit nicht zu echterm, farbigerem Leben. Das Motiv, aus welchem Fräulein Elise den Dichter Palvi aufgibt, ist. wenn ein natürliches, doch jedenfalls kein poetisches."

In gewissem Sinne historisch ist auch die letzte der Hauffschen Novellen, "Das Bild des Kaisers" , im "Taschenbuch für Damen" 1828 veröffentlicht. Hier läßt der Dichter nicht geschichtliche Gestalten selbst auftreten und handeln, sondern es liegt ihm daran, verschiedene Meinungen über die Person Napoleons zum Ausdruck zu bringen, deren Vertreter zu einander in Beziehung zu setzen und schließlich zu versöhnen. General Willi, der begeisterte Verehrer des großen Kaisers, darf wohl mit Recht als das Porträt des Kriegsratspräsidenten von Hügel aufgefaßt werden, der jedenfalls viel von Napoleon zu erzählen wußte. da er längere Zeit in dessen Umgebung gelebt hatte, und im Hügelschen Hause hat sich unserem Dichter jedenfalls das gesamte Milieu zum . "Bilde des Kaisers" aufgetan. Ausführlich wird in dieser Novelle in der Person Rantows und des jungen Willi eines weiteren Gegensatzes gedacht. den wir bereits in den ",Memoiren" berührt finden, des Unterschiedes zwischen nord- und süddeutscher Art. Es hat den Anschein. als ob Hauff, von berechtigtem Lokalpatriotismus geleitet, dem jugendlichen, gegen die Schwaben offenbar voreingenommenen Rantow die Vorzüge seiner süddeutschen Landsleute zu stark zu Gemüte führte; man darf indessen nicht ungerecht sein und muß bedenken, daß er andrerseits auch mit herben Urteilen



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über sein eignes engeres Vaterland nicht zurückhält, wenn er z. B. innerhalb der "Letzten Ritter von Marienburg" (S. 284, 28ff.) Palvi sprechen läßt: "In meinen Augen bist du entschuldigt, guter Magister, durch deine Erziehung und die Art deines Vaterlandes. Wer hat sich dort deiner Zeit um einen Geist, wie der deine war, gekümmert? Was hat man für einen Mann getan, der nicht in die vier Kardinaltugenden, in die vier Himmelsgegenden der Brotwissenschaft, in die vier Fakultäten paßte? Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster zu streichen, und Wieland floh in das Land der Abderiten, weil es dort keinen Saum für ihn gab als den Posten eines Stadtschreibers, den er freilich so schlecht als möglich ausgefüllt haben möchte." Ganz zweifellos beherrscht unseren Dichter ein stark nationaler Zug, und daß er dir Gebrechen seiner Zeit in nationalpolitischer Beziehung klar erkannte, dafür zeugen seine Worte im "Bild des Kaisers" : O Deutschland, Deutschland, da sieht man, wie dein Elend aus deiner eigenen Zersplitterung hervorgeht! Sie wollen nicht mehr Griechen, sondern Platäer, Korinther, Athener, Thebaner und gar — Spartaner heißen!"

Im Sommer 1827 bereitete Hauff eine Gesamtausgabe der bis dahin einzeln erschienenen Novellen vor, verfaßte auch schon die Einleitung dazu, da: bekannte Schreiben an Herrn Spöttlich ; doch war es ihm nicht beschieden, das Werk zu vollenden. Erst nach seinem Tode erschienen "Novellen von Wilhelm Hauff. 3 Teile. Stuttgart bei Gebrüder Franckh. 18 28," und zwar enthielt der 1. Teil: die Einleitung, "Die Bettlerin vom Pont des lit:" und "Othello" , der 2. Teil "Jud Süss" und . ,Die Sängerin" , der 3. Teil: "Die letzten Ritter oon Marienburg" und . ,Das Bild des Kaisers" .

Überblicken wir zum Schlusse Hauffs gesamte novellistische Tätigkeit, so läßt sich außer der schon früher erwähnten stark realistischen Tendenz eine weite Tatsache feststellen: Alle seine Arbeiten bewegen sich innerhalb einer bestimmten, ziemlich eng begrenzten Bahn. Mancherlei Motive treten mehrfach auf. So steht in zweien seiner Novellen ein Bild im Mittelpunkte, auch der Traum, dessen Ende der Wirklichkeit entspricht (cf. Lichtenstein, Einleitung des Herausgebers) kehrt wieder. Infolge einer Verwechslung erhält im Othello" der Major, im "Bild des Kaisers" Rantow einen Brief zugesteckt, der für eine andere beteiligte Person bestimmt war, in den letzten Rittern von Marienburg" wird Palvis Unglück dadurch herbeigeführt, daß ihn Elisens Dienstmädchen mit dem Dr. Zündler verwechselt. In fast allen Werken finden sich Exkurse über literarische, politische oder gesellschaftliche Fragen, viele



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verraten eine ausgesprochene Vorliebe für das Soldatische. In ähnlicher Weise sind bezüglich des Charakters der eingeführten Personen sich mehrfach wiederholende Eigentümlichkeiten bemerkbar, welche die einzelnen Figuren zu Typen stempeln. So kann der Regisseur im "Othello" recht wohl neben den altmodischen Magister Bunker gestellt werden, Fröben neben Rempen und den jungen Lanbeck, dessen Vater neben General Willi und den alten Tierberg. Noch einförmiger gestaltet sich die Darstellung weiblicher Charaktere. In fast jeder Novelle kommt nur eine einzige Vertreterin des weiblichen Geschlechts zur Geltung, die übrigen sind — wie im "Othello" oder "Jud Süß" — lediglich Staffage und ohne irgend welche innere Bedeutung; aber selbst diese eine Gestalt ist nicht Saftig genug herausgearbeitet, ein Fehler, den schon Maria im "Lichtenstein" zeigte, und der psychologisch in der Jugend des Dichters und dem damit Hand in Hand gehenden Mangel an Erfahrung, an Menschenkenntnis begründet ist. Trotzdem zeigen seine Novellen einen Zug, den sie mit seiner übrigen Produktion gemeinsam haben und der ihre Bedeutung auch für die Zukunft erhalten wird : das frische, Lebendige, Ansprechende im Tone, den raschen, entschlossenen Fortschritt. Außerdem macht sich — wenn auch keins seiner Werke die höchste Höhe erreichte doch immerhin innerhalb der sechs Novellen ein für die kurze Zeit der Entwicklung anerkennenswerter Fortschritt bemerkbar, und die Vermutung liegt in der Tat nahe, daß uns Hauff. sobald er nur erst größere Reife erlangte und in ein ruhigeres Fahrwasser geriet, noch köstlichere Proben seines Könnens und Strebens beschert hätte.


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Novellen



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Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich,

Vizebataillons-Chirurgen a. V. und Mautbeamten in Tempelhof bei Berlin.

Sie werden mich verbinden, verehrter Herr, wenn Sie diese Vorrede lesen, welche ich einer kleinen Sammlung von Novellen vordrucken lasse. Ich ergreife nämlich diesen Weg, einiges mit Ihnen zu besprechen, teils weil mir nach sechs unbeantwortet gebliebenen Briefen das Porto bis Tempelhof zu teuer deuchte, teils aber auch, weil Sie vielleicht nicht begreifen, warum ich diese Novellen gerade so geschrieben habe und nicht anders.

Sie werden nämlich nach Ihrer bekannten Weise, wenn Sie "Novellen" auf dem Titel lesen, die kleinen Augen noch ein wenig zudrücken , auf geheimnisvolle Weise lächeln und, sollte er gerade zugegen sein, Herrn Amtmann Kohlhaupt versichern: "Ich kenne den Mann; es ist alles erlogen, was er schreibt;" und doch würden Sie sich gerade bei diesen Novellen sehr irren. Die besten und berühmtesten Novellendichter, Lopez de Vega, Boccaz, Goethe, Calderon, Tieck, Scott, Cervantes und auch ein Tempelhofer haben freilich aus einem unerschöpflichen Schatz der Phantasie ihre Dichtungen hervorgebracht, und die unverwelklichen Blumensträuße, die sie gebunden, waren nicht in Nachbars Garten gepflückt, sondern sie stammten aus dem ewig grünen Paradies der Poesie, wozu nach der Sage Feen ihren Lieblingen den unsichtbaren Schlüssel in die Wiege legen. Daher kommt es auch, daß durch eine geheimnisvolle Kraft alles, was sie gelogen haben, zur schönsten Wahrheit geworden ist.

Geringere Sterbliche, welchen jene magische Springwurzel, die nicht nur die unsichtbaren Wege der Phantasie erschließt, sondern auch die festen und undurchdringlichen Pforten der menschlichen Brust



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aufreißt, nicht zuteil wurde, müssen zu allerlei Notbehelf ihre Zuflucht nehmen, wenn sie —Novellen schreiben wollen. Denn das eben ist das Ärgerliche an der Sache, daß oft ihre Wahrheit als schlecht erfundene Lüge erscheint, während die Dichtung jener Feenkinder für treue, unverfälschte Wahrheit gilt.

So bleibt oft uns geringen Burschen nichts übrig, als nach einer Novelle zu spionieren. Kaffeehäuser, Restaurationen, italienische Keller und dergleichen sind für diesen Zweck nicht sehr zu empfehlen. Gewöhnlich trifft man dort nur Männer, und Sie wissen selbst, wie schlecht die Restaurationsmenschen erzählen. Da wird nur dies oder jenes Faktum schnell und flüchtig hingeworfen; reine Nebenbemerkungen , nichts Malerisches; ich möchte sagen, sie geben ihren Geschichten kein Fleisch, und wie oft habe ich mich geärgert, wenn man von einer Hinrichtung sprach und dieser oder jener nur hinwarf "geköpft " , "hingerichtet", statt daß man, wie bei ordentlichen Erzählungen gebräuchlich, den armen Sünder, seinen Beichtvater, den roten Mantel des Scharfrichters, sein "blinkendes Schwert" sieht, ja selbst die Luft pfeifen hört, wenn sein nerviger Arm den Streich führt.

Es gibt gewisse Weinstuben, wo sich ältere Herren versammeln und nicht gerne einen "Jungen", einen "Fremden" unter sich sehen. Diese pflegen schon besser zu erzählen; dadurch, daß sie diesen oder jenen Straßenraub, die geheimnisvolle, unerklärliche Flucht eines vornehmen Herrn, einen plötzlichen Sterbefall, wobei man "allerlei gemunkelt" habe, schon fünfzigmal erzählten, haben ihre Geschichten einen Schmuck, ein stattliches Kleid bekommen und schreiten ehrbar fürder, während die Geschichten der Restaurationsmenschen wie Schatten hingleiten. Solche Herren haben auch eine Art von historischer Gründlichkeit, und es gereicht mir immer zu hoher Freude, wenn einer spricht: "Da bringen Sie mich auf einen sonderbaren Vorfall," sich noch eine halbe Flasche geben läßt und dann anhebt: In den siebziger Jahrgängen lebte in meiner Vaterstadt ein Kavalier von geheimnisvollem Wesen." — Solche Herren trifft man allenthalben, und sie werden von mehreren unserer neueren Novellisten stark benützt. Der bekannte versicherte mich, daß er einen ganzen Band seiner Novellen solchen alten Nachtfaltern verdanke, und erst aus diesem Geständnis konnte ich mir erklären, warum seine Novellen so steif und trocken waren; sie kamen mir nachher allesamt vor wie alte, verwelkte Junggesellen, die sich ihre Liebesabenteuer erzählen , welche sämtlich anfangen: "Zu meiner Zeit."

Die ergiebigste Quelle aber für Novellisten unserer Art sind Frauen. die das Fünfundsechzigste hinter sich haben. Die Welt nennt Medisance, was eigentlich nur eine treffliche Weise zu erzählen ist; junge Mädchen von sechzehn, achtzehn pflegen mit solchen Frauen



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gut zu stehen und sich wohl in acht zu nehmen, daß sie ihnen keine Blöße geben, die sie in den Mund der alten Novellistinnen bringen könnte; Frauen von dreißig und ihre Hausfreunde gehen lieber eine Ecke weiter, um nicht ihren Gesichtskreis zu passieren, oder wenn sie der Zufall mit der Jugendfreundin ihrer seligen Großmutter zusammenführt , pflegen sie das gute Aussehen der Alten zu preisen und hören geduldig ein beißendes Lob der alten Zeiten an, das regelmäßig ein sanftes Exordium, drei Teile über Hauswesen, Kleidung und Kinderzucht, eine Nutzanwendung nebst einem frommen Amen enthält. Solche ältere Frauen pflegen gegen jüngere Männer, die ihnen einige Aufmerksamkeit schenken, einen gewissen geheimnisvoll zutraulichen Ton anzunehmen. Sie haben für junge Mädchen und schöne Frauen, die jetzt dieselbe Stufe in der Gesellschaft bekleiden, welche sie einst selbst behauptet hatten, feine und bezeichnende Spitznamen und erzählen den Herren, die ihnen ein Ohr leihen, allerlei kuriose Sachen" von dem "Eichhörnlein und seiner Mutter" , auch "wie es in diesem oder jenem Haus zugeht", "galante Abenteuer von jenem ältlichen gesetzten Herrn, der nicht immer so gewesen" , und sind sie nur erst in dem abenteuerlichen Gebiet geheimer Hofgeschichten und schlechter Ehen, so spinnen sie mit zitternder Stimme, feinem Lächeln und den teuersten Versicherungen Geschichten aus, die man (natürlich mit veränderten Namen) sogleich in jeden Almanach könnte drucken lassen.

Niemand weiß so trefflich wie sie das Kostüm, das Gespräch, die Sitten " vor fünfzig Jahren" wiederzugeben; ich glaubte einst bei einer solchen Unterhaltung die Reifrocke rauschen, die hohen Stelzschuhe klappern, die französischen Brocken schnurren zu hören; die ganze Erzählung roch nach Ambra und Puder, wie die alten Damen selbst. Und so frisch und lebhaft ist ihr Gedächtnis und Mienenspiel, daß ich einmal, als mir eine dieser Damen Von einer längst verstorbenen Frau Ministerin erzählte und ihren Gang und ihren schnarrenden Ton nachahmte, unwillkürlich mich erinnerte, daß ich diese Frau als Kind gekannt, daß sie mir mit derselben schnarrenden Stimme ein Zuckerbrot geschenkt habe. Mehrere Novellen, die ich aufgeschrieben, beziehen sich auf geheime Familiengeschichten oder sonderbare, abenteuerliche Vorfälle, deren wahre Ursachen wenig ins Publikum kamen, und ich kann versichern, daß ich sie alle, teils in Berlin, teils in Hannover, Kassel, Karlsruhe, selbst in Dresden eben von solchen alten Frauen, den Chroniken ihrer Umgebung, gehört und oft wörtlich wiedererzählt habe.

Nur so ist es möglich, daß wir auch ohne jenen Schlüssel zum Feenreich gegenwärtig in Deutschland eine so bedeutende Menge Novellen zutage fördern. Die "wundervolle Märchenwelt" findet



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kein empfängliches Publikum mehr, die lyrische Poesie scheun nur noch von wenigen geheiligten Lippen tönen zu wollen, und vom alten Drama sind uns, sagt man, nur die Dramaturgen geblieben. In einer solchen miserablen Zeit, Verehrter, ist die Novelle ein ganz Bequemes Ding. Den Titel haben wir wie eine Maske von den großen Novellisten entlehnt, und Gott und seine lieben Kritiker mögen wissen, ob die nachstehenden Geschichten wirkliche und gerechte Novellen sind.

Ich habe, mein werter Herr, dies alles gesagt, um Ihnen darzutun , wie ich eigentlich dazu kam, Novellen zu schreiben, wie man beim Novellenschreiben zu Werk gehe, und —daß alles getreue Wahrheit sei, wenn auch keine poetische, was ich niedergeschrieben. Sie werden sich noch der guten Frau von Welkerlohn erinnern, die immer ein kleid von verblichenem gelben Samt trug, das nur eine weiche Fortsetzung ihrer harten, gelben Züge schien. Von ihr habe ich die Geschichte "Othello" betitelt. Sie war viel zu diskret, um Namen und die Residenz zu nennen, wo diese sonderbaren Szenen vorfielen; aber wenn ich bedenke, daß sie zur selben Zeit Hofdame in Scheerau war, als Jean Paul dort lebte, so kann ich nicht anders glauben, als die Geschichte sei an jenem Hofe vorgefallen. Die zweite Novelle habe ich aus dem Mund der alten Gräfin Nelkenroth; man hält sie allgemein für eine böse Frau; aber ich kann versichern, daß ich sie über Josephens Schicksal Tränen vergießen sah. Man will zwar behaupten, daß sie oft in Gesellschaft weinerliche Geschichten erzähle, weil ihr vor zwanzig Jahren ein Maler versicherte, sie habe etwas von einer Suter dolorosa; aber so viel ist gewiß, daß sie mehrere Personen des Stücks gekannt haben will, und die Frau, bei welcher Herr v. roben in S. gewohnt hat, erzählte mir manche Sonderbarkeiten von ihm. Ich und viele Leute ins., welchen ich die Geschichte wiedererzählte, gaben sich vergebliche Mühe, über Herrn v. Froben und die Personen, mit welchen er in Berührung kam, etwas Näheres zu erfragen. Wir erfuhren nur, daß da: "Bild der Dame" nach dem Gemälde in der Boisseréeschen Galerie von Strixner lithographiert worden sei. In Ostende, wo ich durch mehrere Briefe nachforschte, konnte ich nichts, erfahren, als daß allerdings ein englisches Schiff, die Luna, Kapitän Wardwood, im August Passagiere nach Portugal an Bord genommen habe und daß sich im Register des Hafendirektors ein Don Pedro di Montanjo nebst Nichte und Dienerschaft befinde. Am Rhein, wo ich mich nach Herrn von Faldner und seiner Familie erkundigte und erzählte, warum ich nachfrage, erklärte man mir alle:: für Erfindung; denn es gäbe am ganzen Rhein hinab nur gesittete Landwirte, die mit ihren Frauen wie die Engel im Himmel leben.



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Sie sehen, ich habe keine Mühe gescheut, die Geschichten, die ich erzähle, so glaubwürdig als möglich zu machen. Es gibt freilich Leute, die mir dieser historischen Wahrheit wegen gram sind und behaupten, der echte Dichter müsse keine Straße, keine Stadt, keine bekannten Namen und Gegenstände nennen; alles und jedes müsse rein erdichtet sein, nicht durch äußeren Schmuck, sondern von innen Wahrheit gewinnen , und wie Mahomeds Sarg müsse es in der schönen, lieben blauen Luft zwischen Himmel und Erde schweben. Andere halten es vielleicht auch für eine "rechts widrige Täuschung des Publikums" und können mich darüber belangen wollen, daß ich behaupte, dies und jenes habe sich da und dort zugetragen, und ich könne doch keine stadtgerichtlichen Zeugnisse beibringen. Aber ist denn hier von echter Poesie, von echten Dichtern die Rede? Man lege doch nicht an die Erzählungen einiger alten Damen diesen erhabenen Maßstab! Goethe erzählt in "Dichtung und Wahrheit", er habe in der Frankfurter Stadtmauer eine Türe und einen wunderschönen Garten gesehen. Noch heute laufen alle Fremden hin (ich selbst war dort) und beschauen die Mauer und wundern sich, daß man nicht wenigstens die Reparatur schauen könne, wenngleich das Loch nur geträumt und nie in der Mauer war. Solchen poetischen Frevel gegen ein gesetztes Publikum mag man einem Goethe vorrücken; armen Menschen ohne den Kammerherrenschlüssel der Poesie, der die Mauern aufschließt, wenn sie auch keine Türen haben, muß man solche Freiheiten zugut halten.

Darum lesen Sie, verehrter Herr, diese Geschichten, so abenteuerlich sie sein mögen, als reine, treue Wahrheit; es wird Sie weniger ärgern, als wenn Sie Dichtungen vor sich zu haben meinten und Ihr scharfes Auge ein wirres Gewebe unwahrscheinlicher Lügen fände.

W.H.



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Die Bettlerin vom Pont des Arts.

Ach, wie lang' ist's, daß ich walle,
Suchend durch der Erde Flur!
Titan, deine Strahlen alle
Sandt' ich nach der teuren Spur;
Keiner hat mir noch verkündet
Von dem lieben Angesicht,
Und der Tag, der alles findet,
Die Verlorne fand er nicht.

Schiller.

1.

Wer im Jahr 1824 abends hie und da in den Gasthof zum "König von England" in Stuttgart kam oder nachmittags zwischen zwei und drei Uhr in den Anlagen auf dem breiten Weg promenierte, muß sich, wenn anders sein Gedächtnis nicht zu kurz ist, noch einiger Gestalten erinnern, die damals jedes Auge auf sich zogen. Es waren nämlich zwei Männer, die ganz und gar nicht unter die gewöhnlichen Stuttgarter Trinkgäste oder Anlagenspaziergänger paßten, sondern eher auf den Prado zu Madrid oder in ein Cafe: zu Lissabon oder Sevilla zu gehören schienen. Denket euch einen ältlichen, großen, hageren Mann mit schwärzlichgrauen Haaren, tiefen, brennenden Augen von dunkelbrauner Farbe, mit einer kühngebogenen Nase und feinem, eingepreßtem Mund. Ergeht langsam, stolz und aufrecht. Zu seinen schwarzseidenen Unterkleidern und Strümpfen, zu den großen Rosen auf den Schuhen und den breiten Schnallen am Kniegürtel, zu dem langen, dünnen Degen an der Seite, zu dem hohen, etwas zugespitzten Hut mit breitem Rande, schief an die Stirne gedrückt, wünschet ihr, wenn euch nur einigermaßen Phantasie innewohnt , ein kurzes, geschlitztes Wams und einen spanischen Mantel statt des schwarzen Frackes, den der Alte umgelegt hat.

Und der Diener, der ihm ebenso stolzen Schrittes folgt, erinnert er nicht durch das spitzbübische, dummdreiste Gesicht, durch die fremdartige , grelle Kleidung, durch das ungenierte Wesen, womit er um sich schaut, alles angafft und doch nichts bewundert, an jene Diener im spanischen Lustspiel, die ihrem Herrn wie ein Schatten treu, an



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Bildung tief unter ihm, an Stolz neben ihm, an List und Schlauheit über ihm stehen? Unter dem Arm trägt er seines Gebieters Sonnenschirm und Regenmantel, in der Hand eine silberne Büchse mit Zigarren und eine Lunte.

Wer blieb nicht stehen, wenn diese beiden langsam durch die Promenade wandelten, um ihnen nachzusehen? Es war aber bekanntlich niemand anders als Don Pedro di San Montanjo Ligez, der Haushofmeister des Prinzen von P., der sich zu jener Zeit in Stuttgart aufhielt, und Diego , sein Diener.

Wie es oft zu gehen pflegt, daß nur ein kleines, geringes Ereignis dazu gehört, einen Menschen berühmt und auffallend zu machen, so geschah dies auch mit dem jungen Fröben , der schon seit einem halben Jahr (so lange mochte er sich wohl in Stuttgart aufhalten) alle Tage Schlag zwei Uhr durch das Schloßportal in die Anlagen trat, dreimal um den See und fünfmal den breiten Weg auf und nieder ging, an allen den glänzenden Equipagen, schönen Fräulein, an einer Masse von Direktoren, Räten und Leutnants vorüberkam und von niemand beachtet wurde; denn er sah ja aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch von etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahren. Seitdem er aber eines Nachmittags im breiten Weg auf Don Pedro gestoßen, solcher ihn gar freundlich gegrüßt, seinen Arm traulich in den seinigen geschoben hatte und mit ihm einigemal, eifrig sprechend, auf und ab spaziert war, seitdem betrachtete man ihn neugierig, sogar mit einer gewissen Achtung; denn der stolze Spanier, der sonst mit niemand sprach, hatte ihn mit auffallender Astimation behandelt.

Die schönsten Fräulein fanden jetzt, daß er gar kein übles Gesicht habe, ja, es liege sogar etwas Interessantes, überaus Anziehendes darin, was man in den Anlagen eben nicht häufig sehe; die Direktoren und allerlei Räte fragten, wer der junge Mann wohl sein könnte, und nur einige Leutnants konnten Auskunft geben, daß er hie und da im Museum Beefsteaks speise, seit einem halben Jahre in der Schloßstraße wohne und einen schönen Mecklenburger reite, so ihm eigen angehörig. Sie setzten noch vieles über Vortrefflichkeit dieses Pferdes hinzu, wie es gebaut, von welcher Farbe, wie alt es sei, was es wohl kosten könnte, und kamen so auf Pferde überhaupt zu sprechen, was sehr lehrreich zu hören gewesen sein soll.

Den jungen Fröben aber sah man seit dieser Zeit öfter in Gesellschaft Don Pedros, und gewöhnlich fand er sich abends im "König von England" ein, wo er, etwas entfernt von anderen Gästen, bei dem Sennor saß und mit ihm sprach. Diego aber stand hinter dem Stuhl seines Herrn und bediente beide fleißig mit Seies und Zigarren. Niemand konnte eigentlich begreifen, wie die beiden Herren



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zusammengekommen oder welches Interesse sie aneinander fanden. Man riet hin und her, machte kühne Konjekturen, und am Ende hätte doch der junge Mann selbst den besten Aufschluß darüber geben können, wenn ihn nur einer gefragt hätte.2.

Und war denn nicht die schöne Galene der Brüder Boisserée und Bertram , wo sie sich zuerst fanden und erkannten ? Diese gastfreien Männer hatten dem jungen Manne erlaubt, ihre Bilder so oft zu besuchen, als er immer wollte; und er tat dies, wenn er nur immer in der Mittagsstunde, wo die Galerie geöffnet wurde, kommen konnte. Es mochte regnen oder schneien, das Wetter mochte zu den herrlichsten Ausflügen in die Gegend locken, er kam; er sah oft recht krank aus und kam dennoch. Man würde aber unbilligerweise den Kunstsinn des Herrn von Fröben zu hoch anschlagen, wenn man etwa glaubte, er habe die herrlichen Bilder der alten Niederländer studiert oder nachgezeichnet. Nein, er kam leise in die Türe, grüßte schweigend und ging in ein entferntes Zimmer vor ein Bild, das er lange betrachtete, und ebenso still verließ er wieder die Galerie. Die Eigentümer dachten zu zart, als daß sie ihn über seine wunderliche Vorliebe für da:, Bild befragt hätten; aber auch ihnen mußte es natürlich aufgefallen sein; denn oft, wenn er herausging, konnte er nur schlecht die Tränen verbergen, die ihm im Auge quollen.

Großen historischen oder bedeutenden Kunstwert hatte da:: Bildchen nicht. Es stellte eine Dame in halb spanischer, halb altdeutscher Tracht vor. Ein freundliches, blühendes Gesicht mit klaren, liebevollen Augen, mit feinem, zierlichern Mund und zartem, rundem Kimi trat sehr lebendig aus dem Hintergrund hervor. Die schöne Stirne umzog reiches Haar und ein kleiner Hut, mit weißen, buschigen Federn geschmückt, der etwas schalkhaft zur Seite saß. Das Gewand, das nur den schönen, zierlichen Hals frei ließ, war mit schweren goldenen Setten umhängt und zeugte ebensosehr von der Sittsamkeit als dem hohen Stand der Dame.

"Am Ende ist er wohl in das Bild verliebt," dachte man, "wie Kalaf in das der Prinzessin Turandot, obschon mit ungleich geringerer Hoffnung; denn das Bild ist wohl dreihundert Jahre alt und das Original nicht mehr unter den Lebenden."

Nach einiger Zeit schien aber Fröben nicht mehr der einzige Anbeter des Bildes zu sein. Der Prinz von P. hatte eines Tages mit seinem Gefolge die Galene besucht. Don Pedro, der Haushofmeister, hatte die umherschreitende Schar der Zuschauer verlassen und besah



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sich die Gemälde, einsam von Zimmer zu Zimmer wandelnd; doch wie vom Blitz gerührt, mit einem Ausruf des Erstaunens, war er vor dem Bild jener Dame stehen geblieben. Als der Prinz die Galerie verließ, suchte man den Haushofmeister lange vergebens. Endlich fand man ihn, mit überschlagenen Armen, die feurigen Augen halb zugedrückt, den Mund eingepreßt, in tiefer Betrachtung vor dem Bilde.

Man erinnerte ihn, daß der Prinz bereits die Treppe hinabsteige ; doch der alte Mann schien in diesem Augenblicke nur für eines Sinn zu haben. Er fragte, wie dies Bild hierhergekommen sei. Man sagte ihm, daß es Von einem berühmten Meister vor mehreren hundert Jahren gefertiget und durch Zufall in die Hände der jetzigen Eigentümer gekommen sei.

"O Gott, nein!" antwortete er, "das Bild ist neu, nicht hundert Jahre alt; woher, sagen Sie, woher? O, ich beschwöre Sie, wo kann ich sie finden?"

Der Mann war alt und sah zu ehrwürdig aus, als da ;j man diesen Ausbruch des Gefühls hätte lächerlich finden können; doch als er dieselbe Behauptung wieder hörte, daß das Bild alt und wahrscheinlich von Lukas Cranach selbst gemalt sei, da schüttelte er bedenklich den Kopf.

"Meine Herren," sprach er und legte beteuernd die Hand aufs Herz, "meine Herren, Don Pedro di San Montanjo Ligez hält Sie für ehrenwerte Leute. Sie sind nicht Gemäldeverkäufer und wollen mir dies Bild nicht als alt verkaufen; ich darf durch Ihre Güte diese Bilder sehen, und Sie genießen die Achtung dieser Provinz. Aber es müßte mich alles täuschen, oder —ich kenne die Dame, die jenes Bild vorstellt."

Mit diesen Worten schritt er, ehrerbietig grüßend, aus dem Zimmer.

"Wahrhaftig!" sagte einer der Eigentümer der Galerie, " wenn wir nicht so genau wüßten, von wem dieses Bild gemalt ist, und wann und wie es in unseren Besitz kam, und welche lange Reihe von Jahren es vorher in C. hing, man wäre versucht, an dieser Dame irre zu werden. Scheint nicht selbst den jungen Fröben irgend eine Erinnerung beinahe täglich vor dieses Bild zu treibens Und dieser alte Don, blitzte nicht ein jugendliches Feuer aus seinen Augen, als er gestand, daß er die Donna kenne, die hier gemalt ist Sonderbar, wie oft die Einbildung ganz vernünftigen Menschen mitspielt; und mich müßte alles täuschen, wenn der Spanier zum letztenmal hier gewesen wär."



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3.

Und es traf ein, kaum war die Galerie am folgenden Vormittag geöffnet worden, trat auch schon Don Pedro di San Montanjo Ligez festen, erhabenen Schrittes ein und strich an der langen Bilderreihe vorüber nach jenem Zimmer hin, wo die Dame mit dem Federhut aufgestellt war. Es verdroß ihn, daß der Platz vor dem Bilde schon besetzt war, daß er es nicht allein und einsam, Zug für Zug mustern konnte, wie er so gerne getan hätte. Ein junger [Mann stand davor. blickte es lange an, trat an ein Fenster, sah hinaus nach dem Flug der Wolken und trat dann wieder zu dem Bilde. Es verdroß den alten Herrn etwas; doch — er mußte sich gedulden.

Er machte sich an andern Bildern zu schaffen; aber, erfüllt von dem Gedanken an die Dame, drehte er alle Augenblicke den Kopf um, zu sehen, ob der junge Herr noch immer nicht gewichen sei; aber er stand wie eine Mauer, er schien in Betrachtung versunken. Der Spanier hustete, um ihn aus den langen Träumen zu wecken; jener träumte fort; er scharrte etwas Weniges mit dem Fuß auf dem Boden; der junge Mann sah sich um, aber sein schönes Auge streifte flüchtig an dem alten Herrn vorüber und haftete dann von neuem auf dem Gemälde.

"San Pedro! San Jago di Compostella!" murmelte der Alte, welch langweiliger, alberner Dilettante!" Unmutig verließ er das Zimmer und die Galene; denn er fühlte, heute sei ihm schon aller Genuß benommen durch Verdruß und Arger. Hätte er doch lieber gewartet! Den Tag nachher war die Galerie geschlossen, und so mußte er sich achtundvierzig lange Stunden gedulden, bis er wieder zu dem Gemälde gehen konnte, das ihn in so hohem Grade interessierte. Noch ehe die Glocken der Stiftskirche völlig zwölf Uhr geschlagen, stieg er mit anständiger Eile die Treppe hinan, hinein in die Galene, dem wohlbekannten Zimmer zu, und —getroffen! Er war der erste, war allein, konnte einsam betrachten.

Er schaute die Dame lange mit unverwandten Blicken an, sein Auge füllte nach und nach eine Träne, er fuhr mit der Hand über die grauen Wimpern. "O Laura !" flüsterte er leise. Da tönte ganz vernehmlich ein Seufzer an seine Ohren; er wandte sich erschrocken um; der junge Mann von vorgestern stand wieder hier und blickte auf das Bild. Verdrießlich, sich unterbrochen zu sehen, nickte er mit dem Haupt ein flüchtiges Kompliment; der junge Mann dankte etwas freundlicher, aber nicht minder stolz als der Spanier. Auch diesmal wollte der letztere den überflüssigen Nachbar abwarten, aber vergeblich ; er sah zu seinem Schrecken, wie jener sogar einen Stuhl nahm,



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sich einige Schritte vom Gemälde niedersetzte, um es mit gehöriger Muße und Bequemlichkeit zu betrachten,

"Der Geck!" murmelte Don Pedro, "ich glaube gar, er will mein graues Haar verhöhnen." Er verließ noch unmutiger als ehegestern das Gemach.

Im Vorsaal stieß er auf einen der Eigentümer der Galerie; er sagte ihm herzlichen Dank für den Genuß, den ihm die Sammlung bereitete, konnte sich aber nicht enthalten, über den jungen Ruhestörer sich etwas zu beklagen. "Herr B.," sagte er, "Sie haben vielleicht bemerkt, daß vorzüglich ein es Ihrer Bilder mich anzog; es interessiert mich unendlich, es hat eine Bedeutung für mich, die —die ich Ihnen nicht ausdrücken kann. Ich kam, so oft Sie es vergönnten, um das Bild zu sehen, freute mich recht, es ungestört zu sehen, weil doch gewöhnlich die Menge nicht lange dort verweilt, und —denken Sie sich, da hat es mir ein junger, böser Mensch abgelauscht und kommt, so oft ich komme, und bleibt, mir zum Trotze bleibt er stundenlang vor diesem Bilde, das ihn doch gar nichts angeht!"

Herr B. lächelte; denn recht wohl konnte er sich denken, wer den alten Herrn gestört haben mochte. "Das letztere möchte ich denn doch nicht behaupten," antwortete er; "das Bild scheint den jungen Mann ebenfalls nahe anzugehen; denn es ist nicht das erste Mal, daß er es so lange betrachtet."

"Wieso? Wer ist der Mensch?"

"Es ist ein Herr von Fröben," fuhr jener fort, "der sich seit fünf, sechs Monaten hier aufhält, und seit er das erste Mal jenes Bild gesehen, eben jene Dame mit dem Federhut, das auch Sie besuchen, kommt er alle Tage regelmäßig zu dieser Stunde, um das Bild zu betrachten. Sie sehen also zum wenigsten, daß er Interesse an dem Bilde nehmen muß, da er es schon so lange besucht."

"Herr! Sechs Monate?" rief der Alte. "Nein, dem habe ich bitter Unrecht getan in meinem Herzen; Gott mag es mir verzeihen! Ich glaube gar, ich habe ihn unhöflich behandelt im Unmut. Und ist ein Kavalier, sagen Sie? Nein, man soll von Pedro di Ligez nicht sagen können, daß er einen fremden Mann unhöflich behandelte. Ich bitte, sagen Sie ihm —doch lassen Sie das! Ich werde ihn wieder treffen und mit ihm sprechen.

4.

Als er den anderen Tag sich wieder einfand und Froben schon vor dem Gemälde traf, trat er auch hinzu mit recht freundlichem Gesicht ; als aber der junge Mann ehrerbietig auf die Seite wich, um dem



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alten Herrn den bessern Platz einzuräumen, verbeugte sich dieser höflich grüßend und sprach: "Wenn ich nicht irre, Sennor, so hab' ich Sie schon mehrere Male vor diesem Gemälde verweilen sehen. — Da geht es Ihnen wohl gleich mir; auch mir ist dieses Bild sehr interessant , und ich kann es nie genug betrachten."

Fröben war überrascht durch diese Anrede; auch ihm waren die Besuche des Alten vor dem Bilde aufgefallen, er hatte erfahren, wer jener sei, und nach der steifen, kalten Begrüßung von gestern war er dieser freundlichen Anrede nicht gewärtig. "Ich gestehe, mein Herr," erwiderte er nach einigem Zögern, "dieses Bild zieht mich vor allen anderen an; denn — weil — es liegt etwas in diesem Gemälde, das für mich von Bedeutung ist." —Der Alte sah ihn fragend an, als genüge ihm diese Antwort nicht völlig, und Fröben fuhr gefaßter fort: Es ist wunderbar mit Kunstwerken, besonders mit Gemälden. Es gehen an einem Bilde oft Tausende vorüber, finden die Zeichnung richtig, geben dem Kolorit ihren Beifall, aber spricht sie nicht tiefer an, während einem einzelnen aus solch einem Bilde eine tiefere Bedeutung aufgeht; er bleibt gefesselt stehen, kann sich kaum losreißen von dem Anblick, er kehrt wieder und immer wieder, von neuem zu betrachten."

"Sie können recht haben," sagte der Alte nachdenkend, indem er auf das Gemälde schaute; "aber —ich denke, es ließe sich dies nur von größeren Kompositionen sagen, von Gemälden, in welche der Maler eine tiefere Idee legte. Es gehen viele vorüber, bis die Bedeutung endlich einem aufgeht, der dann den tiefen Sinn des Künstlers bewundert. Aber sollte man dies von solchen Köpfen behaupten können?"

Der junge Mann errötete. "Und warum nicht?" fragte er lächelnd. , .Die schönen Formen dieses Gesichtes, die edle Stirne, dieses sinnende Auge, dieser holde Mund, hat sie der Künstler nicht mit tiefem Geiste geschaffen? Liegt nicht etwas so Anziehendes in diesen Zügen, daß —"

"O bitte, bitte," unterbrach ihn der Alte gütig abwehrend; " war allerdings eine recht hübsche Person, die dem Künstler gesessen; die Familie hat schöne Frauen."

"Wie? Welche Familie?" rief der Jüngling erstaunt; er zweifelte an dem gesunden Verstand des Alten, und doch schienen ihn seine Worte aufs höchste zu spannen. "Dies Bild ist wohl reine Phantasie mein Herr, ist zum wenigsten mehrere hundert Jahre alt!"

"Also glauben Sie das Märchen auch?" flüsterte der Alte; "unter uns gesagt, diesmal hat die Eigentümer ihr scharfer Blick doch irregeleitet ; ich kenne ja die Dame."

"Um Gottes willen, Sie kennen sie? Wo ist sie jetzt? Wie heißt



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sie?" sprach Fröben heftig bewegt, indem er die Hand des Spaniers

"Sage ich lieber, ich habe sie gekannt," antwortete dieser mit zitternder Stimme, indem er das feuchte Auge zu der Dame aufschlug. Ja, ich habe sie gekannt, in Valencia vor zwanzig Jahren; eine lange Zeit! Es ist ja aber niemand anders als Donna Laura Tortosi."

"Zwanzig Jahre!" wiederholte der junge Mann traurig und niedergeschlagen. "Zwanzig Jahre — nein, sie ist es nicht."

"Sie ist es nicht fuhr Don Pedro hitzig auf. "Nicht, sagen Sie? So können Sie glauben, ein Maler habe diese Züge aus seinem Hirn zusammengepinselt? Doch ich will nicht ungerecht sein, es war wohl ein tüchtiger Mann, der sie malte; denn seine Farben sind wahr und treu. treu und frisch wie das blühende Leben. Aber glauben Sie, daß ein solcher Künstler aus seiner Phantasie nicht ein ganz anderes Bild erschaffte Finden Sie nicht, ohne die Familie Tortosi zu kennen, daß diese Dame offenbar Familienähnlichkeit haben müsse, Familienzüge, bestimmt und klar von der Natur ausgesprochen, Züge, wie man sie nie in Gemälden der Phantasie, sondern nur bei guten Porträts findet? Es ist ein Porträt, sag' ich Ihnen, Sennor, und bei Gott kein anderes als das der Donna Laura, wie ich sie vor zwanzig Jahren gesehen in dem lieblichen Valencia."

"Mein verehrter Herr," erwiderte ihm Fröben, "es gibt Ähnlichkeiten , täuschende Ähnlichkeiten; man glaubt oft einen Freund sprechend getroffen zu sehen, nur in sonderbarem, veraltetem Kostüm, und wenn man fragt, ist es sein Urahn aus dem Dreißigjährigen Kriege oder überdies gar noch ein Fremder. Ich gebe auch zu, daß dieses Bild sogenannte Familienzüge trage, daß es der liebenswürdigen Donna Laura gleiche; aber dieses Bild, dieses ist alt, und soviel weiß man wenigstens aus Registern und Kirchenbüchern, daß es in der Magdalenenkirche zu C. schon seit hundertundfünfzig Jahren hing, durch zufällige Stiftung, nicht auf Bestellung, in die Kirche kam und nach allen Anzeigen von dem deutschen Maler Lukas Cranach gefertigt wurde."

"So hole der lebendige Satan meine Augen!" rief Don Pedro ärgerlich, indem er aufsprang und seinen Hut nahm. "Ein Blendwerk der Hölle ist's; sie will mich in meinen alten Tagen noch einmal durch dies Gemälde in Wehmut und Gram versenken." Tränen standen dem alten Mann in den Augen, als er mit hastigen, dröhnenden Schritten die Galerie verließ.



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5.

Aber dennoch war er auch jetzt nicht zum letztenmal dagewesen. Froben und er sahen sich noch oft vor dem Bilde, und der Alte gewann den jungen Mann durch sein bescheidenes, aber bestimmtes Urteil, durch seine liebenswürdige Offenheit, durch sein ganzes Wesen, das feine Erziehung, treffliche Kenntnisse und einen für diese Jahre seltenen Takt verriet, immer lieber. Der Alte war fremd in dieser Stadt, er fühlte sich einsam: dennoch war er der Welt nicht so sehr abgestorben , daß er nicht hin und wieder einen Menschen hätte sprechen mögen. So kam es, daß er sich unvermerkt näher an den jungen Froben anschloß; zog ihn ja dieser auch dadurch so unbeschreiblich an, daß er ein teures Gefühl mit ihm teilte, nämlich die Liebe zu jenem Bilde.

So kam es, daß er den jungen Mann auf dem Spaziergang gerne begleitete, daß er ihn oft einlud, ihm abends Gesellschaft zu leisten. Eines Abends, als der Speisesaal im "König von England" ungewöhnlich gefüllt war und rings um die beiden fremde Gäste saßen, so daß sie sich im traulichen Gespräche gehindert fühlten, sprach Don Pedro zu seinem jungen Freund: "Sennor, wenn Ihr anders diesen Abend nicht einer Dame versprochen habt, vor ihrem Gitter mit der Laute zu erscheinen, oder wenn Euch nicht sonst ein Versprechen hindert , so möchte ich Euch einladen, eine Flasche echten Pietro Ximenes mit mir auszustechen auf meinem Gemach."

"Sie ehren mich unendlich," antwortete Froben; "mich bindet kein Versprechen, denn ich kenne hier keine Dame; auch ist es hiesigen Orts nicht Sitte, abends die Laute zu schlagen auf der Straße oder sich mit der Geliebten am Fenster zu unterhalten. Mit Vergnügen werde ich Sie begleiten.

"Gut; so geduldet Euch hier noch eine Minute, bis ich mit Diego die Zurichtung gemacht; ich werde Euch rufen lassen.

Der Alte hatte diese Einladung mit einer Art von Feierlichkeit gesprochen, die Fröben sonderbar auffiel. Jetzt erst entsann er sich auch, daß er noch nie auf Don Pedros Zimmer gewesen; denn immer hatten sie sich in dem allgemeinen Speisesaal des Gasthofs getroffen. Doch aus allem zusammen glaubte er schließen zu müssen, daß es eine besondere Höflichkeit sei, die ihm der Spanier durch diese Einführung bei sich erzeigen wolle. Nach einer Viertelstunde erschien Diego mit zwei silbernen Armleuchtern, neigte sich ehrerbietig vor dem jungen Mann und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Fröben folgte ihm und bemerkte, als er durch den Saal ging, daß alle Trintgäste neugierig ihm nachschauten und die Köpfe zusammensteckten. Im ersten Stock machte Diego eine Flügeltüre auf und winkte dem Gast, einzutreten.



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Überrascht blieb dieser auf der Schwelle stehen. Sein alter Freund hatte den Frack abgelegt, ein schwarzes geschlitztes Wams mit roten Buffen angezogen und einen langen Degen mit goldenem Griff umgeschnallt , und ein dunkelroter Mantillo fiel ihm über die Schultern. z Feierlich schritt er seinem Gast entgegen und streckte seine dürre Hand aus den reichen Manschetten hervor, ihn zu begrüßen. "Seid mir herzlich willkommen, Don Fröbenio," sprach er, "stoßet Euch nicht an diesem prunklosen Gemach! Auf Reisen, wie Ihr wißt, fügt sich nicht alles wie zu Hause. Weicher allerdings geht es sich in meinem Saale zu Lissabon, und meine Divans sind echt maurische Arbeit; doch setzet Euch immer zu mir auf dies schmale Ding, Sofa genannt, —ist doch der Wein des Herrn Schwaderer echt und gut; setzt Euch!"

Er führte unter diesen Worten den jungen Mann zu einem Sofa; der Tisch vor diesem war mit Konfitüren und Wein besetzt; Diego schenkte ein und brachte Zündstock und Zigarren.

"Schon lange," hub dann Don Pedro an, "schon lange hätte ich gerne einmal so recht vertraulich zu Euch gesprochen, Don Fröbenio , wenn Ihr anders mein Vertrauen nicht gering achtet. Sehet, wenn wir uns oft zur Mittagsstunde vor Lauras Bildnis trafen, da habe ich Euch, wenn Ihr so recht versunken waret in Anschauung, aufmerksam betrachtet, und — vergebt mir, wenn meine alten Augen einen Diebstahl an Euern Augen begingen, —ich bemerkte , daß der Gegenstand dieses Gemäldes noch höheres Interesse für Euch haben müsse und eine tiefere Bedeutung, als Ihr mir bisher gestanden."

Froben errötete; der Alte sah ihn so scharf und durchdringend an als wollte er im innersten Grund seiner Seele lesen. "Es ist wahr," antwortete er, "dieses Bild hat eine tiefe Bedeutung für mich, und Sie haben recht gesehen, wenn Sie glauben, es sei nicht das Kunstwerk , was mich interessiere, sondern der Gegenstand des Gemäldes. Ach, es erinnert mich an den sonderbarsten, aber glücklichsten Moment meines Lebens! Sie werden lächeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich einst ein Mädchen sah, das mit diesem Bild täuschende Ähnlichkeit hatte; ich sah sie nur einmal und nie wieder, und darum gehört es zu meinem Glück, wenigstens ihre holden Züge in diesem Gemälde wiederaufzusuchen."

"O Gott, das ist ja auch mein Fall!" rief Don Pedro.

"Doch lachen werden Sie," fuhr Fröben fort, " wenn ich gestehe, daß ich nur von einem Teil des Gesichtes dieser Dame sprechen kann. Ich weiß nicht, ist sie blond oder braun, ist ihre Stirne hoch oder nieder, ist ihr Auge blau oder dunkel, ich weiß es nicht! Aber diese zierliche Nase, dieser liebliche Mund, diese zarten Wangen, dieses weiche Kinn finde ich auf dem geliebten Bilde, wie ich im Leben geschaut!



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"Sonderbar! — und diese Formen, die sich dem Gedächtnis weniger tief einzudrücken pflegen als Auge, Stirn und Haar, diese sollten, nachdem Ihr nur einmal sie gesehen, so lebhaft in Eurer Seele stehen:

"O Don Pedro!" sprach der Jüngling bewegt, "einen Mund, den man einmal geküßt hat, einen solchen Mund vergißt man so leicht nicht wieder. Doch, ich will erzählen, wie es mir damit ergangen."

"Halt ein, kein Wort!" unterbrach ihn der Spanier. "Ihr würdet mich für sehr schlecht erzogen halten müssen, wollte ich einem Kavalier sein Geheimnis entlocken, ohne ihm das meine zuvor als Pfand gegeben zu haben. Ich will Euch erzählen von der Dame, die ich in jenem sonderbaren Bild erkannte, und wenn Ihr mich dann Eures Vertrauens würdig achtet, so möget Ihr mir mit Eurer Geschichte vergelten. Doch, Ihr trinket ja gar nicht; ist echter spanischer Wein, und ihn müßt Ihr trinken, wenn Ihr mit mir Valencia besuchen w ont."

Sie tranken von dem begeisternden Pietro Ximenes, und der Alte hub an;

6.

"Sennor, ich bin in Granada geboren. Mein Vater kommandierte ein Regiment, und er und meine Mutter stammten aus den ältesten Familien dieses Königreichs. Ich wurde im Christentum und allen Wissenschaften erzogen, die einen Edelmann zieren, und mein Vater bestimmte mich, als ich zwanzig Jahre alt und gut gewachsen war, zum Soldaten. Aber er war ein Mann, streng und ohne Rücksicht im Dienste, und weil er die Zärtlichkeit meiner Mutter für mich kannte und fürchtete, sie möchte ihn oft verhindern, mich meine Pflicht gehörig vollbringen zu machen, beschloß er, mich zu einem anderen Regiment zu schicken, und seine Wahl fiel auf Pampeluna, wo mein Oheim kommandierte. Ich lernte dort den Dienst sorgfältig und genau und brachte es in den folgenden zehn Jahren bis zum Kapitän. Als ich dreißig alt war, wurde mein Oheim nach Valencia versetzt. Er hatte Einfluß und wußte zu bewirken, daß ich ihm schon nach einem halben Jahr als Adjutant folgen konnte. Als ich aber in Valencia ankam, hatte sich in meines Oheims Hauswesen vieles geändert. Er war schon längst, noch in Pampeluna, Witwer geworden. In Valencia lernte er eine reiche Witwe kennen und hatte sie einige Wochen früher, als ich bei ihm eintraf, geheiratet. Sie können denken, wie ich überrascht war, als er mir eine ältliche Dame vorstellte und sie seine Gemahlin nannte; meine Überraschung stieg aber und gewann an Freude, als er auch ein Mädchen, schön wie der Tag, herbeiführte und sie seine



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Tochter Laura, meine Cousine, nannte. Ich hatte bis zu jenem Tage nicht geliebt, und meine Kameraden hatten mich oft deshalb Pedro el pedro (den steinernen Pedro) genannt; aber dieser Stein zerschmolz wie Wachs von den feurigen Blicken Lauras.

"Ihr habt sie gesehen, Don Fröbenio; jenes Bild gibt ihre himmlischen Züge wieder, wenn es anders einem irdischen Künstler möglich ist, die wundervollen Werke der Natur zu erreichen. Ach, gerade so trug sie ihr Haar, so mutig wie auf jenem Gemälde hatte sie das Hütchen mit den wallenden Federn aufgesetzt, und wenn sie ihr dunkles Auge unter den langen Wimpern aufschlug, so war es, als ob die Pforten des Himmels sich öffneten und ein leuchtender Engel freundlich herabgrüßte.

"Meine Liebe, Sennor, war eine freudige; ich konnte ja täglich um sie sein; jene Schranken, die in meinem Vaterlande gewöhnlich die Liebenden trennen und die Liebe schmerzlich, ängstlich, gramvoll und verschlagen machen, jene Schranken trennten uns nicht. Und wenn ich in die Zukunft sah, wie lachend erschien sie mir! Mein Oheim liebte mich wie seinen Sohn; verstand ich seine Winke recht, so schien es ihm nicht unangenehm, wenn ich mich um seine Tochter bewerbe; und von meinem Vater konnte ich kein Hindernis erwarten; denn Laura stammte aus edlem Blute, und der Reichtum ihrer Mutter war bekannt. Wie mächtig meine Liebe war, könnt Ihr schon daraus sehen, daß ich da liebte, wo es so gänzlich ohne Not und Jammer abging. Denn gewöhnlich entsteht die Liebe aus der angenehmen Bemerkung, daß man der Geliebten vielleicht nicht mißfallen habe; wie Feuer unter den Dächern fortschleicht und, durch eine Mauer aufgehalten, plötzlich verzehrend nieder in das Haus und prasselnd auf zum Himmel schlägt, so die Liebe. Die kleine Neigung wächst. Die unüberwindlich scheinenden Hindernisse spornen an; man glaubt eine Glut zu fühlen, die nur im Arm der Geliebten sich abkühlen kann. Man spricht die Dame am Gitter, man schickt ihr Briefe durch die Zofe, man malt im Traume und Wachen ihr Bild, ihre Gestalt so reizend sich vor; denn bisher sah man sie nicht anders als im Schleier und der verhüllenden Mantilla. Endlich, sei es durch List oder Gewalt, fallen die Schranken. Man fliegt herbei, führt die Errungene zur Kirche und —besiehet sich nachher den Schatz etwas genauer. Wie auf dem schönen Wiesengrund , der nur ein Teppich ist, über ein sumpfig Moorland gedeckt, wenn du wie auf fester Erde ausschreitest, deine Füße einsinken und Quellen aus der Tiefe rieseln, so hier. Alle Augenblicke zeigt sich eine neue Laune bei der Dame, alle Tage lüftet sie Schleier und Mantilla ihres Herzens freier, und am Ende stündest du lieber wieder an dem Gitter, Liebesklagen zu singen, um — nie wiederzukehren."



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7.

"Bei Gott, Ihr seid ein scharfer Kritiker," erwiderte Fröben errötend; ; "es liegt in dem, was Ihr saget, etwas Wahres; aber ganz so? Nein, da müßte ja jener Götterfunke, der zündend ins Herz schlägt, jener selige Augenblick, wo die Hälfte einer Minute zum Verständnis hinreicht, müsste lügen, und doch glaube ich an seine himmlische Abkunft. O, ist es mir denn besser ergangen?"

"Ich verstehe, was Ihr sagen wollt," sprach Don Pedro; "jener Moment ist himmlisch schön, aber beruht gar oft auf bitterer Täuschung. Höret weiter! Mich reizten, mich hinderten keine Schranken, und dennoch liebte ich so warm als irgend ein junger Kavalier in Spanien . Das einzige Hindernis konnte Lauras Herz sein, und — ihr Auge hatte mir ja schon oft gestanden, daß es dem meinigen gerne begegne. Alle jene kleinen Beweise meiner Zärtlichkeit, wie man sie in diesem Zustand gibt, nahm Donna Laura gütig auf, und nach einem Vierteljahre erlaubte sie mir, ihr meine Liebe zu gestehen. Die Eltern hatten die Sache längst bemerkt; mein Oheim gab mir seine Einwilligung und sagte, er habe für mich wegen guter Dienste, die ich geleistet, beim König um ein Majorspatent nachgesucht. Mit der Nachricht meines Steigens solle ich dem Vater meine Liebe gestehen und ihn um Einwilligung bitten. Ich gelobte es; ach, warum habe ich's getan! Sollte man nicht immer einen Dämon hinter sich glauben, der uns das Glück wie ein schönes Spielzeug gibt, nur um es plötzlich zu zerschlagen?

"Ich hatte bald nach der Gewißheit meines Glückes mit einem Hauptmann aus einem Schweizer-Regiment Bekanntschaft gemacht, den ich liebgewann und täglich in mein Haus führte. Es war ein schöner blonder Jüngling mit klaren blauen Augen, von weißer Haut und roten Wangen. Er hätte zu weich für einen Soldaten ausgesehen, wenn nicht berühmte Waffentaten, die er ausgeführt, in aller Munde lebten. Um so gefährlicher war er für die Frauen. Seine ganze Erscheinung war so neu in diesem Lande, wo die Sonne die Gesichter dunkel färbt, wo unter schwarzem Haar schwarze Augen blitzen; und wenn er von den Eisbergen, von dem ewigen Schnee seiner Heimat erzählte, so lauschte man gerne auf seine Rede, und manche Dame mochte schon den Besuch gemacht haben, das Eis seines Herzens zu zerschmelzen.

"Eines Morgens kam ein Freund zu mir, der um meine Liebe zu Laura wußte, und gab mir in allerlei geheimnisvollen Reden zu verstehen, ich möchte entweder auf der Hut sein, oder ohne das Majors-Patent meine Base heiraten, indem sonst noch manches sich ereignen könnte, was mir nicht angenehm wäre. war betreten, forschte



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näher und erfuhr, daß Donna Laura bei einer verheirateten Freundin hie und da mit einem Mann zusammenkomme, der, in einen Mantel verhüllt, ins Haus schleiche. Ich entließ den Freund und dankte ihm. Ich glaubte nichts davon; aber ein Stachel von Eifersucht und Mißtrauen war in mir zurückgeblieben. Ich dachte nach über Lauras Betragen gegen mich; ich fand es unverändert; sie war hold, gütig gegen mich wie zuvor, ließ sich die Hand, wohl auch den schönen Mund küssen —aber dabei blieb es auch; denn jetzt erst fiel mir auf, wie kalt sie immer bei meiner Umarmung war, sie drückte mir die Hand nicht wieder, wenn ich sie drückte, sie gab mir keinen Kuß zurück.

"Zweifel quälten mich; der Freund kam wieder, schürte durch bestimmtere Nachrichten das Feuer mächtiger an, und ich beschloß bei mir, die Schritte meiner Dame aufmerksamer zu bewachen. Wir speisten gewöhnlich zusammen, der Oheim, die Tante, meine schöne Base und ich. Am Abend des Tages, als mein Freund zum zweitenmal mich gewarnt, fragte die Tante bei Tische ihre Tochter, ob sie ihr Gesellschaft leisten werde auf dem Balkon.

"Sie antwortete, sie habe ihrer Freundin einen Besuch zugesagt. Unwillkürlich mochte ich sie dabei schärfer angesehen haben; denn sie schlug die Augen nieder und errötete. Sie ging eine Stunde, ehe die Nacht einbrach, zu jener Dame. Als es dunkel wurde, schlich ich mich an jenes Haus und hielt Wache; rasende Eifersucht kam über mich, als ich die Straße herauf, nahe an die Häuser gedrückt, eine verhüllte Gestalt schleichen sah. Ich stellte mich vor die Haustüre; die Gestalt kam näher und wollte mich sanft auf die Seite schieben. Aber ich faßte sie am Gewand und sprach: ,Sennor, wer Ihr auch seid, in diesem Augenblick glaube ich einen Mann von Ehre vor mir zu haben, und bei Eurer Ehre fordere ich Euch auf, steht mir Rede!'

"Bei dem ersten Ton meiner Stimme sah ich ihn zusammenschrecken; er besann sich eine kleine Weile und entgegnete dann: ,Was soll es?- "

",Schwört mir bei Eurer Ehre,' fuhr ich fort, ,daß Ihr nicht wegen Donna Laura di Tortosi in dieses Haus geht.'

"Wer erkühnt sich, mir über meine Schritte Rechenschaft abzufordern?' rief er mit dumpfer, verstellter Stimme. An seiner Aussprache merkte ich, daß er ein Fremder sein müsse; eine düstere Ahnung ging in meiner Seele auf. ,Der Kapitän di San Montanjo wagt es,' antwortete ich und riß ihm, ehe er sich dessen versah, den Mantel vom Gesicht — es war mein Freund Tannensee, der Schweizer.

"Er stand da wie ein Verbrecher, keines Wortes mächtig. Aber ich hatte meinen Degen blank gezogen, und sprachlos vor Wut deutete ich ihm an, dasselbe zu tun. ,Ich habe keine Waffen bei mir als einen Dolch,' erwiderte er. Schon war ich willens, ihm ohne Zögern den



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Degen in den Leib zu rennen; aber als er so regungslos auf alles gefaßt vor mir stand, konnte ich das Schreckliche nicht vollbringen. Ich behielt noch soviel Fassung, daß ich ihn bestimmte, am anderen Morgen vor dem Tor der Stadt mir Rechenschaft zu geben. Die Türe hielt ich besetzt; er sagte zu und ging.

"Noch lange hielt ich Wache, bis endlich die Sänfte für Laura gebracht wurde, bis ich sie einsteigen sah; dann folgte ich ihr langsam nach Hause. Die Qualen der Eifersucht ließen mich keinen Schlaf auf meinem Lager finden, und so hörte ich, wie sich um Mitternacht Schritte meiner Türe näherten. Man pochte an; verwundert warf ich meinen Mantel um und schloß auf; es war die alte Dienerin Lauras, die mir einen Brief übergab und eilends wieder davonging.

"Sennor! Gott möge Euch vor einem ähnlichen Brief in Gnaden bewahren! Sie gestand mir, daß sie den Schweizer längst geliebt habe, als sie mich noch gar nicht kannte; daß sie aus Furcht vor dem Zorn ihrer Mutter, die alle Fremden hasse, ihn immer zurückgehalten, um sie zu werben; daß sie, von den Drohungen meiner Tante genötigt, meine Anträge sich habe gefallen lassen. Sie nahm alle Schuld auf sich, sie schwur mit den heiligsten Eiden, daß Tannensee mir oft habe alles gestehen wollen und nur durch ihr Flehen, durch ihre Furcht, nachher strenger verwahrt zu werden, sich habe zurückhalten lassen. Sie deutete mir ein schreckliches Geheimnis an, das die Ehre der Familie beflecken werde, wenn ich ihr und dem Hauptmann nicht zur Flucht verhelfe. Sie beschwor mich, von meinem Streit abzustehen; denn wenn er falle, so bleibe ihr, seiner Gattin , nichts übrig, als sich das Leben zu nehmen. Sie schloß damit, meine Großmut anzurufen; sie werde mich ewig achten , aber niemals lieben.

"Ihr werdet gestehen, daß ein solcher Brief, gleich kaltem Wasser, alle Flammen der Liebe löschen kann; er löschte sogar zum Teil meinen Zorn. Aber vergeben konnte ich es meiner Ehre nicht, daß ich betrogen war; darum stellte ich mich zur bestimmten Stunde auf dem Kampfplatz ein. Der Kapitän mochte tief fühlen, wie sehr er mich beleidigt ; obgleich er ein besserer Fechter war als ich, verteidigte er sich nur, und nicht seine Schuld ist es, daß ich meine Hand hier zwischen Daumen und Zeigefinger in seinen Degen rannte, so daß ich außerstand war, weiter zu fechten. Ich gab ihm, während ich verbunden wurde, Lamas Brief. Erlas, er bat mich flehend, ihm zu vergeben, ich tat es mit schwerem Herzen.

"Die Geschichte meiner Liebe ist zu Ende, Don Fröbenio; denn fünf Tage darauf war Donna Laura mit dem Schweizer verschwunden .

"Und mit Ihrer Hilfe?" fragte Fröben.

"Ich half, so gut es ging. Freilich war der Schmerz meiner Tante



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groß; aber in diesen Umständen war es besser, sie sah ihre Tochter nie wieder, als daß Unehre über das Haus kam."

"Edler Mann! Wie unendlich viel muß Sie dies gekostet haben! Wahrhaftig, es war eine harte Prüfung."

"Das war es," antwortete der Alte mit düsterem Lächeln. "Anfangs glaubte ich, diese Wunde werde nie vernarben; die Zeit tut viel, mein Freund! Ich habe sie nie wiedergesehen, nie von ihnen gehört; nur einmal nannten die Zeitungen den Obrist Tannensee als einen tapferen Mann, der unter den Truppen Napoleons in der Schlacht von Brienne dem Feinde langen Widerstand getan habe. Ob es derselbe ist, ob Laura noch lebt, weiß ich nicht zu sagen.

"Als ich aber in diese Stadt kam, jene Galerie besuchte und nach zwanzig langen Jahren meine Laura wiedererblickte, ganz so, wie sie war in den Tagen ihrer Jugend, da brachen die alten Wunden wieder auf, und — nun, Ihr wisset, daß ich sie täglich besuche."

8.

Mit umständlicher Gravität, wie es dem Haushofmeister eines p . . . .schen Prinzen, einem Mann aus altkastilischem Geschlechte geziemte, hatte Don Pedro di San Montanjo Ligez seine Geschichte vorgetragen . Als er geendet, trank er einigen Seies, lüftete den Hut, strich sich über atime und Kinn und sagte zu dem jungen Mann an seiner Seite: "Was ich wenigen Menschen vertraut, habe ich Euch umständlich erzählt, Don Fröbenio, nicht um Euch zu locken, mir mit gleichem Vertrauen zu erwidern, obgleich Euer Geheimnis so sicher in meiner Brust ruhte als der Staub der Könige von Spanien im Eskunal! — Obgleich ich gespannt bin, zu wissen, inwiefern Euch jene Dame interessiert, —aber Neugierde ziemt dem Alter nicht, und damit gut!"

Fröben dankte dem Alten für seine Mitteilung. "Mit Vergnügen werde ich Ihnen meinen kleinen Roman zum besten geben," sagte er lächelnd; " er betrifft keiner Dame Geheimnisse und endet schon da, wo andere anfangen. Aber wenn Sie erlauben, werde ich morgen erzählen; denn für heute möchte es wohl zu spät sein."

"Ganz nach Eurer Bequemlichkeit," erwiderte der Don, seine Hand drückend. "Euer Vertrauen werde ich zu ehren wissen." So schieden sie; der Spanier begleitete den jungen Mann höflich bis an die Schwelle seines Vorsaals, und Diego leuchtete ihm bis in die Straße.

Nach seiner Gewohnheit ging Fröben den Tag nachher in die Galerie; er stand lange vor dem Bilde, und wirklich dachte er an



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diesem Tage mehr an den Alten denn an die gemalte Dame; aber er wartete über eine Stunde —der Alte kam nicht. Erging mit dem Schlag zwei Uhr in die Anlagen, ging langsamen (l) ritte:: um den See, vorbei an schönen Equipagen, noch schöneren Damen, vorbei an unzähligen Direktoren und Leutnants, zog oft sein Fernglas und schaute die lange Promenade hinab; aber die ehrwürdige Gestalt seines alten Freundes wollte sich nicht zeigen; umsonst schaute er nach den dünnen schwarzen Beinen, nach dem spitzen Hut, umsonst nach Diego in den bunten Kleidern, mit Sonnenschirm und Regenmantel; er war nicht zu sehen. "Sollte er krank geworden sein ? fragte er sich. und unwillkürlich ging er nach dem Schloßplatz hin und nach dem Gasthof zum "König von England", um Don Pedro zu besuchen "Fort ist die ganze Wirtschaft, auf und davon," antwortete auf seine Frage der Oberkellner, "gestern abend noch bekam der Prinz Depeschen, und heute vormittag sind Seine Hoheit nebst Gefolge in sechs Wagen nach W. abgereist; der Haushofmeister, er fuhr im zweiten, hat für Sie eine Karte hier gelassen."

Begierig griff Fröben nach diesem letzten Freundeszeichen. Es war nur Don Pedro di San Montanio Ligez, Major Rio di S. A. usw. darauf zu lesen. Verdrießlich wollte Fröben diesen kalten Abschied einstecken; da gewahrte er auf der Rückseite noch einige Worte mit der Bleifeder geschrieben; er las: "Lebt wohl, teurer Don Fröbenio! Eure Geschichte müßt Ihr mir schuldig bleiben; grüßet und küsset Donna Laura!"

Er lächelte über den Auftrag des alten Herrn, und doch, als er in den nächsten Tagen wieder vor dem Bilde stand, war er wehmütiger als je; denn es war in seinem Leben eine Lücke entstanden durch Don Pedros Abreise. Er hatte sich so gerne mit dem guten Alten unterhalten, er hatte seit langer Zeit zum erstenmal wieder in einem genaueren Verhältnis mit Menschen gelebt, und deutlicher als je fühlte er jetzt, daß nur der Einsame, der Hoffnungslose ganz unglücklich ist. Wäre das Bild nicht gewesen, das ihn mit seinem eigentümlichen Zauber zurückhielt, schon längst hätte er Stuttgart verlassen, das sonst keine Reize für ihn hatte. Als ihm daher eines Tages die Herren Baisse ria die treue Kopie jenes lieben Bildes, ein litho graphiertes Blatt, zeigten und ihn damit beschenkten, nahm er es als einen Wink des Schicksals auf, verabschiedete sich von dem Urbild, packte die Kopie sorgfältig ein und verlieh diese Stadt so stille, als er sie betreten hatte.



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9.

Sein Aufenthalt in Stuttgart hatte nur dem Bilde gegolten, das er in jener Galerie gefunden. Er war, als er die Hauptstadt Württembergs berührte, auf einer Reise nach dem Rhein begriffen, und dahin zog er nun weiter. Er gestand sich selbst, daß ihn die letzten Monate beinahe allzuweich gemacht halten. Er fühlte nicht ohne Beschämung und leises Schaudern, daß sein Trübsinn, sein ganzes Dichten und Trachten schon an Narrheit gestreift hatten. Er war zwar unabhängig, hatte dieses Jahr noch zu Reisen bestimmt, ohne sich irgend einen festen Plan, ein Ziel zu setzen; er wollte diese lange Unterbrechung seiner Reise auf die angenehme Lage der Stadt, auf die herrlichen Umgebungen schieben. Aber hatte er denn wirklich) jene Stadt so angenehm gefunden? Hatte er Menschen aufgesucht, kennen gelernt? Hatte er sie nicht vielmehr gemieden, weil sie seine Einsamkeit, die ihm so lieb geworden, störten ? Hatte er die herrlichen Umgebungen genossen? "Nein," sagte er lächelnd zu sich, " man wäre versucht, an Zauberei zu glauben! Ich habe mich betragen wie ein Tor, habe mich eingeschlossen in mein Zimmer, um zu lesen. Und habe ich denn wirklich gelesen? Stand nicht ihr Bild auf jeder Seite? Gingen meine Schritte weiter als zu ihr , oder um einmal allein unter dem Gewühl der Menge auf- und abzugehen? Ist es nicht schon Raserei, auf so langen Wegen einem Schatten nachzujagen, jedes Mädchengesicht aufmerksam zu betrachten, ob ich nicht den holden Mund der unbekannten Geliebten wiedererkenne?"

So schalt sich der junge Mann, glaubte recht feste Vorsätze zu fassen, und — wie oft, wenn sein Pferd langsamer bergan geschritten war, vergaß er oben, es anzutreiben, weil seine Seele auf anderen Wegen schweifte; wie oft, wenn er abends sein Gepäck öffnete und ihm die Rolle in die Hände fiel, entfaltete er unwillkürlich das Bild der Geliebten und vergaß, sich zur Ruhe zu legen.

Aber die reizenden Gebirgsgegenden am Neckar, die herrlichen Fluren von Mannheim, Worms, Mainz verfehlten auch auf ihn den eigentümlichen Eindruck nicht. Sie zerstreuten ihn, sie füllten seine Seele mit neuen, freundlichen Bildern. Und als er eines Morgens von Bingen aufbrach, stand um ein Bild vor seinem Auge, ein Bild, das er noch heute erblicken sollte. Fröben hatte mit einem Landsmann Frankreich und England bereist, und aus dem Gesellschafter war ihm nach und nach ein Freund erwachsen. Zwar mußte er, wenn er über ihre Freundschaft nachdachte, sich selbst gestehen, daß Übereinstimmung der Charaktere sie nicht zusammenführte; doch oft pflegt es ja zu geschehen, daß gerade das Ungleiche sich heißer liebt als das Ähnliche. Der Baron von Faldner war etwas roh, ungebildet;



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selbst jene Reise, das bewegte Leben zweier Hauptstädte wie Paris und London, hatte nur seine Außenseite etwas abschleifen und mildern können. Er war einer jener Menschen, die, weil sie durch fremde oder eigene Schuld gewählte Lektüre, feinere tiefere Kenntnisse und die bildende Hand der Wissenschaften verschmähten, zu der Überzeugung kamen, sie seien praktische Menschen, d. h. Leute, die in sich selbst alles tragen, um was sich andere, es zu erlernen, abmühen, die einen natürlichen Begriff von Ackerbau, Viehzucht, Wirtschaft und dergleichen haben und sich nun für geborene Landwirte, für praktische Haushälter ansehen, die auf dem natürlichsten Wege das zu erreichen glauben, was die Masse in Büchern sucht. Dieser Egoismus machte ihn glücklich; denn er sah nicht, auf welchen schwachen Stützen sein Wissen beruhte; noch glücklicher wäre er wohl gewesen, wenn diese Eigenliebe bei den Geschäften stehen geblieben wäre; aber er trug sie mit sich, wohin er ging, erteilte Rat, ohne welchen anzunehmen, hielt sich, was man ihm nicht gerade nachsagte, für einen klugen Kopf und ward durch dieses alles ein unangenehmer Gesellschafter und zu Hause vielleicht ein kleiner Tyrann, aus dem einfachen Grund, weil er klug war und immer recht hatte.

"Ob er wohl sein Sprichwort noch an sich hat," fragte sich Fröben lächelnd, "das unabwendbare: ,Das habe ich ja gleich gesagt!' Wie oft, wenn er am wenigsten daran dachte, daß etwas gerade so geschehen werde, wie oft faßte er mich da bei der Hand und schrie: .Freund Froben, sag an, hab' ich es nicht schon vor vier Wochen gesagt, daß es so kommen würde? Warum habt Ihr mir nicht gefolgt?' Und wenn ich ihm sonnenklar bewies, daß er zufällig gerade das Gegenteil behauptet habe, so ließ er sich unter keiner Bedingung davon abbringen und grollte drei, vier Tage lang."

Fröben hoffte, Erfahrung und die schöne Natur um ihn her werden seinen Freund weiser gemacht haben. An einer der reizendsten Stellen des Rheintals, in der Nähe von Caub, lag sein Gut, und je näher der Reisende herabkam, desto freudiger schlug sein Herz über alle diese Herrlichkeit der Berge und des majestätischen Flusses, uni so öfter sagte er zu sich: "Nein, er muß sich geändert haben; in diesen Umgebungen kann man nur hingebend, nur freundlich und teilnehmend sein, und im Genuß dieser Aussicht muß man vergessen, wenn man auch wirklich recht hat, was bei ihm leider der seltene Fall ist."



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10.

Gegen Abend langte er auf dem Gute an; er gab sein Pferd vor dem Hause einem Diener, fragte nach seinem Herrn und wurde in den Garten gewiesen. Dort erkannte er schon von weitem Gestalt und Stimme seines Freundes. Erschien in diesem Augenblick mit einem alten Mann, der an einem Baum mit Graben beschäftigt war, heftig zu streiten. "Und wenn Ihr es auch hundert Jahre nach dem alten Schlendrian gemacht habt statt fünfzig, so muß der Baum doch so herausgenommen werden, wie ich sagte. Nur frisch daran, Alter! Es kömmt bei allem nur darauf an, daß man klug darüber nachdenkt." Der Arbeiter setzte seufzend die Mütze auf, betrachtete noch einmal mit wehmütigem Blick den schönen Apfelbaum und stieß dann schnell, wie es schien, unmutig, den Spaten in die Erde, um zu graben. Der Baron aber pfiff ein Liedchen, wandte sich um, und vor ihm stand ein Mensch, der ihn freundlich anlächelte und ihm die Hand entgegenstreckte. Er sah ihn verwundert an. "Was steht zu Dienst?" fragte er kurz und schnell.

"Kennst du mich nicht mehr, Faldner?" erwiderte der Fremde. "Solltest du bei deiner Baumschule London und Paris so ganz vergessen haben?"

"Ist's möglich, mein Fröben!" rief jener und eilte, den Freund zu umarmen. "Aber, mein Gott, wie hast du dich verändert! Du bist so bleich und mager; das kömmt von dem vielen Sitzen und Arbeiten; daß du auch gar keinen Rat befolgst! Ich habe dir ja immer gesagt, es tauge nicht für dich."

"Freund," entgegnete gröben, den dieser Empfang unwillkürlich an seine Gedanken unterwegs erinnerte, "Freund, denke doch ein wenig nach! Hast du mir nicht immer gesagt, ich tauge nicht zum Landwirt, nicht zum Forstmann und dergleichen, und ich müßte eine juridische oder diplomatische Laufbahn einschlagen?"

"Ach, du guter Fröben!" sagte jener, zweideutig lächelnd, "so laborierst du noch immer an einem kurzen Gedächtniss Sagte ich nicht schon damals —"

"Bitte, du hast recht, streiten wir nicht!" unterbrach ihn sein Gast, "laß uns lieber Vernünftigeres reden, wie es dir erging, seit Wir uns nicht sahen, wie du lebst!"

Der Baron ließ Wein in eine Laube setzen und erzählte von seinem Leben und Treiben. Seine Erzählung bestand beinahe in nichts als in Klagen über schlechte Zeit und die Torheit der Menschen. Er gab nicht undeutlich zu verstehen, daß er es in den wenigen Jahren mit seinem hellen Kopf und den Kenntnissen, die er auf Reisen gesammelt , in der Landwirtschaft weit gebracht habe. Aber bald



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hatten ihm seine Nachbarn unberufen dies oder jenes abgeraten, bald hatte er unbegreifliche Widerspenstigkeit unter seinen Arbeitern selbst gefunden, die alles besser wissen wollten als er und in ihrer Verblendung sich auf lange Erfahrung stützten. Kurz, er lebte, wie er gestand, ein Leben voll ewiger Sorgen und Mühen, voll Hader und Zorn, und einige Prozesse wegen Grenzstreitigkeiten verbitterten ihm noch die wenigen frohen Stunden, die ihm die Besorgung seines Gutes übrigließ. "Armer Freund"' dachte Fröben unter dieser Erzählung; "so reitest du noch dasselbe Steckenpferd, und es geht wie der wildeste Renner mit dir durch, ohne daß du es zügeln kannst."

Doch die Reihe zu erzählen kam auch an den Gast, und er konnte seinem Freund in wenigen Worten sagen, daß er an einigen Höfen bei Gesandtschaften eingeteilt gewesen sei, daß er sich überall schlecht unterhalten, einen langen Urlaub genommen habe und jetzt wieder ein wenig in der Welt umherziehe.

"Du Glücklicher! rief Faldner. "Wie beneide ich dir deine Verhältnisse; heute hier, morgen dort, kennst keine Fesseln und kannst reisen, wohin und wie lange du willst. Es ist etwas Schönes um das Reisen! Ich wollte, ich könnte auch noch einmal so frei hinaus in die Welt!"

"Nun, was hindert dich denn?" rief Froben lachend; "deine große Wirtschaft doch nicht? Die kannst du alle Tage einem Pächter geben, läßt dein Pferd satteln und ziehest mit mir!"

"Ach, das verstehst du nicht, Bester!" erwiderte der Baron verlegen lächelnd. "Einmal, was die Wirtschaft betrifft, da kann ich keinen Tag abwesend sein, ohne daß alles quer geht; denn ich bin doch die Seele des Ganzen. Und dann —ich habe einen dummen Streich gemacht —doch laß das gut sein! Es geht einmal nicht mehr mit dem Reisen."

In diesem Augenblicke kam ein Bedienter in die Laube, berichtete, daß die gnädige Frau zurückgekommen sei und anfragen lasse, wo man den Tee servieren solle.

"Ich denke, oben im Zimmer," sagte er leicht errötend, und der Diener entfernte sich.

"Wie, du bist verheiratet?" fragte Fröben erstaunt. "Und das erfahre ich jetzt erst! Nun, ich wünsche Glück; aber sage mir doch — ich hätte mir ja eher des Himmels Einfall träumen lassen als diese Neuigkeit; und seit wann?"

"Seit sechs Monaten," erwiderte der Baron kleinlaut und ohne seinen Gast anzusehen; "doch wie kann dich dies so in Erstaunen setzen; du kannst dir denken, bei meiner großen Wirtschaft, da ich alles selbst besorge, so —"

"Je nun, ich finde es ganz natürlich und angemessen; aber wenn



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ich zurückdenke, wie du dich früher über das Heiraten äußertest, da dachte ich nie daran, daß dir je ein Mädchen recht sein würde."

"Nein, verzeihe!" sagte Faldner, "ich sagte ja immer und schon damals —"

"Nun ja, du sagtest ja immer und schon damals," rief der junge Mann lächelnd, "und schon damals und immer sagte ich, daß du nach deinen Prätensionen keine finden würdest; denn diese gingen auf ein Ideal, das ich nicht haben möchte und wohl auch nicht zu finden war. Doch noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch! Da aber eine Dame im Hause ist, die uns zum Tee ladet, so kann ich doch wahrlich nicht so in Reisekleidern erscheinen; gedulde dich nur ein wenig, ich werde bald wieder bei dir sein. Auf Wiedersehen!"

Er verließ die Laube, und der Baron sah ihm mit trüben Blicken nach. "Er hat nicht unrecht," flüsterte er.

Doch in demselben Augenblick trat eine hohe weibliche Gestalt in die Laube. "Wer ging soeben von dir?" fragte sie schnell und hastig. "Wer sprach dies auf Wiedersehen?"

Der Baron stand auf und sah seine Frau verwundert an; er bemerkte, wie die sonst so zarte Farbe ihrer Wangen in ein glühendes Rot übergegangen war. "Nein, das ist nicht auszuhalten!" rief er heftig. "Josephe, wie oft muß ich dir sagen, daß Hufeland Leuten von deiner Konstitution jede allzurasche Bewegung streng untersagt; wie du jetzt glühst! Du bist gewiß wieder eine Strecke zu Fuß gegangen und hast dich erhitzt und gehst jetzt gegen alle Vernunft noch in den Garten hinab, wo es schon kühl ist. Immer und ewig muß ich dir alles wiederholen wie einem Kind; schäme dich!"

"Ach, ich habe dich ja nur abholen wollen," sagte Josephe mit zitternder Stimme; "werde nur nicht gleich so böse! Ich bin gewiß den ganzen Weg gefahren und bin auch gar nicht erhitzt. Sei doch gut!"

"Deine Wangen widersprechen," fuhr er mürrisch fort. "Muß ich denn auch dir immer predigen? Und den Schal hast du auch nicht umgelegt, wie ich dir sagte, wenn du abends noch herab in den Garten gehst; wozu werfe ich denn das Geld zum Fenster hinaus für dergleichen Dinge, wenn man sie nicht einmal brauchen mag? O Gott! ich möchte oft rasend werden. Auch nicht das Geringste tust du mir zu Gefallen; dein ewiger Eigensinn bringt mich noch um. O, ich möchte er

"Bitte, verzeihe mir, Franz!" bat sie wehmütig, indem sie große Tränen im Auge zerdrückte; "ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen und wollte dich hier überraschen; ach, ich dachte ja nicht mehr an das Tuch und an den Abend. Vergib mir! Willst du deinem Weib vergeben?"



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"Ist ja schon gut, laß mich doch in Ruhe, du weißt, ich liebe solche Szenen nicht; und gar vollends Tränen! Gewöhne dir doch um Gottes willen die fatale Weichlichkeit ab, über jeden Bettel zu weinen! — haben einen Gast, Froben, von dem ich dir schon erzählte, er reiste mit mir. Führe dich vernünftig auf, Josephe, hörst du? Laß es an nichts fehlen, daß ich nicht auch noch die Sorgen der Haushaltung auf mir haben muß! Im Salon wird der Tee getrunken."

Er ging schweigend ihr voran die Allee entlang nach dem Schlosse. Trübe folgte ihm Josephe; eine Frage schwebte auf ihren Lippen; aber so gern sie gesprochen hätte, sie verschloß diese Frage wieder tief in ihre Brust.

11.

Als der Baron spät in der Nacht seinen Gast auf sein Zimmer begleitete, konnte sich dieser nicht enthalten, ihm zu seiner Wahl Glück zu wünschen. "Wahrhaftig, Franz," sagte er, indem er ihm feurig die Hand drückte, " ein solches Weib hat dir gefehlt. Du warst ein Glückskind von jeher; aber das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß du bei deinen sonderbaren Maximen und Forderungen ein solch liebenswürdiges, herrliches Kind heimführen werdest."

"Ja, ja, ich bin mit ihr zufrieden," erwiderte der Baron trocken, indem er seine Kerze heller aufstörte; " man kann ja nicht alles haben! An diesen Gedanken muß man sich freilich gewöhnen auf dieser unvollkommenen Welt."

"Mensch! Ich will nicht hoffen, daß du undankbar gegen so vieles Schöne bist. Ich habe viele Frauen gesehen, aber weiß Gott, keine von solch untadelhafter Schönheit wie dein Weib. Diese Augen! Welch rührender Ausdruck! Glaubt man nicht liebliche Träume auf ihrer schönen Stirne zu lesen? Und diese zarte, schlanke Gestalt! Und ich weiß nicht, ob ich ihren feinen Takt, ihr richtiges Urteil, ihren gebildeten Geist nicht noch mehr bewundern soll."

"Du bist ja ganz bezaubert," lächelte Faldner; "doch von jeher hast du zuviel gelesen und weniger aufs Praktische gesehen; ich sagte es ja immer — mit den Weibern ist es ein eigenes Ding," fuhr er seufzend fort, "glaube mir, in der Wirtschaft ist oft eine, die es versteht und die Sache flink umtreibt, besser als ein sogenannter gebildeter Geist. Gute Nacht! Sei froh, daß du noch frei bist und — wähle nicht zu rasch!"

Unmutig sah ihm ,gröben nach, als er das Zimmer verlassen hatte. "Ich glaube, der Unmensch ist auch jetzt nicht mit seinem Lose zufrieden; hat einen Engel gewählt und schafft sich durch seine lächerlichen Prätensionen eine Hölle im Hause. Das arme Weib."



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Es war ihm nicht entgangen, wie ängstlich sie bei allem, was sie tat und sagte, an seinen Blicken hing, wie er ihr oft ein grimmiges Auge zeigte, wenn sie nach seinen Begriffen einen Fehler begangen, wie er ihr oft mit der Hand winkte, die Lippen zusammenbiß und stöhnte, wenn er glaubte, von dem Gast nicht gesehen zu werden. Und mit welcher Engelsgeduld trug sie dies alles! Sie hatte tiefen, wunderbaren Eindruck auf ihn gemacht. Das reiche blonde Haar, das um eine freie Stirne fiel, ließ blaue Augen, rote Wangen, vielleicht auch ein Näschen erwarten, das durch seine zierliche Keckheit Blondinen mehr als Brünetten ziert. Aber von diesem allem nichts. Unter den blonden Wimpern ruhte, wie das Mondlicht hinter dünnen Wolken, ein braunes Auge, das nicht durch Glut oder große Lebendigkeit , sondern durch ein gewisses Etwas von sinnender Schwermut überraschte, das Froben bei schönen Frauen, so selten er es fand, so unendlich liebte. Ihre Nase näherte sich dem griechischen Stamm, die Wangen waren gewöhnlich bleich, nur von einem leisen Schatten von Rot unterlaufen, und das einzige, was in ihrem Gesichte blühte, waren statt der Rosen der Wangen die Lippen, bei deren Anblick man sich des Gedankens an zarte, rote Kirschen nicht erwehren konnte.

"Und diese herrliche Gestalt," fuhr Fröben in seinen Gedanken weiter fort, "so zart, so hoch und, wenn sie über das Zimmer geht, beinahe schwebend! Schwebend? Als ob ich nicht gesehen hätte, daß sie recht schwer zu tragen hat, daß die Lippen so manches Wort des Grams verschließen, daß die Augen nur auf die Einsamkeit warten, um über den rohen Gatten zu weinen! Nein, es ist unmöglich," fuhr er nach einigem Sinnen fort, "sie kann ihn nicht aus Liebe geheiratet haben. Die Welt, die hinter diesem Auge liegt, ist zu groß für Faldners Verstand, das Herz seines Weibes zu zart für den rohen Druck ihres Haustyrannen. Ich bedaure sie!"

Er war während dieser Worte an einen Schrank getreten, worin die Diener sein Reisegeräte niedergelegt hatten. Erschloß ihn auf; sein erster Blick fiel auf die wohlbekannte Rolle, und er errötete. "Bin ich dir nicht ungetreu gewesen diesen Abend?" fragte er. "Hat nicht ein anderes Bild sich in mein Herz geschlichen? Ja, und ertappe ich mich nicht auf Reflexionen über das Weib meines Freundes, die mir nicht ziemen, die ihr auf jeden Fall nichts nützen können?" Er entrollte das Bild der Geliebten und blieb betroffen stehen. Wie ein Gedanke , der bisher in ihm schlummerte und verworren träumte, erwachte es jetzt mit einem Male in ihm, daß die Frau von Faldner wunderbare Ähnlichkeit mit diesem Bilde habe. Zwar waren ihre Haare, ihre Augen, ihre Stirne gänzlich verschieden von denen des Bildes; aber überraschende Ähnlichkeit glaubte er in Nase, Mund und Kinn, ja sogar in der Haltung des zierlichen Halses zu finden. "Und



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diese Stimme!" rief er. "Klang mir diese Stimme nicht gleich anfangs so bekannt? Wie ist mir denn? Wäre es möglich, daß die Gattin meines Freundes jenes Mädchen wäre, die ich nur einmal, nur halb gesehen und ewig liebe und von jenem Augenblicke an vergebens suche? Diese Gestalt —ja, auch sie war groß, und als ich den Mantel umschlang, als sie an meinem Herzen ruhte, fühlte ich eine feine, schlanke Taille. Und begegnete ich nicht heute abend so oft ihrem Auge, das prüfend auf mir ruhte? Sollte auch sie mich wiedererkennen? Doch —ich Tor! Wie könnte Faldner bei seinem Mißtrauen, bei seinen strengen Grundsätzen über Adel und unbescholtenen Ruf eine — unbekannte Bettlerin geheiratet haben?"

Er sah wieder prüfend auf das Bild herab; er glaubte in diesem Augenblick Gewißheit zu haben, im nächsten zweifelte er wieder. Er klagte sein treuloses Gedächtnis an. Hatte nicht dieses Gemälde sich so ganz mit seinen früheren Erinnerungen vermischt, daß er die Unbekannte sich nicht mehr anders dachte als wie dieses Bild? Und nun, da er auf eine neue, auffallende Ähnlichkeit gestoßen, stand er nicht vor einem Labyrinth von Zweifeln? Er warf das Gemälde auf die Seite und verbarg seine heiße Stirn in die Kissen seines Bettes. Er wünschte sich tiefen Schlaf herbei, damit er diesen Zweifeln entgehe, daß ihm das wahre Bild mit siegender Kraft in seinen Träumen aufgehe.

12.

Als Fröben am anderen Morgen in den Salon trat, wo er frühstücken sollte, war sein rastloser Freund schon ausgeritten, um eine Dammarbeit an der Grenze seines Gutes zu besichtigen. Der Diener, der ihm diese Nachricht gab, setzte mit wichtiger Miene hinzu, daß sein Herr wohl kaum vor Mittag zurückkommen dürfte, weil er noch seine neue Dampfmühle, einige Schläge im Wald, eine neue Gartenanlage nebst vielem anderen besichtigen müsse. "Und die gnädige Frau?" fragte der Gast.

"War schon vor einer Stunde im Garten, um Bohnen abzubrechen, und wird jetzt bald zum Frühstück hier sein."

Froben ging im Saal umher und musterte in Gedanken den vergangenen Abend. Wie anders erscheinen alle Bilder in der Morgenbeleuchtung , als sie uns im Duft des Abends erschienen! Auch mit den verworrenen Gedanken, die gestern in ihm auf und abschwebten, ging es ihm so; er lächelte über sich selbst, über die Zweifel, die ihm seine rege Phantasie aufgeweckt hatte. "Der Baron," sprach er zu sich, "ist am Ende doch ein guter Mensch; freilich viele Eigenheiten,



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einige Rohheit, die aber mehr im Äußern liegt; aber wer länger mit ihm umgeht, gewöhnt sich daran, weiß sich darein zu finden. Und Josephe, —wie vorschnell man oft urteilt! Wie oft glaubte ich rührenden Kummer, tiefe Seelenleiden, Resignation in den Augen, in den Mienen einer Frau zu lesen, ließ mich vom Teufel blenden, sie recht zart trösten und aufrichten zu wollen, und am Ende lag der ganze Zauber in meiner Einbildung; es war dann, näher betrachtet, eine ganz gewöhnliche Frau, die mit den sinnenden Augen, worin ich Wehmut sah, ängstlich die Augen an ihrem Strickstrumpf zählte oder hinter der von Gram umwölkten Stirne bedachte, was sie auf den Abend kochen lassen wollte." Er verfolgte diese Gedanken, um sich selbst mit Ironie zu strafen, um die zartere Empfindung, jene Nachklänge von gestern, zu verdrängen, die ihm heute töricht, überspannt erschienen. In diese Gedanken versunken, war er an den Spiegel getreten und hatte die Besuchkarten überlesen, die dort angesteckt waren. Da fiel ihm eine in die Hand, welche Faldners eigene Verlobung ankündigte. Er las die zierlich gestochenen Worte. "Freiherr F. von Faldner mit seiner Braut Josephe von Tannensee."

"Von Tannensee?" Wie ein Blitz erleuchtete ihm dieser Name jene dunkle Ähnlichkeit, die er zwischen der Gattin seines Freundes und seinem lieben Bilde gefunden. Wie? Wäre sie vielleicht die Tochter jener Laura, die einst mein guter Don Pedro geliebt? Welche Freude für ihn, wenn es so wäre, wenn ich ihm von der Verlorenen Nachricht geben könnte! Fand er nicht in jenem wunderbaren Bilde die täuschendste Ähnlichkeit mit seiner Cousine? Kann nicht die Tochter der Mutter gleichen?

Er verbarg die Karte schnell, als er die Türe gehen hörte; er sah sich um, und —Josephe schwebte herein. War es das zierliche Morgenkleid, das ihre zarte Gestalt umschloß — war ihr die Beleuchtung des Tages günstiger als das Kerzenlicht? Sie kam ihm in diesem Augenblick noch unendlich reizender vor als gestern. Ihre Locken flatterten noch kunstlos um die Stirne, der frische Morgen hatte ein feines Rot auf ihre Wangen gehaucht, sie lächelte zu ihrem Morgengruß so freundlich , und doch mußte er sich schon in diesem Augenblick einen Toren schelten; denn ihre Augen erschienen ihm trübe und verweint.

13.

Sie lud ihn ein, sich zu ihr zum Frühstück zu setzen. Sie erzählte ihm, daß Faldner schon mit Tagesanbruch weggeritten sei und ihr seine Enschuldigung aufgetragen habe; sie beschrieb die mancherlei Geschäfte, die er heute vornehme und die ihn bis zu Mittag



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zurückhalten werden. "Er hat ein Leben voll Sorgen und Mühen," sagte sie; "aber ich glaube, daß diese Geschäftigkeit ihm zum Bedürfnis geworden ist."

"Und ist dies nur in diesen Tagen so?" fragte Froben; "ist jetzt gerade besonders viel zu tun auf den Gütern?"

"Das nicht," erwiderte sie, "es geht alles seinen gewöhnlichen Gang; er ist so, seit ich ihn kenne. Er ist rastlos in seinen Arbeiten. Diesen Frühling und Sommer verging kein Tag, an welchem er nicht auf dem Gute beschäftigt gewesen wäre."

"Da werden Sie sich doch oft recht einsam fühlen," sagte der junge Mann, "so ganz allein auf dem Lande, und Faldner den ganzen Tag entfernt."

"Einsam " erwiderte sie mit zitterndem Ton und beugte sich nach einem Tischchen an der Seite; und Fröben sah im Spiegel, wie ihre Lippen schmerzlich zuckten. "Einsam? Nein! Besucht ja doch die Erinnerung die Einsamen und, —" setzte sie hinzu, indem sie zu lächeln suchte — "glauben sie denn, die Hausfrau habe in einer so großen Wirtschaft nicht auch recht viel zu tun und zu sorgen? Da ist man nicht einsam, oder — man darf es nicht sein."

Man darf es nicht sein? Du Arme! dachte Froben, verbietet dir dein Herz die Träume der Erinnerung, die dich in der Einsamkeit besuchen, oder verbietet dir der harte Freund, einsam zu sein? Es lag etwas im Ton, womit sie jene Worte sagte, das ihrem Lächeln zu widersprechen schien.

"Und doch," fuhr er fort, um seinen Empfindungen und ihren Worten eine andere Richtung zu geben, "und doch scheinen gerade die Frauen von der Natur ausdrücklich zur Stille und Einsamkeit bestimmt zu sein; wenigstens war bei jenen Völkern, die im allgemeinen die herrlichsten Männer aufzuweisen hatten, die Frau am meisten auf ihr Frauengemach beschränkt, so bei Römern und Griechen, so selbst in unserem Mittelalter."

"Daß Sie diese Beispiele anführen könnten, hätte ich nicht gedacht," entgegnete Josephe, indem ihr Auge wie prüfend auf seinen Zügen verweilte. "Glauben Sie mir, Froben, jede Frau, auch die geringste, merkt dem Mann, ehe sie noch über seine Verhältnisse unterrichtet ist, recht bald an, ob er viel im Kreise der Frauen lebte oder nicht. Und unbestreitbar liegt in solchen Kreisen etwas, das jenen feinen Takt, jenes zarte Gefühl verleiht, immer im Gespräch auszuwählen, was gerade für Frauen taugt, was uns am meisten anspricht, ein Grad der Bildung, der eigentlich keinem Mann fehlen sollte. Sie werden mir dies um so weniger bestreiten," setzte sie hinzu, "als Sie offenbar einen Teil Ihrer Bildung meinem Geschlechte verdanken."

"Es liegt etwas Wahres darin," bemerkte der junge Mann, "und



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namentlich das letztere will ich zugeben, daß Frauen weniger auf meine Denkungsart als auf die Art, das Gedachte auszudrücken, Einfluß hatten. Meine Verhältnisse nötigten mich in der letzten Zeit, viel in der großen Welt, namentlich in Damenzirkeln, zu leben. Aber eben in diesen Zirkeln wird mir erst recht klar, wie wenig eigentlich die Frauen, oder um mich anders auszudrücken, wie wenige Frauen in dieses großartige Leben und Treiben passen."

"Und warum?"

"Ich will es sagen, auch auf die Gefahr hin, daß Sie mir böse werden. Es ist ein schöner Zug der neueren Zeit, daß man in den größeren Zirkeln eingesehen hat, daß das Spiel eigentlich nur eine Schulkrankheit oder ein modischer Deckmantel für Geistesarmut sei. Man hat daher Whist, Boston, Fara und dergleichen den älteren Herren und einigen Damen überlassen, die nun einmal die Konversation nicht machen können. In Frankreich freilich spielen in Gesellschaft Herren von zwanzig bis dreißig Jahren; es sind aber nur die armseligen Wichte, die sich nach einem englischen Dandy gebildet haben oder die selbst fühlen, daß ihnen der Witz abgeht, den sie im Gespräch notwendig haben müßten. Seitdem man nun, seien die Zirkel groß oder klein, die sogenannte Konversation macht, das heißt, sich um das Kamin oder in Deutschland um den Sofa pflanzt, Tee dazu trinit und ungemein geistreiche Gespräche führt, sind die Frauen offenbar aus ihrem rechten Geleise gekommen."

"Bitte, Sie sind doch gar zu strenge! Wie sollten denn —"

"Lassen Sie mich ausreden!" fuhr Fröben eifrig fort, indem er, ohne es zu wissen, die Hand der schönen Frau in seine Hände nahm. "Eine Dame der sogenannten guten Gesellschaft empfängt jede Woche Abendbesuche bei sich; sechsmal in der Woche gibt sie solche heim. In solchen Gesellschaften tanzt höchstens das junge Volk einigemal, außer es wäre auf großen Bällen, die schon seltener vorkommen. Der übrige Kreis, Herren und Damen, unterhält sich. Es gibt nun ungemein gebildete, wirklich geistreiche Männer, die im Männerkreise stumm und langweilig, vor Damen ungemein witzig und sprachselig sind und einen Reichtum sozialer Bildung, allgemeiner Kenntnisse entfalten, die jeden staunen machen. Es ist nicht Eitelkeit, was diese Männer glänzend oder beredt macht, es ist das Gefühl, daß das Interessantere ihres Wissens sich mehr für Frauen als für Männer eignet, die mehr systematisch sind, die ihre Forderungen höher spannen."

"Gut, ich kann mir solche Männer denken; aber weiter!"

"Durch solche Männer bekommt das Gespräch Gestaltung, Hintergrund , Leben; Frauen, besonders geistreiche Frauen, werden sich unter sich bei weitem nicht so lebendig unterhalten, als dies geschieht, wenn auch nur ein Mann gleichsam als Zeuge oder Schiedsrichter



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dabeisitzt. Indem nun durch solche Männer allerlei Witziges, Interessantes auf die Bahn gebracht wird, werden die Frauen unnatürlich gesteigert. Um doch ein Wort mitzusprechen, um als geistreich, gebildet zu erscheinen, müssen sie alles aufbieten, gleichsam alle Hahnen ihres Geistes aufdrehen, um ihren reichlichen Anteil zu der allgemeinen Gesprächflut zu geben, in welcher sich die Gesellschaft badet. Doch, verzeihen Sie, dieser Fonds ist gewöhnlich bald erschöpft; denken Sie sich, einen ganzen Winter jede Woche sieben Abende geistreich sein zu müssen, welche Qual!"

"Aber nein, Sie machen es auch zu arg, Sie übertreiben —"

"Gewiß nicht; ich sage nur, was ich gesehen, selbst erlebt habe. Seit in neuerer Zeit solche Konversation zur Mode geworden ist, werden die Mädchen ganz anders erzogen als früher; die armen Geschöpfe . was müssen sie jetzt nicht alles lernen vom zehnten bis ins fünfzehnte Jahr! Geschichte, Geographie, Botanik, Physik, ja sogenannte höhere Zeichenkunst und Malerei, Ästhetik, Literaturgeschichte , von Gesang, Musik und Tanzen gar nichts zu erwähnen. Diese Fächer lernt der Mann gewöhnlich erst nach seinem achtzehnten, zwanzigsten Jahr recht verstehen; er lernt sie nach und nach, also gründlicher; er lernt manches durch sich selbst, weiß es also auch besser anzuwenden, und tritt er im dreiundzwanzigsten oder später noch in diese Kreise. so trägt er, wenn er nur halbwegs einige Lebensklugheit und Gewandtheit hat, eine große Sicherheit in sich selbst. Aber das Mädchen? Ich bitte Sie! Wenn ein solches Unglückskind im fünfzehnten Jahre, vollgepfropft mit den verschiedenartigsten Kenntnissen und Kunststücken, in die große Welt tritt, wie wunderlich muß ihm da alles zuerst erscheinen! Sie wird, obgleich ihr oft ihr einsames Zimmer lieber wäre, ohne Gnade in alle Zirkel mitgeschleppt, muß glänzen, muß plappern, muß die Kenntnisse auskramen, und — wie bald wird sie damit zurande sein! Sie lächeln? Hören Sie weiter! Sie hat jetzt keine Zeit mehr, ihre Schulkenntnisse zu erweitern; es werden bald noch höhere Ansprüche an sie gemacht; sie muß so gut wie die älteren über Kunstgegenstände, über Literatur mitsprechen können. Sie sammelt also den Tag über alle möglichen Kunstausdrücke, liest Journale, um ein Urteil über das neueste Buch zu bekommen, und jeder Abend ist eigentlich ein Examen, eine Schulprüfung für sie, wo sie das auf geschickte Art anbringen muß, was sie gelernt hat. Daß einem Manne von wahrer Bildung, von wahren Kenntnissen vor solchem Geplauder, vor solcher Halbbildung graut, können Sie sich denken; er wird diese Unsitte zuerst lächerlich, nachher gefährlich finden; er wird diese Überbildung verfluchen, welche die Frauen aus ihrem stillen Kreise herausreißt und sie zu Halbmännern macht, während die Männer Halbweiber werden,



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indem sie sich gewöhnen, alles nach Frauenart zu besprechen und zu beklatschen; er wird für edlere Frauen jene häusliche Stille zurückwünschen, jene Einsamkeit, wo sie zu Hause sind und auf jeden Fall herrlicher brillieren als in einem jener geistreichen Zirkel!"

"Es liegt etwas Wahres in dem, was Sie hier sagten," erwiderte Frau von Faldner; "ganz kann ich nicht darüber urteilen, weil ich nie das Glück oder das Unglück hatte, in jenen Zirkeln zu leben. Aber mir scheint auch dort, wie überall, das minder Gute nur aus der übertreibung hervorzugehen. Es ist wahr, was Sie sagen, daß uns Frauen ein engerer Kreis angewiesen ist, jene Häuslichkeit, die einmal unser Beruf ist. Wir werden ohne wahren Halt sein, wir werden uns in ein unsicheres Feld begeben, wenn wir diesen Kreis gänzlich verlassen. Aber wollen Sie uns die Freude einer geistreichen Unterhaltung mit Männern gänzlich rauben? Es ist wahr, solche sieben Abende in der Woche müssen zum Unnatürlichen, zu Überbildung oder zur Erschöpfung führen; aber ließe sich denn hier nicht ein Mittelweg denken?

"Ich habe mich vielleicht zu stark ausgedrückt, ich wollte —"

"Lassen Sie auch mich ausreden," sagte sie, ihn sanft zurückdrängend . "Sie sagten selbst, daß Frauen unter sich seltener ein sogenanntes geistreiches Gespräch lange fortführen. Ich weiß nur allzuwohl, wie peinlich in einer Frauengesellschaft eine sogenannte geistreiche Dame ist, welcher alles frivol erscheint, was nicht allgemein, nicht interessant ist. Wir fühlen uns beengt, ängstlich und wollen am Ende mit unserem bißchen Wissen lieber vor einem Mann erröten als vor einer Frau. Gewöhnlich wird, wenn nur Frauen zusammen sind oder Mädchen, die Wirtschaft, das Hauswesen, die Nachbarschaft, vielleicht auch Neuigkeiten oder gar Moden abgehandelt; aber sollen wir denn ganz auf diesen Kreis beschränkt sein? Soll denn, was allgemein interessant und bildend ist, uns ganz fremd bleiben?"

"Gott! Sie verkennen mich; wollte ich denn dies sagen?"

"Es ist wahr," fuhr sie eifriger fort, "es ist wahr, die Männer besitzen jene tiefe, geregeltere Bildung, jene geordnete Klarheit, die jede Halbbildung oder gar den Schein von Wissen ausschließt oder gering achtet. Aber wie gerne lauschen wir Frauen auf ein Gespräch der Männer, das an Gegenstände grenzt, die uns nicht so ganz ferne liegen, zum Beispiel über ein interessantes Buch, das wir gelesen, über Bilder, die wir gesehen; wir lernen gewiß recht viel, wenn wir dabei zuhören oder gar mitsprechen dürfen; unser Urteil, das wir im stillen machten, bildet sich aus und wird richtiger, und jeder gebildeten Frau muß eine solche Unterhaltung angenehm sein. Auch glaube ich kaum, daß die Männer uns dies verargen werden, wenn wir nur," setzte sie lächelnd hinzu, "nicht selbst glänzen, den bescheidenen Kreis nicht verlassen wollen, der uns einmal angewiesen ist."



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14.

Wie schön war sie in diesem Augenblick! Das Gespräch hatte ihre Wangen mit höherem Rot übergossen, ihre Augen leuchteten, und das Lächeln, womit sie schloß, hatte etwas so Zauberisches, Gewinnendes an sich, daß Fröben nicht wußte, ob er mehr die Schönheit dieser Frau oder ihren Geist und die einfache schöne Weise, sich auszudrücken , bewundern sollte.

"Gewiß,"sagte er, in ihren Anblick verloren, "gewiß, wir müßten sehr ungerecht sein, wenn wir solche zarte und gerechte Ansprüche nicht achten wollten; denn die Frau müsste ich für recht unglücklich halten, die bei einem gebildeten Geist, bei einer Freude an Lektüre und gebildeter Unterhaltung keine solchen Anklänge in ihrer Umgebung fände; wahrlich, so ganz auf sich beschränkt, müßte sie sich für sehr unglücklich halten."

Josephe errötete, und eine düstere Wolke zog über ihre schöne Stirne; sie seufzte unwillkürlich, und mit Schrecken nahm Fröben wahr, daß ja eine solche Frau, wie er sie eben beschrieben, an seiner Seite sitze. Ja, ohne es zu wollen, hatte er ihren eigenen Gram verraten . Denn konnte ihr roher Gatte jenen zarten Forderungen entsprechen? Er, der in seiner Frau nur seine erste Schaffnerin sah, der jedes Geistige, was dem Menschen interessant oder wünschenswert dünkt, als unpraktisch geringschätzte, konnte er diese Ansprüche auf den Genuß einer gebildeten Unterhaltung befriedigen? War nicht zu befürchten, daß er ihr solche sogar geflissentlich entzog?

Noch ehe Fröben so viel Fassung gewonnen hatte, seinem Satz eine allgemeine Wendung zu geben und das ganze Gespräch von diesem Gegenstand abzuwenden, sagte Josephe, ohne ihn seinen Verstoß fühlen zu lassen: "Wir Frauen auf dem Lande genießen diese Freude freilich seltener; übrigens sind wir dennoch nicht so allein, als es dem Fremden vielleicht scheinen möchte; man besucht einander um so öfter; sehen Sie nur, welche Masse von Besuchen dort am Spiegel hängt!"

Fröben sah hin, und jene Karte fiel ihm bei. "Ach ja,"sagte er, indem er sie hervorzog, "da habe ich vorhin einen kleinen Diebstahl begangen;" er zog sie hervor und zeigte sie. "Können Sie glauben, daß ich bis gestern nicht einmal wußte, daß mein Freund verheiratet sei? Und Ihren Namen erfuhr ich erst vorhin durch diese Karte. Sie heißen Tannensee?"

"Ja " antwortete sie lächelnd, "und diesen unberühmten Namen tauschte ich gegen den schönen von Faldner um."

"Unberühmt? Wenn Ihr Vater der Obrist von Tannensee war, so war Ihr Name wohl nicht unberühmt."



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Sie errötete. "Ach, mein guter Vater!" rief sie. "Ja, man erzählte mir wohl von ihm, daß er für einen braven Offizier des Kaisers gegolten habe, und —sie haben ihn als General begraben. Ich habe ihn nicht gekannt; nur einmal, als er aus dem Feldzug zurückkam, sah ich ihn und nachher nicht wieder; es sind schon dreizehn Jahre, seit er tot ist."

"Und war er nicht ein Schweizer?" fragte Froben weiter.

Sie sah ihn staunend an. "Wenn ich nicht irre, sagte mir meine Mutter, daß Verwandte von ihm in der Schweiz leben."

"Und Ihre Mutter, heißt sie nicht Laura und stammt aus einem spanischen Geschlecht:"

Sie erbleichte, sie zitterte bei diesen Worten. "Ja, sie hieß Laura," antwortete sie — "aber mein Gott, was wissen Sie denn von uns, woher? —Aus einem spanischen Geschlechte?" fuhr sie gefaßter fort. "Nein, da irren Sie, meine Mutter sprach deutsch und war eine Deutsche."

"Wie? So ist Ihre Mutter tot?"

"Seit drei Jahren," erwiderte sie wehmütig.

"O, schelten Sie mich nicht, wenn ich weiter frage: Hatte sie nicht schwarze Haare und, wie Sie, braune Augen? Hatte sie nicht viele Ähnlichkeit mit Ihnen:

"Sie kannten meine Mutter?" rief sie ängstlich und zitterte heftiger.

"Nein; aber hören Sie einen sonderbaren Zufall!" erwiderte Fröben. "Es müßte mich alles täuschen, wenn ich nicht einen trefflichen Verwandten Ihrer Mutter kennen gelernt hätte." Und nun erzählte er ihr von Don Pedro. Er beschrieb ihr, wie sie sich vor dem Bilde gefunden, er ließ die Kopie von seinem Zimmer bringen und zeigte sie; er sagte ihr, wie sie genauer bekannt geworden und wie ihm Don Pedro seine Geschichte erzählte. Aber die letztere wiederholte er mit großer Schonung; er datierte sogar aus einem gewissen Zartgefühl jene Vorfälle und Lamas Flucht um ein ganzes Jahr zurück und schloß endlich damit, daß er, wenn Josephe ihre Mutter nicht eine Deutsche nennen würde, bestimmt glaubte, Mutter Laura und jene Donna Laura Tortosi des Spaniers, der Schweizerhauptmann Tannensee und ihr Vater, der Obrist, seien dieselben Personen.

Josephe war nachdenklich geworden; sinnend legte sie die Stirne in die Hand; sie schien ihm, als er geendet hatte, nicht sogleich antworten zu können.

"O, zürnen Sie mir nicht," sagte gröben, " wenn ich mich hinreißen ließ, dem wunderlichen Spiel des Zufalls diese Deutung zu geben."

"O, wie könnte ich denn Ihnen zürnen?" sagte sie bewegt, und



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Tränen drängten sich aus den schönen Augen. "Es ist ja nur mein schweres Schicksal, das auch dieses Dunkel wieder herbeiführt. Wie könnte ich auch wähnen, jemals ganz glücklich zu sein?"

"Mein Gott, was habe ich gemacht!" rief Froben, als er sah, wie ihre Tränen heftiger strömten. "Es ist ja alles nur eine törichte Vermutung von mir. Ihre Mutter war ja eine Deutsche, Ihre Verwandten und Sie werden ja dies alles besser wissen —"

15.

"Meine Verwandten?" sagte sie unter Tränen. "Ach, das ist ja gerade mein Unglück, daß ich keine habe. Wie glücklich sind die, welche auf viele Geschlechter zurücksehen können, die mit den Banden der Verwandtschaft an gute Menschen gebunden sind; wie angenehm sind die Worte Onkel, Tante; sie sind gleichsam ein zweiter Vater, eine zweite Mutter, und welcher Zauber liegt vollends in dem Namen Bruder! Wahrlich, wenn ich fähig wäre, einen Menschen zu beneiden, ich hätte oft dies oder jenes Mädchen beneidet, die einen Bruder hatte; es war ihr inniger, natürlichster, aufrichtigster Freund und Beschützer."

Fröben rückte ängstlich hin und her; er hatte hier, ohne es zu wollen, eine Saite in Josephens Brust getroffen, die schmerzlich nachklang; es standen ihm Aufschlüsse bevor, vor welchen ihm unwillkürlich bangte. Er schwieg, als sie ihre Tränen trocknete und fortfuhr:

"Das Schicksal hat mich manchmal recht sonderbar geprüft. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, und so entbehrte ich schon jene große Wohltat, Geschwister zu haben; wir wohnten unter fremden Menschen, und so hatte ich auch keine Verwandte. Mein Vater schien mit den Seinigen in der Schweiz nicht im besten Einverständnis zu leben; denn meine Mutter erzählte mir oft, daß sie ihm grollen, weil er sie geheiratet habe und nicht ein reiches Fräulein in der Schweiz, das man ihm aufdringen wollte. Auch meinen Vater sah ich nur wenig; er war bei der Armee, und Sie wissen, wie unruhig unter dem Kaiser die Zeiten waren. So blieb mir nichts als meine gute Mutter. und wahrlich, sie ersetzte mir alle Verwandte. Als sie starb, freilich, da stand ich sehr verlassen in der großen Welt; denn da war unter Millionen niemand, zu dem ich hätte gehen und sagen können: .Nun sind sie tot, die mich ernährten und beschützten, seid Ihr jetzt meine Eltern!"'

"Und Ihre Mutter hieß also nicht Tortosi?" sagte Fröben.

"Ich nannte sie nicht anders als Mutter, und nie hat sie über



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ihre früheren Verhältnisse mit mir gesprochen; ach, als ich größer wurde, war sie ja immer so krank! Mein Vater nannte sie nur Laura, und in den wenigen Papieren, die man nach ihrem Tode fand und mir übergab, wird sie Laura von Tortheim genannt."

"Ei nun!" nef Fröben heiter, "das ist ja so klar wie der Tag; Laura hieß Ihre Mutter, Tortheim ist nichts anderes als Tortosi, das die lieben Flüchtlinge veränderten, Tannensee hieß jener Kapitän in Valencia, er ist Ihr Vater, der Obrist Tannensee; und noch mehr: Sagen Sie nicht selbst, daß dieses Bild Ihrer Mutter Laura vollkommen gleiche, und erkannte nicht mein werter Don Pedro in dem Urbild seine Donna Laura? Jetzt sind Sie nicht mehr einsam, einen trefflichen Vetter haben Sie wenigstens, Don Pedro di San Montanjo Ligez! Ach, wie wird sich mein Freund über die berühmte Verwandtschaft freuen!"

"O Gott, mein Mann!" rief sie schmerzlich und verhüllte das Gesicht in ihr Tuch.

Unbegreiflich war es Froben, wie sie dies alles so ganz anders ansehen könne als er; er sah ja in diesem allem nichts als die Freude Don Pedros, eine Tochter seiner Laura zu finden. Er war reich, unverheiratet, trug noch immer den alten Enthusiasmus für seine schöne Cousine in sich, also auch eine schöne Erbschaft kombinierte Fröben aus diesem wunderbaren Verhältnis. Er ergriff Josephens Hand, zog sie herab von ihren Augen; sie weinte heftig.

"O, Sie kennen Faldner schlecht," sagte sie, " wenn Sie meinen, daß ihn diese Vermutungen freudig überraschen werden! Sie kennen sein Mißtrauen nicht. Alles soll ja nur seinen ganz gewöhnlichen Gang gehen, alles recht schicklich und ordentlich sein, und alles Außergewöhnliche haßt er aus tiefster Seele. Ich mußte es ja," fuhr sie nicht ohne Bitterkeit fort, "ich mußte es ja als eine Gnade ansehen, daß mich der reiche, angesehene Mann heiratete, daß er mit den wenigen Dokumenten zufrieden war, die ich ihm über meine Familie geben konnte. Muß ich es denn," rief sie heftiger weinend, "muß ich es denn nicht noch alle Tage hören, daß er mit den angesehensten Familien sich hätte verbinden, daß er dieses oder jenes reiche Fräulein hätte heiraten können? Sagt er es mir nicht so oft, als er mir zürnt, daß mein Adel neu sei, daß man von dem Geschlecht meiner Mutter gar nichts wisse und daß sogar einige Tannensee in der Schweiz das von abgelegt haben und Kaufleute geworden seien?"

Jetzt erst ging dem jungen Mann ein schreckliches Licht auf. "Also in ein Haus des Unglücks, in eine unglückselige Ehe bin ich gekommen," sprach er zu sich. "Ach, nicht aus Liebe hat sie ihn geheiratet, sondern aus Not, weil sie allein stand; und Faldner, so kenne ich ihn, hat sie genommen, weil sie schön war, weil er mit ihr glänzen konnte. Das



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unglückliche Weib! Und der Barbar macht ihr Vorwürfe über ihr Unglück, läßt sie sogar fühlen, was sie ihm verdanken" Ein gemischtes Gefühl von Unmut über seinen Freund, von Mitleid und Achtung gegen die schöne, unglückliche Frau zog ihn zu ihr hin; er küßte ihre Hand, er bemühte sich, ihr Mut und Vertrauen einzuflößen. "Sehen Sie dies alles als nicht gesagt an!" flüsterte er; "ich sehe, es macht Ihnen Kummer; was nützt es denn Faldner? Verschweigen wir ihm die törichten Mutmaßungen, die ich hatte, die ja ohnedies zu nichts führen können!" —

Josephe sah ihn bei diesen Worten groß an; ihre Tränen verlöschten in den weitgeöffneten Augen, und Fröben glaubte eine Art von Stolz in ihren Mienen zu lesen. "Mein Herr," sagte sie, und ihre Gestalt schien sich höher aufzurichten, "ich kann unmöglich glauben, daß, was Sie sagten, Ihr Ernst sein kann; auf jeden Fall werden Sie wissen, daß die Gattin des Barons von Faldner kein Geheimnis mit Ihnen teilt, das nicht ihr Gatte wissen dürfte."

Unter diesen Worten hatte sie das Teegeschirr unsanft von sich gerückt, war aufgestanden, und —nach einer kurzen Verbeugung verließ sie den erstaunten Gast. Froben wollte ihr nach, wollte abbitten . was er getan, wollte alles auf einmal gut machen; aber sie war schon in der Türe verschwunden, ehe er nur Fassung genug hatte, sich vom Sofa aufzuraffen. Unmutig ging er hinab in den Garten; er wußte nicht, sollte er sich selbst grollen oder der Empfindlichkeit der Dame, die ihm in diesem Augenblick übergross erschien. Doch, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, sein aufgeregtes Blut wallte nach und nach ruhiger, und sein Geist gewann Raum, über sich selbst nachzusinnen. Und hier fand er nun manches, was Josephen zur Entschuldigung diente. "Sie liebt ihn nicht," sagte er zu sich, " er behandelt sie vielleicht roh, zeigt sich mehr als Herr denn als Gatte. Sie wurde weich, als ich mit ihr über höhere Genüsse des Lebens sprach; ich sah, wie sie erschrak, als sie sich gegen mich verraten hatte, als sie aussprach, welcher Mangel selbst mitten im äußeren Glück sie drücke. Und mußte s:e sich nicht ängstlich berührt fühlen, daß sie diesen Mangel einem Freund ihres Gatten vernet? Und weiter, als ich ihr alles, alles sagte, als ich mit einer gewissen Bestimmtheit von ihrer Abstammung sprach, als ich, vielleicht etwas unzart, Saiten berührte, die sonst niemand bei ihr antastete, mußte sie nicht dadurch schon außer sich selbst geraten? Und als sie vollends den Argwohn, die Zweifelsucht des Barons bedachte , wurde sie nicht immer ängstlicher, immer verlegener? "Und ich," fuhr er fort, indem er sich vor die Stirne schlug, "ich konnte ihr zumuten, ein Geheimnis mit mir zu teilen, das sie ihrem nächsten Freund, ihrem Gatten, nicht verraten dürfte? Mußte sie nicht fürchten, wenn sie es verheimlichte, ganz in meiner Hand zu sein? Mußte ihr



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nicht das ganze Anerbieten sonderbar, unzart vorkommen?" Wie hoch, wie edel erschien ihm jetzt erst der Charakter dieser Frau! Wo nahm sie bei dieser Jugend, — denn sie konnte höchstens neunzehn zählen, —solche Stärke, solche Umsicht, solche ungewöhnliche Bildung, solche feine gesellige Formen her? Er fühlte vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, daß den Frauen etwas von Feinheit, Schlauheit, Kraft, überwindung, kurz, daß ihnen ein Geheimnis innewohne, dem der Mann, selbst der stolze, gewichtige, nicht gewachsen sei.16.

Der Baron von Faldner war zum Mittagessen zurückgekommen, und Josephe hatte ihn mit ihrer gewohnten Anmut, vielleicht ein wenig ernster als gewöhnlich, empfangen. Aber hastig riß er sich aus ihrer Umarmung. "Ist es nicht, um toll zu werden, Frohen?" rief er, ohne seine Frau weiter zu beachten. "Mit horrenden Kosten lasse ich mir eine Dampfmaschine aus England kommen, lasse sie, auf die Gefahr hin, daß alles zugrunde gehe, ausschwärzen, du kennst ja die Gesetze hierüber. Und jetzt, da ich meine, im trockenen zu sein, da ich schon achtzig, ja hundert Prozent berechnete, jetzt geht sie nicht!"

"Franz!" rief Josephe erbleichend.

"Sie geht nicht?" rief ihr Froben nach.

"Sie geht nicht!" wiederholte der unglückliche Landwirt. "Die Fugen greifen nicht ein, das Räderwerk steht, es muß irgend etwas verloren gegangen sein. Ich lieh, wie du weiht, Josephe, ich ließ ws mich ja alles kosten, mit teurem Gelde ließ ich einen Mechanikus aus Mainz kommen; ich legte ihm die Zeichnungen vor. ,Nichts leichter als dies,' sagte der Hund, und jetzt, da ich ihm A zu A, Bau B gebe, — denn es ist alles numeriert und beschrieben, —jetzt kann kein Teufel zusammensetzen; o, es ist, um rasend zu werden!"

Man setzte sich verstimmt zu Tische. Der Baron verbiß seinen inneren Grimm über die fehlgeschlagene Hoffnung und den wahrscheinlichen Verlust des Kapitals; er trank viel Wein und exaltierte sich zu schlechten Scherzen. Josephe war noch bleicher als gewöhnlich; sie besorgte still ihr Amt als Hausfrau, und nur Froben wußte einigermaßen ihre Gefühle zu deuten; denn sie vermied es, ihn anzusehen. Ihm quoll der Bissen im Munde; er sah den Unmut einer getäuschten Hoffnung in den Mienen seines Freundes, er sah den Mut, die Entschlossenheit und doch wieder die unverkennbare Angst auf den Mienen der schönen Frau; es war ihm zuweilen, als sei mit ihm erst das Unglück über dieses Haus hereingebrochen. Das Gespräch schlich während



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der Tafel nur mühsam und stockend hin: doch als das Dessert aufgetragen war und die Diener auf Josephens Wink sich entfernt hatten, holte sie einigemal mühsam Atem, ihre Wangen färbten sich röter, und sie sprach:

"Du hast heute früh eine recht sonderbare Unterhaltung zwischen mir und deinem Freunde versäumt. Schon oft, wie du weißt, klagten wir über Mangel an Verwandschaft von meiner Seite. Jetzt scheint mir auf einmal ein neues Licht aufzugehen; denn er bringt uns ja viele und angesehene Verwandte ins Haus."

Verwundert und fragend sah Faldner seinen Freund an. Dieser war im ersten Augenblicke etwas betroffen; doch hier galt es, mit Umsicht zu handeln. Wunderbar fühlte er in diesem Augenblick das Übergewicht eines Mannes von Welt über die niedere, beinahe rohe Denkungsart eines Baron Faldner, und mit mehr Gelassenheit, mit weiser Benützung der Umstände erzählte er die sonderbare Geschichte des Bildes und seiner Bekanntschaft mit Don Pedro.

Gegen alle Erwartung wurde der Baron zusehends heiterer während der Erzählung; " ei —sonderbar," waren die einzigen Worte, die ihm hie und da entschlüpften, und als Froben geendet hatte, rief er: Was ist klarer als dies? Donna Laura Torti) si und Laura von Tortheim, der Schweizer Kapitän Tannensee und dein Vater sind dieselben. Und reich, sagst du, lieber Froben, reich ist der Haushofmeister? Begütert, unverheiratet und hegt noch die alte Vorliebe für seine Dulcinea von Valencia? Eider Tausend, Josephchen, da könnte es ja noch eine reiche Erbschaft von Piastern geben!"

Josephe hatte wohl diese Äußerung nicht erwartet; der Gast sah ihr an, daß sie dieses gemeine Wort lieber ohne Zeugen gehört hätte; aber eine drückende Last schien sich dennoch ihrem Busen zu entladen; sie drückte die Hand ihres Gatten, vielleicht nur, weil er ihr diesmal weniger Bitteres gesagt hatte als sonst, und ziemlich aufgeheitert sagte sie: "Mir selbst scheint in dem sonderbaren Zusammentreffen unseres Freundes mit dem Spanier eine eigene Fügung des Schicksals zu liegen; ja, ich glaube sogar, daß es spanische Lieder waren, die hie und da meine Mutter, wenn sie einsam war, zur Laute sang. Ja, vielleicht kommt es eben daher, daß ich nichtin Eurem Glauben erzogen wurde, obgleich mein Vater, wie ich bestimmt weiß, reformierten Glaubens war. Nun, das beste ist, unser Freund schreibt an Don Pedro."

"Ja, tu' mir den Gefallen," sagte Faldner; "schreibe an den alten Don, seine Laura habest du nicht gefunden, aber offenbar ihre Tochter; es könnte doch zu etwas führen, du verstehst mich schon; wem will er auch seinen Mammon vermachen als dir, du Goldkind? Ich habe es ja immer gesagt, und auch zur Gräfin Landskron sagt' ich es, als ich



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um dich anhielt; ,Wenn sie auch nicht viel, eigentlich gar nichts hat, mit ihr kommt Segen in mein Haus.' Und haben wir da nicht den Segen: Wie hoch, sagest du, daß du den Spanier schätzest?"17.

Der Baron hatte frische Flaschen befohlen, und Josephe stand bei den letzten Worten auf und entfernte sich. Unbegreiflich war Froben, wie unzart sein Freund mit dem holden, edlen Wesen verfuhr er fühlte, wie sie sich vor ihm der Gemeinheit ihres Gatten schäme, er fühlte es und antwortete daher ziemlich unmutig: "Was weiß ich! Meinst du denn, ich frage die Leute, mit denen ich umgehe, wie ein Engländer: ,Wieviel wiegst du?"'

"Ach, ich kenne ja deine sonderbaren Grillen über diesen Punkt," lachte der Baron, "dir ist ein armseliger Geselle, wenn er nur das sogenannte Sentiment und Savoir vivre besitzt, so gut als einer, der zweimalhunderttausend Pfund Renten hat; aber ernstlich, mit dem Don müssen wir ins reine kommen, und ich rechne ganz auf dich."

"Ja doch, du kannst gänzlich auf mich rechnen. Aber wie war es denn mit der Gräfin Landskron? Du sagtest mir ja noch nicht einmal, wie du deine Frau kennen lerntest."

"Nun, das ist eigentlich eine kurze Geschichte," erwiderte Faldner, indem er sich und dem Freunde von neuem Wein in das Glas goß; "Du kennst meinen praktischen Sinn, meinen richtigen Takt in dergleichen Dingen. Es stand mir die Wahl frei unter den Töchtern des Landes; reiche, bemittelte, schöne, hübsche, alles stand mir zu Gebot. Aber ich dachte; Nicht alles ist Gold, was glänzt, und suchte mir eine tüchtige Hausfrau. So kam ich durch Zufall auch auf das Gut der Gräfin Landstron. Josephe war damals noch als Fräulein von Tannensee ihre Gesellschaftsdame. Das emsige, geschäftige Kind gefiel mir; Tee eingießen, Äpfel schälen, Bohnen brechen, die Blumen begießen , kurz, alles wußte sie so zierlich und nett zu machen, daß ich dachte, diese oder keine wird eine gute Hausfrau werden. Ich sprach mit der Gräfin darüber. Swar schreckten mich anfangs die kurzgefaßten Nachrichten wieder ab, die mir die Landskron über Josephens Verhältnisse geben konnte. Sie sagte mir, daß sie Josephens Mutter gekannt und nach ihrem Tode das Mädchen zu sich genommen habe; Vermögen hatte sie nicht, aber die Gräfin gab eine anständige Ausstattung. Das Kopulationszeugnis ihrer Eltern, ihr Taufschein war richtig — nun, man ist ja in der Liebe gewöhnlich ein Narr, und so nahm ich sie zu mir."

"Und bist gewiß unendlich glücklich mit diesem holden Wesen."



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"Nun, nun, das geht so; praktisch ist sie nun einmal gar nicht, und ich muß ihr die dummen Bücher ordentlich konfiszieren, nur daß ich sie an Haus und Garten gewöhne; denn wie will man am Ende hier auf dem Lande auskommen, wenn die Hausfrau sich vornehm in den Sofa setzt, Romane und Almanachs liest, empfindelt, wozu sie ohnedies großen Hang hat, und weder Küche noch Garten besorgt?"

"Aber, mein Gott, dazu könntest du ja Mägde halten!" bemerkte Froben, den der Wein und das Gespräch noch wärmer und unmutiger gemacht hatten.

"Mägde?" fragte Faldner lachend und sah ihn groß an. "Mägde! Da sieht man wieder den Theoretiker! Freund, davon verstehst du nichts! Würden mir nicht die Mägde hinterrücks den halben Garten, die schönen Gemüse, Obst und Salat verkaufen? Und vollends in der Küche! Woher nur Holz und Butter genug nehmen, wenn alles den Mägden anvertraut ist! Nein, die Frau muß da schalten und walten, und leider bin ich da mit Josephen schlecht gefahren; doch komm, stoß an! Der Don soll alles gut machen."

Fröben, so sehr sein Herz, sein zärterer Sinn durch alles, was er hier sah und hörte, verletzt wurde, wagte nichts entgegen zu reden. Er folgte dem Hausherrn, als dieser jetzt aufstand, hielt seine Umarmung geduldig aus und nahm sogar, mehr, um Josephen so bald nach diesem Vorfall nicht zu sehen, als aus Freude an des Barons Gesellschaft, seine Einladung an, ihn nach der neuen Dampfmühle zu begleiten. Die Pferde wurden vorgeführt, die Männer schwangen sich auf, und schon wollte Fröben um die Ecke biegen, als er noch einen Blick zurückwarf und Josephens Gestalt im Fenster erblickte; sie zog ihr Tuch von dem Auge, sie blickte ihnen wehmütig nach, sie grüßte mit der zierlichen Hand. "Deine Frau winkt uns noch, um Abschied zu nehmen," rief er Faldner zu; aber dieser lachte ihn aus. "Was meinst du denn?" sagte er im Weiterreiten. "Glaubst du, ich habe sie so zart und weich gewöhnt, daß wir auf einen Nachmittag mit Küssen und Drücken, mit Grützen und Schnupftuchwedeln Abschied nehmen Gott bewahre mich, dadurch verwöhnt man die Weiber, und wenn es dir einmal begegnen sollte, daß du auch heiratest, so mache es um Gottes willen wie ich. Kein Wort von einer Reise oder einem Spazierritt vorher. Das Pferd wird vorgeführt. —,Wohin, mein Lieber?' fragt sie dann das erste oder zweite Mal. Keine Antwort, sondern die Handschuhe angezogen. .Aber wirst du mich denn so allein lassen?' fragt sie weiter und streichelt dir die Wangen; du nimmst getrost die Reitpeitsche und sagst: ,Ja, ich will heute abend noch auf das Vorwerk , es ist dies und das zu tun. Adje! und wenn ich bis neun Uhr nicht zu Hause bin, brauchst du mit der Suppe nicht zu warten.' Sie erschrickt. du achtest es nicht; sie will nach, du winkst ihr mit der Reitgerte



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zurück; sie stürzt ans Fenster, hängt sich und das Tränentüchlein heraus und ruft adje! und wedelt hin und her mit dem weißen Fahnen. Laß wehen und achte nicht darauf! Drück dem Gaul die Sporen in den Leib und davon: ich kann dir schwören, das setzt die Weiber in Respekt. Das dritte Mal fragte die meine nicht mehr, und gottlob, das Gewinsel hat ein Ende!"

Der Baron hatte während dieser trefflichen Rede in größter Gemütsruhe eine Pfeife gestopft, Feuer angeschlagen und dampfte jetzt, indem er seine Felder und Wälder überschaute, ohne eine Antwort seines Gastes zu erwarten; aber dieser preßte die Lippen zusammen, und noch stärker preßte die Rede des rohen Mannes sein volles Herz. "O, du Hund von einem Menschen," sprach er bei sich, "schlechter noch als ein Hund; denn der Herr hat dir ja Vernunft gegeben! Wie man ein Pferd zureitet oder einen Baum in bessere Erde setzt, hast du gelernt; aber eine schöne Seele zu behandeln, ein liebendes Herz zu verstehen, liegt außer deinen Grenzen. Wie sie ihm nachsah, so voll Wehmut, denn er hatte nicht von ihr Abschied genommen, so voll Engelsgeduld, sie hatte ihm ja seine rohen Worte schon wieder vergeben, mit einem Blick, so voll von Liebe! Von Liebe? Kann sie ihn denn lieben? Wird nicht ihr zarter Sinn tausendmal von ihm beleidigt? Sieht sie denn nicht, wie er seinem Jagdhund mehr Zärtlichkeit beweist als ihr? Oder wie? fuhr er in seinem Hinträumen fort, sollte sie, weil sie einmal sein Weib geworden ist, Zärtlichkeit für den fühlen, den sie an Geist so weit überragt und den sie dennoch — fürchtet? Oder sollte es immer und ewig das Los dieser armen Wesen sein, daß unter Hunderten nur eine wahrhaft lieben darf, daß die anderen, von der Natur zu einem herrlichen Gefäß zärtlicher, hoher Liebe ausgerüstet, erwachsen, blühen, verwelken, ohne wahre Liebe zu kennen? Doch dieser Gedanke wäre mir noch erträglicher als der, daß sie ihn wirklich lieben könnte! Nein, es kann, es darf nicht sein!" Unwillkürlich hatte er bei den letzten Worten durch eine rasche Bewegung seinem Pferde die Sporen gegeben; raffte sich auf und flog dahin. "Ho, ho, Junge! Du willst mit mir in die Wette reiten?" rief ihm der Baron nach und steckte die Pfeife bei. "Zweihundert Schritte gebe ich dir vor und hole dich dennoch ein." Kunstgerecht berechnete er dann den Zwischenraum und als er dachte, Froben habe die vorgegebenen Schritte zurückgelegt, ließ er sein Pferd weit ausstreichen und gelangte zu seinem nicht geringen Triumph in demselben Moment mit dem Freunde vor der Dampfmühle an.



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18.

Der Mechanikus, ein bescheidener Mann, der aber allgemein den Ruf großer Geschicklichkeit genoß, empfing sie an der Türe. "Noch immer nicht weiter:" fragte Faldner, indem sein Gesicht sich verfinsterte "Wahrhaftig, entweder ist mein Korrespondent in London ein Schurke und verdient gehangen zu werden, oder Ihr, Meister Fröhlich, versteht zwar Taschenuhren zusammenzudrechseln, aber keine Dampfmühle aufzuschlagen, wie Ihr mir vorgespiegelt."

Der Mann schien tief gekränkt durch die Worte des Barons; eine hohe Röte überflog sein Gesicht, und ein bitteres Wort schwebte auf seinen Lippen; aber er unterdrückte es und fuhr mit der Hand über sein schlichtes Haar, als wollte er seinen inneren Unmut wie seine Haare glätten. "Halten zu Gnaden, Herrn Baron," antwortete er, "wenn man mir Aufriß und Berechnung einer Maschine vorlegt und dazu Räderwerk und Schrauben so genau verzeichnet sind, so will ich eine Maschine zusammensetzen, wenn ich sie auch nie zuvor gesehen. Aber dann muß ich freies Spiel haben, und dann steh' ich auch dafür, daß alles recht wird; aber so —

"Nun, daß ich selbst ein wenig mitgeholfen, meint Ihr? Darauf soll also alles, geschoben werden? Ihr sagt selbst, daß Ihr in Eurem Leben noch keine solche Maschine gesehen, und ich habe eine gesehen, zwei, drei, in Frankreich und England, und weiß recht gut, daß die größeren Räder in der Mitte des Zylinders eingreifen und die kleineren oben angebracht sind —"

"Aber mein Gott, erlauben Eure Gnaden," entgegnete der Künstler ungeduldig, "diese Ihre Dampfmühle ist nun einmal nach anderer Struktur, das kann man ja schon an der Zeichnung sehen —"

"Zeichnung hin, Zeichnung her, Dampfmaschinen sind Dampfmaschinen, und eine sieht aus wie die andere. Betrogen bin ich, von allen Seiten angeführt; da: Geld zum Fenster hinausgeworfen!"

Fröben hatte indessen die Zeichnungen zur Hand genommen und sie durchgesehen. Er fand, daß die Struktur dieser Mühle sehr einfach und schön, und wenn die bezeichneten Räder und Schrauben paßten, sehr leicht aufzuschlagen sei. Er hatte in früheren Zeiten Mathematik und Physik gründlich studiert, er hatte zugleich mit dem Freunde die berühmtesten Maschinenwerke gesehen und kennen gelernt , kam aber, weil er sich selten darüber äußerte, bei dem Herrn von Faldner, der sich mit seinen Kenntnissen ungemein viel wußte, in den Verdacht, wenig oder nichts vom Maschinenwesen ou verstehen. Er wandte sich nun, als Faldners Unmut noch größer zu werden drohte, an den Mechanikus, fragte nach diesen und jenen Stücken, die auf der Zeichnung angegeben waren, und als jener sie



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vorwies, als man sah, wie richtig sie ineinander passen, sagte er zu Faldner; "Ich wollte wetten, du bist durchaus nicht betrogen; denn so gut hier F und u in P passen, —du siehst, es sind die Hauptzüge, wodurch die Stampfmühle mit der Ölpresse in Verbindung gesetzt wird — so gut muß sich auch das übrige fügen."

"Ach, Sie hat unser Herrgott hergesandt " rief der Mechanikus freudig, "wie Sie doch dies gleich so wegbekamen! Ja, das F ist der Hauptzug; u hier greift in das Stangenwerk ein, hier wird das Rad KL befestigt."

"Die Maschine ist sehr einfach," fuhr Fröben fort, "und der ganze Irrtum meines Freundes kommt daher, daß er die Struktur größerer Werke vor Augen hat, die freilich anders aussehen. Du wirst dich übrigens erinnern, daß wir in Devonshire bei Sir Henry Smith eine Ölmühle sahen, die beinahe ganz nach diesem Plan gebaut war."

Der Baron verbarg sein Staunen hinter einem ironischen Lächeln, womit er bald den Freund, bald den Mechanikus ansah. "Machet, was ihr wollt," sagte er gleichgültig, "ich gebe die ganze Geschichte verloren; vernünftger wäre es gewesen, ich hätte einen englischen Mechaniker mitkommen lassen. Versuche immer dein Heil an dem heillosen Schraubenwerk! Ich denke, wenn ich dich in einigen Stunden abhole, wirst du dieses Maschinen-ABC schon satt haben: denn dann, ich weiß es ja, bist du doch nur ein ABC Schütze." Pfeifend verließ er das Gebäude, setzte sich auf und ritt in den Wald.

Fröben aber ließ sogleich wieder auseinanderlegen, was nach des Barons eigenmächtigem Plan bisher zusammengefügt war. Die Nummern wurden geordnet, und er wurde unter diesem Geschäft nach und nach heiterer; denn es zerstreute die düsteren Bilder in seiner Seele, und nicht ohne Lächeln bemerkte er, wie ihn der Mechanikus mit leuchtenden Blicken betrachtete, wie ihn seine Gesellen und Jungen gleich einem Altmeister ihrer Kunst ehrfurchtsvoll ansahen. Freude und Leben war in die Werkstätte gekommen, wo man diesen Morgen nur die Befehle, die Flüche des Barons, die Bitten und Gegenreden des Meisters gehört hatte; bald war alles in Ordnung gebracht, und als der Baron abends aus dem Wald zurückkam, seinen Gast abzuholen, erstaunte er und schien sich im ersten Augenblick nicht einmal über das sichtbare Fortschreiten des Werkes zu freuen. Er hatte erwartet, alles in Bestürzung und Konfusion zu treffen; aber der Mechanikus überreichte ihm lächelnd die Zeichnung, führte ihn an den Zylinder und zeigte ihm, indem er bald auf das Papier, bald auf das Werk hindeutete, mit stolzer Freude, was sie bis jetzt schon geleistet haben. "Wenn es so fortgeht," setzte der Mechanikus hinzu, "und wenn der fremde Herr dort uns auch morgen so trefflich an



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die Hand geht, so garantiere ich, daß wir noch vor Sonntag ferse werden.

"Tolles Zeug!" war alles, was der Baron antwortete, inden er die Zeichnung zurückgab, und Froben war ungewiß, ob es Flüche oder Danksagungen seien, was sein Freund hin und wieder murmelte als sie zusammen nach dem Schloß zurückntten.

19.

Der glückliche Fortgang des Maschinenbaues, vielleicht auch die schimmernde Aussicht auf Don Pedros spanische Quadrupel hatten den Baron in den nächsten Tagen fröhlicher gestimmt. Froben hatte an den Spanier nach W. geschrieben, und sein Gastfreund nahm ihm das Versprechen ab, so lange bei ihm zu verweilen, bis aus W. eine Antwort angelangt sei. Auch gegen Josephe betrug er sich etwas menschlicher, und er hatte ihr, wahrscheinlich mehr aus Rücksicht auf den Freund als auf sie, sogar erlaubt, daß sie ihre Haushaltungsgeschäfte abkürzen und vormittags oder abends, wenn ihn selbst Geschäfte abhielten, sich von Fröben vorlesen lassen oder Spaziergänge mit ihm machen dürfe. Und sie lebte in diesen wenigen Tagen zusehends auf. Ihre Haltung wurde kräftiger, ihre Wangen rötete ein Schimmer von stillem Vergnügen, und in manchen Augenblicken, wenn ein holdes Lächeln um ihre Lippen zog, wenn jene feinen Grübchen in den Wangen erschienen, gestand sich Fröben, daß er selten eine schönere Frau gesehen habe; ja, ihr Anblick verwirrte ihn oft so ganz, daß er ein geliebtes Bild seiner Träume verwirklicht glaubte, daß halbversunkene Erinnerungen wieder in ihm auftauchten, daß ihm sogar ihre Stimme, wenn sie bewegt, gerührt war, so bekannt deuchte, als hätte er sie nicht hier zum erstenmal gehört. Seltener zog er in jenen Tagen das Bild hervor, das er sonst stundenlang betrachtet hatte, und wenn es ihm zufällig in die Hände fiel, wenn er es aufrollte, wenn er in das Auge der unbekannten Geliebten sah, so fühlte er sich beschämt; er glaubte ihrem leblosen Gemälde diese Vernachlässigung abbitten zu müssen. "Doch," sprach er dann zu sich, als müßte er sich entschuldigen, "ist es denn unrecht, der armen Freundin einige Tage ihres freudelosen Lebens angenehmer zu machen? Und wie wenig gehört dazu, dieses holde Wesen zu erfreuen, sie glücklicher zu stimmen! schönes Buch mit ihr zu lesen, mit ihr zu sprechen, sie auf einem Spaziergang an ihre Lieblingsplätzchen zu begleiten — dies ist ja alles, was sie braucht, um heiter und froh zu sein. Welchen Himmel könnte Faldner in seinem Hause haben, wenn er nur zuweilen die eine oder andere dieser kleinen Freuden mit ihr teilte!"

Der junge Mann fühlte sich übrigens, ohne daß er es sich selbst recht gestand, angenehm berührt, geschmeichelt von Josephens



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Anhänglichkeit an ihn. Schien ihr nicht jeder Morgen, jeder Abend ein neues Fest zu sein? Wenn er herabkam zum Frühstück, hatte sie schon alles zierlich und nett bereitet; bald wählte sie den Saal, der eine herrliche Aussicht auf den fernen Rhein öffnete, bald die Terrasse, von wo sie das ländliche Gemälde der Arbeiter in den Feldern und an den Weinbergen vor sich hatten, so nah, um alles wie ein treues Tableau zu betrachten, und doch ferne genug, um im stillen Genuß des Morgens nicht gestört zu sein; bald hatte sie eine Laube im Garten ausgesucht, wo die Welt ringsum von dichten Platanen abgeschlossen und nur der frischen Morgenluft oder dem Frührot der Zutritt gestattet war. So erschien sie immer neu und überraschend; und wenn der Freund herzutrat, wie freudig stand sie auf, wie hold bot sie ihm die Hand zum Gruß, wie lebhaft wußte sie, wenn er, noch ganz in ihren Anblick versunken, ohne Worte war, das Gespräch anzuknüpfen, dies und jenes zu erzählen, durch Laune und feine Beobachtung allem, was sie sagte, ein eigenes Gewand, einen eigentümlichen Reiz zu geben! Und wenn sie dann nachher schnell und emsig das Geräte des Frühstücks auf die Seite räumte, wenn er sein Buch hervorzog, wenn sie mit der Arbeit, die sie selten beiseite legte, ihm sich gegenübersetzte und erwartungsvoll an seinen Lippen hing, da war es ihm oft, als müsse er alles, die ganze Welt vergessen, und einen kleinen, kurzen, seligen Augenblick träumte er, er sei ein glücklicher Gatte und sitze hier an der Seite eines geliebten Weibes.20.

Es gereichte Josephen in den Augen ihres Freundes zu keinem geringen Ruhm, daß sie gerade jenen Dichter zu ihrem Liebling erwählt hatte, der auch ihn vor allen anzog. Zwar mußte er ihr oft bei Vorlesungen aus Jean Pauls herrlichen Dichtungen zu Hilfe kommen, um dieses oder jenes dunklere Gleichnis zu erklären; aber sie faßte schnell, ihr natürlicher Takt und ihr zarter Sinn, der so ganz in dem Dichter lebte, ließ sie manches erraten, ehe ihr noch der Freund Gewißheit gegeben hatte.

"Es liegt doch," sagte sie eines Tages, "eine Welt voll Gedanken in diesem Hesperus! Jede menschliche Empfindung bei Freude und Schmerz, bei Liebe und Gram liegt zergliedert vor uns da; er weiß uns, indem wir den süßen Duft einer Blume einsaugen, ihre innersten Teile, ihre zarten Blätter, ihre feinsten Staubfäden zu beschreiben, ohne daß er sie zerstört, entblättert. Denn das, glaube ich, ist ja das große, tiefe Geheimnis dieses Meisters, daß er jede tiefere Empfindung nicht beschreibt, sondern andeutet, und doch wieder nicht flüchtig



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andeutet, sondern wie durch das feine Mikroskop eines Gleichnisses uns einen tiefen Blick in die Menschenseele tun läßt, wo Gedanke an Gedanke aufsteigt, und das Auge, überrascht, aber entzückt über die wundervolle Schöpfung, in eine Träne übergeht."

"Sie haben," erwiderte der Gastfreund, " wie es mir scheint, in diesen Worten sein Geheimnis wirklich ausgesprochen. Mir ist sonst, ich gestehe es offen, nichts so in der innersten Seele zuwider als das sichtbare Abmühen eines Autors, dem Leser recht klar und deutlich zu machen, was sein Held oder die Heldin oder eine dritte, vierte Person da oder dort empfunden oder gedacht. Aber unser Dichter — wie herrlich, wie reich ist auch hierin seine Erfindung! Wir leben, wir denken, wir weinen unwillkürlich mit Viktor, und Klotildens bleichere Wangen, ihre klagelose Trauer trifft uns tiefer, als jede Beschreibung es sagen kann, und im wannen, weichen Glück der Liebenden möchten wir ein Strahl der Abendsonne sein, der in der Laube um ihre Umarmung spielt, jene Nachtigall, die ihnen die fromme Feier ihrer Seligkeit mit ihrer glockenhellen Stimme einläutete."

"Es ist sonderbar," bemerkte Josephe, "der Faden dieses Romans, was man sein Gerippe nennt, würde uns bei einem anderen nicht im mindesten interessant, vielleicht sogar gesucht, langweilig dünken. Sechs verlorene, vertauschte, wiedergefundene Söhne, statt daß z. B. Walter Scott gewöhnlich nur einen hat und sogar der Verfasser des Walladmorin seiner Parodie mit zweien sich begnügt; eine junge Dame, die zu ihrer Qual von ihrem Bruder geliebt wird, selbst aber seinen Freund liebt; ein kleiner, simpler Hof in Duodez, ein Pfarrhaus voll Ratten und Kinder und ein Edelsitz, wo Unedle wohnen; denken Sie sich diese gewöhnlichen Dinge in einer Reihenfolge, so haben Sie einen unserer gewöhnlicheren Romane Von verlorenen Söhnen usw. und nicht einmal einen rechten Jammer, um mich so auszudrücken, als etwa Le Beaus Ermordung durch den Hof junker oder das tragische Ende des Lords im fünften Akt. Aber welch ein Leben, welch eine Welt wird aus dieser Geschichte, wenn ihr jener Dichter seinen Blumenmantel umhängt! Welche geistreiche Luft, höher und reiner als jede irdische, kommt uns aus der verehrenden Liebe Viktors und Klotildens zu ihrem Lehrer Emanuel, welche Wehmut aus den Täuschungen eines kalten Lebens, wenn Viktor und jenes liebenswürdige Wesen sich verkennen, nicht finden; welche Wonne

"Ja," rief der junge Mann, "unser Dichter ist wie ein groser Musiker. Er hat ein ausgespieltes, alte-, längst gehörtes Thema vor sich; aber indem er den Gang des alten Liedchens beibehält, führt er die Gedanken auf eine Weise aus, die uns so überraschend, so neu endlich, wenn ihre Seelen unter dem nächtlichen, gestirnten Himmel im Schmerz der Trennung sich aufschließen und überströmen in Liebe!



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erscheint, daß wir das Thema vergessen und nur auf die Wendungen horchen, in die er übergeht, in welchen er die Himmelsleiter der Töne wie ein Engel auf- und abgeht und uns einen geöffneten seligen Himmel im Traume zeigt, während wir vielleicht wie Jakob in der Wirklichkeit auf recht hartem Lager liegen. Dann ist er bald weich wie eine Flöte, durchdringend wie die Hoboe, bald voll, rührend wie das Wald horn aus der Ferne, bald braust er daher wie mit den mächtigsten, tiefsten Bässen, majestätisch, erhaben, bald nur sanft lispelnd wie die Äolsharfe oder in Wehmut aufgelöst wie die Töne der Harmonika."

"Wie danke ich es ihm," sagte Josephe weich, "daß er versöhnt, daß er die Wunden unserer Wehmut heilt! Es hätte ja in seiner Macht gestanden, Klotilden untergehen zu lassen im Schmerz unerwiderter Liebe; vor ihrem Tode hätte ihr Viktor noch zugerufen: ,Ich liebte dich ja über alles,' und sie wäre lächelnd eingeschlafen. Denken Sie sich den ungeheuren Schmerz, die Bitterkeit gegen das Geschick, wenn wir diese Menschen so hätten untergehen sehen, ohne Hoffnung, ohne Trost! Aber es wäre ja nicht möglich gewesen; Viktor hätte nicht so lange geliebt, hätte sich an Joachime oder die Fürstin hingegeben; denn ein Mann kann ja ohne erwiderte Liebe nicht lange lieben!"

"Glauben Sie das wirklich?" erwiderte Fröben wehmütig lächelnd. "O, wie wenig müssen Sie uns kennen, wie klein müssen Sie von uns denken, wenn wir nicht einmal den Mut besäßen, dieses kurze Leben hindurch treu zu lieben, auch ohne geliebt zu werden!"

"Ich halte es bei Frauen für möglich," sagte die schöne Frau; "Liebe ohne Gegenliebe ist ein tiefes Unglück, und Frauen sind ja mehr dazu gemacht, stille Leiden zu tragen ein Erdenleben lang, als ihr. Der Mann würde einen solchen Gram von sich werfen, oder der glühende Kummer müßte ihn verzehren!"

"Beides nicht —ich lebe ja noch und liebe," sagte Fröben, zerstreut vor sich hinblickend.

"Sie lieben!" rief Josephe, und mit so eigenem Ton, daß der junge Mann erschreckt aufblickte; sie schlug die Augen nieder, als ihr sein Blick begegnete, eine tiefe Röte überflog ihr Gesicht und ging ebenso schnell wieder in tiefe Blässe über.

"Ja," sagte er, indem es ihm mit Mühe gelang, es scherzhaft zu sagen, "der Fall, den Sie setzten, ist der meinige, und noch liebe ich, vielleicht ruhiger, aber nicht minder innig als am ersten Tag; ich liebe sogar beinahe ohne Hoffnung; denn die Dame meines Herzens weiß nicht um meine Liebe; und dennoch, wie Sie sehen, hat mich der Kummer noch nicht getötet."

"Und darf man wissen!" sagte sie zutraulich, aber, wie es Froben schien, mit zitternder Stimme, "darf man wissen, wer die Glückliche ist —"



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"Ach. sehen Sie, das ist gerade das Unglück, ich weiß ja nicht, wei sie ist, noch wo sie sich aufhält, und liebe dennoch, ja, Sie werden mich für einen zweiten Don Quichotte halten, wenn ich gestehe, daß ich sie nur einigemal flüchtig sah, mich nur noch einiger Partien ihres Gesichts erinnern kann und dennoch in der Welt umherstreife, um sie zu finden, weil es mir zu Hause keine Ruhe läßt."

"Sonderbar," bemerkte Josephe, indem sie ihn nachdenklich ansah, "sonderbar; es ist wahr, ich kann mir einen solchen Fall denken; aber dennoch machen Sie eine seltene Ausnahme, lieber Froben; wissen Sie denn, ob Sie geliebt werden, ob das Mädchen Ihnen treu ist?"

"Nichts weiß ich von diesem allem," erwiderte er ernst und mit verschlossenem Gram, "ich weiß nichts, als daß ich glücklich wäre, wenn ich jenes Wesen mein nennen könnte, und weiß nur allzugut, daß ich vielleicht auf immer verzichten muß und nie ganz glücklich werde!"

Je seltener sonst der junge Mann über diese Gefühle sich aussprach , desto mächtiger kamen in diesem Augenblick alle Schmerzen der Erinnerung an gramvolle Stunden und eine Wehmut über ihn, der er sich nicht gewachsen fühlte. Erstand schnell auf und ging aus der Laube dem Schlosse zu. Aber Josephe sah ihm mit Blicken voll unendlicher Liebe nach; Träne um Träne löste sich aus den zuckenden Wimpern, und erst als sie wie ein Quell auf ihre schöne Hand herabfielen , erweckten sie Josephen aus ihren Träumen. Und beschämt, als hätte sie sich bei einer geheimen Schuld belauscht, errötete sie und preßte ihr Tuch vor diese verräterischen Augen.

21.

Die Vorhersagung des alten Mechanikus war eingetroffen; denn mit dem letzten Tag der Woche waren auch die Maschinen der Dampfmühle fertig aufgestellt. Der Baron, so unmutig er anfangs gewesen war, hatte in der Freude seines Herzens, als der erste Versuch glücklich gelungen war, den Alten und seine Gesellen reichlich beschenkt entlassen und auf Sonntag alle seine Nachbarn in der Umgegend eingeladen um mit einem kleinen Feste seine Mühle einzuweihen. So glücklich und heiter er an diesem Tage war, so fröhlich und jovial er seine zahlreichen Gäste empfing, so entging es doch Fröbens beobachtenden Blicken nicht, daß er die arme Josephe mit hunderterlei Aufträgen und Anordnungen plagte, daß sie ihm nichts zu Dank machen konnte. Bald sollte sie in der Küche sein, um das Gesinde anzutreiben und selbst mitzuhelfen, bald besserte er dies oder jenes an ihrem putz,



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bald wollte er vor Ungeduld verzweifeln, wenn sie nicht schnell genug die Treppe herabflog, um mit ihm am Portal die Ankommenden zu empfangen, bald wollte er die Tafel so oder anders gestellt haben, bald wollte er den Kaffee im Garten, bald im Salon trinken. Mit Engelsgeduld und einer Resignation, die dem Freunde unbegreiflich war, ertrug sie alle diese Unbilden. Sie war überall, sorgte für alles und wußte sogar einen Augenblick zu finden, um den Gastfreund zu fragen, warum er gerade heute so trübe sei, ihn aufzumuntern, an der allgemeinen Fröhlichkeit teilzunehmen.

Allgemein entzückte die Schönheit, die behende Aufmerksamkeit der Hausfrau; die Männer priesen den Baron glücklich, einen solchen Schatz im Hause zu haben, und mehrere der älteren Damen sagten ihm unverhohlen ihre Bewunderung über die seltenen Talente zur Wirtschaft, über die Einsicht und Ordnung einer so jungen Frau. "Siehst du," flüsterte der Glückliche Froben zu, "siehst du, was eine Zucht wie die meinige Wunder wirkt? Ich bin im ganzen heute recht zufrieden mit ihr; aber wenn ich nicht im geheimen überall selbst nachhülfe, wie stünde es dann um die wirtschaftliche Ehre der Hausfrau frau! Aber es macht sich, ich sagte es ja immer, es macht sich." Die allgemeine Fröhlichkeit und der Wein steigerten Faldner immer höher, und es war endlich hohe Zeit, die Tafel aufzuheben; denn er und einige Herren aus der Nachbarschaft erlaubten sich schon Scherze und Anspielungen, welche jedes zartere Ohr beleidigten.

Man fuhr nach der neuen Dampfmühle, man weihte sie unter Scherz und Lachen förmlich ein, man ging wieder zurück und erstaunte aufs neue über die geschmackvollen und doch so bequemen Anordnungen , welche Josephe indessen im Garten getroffen hatte. Sie hatte es gewagt, nach ihrer eigenen Erfindung schnell eine große geräumige Laube errichten zu lassen; alle möglichen Erfrischungen erwarteten dort die Gäste, und ihr allgemeines Lob bewirkte ein Wunder. Der Baron wurde nicht einmal ungehalten, daß man junge Eschen und Tannen aus seinem Walde zu der Laube verwendet, daß man seinen eigenen Plan, ein Zelt aus Brettern und Teppichen aufzuschlagen , nicht befolgt hatte. Er küsste seine Frau auf die Stirne und dankte ihr für die angenehme Überraschung.

Man setzte sich in bunten Reihen umher. Die Männer sprachen den alten Weinen des Hausherrn fleißig zu, und bald hatte eine allgemeine Fröhlichkeit die Gesellschaft erfaßt. Man spielte witzige, geistreiche Spiele, und als die mutwillige Laune der Männer noch höher stieg, wurden sogar Pfänderspiele nicht verschmäht. So kam es, daß bei ihrer Auslösung auch Fröben sein Pfand mit einer Strafe lösen sollte, und Josephe, welcher die Bestimmung dieser Strafe aufgelegt war, befahl ihm, eine wahre Geschichte aus seinem Leben



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zu erzählen. Man gab ihrer Wahl allgemeinen Beifall, der Baron schlug vor Freuden über seine kluge Frau in die Hände, und als Froben zauderte und sich besann, rief er: "Nun, soll ich etwas für dich erzählen aus deinem Leben? Etwa die pikante Geschichte von dem Mädchen vom Pont des Arts?"

Froben errötete und sah ihn Mißbilligend an; aber die Gesellschaft, die hier vielleicht ein lustiges Geheimnis ahnte, rief: "Die Geschichte von dem Mädchen, die Geschichte vom Pont des Arts!" und vielleicht nur, um der Indiskretion seines Freundes zu entgehen, den der Wein schon etwas über die gewöhnlichen Grenzen hinausgerückt hatte, bequemte er sich, zu erzählen; der Baron aber versprach der Gesellschaft, sobald der Erzähler von der genauen Wahrheit abweichen würde, wolle er Noten zu der Geschichte geben; denn er sei selbst dabei gewesen.

22.

"Ich weiß nicht," hub Fröben an, "ob der Gesellschaft bekannt ist, daß ich vor mehreren Jahren mit unserem Faldner reiste, namentlich in Paris mit ihm einige Zeit zusammen lebte, ja ein Haus mit ihm bewohnte? Wir hatten so ziemlich gemeinschaftliche Studien, besuchten dieselben Zirkel, machten gegenseitig unsere früheren Bekannten mit dem Freunde bekannt und lebten auf diese Weise unzertrennlich . Wir hatten einen gemeinschaftlichen Freund, den ebenso liebenswürdigen als gelehrten Doktor M., einen Landsmann, der in der Rue Taranne wohnte, die bekanntlich in die Rue St. Dominique führt und auf dem linken Ufer der Seine liegt. Unser gewöhnlicher Abendspaziergang war durch die Champs élysées über die schöne Brücke ins Marsfeld und von da durch Faubourg St. Germain in die Wohnung unseres Freundes, wo wir oft noch bis tief in die Nacht vom Vaterlande, von Frankreich, von dem, was wir gesehen, von allem möglichen plauderten. Wir wohnten, um dies noch hinzuzusetzen, am Place des Victoires, ziemlich entfernt von der Rue Taranne, und wählten zum Rückweg gewöhnlich Pont des Arts, um das Louvre zu durchschneiden und uns einen Umweg durch die Seitenstraßen zu ersparen. Eines Abends, es mochte nach elf Uhr sein —es hatte etwas geregnet, und der Wind wehte besonders in der Nähe des Flusse:. sehr kalt und schneidend — gingen wir auch vom Quai Malaquais über den Pont des Arts dem Louvre zu. Der Pont des Arts ist nur für Fußgänger zugänglich, und so kam es, daß um diese Zeit nicht mehr viel Leben um und auf der Brücke war. Wir gingen, d ;e Mäntel fester um uns ziehend, stillschweigend über die Brücke; schon wollte ich die



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Brückenstufen auf der anderen Seite hinabeilen, als ein überraschender Anblick mich festhielt.

"An die Brücke gelehnt, stand eine schlanke, ziemlich hohe weibliche Gestalt. Ein schwarzes Hütchen war tief ins Gesicht geknüpft und zum Überfluß noch mit einem grünen Schleier versehen; ein schwarzer Mantel von Seide fiel um den Leib, und der Wind, der die Gewänder in diesem Augenblick fester anschmiegte, verriet eine ungemein zarte, jugendliche Taille; aus dem Mantel ragte eine kleine Hand hervor, die einen Teller hielt; vor ihr aber stand ein kleines Laternchen, dessen Licht unruhig flackerte, sein Schein fiel auf einen zierlichen Fuß. Es wohnt vielleicht nirgends so sehr als in jener Stadt das tiefste Elend neben dem höchsten Glanz und Wohlleben; aber dennoch sieht man verhältnismäßig wenige Bettler. Sie drängen sich selten unverschämt herzu, und nie wird man sehen, daß sie dem Fremden nachlaufen, ihn mit Bitten verfolgen. Alte Männer oder Blinde sitzen oder knien an den Ecken der Straßen, den Hut vor sich hinhaltend, und überlassen es dem Vorübergehenden, ob er ihren bittenden Blick beachten will.

"Am schauerlichsten, wenigstens für mein Gefühl, waren immer jene verschämten Bettler, die nachts mit verhülltem Haupt, eine brennende Kerze vor sich, regungslos, fast schon wie erstorben, in einer Ecke stehen; viele meiner Bekannten in Paris hatten mich versichert, daß man darauf rechnen könne, daß dies meistens Leute aus besseren Ständen seien, die durch Unglück so tief herabgekommen sind, daß sie entweder Arbeit suchen müssen, oder sind sie zu verschämt, vielleicht zu schwach, um für Brot zu arbeiten, so ergreifen sie diesen letzten Ausweg, ehe sie, wie so viele Unglückliche, ihr Leben in der Seine der Vergessenheit übergeben.

"Von dieser Klasse der Bettelnden war die weibliche Gestalt an dem Pont des Arts, deren Anblick mich unwiderstehlich fesselte. Ich sah sie näher an; ihre Glieder schienen vor Frost noch heftiger zu zittern als das Flämmchen in der Laterne; aber sie schwieg und ließ ihr Elend und den kalten Nachtwind für sich reden. Ich suchte in der Tasche nach kleinem Gelde; aber es wollte sich kein Sou, sogar kein einzelner Frank finden. Ich wandte mich an Faldner und bat ihn um Münze; aber unmutig, durch mein Zögern der schneidenden Kälte ausgesetzt zu sein, rief er mir in unserer Sprache zu: ,So laß doch das Bettelvolk und spute dich, daß wir zu Bette kommen, mich friert!' — Nur ein paar Sous, Bester!' bat ich; aber er packte mich am Mantel und wollte mich wegziehen.

"Da rief die Verhüllte mit zitternder, aber wohltönender Stimme und zu unserer Verwunderung auf gut deutsch: .O, meine Herren, seien Sie barmherzig!' Diese Stimme, diese Worte und unsere Sprache hatten etwas so Rührendes für mich, daß ich nochmals um einige



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Münze bat. Er lachte: .Nun wohlan, da hast du ein paar Franks,' sagte er, .versuche dein Heil mit der Jungfer, aber mich laß aus dem Zug treten!' Er drückte mir das Geld in die Hand und ging lachend weiter. Ich war in diesem Augenblick wirklich verlegen, was ich tun sollte; sie mußte ja gehört haben, was Faldner sagte, und beleidigen mag ich am wenigsten einen Unglücklichen. Ich trat unschlüssig näher. 'Mein Kind,' sagte ich, ,Sie haben hier einen schlechten Standpunkt gewählt; hier werden heute abend nicht mehr viele Menschen vorübergehen.' Sie antwortete nicht gleich. .Wenn nur,' flüsterte sie nach einer Weile kaum hörbar, ,diese Wenigen Gefühl für Unglück haben!' Diese Antwort überraschte mich; sie war so ungesucht und doch so treffend. Die edle Haltung des Mädchens, der Ton, womit sie jene Worte gesagt, verrieten Bildung. .Wir sind Landsleute,' fuhr ich fort, ,darf ich Sie nicht bitten, daß Sie mir sagen, ob ich vielleicht mehr für Sie tun kann, als so im Vorübergehen zu geschehen pflegt?' —,Wir sind sehr arm,' antwortete sie, wie mir schien, etwas mutiger, ,und meine Mutter ist krank und ohne Hilfe.' Ohne weitere Überlegung, nur von dem unbestimmten Gefühl, daß mich das Mädchen sehr anzog, getrieben, sagte ich: .Führen Sie mich zu ihr" Sie schwieg, der Vorschlag schien sie zu überraschen. .Halten Sie dies für nichts anderes,' fuhr ich fort, ,als für meinen redlichen Willen, Ihnen zu helfen. wenn ich kann.' — ,So kommen Sie,' erwiderte die Verschleierte, hob ihr Laternchen auf, löschte es aus und verbarg es samt dem Teller unter dem Mantel."23.

"Wie?" rief der Baron laut lachend, als Froben schwieg, "weiter willst du nicht erzählen? Willst es auch heute wieder machen, wie du es mir schon damals machtest: Nämlich bis hierher, meine Herren und Damen, hat er ganz nach reiner historischer Wahrheit erzählt. Er glaubte mich vielleicht weit weg, und ich stand keine zehn Schritt von der erbaulichen Samariterszene unter dem Portal des, Palais und sah ihm zu; ob der Dialog wirklich so vor sich gegangen, weiß ich nicht; denn der schändliche Wind verwehte die Worte; aber ich sah, wie die Dame ihr Lämpchen auslöschte und mit ihm zurück über die Brücke ging. Die Nacht war mir zu kalt, um ihm bei seinem galanten Abenteuer zu folgen; aber am Ende, ich wollte wetten, sah er weder eine kranke Mama, noch dergleichen, sondern die Dame vom Pont des Arts hatte das alte Sirenenlied nur auf andere Weise gesungen."

Er belachte seinen eigenen Witz, und die Männer stimmten ein in das rohe Gelächter; die Damen aber sahen vor sich nieder, unb



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Josephe schien mit den Worten ihres Gatten so unzufrieden als mit der sonderbaren Erzählung ihres Freundes; denn bleich wie der Tod hielt sie ihre Tasse in den Händen, daß sie klirrte, und sandte dem jungen Mann nur einen Blick zu, für den er in diesem Augenblicke keine andere als eine tief beschämende Deutung wußte. "Ich glaube zwar," sprach er, mit starker Stimme das Gelächter der Männer unterbrechend , "mein Pfand gelöst zu haben; aber mein eigener Vorteil will, daß ich eine Deutung dieses Vorfalls nicht zulasse, die mein Freund ihm unterzulegen scheint; Sie erlauben mir daher, daß ich fortfahre, und bei meinem Leben," setzte er hinzu, indem er errötete und sein Auge höher leuchtete, "ich will Ihnen die reine Wahrheit sagen.

"Das Mädchen bog über die Brücke ein, woher ich gekommen war. Während ich schweigend mehr hinter als neben ihr ging, hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Ihre Gestalt, soweit sie der Mantel sehen ließ, ihre ganze Haltung, besonders aber ihre Stimme war sehr jugendlich, ihr Gang schnell, aber leicht und schwebend. Sie hatte meinen Arm abgelehnt, als ich ihn zur Führung angeboten. Am Ende der Brücke bog sie nach der Rue Mazarin ein. ,Ist Ihre Mutter schon lange krank?' fragte ich, indem ich wieder an ihre Seite trat und versuchte, durch den Schleier etwas von ihren Zügen zu erspähen. Seit zwei Jahren,' antwortete sie seufzend; ,aber seit acht Tagen ist sie recht elend geworden.' —,Waren Sie schon öfter an jenem Ort?' Wo?' fragte sie. —,Auf der Brücke.' — ,Diesen Abend zum erstenmal,' erwiderte sie. — ,Dann haben Sie sich keinen guten Platz gesucht ; andere Passagen sind frequenter.' Doch schon, indem ich dies sagte, bereute ich, es gesagt zu haben; denn es mußte sie ja verletzen. Mit unterdrücktem Weinen flüsterte sie: ,Ach, ich bin ja hier so unbekannt, und — ich schämte mich, so ins Gedränge zu gehen.'

"Wie grenzenlos mußte das Elend sein, das dieses Geschöpf zwang zu betteln. Zwar wollten auch mir, ich gestehe es, einigemal solche Gedanken kommen, wie sie Faldner hatte, aber immer verschwanden sie wieder, weil sie widersinnig, unnatürlich waren. Wenn sie zu jener verworfenen Klasse von Mädchen gehörte, warum sollte sie sich verhüllt an einen einsamen Ort stellen? Warum geflissentlich eine Gestalt verbergen, die, soviel die Umrisse flüchtig zeigten, gewiß zu den schöneren zu zählen war? Nein, es war gewiß wirkliches Elend und jene zarte Verschämtheit Vor unverschuldeter Armut da, die das Unglück so unbeschreiblich rührend macht.

"Hat Ihre Mutter einen Arzt?' fragte ich wieder nach einiger Weile. — ,Sie hatte einen; aber als wir keine Arznei mehr kaufen konnten, wollte er sie ins Spital des lncurables bringen lassen, und —das konnte ich nicht ertragen. Ach Gott, meine arme Mutter ins



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Spital!' Wie viel tiefer Schmerz lag in den letzten Worten dieses Mädchens!

"Sie weinte, sie führte ihr Tuch unter dem Schleier ans Auge, und Laterne und Teller, die sie in der anderen Hand trug, verhinderten sie, den Mantel zusammenzuhalten; der Wind wehte ihn weit auseinander , und ich sah, daß ich mich nicht betrogen hatte; sie war von feiner, schlanker Taille; sie trug ein einfaches, soviel mein flüchtiger Blick bemerkte, sehr reinliches Kleid. Sie haschte nach dem Mantel, und indem ich ihr behilflich war, ihn wieder umzulegen, fühlte ich ihre weiche, zarte Hand.

"Wir waren schon durch die Straßen Mazarin, St. Germain, ECOLE ( DE Médecine und von dort durch einige kleine Seitenstraßen gegangen, als sie auf einmal stehen blieb und klagte, sie habe den Weg verfehlt. Ich fragte sie, in welcher Gegend sie wohne, und sie gab St. Severin an. Ich war in Verlegenheit, denn diese Straße wußte ich selbst nicht zu finden. Machte es Angst oder Kälte, ich sah sie heftiger zittern. Ich sah mich um; ich bemerkte noch Licht in einem Souterrain, wo Eau de vie verkauft wurde; ich bat sie, zu warten, stieg hinab und erkundigte mich. Man wies mich zurecht, und ich glaubte mich hinfinden zu können. Als ich heraufkam, hörte ich in der Nähe laut reden; ich sah beim schwachen Schein einer Laterne, wie sich das Mädchen heftig gegen zwei Männer wehrte, von denen der eine ihre Hand, der andere den Mantel gefaßt hatte; sie lachten, sie sprachen ihr zu; ich ahnete, was vorging, sprang herzu und riß dem einen die Hand weg, die er gefaßt hatte; sprachlos, weinend klammerte sie sich fest an meinen Arm.

'Meine Herren,' sagte ich, ,ihr sehet, ihr seid hier im Irrtum; ihr werdet im Augenblick den Mantel von Mademoiselle loslassen!'

'Ach, Verzeihung, mein Herr!' erwiderte der, welcher ihren Mantel gefaßt hatte. ,Ich sehe, Sie haben ältere Rechte auf Mademoiselle!' Und lachend zogen sie weiter.

"Wir gingen weiter, das arme Kind zitterte heftig, sie hielt noch immer meinen Arm fest, sie war nahe daran, niederzusinken.

'Nur Mut!' sagte ich zu ihr, .St. Severin ist nicht ferne, Sie werden bald zu Hause sein.' Sie antwortete nicht, sie weinte noch immer. Als wir in der Straße waren, die nach der Beschreibung St. Severin sein mußte, blieb sie wieder stehen. ,Nein, Sie dürfen nicht weiter mit mir gehen, mein Herr!' sagte sie. ,Es darf nicht sein.' — 'Aber warum denn nicht, da Sie mich so weit mitgenommen haben? Ich bitte, trauen Sie mir keine schlechten Absichten zu! Ich hatte bei diesen Worten, ohne es zu wissen, ihre Hand ergriffen und vielleicht gedrückt; sie entzog sie mir hastig und sagte: ,Vergeben Sie, daß ich die Unschicklichkeit beging, Sie so weit mitzuführen; bitte



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verlassen Sie mich jetzt!' Ich fühlte, daß der Auftritt vorhin sie tief verletzt hatte, daß er ihr vielleicht gegen mich selbst Mißtrauen einflößte, und eben dies rührte mich unbeschreiblich; ich nahm das Silber, das mir Faldner gegeben, und wollte es ihr hinreichen; aber der Gedanke , wie wenig diese kleine Gabe ihr helfen könne, zog meine Hand zurück, und ich gab ihr das wenige Gold, das ich bei mir trug.

"Ihre Hand zuckte, als sie es nahm; sie schien es für Silber zu halten, dankte mir aber mit zitternder, rührender Stimme und wollte gehen.

'Noch ein Wort,' sagte ich und hielt sie auf; ,ich hoffe, Ihre Mutter wird gesund werden; aber es könnte ihr doch noch an etwas gebrechen, und Sie, mein Kind, sind nicht für solche Abendgänge wie der heutige gemacht. Wollen Sie nicht heute über acht Tage um diesel Zeit vor der Ecole Médecine sein, daß ich mich nach Ihrer Mutter erkundigen kann?' Sie schien unschlüssig, endlich sagte sie: ,Ja.' —,Und setzen Sie doch den Hut mit dem grünen Schleier wieder auf, daß ich Sie erkenne,' fügte ich hinzu; sie bejahte es, dankte noch einmal, ging eilend die Straße hin und war schnell in der Nacht verschwunden.

24.

"Als ich am Morgen nach dieser Begebenheit erwachte, schien es mir, als hätte mir von diesem allem nur geträumt. Aber Faldner, der bald herbeikam und mich nach seiner zarten Manier zu schrauben anfing, riss mich aus meinem Zweifel. Die Sache schien mir, so recht deutlich am Morgenlicht betrachtet, doch allzu fabelhaft, als daß ich sie dem ungläubigen Freund hätte erzählen mögen. Man ist in neuerer Zeit zu jenem Grad der Sittenverfeinerung gekommen, die schon ins Gebiet der Unsittlichkeit hinüberstreift; man will in manchen Fällen lieber wild, etwas liederlich und schlecht erscheinen, man gibt lieber eine Zweideutigkeit zu, nur um nicht als ein Tor, als ein Sonderling, als ein Mensch von schwachem Verstand und beschränkten Lebensansichten zu gelten.

"Im Innern kränkte mich aber noch mehr als Faldners Schraubereien eine Unruhe, ein Etwas, was ich nicht zu deuten wußte. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich nicht einmal ihr Gesicht gesehen hatte. 'Wozu,' sagte ich mir, ,wozu diese übertriebene Diskretion? Wenn ich ein paar Napoleons hingebe, so kann ich doch um die Gunst bitten, den Schleier etwas zu lüften?' Und doch, wenn ich mir das ganze Betragen des Mädchens, das, so einfach es war, doch von Gemeinheit auch nicht im geringsten etwas an sich hatte, zurückrief, wenn ich bedachte, wie mich ihre edle Haltung, der gebildete Ton ihrer



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Antworten anzog, so mußte ich mich, halb zu meinem Arger, rechtfertigen . Es liegt etwas in der menschlichen Stimme, das uns, ehe wir Züge und Auge, ehe wir den Stand des Sprechenden kennen, den Ton angibt, in welchem wir mit ihm sprechen müssen. Wie unendlich, nicht sowohl in der Form, als im Klang der Sprache, unterscheidet sich der Gebildete vom Ungebildeten, und des Mädchens Töne waren so weich und zart, ihre kurzen Antworten oft so aus der tiefsten Seele gesprochen . Den ganzen Tag konnte ich diese Gedanken nicht los werden, sogar abends in eine glänzende Gesellschaft von Damen begleitete mich das arme Mädchen mit dem schwarzen Hütchen, dem grünen Schleier und dem unscheinbaren Mantel.

"In den nächsten Tagen ärgerte ich mich über meine Torheit, welche schuld war, daß das Mädchen erst nach acht Tagen wiedersehen konnte; ich zählte die Stunden ab bis zu dem nächsten Freitag, und es war, als hätte jene Hauptstadt der Welt, wie sie ihre Bewohner nennen, nichts Reizendes mehr in sich, als die Bettlerin vom Pont des Arts. Endlich, endlich erschien der Freitag. Ich brauchte alle mögliche List, um mich auf diesen Abend von Faldner und den übrigen Freunden loszumachen, und trat, als es dunkel wurde, meinen Weg an. Ich hatte über eine Stunde zu gehen und Zeit genug, über meinen Gang nachzudenken. ,Heute,' sagte ich zu mir, heute wirst du ins reine kommen, was du von dieser Person zu denken hast; du wirst ihr anbieten, mit ihr zu gehen; nimmt sie es an, so hast du dich schon das erste Mal betrogen. Auch das Gesicht muß sie heute zeigen.

"Ich war so eilends gegangen, daß es noch nicht einmal zehn Uhr war, als ich auf dem Place I'Ecolo Médecine anlangte, und —auf elf Uhr hatte ich sie ja erst bestimmt. Ich trat noch in ein Cafe, durchblätterte gedankenlos eine Schar von Zeitungen; — endlich schlug es elf Uhr.

"Auf dem Platz waren wenige Menschen und, so weit ich mein Auge anstrengte, kein grüner Schleier zu sehen. Ich hielt mich immer auf der Seite der Arzneischule, weil dort mehrere Laternen brannten. Die Momente solchen Erwartens sind peinlich. Wenn sie an deinem Gold genug hätte und gar nicht käme, wenn sie deine Gutherzigkeit verlachten dachte ich, als ich den Platz wohl schon zehnmal auf- und abgegangen war. Es schlug halb zwölf; schon fing ich an, über meine eigene Torheit zu murren; da wehte im Schein einer Laterne, etwa dreißig Schritte von mir, etwas Grünes; mein Herz pochte ungestümer , ich eilte hin —sie war es. .Guten Abend,' sagte ich, indem ich ihr die Hand bot, ,schön, daß Sie doch Wort gehalten; schon glaubte ich, Sie werden nimmer kommen.' Sie verbeugte sich, ohne meine Hand zu fassen, und ging an meiner Seite hin; sie schien sehr gerührt.



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Mein Herr, mein edler Landsmann,' sprach sie mit bewegter Stimme, ich mußte ja Wort halten, um Ihnen zu danken. Ich komme heute gewiß nicht, um Ihre Güte aufs neue in Anspruch zu nehmen. Ach, wie reich, wie freigebig haben Sie uns beschenkt! Kann Sie der innige Dank einer Tochter, können die Gebete und Segenswünsche meiner kranken Mutter Sie entschädigen?'

'Sprechen wir nicht davon,' erwiderte ich. ,Wie geht es Ihrer Mutter?' —,Ich glaube, wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen,' antwortete sie, ,der Arzt spricht zwar nichts Bestimmtes aus, aber sie selbst fühlt sich kräftiger. O, wie danke ich Ihnen! Von Ihrem Geschenk konnte ich ihr wieder kräftige Speisen bereiten, und glauben Sie mir, der Gedanke, daß es noch so gute Menschen gibt, hat sie beinahe ebensosehr gestärkt.'

'Was sagte Ihre Mutter, als Sie zu Hause kamen?' —,Sie war sehr in Sorgen um mich, weil es schon so spät war,' erwiderte sie; ach, sie hatte so ungern mir die Erlaubnis zu diesem Gang gegeben und malte sich jetzt irgend ein Unglück vor, das mir begegnet sei. Ich erzählte ihr alles; aber als ich mein Tuch öffnete und die Gaben, die ich gesammelt hatte, hervorzog und Gold dabei war, Gold unter den Kupfer- und Silberstücken, da erstaunte sie, und —' sie stockte und schien nicht weiter reden zu können; ich dachte mir, die Mutter habe sie arger Dinge beschuldigt, und forschte weiter; aber mit rührender Offenheit gestand sie' .Die Mutter habe gesagt, der großmütige Landsmann müsse entweder ein Engel, oder ein Prinz gewesen sein.'

'Weder das eine, noch das andere,' sagte ich ihr. ,Aber wie weit haben Sie ausgereicht? Haben Sie noch Geld?'

'O, wir haben noch,' erwiderte sie mutig, wie es scheinen sollte; aber mir entging nicht, daß sie vielleicht unwillkürlich dabei seufzte.

'Und was haben Sie noch?' sagte ich etwas bestimmter und dringender.

'Wir haben eine Rechnung in der Apotheke davon bezahlt und einen Monat am Hauszins, und der Mutter habe ich davon gekocht; es ist aber immer noch übrig geblieben.

"Wie ärmlich mußten sie wohnen, wenn sie von diesem Gelde eine Apothekerrechnung, einen Monat Hauszins bezahlen und acht Tage lang kochen konnten! — ,Ich will aber genau wissen,' fuhr ich fort, .was und wieviel Sie noch haben.

'Mein Herr!' sagte sie, indem sie beleidigt einen Schritt zurücktrat.

'Mein gutes Kind, das verstehen Sie nicht,' erwiderte ich, indem ich ihr näher trat, ,oder Sie wollen es sich aus übertriebenem Zartgefühl nicht gestehen; ich frage Sie ernstlich, wenn Sie mit den paar Franken zu Rande sind, haben Sie Hilfe :u erwarten?'

'Nein,' sagte sie schüchtern und weich' ,keine!'



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'Denken Sie an Ihre Mutter und verschmähen Sie meine Hilfe nicht!' Ich hatte ihr bei diesen Worten meine Hand geboten; sie ergriff sie hastig, drückte sie an ihr Herz und pries meine Güte.

Nun wohlan, so kommen Sie!' fuhr ich fort, indem ich ihren in den meinigen legte; ,ich kam leider nicht gerade von Hause, als ich hierher kam, und hatte mich nicht versehen; Sie werden daher die Güte haben, mich einige Straßen zu begleiten bis in meine Wohnung, daß ich Ihnen für die Mutter etwas mitgebe.' Sie ließ sich schweigend weiter führen, und so angenehm mir der Gedanke war, sie noch ferner unterstützen zu können, so war doch mein Gefühl beinahe beleidigt, als sie ganz ohne Sträuben mitging — nachts in die Wohnung eines Mannes; aber wie ganz anders kam es, als ich dachte. Wir mochten wohl etwa zwei- oder dreihundert Schritte fortgegangen sein, da stand sie stille und entzog mir ihren Arm. ,Nein, es kann, es darf nicht sein,' rief sie, in Tränen ausbrechend. — ,Was betrübt Sie auf einmal?' fragte ich verwundert, ,was darf nicht sein?'

'Nein, ich gehe nicht mit, ich darf nicht mit Ihnen gehen.'

'Aber, mein Gott,' erwiderte ich, indem ich mich etwas aufgebracht stellte, .Sie haben doch wahrhaftig sehr wenig Vertrauen zu mir; wenn nicht Ihre Mutter wäre, gewiß, ich ginge jetzt von Ihnen; denn Sie tränken mich.'

"Sie nahm meine Hand, sie drückte sie bewegt. ,Habe ich Sie denn beleidigt?' rief sie. .O, Gott weiß, das wollte ich nicht; verzeihen Sie einem armen unerfahrenen Mädchen! Sie sind so großmütig, und ich sollte Sie beleidigen?

'Nun denn, so komm,' sagte ich, indem ich sie weiter zog, ,es ist keine Zeit zu verlieren, es ist spät, und der Weg ist weit.' Aber sie blieb stehen, weinte und flüsterte: ,Nein, um keinen Preis gehe ich weiter.'

'Aber vor wem fürchtest du dich denn ? Es kennt dich ja kein Mensch, es sieht dich ja keine Seele; du kannst getrost mit mir kommen.'

Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich! Nein, nein, es darf nicht sein, dringen Sie nicht weiter in mich!' Sie zitterte; ich fühlte wohl, wenn ich ihr die Not der Mutter noch einmal recht dringend vorstellte, so ging sie mit; aber die Angst des Mädchens rührte mich tief.

'Gut, so bleiben Sie hier,' sprach ich. ,Aber sagen Sie mir, können Sie vielleicht arbeiten:

'O ja, mein Herr,' erwiderte sie, ihre Tränen trocknend.

'Könnten Sie vielleicht meine feinere Wäsche besorgens

'Nein,' antwortete sie sehr bestimmt. ,Dazu sind wir nicht eingerichtet.



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"Hier ist ein weißes Tuch,' fuhr ich fort. ,Können Sie mir vielleicht ein halb Dutzend besorgen und fertig machen?'

"Sie besah das Tuch und sagte: ,Mit Vergnügen, und recht fein will ich es nähen!' Zu meiner eigenen Beschämung mußte ich jetzt dennoch Geld hervorziehen, obgleich ich es vorhin verleugnet hatte.

'Kaufen Sie sechs solcher Tücher,' fuhr ich fort, ,und können Sie wohl drei davon bis Sonntag abend fertig machen?' Sie versprach es; ich gab ihr noch etwas für die Mutter und sagte ihr, daß ich heute darauf nicht eingerichtet sei, aber Sonntag mehr tun könne. Sie dankte innig; es schien sie zu freuen, daß ich ihr Arbeit gegeben; denn noch einmal plauderte sie davon, wie schön sie die Tücher machen wolle, ja, wenn ich nicht irre, so fragte sie mich sogar, ob sie nicht einen englischen Saum einnähen dürfe. Ich sagte ihr alles zu; aber als sie nun Abschied nehmen wollte, hielt ich sie noch fest. ,Eines müssen Sie mir übrigens noch zu Gefallen tun,' sprach ich, ,Sie können es gewiß und leicht.'

'Und was?' fragte sie. ,Wie gerne will ich alles für Sie tun.

'Lassen Sie mich diesen neidischen Schleier aufheben und Ihr Gesicht sehen, daß ich doch eine Erinnerung an diesen Abend habe.

"Sie wich mir aus und hielt ihren Schleier fester. ,Bitte, lassen Sie das,' erwiderte sie und schien ein wenig mit sich selbst zu kämpfen, Sie haben ja die schöne Erinnerung an Ihre Wohltaten; die Mutter hat mir streng verboten, den Schleier zu lüften, und ich versichere Sie,' setzte sie hinzu, ,ich bin häßlich wie die Nacht, Sie würden nur erschrecken!'

"Aber dieser Widerstand reizte mich nur noch mehr; ein wirklich häßliches Mädchen, dachte ich, spricht nicht so von ihrer Häßlichkeit; ich wollte den Schleier fassen, aber wie ein Aal war sie entwischt. Dimanche! à revoir!' rief sie und eilte davon. Erstaunt blickte ich ihr nach; etwa fünfzig Schritte von mir blieb sie stehen, winkte mir mit meinem weißen Tuch und rief mit ihrer silberhellen Stimme: Gute Nacht!'

25.

"In den nächsten Tagen beschäftigte mich der Gedanke, welchem Stand das Mädchen wohl angehören könnte. Je lebhafter ich mir ihre gebildete Sprache, ihren zarten Sinn zurückrief, desto höher steigerte ich sie in meinen Gedanken. Darüber wenigstens mußte sie mir Gewißheit geben, nahm ich mir vor und beschloß, mich nicht wieder so abspeisen zu lassen wie mit dem Schleier. Der Sonntag kam. Du wirst dich noch jenes Nachmittags erinnern, Faldner, wo



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wir mit den Freunden in Montmorency im Garten des großen Dichters saßen. Ihr wolltet spät in der Nacht zu Hause fahren, und ich trieb immer zu einer frühen Rückfahrt, und als ihr dennoch bliebet, da machte ich mich trotz eures Scheltens davon. Freilich glaubtest du damals nicht, was ich vorgab, ich könnte die Nachtluft nicht vertragen; aber daß ich zu einem Rendezvous mit der Bettlerin vom Pont des Arts eile, konntest du auch nicht denken. Sie war diesmal die erste auf dem Platze, und weil sie mir die Tücher zu bringen hatte, war sie schon bange geworden, ich könnte sie verfehlt haben und glauben , sie werde nicht Wort halten. Mit beinahe kindischer Freude und, wie es mir schien, noch größerem Zutrauen als früher plauderte sie, indem sie mir beim Schein einer Straßenlaterne die Tücher zeigte.

"Sie schien es gerne zu hören, daß ich ihre feine Arbeit lobte. 'Sehen Sie, auch Ihren Namen habe ich hereingezeichnet,' sagte sie, indem sie das zierliche E. v. F. in der Ecke vorwies. Dann wollte sie mir eine Menge Silbergeld als Überschuß zurückgeben, und nur meine bestimmte Erklärung, daß sie mich dadurch beleidige, konnte sie bewegen , es als Arbeitslohn anzunehmen.

"Ich bestellte aufs neue wieder Arbeit, weil ich sah, daß dem zarten Sinn des Mädchens ein solcher Weg meiner Gaben mehr zusagte, und diesmal waren es Jabots und Manschetten, die ich bestellte. Ihre Mutter war nicht kränker geworden, konnte aber das Bett noch nicht verlassen; doch schon dieser Mittelzustand erschien ihr tröstlich. Als die Mutter abgehandelt war, wagte ich es, sie geradehin zu fragen, wie denn eigentlich ihre Verhältnisse seien.

"Die Geschichte, die sie mir in wenigen Worten preisgab, ist in Frankreich so alltäglich, daß sie beinahe jedem Armen zum Aushängeschild dienen muß. Ihr Vater war Offizier in der großen Armee gewesen, war nach der ersten Restauration der Bourbons auf halben Sold gesetzt worden, hatte nachher während der hundert Tage wieder Partei ergriffen und war bei Mont St. Jean mit den Garden gefallen . Er mochte ziemlich unvorsichtig gehandelt haben; denn seine Witwe verlor die Pension und lebte von da an ärmlich und elend. In den zwei letzten Jahren fristeten sie ihr Leben meist vom Verkauf ihrer geringen Habe und waren jetzt eben an jenen äußersten Grad des Elends gekommen, wo dem Armen nichts übrig bleibt, als aus der Welt zu gehen.

"Ich fragte das Mädchen, ob sie nicht ihr Verhältnis hätte bessern können, wenn sie etwa ihre Mutter auf andere Weise zu unterstützen gesucht hätte.

'Sie meinen, wenn ich einen Dienst genommen hätte?' erwiderte sie ohne alle Empfindlichkeit. ,Sehen Sie, das war nicht möglich. Vor der Krankheit der Mutter war ich viel zu jung, kaum vierzehn



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Jahre vorüber, und dann wurde sie auf einmal so elend, daß sie das Bett nicht verlassen konnte; da brauchte sie also immer jemand um sich, und konnte ich denn ihre Pflege einer Fremden überlassen? Ja, wenn sie gesund geblieben wäre, da hätte ich mit Freuden alle unsere früheren Verhältnisse verleugnet, wäre etwa in einen Putzladen gegangen oder als Gouvernante in ein anständiges Haus; denn ich habe manches gelernt, mein Herr; aber so ging es ja nicht!'

"Auch diesmal bat ich vergeblich, den Schleier zu lüften. Die Andeutungen, die sie über ihr Alter gegeben, reizten mich, ich gestehe es, nur noch mehr, das Gesicht dieses Mädchens zu sehen, die wenig über sechzehn Jahre haben konnte; aber sie bat mich so dringend, davon abzulassen, ihre Mutter habe ihr so triftige Gründe angegeben, daß es nimmer geschehen könne.

"Wir trafen uns von da an alle drei Tage. Ich hatte immer einige kleine Arbeiten für sie, und pünktlich war sie damit fertig. Je fester ich in dem Betragen blieb, das ich einmal gegen sie angenommen, je strenger ich mich immer in den Grenzen des Anstandes hielt, desto zutraulicher und offener wurde das gute Mädchen. Sie gestand mir sogar, daß sie zu Hause die drei Tage über immer an den nächsten Abend denke. Und ging es mir denn anders? Tag und Nacht beschäftigte ich mich mit diesem sonderbaren Wesen, das mir durch seinen gebildeten Geist, durch sein liebenswürdiges Zartgefühl, durch sein eigentümliches Verhältnis zu mir immer interessanter wurde.

"Der Frühling war indessen völlig heraufgekommen, und die Zeit war da, die ich mit Faldner schon längst zu einer Reise nach England festgesetzt hatte. Mancher hält es vielleicht für töricht, was ich ausspreche, aber wahr ist es, daß ich an diese Reise nur mit Widerwillen dachte; Paris an sich hatte nichts Interessantes mehr für mich; aber jenes Mädchen hatte alle meine Sinne so gefangen genommen, daß ich einer längeren Trennung nur mit Wehmut entgegensah. Ausweichen konnte ich nicht, ohne mich lächerlich zu machen; denn es war sonst kein bündiger Grund vorhanden, die Reise aufzuschieben; ich schämte mich sogar vor mir selbst und stellte mir die ganze Torheit meines Treibens vor. Ich beschloß die Abreise; aber gewiß hat sich wohl keiner je so wenig auf England gefreut als ich.

26.

"Acht Tage zuvor sagte ich es dem Mädchen; sie erschrak, sie weinte. Ich bat sie, ihre Mutter zu fragen, ob ich sie nicht besuchen dürfe; sie sagte es zu. Das nächste Mal aber brachte sie mir sehr betrübt die Antwort, daß mich ihre Mutter bitten lasse, diesen Besuch



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aufzugeben, der für ihren Gemütszustand allzu angreifend sein würde. Ich hatte jenen Besuch eigentlich nur darum nachgesucht, um mein Mädchen bei Tag und ohne Schleier zu sehen; ich verlangte dies also aufs neue wieder; aber sie bat mich, am Abend vor meiner Abreise noch einmal zu kommen, sie wolle ihre Mutter so lange bestürmen, bis sie die Erlaubnis erhalte, den Schleier aufzuheben. unvergesslich wird mir immer dieser Abend sein. Sie kam, und meine erste Frage war, ob die Mutter es erlaubt habe; sie sagte Ja und hob von selbst den Schleier auf. Der Mond schien helle, und zitternd, begierig blickte ich unter den Hut. Aber die Erlaubnis schien nur teilweise gegeben zu sein; denn meine Schöne trug sogenannte Venetianeraugen, die den oberen Teil ihres Gesichtes verhüllten. Doch wie schön, wie reizend waren die Partien, welche frei waren! Eine feine zierliche Nase, schöngeformte blühende Wangen, ein kleiner lieblicher Mund, ein Kinn, wie aus Wachs geformt und ein schlanker, blendend weißer Hals; über die Augen konnte ich nicht recht ins reine kommen, aber sie schienen mir dunkel und feurig.

"Sie errötete, als ich sie lange entzückt betrachtete. ,Werden Sie mir nicht böse,' flüsterte sie, ,daß ich diese Halbmaske vornahm! Die Mutter wollte es von Anfang ganz abschlagen, nachher gestattete sie es nur unter dieser Bedingung; ich war selbst recht ärgerlich darüber; aber sie sagte mir einige Gründe, die mir einleuchteten.'

'Und was sind diese Gründe?' fragte ich.

'Ach, mein Herr!' erwiderte sie wehmütig, ,Sie werden ewig in unserem Herzen leben, aber Sie selbst sollen uns ganz vergessen; Sie sollen mich nie, nie wiedersehen, oder wenn Sie mich auch sehen, nicht erkennen.'

'Und meinen Sie denn, ich werde Ihre schönen Züge nicht wiedererkennen , wenn ich auch Ihre Augen, Ihre Stirne nicht sehen darf?'

Die Mutter meint,' antwortete sie, .das sei nicht wohl möglich; denn wenn man ein Gesicht nur zur Hälfte gesehen, sei das Wiedererkennen schwer.'

'Und warum soll ich dich denn nicht wiedersehen, nicht wiedererkennen?'

'"Sie weinte bei dieser Frage, sie drückte meine Hand und sagte: Es darf ja nicht sein! Was kann Ihnen denn daran liegen, ein unglückliches Mädchen wiederzuerkennen! und nein, die Mutter hat recht; es ist besser so.'

"Ich sagte ihr, daß meine Reise nicht lange dauern werde, daß ich vielleicht schon nach zwei Monaten wieder in Paris sein könne, daß ich sie wiederzusehen hoffe. Sie weinte heftiger und verneinte es. Ich drang in sie, mir zu sagen, warum sie glaube, ich werde sie nicht mehr sehen.



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'Mir ahnt,' erwiderte sie, ,ich sehe Sie heute zum letztenmal; ich glaube, meine Mutter wird nicht lange mehr leben, —der Arzt sagte es mir gestern, — und dann ist ja alles vorbei! Und wenn sie auch länger lebt, in London werden Sie ein so armes Geschöpf, wie ich bin, lange vergessen.'

"Ihr Schmerz machte mich unendlich weich; ich sprach ihr Mut ein; ich gelobte ihr, sie gewiß nicht zu vergessen; ich nahm ihr das Versprechen ab, immer den ersten und fünfzehnten eines jeden Monats auf diesen Platz zu kommen, damit ich sie wiederfinden könnte; sie sagte es unter Tränen lächelnd zu, als ob sie wenig Hoffnung hätte. Nun, so lebe wohl auf Wiedersehen,' sagte ich, indem ich sie in meine Arme schloß und einen kleinen einfachen Ring an ihre Hand steckte, lebe wohl und denke an mich und vergiß nicht den Ersten und Fünfzehnten!'

'Wie könnte ich Sie vergessen!' rief sie, indem sie weinend zu mir aufblickte. ,Aber ich werde Sie nimmer wiedersehen; Sie nehmen Abschied auf immer.'

"Ich konnte mich nicht enthalten, ihren schönen Mund zu küssen; sie errötete, ließ es aber geduldig geschehen; ich steckte ihr einen Tresorschein in die kleine Hand, sie sah mich noch einmal recht aufmerksam an und drückte sich heftiger an mich. ,Auf Wiedersehen,' sprach ich, indem ich mich sanft aus ihren Armen wand. Der letzte Moment des Abschieds schien ihr Mut zu geben; sie zog mich noch einmal an ihr Herz; ich fühlte einen heißen Kuß auf meinen Lippen. ,Auf immer! Lebe wohl auf immer!' rief sie schmerzlich, riß sich los und eilte über den Platz hin.

"Ich habe sie nicht wiedergesehen! Nach einem Aufenthalt von drei Monaten kehrte ich von London nach Paris zurück; ich ging am fünfzehnten auf den Place l'Ecolo Médecine, ich wartete über eine Stunde. mein Mädchen erschien nicht. Noch oft am ersten und fünfzehnten wiederholte ich diese Gänge; wie oft ging ich durch die Straße St. Severin, blickte an den Häusern hinauf, fragte wohl auch nach einer armen deutschen Frau und ihrer Tochter! Aber ich habe nie wieder etwas von ihnen erfahren, und das reizende Wesen hatte recht, als es mir beim Abschied zurief: ,Auf immer!"'

27.

Der junge Mann hatte seine Erzählung mit einem Feuer vorgetragen, das ihr große Wahrheit verlieh und wenigstens auf den weiblichen Teil der Gesellschaft tiefen Eindruck zu machen schien. Josephe weinte heftig, und auch die andern Fräulein und Frauen



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wischten sich hin und wieder die Augen. Die Männer waren ernster geworden und schienen mit großem Interesse zuzuhören; nur der Baron lächelte hin und wieder seltsam, stieß bei dieser oder jener Stelle seinen Nachbar an und flüsterte ihm seine Bemerkungen zu. Jetzt, als gröben geschlossen hatte, brach er in ein lautes Gelächter aus. "Das heiße ich mir sich gut aus der Affäre ziehen," rief er. "Ich habe es ja immer gesagt, mein Freund ist ein Schlaukopf. Seht nur, wie er die Damen zu rühren wußte, der Schelm! Wahrhaftig, meine Frau heult, als habe ihr der Pfarrer die Absolution versagt. Das ist köstlich, auf Ehre! Dichtung und Wahrheit! Ja, das hast du deinem Goethe abgelauscht, Dichtung und Wahrheit, es ist ein herrlicher

Fröben fühlte sich durch diese Worte aufs neue verletzt. "Ich sagte dir schon," sagte er unmutig, "daß ich die Dichtung oder Erdichtung gänzlich beiseite ließ und nur die Wahrheit sagte; ich hoffe, du wirst es als solche ansehen.

"Gott soll mich bewahren," lachte der Baron. "Wahrheit! Das Mädchen hast du dir unterhalten, Bester, das ist die ganze Geschichte, und aus deinen Abendbesuchen bei ihr hast du uns einen kleinen Roman gemacht. Aber gut erzählt, gut erzählt, das lasse ich gelten."

Der junge Mann errötete vor Zorn; er sah, wie Josephe ihren Gatten starr und ängstlich ansah; er glaubte zu sehen, daß auch sie vielleicht seinen Argwohn teile und schlecht von ihm denke; die Achtung dieser Frau wenigstens wollte er sich durch diese gemeinen Scherze nicht nehmen lassen. "Ich bitte, schweigen wir davon!" rief er; "ich habe nie in meinem Leben Ursache gehabt, irgend etwas zu bemänteln oder zu entstellen, kann es aber auch nicht dulden, wenn andere mir dieses Geschäft abnehmen wollen. Ich sage dir zum letztenmal, Faldner, daß sich, auf mein Wort, alles so verhält, wie ich es erzählte."

"Nun, dann sei es Gott geklagt," erwiderte jener, indem er die Hände zusammenschlug. "Dann hast du aus lauter übertriebenem Edelsinn und theoretischer Zartheit ein paar hundert Franken an ein listiges Freudenmädchen weggeworfen, das dich durch ein gewöhnliches Histörchen von Elend und kranker Mutter köderte; hast nichts davon gehabt als einen armseligen Kuß! Armer Teufel! In Paris sich von einer Metze so zum Narren halten zu lassen!"

Noch mehr als die vorige Beschuldigung reizte den jungen Mann dieses spöttische Mitleid und das Gelächter der Gesellschaft auf, die auf seine Kosten den schlechten Witz des Barons applaudierte; er wollte eben, aufs tiefste gekränkt, die Gesellschaft verlassen, als ein sonderbarer, schrecklicher Anblick ihn zurückhielt. Josephe war, bleich wie eine Leiche, langsam aufgestanden; sie schien ihrem Gatten etwas



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erwidern zu wollen; aber in demselben Moment sank sie ohnmächtig wie tot zusammen. Bestürzt sprang man auf, alles rannte durcheinander, die Frauen richteten die Ohnmächtige auf, die Männer fragten sich verwirrt, wie dies denn so plötzlich gekommen sei; Froben hatte der Schrecken beinahe selbst ohnmächtig gemacht, und der Baron murmelte Flüche über die zarten Nerven der Weiber, schalt auf die grenzenlose Dezenz, auf die ängstliche Beobachtung des Anstandes, Wovon man ohnmächtig werde, suchte bald die Gesellschaft zu beruhigen , bald rannte er wieder zu seiner Frau; alles sprach, riet, schrie zusammen, und keiner hörte, keiner verstand den andern.

Josephe kam nach einigen Minuten wieder zu sich; sie verlangte nach ihrem Zimmer; man brachte sie dahin, und die Mädchen und Frauen drängten sich neugierig und geschäftig nach; sie gaben hunderterlei Mittel an, die wider die Ohnmacht zu gebrauchen, sie erzählten, wie ihnen da und dort dasselbe begegnet, sie wurden darüber einig, daß die große Anstrengung der Frau von Faldner, die vielen Sorgen und Geschäfte an diesem Tage diesen Zufall notwendig haben herbeiführen müssen, und die Sorge, der Baron möchte sich vielleicht blamieren , da er ohnedies schon recht unanständig gewesen, habe die Sache noch beschleunigt.

Der Baron suchte indessen unter den Männern die vorige Ordnung wiederherzustellen. Er ließ fleißig einschenken, trank diesem oder jenem tapfer zu und suchte sich und seine Gäste mit allerlei Trost gründen zu beruhigen. "Es kommt von nichts," rief er, "als von dem Unwesen der neuern Zeit; jede Frau von Stande hat heutzutage wirklich schwache Nerven, und wenn sie die nicht hat, so gilt sie nicht für vornehm; Ohnmächtigwerden gehört zum guten Ton; der Teufel hat diese verrückten Einrichtungen erfunden. Und auch daher kommt es, daß man nichts mehr beim rechten Namen nennen darf. Alles soll so überaus zart, dezent, fein, manierlich hergehen. daß man darüber aus der Haut fahren möchte. Da hat sie sich jetzt alteriert, daß ich einigen Scherz riskierte, was doch die Würze der Gesellschaft ist, daß ich über dergleichen zarte, feingefühlige Geschichten nicht außer mir kam vor Rührung und Schmerz und mir einige praktische Konjekturen erlaubte. Was da! Unter Freunden muß dergleichen erlaubt sein! Und ich hätte dich für gescheiter gehalten, Freund Froben, als daß du nur dergleichen übelnehmen könntest.

Aber der, an den der Baron den letzten Teil seiner Rede richtete, war längst nicht mehr unter den Gästen: Froben war auf sein Zimmer gegangen im Unmut, im Groll auf sich und die Welt. Noch konnte er sich diesen sonderbaren Auftritt nicht ganz enträtseln; seine Seele, halb noch aufgeregt von dem Zorn über die Roheit des Freundes, halb ergriffen von dem Schrecken über den Unfall der Freundin, war



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noch zu voll, zu stürmisch bewegt, um ruhigeren Gedanken und der Überlegung Raum zu geben. "Wird auch sie mir nicht glauben," sprach er kummervoll zu sich, "wird auch sie den schnöden Worten ihres Gatten mehr Gewicht geben als der einfachen ungeschmückten Wahrheit, die ich erzähltes Was bedeuteten jene seltsamen Blicke, womit sie mich während meiner Erzählung zuweilen ansah? Wie konnte sie diese Begebenheit so tief ergreifen, daß sie erbleichte, zitterte? Sollte es denn wirklich wahr sein, daß sie mir gut ist, daß sie innigen Anteil an mir nimmt, daß sie verletzt wurde von dem Hohne des Freundes, der mich so tief in ihren Augen herabsetzen mußte? Und was wollte sie denn, als sie aufstand, als sie sprechen wollte? Wollte sie den unschicklichen Reden Faldners Einhalt tun, oder wollte sie mich sogar verteidigen ?"

Er war unter diesen Worten heftig im Zimmer auf und ab gegangen; sein Blick fiel jetzt auf die Rolle, die jenes Bild enthielt; er rollte es auf, er sah es bitter lächelnd an. "Und wie konnte ich mich auch von einem Gefühl der Beschämung hinreißen lassen, mein Herz Menschen aufzuschließen, die es doch nicht verstehen, von Dingen zu reden, die solch überaus vornehmen Leuten so fremd sind; das Schlechte, das Gemeine ist ihnen ja lieber, scheint ihnen natürlicher als das Außerordentliche; wie konnte ich von deinen lieben Wangen, von deinen süßen Lippen zu diesen Puppen sprechen? O du armes, annen Kind; wie viel edler bist du in deinem Elend als diese Fuchsjäger und ihr Gelichter, die wahren Jammer und verschämte Armut nur vom Hörensagen kennen und jede Tugend, die sich über das Gemeine erhebt, als Märchen verlachen! Wo du jetzt sein magst? Und ob du des Freundes noch gedenkst und jener Abende, die ihn so glücklich machten!"

Seine Augen gingen über, als er das Bild betrachtete, als er bedachte, welch bitteres Unrecht die Menschen heute diesem armen Wesen angetan. Er wollte seine Tränen unterdrücken; aber sie strömten nur noch heftiger. Es gab eine Stelle in der Brust des jungen Mannes, wohin, wie in ein tiefes Grab, sich alle Wehmut, alle zurückgedrängten Tränen des Grames still und auf lange versammelten ; aber Momente wie dieser, wo die Schmerzen der Erinnerung und seine Hoffnungslosigkeit so schwer über ihn kamen, sprengten die Decke dieses Grabes und ließen den langverhaltenen Kummer um so mächtiger überströmen, je mehr sein gebrochener Mut in Wehmut überging.



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28.

Froben überdachte am andern Morgen die Vorfälle des gestrigen Tages und war mit sich uneinig, ob er nicht lieber jetzt gleich ein Haus verlassen sollte, wo ihn ein längerer Aufenthalt vielleicht noch öfter solchen Unannehmlichkeiten aussetzte, als die Türe aufging, und der Baron niedergeschlagen und beschämt hereintrat. "Du bist gestern abend nicht zu Tisch gekommen, du hast dich heute noch nicht sehen lassen," hub er an, indem er näher kam, "du zürnst mir; aber sei vernünftig und vergib mir! Siehe, es ging mir wunderlich; ich hatte den Tag über zuviel Wein getrunken, war erhitzt, und — du kennst meine schwache Seite — da kann ich das Necken nicht lassen Ich bin gestraft genug, daß der schöne Tag so elend endete und daß mein Haus fest vier Wochen lang das Gespräch der Umgegend sein wird. Verbittere mir nicht vollends das Leben und sei mir wieder freundlich wie zuvor!"

"Lasse lieber die ganze Geschichte ruhen," entgegnete Froben finster, indem er ihm die Hand bot; "ich liebe es nicht; über dergleichen mich noch weiter auszusprechen; aber morgen will ich fort, weiter; hier bleibe ich nicht länger."

"Sei doch kein Narr!" rief Faldner, der dies nicht erwartet hatte und ernstlich erschrak. "Wegen einer solchen Szene gleich aufbrechen zu wollen! Ich sagte es ja immer, daß du ein solcher Hitzkopf bist. Nein, daraus wird nichts; und hast du mir nicht versprochen, zu warten, bis Briefe da sind vom Don in W .? Nein, du darfst mir nicht schon wieder weggehen; und wegen der Gesellschaft hast du dich nicht zu schämen; sie alle, besonders die Frauen, schalten mich tüchtig aus, sie gaben dir völlig recht und sagten, ich sei an allem schuld."

"Wie geht es deiner Frau fragte Fröben, um diesen Erinnerungen auszuweichen.

"Ganz hergestellt, es war nur so ein kleiner Schrecken, weil sie fürchtete, wir werden ernstlich aneinander geraten; sie wartet mit dem Frühstück auf dich; komm jetzt mit herunter und sei vernünftig und nimm Räson an! Ich muß ausreiten, nimm es mir nicht übel, die Mühle kommt heute in Gang. Du bist also wieder ganz wie zuvor:"

"Nun ja doch!" sagte der junge Mann ärgerlich. "Laß doch einmal die ganze Geschichte ruhen!" Er folgte mit sonderbaren Gefühlen die er selbst nicht recht zu deuten wußte, dem Baron, der vergnügt über die schnelle Versöhnung seines Freundes ihm voraneilte, seiner Frau schnell berichtete, was er ausgerichtet habe, und dann das Schloß verließ, um seine Mühle in Gang zu bringen.

Hatte sich denn heute auf einmal alles so ganz anders gestaltet,



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oder war nur er selbst anders geworden? Josephens Züge, ihr ganzes Wesen schien Froben verändert, als er bei ihr eintrat. Eine stille Wehmut , eine weiche Trauer schien über ihr Antlitz ausgegossen, und doch war ihr Lächeln so hold, so traulich, als sie ihn willkommen hieß. Sie schrieb ihr gestriges Ubel allzugroßer Anstrengung zu und schien überhaupt von dem ganzen Vorfall nicht gerne zu sprechen. Aber Froben, dem an der guten Meinung seiner Freundin so viel lag, konnte es nicht ertragen, daß sie beinahe geflissentlich seine Erzählung gar nicht berührte. "Nein," rief er, "ich lasse Sie nicht so entschlüpfen, gnädige Frau! An dem Urteil der andern über mich lag mir wenig; was kümmert es mich, ob solche Alltagsmenschen mich nach ihrem gemeinen Maßstab messen! Aber wahrhaftig, es würde mich unendlich schmerzen, wenn auch Sie mich falsch beurteilten, wenn auch Sie Gedanken Raum gäben, die mich in Ihren Augen so tief herabsetzen müssen, wenn auch Sie die Wahrheit jener Erzählung bezweifelten, die ich freilich solchen Ohren nie hätte preisgeben sollen. O, ich beschwöre Sie, sagen Sie recht aufrichtig, was Sie von mir und jener Geschichte denken!"

Sie sah ihn lange an; ihr schönes, großes Auge füllte sich mit Tränen; sie drückte seine Hand. "O Fröben, was ich davon denke?" sagte sie. "Und wenn die ganze Welt an der Wahrheit zweifeln würde, ich wüßte dennoch gewiß, daß Sie wahr gesprochen! Sie wissen ja nicht, wie gut ich Sie kenne!"

Er errötete freudig und küsste ihre Hand. "Wie gütig sind Sie, daß Sie mich nicht verkennen! Und gewiß, ich habe alles, alles, genau nach der Wahrheit erzählt."

"Und dieses Mädchen," fuhr sie fort, "ist wohl dieselbe, von welcher Sie mir letzthin sagten? Erinnern Sie sich nicht, als wir von Viktor und Klotilde sprachen, daß Sie mir gestanden, Sie lieben hoffnungslos? Ist es dieselbe?"

"Sie ist es," erwiderte er traurig; "nein, Sie werden mich wegen dieser Torheit nicht auslachen; Sie fühlen zu tief, als daß Sie dies lächerlich finden könnten. Ich weiß alles, was man dagegen sagen kann; ich schalt mich selbst oft genug einen Toren, einen Phantasten, der einem Schatten nachjage; ich weiß ja nicht einmal, ob sie mich liebt —"

"Sie liebt Sie!" rief Josephe unwillkürlich aus; doch über ihre eigenen Worte errötend, setzte sie hinzu: "Sie muß Sie lieben. Glauben Sie denn, so viel Edelmut müsse nicht tiefen Eindruck auf ein Mädchenherz von siebzehn Jahren machen? Und in allen ihren Äußerungen, die Sie uns erzählten, liegt, es müßte mich alles trügen, oder es liegt gewiß ein bedeutender Grad von Liebe dann."



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Der junge Mann schien mit Entzücken auf ihre Worte zu lauschen. "Wie oft rief ich mir dies selbst zu," sprach er, " wenn ich so ganz ohne Trost war und traurig in die Vergangenheit blickte! Abei wozu denn? Vielleicht nur, um mich noch unglücklicher zu machen Ich habe oft mit mir selbst gekämpft, habe im Gewühl der Menschen Zerstreuung, im Drang der Geschäfte Betäubung gesucht — es wollte mir nie gelingen. Immer schwebte mir jenes holde, unglückliche Wesen vor; mein einziger Wunsch war, sie nur noch einmal zu sehen. Es ist noch jetzt mein Wunsch, ich darf es Ihnen gestehen; denn Sie wissen mein Gefühl zu würdigen; auch diese Reise unternahm ich nur, weil meine Sehnsucht mich hinaustrieb, sie zu suchen, sie noch einmal zu sehen. Und wie ich denn so recht über diesen Wunsch nachdenke, so finde ich mich sogar oft auf dem Gedanken, sie auf immer zu besitzen! —

Sie blicken weg, Josephe? O, ich verstehe; Sie denken, ein Geschöpf , das so tief im Elend war, dessen Verhältnisse so zweideutig sind, dürfte ich nie erwählen; Sie denken an das Urteil der Menschen; an alles dies habe auch ich recht oft gedacht, aber —so wahr ich lebe! — wenn ich sie so wiederfände, wie ich sie verlassen, ich würde niemand als mein Herz fragen. Würden Sie mich denn so strenge beurteilen , Josephe?"

Sie antwortete ihm nicht; noch immer abgewandt, ihre Stirne in die Hand gestützt, bot sie ihm ein Buch hin und bat ihn, vorzulesen. Er ergriff es zögernd, er sah sie fragend an; es war das einzige Mal, daß er sich in ihr Betragen nicht recht zu finden wußte; aber sie winkte ihm, zu lesen, und er folgte, wiewohl er gerne noch länger sein Herz hätte sprechen lassen. Er las von Anfang zerstreut; aber nach und nach zog ihn der Gegenstand an, entführte seine Gedanken mehr und mehr dem vorigen Gespräch und riß ihn endlich hin, so daß er im Fluß der Rede nicht bemerkte, wie die schöne Frau ihm ein Angesicht voll Wehmut zuwandte, daß ihre Blicke voll Zärtlichkeit an ihm hingen, daß ihr Auge sich oft mit Tränen füllen wollte, die sie nur mühsam wieder unterdrückte. Spät erst endete er, und Josephe hatte sich soweit gefaßt, daß sie mit Ruhe über das Gelesene sprechen konnte' aber dennoch schien es dem jungen Mann, als ob ihre Stimme hie und da zittere, als ob die frühere gütige Vertraulichkeit, die sie dem Freund ihres Gatten bewiesen, gewichen sei; er hätte sich unglücklich gefühlt, wenn nicht jener leuchtende Strahl eines wärmeren Gefühles, der aus ihrem Auge hervorbrach, ihn an seiner Beobachtung irre gemacht hätte.



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29.

Da der Baron erst bis abend zurückkehren wollte, Josephe sich aber nach dieser Vorlesung in ihre Zimmer zurückgezogen hatte, so beschloß Froben, um diesen quälenden Gedanken auf einige Stunden wenigstens zu entgehen, die heiße Mittagszeit vor der Tafel zu verschlafen . In jener Laube, die ihm durch so manche schöne Stunde, die er mit der liebenswürdigen Frau hier zugebracht, wert geworden war, legte er sich auf die Moosbank und entschlief bald. Seine Sorgen hatte er zurückgelassen, sie folgten ihm nicht durch das Tor der Träume; nur liebliche Erinnerungen verschmolzen und mischten sich zu neuen reizenden Bildern; das Mädchen aus der St. Severinstraße mit ihrer schmelzenden Stimme schwebte zu ihm her und erzählte ihm von ihrer Mutter; er schalt sie, daß sie so lange auf sich habe warten lassen, da er doch ja den Ersten und Fünfzehnten gekommen sei; er wollte sie küssen zur Strafe, sie sträubte sich, er hob den Schleier auf, er hob das schöne Gesichtchen am Kinn empor, und siehe — es war Don Pedro, der sich in des Mädchens Gewänder gesteckt hatte, und Diego, sein Diener, wollte sich totlachen über den herrlichen Spaß. — Dann war er wieder mit einem kühnen Sprung der träumenden Phantasie in Stuttgart in jener Gemäldesammlung. Man hatte sie anders geordnet; er durchsuchte vergebens alle Säle nach dem teuren Bilde; es war nicht zu finden; er weinte, er fing an zu rufen und laut zu klagen; da kam der Galeriediener herbei und bat ihn, stille zu sein und die Bilder nicht zu wecken, die jetzt alle schlafen. Auf einmal sah er in einer Ecke das Bild hängen, aber nicht als Brustbild wie früher, sondern in Lebensgröße; es sah ihn neckend, mit schelmischen Blicken an, es trat lebendig aus dem Rahmen und umarmte den Unglücklichen; er fühlte einen heißen, langen Kuß auf seinen Lippen. Wie es zu geschehen pflegt, daß man im Traum zu erwachen glaubt und träumend sich sagt, man habe ja nur geträumt, so schien es auch jetzt dem jungen Mann zu gehen. Er glaubte, von dem langen Kuß erweckt, die Augen zu öffnen, und siehe, auf ihn niedergebeugt hatte sich ein blühendes, rosiges Gesicht, das ihm bekannt schien. Vor Lust des süßen Atems, der liebewarmen Küsse, die er einsog, schloß er wieder die Augen; er hörte ein Geräusch, er schlug sie noch einmal auf und sah eine Gestalt in schwarzem Mantel, schwarzem Hütchen mit grünem Schleier entschweben; als sie eben um eine Ecke biegen wollte, kehrte sie ihm noch einmal das Gesicht zu: es waren die Züge des geliebten Mädchens, und neidisch wie damals hatte sie auch jetzt die Halbmaske vorgenommen. "Ach, es ist ja doch nur ein Traum!" sagte er lächelnd zu sich, indem er die Augen wieder schließen wollte; aber das Gefühl, erwacht zu sein, das Säuseln des Windes in den Blättern der Laube, das Plätschern des Springbrunnens war zu deutlich, als daß er



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davon nicht völlig wach und munter geworden wäre. Das sonderbare, lebhafte Traumbild stand noch vor seiner Seele; er blickte nach der Ecke, wo sie verschwunden war; er sah die Stelle an, wo sie gestanden, sich über ihn hingebeugt hatte; er glaubte die Küsse des geliebten Mädchens noch auf den Lippen zu fühlen. "Soweit also ist es mit dir gekommen," sprach er erschreckend zu sich, "daß du sogar im Wachen träumst, daß du sie bei gesunden Sinnen um dich siehst! Zu welchem Wahnwitz soll dies noch führen? Nein, daß man so deutlich träumen könne, hätte ich nie geglaubt. Es ist eine Krankheit des Gehirns, ein Fieber der Phantasie, ja, es fehlt nicht viel, so möchte ich sogar behaupten, Traumbilder können Fußstapfen hinterlassen; denn diese Tritte hier im Sande sind nicht von meinem Fuß." Sein Blick fiel auf die Bank, wo er gelegen; er sah ein zierlich gefaltetes Papier und nahm verwundert auf. Es war ohne Aufschrift, es hatte ganz die Form eines Villon doux: er zauderte einen Augenblick, ob er es öffnen dürfe; aber neugierig, wer sich hier wohl in solcher Form schreiben könnte, entfaltete er das Papier — ein Ring fiel ihm entgegen. Erhielt ihn in der Hand und durchflog den Brief; er las:

"Oft bin ich Dir nahe, Du mein edler Retter und Wohltäter; ich umschwebe Dich mit jener unendlichen Liebe, die meine Dankbarkeit anfachte, die selbst mit meinem Leben nicht verglühen wird. Ich weiß, Dein großmütiges Herz schlägt noch immer für mich; Du hast Länder durchstreift, um mich zu suchen, zu finden; doch umsonst bemühst Du Dich —vergiß ein so unglückliches Geschöpf! was wolltest Du auch mit mir? Wenn auch mein höchstes Glück in dem Gedanken liegt, ganz Dir anzugehören, so kann es ja doch nimmermehr sein! Auf immer! sagte ich Dir schon damals — ja, auf immer liebe ich Dich, aber — das Schicksal will, daß wir getrennt seien auf immer, daß nie an Deiner Seite, vielleicht nur in Deiner gütigen Erinnerung leben darf

Die Bettlerin vom Pont des Arts."



***
Der junge Mann glaubte noch immer oder aufs neue zu träumen; er sah sich mißtrauisch um, ob seine Phantasie ihn denn so ganz verführt habe, daß er in einer Traumwelt lebe; aber alle Gegenstände um ihn her, die wohlbekannte Laube, die Bank, die Bäume, das Schloß in der Ferne, alles stand noch wie zuvor, er sah, er wachte, er träumte nicht. Und diese Zeilen waren also wirklich vorhanden, waren nicht ein Traumbild seiner Phantasie? "Hat man vielleicht einen Scherz mit mir machen wollen ?" fragte er sich dann; "ja gewiß; es kommt wohl alles von Josephe; vielleicht war auch jene Erscheinung nur eine Maske?" Indem er das Papier zusammenrollte, fühlte er den Ring, der in dem Briefchens verborgen war, in seiner Hand.


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Neugierig zog er ihn hervor, betrachtete ihn und erblaßte. Nein, das wenigstens war keine Täuschung; es war derselbe Ring, den er dem Mädchen in jener Nacht gegeben, als er auf immer von ihr Abschied nahm. So sehr er im ersten Augenblick versucht war, hier an übernatürliche Dinge zu glauben, so erfüllte ihn doch der Gedanke, daß er ein Zeichen von dem geliebten Wesen habe, daß sie ihm nahe sei, mit so hohem Entzücken, daß er nicht mehr an die Worte des Briefes dachte; er zweifelte keinen Augenblick, daß er sie finden werde, er drückte den Ring an die Lippen, er stürzte aus der Laube in den Garten. und seine Blicke streiften auf allen Wegen, in allen Büschen nach der teuren Gestalt. Aber er spähte vergebens; er fragte die Arbeiter im Garten, die Diener im Schlosse, ob sie keine Fremde gesehen haben; man hatte sie nicht bemerkt. Bestürzt, beinahe keiner überlegung fähig, kam er zu Tische; umsonst forschte Faldner nach dem Grund seiner verstörten Blicke, umsonst fragte ihn Josephe, ob er denn vielleicht von gestern her noch so trübe gestimmt sei. "Es ist mir etwas begegnet," antwortete er, "das ich ein Wunder nennen müsste, wenn nicht meine Vernunft sich gegen den Aberglauben sträubte."30

Dieser sonderbare Vorfall und die Worte des Briefchens, das er wohl zehnmal des Tages überlas, hatten den jungen Mann ganz tiefsinnig gemacht. Er fing an nachzusinnen, ob es denn möglich sei, daß überirdische Wesen in das Leben der Sterblichen eingreifen können. Wie oft hatte er über jene Schwärmer gelacht, die an Erscheinungen, an Boten aus einer anderen Welt, an Schutzgeister, die den Menschen umschweben, wie an ein Evangelium glaubten. Wie oft hatte er ihnen sogar die physische Unmöglichkeit dargetan, daß körperlose Wesen dennoch sichtbar erscheinen, daß sie dies oder jenes verrichten können! Aber was ihm selbst begegnet war, wie sollte er es deuten? Oft nahm er sich vor, alles zu vergessen, gar nicht mehr daran zu denken, und im nächsten Augenblick quälte er sich ab, seine Erinnerung recht lebhaft vor das Auge treten zu lassen: deutlicher als je erschienen dann wieder ihre Züge; er hatte sie ja gesehen, als sie sich an der Ecke noch einmal umwandte; er hatte den holden Mund, diese rosigen Wangen, dieses Kinn, diesen schlanken Hals wiedergesehen! Er holte jenes Bild herbei, er verglich Zug um Zug, er deckte die Hand auf Augen und Stirne der Dame. und es war das holde Gesichtchen, wie es unter der Halbmaske hervorschaute,

Er hatte sich, weil Josephe am nächsten Morgen im Hause allzusehr beschäftigt war, um ihn zu unterhalten, wieder in die Laube



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gesetzt. Er las, und während des Lesens beschäftigte ihn immer der Gedanke, ob sie ihm wohl wiedererscheinen werde. Die Hitze des Mittags wirkte betäubend auf ihn; mit Mühe suchte er sich wach zu halten, er las eifriger und angestrengter; aber nach und nach sank sein Haupt zurück, das Buch entfiel seinen Händen; er schlief.

Beinahe um dieselbe Zeit wie gestern erwachte er; aber keine Gestalt mit grünem Schleier War weit und breit zu sehen; er lächelte über sich selbst, daß er sie erwartet habe, er stand traurig und unzufrieden auf, um ins Schloß zu gehen; da erblickte er neben sich ein weißes Tuch, das er sich nicht erinnern konnte, hingelegt zu haben; er sah es an, es mußte wohl dennoch sein gehören, denn in der Ecke war sein Namenszug eingenäht. "Wie kommt dies Tuch bierherz" rief er bewegt, als er bei genauerer Besichtigung entdeckte, daß es eines jener Tücher sei, die ihm das Mädchen hatte fertigen müssen und die er wie Heiligtümer sorgfältig verschloß. "Soll dies aufs neue ein Zeichen sein?" Er entfaltete das Tuch und suchte, ob nicht vielleicht wieder einige Zeilen eingelegt seien. Es war leer; aber in einer anderen Ecke des Tuches entdeckte er noch einige Lettern, die wie sein Name eingenäht waren; zierlich und nett standen dort die Worte: Auf immer ! "Also dennoch hier gewesen!" rief der junge Mann unmutig. "Und ich konnte ihre liebliche Erscheinung schnöderweise verschlafen? Warum gibt sie mir wohl ein neues Zeichen? Warum diese traurigen Worte wiederholen, die mich schon damals und erst gestern wieder so unglücklich machten?" Auch heute befragte er nach der Reihe die Domestiken, ob nicht eine fremde Person im Garten gewesen sei? Sie verneinten es einstimmig, und der alte Gärtner sagte, seit drei Stunden sei gar niemand durch den Garten gegangen als nur die gnädige Frau. "Und wie war sie angezogen?" fragte Fröben, auf sonderbare Weise überrascht. , Ach, Herr, da fragt Ihr mich zu viel," antwortete der Alte; "sie ist halt angezogen gewesen in vornehmen Kleidern, aber wie, das weiß ich nicht zu beschreiben; als sie vor mir vorbeiging, nickte sie freundlich und sagte: ,Guten Tag, Jakob!"'

Der junge Mann führte den Alten beiseite: "Ich beschwöre dich," flüsterte er, "trug sie nicht einen grünen Schleier? Hatte sie nicht eine große schwarze Brille auf?"

Der alte Gärtner sah ihn mißtrauisch und kopfschüttelnd an. "Eine schwarze Brille?" fragte er. "Die gnädige Frau eine große schwarze Brillen Ei du Herrgott, wo denken Sie hin! Sie hat so scharfe, klare Augen wie eine Gemse und soll eine Brille auf der Nase tragen, mit Respekt zu melden, eine große, schwarze Brille, wie sie die alten Weiber in der Kirche auf die Nase klemmen, daß es feiner schnarrt, wenn sie singen? Nein, gnädiger Herr, solche schlechte



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Gedanken müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen, das ist nichts; und nehmen Sie es nicht ungütig, aber eine Mütze sollten Sie doch aufsetzen bei dieser Hitze, es ist von wegen des Sonnenstichs." So sprach der Alte und ging kopfschüttelnd weiter; den übrigen Dienstboten aber deutete er mit sehr verdächtiger Bewegung des Zeigefingers ans Hirn an, daß es mit dem jungen Herrn Gast hier oben nicht recht richtig sein müsse.31.

Auch jetzt kam Froben zu keinem anderen Resultat, als daß das Betragen jenes Mädchens, das er so innig liebte, unbegreiflich sei, und dieses rätselhafte Spiel mit seinem Schmerz, mit seiner Sehnsucht beschäftigte ihn so ganz auschließlich, daß ihm vieles entging, was ihm sonst wohl hätte auffallen müssen. Josephe kam mit verweinten Augen zu Tische; der Baron war verstimmt und einsilbig und schien seinem inneren Unmut, der ihm um die Stirne lag und deutlich aus den Augen sprach, hie und da durch einen Fluch über die schlechte Küche und die noch schlechtere Haushaltung Luft machen zu müssen. Die unglückliche Frau ließ alles still und geduldig über sich ergehen; sie schickte zuweilen, als wolle sie Hilfe und Trost suchen, einen flüchtigen Blick nach Fröben hinüber; ach, sie bemerkte nicht, wie ihr Gatte diese Blicke belauerte, wie seine Stirne sich röter färbte, wenn er ihre Augen auf diesem Wege traf.

An Fröbens, Auge und Ohr ging dies vorüber als etwas, an das er sich schon gewöhnt hatte; er gab sich nicht einmal die Mühe, Josephe um die Ursache dieses Aufbrausens zu befragen. Es fiel ihm nicht auf, daß sie zurückhaltender gegen ihn war im Beisein Faldners; er schrieb es der gewöhnlichen Geschäftigkeit seines Freundes zu, daß ihn dieser in den nächsten Tagen nötigte, mit ihm da und dorthin auf das Gut zu gehen und in Wald und Feld oft einen großen Teil des Tages mit Messungen und Berechnungen hinzubringen. Als er aber eines Morgens, als ihn Faldner schon gestiefelt und gespornt erwartete , eine kleine Unpäßlichkeit vorschützte, um diesen unangenehmen Feldbesuchen zu entgehen, als er arglos hinwarf, daß er doch Josephen auch einmal wieder vorlesen müsse, da wollte es ihm doch auffallend dünken, daß der Baron unmutig rief: "Nein, sie soll mir nichts mehr lesen, gar nichts mehr! Es geht ohnedies seit einiger Zeit alles konträr. Das könnte ich vollends brauchen, wenn sie den ganzen Morgen mit Lesen zubrachte und solche Romanideen im Kopfe trüge, wie ich schon welche habe spuken sehen. Lies dir in Gottes Namen selbst vor, lieber Fröben, und nimm mir nicht übel, wenn ich mein



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Weib anders placiere! Du gehst in den Garten nach dem Frühstück, Josephe! Es soll heute Gemüse ausgestochen werden; nachher bist du so gütig und gehst zu Pastors! Du bist dort seit lange einen Besuch schuldig." Mit diesen Worten nahm er seine Reitpeitsche vom Tische und schritt davon.

"Was soll denn das? Was hat er denn heute?" fragte Froben staunend die junge Frau, die kaum ihre Tränen zurückzuhalten vermochte.

"O, er ist so ziemlich wie sonst," erwiderte sie, ohne aufzublicken. "Ihre Anwesenheit hat ihn einige Zeitlang aus dem gewöhnlichen Geleise gebracht; Sie sehen, er ist jetzt wieder wie zuvor."

"Aber, mein Gott," rief er unmutig, "so schicken Sie doch eine Magd in den Garten!"

"Ich darf nicht," sagte sie bestimmt, "ich muß selbst zusehen; er will es ja haben."

"Und den Besuch bei Pastors —?"

"Muß ich machen, Sie haben es ja gehört, daß ich ihn machen m u ß ; lassen wir das, es ist einmal so. Aber Sie," fuhr Josephe fort, "Sie, mein Freund, scheinen mir seit einigen Tagen verändert, gar nicht mehr so munter, so zutraulich wie früher. Sollten Sie sich vielleicht nicht mehr hier gefallen? Sollte mein Mann, sollte vielleicht ich Ursache Ihrer Verstimmung sein?"

Fröben fühlte sich verlegen; er war auf dem Punkt, der Freundin jene sonderbaren Vorfälle im Garten zu gestehen; aber der Gedanke, sich vor der klugen jungen Frau eine Blöße zu geben, hielt ihn zurück. "Sie wissen," sagte er ausweichend, "daß ich in den letzten Tagen Briefe aus S. bekam. Und wenn ich verstimmt erscheine, so tragen diese Briefe allein die Schuld." Sie sah ihn zweifelhaft an; eine Antwort schien auf ihren Lippen zu schweben; aber, wie wenn sie den Mangel an Vertrauen in dem Blicke des jungen Mannes gelesen und sich dadurch gekränkt gefühlt hätte, zuckten ihre schönen Lippen und drängten die Antwort zurück; sie zog schweigend die Glocke, befahl ihrer Zofe, ihr Hut und Schirm zu bringen, und ging dann, ohne ihn zu diesem Gang einzuladen, in den Garten an die Arbeit.

Als der junge Mann einige Stunden nachher ebenfalls in den Garten hinabstieg und nach Josephe fragte, hieß es, sie sei zu Pastors gegangen. Er eilte der Laube zu, er setzte sich mit pochendem Herzen nieder. Heute hatte er sich vorgenommen, nicht einzuschlafen. "Ich will doch sehen," sagte wr zu sich "ob dieses Wesen, das mich so geheimnisvoll umschwebt, noch ein drittes Zeichen für mich hat? Ich will mich wie zum Schlummer niederlegen, und —so wahr ich lebe! — Wenn es wieder erscheint, will ich es haschen und schauen, welcher Natur es sei." Erlas, bis der Mittag herangekommen war; dann



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legte er sich nieder und schloß die Augen. Oft wollte sich der Schlummer wirtlich über ihn herabsenken; aber Erwartung, Unruhe und sein fester Wille, der die Mohnkörner von ihm ferne hielt, ließen ihn wach bleiben. Er mochte wohl eine halbe Stunde so gelegen haben, als die Zweige der Laube rauschten. Eröffnete die Augen kaum ein wenig und sah, wie zwei weiße Hände die Zweige behutsam teilten, vermutlich um eine Aussicht auf den Schlummernden zu öffnen. Dann knisterten leise, leise Schritte im Sand. Erblickte verstohlen nach dem Eingang der Laube, und sein Herz wollte zerspringen voll freudiger Ungeduld, als er sein Mädchen sah im schwarzen Mantel und Hut, den grünen Schleier zurückgeschlagen, die schwarzen Maskenaugen vor den oberen Teil des schönen Gesichtes gebunden.32.

Sie nahte auf den Zehenspitzen. Ersah, wie auf ihrem Gesicht ein höheres Not aufstieg, als sie näher trat. Sie betrachtete den Schläfer lange; sie seufzte tief und schien Tränen abzutrocknen. Dann trat sie nahe heran; sie beugte sich über ihn herab, ihr Atem berührte ihn wie ein Himmelsbote, der die Nähe ihrer süßen Lippen ansagte; sie senkte sich tiefer, und ihr Mund legte sich auf den seinigen so sanft, wie das Morgenrot sich auf den Hügel senkt.

Da hielt er sich nicht länger; schnell schlang er seinen Arm um ihren Leib, und mit einem kurzen Angstschrei sank sie in die Knie. Er sprang erschrocken auf, er glaubte sie ohnmächtig; aber sie war nur sprachlos und zitterte heftig; er hob sie auf er zog sie, erfüllt von der Wonne des Wiedersehens, an seiner Seite auf die Bank nieder, er bedeckte ihren Mund mit glühenden Küssen; er drückte sie fest an sich: "O, so habe ich dich wieder, endlich, endlich wieder, du geliebtes Wesen!" rief er; "du bist kein Trugbild, du lebst, ich halte dich in meinen Armen wie damals und liebe dich wie damals und bin glücklich, selig; denn du liebst ja auch mich!" Eine hohe Glut bedeckte ihre Wangen, sie sprach nicht, sie suchte vergebens sich aus seinen Armen zu winden. "Nein, jetzt lasse ich dich nichtmehr," sprach er, und Tränen, Tränen des Glücks hingen an seinen impern: "jetzt halte ich dich fest, und keine Welt darf dich von mir reißen. Und komm, hinweg mit dieser neidischen Maske! Ganz will ich dein schönes Antlitz schauen, ach, es lebte ja immer in meinen Träumen!" Sie schien mit der letzten Kraft seine Hand von der Halbmaske abhalten zu wollen, sie atmete schwer, sie rang mit ihm; aber die trunkene Lust des jungen Mannes, nach so langer Entbehrung sich so unaussprechlich glücklich



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zu wissen, gewährte ihm einen leichten Sieg. Er hielt ihre Arme mit der einen Hand, zitternd stieß er mit der anderen den Hut zurück, band die Maske los und erblickte — die Gattin seines Freundes.

"Josephe!" rief er, wie in einen Abgrund niedergeschmettert, und seine Gedanken drehten sich im Ringe. "Josephe!"

Bleich, erstarrt, tränenlos saß sie neben ihm und sagte wehmütig lächelnd: "Ja, Josephe,"

"Sie haben mich also getäuscht?" sagte er bitter, indem alle Hoffnung, alle Seligkeit des vorigen Augenblicks an ihm vorüberflog. "O, dieses Possenspiel konnten Sie uns ersparen! Doch," fuhr er fort, indem ein Gedanke ihn durchblitzte, " um Gottes willen, wo haben Sie den Ring her, woher das Tuch?"

Sie errötete von neuem, sie brach in Tränen aus, sie verbarg ihr Haupt an seiner Brust. "Nein," rief er, "Antwort muß ich haben; es ist mein Ring, das Tuch —ich beschwöre Sie, wie kam beides in Ihre Hände? Woher haben Sie den Ring?"

"Von dir !" flüsterte sie, indem sie sich beschämt fester an ihn drückte.

Da fiel ein Lichtstrahl in Fröbens Seele; noch blendete ihn dies zu helle Licht; aber er hob sanft ihr Haupt in die Höhe und sah sie an mit Blicken voll Verwunderung und Liebe. "Du bist es? Träume ich denn wieder?" sprach er, nachdem er sie lange angeblickt. "Sagtest du nicht, du seiest mein süßes Mädchen? O Gott, welcher Schleier lag denn auf meinen Augen? Ja, das sind ja deine holden Wangen, das ist ja dein reizender Mund, der mich heute nicht zum erstenmal küßte!"

Eine hohe Glut bedeckte ihre Wangen. Sie sah ihn voll Wonne und Entzücken an. "Was wäre aus mir geworden ohne dich, du edler Mann!" rief sie, indem sich in Tränen der Schimmer ihrer Augen brach. "Ich bringe dir den Segen meiner guten Mutter; du hast ihre letzten Tage leicht gemacht und die Decke des Elends gelüftet, die so schwer auf ihrer kranken Brust lag. O, wie kann ich dir danken? Was wäre ich geworden ohne dich! Doch —" fuhr sie fort, indem sie mit ihren Händen das Gesicht bedeckte, "was bin ich denn geworden? Das Weib eines anderen, deines Freundes Weib!"

Er sah, wie ein unendlicher Schmerz ihren Busen hob und senkte, wie durch die zarten Finger ihre Tränen gleich Quellen herabrieselten. Er fühlte, wie innig sie ihn liebe, und kein Gedanke an einen Vorwurf, daß sie einem anderen als ihm gehören könnte, kam in seine Seele. "Es ist so," sagte er traurig, indem er sie fester an sich drückte, als könne er sie dennoch nicht verlieren. "Es ist so; wir wollen denken, es sollte so sein, es habe so kommen müssen, weil wir vielleicht zu glücklich gewesen wären. Doch in diesem Moment bist du mein. Wirf alles von dir, alle Gedanken, alle Pflichten! Denke, du kommst herüber



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über den Platz der Arzneischule, und ich erwarte dich; o komm, umarme mich so wie damals. ach, nur noch ein einziges Mal!"

In Erinnerung verloren hing sie an seinem Hals; hinter ihren düsteren Blicken schien der Gedanke an die Wirklichkeit sich zu verlieren; heller und heller, freundlicher und immer freundlicher schien die Erinnerung aufzutauchen; ein holdes Lächeln zog um ihren Mund und senkte sich auf ihren Wangen in zarte Grübchen. "Und kanntest du mich denn nicht?" fragte sie lächelnd. — "Und du kanntest mies) nicht?" fragte er, sie voll Zärtlichkeit betrachtend. "Ach!" antwortete sie, "ich hatte mir damals deine Züge recht abgelauscht und tief in mein Herz geschrieben; aber wahrlich, dich hätte ich nimmer erkannt. Es mochte wohl auch daher kommen, daß ich dich nur immer bei Nacht sah, in den Mantel gewickelt, den Hut tief in der Stirne, und wie konnt' ich auch denken —freilich, als du am ersten Abend Faldner zuriefst: Auf Wiedersehen,' da kam mir der Ton so bekannt vor, als hätte ich ihn schon gehört; aber ich lachte mich immer selbst aus über die törichten Vermutungen. Nachher war es mir hie und da, als müßtest du der sein, den ich meinte; doch zweifelte ich immer wieder; aber als du am Sonntag nur Pont des Arts genannt hattest, da ging auf einmal eine eigene Sonne auf deinem Gesicht auf; du schienest ganz in Erinnerung zu leben, und mit den ersten Worten war es mir klar, daß du, du es bist ! Aber freilich, mich konntest du nicht wiedererkennen —nicht wahr, ich bin recht bleich geworden?"

"Josephe," erwiderte er, " wo waren meine Sinne? Wo mein Auge, mein Ohr, daß ich dich nicht erkannte? Gleich bei deinem ersten Anblick flog ein freudiger Schreck durch meine Seele; du glichst so ganz jenem Bilde, das ich durch einen wahrhaften Kreislauf der Dinge als dir ähnlich gefunden und geliebt hatte; aber die Entdeckung über das Geschlecht deiner Mutter führte mich in eine Irrbahn; ich sah in dir nur noch die ähnliche Tochter der schönen Laura, und oft, während ich neben dir saß, streifte mein Geist feme, weithin nach — dir!"

"O Gott!" rief Josephe, "ist es denn wahr, ist es möglich? Kannst du mich denn noch lieben?"

"Ob ich es kann? —Aber darf ich denn? Gott im Himmel, du heißt ja Frau von Faldner; sage mir nur um des Himmels willen, wie fügte sich dies alles? Wie hast du auch nicht ein einziges Mal mehr mich erwarten mögen?"

33.

Sie stillte ihre Tränen, sie faßte sich mit Mühe, um zu sprechen. "Siehe," sagte sie, "es war, als ob ein feindliches Geschick alles nur so geordnet hätte, um mich recht unglücklich zu machen. Als du weg warst,



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hatte ich keine Freude mehr. Jene Abende mit dir waren mir so unendlich viel gewesen. Siehe, schon von dem ersten Moment an, als du in der lieben Muttersprache deinen Begleiter um Geld batest, von da an schlug mein Herz für dich; und als du mit so unendlichem Edelmut, mit soviel Zartsinn für uns sorgtest, ach, da hätte ich dich oft an mein Herz schließen und dir gestehen mögen, daß ich dich wie ein höheres Geschöpf anbete. Ich weiß nicht, was mir für dich zu tun zu schwer gewesen wäre; und wie groß, wie edel hast du dich gegen mich benommen! Du gingst, — ich weinte lange; denn ein schmerzliches Gefühl sagte mir, daß es auf immer geschieden sei; acht Tage, nachdem du abgereist warst, starb meine arme Mutter sehr schnell. Was du mir damals noch gegeben, reichte hin, meine Mutter zu beerdigen und ihr Andenken nicht in Unehre geraten zu lassen. Eine Dame, es war die Gräfin Landskron, die in unserer Nachbarschaft wohnte und von uns Armen hörte, ließ mich zu sich kommen. Sie prüfte mich in allem, sie durchsehaute die Papiere meiner Mutter, die ich ihr geben mußte, genau; sie schien zufrieden und nahm mich als Gesellschaftsfräulein an. Wir reisten; ich will nicht beschreiben, wie mein Herz blutete, als ich dieses Paris verlassen mußte; es fehlten nur noch vierzehn Tage, bis die Zeit um war, die du zu deiner Rückkehr bestimmtest; daun wäre ich am ersten auf den Platz gegangen, hätte dich noch einmal gesprochen, noch einmal von dir Abschied genommen! Es sollte nicht so sein, und als wir aus der St. Severinstraße über der wohlbekannten Platz der Ecole de Médecine hinführen, da wollte mein Herz brechen, und ich sagte zu mir: ,Auf immer!' Eduard, ich habe nie wieder von dir gehört, dein Name war mir unbekannt, du mußtest ja die Bettlerin längst vergessen haben; ich lebte von der Gnade fremder Leute, ich hatte manches Bittere zu tragen; ich trug es, es war ja nicht das Schmerzlichste. Als aber die Gräfin in dieser Gegend auf ihr Gut zog, als Faldner sich um mich bewarb, als ich merkte, daß sie es gutmütig für eine gute Versorgung halte, vielleicht auch meiner überdrüssig war —nun, ich war ja nur ein einziges Mal glücklich gewesen, konnte nimmer hoffen, es wieder zu werden; das übrige war ja so gleichgültig — da wurde ich seine Frau.

"Armes Kind! An diesen Faldner — warum denn gerade du mit so weicher Seele, mit so zartem Sinn, mit so viel giltigem Anspruch auf ein zum mindesten edleres Los, warum gerade du seine Frau? Doch es ist so; Josephe, ich kann, ich darf keinen Tag mehr hier sein; ich habe ihn bei allem, was er Rohes haben mag, einst Freund genannt, bin jetzt sein Gastfreund, und wenn auch alles nicht wäre, wir dürfen ja nicht zusammen glücklich sein!" Es lag ein unendlicher Schmerz in seinen Worten; er küßte die Augen der schönen Frau, nur um durch den Gram, der in ihnen wohnte, nicht noch weicher zu werden.



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"O, nur noch einen Tag!" flüsterte sie zärtlich; "hab' dich ja jetzt eben erst gefunden, und du denkst schon zu entfliehen. Nur noch einen Morgen wie dieser! Siehe, wenn du weg bist, da verschließt sich wieder die Türe meines Glückes auf immer; ich werde Hartes ertragen müssen, und da muß ich doch ein wenig Erinnerung mir aufsparen, von der ich zehren kann in der endelosen Wüste."

"Höre, ich will Faldner alles gestehen," sprach nach einigem Sinnen der junge Mann, "ich will ihm alles vormalen, daß es ihn selbst rühren muß; er liebt dich doch nicht, du ihn nicht und bist unglücklich ; er soll dich mir abtreten. Mein Haus liegt nicht so schön wie dieses Schloß; meine Güter kannst du vom Belvedere auf dem Dache übersehen, du verließest hier großen Wohlstand; aber wenn du einzögest in mein Haus, wollte ich dir meine Hände als Teppich unterlegen , auf den Händen wollte ich dich tragen, du solltest die Königin sein in meinem Hause, und ich dein erster, treuer Diener!"

Sie blickte schmerzlich zum Himmel auf, sie weinte heftiger. "Ach ja, wenn ich eine Ketzerin wäre und deines Glaubens, dann ginge es wohl; aber wir sind ja gut katholisch getraut worden, und das scheidet nur der Tod! O, du großer Gott, wie unglücklich machen oft diese Gesetze! Welch eine Seligkeit mit dir, bei dir zu sein, immer für dich zu sorgen, an deinen Blicken zu hängen und alle Tage dir durch zärtliche Liebe ein Tausendteil von dem heimzugehen, was du an meiner lieben Mutter und an mir getan."

"Also dennoch auf immer?" erwiderte er traurig; "also nur noch morgen, und dann für immer scheiden?"

"Für immer!" hauchte sie kaum hörbar, indem sie ihn fester an ihre Lippen schloß.

"Hier also findet man dich, du niederträchtige Metze!" schrie in diesem Augenblicke ein dritter, der neben dieser Gruppe stand; sie sprangen erschreckt auf; zitternd vor Zorn, knirschend vor Wut, stand der Baron, in der einen Hand ein Papier, in der anderen die Reitpeitsche haltend, die er eben aufhob, um sie über den schönen Nacken der Unglücklichen herabschwirren zu lassen. Froben fiel ihm in den Arm, entwand ihm mit Mühe die Peitsche und warf sie weit hinweg. "Ich bitte dich," sagte er zu dem Wütenden, "nur hier keine Szene! Deine Leute sind im Garten, du schändest dich und dein Haus durch einen solchen Auftritt."

"Was?" schrie jener, "ist mein Haus nicht schon genug geschändet durch diese niederträchtige Person, durch dieses Bettlerpack, das ich in meinem Haus hatte? Meinst du, ich kenne deine Handschrift nicht?" fuhr er fort, indem er ihr da:, Papier hinstreckte; "das ist ja ein süsses Briefchen an den Herm Galan hier, an den Romanhelden. Also eine Dirne mußte ich heiraten, die du unterhieltest, und als du ihrer satt



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warest, sollte der ehrliche Faldner sie zur gnädigen Frau machen; dann kommt man nach sechs Monaten so zufällig zu Besuch, um den Hörnern des Gemahls noch einige Enden anzusetzen. Das sollst du mir bezahlen, Schandbube! Aber dieses Bettelweib mag immer wieder mit Teller und Laterne sich am Pont des Arts aufstellen oder von deinem Sündenlohn leben. Meine Knechte sollen sie mit Hetzpeitschen vom Hof jagen!"34.

Der Mann von gediegener Bildung hat in solchen Momenten ein entschiedenes Übergewicht über den rohen, der, von Wut zur Unbesonnenheit hingerissen, unsicher ist, was er beginnen soll. Ein Blick auf Josephe, die bleich, zitternd, sprachlos auf der Moosbank saß, überzeugte Froben, was hier zu tun sein. Erbot ihr den Arm und führte sie aus der Laube nach dem Schlosse. Wütend sah ihnen der Baron nach; er war im Begriff, seine Knechte zusammenzurufen, um seine Drohung zu erfüllen; aber die Furcht, seine Schande noch größer zu machen, hielt ihn ab. Er rannte hinauf in den Saal, wo Josephe auf dem Sofa lag, ihr weinendes Gesicht in den Kissen verbarg, wo Fröben wie gedankenlos am Fenster stand und hinausstarrte. Scheltend und fluchend rannte jener in dem Saal umher; er verfluchte sich, daß er sein Leben an eine solche Dirne gehängt habe. "Es müßte keine Gerechtigkeit mehr im Lande sein, wenn ich sie mir nicht vom Halse schaffte!" rief er. "Sie hat Taufschein und alles fälschlich angegeben; sie hat sich für ebenbürtig ausgegeben, die Bettlerin! Diese Ehe ist null und nichtig!"

"Das wird allerdings das Vernünftigste sein," unterbrach ihn Fröben; "es kommt nur darauf an, wie du es angreifst, um dich nicht noch mehr zu blamieren —

"Ha, mein Herr!" schrie der Baron in wildem Zorn, "Sie spotten noch über mich, nachdem Sie durch Ihre grenzenlose Frechheit all diese Schande über mich brachten? Folgen Sie mir, zu unserer Scheidung brauchen wir weiter keine Assisen; die kann sogleich abgemacht werden. Folgen Sie!

Josephe, die diese Worte verstand, sprang auf; sie warf sich vor dem Wütenden nieder, sie beschwor ihn, alles nur über sie ergehen zu lassen; denn sein Freund sei ja ganz unschuldig; sie wies hin auf den Zettel in seiner Hand, den sie erkannte; sie schwor, daß Fröben erst heute erfahren, wer sie sei. Aber der junge Mann selbst unterbrach ihre Fürbitten; er hob sie auf und führte sie zum Sofa zurück. "Ich bin gewohnt," sagte er kaltblütig zum Baron, "bei solchen Gängen



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zuerst meine Arrangements zu treffen, und du wirst wohl tun, es auch nicht zu unterlassen. Vor allem geht deine Frau jetzt aus dem Schloß; denn hier will ich sie nicht mehr wissen, wenn ich nicht da bin, sie vor deinen Mißhandlungen zu schützen.

"Du handelst ja hier wie in deinem Eigentum," erwiderte der Baron, vor Zorn lachend; "doch Madame war ja schon vorher dein Eigentum, ich hätte es beinahe vergessen; wohin soll denn der füße Engel gebracht werden? In ein Armenhaus, in ein Spital oder an den nächsten besten Zaun, um ihr Gewerbe fortzusetzen?"

Fröben hörte nicht auf ihn; er wandte sich zu Josephe. "Wohnt die Gräfin noch in der Nähe?" fragte er sie. "Glauben Sie wohl für die nächsten Tage einen Aufenthalt dort zu finden?"

"Ich will zu ihr gehen," flüsterte sie.

"Gut! Faldner wird die Gnade haben, Sie hinfahren zu lassen; dort erwarten Sie das Weitere, ob er einsicht, wie Unrecht er uns beiden getan, oder ob er darauf beharrt, sich von Ihnen zu trennen."

35.

Josephe war zu der Gräfin abgefahren; der Freund hatte ihr geraten, bei ihrer Ankunft nur einen Besuch von einigen Tagen vorzugeben; indessen wollte er ihr über die Stimmung seines Freundes Nachricht geben, und, wenn es möglich wäre, ihn bereden, sich mit ihr zu versöhnen. "Nein," rief sie leidenschaftlich, indem sie von der Terrasse an den Wagen hinabstieg, " in diese Tür kehre ich nie mehr zurück, auf ewig wende ich diesen Mauern den Rücken. Glauben Sie, eine Frau vermag viel zu ertragen, ich habe lange dulden müssen, und das Herz wollte mir oft zerspringen; aber heute hat er mich zu tief beleidigt , als daß ich ihm vergeben könnte. Und sollte ich wieder zurückkehren müssen auf den Pont des Arts, die Menschen um ein paar Sous anzuflehen, ich will es lieber tun, als noch länger solche niedrige Behandlung von diesem rohen Menschen mir gefallen lassen. Mein Vater war ein tapferer Soldat und ein geachteter Offizier Frankreichs ; seine Tochter darf sich nicht bis zur Magd eines Faldners entwürdigen."

Der junge Mann hatte nach ihrer Abreise einige Briefe geschrieben und war gerade mit Ordnen seines kleinen Gepäcks beschäftigt, als Faldner in das Zimmer trat. Froben sah ihn verwundert an und erwartete neue Angriffe und Ausbrüche seines Zorns. Jener aber sagte: "Ich glaube, je mehr ich diese unglücklichen Zeilen lese, die ich heute mittag auf deinem Zimmer fand, immer mehr, daß du eigentlich doch unschuldig an der miserablen Historie bist, nämlich, daß du



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vorher nicht:, wußtest und die Person nicht kanntest: daß ich mein Weib in deinen Armen traf, verzeihe ich dir; denn jene Person hatte aufgehört, mein zu sein, als sie den törichten Brief an dich schrieb."

"Es ist mir wegen unseres alten Verhältnisses erwünscht," anwortete Fröben, " wenn du die Sache so ansiehst, hauptsächlich auch, weil ich dadurch Gelegenheit bekomme, vernünftig und ruhig mit dir über Josephe zu sprechen. Fürs erste mein heiliges Wort, daß zwischen ihr und mir bis heute mittag nie, auch früher nicht, etwas vorging, was im geringsten ihrer Ehre nachteilig wäre; daß sie arm war, daß sie einmal genötigt war, die Hilfe der Menschen anzurufen —"

"Nein, sag lieber, daß sie bettelte," rief Faldner hitzig, "und nachts auf den Straßen und Brücken der liederlichen Hauptstadt umherzog, um Geld zu verdienen; ich hätte ja schon damals das Vergnügen ihrer näheren Bekanntschaft haben können, ich war ja bei der rührenden Szene auf dem Pont des Arts. Nein, wenn ich dir auch alles glaubte, ich bin dennoch beschimpft; die Familie Faldner und eine Bettlerin!"

"Ihr Vater und ihre Mutter waren von gutem Hause —"

"Fabeln, Dichtung! Daß ich mich so fangen ließ! Ebensogut hätte ich die Kellnerin aus der Schenke heiraten können, wenn sie ein Bierglas im Wappen führte und ein falsches Zeugnis ihrer Geburt brachte!"

"Das ist in meinen Augen das Geringste bei der Sache; die Hauptsache ist, daß du sie gleich von Anfang wie eine Magd behandeltest und nicht wie deine Frau; sie konnte dich nie lieben; ihr paßt nicht füreinander."

"Das ist das rechte Wort," entgegnete der Baron, " wir passen nicht zusammen; der Freiherr von Faldner und eine Bettlerin können nie zusammenpassen. Und jetzt freut es mich erst recht, daß ich meinem Kopf folgte und sie so behandelte; die Dirne hat es nicht besser verdient. Ich hab' es ja gleich gesagt, sie hat so etwas Gemeines an sich."

Diese Roheit empörte den jungen Mann; er wollte ihm etwas Bitteres entgegnen; aber er bezwang sich, um Josephen nützlich zu sein. Er redete mit dem Baron ab, was hierin zu tun sei, und sie kamen dahin überein, daß sie die ganze Sache vor die bürgerlichen Gerichte bringen und gegenseitge Abneigung als Grund zur Trennung angeben sollten. Freilich konnte bei ihren Glaubensverhältnissen keiner der beiden Teile hoffen, in einer neuen Verbindung Trost zu finden; aber Josephen, wenn sie auch mit Schrecken in eine hilflose Zukunft blickte, schien kein Los so schwer, daß es nicht gegen die unwürdige Behandlung, die sie in Faldners Hause erduldete, erträglich geschienen hätte, und der Baron, wenn ihn auch in



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manchen einsamen Stunden Reue anwandelte, suchte Zerstreuung in seinen Geschäften und Trost in dem Gedanken, daß ja niemand seine Schande erfahren habe, eine Bettlerin von zweideutigem Charakter zur Frau von Faldner gemacht zu haben.36

Einige Wochen nach diesem Vorfall ging Froben in Mainz, wohin er sich, um doch in Josephens Nähe zu sein, zurückgezogen hatte, auf der Rheinbrücke abends hin und wieder. Er gedachte der sonderbaren Verkettung des Schicksals, er dachte an mancherlei Auswege, die ihn und die geliebte Frau vielleicht noch glücklich machen könnten; da fuhr ein Reisewagen über die Brücke her, dessen wunderlicher Bau die Aufmerksamkeit des jungen Mannes schon von weitem auf sich zog. Bald aber haftete sein Auge nur noch an dem Bedienten, der auf dem Bock saß; dieses braungelbe, heitere Gesicht, das neugierig um sich schaute, schien ihm ebenso bekannt als die grellen Farben der Livree. Als der Wagen, der sich auf der Brücke nur im Schritt weiterbewegen durfte, näher herankam, bemerkte auch der Diener den jungen Mann und rief: "San Jago di Compostella! Das ist er ja selbst!" Er riß das Wagenfenster auf, das ihn von dem Innern des Wagens trennte, und sprach eifrig hinein. Alsobald wurde auf der Seite des Wagens ein Fenster niedergelassen, und heraus fuhr das wohlbekannte Gesicht Don Pedros di San Montanjo Ligez. Der Wagen hielt; der junge Mann sprang freudig herzu, um den Schlag zu öffnen, und der alte Herr sank in seine Arme. "Wo ist sie, wo habt Ihr sie, die Tochter meiner Laura? O, um der heiligen Jungfrau willen, habt Ihr sie hier? Sagt an, junger Herr! Wo ist sie?"

Der junge Mann schwieg betreten; er führte den Alten auf der Brücke weiter und sagte ihm dann, daß sie nicht weit von dieser Stadt sich aufhalte, und morgen wolle er ihn zu ihr führen.

Der Spanier hatte Freudentränen im Auge. "Wie danke ich Euch für die Nachrichten, die Ihr mir gegeben!" sprach er. "Sobald ich Urlaub bekommen hatte, setzte ich mich mit Diego in den Wagen und ließ mich von W. bis hier täglich sechs Meilen fahren; denn länger hielt ich es nicht aus. Und lebt sie glücklich? Sieht sie ihrer Mutter ähnlich? Und was erzählt sie von Laura Tortosi?" Fröben versprach, auf seinem Zimmer alle seine Fragen zu beantworten. Er ließ, nachdem sich der Spanier ein Wenig ausgeruht und umgekleidet hatte, Xeres bringen, schenkte ein; Diego reichte, wie damals, die Zigarren, und als Don Pedro recht bequem saß, fing der junge Mann seine Erzählung an. Mit steigendem Interesse hörte ihn der Spanier an; zu



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großem Ärgernis Diegos ließ er seit zwanzig Jahren zum erstenmal die Zigarre ausgehen, und als der junge Mann an jene empörende Szene zwischen Faldner und der unglücklichen Frau kam, da konnte er sich nicht mehr halten; sein altes, südliches Blut kochte auf; er drückte den Hut tief in die Stirne, wickelte den linken Arm in den Mantel und rief mit blitzenden Augen: "Meinen langen Stoßdegen her, Diego! Den mach' ich kalt, so wahr ich ein guter Christ und spanischer Edelmann bin! Ich stech' ihn nieder, und hätte er ein Kruzifix vor der Brust, ich bring' ihn um, ohne Absolution und ohne alle Sakramente schick' ich ihn zur Hölle, so tu' ich. Bring mir mein Schwert, Diego!"

Aber Fröben zog den zitternden, von Zorn erschöpften Alten zu sich nieder; er suchte ihm begreiflich zu machen, wie dies alles nicht nötig sei; denn Josephe sei schon aus der Gewalt des rohen Menschen befreit und lebe getrennt von ihm. Er holte, um ihn noch mehr zu besänftigen, jenes Bild herbei und entfaltete es vor den staunenden Blicken Pedros. Entzückt betrachtete es der Don. "Ja, sie ist es," nef er, alles übrige vergessend, " meine arme, unglückliche Laura!" Und weinend umarmte er den jungen Mann, nannte ihn seinen lieben Sohn und dankte ihm mit gebrochener Stimme für alles, was er an der unglücklichen Mutter und ihrer armen Tochter getan.

Am anderen Morgen brach er mit gröben nach dem Gut der Gräfin auf. Es war ein rührender Anblick, wie der alte Mann die schöne jugendliche Gestalt Josephens umschlungen hielt, wie er ihre Züge aufmerksam betrachtete, wie seine strengen Züge immer weicher wurden, wie er sie dann gerührt auf Auge und Mund küßte. "Ja, du bist Lauras Tochter!" rief er. "Dein Vater hat dir nichts gegeben als sein blondes Haar; aber das sind ihre lieben Augen, das ist ihr Mund, das sind die schönen Züge der Tortosi! Sei meine Tochter, liebes Kind! Ich habe keine Verwandten und bin reich; durch Verwandtschaft , mein Herz und einen zwanzigjährigen Gram gehörst du mir näher an als irgend jemand auf der Erde!" Ihre Blicke, die über seine Schultern weg auf Froben fielen, schienen diese letztere Behauptung nicht gerade zu bestätigen; aber sie küßte gerührt seine Hand und nannte ihn ihren Oheim, ihren zweiten Vater.

Die Freude des Wiedersehens dauerte übrigens nur wenige Tage. Don Pedro erklärte sehr bestimmt, daß ihn seine Geschäfte nach Portugal rufen, und zugleich schien er gar nicht einzusehen, was Josephen abhalten könnte, ihm dahin zu folgen; er hegte zu strenge Grundsätze über die Artikel seiner Kirche, als daß er den Gedanken für möglich gehalten hätte, Froben könne Josephe, die getrennte Gattin eine;: anderen, zur Frau begehren. Es ist uns nicht t bekannt geworden, was die Liebenden über diesen strittigen Punkt verhandelten; nur soviel



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ist gewiß, daß Fröben einigemal darauf hindeutete, sie solle zum evangelischen Glauben zurückkehren, daß sie jedoch, zwar mit unendlichem Schmerz, aber sehr bestimmt, diesen Vorschlag abwies. Oft soll ihr der junge Mann in Verzweiflung über die herannahende Trennung vorgeschlagen haben, sie solle Don Pedro ziehen lassen, sie solle für sich leben, in Deutschland bleiben; er wolle, wenn er nicht ihr Gatte werden könne, auf immer als Freund um sie sein. Aber auch dies lehnte sie ab; sie gestand ihm offen, daß sie sich zu schwach fühle, ein solches Verhältnis mit Ehren hinauszuführen, und stolzer gemacht durch ihr Unglück, bebte sie zurück vor dem Gedanken an eine unwürdige Verbindung mit einem Mann, den sie so hoch achtete, als sie ihn liebte. Allein mit sich gestand sie sich wohl, daß ein noch edelmütiger Gedanke ihre Schritte lenke. "Sollte er," sagte sie zu sich, die Blüte des Lebens an ein unglückliches Geschöpf verlieren, das ihm nur Freundin sein darf? Soll er den hohen Genuß häuslicher Freuden, das Glück, Kinder und Enkel um sich zu versammeln, wegen meiner aufgeben? Nein, er hat mich schon einmal verloren, und die Zeit wird auch jetzt seinen Schmerz lindern; er wird ein unglückliches Wesen vergessen, das ewig an ihn denken, ihn lieben, für ihn beten wird."

So schienen denn jene prophetischen Worte Josephens: "Auf immer!" in Erfüllung zu gehen. Don Pedro verließ mit seiner neuen Verwandtin das Gut der Gräfin, um durch Holland auf die See zu gehen. Froben, den vielleicht nur der Gedanke, Josephen bald nach Portugal nachzufolgen und dort ihr Freund zu sein, aufrecht erhielt, geleitete die Geliebte auf der Reise durch Deutschland und Holland; und so oft sie ihn bat, durch längeres Begleiten die Tage der Trennung nicht noch schwerer zu machen, bat er mit Tränen im Auge: "Nur bis an; Meer und Daun auf immer!"

37.

Im August dieses Jahres wurde in Ostende ein englisches Schiff klar, das nach Portugal Schiffsgut und Passagiere brachte. Es war ein schöner Morgen; die Nebel hatten sich gesenkt, und die Tage schienen für die Fahrt günstig werden zu wollen. Es war um neun Uhr morgens, als ein Kanonenschuß von dem Engländer herüberschallte, zum Zeichen, daß die Passagiere sich an die Küste begeben sollen. Zu gleicher Zeit ruderte eine Schaluppe heran und warf ihr Brett aus, um die Reisenden einzunehmen. Vom Land her kamen viele Personen mit Gepäck, gingen über das Brett, und bald war die



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Schaluppe voll, und die erste Ladung wurde an Bord gebracht. Ehe noch die Schaluppe zum zweitenmal anlegte, sah man vier Personen sich dem Strande nähern, die sich durch Gang, Haltung und Kleidung von den übrigen ärmlich eren Passagieren unterschieden. Ein hoher, ältlicher Mann ging stolzen Schrittes voraus; er hatte einen breitgekrämpten Hut auf und den Mantel so kunstreich und bequem um die Schultern geschlagen, daß ein Schiffer, der ihn kommen sah, ausrief: "Ich laß mich fressen, wenn es kein Spanier ist!" Hinter jenem kam ein jüngerer Herr, der eine schöne, schlankgebaute Dame führte. Der junge Herr war sehr bleich, schien einen großen Kummer niederzukämpfen , um durch Zureden einen noch größeren bei der Dame zu beschwichtigen. Ihr schönes Gesicht war um Auge und Stirne von heftigem Weinen gerötet, der Mund schmerzlich eingepreßt und die Wangen und untern Teile des Gesichtes sehr bleich. Sie ging schwankend, auf den Arm des jungen Mannes gestützt; ein Hütchen mit wallenden Straußfedern, ein wallendes Kleid von schwerem schwarzem Seidenzeug, um Hals und Busen reiche Goldketten, schienen nicht zur Reise zu passen, und man konnte daher glauben, daß sie den jungen Mann an Bord begleitete; hinter beiden ging ein Diener in bunten Kleidern; er trug einen großen Sonnenschirm unter dem Arm und hatte ein spanisches Netz über seine dunkeln Haare gezogen.

Als sie soweit herabgekommen waren, wo der Sand von der vorigen Flut noch feucht war, an die Stelle, wo man das Brett aus der Schaluppe anwarf, blieben sie stehen, und das schöne junge Paar sah nach dem Schiff; dann sahen sie sich an, und die Dame legte ihr Haupt auf die Schulter des Mannes, daß die Straußfedern um sein Gesicht spielten und seine stillen Tränen den Augen der Neugierigen verbargen. Der alte Herr stand nicht weit davon, wickelte sich, finster auf die See blickend, tief in seinen Mantel, und sein Auge blinkte, man wußte nicht, ob von einer Träne oder dem Widerschein der glänzenden Wellen. Jetzt kam die Schaluppe plätschernd ans Ufer; das Brett wurde ausgeworfen, und ein donnernder Schuß vom Schiffe schreckte das Paar aus seiner Umarmung. Der alte Herr trat heran, bot dem jungen Mann die Hand, schüttelte sie kräftig und stieg dann schnell über das Brett; sein Diener folgte, nachdem auch er dem Jüng ling herzlich die Hand geboten. Jetzt umarmten sich die jungen Leute noch einmal; er wand sich zuerst los und führte die Dame nach dem Brett. "Auf immer!" flüsterte sie mit wehmütigem Lächeln. "Auf immer!" antwortete der junge Mann, indem er sie bebend mit Tränen ansah. Noch einen Händedruck, und sie wandte sich, das Brett hinanzusteigen Schon stand sie oben; der Oberbootsmann, ein breiter Engländer, wartete am Brett, streckte seine breite Hand aus, um die schöne Dame zu empfangen, und hatte schon einige gutgemeinte



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Trostgründe in Bereitschaft. Da wandte sie von dem unendlichen Meer ihr dunkles Auge noch einmal zurück nach dem jungen Mann. Ihre hohe, herrliche Gestalt schwebte kühn auf dem schmalen Brett, ihr schlanker Hals war nach dem Land zurückgebogen, die schwankenden Federn des Hutes schienen hinüberzugrüßen. Er breitete die Arme aus; in seinen Zügen mischte sich die Seligkeit der Liebe mit dem Schmerz der Trennung. Da schien sie ihrer selbst nicht mehr mächtig zu sein; sie sprang über das Brett und hinab auf das Land, und ehe der Bootsmann seine Hände vor Verwunderung zusammenschlagen konnte, hing sie schon an des jungen Mannes Hals, an seinen Lippen. "Nein, ich kann nicht über das Meer," rief sie, "ich will bleiben; ich will alles tun, was du willst, will diese Fesseln eines Glaubens von mir werfen, der mich hindert, meinem besseren Gefühl zu folgen; du bist mein Vaterland, meine Familie, mein alles; ich bleibe!"

"Josephe, meine Josephe!" rief der junge Mann, indem er sie mit stürmischem Entzücken an sein Herz drückte. "Mein, mein auf immer? Ein Gott hat dein Herz gelenkt. O, ich wäre untergegangen unter der Qual dieser Trennung!" Sie hielten sich noch umschlungen, als der alte Herr mit hastigen Schritten über Bord und das Brett herabstieg und zu der Gruppe trat. "Kinder," sagte er, "einmal Abschied zu nehmen, wäre genug gewesen; komm, Josephe, es hilft ja doch nichts! Sie werden gleich zum drittenmal schießen."

"Laßt sie mit Stückkugeln schießen, Don Pedro!" rief der junge Mann mit freudig verklärten Zügen. "Sie bleibt hier, sie bleibt bei mir.

"Was höre ich?" erwiderte jener sehr ernst. "Ich will nicht hoffen, daß dies so ist, wie der Kavalier sagt; du wirst deinem Verwandten folgen, Josephe!"

"Nein!" rief sie mutig, "als ich dort oben auf dem Rand der Schaluppe stand und hinaussah auf diese Fluten, die mich von ihm trennen sollten, da stand fest in mir, was ich zu tun habe; meine Mutter hat mir den Weg gezeigt; sie ist einst dem Mann ihres Herzens in die weite Welt gefolgt, hat Vater und Mutter verlassen aus Liebe; ich weiß, was auch ich zu tun habe; hier steht der, dem meine arme Mutter ihre letzten süßen Stunden, dem ich Leben, Ehre, alles verdanke, und ich sollte ihn verlassen? Grüßet die Gräber meiner Ahnen in Valencia, Don Pedro, und sagt ihnen, daß es noch eine aus dem Stamm der Tortosi gibt, der die Liebe höher gilt als das Leben!"

Don Pedro wurde weich. "So folge deinem Herzen, vielleicht ratet es dir besser als ein alter Mann; ich weiß dich zum mindesten glücklich in den Armen dieses edlen Mannes, und sein hoher Sinn bürgt mir dafür, daß ihm unsere Ehre nicht minder hoch als die seine gilt. Aber, Don Fröbenio. was werden Sie zu Ihren stolzen



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Verwandten sagen, wenn Sie dieses Kind des Elends vorstellen? Gott! Werden Sie auch den Mut haben, den Spott der Welt zu ertragen?"

"Fahret wohl, Don Pedro," sagte der junge Mann mit mutigem Gesicht, indem er jenem die eine Hand zum Abschied bot und mit der anderen die Geliebte umschlang; "seid getrost und verzaget nicht an mir! Ich werde sie der Welt zeigen, und wenn man mich fragt: .Wer war sie denn?' so werde ich nicht ohne freudigen Stolz antworten: Es war die Bettlerin vom Pont des Arts.'"



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Othello.

Wie? Wanns und Wo? Die Götter bleiben stumm!
Du halte dich an Weil, und frage nicht Warum?

Goethe.

1.

Das Theater war gedrängt voll; ein neu angeworbener Sänger gab den Don Juan. Das Parterre wogte, von oben gesehen, wie die unruhige See, und die Federn und Schleier der Damen tauchten wie schimmernde Fische aus den dunkeln Massen. Die Ranglogen waren reicher als je; denn mit dem Anfang der Wintersaison war eine kleine Trauer eingefallen, und heute zum erstenmal drangen wieder die schimmernden Farben der reichen Turbans, der wehenden Büsche, der bunten Schals an das Licht hervor. Wie glänzend sich aber auch der reiche Kranz von Damen um das Amphitheater zog, das Diadem dieses Kreises schien ein herrliches, liebliches Bild zu sein, das aus der fürstlichen Loge freundlich und hold die Welt um und unter sich überschaute. Man war versucht zu wünschen, dieses schöne Kind möchte nicht so hoch geboren sein; denn diese frische Farbe, diese heitere Stirne, diese kindlich reinen, milden Augen, dieser holde Mund war zur Liebe, nicht zur Verehrung aus der Ferne geschaffen. Und wunderbar, wie wenn Prinzessin Sophie diesen frevelhaften Gedanken geahnet hätte — auch ihr Anzug entsprach diesem Bilde einfacher natürlicher Schönheit; sie schien jeden Schmuck, den die Kunst verleiht, dem stolzen Damenkreis überlassen zu haben.

"Sehen Sie, wie lebendig, wie heiter sie ist," sprach in einer der ersten Ranglogen ein fremder Herr zu dem russischen Gesandten, der neben ihm stand, und beschaute die Prinzessin durch das Opernglas ; " wenn sie lächelt, wenn sie das sprechende Auge ein klein wenig zudrückt und dann mit unbeschreiblichem Reiz wieder aufschlägt, wenn sie mit der kleinen niedlichen Sand dazu agiert —



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man sollte glauben, aus so weiter Ferne ihre witzigen Reden, ihre naiven Fragen vernehmen zu können."

"Es ist erstaunlich!" entgegnete der Gesandte,

"Und dennoch sollte dieser Himmel von Freudigkeit nur Maske sein? Sie sollte fühlen, schmerzlich fühlen, sie sollte unglücklich lieben und doch so blühend, so heiter sein? Gnädige Frau," wandte sich der Fremde zu der Gemahlin des Gesandten, "gestehen Sie, Sie wollen mich mystifizieren, weil ich einiges Interesse an diesem Götterkinde genommen habe."

"Mon Sion! Baron," sagte diese, mit dem Kopfe wackelnd, "Sie glauben noch immer nicht? Auf Ehre, es ist wahr, wie ich Ihnen sagte; sie liebt, sie liebt unter ihrem Stande, ich weiß es von einer Dame, der nichts dergleichen entgeht. Und wie? Meinen Sie, eine Prinzeß, die von Jugend auf zur Repräsentation erzogen ist, werde nicht Tournure genug haben, um ein so unschickliches Verhältnis den Augen der Welt zu verbergen?"

"Ich kann es nicht begreifen," flüsterte der Fremde, indem er wieder sinnend nach ihr hinsah, "ich kann es nicht fassen; diese Heiterkeit, dieser beinahe mutwillige Scherz — und stille, unglückliche Liebe? Gnädige Frau, ich kann es nicht begreifen!"

"Ja, warum soll sie denn nicht munter sein, Barons Sie ahnet wohl nicht, daß jemand etwas von ihrer meschanten Aufführung weiß; der Amoroso ist in der Nähe —"

"Ist in der Nähe? O bitte, Madame! Zeigen Sie mir den Glücklichen! Wer ist er?"

"Was verlangen Sie! Das wäre ja gegen alle Diskretion, die ich der Oberhofmarschallin schuldig bin; mein Freund, daraus wird nichts. Sie können zwar in Warschau wiedererzählen, was Sie hier gesehen und gehört haben; aber Namen? Nein, Namen zu nennen in solchen Affären, ist sehr unschicklich; mein Mann kann dergleichen nicht leiden."

Die Ouvertüre war ihrem Ende nahe, die Töne brausten stärker aus dem Orchester herauf, die Blicke der Zuschauer waren fest auf den Vorhang gerichtet, um den neuen Don Juan bald zu sehen; doch der Fremde in der Loge der russischen Gesandtschaft hatte kein Ohr für Mozarts Töne, kein Auge für das Stück; er sah nur das liebliche, herrliche Kind, das ihm um so interessanter war, als diese schönen Augen, diese süßen, freundlichen Lippen heimliche Liebe kennen sollten. Ihre Umgebungen, einige ältere und jüngere Damen, hatten zu sprechen aufgehört; sie lauschten auf die Musik; Sophiens Augen gleiteten durch das gefüllte Haus; sie schienen etwas zu vermissen, zu suchen. "Ob sie wohl nach dem Geliebten ihre Blicke aussendet?" dachte der Fremde; "ob sie die



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Reihen mustert, ihn zu sehen, ihn mit einem verstohlenen Lächeln, mit einem leisen Beugen des Hauptes, mit einem jener tausend Zeichen zu begrüßen, welche stille Liebe erfindet, womit sie ihre Lieblinge beglückt, bezaubert?" Eine schnelle, leichte Röte flog jetzt über Sophiens Züge; sie rückte den Stuhl mehr seitwärts, sie sah einigemal nach der Türe ihrer Loge; die Türe ging auf, ein großer, schöner junger Mann trat ein und näherte sich einer der älteren Damen; es war die Herzogin F., die Mutter der Prinzessin . Sophie spielte gleichgültig mit der Brille, die sie in der Hand hielt; aber der Fremde war Kenner genug, um in ihrem Auge zu lesen, daß dieser und kein anderer der Glückliche sei.

Noch konnte er sein Gesicht nicht sehen; aber die Gestalt, die Bewegungen des jungen Mannes hatten etwas Bekanntes für ihn. Die Fürstin zog ihre Tochter ins Gespräch; sie blickte freundlich auf, sie schien etwas Pikantes erwidert zu haben; denn die Mutter lächelte, der junge Mann wandte sich um, und — "Mein Gott! Graf Zronievsky!" rief der Fremde so laut, so ängstlich, daß der Gesandte an seiner Seite heftig erschrak und seine Gemahlin den Gast krampfhaft an der Hand faßte und neben sich auf den Stuhl niederriß.

"Ums Himmels willen, was machen Sie für Skandal!" rief die erzürnte Dame; "die Leute schauen rechts und links nach uns her; wer wird denn so mörderlich schreiens Es ist nur gut, daß sie da unten gerade ebenso mörderlich gegeigt und trompetet haben; sonst hätte jedermann Ihren Zronievsky hören müssen. Was wollen Sie nur von dem Grafen? Sie wissen ja doch, daß wir vermeiden, ihn zu kennen!"

"Kein Wort weiß ich," erwiderte der Fremde; " wie kann ich auch wissen, wen Sie kennen und wen nicht, da ich erst seit drei Stunden hier bin? Warum vermeiden Sie es, ihn zu sehen?"

Nun, seine Verhältnisse zu unserer Regierung können Ihnen nicht unbekannt sein," sprach der Gesandte; " er ist verwiesen, und es ist mir höchst fatal, daß er gerade hier und immer nur hier sein will. Er hat sich unverschämterweise bei Hofe präsentieren lassen, und so sehe ich ihn auf jeden Schritt und Tritt; und doch wollen es die Verhältnisse, daß ich ihn ignoriere. Überdies macht mir der fatale Mensch sonst noch genug zu schaffen; man will höheren Orts wissen, wovon er lebe und so glänzend lebe, da doch seine Güter konfisziert sind, und ich weiß es nicht herauszubringen. Sie tennen ihn, Baron?"

Der Fremde hatte diese Reden nur halb gehört; er sah unverwandt nach der fürstlichen Loge, er sah, wie Zronievsky mit der Fürstin und den andern Damen sprach, wie nur sein feuriges



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Auge hin und wieder nach Sophien hingleitete, wie sie begierig diesen Strahl auffing und zurückgab. Der Vorhang flog auf; der Graf trat zurück und verschwand aus der Loge; Leporello hub seine Klagen an.

"Sie kennen ihn, Baron?" flüsterte der Gesandte. "Wissen Sie mir Näheres über seine Verhältnisse —"

"Ich habe mit ihm unter den polnischen Lanciers gedient."

"Ist wahr, er hat in der französischen Armee gedient; sahen Sie sich oft? Kennen Sie seine Ressourcen?"

"Ich habe ihn nur gesehen," warf der Fremde leicht hin, " wenn es der Dienst mit sich brachte; ich weiß nichts von ihm, als daß er ein braver Soldat und ein sehr unterrichteter Offizier ist."

Der Gesandte schwieg; sei es, daß er diesen Worten glaubte, sei daß er zu vorsichtig war, seinem Gast durch weitere Fragen Mißtrauen zu zeigen. Auch der Fremde bezeigte keine Lust, das Gespräch weiter fortzusetzen; die Oper schien ihn ganz in Anspruch zu nehmen; und dennoch war es ein ganz anderer Gegenstand, der seine Seele unablässig beschäftigte. "Also hieher hat dich dein unglückliches Geschick endlich getrieben?" sagte er zu sich. "Armer Zronievsky! Als Knabe wolltest du dem Kosciusko helfen und dein Vaterland befreien; Freiheit und Kosciusko sind verklungen und verschwunden! Als Jüngling warst du für den Ruhm der Waffen, für die Ehre der Adler, denen du folgtest, begeistert; man hat sie zerschlagen. Du hattest dein Herz so lange vor Liebe bewahrt, sie findet dich endlich als Mann, und siehe — die Geliebte steht so furchtbar hoch, daß du vergessen oder untergehen mußt!"

Das Geschick seines Freundes, denn dies war ihm Graf Zronievsky gewesen, stimmte den Fremden ernst und trübe; er versank in jenes Hinbrüten, das die Welt und alle ihre Verhältnisse vergißt, und der Gesandte mußte ihn, als der erste Akt der Oper zu Ende war, durch mehrere Fragen aus seinem Sinnen aufwecken, das nicht einmal durch das Klatschen und Bravorufen des Parterres unterbrochen worden war.

"Die Herzogin hat nach Ihnen gefragt," sagte der Gesandte; sie behauptet, Ihre Familie zu kennen; kommen Sie, wischen Sie diesen Ernst, diese Melancholie von Ihrer Stirne ! Ich will Sie in die Loge führen und präsentieren.

Der Fremde errötete; sein Herz pochte, er wußte selbst nicht, warum; erst als er den Korridor mit dem Gesandten hinging, als er sich der fürstlichen Loge näherte, fühlte er, daß es die Freude sei, was sein Blut in Bewegung brachte, die Freude, jenem lieblichen Wesen nahe zu sein, dessen stille Liebe ihn so sehr anzog.



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2.

Die Herzogin empfing den Fremden mit ausgezeichneter Güte. Sie selbst präsentierte ihn der Prinzessin Sophie, und der Name Larun schien in den Ohren des schönen Kindes bekannt zu klingen; sie errötete flüchtig und sagte, sie glaube gehört zu haben, daß er früher in der französischen Armee diente. Es war dem Baron nur zu gewiß, daß ihr niemand anders als Zronievsky dies gesagt haben konnte; es war ihm um so gewisser, als ihr Auge mit einer gewissen Teilnahme auf ihm wie auf einem Bekannten ruhte, als sie gerne die Rede an ihn zu richten schien.

"Sie sind fremd hier," sagte die Herzogin, "Sie sind keinen Tag in diesen Mauern, Sie können also noch von niemand bestochen sein. Ich fordere Sie auf, seien Sie Schiedsrichter; kann es nicht in der Natur geheimnisvolle Kräfte geben, die — die, wie soll ich mich nur ausdrücken, die, wenn wir sie frevelhaft hervorrufen uns Unheil bringen können?"

"Sie sind nicht unparteiisch, Mutter!" rief die Prinzessin lebhaft, "Sie haben schon durch Ihre Frage, wie Sie sie stellten, die Sinne des Barons gefangen genommen. Sagen Sie einmal, wenn zufällig im Zwischenraum von vielen Jahren von einem Hause nach und nach sechs Dachziegel gefallen wären und einige Leute getötet hätten, würden Sie nicht mehr an diesem Hause vorübergehen?"

"Warum nicht? Es müßten nur in diesen Ziegeln geheimnisvolle Kräfte liegen, welche —"

Wie mutwillig!" unterbrach ihn die Herzogin. "Sie wollen mich mit meinen geheimnisvollen Kräften nach Hause schicken; aber nur Geduld! das Gleichnis, das Sophie vorbrachte, paßt doch nicht ganz —"

"Nun, wir wollen gleich sehen, weni der Baron recht gibt," rief jene; "die Sache ist so: Wir haben hier eine sehr hübsche Oper, mau gibt alles Mögliche, Altes und Neues durcheinander, nur eines nicht, die schönste, herrlichste Oper, die ich kenne; auf fremdem Boden mußte ich sie zum erstenmal hören; das erste, was ich tat, als ich hieher kam, war, daß ich bat, man möchte sie hier geben, und nie wird mir mein Wunsch erfüllt! Und nicht etwa, weil sie zu schwer ist, — sie geben schwerere Stücke — nein, der Grund ist eigentlich lächerlich."

"Und wie heißt die Oper?" fragte der Fremde.

Es ist Othello!"

"Othello? Gewiß ein herrliches Kunstwerk; auch mich spricht selten eine Musik so an wie diese, und ich fühle mich auf lange Tage



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feierlich, ich möchte sagen heilig bewegt, wenn ich Desdemonas Schwanengesang zur Harfe singen gehört habe."

"Hören Sie es? Er kommt von Petersburg, von Warschau, von Berlin, Gott weiß woher, — ich habe ihn nie gesehen, und dennoch schätzt er Othello so hoch. Wir müssen ihn einmal wieder sehen. Und warum soll er nicht wieder gegeben werden? Wegen eines Märchens, das heutzutage niemand mehr glaubt."

"Freveln Sie nicht,' rief die Fürstin, " es sind mir Tatsachen bekannt, die mich schaudern machen, wenn ich nur daran denke; doch wir sprechen unserem Schiedsrichter in Rätseln; stellen Sie sich einmal vor, ob es nicht schrecklich wäre, wenn es jedesmal, so oft Othello gegeben würde, brennte."

"Auch wieder ein Gleichnis," fiel Sophie ein; "doch ist es noch viel toller, das Märchen selbst."

"Nein, es soll einmal brennen," fuhr die Mutter fort. "Othello wurde zuerst als Drama nach Shakespeare gegeben, schon vor fünfzig Jahren; die Sage ging, man weiß nicht, woher und warum, daß, so oft Othello gegeben wurde, ein gewisses Evenement erfolgte; nun also unser Brennen; es brannte jedesmal nach Othello. Man machte den Versuch, man gab lange Zeit Othello nicht; es kam eine neue geistreiche Übersetzung auf, er wird gegeben — jener unglückliche Fall ereignet sich wieder. Ich weiß noch wie heute, als Othello, zur Oper verwandelt, zum erstenmal gegeben wurde; wir lachten lange vorher, daß wir den unglücklichen Mohren um sein Opfer gebracht haben, indem er jetzt musikalisch geworden — Desdemona war gefallen, wenige Tage nachher hatte der Schwarze auch sein zweites Opfer. Der Fall trat nachher noch einmal ein, und darum hatte man Othello nie wieder gegeben; es ist töricht, aber wahr. Was sage:; Sie dazu, Baron? aber aufrichtig, was halten Sie von unserem Streit?"

"Durchlaucht haben vollkommen recht," antwortete Larun in einem Ton, der zwischen Ernst und Ironie die Mitte hielt; " wenn Sie erlauben, werde ich durch ein Beispiel aus meinem eigenen Leben Ihre Behauptung bestätigen. Ich hatte eine unverheiratete Tante, eine unangenehme, mystische Person; wir Kinder hießen sie nur die Federntante, weil sie große, schwarze Federn auf dem Hut zu tragen pflegte. Wie bei Ihrem Othello, so ging auch in unserer Familie eine Sage, so oft die Federntante kam, mußte nachher eines oder das andere krank werden. Es wurde darüber gescherzt und gelacht; aber die Krankheit stellte sich immer ein, und wir waren den Spuk schon so gewöhnt, daß, so oft die Federntante zum Besuch in den Hof fuhr, alle Zurüstungen für die kommende Krankheit gemacht und selbst der Doktor geholt wurde."



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"Eine köstliche Figur, Ihre Federntante," rief die Prinzessin lachend; "ich kann mir sie denken, wie sie den Kopf mit dem Federnhut aus dem Wagen streckt, wie die Kinder laufen, als käme die Pest, weil keines krank werden will, und wie ein Reitknecht zur Stadt sprengen muß, um den Doktor zu holen, weil die Federntante erschienen sei. Da hatten Sie ja wahrhaftig eine lebendige weiße Frau in Ihrer Familie!

Still von diesen Dingen," unterbrach sie die Fürstin ernst, beinahe unmutig; " man sollte nicht von Dingen so leichthin reden, die man nicht leugnen kann und deren Natur dennoch nie erklärt werden wird. So ist nun einmal auch mein Othello," setzte sie freundlicher hinzu, "und Sie werden ihn nicht zu sehen bekommen, Baron, und müssen Ihr Lieblingsstück schon wo anders aufsuchen."

Und Sie sollen ihn dennoch sehen," flüsterte Sophie zu ihm hin, "ich muß mein Desdemona-Lied noch einmal hören, so recht sehen und hören auf der Bühne, und sollte ich selbst darüber zum Opfer werden!"

"Sie selbsts" fragte der Fremde betroffen; "ich höre ja, der gespenstige Mohr soll nur brennen , nicht töten?"

"Ach, das war ja nur das Gleichnis der Mutter!" flüsterte sie noch viel leiser, "die Sage ist noch viel schauriger und gefährlicher."

Der Kapellmeister pochte; die Introduktion des zweiten Aktes begann, und der Fremde stand auf, die fürstliche Loge zu verlassen. Die Herzogin hatte ihn gütig entlassen; aber vergebens sah er sich nach dem Gesandten um, er war wohl längst in seine Loge zurückgekehrt . Unschlüssig, ob er rechts oder links gehen müsse, stand er im Korridor, als eine warme Hand sich in die seinige legte; er blickte auf, es war der Graf Zronievsky.

3.

"So habe ich doch recht gesehen!" rief der Graf, "mein Major, mein tapferer Major! Wie lebt alles wieder in mir auf! Ich werfe diese unglücklichen dreizehn Jahre von mir; ich bin der frohe Lancier wie sonst! Vive Poniatowsky, vive l'emp —"

"Um Gottes willen, Graf!" fiel ihm der Fremde ins Wort, bedenken Sie, wo Sie sind! Und warum diese Schatten heraufbeschwören? Sie sind hinab mit ihrer Zeit: lasset die Toten ruhen!"

"Ruhen?" entgegnete jener; "das ist ja gerade, was ich nicht kann; o, daß ich unter jenen Toten wäre! Wie sanft, wie geduldig wollte ich ruhen! Sie schlafen, meine tapfern Polen, und keine Stimme, wie mächtig sie auch rufe, schreckt sie auf, Warum darf ich allein nicht rasten?"



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Ein düsteres, unstetes Feuer brannte in den Augen des schönen Mannes; seine Lippen schlossen sich schmerzlich. Sein Freund betrachtete ihn mit besorgter Teilnahme; er sah hier nicht mehr den fröhlichen, heldenmütigen Jüngling, wie er ihn an der Spitze des Regiments in den Tagen des Glücks gesehen; das zutrauliche, gewinnende Lächeln, das ihn sonst so angezogen, war einem grämlichen , bittern Zuge gewichen; das Auge, das sonst voll stolzer Zuversicht, voll freudigen Mutes, frei und offen um sich blickte, schien mißtrauisch jeden Gegenstand prüfen, durchbohren zu wollen; das matte Rot, das seine Wangen bedeckte, war nur der Abglanz jener Jugendblüte, die ihm in den Salons von Paris den Namen des schönen Polen erworben hatte; und dennoch, auch nach dieser großen Veränderung, welche Zeit und Unglück hervorgebracht hatten, mußte man gestehen, daß Prinzessin Sophie sehr zu entschuldigen sei.

"Sie sehen mich an, Major?" sagte jener nach einigem Stillschweigen. "Sie betrachten mich, als wollten Sie die alten Zeiten aus meinen Zügen herausfinden? Geben Sie sich nicht vergebliche Mühe! Es ist so manches anders geworden; sollte nicht der Mensch mit dem Geschick sich ändern?"

Ich finde Sie nicht sehr verändert," erwiderte der Fremde, "ich erkannte Sie bei dem ersten Anblick wieder. Aber eines finde ich nicht mehr wie früher; aus diesen Augen ist ein gewisses Zutrauen verschwunden, das mich sonst so oft beglückte. Alexander Zronievsky scheint mir nicht mehr zu trauen. Und doch," setzte er lächelnd hinzu, "und dennoch war mein Geist immer bei ihm, ich weiß sogar die tiefsten Gedanken seines Herzens.

"Meines armen Herzens!" entgegnete der Graf wehmütig; "ich wüßte kaum, ob ich noch ein Herz habe, wenn es nicht manchmal vor Unmut pochte! Welche Gedanken wollen Sie aufgespürt haben als die unwandelbare Freundschaft für Sie, Maior? Schelten Sie nicht mein Auge, weil es nicht mehr fröhlich ist; ich habe mich in mich selbst zurückgezogen, ich habe mein Vertrauen in meine Rechte gelegt; ihr Druck wird Ihnen sagen, daß ich noch immer der Alte bin."

"Ich danke; aber wie, ich sollte mich nicht auf die Gedanken Ihres Herzens verstehen? Sie sagen, es pocht nur vor Unmut; was hat denn ein gewisses Fürstenkind getan, daß Ihr Herz so gar unmutig Pocht?

Der Graf erblaßte; er preßte des Fremden Hand fest in der seinigen. "Um Gottes willen, schweigen Sie! Nie mehr eine Silbe über diesen Punkt! Ich weiß, ich verstehe, was Sie meinen, ich will sogar zugeben, daß Sie recht gesehen haben; der Teufel hat Ihre Augen gemacht, Major! Doch warum bitte ich einen



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Ehrenmann wie Sie, zu schweigen? Es hat noch keiner vom achten Regiment seinen Kameraden verraten.

"Sie haben recht, und kein Wort mehr darüber! Doch nur dies eine noch: Vom achten verratet keiner den Kameraden; ob aber der gute Kamerad sich selber nicht verrät?

"Kommen Sie hier in diese Treppe," flüsterte der Graf; denn es nahten sich mehrere Personen "Jesus Maria, sollte außer Ihnen jemand etwas ahnen :

"Wenn Sie Vertrauen um Vertrauen geben werden, wohlan, so will ich beichten.

"O, foltern Sie mich nicht, Major! Ich will nachher sagen, was Sie haben wollen, nur geschwind, ob jemand außer Ihnen —"

Der Major von Larun erzählte, er sei heute in dieser Stadt angekommen, seine Depeschen seien bei dem Gesandten bald in Richtigkeit gewesen, man habe ihn in die Oper mitgenommen, und dort, wie er entzückt die Prinzessin aus der Ferne betrachtet, habe ihm die Gesandtin gesagt, daß Sophie in ein Verhältnis unter ihrem Stande verwickelt sei. "Sie traten ein in die fürstliche Loge — ein Blick überzeugte mich, daß niemand als Sie der Geliebte sein könne."

"Und die Gesandtin?" rief der Graf mit zitternder Stimme.

Sie hat es bestätigt. Wenn ich nicht irre, sprach sie auch von einer Oberhofmarschallin, von welcher sie die Nachricht habe."

Der Graf schwieg, einige Minuten vor sich hinstarrend; er schien mit sich zu ringen, er blickte einigemal den Fremden scheu von der Seite an — "Major!" sprach er endlich mit klangloser, matter Stimme; "können Sie mir hundert Napoleons leihen "

Der Major war überrascht von dieser Frage; er hatte erwartet, sein Freund werde etwas weniges über sein Unglück jammern, wie bei dergleichen Szenen gebräuchlich; er konnte sich daher nicht gleich in diese Frage finden und sah den Grafen staunend an.

"Ich bin ein Flüchtling," fuhr dieser fort; "ich glaubte endlich eine stille Stätte gefunden zu haben, wo ich ein klein wenig rasten könnte; da muß ich lieben — muß geliebt werden, Major, wie geliebt werden!" Er hatte Tränen in den Augen; doch er bezwang siel) und fuhr mit fester Stimme fort: "Es ist eine sonderbare Bitte, die ich hier nach so langem Wiedersehen an Sie tue; doch ich erröte nicht, zu bitten. Kamerad, gedenken Sie des letzten ruhmvollen Tages im Norden, gedenken Sie des Tages von Mosaist?"

"Ich gedenke!" sagte der Fremde, indem sein Auge glänzte und seine Wangen sich höher färbten.

"Und gedenken Sie, wie die russische Batterie an der Redoute



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auffuhr, wie ihre Kartätschen in unsere Reihen sausten und der Verräter Piolzky zum Rückzug blasen ließe"

"Ha!" fiel der Fremde mit dröhnender Stimme ein, "und wie Sie ihn herabschossen, Oberst, daß er keine Ader mehr zuckte, wie die Husaren rechts abschwenkten, wie Sie Vorwärts! riefen, vorwärts Lanciers vom achten! und die Kanonen in fünf Minuten unser waren!" —

"Gedenken Sie?' flüsterte der Graf mit Wehmut; "wohlan! ich kommandiere wieder vor der Front. Es gilt einen Kameraden herauszuhauen, werdet Ihr ihn retten? En avant.. Major! vorwärts, tapferer Lancier! wirst du ihn retten, Kamerad?"

"Ich will ihn retten!" rief der Freund, und der Graf Zronievsky schlug seinen Arm um ihn, preßte ihn heftig an seine Brust und eilte dann von ihm weg, den Korridor entlang.

4.

"Gut, daß ich Sie treffe," rief der Graf Zronievsky, als er am nächsten Morgen dem Major auf der Straße begegnete, "ich wollte eben zu Ihnen, und Sie um eine kleine Gefälligkeit ansprechen —"

"Die ich Ihnen schon gestern zusagte," erwiderte jener, "wollen Sie mich in mein Hotel begleiten? Es liegt längst für Sie bereit." —

"Um Gottes willen, jetzt nichts von Geld," fiel der Graf ein, "Sie töten mich durch diese Prosa; ich bin göttlich gelaunt, selig, überirdisch gestimmt. O Freund, ich habe es dem Engel gesagt, daß man uns bemerkt; ich habe ihr gesagt, daß ich fliehen werde; denn in ihrer Nähe zu sein, sie nicht zu sprechen, nicht anzubeten, ist mir unmöglich."

"Und darf ich wissen, was sie sagte?"

Sie ist ruhig darüber, sie ist größer als diese schlechten Menschen. Was ist es auch?' sagte sie, ,man kann uns gewiß nichts Böses nachsagen, und wenn man auch unser Verhältnis entdeckte, so will ich mir gerne einmal einen dummen Streich vergeben lassen; wo lebt ein Mensch, der nicht einmal einen beginge?"'

"Eine gesunde Philosophie," bemerkte der Major; " man kann nicht vernünftiger über solche Verhältnisse denken; denn gerade die sind meist am schlechtesten beraten, die glauben, sie können alle Menschen blenden. Doch ist mir noch eine Frage erlaubt? Wie es scheint, so sehen Sie Ihre Dame allein? Denn was Sie mir erzählten, wurde schwerlich gestern im Don Juan verhandelt."



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"Wir sehen uns," flüsterte jener, "ja, wir sehen uns; aber wo, darf ich nicht sagen, und so wahr ich lebe, das sollen auch jene Menschen nicht ausspähen. Aber lange, ich sehe es selbst ein, lange Zeit kann es nicht mehr dauern. Drum bin ich immer auf dem Sprung, Kamerad, und Ihre Hilfe soll mich retten, wenn indes meine Gelder nicht flüssig werden. .Doch gilt es morgen, so latz uns heut noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit!' Ich will noch glücklich, selig sein, weil es ja doch bald ein Ende haben muß.

"Und wozu kann ich Ihnen dienen?" fragte der Major, " wenn ich nicht irre, wollten Sie mich aufsuchen."

"Richtig, das war warum ich kommen wollte," entgegnete jener nach einigem Nachsinnen. "Sophie weiß, daß Sie mein Freund sind; ich habe ihr schon früher von Ihnen erzählt, hauptsächlich die Geschichte von der Beresinabrücke, wo Sie mich zu sich auf den Rappen nahmen. Sie hat gestern mit Ihnen gesprochen, und von Othello , nicht wahr? Die Fürsten will nicht zugeben, daß er aufgeführt werde wegen irgend eines Märchens, das ich nicht mehr weiß —"

"Sie waren sehr geheimnisvoll damit," unterbrach ihn der Freund, "und wie mir schien, wird es die Fürstin auch nicht zugeben."

"Und doch; ich habe sie durch ein Wort dahin gebracht. Die Prinzessin bat und flehte, und das kann ich nun einmal nicht sehen, ohne daß ich ihr zu Hilfe komme; ich nahm also eine etwas ernste Miene an und sagte: ,Sonderbar ist es doch, wenn so etwas ins Publikum kommt, ist es wie der Wind in den Gesandtschaften, und kam es einmal so weit, so darf man nicht dafür sorgen, daß es in acht Tagen als Chronique scandaleuse an allen Höfen erzählt wird.' Die Fürsten gab mir recht; sie sagte, wiewohl mit sehr bekümmerter und verlegener Miene, zu, daß das Stück gegeben werden solle; doch als sie wegging, rief sie mir noch zu, sie gebe das Spiel dennoch nicht verloren; denn wenn auch Othello schon auf dem Zettel stehe, lasse sie die Desdemona krank werden."

"Das haben Sie gut gemacht!" rief der Major lachend, "also die Furcht vor der Chronique scandaleuse hat die Gespensterfurcht und das Grauen vor den Geheimnissen der Natur überwunden?"

"Jawohl; Sophie ist außer sich vor Freuden, daß sie ihren Willen hat. Ich bin gerade auf dem Wege zum Regisseur der Oper; ich soll ihm vierhundert Taler bringen, daß die Aufführung auch in pekuniärer Hinsicht keiner Schwierigkeit unterworfen sein möchte, und Sie müssen mich zu ihm begleiten."

"Aber wird es nicht auffallen, wenn Sie im Namen der Prinzessin diese Summe überbringen?"

"Dafür ist gesorgt; wir bringen es als Kollekte von einigen



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Kunstfreunden, stellen Sie einen Dilettanten oder Enthusiasten vor, oder was in unsern Kram paßt. Der Regisseur wohnt nicht weit von hier und ist ein alter, ehrlicher Kauz, den wir schon gewinnen wollen. Nur hier um die Ecke, Freund, sehen Sie dort das kleine grüne Haus mit dem Erker' "5.

Der Regisseur der Oper war ein kleiner, hagerer Mann; er war früher als Sänger berühmt gewesen und ruhte jetzt im Alter auf seinen Lorbeeren. Er empfing die Freunde mit einer gewissen künstlerischen Hoheit und Würde, welche nur durch seine sonderbare Kleidung etwas gestört wurde; er trug nämlich eine schwarze Florentiner Mütze, welche er nur ablegte, wenn er zum Ausgehen die Perücke auf die Glatze setzte. Auffallend stachen gegen diese Bequeme Hauskleidung des Alten ein moderner, enge anliegender Frack und weite, faltenreiche Beinkleider ab; sie zeigten, daß der Herr Regisseur trotz der sechzig Jährchen, die er haben mochte, dennoch für die Eitelkeit der Welt nicht abgestorben sei; an den Füßen trug er weite, ausgetretene Pelzschuhe, auf denen er künstlich im Zimmer herumfuhr, ohne sichtbar die Beine aufzuheben; es kam den Fremden vor, als fahre er auf Schlittschuhen.

"Ist mir bereits angezeigt worden, der allerhöchste Wunsch," sagte der Regisseur, als ihn der Graf mit dem Zweck ihres Besuches bekannt machte, "weiß bereits um die Sache; an mir soll es nicht fehlen, mein einziger Zweck ist ja, die allerhöchsten Ohren auf ergötzliche Weise zu delektieren; aber —aber, ich werde denn doch submissest wagen müssen, einige Gegenvorstellungen zu exhibieren."

"Wie? Sie wollen diese Oper nicht geben?" rief der Graf.

"Gott soll mich behüten, das wäre ja ein offenbares Mordattentat auf die allerhöchste Familie! Nein! nein! Wenn mein Wort in der Sache noch etwas gilt, wird dieses unglückliche Stück nie gegeben."

"Hätte ich doch nie gedacht," entgegnete der Graf, "daß ein Mann wie Sie von Pöbelwahn befangen wäre. Mit Staunen und Bewunderung vernahm ich schon in meiner frühesten Jugend in fernen Landen Ihren gefeierten Namen' Sie wurden die Krone der Sänger genannt, ich brannte vor Begierde, diesen Mann einmal zu sehen. Ich bitte, verkleinern Sie dieses ehrwürdige Bild nicht durch solchen Aberwitz!"

Der Alte schien sich geschmeichelt zu fühlen: ein anmutiges Lächeln zog über seine verwitterten Züge, er steckte die Hände in



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die Taschen und fuhr auf seinen Pelzschuhen einigemal im Zimmer auf und ab. "Allzugütig, allzuviel Ehre!" rief er; "ja, wir waren unserer Zeit etwas, wir waren ein tüchtiger Tenor! Jetzt hat es freilich ein Ende. Aberglaube , belieben Sie zu sagen; ich würde mich schämen, irgend einem Aberglauben nachzuhängen; aber wo Tatsachen sind, kann von Aberglauben nicht die Rede sein."

"Tatsachen?" riefen die Freunde mit einer Stimme.

"O ja, verehrte Messieurs, Tatsachen! Sie scheinen nicht aus hiesiger Stadt und Gegend zu sein, daß Sie solche nicht wissens"

Ich habe allerdings von einem solchen Märchen gehört," sagte der Major; "es soll, wenn ich nicht irre, jedesmal nach Othello brennen, und —"

"Brennen? Daß mir Gott verzeih'! Ich wollte lieber, daß es allemal brennt; Feuer kann man doch löschen, man hat Brandassekuranzen, man kann endlich noch solch einen Brandschaden zur Not ertragen; aber sterben? nein, das ist ein weit gefährlicherer

"Sterben sagen Sie? Wer soll sterben?"

"Nun, das ist kein Geheimnis," erwiderte der Regisseur; "so oft Othello gegeben wird, muß acht Tage nachher jemand aus der fürstlichen Familie sterben."

Die Freunde fuhren erschrocken von ihren Sitzen auf; denn der prophetische, richtende Ton, womit der Alte dies sagte, hatte etwas Greuliches an sich; doch sogleich setzten sie sich wieder und brachen über ihren eigenen Schrecken in ein lustiges Gelächter aus, das übrigens den Sänger nicht aus der Fassung brachte.

"Sie lachen?" sprach er; "ich muß es mir gefallen lassen; wenn es Sie übrigens nicht geniert, will ich Sie die Theaterchronik inspizieren lassen, die seit hundertundzwanzig Jahren der jedesmalige Souffleur schreibt."

"Die Theaterchronik her, Alter, lassen Sie uns inspizieren!" rief der Graf, dem die Sache Spaß zu machen schien; und der Regisseur rutschte mit ans Schnelligkeit in seine Kammer und brachte einen in Leder und Messing gebundenen Folianten hervor.

Er setzte eine große, in Bein gefaßte Brille auf und blätterte in der Chronik. "Bemerken Sie," sagte er, "wegen des Nachfolgenden, erstlich, hier steht: ,Anno 1740 den 8. Dezember ist die Aktrice Charlotte Fandauerin in hiesigem Theater erstickt worden. Man führte das Trauerspiel Othello, der Mohr von Venedig, von Shakespeare auf.

"Wie?" unterbrach ihn der Major, " anno 1740 sollte man hier Shakespeares Othello gegeben haben? Und doch war es.



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wenn ich nicht irre, Schröder, der zuerst und viel später das erste Shakespearesche Stück in Deutschland aufführen ließ?"

"Bitte um Vergebung," erwiderte der Alte. "Der Herzog sah auf einer Reise durch England in London diesen Othello geben, ließ ihn, weil er ihm außerordentlich gefiel, übersetzen und nachher hier öfter aufführen. Meine Chronik fährt aber also fort:

'Obgedachte Charlotte Fandauerin hat die Desdemona gegeben und ist durch die Bettdecke, womit sie in dem Stücke selbst getötet werden soll, elendiglich umgekommen. Gott sei ihrer armen Seele gnädig!' Diesen Mord erzählt man sich hier folgendermaßen: Die Fandauer soll sehr schön gewesen sein; bei Hof ging es damals unter dem Herzog Nepomuk sehr lasziv zu; die Fandauer wurde des Herzogs Geliebte. Sie aber soll sich nicht blindlings und unvorsichtig ihm übergeben haben; sie war abgeschreckt durch das Beispiel so vieler, die er nach einigen Monaten oder Jährchen verstieß und elendiglich herumlaufen ließ. Sie soll also ein schreckliches Bündnis mit ihm gemacht und erst, nachdem er es beschworen, sich ihm ergeben haben. Aber wie bei den andern, so war es auch bei der Fandauer. Er hatte sie bald satt und wollte sie auf gelinde Art entfernen. Sie aber drohte ihm, das Bündnis, das er mit ihr gemacht, drucken und in ganz Europa verbreiten zu lassen; sie zeigte ihm auch, daß sie diese Schrift schon in vielen fremden Städten niedergelegt habe, wo sie auf ihren ersten Wink verbreitet würde.

"Der Herzog war ein grausamer Herr, und sein Zorn kannte keine Grenzen. Er soll ihr auf verschiedenen Wegen durch Gift haben beikommen wollen; aber sie ass nichts, als was sie selbst gekocht hatte. Ergab daher einem Schauspieler eine große Summe Geld und ließ den Othello aufführen. Sie werden sich erinnern, daß in dem Shakespeareschen Trauerspiel die Desdemona von dem Mohren im Bette erstickt wird. Der Akteur machte seine Sache nur allzu natürlich; denn die Fandauerin ist nicht mehr erwacht."

Der Graf schauderte. "Und dies soll wahr sein?" rief er aus.

"Fragen Sie von älteren Personen in der Stadt, wen Sie wollen, Sie werden es überall so erzählen hören. Es wurde nachher von den Gerichten eine Untersuchung gegen den Mörder anhängig gemacht; aber der Herzog schlug sie nieder, nahm den Akteur vom Theater in seine Dienste und erklärte, die Fandauerin habe durch Zufall der Schlag gerührt. Aber acht Tage darauf starb ihm sein einziges Söhnlein, ein Prinz von zwölf Jahren."

"Zufall!" sagte der Maior.

"Nennen Sie es immerhin so," versetzte der Alte und blätterte weiter; "doch hören Sie! Othello wurde zwei Jahre lang nicht



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mehr gegeben; denn wegen der Erinnerung an jenen Mord mochte der Herzog dieses Trauerspiel nicht leiden. Aber nach zwei Jahren — in diesem Buch steht jedes Lustspiel aufgezeichnet —nach zwei Jahren war er so ruchlos, es wieder aufführen zu lassen. Hier steht ,Den 28. September 1742: Othello, der Mohr von Venedig'; und hier am Rande ist bemerkt: ,Sonderbarlich! am 5. Oktober ist Prinzessin Auguste verstorben, gerade auch acht Tage nach Othello, wie vor zwei Jahren der höchstselige Prinz Friedrich. Zufall, meine werten Hermens"

"Allerdings Zufall!" riefen jene.

"Weiter! ,Den 6. Februar 1748, Othello, der Mohr von Venedig.' Ob es wohl wieder eintrifft? Sehen Sie her, meine Herren! Das hat der Souffleur hingeschrieben, bemerken Sie gefälligst , es ist dieselbe Hand, die hier in margine bemerkt: ,Entsetzlich! die Fandauerin spukt wieder, Prinz Alexander den 14. plötzlich gestorben, acht Tage nach Othello."' Der Alte hielt inne und sah seine Gäste fragend an; sie schwiegen; er blätterte weiter und las: .Den 16. Januar 1775, zum Benefiz der Mlle. Koller: Othello, der Mohr von Venedig. Richtig wieder! Arme Prinzessin Elisabeth, hast du müssen so schnell versterben! † 24. Januar 1775."'

"Possen!" unterbrach ihn der Major, "ich gebe zu, es ist so; es soll einigemal der Eigensinn des Zufalls es wirklich so gefügt haben; geben Sie mir aber nur einen vernünftigen Grund an zwischen Ursache und Wirkung, wenn Sie diese Höchstseligen am Othello versterben lassen wollen!"

Herr," antwortete der alte Mann mit tiefem Ernst, "das kann ich nicht; aber ich erinnere an die Worte jenes großen Geistes, von dem auch dieser unglückselige Othello abstammt: Es gibt viele Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon sich die Philosophen nichts träumen lassen!"

"Ich kenne das," sagte der Graf; "aber ich wette, Shakespeare hätte nie diesen Spruch von sich gegeben, hätte er gewußt, wie viel Lächerlichkeit sich hinter ihm verbirgt!"

"Es ist möglich," erwiderte der Sänger; "hören Sie aber weiter! Ich komme jetzt an ein etwas neueres Beispiel, dessen ich mich erinnern tann, an den Herzog selbst."

"Wie," unterbrach ihn der Major; "eben jener, der die Aktrice ermorden ließ?"

"Derselbe; Othello war vielleicht zwanzig Jahre nicht mehr gegeben worden; da kamen, ich weiß es noch wie heute, fremde Herrschaften zum Besuch. Unser Schauspiel gefiel ihnen, und sonderbarerweise wünschte eine der fremden fürstlichen Damen Othello zu sehen. Der Herzog ging ungern daran, nicht aus Angst vor den



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greulichen Umständen, die diesem Stück zu folgen pflegten; denn er war ein Freigeist und glaubte an nichts dergleichen; aber er war jetzt alt; die Sünden und Frevel seiner Jugend fielen ihm schwer aufs Herz, und er hatte Abscheu vor diesem Trauerspiel. Aber sei es, daß er der Dame nichts abschlagen mochte, sei es, daß er sich vor dem Publikum schämte, das Stück mußte über Hals und Kopf einstudiert werden, es wurde auf seinem Lustschloß gegeben . Sehen Sie, hier steht es: ,Othello, den 16. Oktober 1793 auf dem Lustschloß H . . . aufgeführt."'

"Nun, Alter, und was folgte? Geschwind!" riefen die Freunde ungeduldig.

"Acht Tage nachher, den 24. Oktober 1793, ist der Herzog gestorben."

"Nicht möglich," sagte der Major nach einigem Stillschweigen; "lassen Sie Ihre Chronik sehen; wo steht denn etwas vom Herzog? Hier ist nichts IIL margine bemerkt,"

"Nein," sagte der Alte und brachte zwei Bücher herbei; "aber hier seine Lebensgeschichte, hier seine Trauerrede, — wollen Sie gefälligst nachsehen?"

Der Graf nahm ein kleines schwarzes Buch in die Hand und las: "Beschreibung der solennen Beisetzung des am 24. Oktober 1793 höchstselig verstorbenen Herzogs und Herrn." — "Dummes Zeug," rief er und sprang auf; "das könnte mich um den Verstand bringen. Zufall! Zufall, und nichts anders! Nun — und wissen Sie noch ein solches Histörchen?"

"Ich könnte Ihnen noch einige anführen," erwiderte der Alte mit Ruhe, "doch Sie langweilen sich bei dieser sonderbaren Unterhaltung; nur aus der neuesten Zeit noch einen Fall. Rossini schrieb seine herrliche Oper Othello, worin er, was man bezweifelt hatte, zeigte, daß er es verstehe, auch die tieferen, tragischen Saiten der menschlichen Brust anzuschlagen. Er wurde hier höheren Orts nicht verlangt; daher wurde er auch nicht fürs Theater einstudiert . Die Kapelle aber unternahm es, diese Oper für sich zu studieren, es wurden einige Szenen in Konzerten ausgeführt, und diese wenigen Proben entzündeten im Publikum einen so raschen Eifer für die Oper, daß man allgemein in Zeitungen, an Wirtstafeln , in Singtees und dergleichen von nichts als Othello sprach, nichts Othello verlangte. Von den grauenvollen Begebenheiten die das Schauspiel Othello begleitet hatten, war gar nicht die Rede; es schien, man denke sich unter der Oper einen ganz andern Othello. Endlich bekam der damalige Regisseur —ich war noch auf dem Theater und sang den Othello — er bekam den Auf trag, sage ich, die Oper in die Szene zu setzen. Das Haus war zum



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Ersticken voll, Hof und Adel war da, das Orchester strengte sich übermenschlich an, die Sängerinnen ließen nichts zu wünschen übrig; aber ich weiß nicht — uns alle wehte ein unheimlicher Geist an, als Desdemona ihr Lied zur Harfe spielte, als sie sich zum Schlafengehen rüstete, als der Mörder, der abscheuliche Mohr, sich nahte. Es war dasselbe Haus, es waren dieselben Bretter, es war dieselbe Szene wie damals, wo ein liebliches Geschöpf in derselben Rolle so greulich ihr Leben endete. Ich muß gestehen, trotz der Teufelsnatur meines Othello befiel mich ein leichtes Zittern, als der Mord geschah; ich blickte ängstlich nach der fürstlichen Loge, wo so viele blühende, kräftige Gestalten auf unser Spiel herübersahen. ,Wirst du wohl durch die Töne, die deinen Tod begleiten, dich besänftigen lassen, blutdürstigen Gespenst der Gemordeten? dachte ich. Es war so; fünf, sechs Tage hörte man nichts von einer Krankheit im Schlosse; man lachte, daß es nur der Einkleidung in eine Oper bedurfte, um jenen Geist gleichsam irre zu machen; der siebente Tag verging ruhig, am achten wurde Prinz Ferdinand auf der Jagd erschossen."

"Ich habe davon gehört," sagte der Major, "aber es war Zufall; die Büchse seines Nachbars ging los und —"

"Sage ich denn, das Gespenst bringe die Höchstseligen selbst um, drücke ihnen eigenhändig die Kehle zu? Ich spreche ja nur von einem unerklärlichen, geheimnisvollen Zusammenhang."

"Und haben Sie uns nicht noch zu guter Letzt ein Märchen erzählt? Wo steht denn geschrieben, daß acht Tage vor jener Jagd Othello gegeben wurde?"

"Hier!" erwiderte der Regisseur kaltblütig, indem er auf eine Stelle in seiner Chronik wies; der Graf las: .Othello , Oper von Rossini, den 12. März'; und auf dem Rande stand dreimal unterstrichen. .Den 20 sten fiel Prinz Ferdinand auf der Jagd.

Die Männer sahen einander schweigend einige Augenblicke an; sie schienen lächeln zu wollen, und doch hatte sie der Ernst des alten Mannes, das sonderbare Zusammentreffen jener furchtbaren Ereignisse tiefer ergriffen, als sie sich selbst gestehen mochten. Der Major blätterte in der Chronik und pfiff vor sich hin; der Graf schien über etwas nachzusinnen, er hatte Stirne und Augen fest in die Hand gestützt. Endlich sprang er auf. "Und dies alles kann Ihnen dennoch nicht helfen," rief er, "die Oper muß gegeben werden. Der Hof, die Gesandten wissen es schon; man würde sich blamieren, wollte man durch diese Zufälle sich stören lassen, Hier sind vierhundert Taler, mein Herr! Es sind einige Freunde und Liebhaber der Sunst, welche sie Ihnen zustellen. um Ihren Othello



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recht glänzend auftreten zu lassen. Kaufen Sie davon, was Sie wollen," setzte er lächelnd hinzu, "lassen Sie Geisterbanner, Beschwörer kommen, kaufen Sie einen ganzen Hexenapparat, kurz, was nur immer nötig ist, um das Gespenst zu vertreiben — nur geben Sie uns Othello!"

"Meine Herren," sagte der Alte, "es ist möglich, daß ich in meiner Jugend selbst über dergleichen gelacht und gescherzt hätte; das Alter hat mich ruhiger gemacht; ich habe gelernt, daß es Dinge gibt, die man nicht geradehin verwerfen muß. Ich danke für Ihr Geschenk; ich werde es auf eine würdige Weise anzuwenden wissen. Aber nur auf den strengsten Befehl werde ich Othello geben lassen. Ach Gott und Herr!" rief er kläglich, " wenn ja der Fall wieder einträte, wenn das liebe, herzige Kind, Prinzessin Sophie, des Teufels wäre!"

"Seien Sie still!" rief der Graf erblassend. "Wahrhaftig, Ihre wahnsinnigen Geschichten sind ansteckend; man könnte sich am hellen Tage fürchten! Adieu! Vergessen Sie nicht, daß Othello auf jeden Fall gegeben wird; machen Sie mir keine Kunstgriffe mit Katarrh und Fieber, mit Krankwerdenlassen und eingetretenen Hindernissen! Beim Teufel, wenn Sie keine Desdemona hergeben, werde ich das Gespenst der Erwürgten heraufrufen, daß es diesmal selbst eine Gastrolle übernimmt."

Der Alte kreuzigte sich und fuhr ungeduldig auf seinen Schuhen umher. "Welche Ruchlosigkeit!" jammerte er; " wenn sie nun erschiene wie der steinerne Gast? Lassen Sie solche Reden, ich bitte Sie! Wer weiß, wie nahe jedem sein eigenes Verderben ist!"

Lachend stiegen die beiden die Treppe hinab, und noch lange diente der musikalische Prophet mit der Florentiner Mütze und den Pelzschlittschuhen ihrem Witz zur Zielscheibe.

6.

Es gab Stunden, worin der Major sich durchaus nicht in den Grafen, seinen alten Waffenbruder, finden konnte. War er sonst fröhlich, lebhaft, von Witz und Laune strahlend, konnte er sonst die Gesellschaft durch treffende Anekdoten, durch Erzählungen aus seinem Leben unterhalten, wußte er sonst jeden, mochte er noch so gering sein, auf eine sinnige, feine Weise zu verbinden, so daß er. der Liebling aller, von vielen angebetet, wurde, so war er in andern Momenten gerade das Gegenteil. Er fing an, trocken und stumm zu werden, seine Augen senkten ich, sein Mund preßte sich ein. Nach und nach ward er finster, Spielte mit seinen Fingern,



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antwortete mürrisch und ungestüm. Der Major hatte ihm schon abgemerkt, daß dies die Zeit war, wo er aus der Gesellschaft entfernt werden müsse; denn jetzt fehlten noch wenige Minuten, so zog er mit leicht aufgeregter Empfindlichkeit jedes unschuldige Wort auf sich und fing an, zu wüten und zu rasen.

Der Major war viel um ihn; er hatte aus früherer Zeit eine gewisse Gewalt und Herrschaft über ihn, die er jetzt geltend machte, um ihn vor diesen Ausbrüchen der Leidenschaft in Gesellschaft zu bewahren; desto greulicher brachen sie in seinen Zimmern aus; er tobte, er fluchte in allen Sprachen, er klagte sich an, er weinte. Bin ich nicht ein elender, verworfener Mensch?" sprach er einst in einem solchen Anfall. "Meine Pflichten mit Füßen zu treten, die treueste Liebe von mir zu stoßen, ein Herz zu martern, das mir so innig anhängt! Leichtsinnig schweife ich in der Welt umher, habe mein Glück verscherzt, weil ich in meinem Unsinn glaubte, ein Kosciusko zu sein, und bin nichts als ein Schwachkopf, den man wegwarf. Und so viele Liebe, diese Aufopferung, diese Treue so zu vergelten!"

Der Major nahm zu allerlei Trostmitteln seine Zuflucht. "Sie sagen ja selbst, daß die Prinzessin Sie zuerst geliebt hat; konnte sie je eine andere Liebe, eine andere Treue von Ihnen erwarten als die, welche die Verhältnisse erlauben?"

"Ha, woran mahnen Sie mich!" rief der Unglückliche, " wie klagen mich Ihre Entschuldigungen selbst an! Auch sie , auch sie betört! Wie kindlich, wie unschuldig war sie, als ich Verruchter kam, als ich sie sah mit dem lieblichen Schmelz der Unschuld in den Augen! Da fing mein Leichtsinn wieder an; ich vergaß alle guten Vorsätze, ich vergaß, wem ich allein gehören dürfte; ich stürzte mich in einen Strudel von Lust, ich begrub mein Gewissen in Vergessenheit !" Er fing an zu weinen, die Erinnerung schien seine Wut zu besänftigen. "Und konnte ich," flüsterte er, "konnte ich so von ihr gehen? Ich fühlte, ich sah es an jeder ihrer Bewegungen, ich las es in ihrem Auge, sie liebte mich; sollte ich fliehen, als ich sah, wie diese Morgenröte der Liebe in ihren Wangen aufging, wie der erste leuchtende Strahl des Verständnisses aus ihrem Auge brach, auf mich niederfiel, mich aufzufordern schien, ihn zu erwidern?"

"Ich beklage Sie," sprach der Freund und drückte seine Hand; "wo lebt ein Mann, der so süßer Versuchung widerstanden wäre?"

"Und als ich ihr sagen durfte, wie ich sie verehre, als sie mir mit stolzer Freude gestand, wie sie mich liebte, als jenes traute, entzückende Spiel der Liebe begann, wo ein Blick, ein flüchtiger Druck der Hand mehr sagt, als Worte auszudrücken vermögen, wo man tagelang nur in der freudigen Erwartung eines Abends,



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einer Stunde, einer einsamen Minute lebte, wo man in der Erinnerung dieses seligen Augenblicks schwelgte, bis der Abend wieder erschien, bis ich aus dem Taumelkelch ihrer süßen Augen aufs neue Vergessenheit trank, wie reich wußte sie zu geben, wie viel Liebe wußte sie in ein Wort, in einen Blick zu legen! Und ich sollte fliehen?"

"Und wer verlangt dies?" sagte der Freund gerührt. "Es wäre grausam gewesen, eine so schöne Liebe, die alle Verhältnisse zum Opfer brachte, zurückzustossen. Nur Vorsicht hätte ich gewünscht; ich denke, noch ist nicht alles verloren!"

Er schien nicht darauf zu hören; seine Tränen strömten heftiger, sein glänzendes Auge schien tiefer in die Vergangenheit zu tauchen. "Und als sie mir mit holdem Erröten sagte, wie ich zu ihr gelangen könne, als sie erlaubte, ihre fürstliche Stirne zu küssen, als der süße Mund, dessen Wünsche einem Volk Befehle waren, mein gehörte, und die Hoheit einer Fürstin unterging im traulichen Flüstern der Liebe — da, da sollte ich sie lassen?"

"Wie glücklich sind Sie! Gerade in dem Geheimnis dieses Verhältnisses muß ein eigener Reiz liegen; und warum wollen Sie diese Liebe so tief verdammen? Fassen Sie sich! Das Urteil der Welt kann Ihnen gleichgültig sein, wenn Sie glücklich sind; denn im ganzen trägt ja wahrhaftig dies Verhältnis nichts so Schwarzes, Schuldiges an sich, wie Sie es selbst sich vorstellen!"

Der Graf hatte ihm zugehört; seine Augen rollten, seine Wangen färbten sich dunkler, er knirschte mit den Zähnen. "Nicht so mild müssen Sie mich beurteilen," sagte er mit dumpfer Stimme, "ich verdiene es nicht. Ich bin ein Frevler, vor dem Sie zurückschaudern sollten. O —daß ich Vergessenheit erkaufen könnte, daß ich Jahre auslöschen könnte aus meinem Gedächtnis! — Ich will vergessen, ich muß vergessen, ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht vergesse; schaffen Sie Wein, Kamerad! Ich will trinken, mich dürstet, es wütet eine Flamme in mir, ich will mein Gedächtnis, meine Schuld ersäufen!"

Der Major war ein besonnener Mann: er dachte ziemlich ruhig über diese verzweiflungsvollen Ausbrüche der Reue und Selbstanklage. "Er ist leichtsinnig, so habe ich ihn von jeher gekannt ," sagte er zu sich; "solche Menschen kommen leicht aus einem Extrem in das andere. Er sieht jetzt große Schuld in seiner Liebe, weil sie der Geliebten in ihren Verhältnissen schaden kann, und im nächsten Augenblick berauscht ihn wieder die Wonne der Erinnerung ." Der Wein kam, der Major goß ein; der Graf stürzte schnell einige Gläser hinunter' er ging mit schnellen Schritten schweigend im Zimmer auf und nieder. blieb vor dem Freunde



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stehen, trank und ging wieder. Dieser mochte seine stillen Empfindungen nicht unterbrechen; er trank und beobachtete über das Glas hin aufmerksam die Mienen, die Bewegungen seines Freundes.

"Major!" rief dieser endlich und warf sich auf den Stuhl nieder, welches Gefühl halten Sie für das schrecklichste?

Dieser schlürfte bedächtig den Wein in kleinen Zügen; er schien nachzusinnen und sagte dann: "Ohne Zweifel das, was das freudigste Gefühl gibt, muß auch das traurigste werden —Ehre, gekränkte Ehre."

Der Graf lachte grimmig. "Lassen Sie sich die Taler wiedergeben , Kamerad, die Sie einem schlechten Psychologen für seinen Unterricht gaben! Gekränkte Ehre! Also tiefer steigt Ihre Kunst nicht hinab in die Seele? Die gekränkte Ehre fühlt sich doch selbst noch; es lebt doch ein Gefühl in des Gekränkten Brust, das ihn hoch erhebt über die Kränkung, er kann die Scharte auswetzen am Beleidiger; er hat noch die Möglichkeit, seine Ehre wieder fleckenlos und rein zu waschen. Aber — tiefer, Herr Bruder," rief er, indem er die Hand des Majors krampfhaft faßte, "tiefer hinab in die Seele! Welches Gefühl ist noch schrecklicher?"

"Von einem habe ich gehört," erwiderte jener, "das aber Männer wie wir nicht kennen — es heißt Selbstverachtung."

Der Graf erbleichte und zitterte; er stand schweigend auf und sah den Freund lange an. "Getroffen, Kamerad!" sagte er, "das sitzt noch tiefer. Männer wie wir pflegen es nicht zu kennen, es heißt Selbstverachtung. Aber der Teufel legt auch gar feine Schlingen auf die Erde; ehe man sich versieht, ist man gefangen. Kennen Sie die Qual des Wankelmutes, Maior?"

"Gottlob, ich habe sie nie erfahren; mein Weg ging immer geradeaus aufs Ziel!"

"Geradeaus aufs Ziel? Wer auch so glücklich wäre! Erinnern Sie sich noch des Morgens, als wir aus den Toren von Warschau ritten? Unsere Gefühle, unsere Sinne gehörten jenem großen Geiste, der sie gefangen hielt; aber wem gehörten die Herzen der polnischen Lanciers? Unsere Trompeten ließen jene Arien aus den Krakauern ertönen, jene Gesänge, die uns als Knaben bis zur Wut für das Vaterland begeistert hatten; diese wohlbekannten Klänge pochten wieder an die Pforte unsrer Brust; Kamerad, wem gehörten unsere Herzen?"

"Dem Vaterland!" sagte der Major gerührt; "ja, damals, damals war ich freilich wankelmütig!"

Wohl Ihnen, daß Sie es sonst nie waren! Der Teufel weiß das recht hübsch zu machen; er läßt uns hier empfinden, glücklich werden, und dort spiegelt er noch höhere Wonne, noch größeres Glück uns vorl"



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"Möglich; aber der Mann hat Kraft, dem treu zu bleiben, was er gewählt hat."

"Das ist es," rief der Graf, wie niedergedonnert durch dies eine Wort, "das ist es, und daraus — die Selbstverachtung; und warum besser scheinen, als ich bin? Kamerad, Sie sind ein Mann von Ehre —fliehen Sie mich wie die Pest, ich bin ein Ehrloser, ein Ehrvergessener —Sie sind ein Mann von Kraft, verachten Sie mich, ich muß mich selbst verachten, wissen Sie, ich bin —"

"Halt, ruhig!" unterbrach ihn der Freund, "es pochte an der Türe —Herein!"

7.

"Bedaure, bedaure unendlich," sprach der Regisseur der Oper und rutschte mit tiefen Verbeugungen ins Zimmer, "ich unterbreche Hochdieselben?"

"Was bringen Sie uns?" erwiderte der Major, schneller gefaßt als der unglückliche Freund. "Setzen Sie sich und verschmähen Sie nicht unsern Wein; was führt Sie zu uns?"

"Die traurige Gewißheit, daß Othello doch gegeben wird. Es hilft nichts; alles Bitten ist umsonst. Ich will Ihnen nur gestehen, ich ließ die Oper einüben, hatte aber unsere Primadonna schon dahin gebracht, daß sie mir feierlich gelobte, heiser zu werden; da führt der Satan gestern abend die Sängerin Fanutti in die Stadt; sie kommt vom . . . .ner Theater, bittet die allerhöchste Theaterdirektion um Gastrollen, und — stellen Sie sich vor, man sagt ihr auf nächsten Sonntag Othello zu. Ich habe beinahe geweint, wie es mir angezeigt wurde; jetzt hilft kein Gott mehr dagegen, und doch habe ich schreckliche Ahnungen!

"Alter Herr!" rief der Graf, der indessen Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln. "Geben Sie doch einmal Ihren Köhlerglauben auf; ich kann Sie versichern, es soll keiner der allerhöchsten Personen ein Haar gekrümmt werden; ich gehe hinaus auf den Kirchhof, lasse mir das Grab der erwürgten Desdemona zeigen, mache ihr meine Aufwartung und bitte sie, diesmal ein Auge zuzudrücken und mich zu erwürgen. Freilich hat sie dann nur einen Grafen und kein fürstliches Blut; doch einer meiner Vorfahren hat auch eine Krone getragen!"

"Freveln Sie nicht so erschrecklich," entgegnete der Alte, "wie Seicht kann Sie das Unglück mit hinabziehen! Mit solchen Dingen ist nicht zu scherzen. überdies habe ich heute nacht im Traum einen großen Trauerzug mit Fackeln gesehen, wie man Fürsten zu begraben pflegt."



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"Schreckliche Visionen, guter Herr!" lachte der Major. "Haben Sie vielleicht vorher ein Gläschen zu viel gesunken? Und was ist natürlicher, als daß Sie solches Zeug träumen, da Sie den ganzen Tag mit Todesgedanken umgehen!"

Der Alte ließ sich nicht aus seinem Ernst herausschwatzen. "Gerade Sie , verehrter Herr, sollten nicht Spott damit treiben," sagte er. "Ich habe Sie nie gesehen bis zu jener Stunde, wo Sie mich mit dem Herrn Grafen besuchten, und doch gingen wir beide heute nacht miteinander dem Sarge nach, Sie weinten heftig."

"Immer köstlicher! Wie lebhaft Sie träumen! Darum mußte ich hierher kommen, um mit Ihnen, lieber Mann, im Traume spazieren zu gehen!

"Brechen wir ab!" erwiderte jener, "was kommen muß, wird kommen, und wir würden vielleicht viel darum geben, hätten wir alles nur geträumt. Ich komme aber hauptsächlich zu Ihnen, um Sie zur Probe einzuladen; Sie haben sich so generös gegen uns bewiesen, daß ich mir ein Vergnügen daraus mache, Ihnen unser Personal, namentlich die neue Sängerin, zu zeigen."

Die Freunde nahmen freudig den Vorschlag an. Der Graf schien wie immer seine Heftigkeit zu bereuen, und diese Zerstreuung kam ihm erwünscht; auf dem Major hatten jene Ausbrüche einer Selbstanklage schwer und drückend gelegen; auch er nahm daher mit Dank diesen Ausweg an, um einer näheren Erklärung seines Freundes, die er eher fürchtete als wünschte, zu entfliehen.

8.

Und wirklich schien auch seit jener Stunde der Graf diese Saite nicht mehr berühren zu wollen; er schien wohl hin und wieder düster, ja die Augenblicke des tiefen Grames kehrten wieder, aber nicht mit ihnen das Geständnis einer großen Schuld, das damals schon auf seinen Lippen schwebte; er war verschlossener als sonst. Der Major sah ihn sogar einige Tage beinahe gar nicht; die Geschäfte , die ihn in diese Stadt gerufen hatten, ließen ihm wenige Stunden übrig, und diese pflegte gerade der Graf dem Theater zu widmen; denn sei es aus Lust an der Sache selbst, oder um im Sinne der Geliebten zu handeln und ihre Lieblingsoper recht glänzend erscheinen zu lassen, er war in jeder Probe gegenwärtig; sein richtiger Takt, seine ausgebreiteten Reisen, sein feiner, in der Welt gebildeter Geschmack verbesserten unmerklich manches, was dem Auge und Ohr selbst eines so scharfen Kritikers, wie der Regisseur war, entgangen wäre; und der alte Mann vergaß oft stundenlang



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die schwarzen Ahnungen, die seine Seele quälten, so sehr wußte Graf Zronievsky sein Interesse zu fesseln,

So war Othello zu einer Vollkommenheit fortgeschritten, die man anfangs nicht für möglich gehalten hätte; die Oper war durch die sonderbaren Umstände, welche ihre Aufführung bisher verhindert hatten, nicht nur dem Publikum, sondern selbst den Sängern neu geworden; kein Wunder, daß sie ihr möglichstes taten, um so großen Erwartungen zu entsprechen; kein Wunder, daß man mit freudiger Erwartung dem Tag entgegensah, der den Mohren von Venedig auf die Bretter rufen sollte.

Es kam aber noch zweierlei hinzu, das Interesse des Publikums zu fesseln. Der Sängerin Fanutti war ein großer Ruf vorausgegangen; man war neugierig, wie sie sich vom Theater ausnehme, wie sie Desdemona geben werde, eine Rolle, zu der man außer schönem Gesang auch ein höheres tragisches Spiel verlangte. Hiezu kam das leise Gerücht von den sonderbaren Vorfällen, die jedesmal Othello begleitet hatten; die ältern Leute erzählten, die jüngeren sprachen es nach, zweifelten, vergrößerten, so daß ein großer Teil des Publikums glaubte, der Teufel selbst werde eine Gastrolle im Othello übernehmen.

Der Major von Larun hatte Gelegenheit, an manchen Orten über diese Dinge sprechen zu hören; am auffallendsten war ihm, daß man bei Hof, wo er noch einige Abende zubrachte, kein Wort mehr über Othello sprach; nur Prinzessin Sophie sagte einmal flüchtig und lächelnd zu ihm: "Othello hätten wir denn doch herausgeschlagen ; Ihrer Krankheitstante, Baron, und der diplomatischen Drohung des Grafen haben wir es zu danken. Wie freue ich mich auf Sonntag, auf mein Desdemona-Liedchen; wahrlich, wenn ich einmal sterbe, es soll mein Schwanengesang werden."

"Gibt es Ahnungen?" dachte der Major bei diesen flüchtig hingeworfenen Worten, die ihm unwillkürlich schwer und bedeutungsvoll klangen; "die Sage von der gespenstigen Desdemona, die Furcht des alten Regisseurs, seine Träume vom Trauergeleite und dieser Schwanengesang!" Er sah der holden, lieblichen Erscheinung nach, wie sie froh und freundlich durch die Säle gleitete, wie sie, gleich dem Mädchen aus der Fremde, jedem eine schöne Gabe, ein Lächeln oder ein freundliches Wort darreichte, — wenn der Zufall es wieder wollte, dachte er, wenn sie stürbe! Er verlachte sich im nächsten Augenblicke selbst, er konnte nicht begreifen, wie ein solcher Gedanke in seine vorurteilsfreie Seele kommen könne — er suchte mit Gewalt dieses lächerliche Phantom aus seiner Erinnerung zu verdrängen, — umsonst, dieser Gedanke kehrte immer wieder, überraschte ihn mitten unter den fremdartigsten Reden und



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Gegenständen, und immer noch glaubte er eine süße Stimme flüstern zu hören: "Wenn ich sterbe, sei es mein Schwanengesang."

Der Sonntag kam, und mit ihm ein sonderbarer Vorfall. Der Major war nachmittags mit dem Grafen und mehreren Offizieren ausgeritten. Auf dem Heimweg überfiel sie ein Regen, der sie bis auf die Haut durchnäßte. Die Wohnung des Grafen lag dem Tore zunächst, er bat daher den Major, sich bei ihm umzukleiden ; einen Hut des Freundes auf dem Kopf, in einen seiner Überröcke gehüllt, trat der Major aus dem Hause, um in seine eigene Wohnung zu eilen. Er mochte einige Straßen gegangen sein, und immer war es ihm, als schleiche jemand allen seinen Tritten nach. Er blieb stehen, sah sich um, und dicht hinter ihm stand ein hagerer großer Mann in einem abgetragenen Rock. "Dies an Sie, Herr!" sagte er mit dumpfer Stimme und durchdringendem Blick, drückte dem Erstaunten ein kleines Billett in die Hand und sprang um die nächste Ecke. Der Major konnte nicht begreifen, woher ihm in der völlig fremden Stadt solche geheimnisvolle Botschaft kommen sollte. Er betrachtete das Billett von allen Seiten; es war feines, glänzendes Papier, in eine Schleife künstlich zusammengeschlungen, mit einer schönen Kamee gesiegelt. Keine Aufschrift. "Vielleicht will man sich einen Scherz mit dir machen," dachte er und öffnete es sorglos noch auf der Straße; er las und wurde aufmerksam, er las weiter und erblaßte; er steckte das Papier in die Tasche und eilte seiner Wohnung, seinem Zimmer zu.

Es war schon Dämmerung gewesen auf der Straße; er glaubte, nicht recht gelesen zu haben, er rief nach Licht. Aber auch beim hellen Schein der Kerzen blieben die unseligen Worte fest und drohend stehen.

"Elender! Du kannst Dein Weib, Deine kleinen Würmer im Elend schmachten lassen, während Du vor der Welt in Glanz und Pracht auftrittst? Was willst Du in dieser Stadt? Willst Du ein ehrwürdiges Fürstenhaus beschimpfen, seine Tochter so unglücklich machen, als Du Dein Weib gemacht hast! Fliehe! In der Stunde, wo Du dieses lies'st, weiß Pr. Sph. das schändliche Geheimnis Deines Betrugs."

Der Maior war keinen Augenblick im Zweifel, daß diese Zeilen an den Grafen gerichtet, daß sie durch Zufall, vielleicht, weil er in des Freundes Kleidern über die Straße gegangen, in seine Hände geraten seien. Jetzt wurden ihm auf einmal jene Ausbrüche der Verzweiflung klar; es war Reue, Selbstverachtung, die in einzelnen Momenten die glänzende Hülle durchbrochen, womit er sein trügerisches Spiel bedeckt hatte. Laruns Blicke fielen auf die Zeilen, die er noch immer in der Hand hielt; jene Chiffern Pr. Spb.



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konnten nichts anderes bedeuten als den Namen des holden, jetzt so unglückseligen Geschöpfes, das jener gewissenlose Verräter in sein Netz gezogen hatte. Der Maior war ein Mann von kaltem, berechnendem Blick, von starkem, konsequentem Geiste; er hatte sich selten oder nie von einem Gegenstand überraschen oder außer Fassung setzen lassen, aber in diesem Augenblick war er nicht mehr Herr über sich; Wut, Grimm, Verachtung kämpften wechselsweise in seiner Seele. Er suchte sich zu bezwingen, die Sache von einem milderen Gesichtspunkt anzusehen, den Grafen durch seinen Charakter, seinen grenzenlosen Leichtsinn zu entschuldigen; aber der Gedanke an Sophie, der Blick auf "das Weib und die armen kleinen Würmer" des Elenden verjagten jede mildernde Gesinnung, brausten wie ein Sturm durch seine Seele; ja es gab Augenblicke, wo seine Hand krampfhaft nach der Wand hinzuckte, um die Pistolen herunterzureißen und den schlechten Mann noch in dieser Stunde zu züchtigen. Doch die Verachtung gegen ihn bewirkte, was mildere Stimmen in seiner Brust nicht bewirken konnten. "Er muß fort, noch diese Stunde," rief er; "die Unglückliche, die er betörte, darf um keinen Preis erfahren, welchem Elenden sie ihre erste Liebe schenkte. Sie soll ihn beweinen, vergessen; ihn verachten zu müssen, könnte sie töten." Er warf diese Gedanken schnell aufs Papier, raffte eine große Summe, mehr als er entbehren konnte, zusammen, legte den unglücklichen Brief bei und schickte alles durch seinen Diener an den Grafen.

Es war die Stunde, in die Oper zu fahren; wie gerne hätte der Major heute keinen Menschen mehr gesehen, und doch glaubte er es der Prinzessin schuldig zu sein, sie vor der gedrohten Warnung zu bewahren. Ersann hin und her, wie er dies möglich machen könne; es blieb ihm nichts übrig, als sie zu beschwören, keinen Brief von fremden Händen anzunehmen. Er warf den Mantel um und wollte eben das Zimmer verlassen, als sein Diener zurückkam; er hatte das Paket an den Grafen noch in der Hand. "Seine Exzellenz sind soeben abgereist," sagte er und legte das Paket auf den Tisch.

"Abgereist?" rief der Major. "Nicht möglich!"

"Vor der Türe ist sein Jäger, er hat einen Brief an Sie; soll ich ihn hereinbringen?

Der Major winkte, der Diener führte den Jäger herein, der ihm weinend einen Brief übergab. Er riß ihn auf. "Leben Sie wohl auf ewig! Der Brief, der, wie ich soeben erfahre, vor einer Stunde in Ihre Hände kam, wird meine Abreise sans adieu entschuldigen. Wird mein Kamerad von sechs Feldzügen einer geliebten Dame den Schmerz ersparen, meinen Namen in allen



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Blättern aufrufen zu hören? Wird er die wenigen Posten decken, die ich nicht mehr bezahlen kann?

"Wann ist Euer Herr abgereist?"

"Vor einer Viertelstunde. Herr Major!

"Wußtet Ihr um seine Reise?

"Nein, Herr Major! Ich glaube, Seine Exzellenz wußten es heute nachmittag selbst noch nicht; denn Sie wollten heute abend ins Theater fahren. Um fünf Uhr ging der Herr Graf zu Fuß aus und ließ mich folgen. Da begegnete ihm an der reformierten Kirche ein großer hagerer Mann, der bei seinem Anblick sehr erschrak. Er ging auf meinen Herrn zu und fragte, ob er der Graf Zronievsky sei. Mein Herr bejahte es; darauf fragte er, ob er vor einer Viertelstunde ein Billett empfangen? Der Herr Graf verneinte es. Nun sprach der fremde Mann eine Weile heimlich mit meinem Herrn; er muß ihm keine guten Nachrichten gegeben haben; denn der Herr Graf wurde blaß und zitterte; er kehrte um nach Hause, schickte den Kutscher nach Postpferden, ich mußte schnell zwei Koffer packen; der Reisewagen mußte vorfahren. Der Herr Graf verwies mich mit den Rechnungen und allem an Sie und fuhr die Straße hinab zum Südertor hinaus. Er nahm vorher noch Abschied von mir, ich glaube für immer."

Der Major hatte schweigend den Bericht des Jägers angehört; er befahl ihm, den nächsten Morgen wiederzukommen, und fuhr ins Theater. Die Ouverture hatte schon begonnen, als er in die Loge trat; er warf sich auf einen Stuhl nieder, von wo er die fürstliche Loge beobachten konnte. In allem Schmuck ihrer natürlichen Schönheit und Anmut saß Prinzessin Sophie neben ihrer Mutter. Ihr Auge schien vor Freude zu strahlen, eine heitere Ruhe lag auf ihrer Stirne, um den feingeschnittenen Mund wehte ein holdes Lächeln, vielleicht der Nachklang eines heiteren Scherzes, — sie hatte ja jetzt ihren Willen durchgesetzt, Othello war es, der den Saal und die Logen des Hauses gefüllt hatte. Jetzt nahm sie die Lorgnette vor das Auge, wie letzthin schien sie eifrig im Hause nach etwas zu suchen — argloses Herz, du schlägst vergebens dem Geliebten entgegen; deine liebevollen Blicke werden ihn nicht mehr finden, dein Ohr lauscht vergebens, ob nicht sein Schritt im Korridor erschallt, du hengst umsonst den schönen Nacken zurück, die Türe will sich nicht öffnen, seine hohe, gebietende Gestalt wird sich dir nicht mehr nahen.

Sie senkte das Glas, ein Wölkchen von getäuschter Erwartung und Trauer lagerte sich unter den blonden Locken, die schönen Bogen der Brauen zogen sich zusammen und ließen ein kaum merkliches Fältchen de; Unmuts sehen. Die feinen, seidenen Wimpern



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senkten sich wie eine durchsichtige Gardine herab; sie schien zu sinnen, sie zeichnete mit der Lorgnette auf die Brüstung der Loge. — Sind es vielleicht seine Chiffern, die sie, in Gedanken versunken, vor sich hinschreibt? Wie bald wird sie vielleicht dem Namen fluchen, der jetzt ihre Seele füllt!

Dem Maior traten unwillkürlich Tränen in die Augen, als er Sophie betrachtete. "Noch ahnet sie nicht, was ihrer wartet," dachte er, "aber nie, nie soll sie erfahren, wie elend der war, den sie liebte." Der Gedanke an diesen Elenden bemächtigte sich seiner aufs neue; er drückte die Augen zu, verfluchte die menschliche Natur, die durch Leichtsinn und Schwäche aus einem erhabenen Geist, aus einem tapferen Mann einen ehrvergessenen, treulosen Betrüger machen könne.

Der Major hat oft gestanden, daß einer der schrecklichsten Augenblicke in seinem Leben der gewesen sei, wo er im ersten Zwischenakt Othellos in die fürstliche Loge trat. Es war ihm zu Mut, als habe er selbst an Sophien gefrevelt, als sei er es, der ihr Herz brechen müsse. Der Gedanke war ihm unerträglich, sie arglos, glücklich, erwartungsvoll vor sich zu sehen und doch zu wissen, welch namenloses Unglück ihrer warte. Er trat ein; ihre Blicke begegneten ihm sogleich; sie hatte wohl oft nach der Türe gesehen. Mit hastiger Ungeduld übersah sie einen Prinzen und zwei Generale, die sich ihr nahen wollten; sie winkte den Major heran. "Haben wir jetzt unsern Othello!" sagte sie; "sind Sie nicht auch glücklich, erwartungsvoll? —Doch einen unserer Othelloverschworenen sehe ich nicht," flüsterte sie leiser, indem sie leicht errötete; "der Graf ist sicherlich hinter den Kulissen, um recht warmen Dank zu verdienen, wenn er alles recht schön machen läßt?"

"Verzeihen Euer Hoheit," erwiderte der Major, mühsam nach Fassung ringend; "der Graf läßt sich entschuldigen, er ist schnell auf einige Tage verreist."

Sophie erbleichte. "Verreist, also nicht in der Oper? Wohin riefen ihn denn so schnell seine Geschäfte? O, das ist gewiß ein Scherz, den Sie beide zusammen machen," rief sie; "glauben Sie denn, er werde nur so schnell weggehen, ohne sich zu beurlauben? Nein, nein, das gibt irgend einen Spaß. Jetzt weiß ich auch, woher mir ein gewisses Briefchen zukam.

Der Major erschrak, daß er sich an dem nächsten Stuhl halten mußte. "Ein Briefchen?" fragte er mit bebender Stimme; eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf.

"Ja, ein zierliches Billettchen," sagte sie und ließ neckend das Ende eines Papiers unter dem breiten Bracelet hervorsehen, das ihren schönen Arm umschloß, "Ein Briefchen, das man recht



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geheimnisvoll mir zugesteckt hat. Ich sehe es Ihnen an den Augen an, Sie sind im Komplott. Ich habe noch keine Gelegenheit gefunden, es zu öffnen; denn einen solchen Scherz muß man nicht öffentlich machen; aber sobald ich in mein Boudoir komme —"

"Durchlaucht, ich bitte um Gottes willen, geben Sie mir das Billett," sagte der Major, von den schrecklichsten Qualen gefoltert, "es ist gar nicht einmal an Sie, es ist in ganz unrechte Hände gekommen."

"So? Um so besser! Das gebe ich um keine Welt heraus, das soll mir Aufschluß geben über die Geheimnisse gewisser Leute! An eine Dame war es also auf jeden Fall; es ist wirklich hübsch, daß es gerade in meine Hände kam."

Der Major wollte noch einmal bitten, beschwören; aber der Prinz fuhr mit seinem Kopf dazwischen, die beiden Generale fielen mit Fragen und Neuigkeiten herein; er mußte sich zurückziehen. Verfolgt von schrecklichen Qualen, ging er zu seiner Loge zurück; er preßte seine Augen in die Hand, um die Unglückliche nicht zu sehen, und immer wieder mußte er von neuem hinschauen, mußte von neuem die Qualen der Angst, die Gewißheit des nahenden Unglücks mit seinen Blicken einsaugen.

Die Diamanten am Schlosse ihres Armbandes spielten in tausend Lichtern, ihre Strahlen zuckten zu ihm herüber, sie drangen wie tausend Pfeile in sein Herz. "Welchen Jammer verschließen jene Diamanten! Wenn sie im einsamen Gemach diese Bänder öffnet, öffnet sie nicht zugleich die Pforte eines grauenvollen Frevels? Ihr Puls schlägt an diese unseligen Zeilen. wie ihr Herz für den Geliebten pocht; wird es nicht stille stehen, wenn das Siegel springt und das ahnungslose Auge auf eine furchtbare Kunde fällt?"

Desdemona stimmte ihre Harfe; ihre wehmütigen Akkorde zogen flüsternd durch das Haus, sie erhob ihre Stimme, sie sang — ihren Schwanengesang. Wie wunderbar, wie mächtig ergriffen diese melancholischen Klänge jedes Herz! So einfach, so kindlich dieses Lied, und doch von so hohem tragischem Effekt! Man fühlt sich bange und beengt, man ahnt, welch grauenvolles Schicksal ihrer warte, man glaubt, den Mörder in der Ferne schleichen zu hören, man fühlt die unabwendbare Macht des Schicksals näher und näher kommen, es umrauscht sie wie die Fittiche des Todes. Sie ahnet es nicht; sanft, arglos wie ein süßes Kind sitzt sie an der Harfe, nur die Schwermut zittert in weichen Klängen aus ihrer Brust hervor, aus diesem vollen, liebewarmen Herzen, für das der Stahl schon gezückt ist. Sie flüstert Liebesgrüße in die Ferne nach ihm, der sie zermalmen wird; ihre Sehnsucht scheint ihn in ihre Arme zu rufen, er wird kommen — sie zu morden; sie betet für ihn, Desdemona segnet ihn — der ihr den Fluch gibt,



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Der Major teilte seine Blicke zwischen der Sängerin und Sophien. Sie lauschte, in Wehmut versunken, auf das Lieblingslied; eine Träne hing in ihren Wimpern, sie Weinte unbewußt über ihr eigenes Geschick. Die Akkorde der Harfe verschwebten, Sophie sah sinnend, träumend vor sich hin. "Wenn ich einst sterbe, soll es mein Schwanengesang sein," klang es in der Erinnerung des Majors. "Wahrlich, sie hat wahr gesagt," sprach er zu sich, "es war der Schwanengesang ihres Glückes." Othello trat auf. Sophiens Aufmerksamkeit war jetzt nicht mehr auf die Oper gerichtet, sie sah herab auf ihr Armband , sie spielte mit dem Schloß; ein heiteres Lächeln verdrängte ihre Wehmut, ihre Blicke streiften nach der Loge des Majors herüber — er strengte angstvoll seine Blicke an, — Gott im Himmel, sie schiebt das unglückselige Papier hervor und verbirgt es in ihr Tuch — er glaubt zu sehen, wie sie heimlich das Siegel bricht — verzweiflungsvoll stürzt er aus seiner Loge den Korridor entlang. Er weiß nicht warum, es treibt ihn mit unsichtbarer Gewalt der fürstlichen Loge zu, er ist nur noch einige Schritte entfernt, — da hört er ein Geräusch in dem Haus, man kommt aus der Loge, Bedienten und Kammerfrauen eilen ängstlich an ihm vorüber; eine schreckliche Ahnung sagt ihm schon vorher, was es bedeute; er fragt, er erhält die Antwort; "Prinzessin Sophie ist plötzlich in Ohnmacht gesunken!"

9.

Düster, zerrissen in seinem Innern, saß einige Tage nach diesem Vorfall der Major Larun in seinem Zimmer. Seine Stirne ruhte in der Hand, sein Gesicht war bleich, seine Augen halb geschlossen, der sonst so starke Mann zerdrückte manche Träne, die sich über seine Wimpern stehlen wollte. Er dachte an das schreckliche Geschick, in dessen innerstes Gewebe ihn der Zufall geworfen; er sah all diese feinen Fäden, die, wenigen Augen außer ihm sichtbar, so lose sich anknüpften; er sah, wie sie weiter gesponnen, wie sie verknüpft und gedoppelt zu einem nur zu festen Netz um ein zartes, unglückliches Herz sich schlangen. Unbesiegbare Bitterkeit mischte sich in diese trüben Erinnerungen; sein alter Waffenfreund, ein so glänzendes Meteor am Horizont der Ehre, ein so braver Soldat, und jetzt ein Elender, Ehrvergessener, der, ohne nur entfernt einen andern Ausgang erwarten zu können, mit allen Künsten der Liebe die unbewachten Sinne eines kaum zur Jungfrau erblühten Kindes betörte! In diese Gedanken mischte sich das Bild dieses so unendlich leidenden Engels, mischte sich die Angst vor einer Szene,



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welcher er in der nächsten Stunde entgegengehen sollte. Eine angesehene Dame, die Oberhofmeisterin der Prinzessin Sophie, hatte ihn diesen Nachmittag zu sich rufen lassen. Sie entdeckte ihm ohne Hehl, daß Sophie von einer schweren Krankheit befallen sei, daß die Ärzte wenig Hoffnung geben; denn sie nennen ihre Krankheit einen Nervenschlag. Sie sagte ihm weiter, die Prinzessin habe ihr alles gesagt, sie habe ihr kein Wort dieses strafbaren Verhältnisses verschwiegen. Sie wisse, daß in der Residenz nur e in Mensch lebe, der jenen Grafen Zronievsky näher gekannt habe, dies sei der Baron von Larun. Mit einer Angst, einem Verlangen, das an Verzweiflung grenze, dringe die Unglückliche darauf, mit ihm ohne Zeugen zu sprechen. Die Oberhofmeisterin wußte wohl, wie sehr dies gegen die Vorschriften laufe, welche die Etikette ihr auferlegen; aber der Anblick des jammernden Kindes, das nur noch dies eine Geschäft auf der Erde abmachen zu wollen schien, erhob sie über die Schranken ihrer Verhältnisse; sie wagte es, dem Maior den Vorschlag zu machen, diesen Abend unter ihrer Begleitung heimlich zu der Kranken zu gehen.

Der Major hatte nicht nein gesagt. Er wußte, daß er ihr nichts Tröstliches sagen könne; er fühlte aber, wie in einem so tiefen Gram das Verlangen nach Mitteilung unüberwindlich werden müsse.

Aber was sollte er ihr sagens Mußte er nicht befürchten, von ihrem Anblick, von den trüben Erinnerungen der letzten Tage so bestürmt zu werden, daß sein lauter Schmerz sie noch unglücklich) er machte? Er war noch in diese Gedanken versunken, als ihm gemeldet wurde, daß man ihn erwarte; die alte Oberhofmeisterin hielt in ihrem Wagen vor dem Hause; er setzte sich schweigend neben ihre Seite.

"Sie werden die Prinzessin sehr schlecht finden," sagte diese Dame mit Tränen, "ich gebe alle Hoffnung auf. Ich kann mir nicht denken, daß in der Unterredung mit Ihnen, Herr Baron, noch etwas Rettendes liegen könne. Werden Sie ihr keinen Trost geben können, so verlischt sie uns wie eine Lampe, die kein Öl mehr hat, um ihre Flamme zu nähren; und wollten Sie ihr Trost, Hoffnung geben, so sind diese Gefühle in ihren Verhältnissen von so unnatürlicher Art, daß ich beinahe wünschen müßte, sie möge eher sterben als ihrem Hause Schande machen."

"Also werde ich ihr den Tod bringen müssen," sagte der Major bitter lächelnd; — — "weiß man in der Familie um diese Geschichten? Was denkt man von der Krankheit?"

"Wie ich Ihnen sagte, Herr Baron; die Familie, der Hof und die Stadt weitz nicht anders, als daß sie sich erkältet haben muß; die törichten Leute bringen ausg noch die fatale Oper ins Spiel



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und lassen sie am Othello sterben. Was wir beide wissen, weiß sonst niemand; es gibt einige Damen, die dieses Verhältnis früher ahneten, aber nicht genau wußten."

"Und doch fürchte ich," entgegnete der Major, indem er seinen durchdringenden Blick auf die Dame an seiner Seite heftete, "ich fürchte, sie stirbt an einem sehr gewagten Bubenstück. Man hat dieses Verhältnis geahnet, demselben nachgespürt, es wurde zur Gewißheit; man suchte eine Trennung herbeizuführen, man spürte die Verhältnisse des Grafen aus —"

"Glauben Sie?" sagte die Oberhofmeisterin blaß und mit bebenden Lippen, indem sie umsonst versuchte, den Blick des Majors auszuhalten.

"Man forschte diese Verhältnisse aus," fuhr der Major fort; "man suchte ihn von hier wegzuschrecken, indem man ihm drohte, der Prinzessin zu sagen, daß er verheiratet sei. Bis hierher war der Plan nicht übel; es gehörte einem solchen Elenden, daß man nicht gelinder mit ihm verfuhr. Aber man ging weiter, man wollte auch die unglückliche Dame schnell von ihrer Liebe heilen, man machte sie mit dem Geheimnis des Grafen bekannt, man glaubte, sie werde alles über Nacht vergessen. Und hier war der Plan auf die Nerven eines Dragoners berechnet, aber nicht auf das Herz dieses zarten Kindes."

"Ich muß bitten, zu bedenken," entgegnete die Oberhofmeisterin mit ihrer früheren Kälte, aber mit stechenden Blicken, "daß dieses zarte Kind eine Prinzessin des fürstlichen Hauses ist, daß sie erzogen wurde, um mit Anstand über solche Mißverhältnisse wegzusehen . Sollte wirklich irgend ein solcher Plan vorhanden gewesen sein, so kann ich die Handelnden nicht tadeln, sie haben wahrhaftig geschickt operiert —

"Sie haben ihren Zweck erreicht, sie wird sterben," unterbrach sie der Major.

"Ich hätte meinen Zweck erreicht? Mein Herr, ich muß bitten —"

"Sie? sagte Larun mit gleichgültiger Stimme; " von Ihnen, gnädige Frau, sprach ich nicht, ich sagte: Sie, die Handelnden, die Operierenden."

Die alte Dame biß sich in die Lippen und schwieg. Wenige Augenblicke nachher waren sie an einer Seitenpforte de:, Palais angelangt. Ein alter Diener führte sie durch ein Labyrinth von Korridors und Treppen, Endlich wurden die Gänge breiter, die Beleuchtung auf elegantere Art angebracht; der Major bemerkte, daß sie in den bewohnteren Flügel des Schlosses gelangt seien. Der Alte winkte in eine Seitentüre. Der Weg ging jetzt durch mehrere Gemächer, bis in einem Salon, der wohl zu den



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Appartements der Prinzessin gehören mochte, die Oberhofmeisterin dem Major zuflüsterte, er möchte einstweilen in einem Fauteuil sich gedulden, bis sie ihn rufen lasse.

Nach einer tödlich langen Viertelstunde erschien sie wieder. Sie sagte ihm, daß nach dem ausdrücklichen Willen der Kranken er allein mit ihr sein werde; sie selbst wolle sich als Saas d'honneur an die Türe setzen, wo sie gewiß nichts hören könne, wenn man nicht gar zu laut spreche. Übrigens dürfe er nicht länger als eine Viertelstunde bleiben. Der Major trat ein. Das prachtvolle Gemach mit seinen schimmernden Tapeten und goldenen Leisten, die reiche Draperie der Gardinen, die bunten Farben des türkischen Fußteppichs taten seinem Auge wehe; denn das Gemüt will ein leidendes Herz, einen kranken Körper nicht mit den Flittern der Hoheit umgeben sehen. Und wie groß war der Kontrast zwischen diesem Glanz der Umgebung und diesem zarten, lieblichen Kind, das in einem einfachen, weißen Gewand auf einer prachtvollen Ottomane lag.

Der Eindruck, den ihre Züge, ihre Gestalt, ihr ganzes Wesen zum erstenmal auf ihn gemacht hatten, kehrte auch jetzt wieder in die Seele des Majors. Es war ihre einfache, ungeschmückte Schönheit, ihre stille Größe, verborgen hinter dem Zauber kindlicher Liebenswürdigkeit, was ihn angezogen hatte. Wohl blendete ihn damals der Glanz der frischen, jugendlichen Farben, die lebhaft strahlenden Augen, jenes gewinnende, huldvolle Lächeln, das ihre feinen rosigen Lippen umschwebte. Ein Nachtfrost hatte diese Blüten abgestreift; aber gab ihr nicht diese durchsichtige Blässe, diese stille Trauer in dem sinnigen Auge, dieser wehmütige Zug um den Mund, der nie mehr scherzte, eine noch erhabenere Schönheit , einen noch gefährlicheren Zauber? Der Major stand einige Schritte von ihr stille und betrachtete sie mit tiefer Rührung. Sie winkte ihm nach einem Taburett, das zu ihren Füßen stand; sie sprach; ihre Stimme hatte zwar jenes helle Metall verloren, das sonst ihre heiteren Scherze, ihr fröhliches Lachen ertönen ließ; aber diese weichen, rührenden Töne drangen tiefer. — "Es wäre töricht von mir, Herr Baron," sprach sie, "wollte ich Sie lange in Ungewißheit lassen, warum ich Sie rufen ließ. Ich weiß, daß der Graf Sie als seinen besten Freund von einem Verhältnis unterrichtet hat, das nie hätte bestehen sollen. — Erinnern Sie sich noch de: Abends in Othello? Ich sagte Ihnen von einem Billett, das ich bekommen habe; ich erinnere mich, daß Sie mir es wiederholt abforderten; warum haben Sie das getan?"

"Warum, fragen Euer Durchlaucht — weil ich den Inhalt ahnete, zu wissen glaubte."



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"Also doch!" rief sie, und eine Träne drang aus ihrem schöner Auge. "Also doch! Ich hielt Sie seit dem ersten Augenblick, wo ich Sie sah, für einen Mann von Ehre; wenn Sie die Verhältnisse des Grafen wußten, warum haben Sie ihn nicht bälder entfernt warum mir nicht den Schmerz erspart, ihn verachten zu müssen?"

"Ich kann bei allem, was mir heilig ist, bei meiner Ehre schwören," entgegnete der Major, "daß ich kaum eine Stunde, bevor ich zu Euer Durchlaucht in die Loge trat, diese Verhältnisse durch ein Papier erfahren habe, das durch Zufall, statt in des Grafen Hände, in die meinigen kam. Als ich den Grafen darüber zur Rede stellen wollte, hatte er schon Nachricht davon bekommen und war abgereist . Ich ahnete aus gewissen Winken, die jenes Briefchen enthielt, daß auch Sie nicht verschont bleiben werden; umsonst versuchte ich das unglückliche Blättchen Euer Durchlaucht abzuschwatzen."

"Sie glauben also an diese Erfindung?" sagte Sophie, indem ihre Tränen heftiger strömten; "ach, es ist ja nur ein Kunstgriff gewisser Leute , die ihn von uns entfernen wollten. Lesen Sie dieses Billett, es ist dasselbe, das ich erhielt; gestehen Sie selbst, es ist Verleumdung!"

Der Maior las:

"Der Graf v. Z. ist verheiratet; seine Gemahlin lebt in Avignon; drei kleine Kinder weinen um ihren Vater. —Sollte eine erlauchte Dame so wenig Ehrgefühl, so wenig Mitleid besitzen, ihn diesen Banden noch länger zu entziehen?"

Es war dieselbe Handschrift, dasselbe Siegel wie jenes Billett, das er selbst bekommen hatte. Er sah noch immer in diese Zeilen; er wagte nicht aufzuschauen, er wußte nicht zu antworten; denn seine strengen Begriffe von Wahrheit erlaubten ihm nicht, gegen seine Überzeugung zu sprechen; das tiefe Mitleid mit ihrem Schmerz ließ ihn ihre Hoffnung nicht so grausam niederschlagen.

"Sehen Sie," fuhr sie fort, als er noch immer schwieg, " wie ich dieses Briefchen arglos, neugierig erbrach, so überraschten mich jene schrecklichen Worte Gemahlin , Vater wie eine Stimme des Gerichtes. Die Sinne schwanden mir; ich wurde recht krank und elend; aber so oft ich nur eine Stunde mich leichter fühle, steigt meine Hoffnung wieder; ich glaube, Zronievsky kann doch nicht so gar schlecht gewesen sein, er kann mich nicht so schrecklich betrogen haben. Lächeln Sie doch, Major, seien Sie freundlich — Ich erlaube Ihnen, Sie dürfen mich verspotten, weil ich mich durch diese Zeilen so ganz außer Fassung bringen ließ; — aber nicht wahr, Sie meinen selbst, es ist eine Lüge, es ist Verleumdung?"

Der Major war außer sich: was sollte er ihr sagen? Sie hing so erwartungsvoll an seinen Lippen; es war, als sollte ein Wort



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von ihm sie ins Leben rufen — ihr Auge strahlte wieder, jenes holde Lächeln erschien wieder auf ihren lieblichen Zügen — sie lauschte wie auf die Botschaft eines guten Engels.

Er antwortete nicht, er sah finster auf den Boden; da verschwand allmählich die frohe Hoffnung aus ihren Zügen, das Auge senkte sich, der kleine Mund preßte sich schmerzlich zusammen, das zarte Rot, das noch einmal ihre Wangen gefärbt hatte, floh; sie senkte ihre Stirne in die schöne Hand; sie verbarg ihre weinenden Augen.

"Ich sehe," sagte sie, "Sie sind zu edel, mir mit Hoffnungen zu schmeicheln, die nach wenigen Tagen wieder verschwinden müßten. Ich danke Ihnen, auch für diese schreckliche Gewißheit. Sie ist immer besser als das ungewisse Schweben zwischen Schmerz und Freude; und nun, mein Freund, nehmen Sie dort das Kästchen, suchen Sie es ihm zuzustellen! Es enthält manches, was mir teuer war, — doch nein, lassen Sie es mir noch einige Tage! Ich schicke es Ihnen, wenn ich es nicht mehr brauche."

"Es ist mir, als werde ich nicht mehr lange leben," fuhr sie nach einigen Augenblicken fort; "ich bin gewiß nicht abergläubisch; aber warum muß ich gerade nach diesem fatalen Othello krank werden?"

"Ich hätte nicht gedacht, daß dieser Gedanke nur einen Augenblick Euer Durchlaucht Sorge machen könnte!" sagte der Major,

"Sie haben recht, es ist töricht von mir; aber in der Nacht, als man mich krank aus der Oper brachte, träumte ich, ich werde sterben. Eine ernste, finstere, junge Dame kam mit einem Plumeau von roter Seide auf mich zu, deckte ihn über mich her und preßte ihn immer stärker auf mich, daß ich beinahe erstickte. Dann kam plötzlich mein Großoheim, der Herzog Nepomuk, gerade so wie er gemalt in der Galerie hängt, und befreite mich von dem beengenden Druck, und das Sonderbarste ist —"

"Nun?" fragte der Baron lächelnd, "was fing denn der gemalte Herzog mit Desdemona an?"

Die Prinzessin staunte: "Woher wissen Sie denn, daß die Dame Desdemona ist? Ich beschwöre Sie, woher wissen Sie dies?"

Der Major schwieg einen Augenblick verlegen. "Was ist natürlicher," antwortete er dann, "als daß Sie von Desdemona träumten? Sie hatten sie ja am Abende zuvor in einem roten Bette verscheiden sehen."

"Sonderbar, daß Sie auch gleich auf den Gedanken kamen. Das Sonderbarste aber ist, ich wachte auf, als der Herzog mich



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befreite, ich wachte in der Tat auf und sah — wie jene Dame mit dem Plumeau unter dem Arm langsam zur Türe hinausging. Seit dieser Nacht träumte ich immer dasselbe, immer beengender wird ihr Druck, immer später kommt mir der Herzog zu Hilfe, aber immer sehe ich sie deutlich aus dem Zimmer schweben! Und als ich gestern abend mir die Harfe bringen ließ und mein liebes Desdemona- Liedchen spielte, da — spotten Sie immer über mich ! —da ging die Türe auf, und jene Dame sah ins Zimmer und nickte mir zu."

Sie hatte dieses halb scherzend, halb im erzählt; sie wurde ernster. "Nicht wahr, Major," sagte sie, " wenn ich sterbe, gedenken Sie auch meiner? Das Andenken eines solchen Mannes ist mir wert." — "Prinzessin!" rief der Major, indem er vergebens seine Wehmut zu bezwingen suchte, "entfernen Sie doch diese Gedanken, die unmöglich zu Ihrer Genesung heilsam sein können!"

Die Oberhofmeisterin erschien in der Türe und gab ein Zeichen, daß die Audienz zu Ende sein müsse. Sophie reichte dem Major die Hand zum Kusse. Er hat nie mit tieferen Empfindungen von Schmerz, Liebe und Ehrfurcht die Hand eines Mädchens geküsst. Er hob sein Auge noch einmal zu ihr auf, er begegnete ihren Blicken, die voll Wehmut auf ihm ruhten. Die Oberhofmeisterin trat mit einer Amtsmiene näher; der Major stand auf; wie schwer wurde es ihm, mit kalten, gesellschaftlichen Formen sich von einem Wesen zu trennen, das ihm in wenigen Minuten so teuer geworden war!

"Ich hoffe," sagte er, "Euer Durchlaucht bei der nächsten Cour ganz hergestellt wiederzusehen."

"Sie hoffen, Major?" entgegnete sie schmer lich lächelnd; "leben Sie wohl, ich habe zu hoffen aufgehört."

10.

Die Residenz war einige Tage mit nichts anderem als der Krankheit der geliebten Prinzessin beschäftigt; man sagte sie bald sehr krank, bald gab man wieder Hoffnung; ein Schwanken, das für alle, die sie näher kannten, schrecklich war. An einem Morgen, sehr frühe, brachte ein Diener dem Major ein Kästchen. Ein Blick auf dieses wohlbekannte Behältnis und auf die Trauerkleider des Dieners überzeugten ihn, daß die Prinzessin nicht mehr sei. Es war ihm, als sei dieses liebliche Wesen ihm, ihm allein gestorben. Er hatte viel verloren auf der Erde, und doch hatte kein Verlust so empfindlich,



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so tief seine Seele berührt als dieser. Es war ihm, als habe er nur noch ein Geschäft auf der Erde, das Vermächmis der Verstorbenen an seinen Ort zu befördern; er würde diese Stadt, die so drückende Erinnerungen für ihn hatte, sogleich verlassen haben, hätte ihn nicht das Verlangen zurückgehalten, ihre sterblichen Reste beisetzen zu sehen. Als die feierlichen Klänge aller Glocken, als die Trauertöne der Musik und die langen Reihen der Fackelträger verkündeten, daß Sophie zu der Gruft ihrer Ahnen geführt werde, da verließ er zum erstenmal wieder sein Haus und schloß sich dem Zuge an. Er hörte nicht auf das Geflüster der Menschen, die sich über die Ursachen ihrer Krankheit, ihres Todes besprachen; er hatte nur einen Gedanken; nur jener Augenblick, wo ihr Auge noch einmal auf ihm geruht hatte, wo seine Lippen ihre Hand berührten, stand vor seiner Seele. Man nahm die Insignien ihrer hohen Geburt von der Bahre, man senkte sie langsam hinab zum Staub ihrer Ahnen. Die Menge verlor sich, die Begleiter löschten ihre Fackeln aus und verließen die Halle. Der Major warf noch einen Blick nach der Stelle, wo sie verschwunden war, und ging.

Vor ihm ging mit unsicheren, schleppenden Schritten ein alter Mann, der heftig weinte. Als der Major an seiner Seite war, sah jener sich um; es war der Regisseur der Oper. Der Alte trat näher zu ihm, sah ihn lange an, schien sich auf etwas zu besinnen und sprach dann: "Möchten Sie nicht, Herr Baron, wir hätten nur geträumt, und jenes liebliche Kind, das man begraben hat, wäre noch am Leben?"

"Woran mahnen Sie mich!" rief der Major mit unwillkürlichem Grauen; "ja, bei Gott, es ist so, wie Sie träumten, sie ist begraben, und wir beide gehen nebeneinander von ihrem Grab."

"Drum soll der Mensch nie mit dem Schicksal scherzen," sagte der Alte mit trübem Ernst. "Ist es nicht heute elf Tage, daß wir Othello gaben? Am achten ist sie gestorben."

"Zufall, Zufall!" rief der Major. "Wollen Sie Ihren Wahnsinn auch jetzt noch fortsetzen? Weiß ich nicht nur zu gut, an was sie starb? Wohl hat ein Dolch ihre Seele wie Desdemonas Brust durchstoßen; ein Elender, schwärzer als Ihr Othello, hat ihr Herz gebrochen; aber dennoch ist es Aberglauben, Wahnsinn, wenn Sie diesen Tod und Ihre Oper zusammenreimen!"

"Unser Streit macht sie nicht wieder lebendig," sagte der Alte mit Tränen. "Glauben Sie, was Sie wollen, Verehrter! Ich werde es, wie ich es weiß, in meiner Opernchronik notieren. Es hat so kommen müssen!"

"Nein!" erwiderte der Maior beinahe wütend, "nein, es hat



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nicht so kommen müssen; ein Wort von mir hätte sie vielleicht gerettet. Bringen Sie mir um Gottes willen Ihren Othello nicht ins Spiel; es ist Zufall, Alter; ich will es haben, es ist Zufall!"

"Es gibt, mit Ihrer Erlaubnis, keinen Zufall; es gibt nur Schickung. Doch ich habe die Ehre, mich zu empfehlen; denn hier ist meine Behausung. Glauben Sie übrigens, was Sie wollen," setzte der Alte hinzu, indem er die kalte Hand des Majors in der seinigen preßte, "das Faktum ist da, sie starb — acht Tage nach Othello."



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Jud Süß

Ein ernstes Spiel wird euch vorübergehen;
Der Vorhang hebt sich über einer Welt,
Die längst hinab ist in der Zeiten Strom,
Und Kämpfe, längst schon ausgekämpfte, werden
Vor euren Augen stürmisch sich erneun.

L. Uhland,

1.

Der Karneval war nie in Stuttgart mit so großem Glanz und Pomp gefeiert worden als im Jahre 1737. Wenn ein Fremder in die ungeheuren Säle trat, die zu diesem Zwecke aufgebaut und prachtvoll dekoriert waren, wenn er die Tausende von glänzenden und fröhlichen Masken überschaute, das Lachen und Singen der Menge hörte, wie es die zahlreichen Fanfaren der Musikchöre übertönte, da glaubte er wohl nicht, in Württemberg zu sein, in diesem strengen, ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft asketischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als überbleibsel einer anderen Religionspartei haßte; ernst, beinahe finster und trübe durch die bedenkliche Lage, durch Elend und Armut, worein es die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltgen Ministers gebracht hatten.

Der prachtvollste dieser Freudentage war wohl der zwölfte Februar, an welchem der Stifter und Erfinder dieser Lustbarkeiten und so vieles andern, was nicht gerade zur Lust reizte, der Jud Süß , Kabinettsminister und Finanzdirektor, seinen Geburtstag feierte. Der Herzog hatte ihm Geschenke aller Art am Morgen dieses Tages zugesandt; das angenehmste aber für den Kabinettsminister war wohl ein Edikt, welches das Datum dieses Freudentages trug, ein Edikt, das ihn auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit und Zukunft freisprach. Jene unzähligen Kreaturen jeden Standes, Glaubens und Alters, die er an die Stelle besserer



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Männer gepflanzt hatte, belagerten seine Treppen und Vorzimmer, um ihm Glück zu wünschen, und manchen ehrliebenden, biedern Beamten trieb an diesem Tage die Furcht, durch Trotz seine Familie unglücklich zu machen, zum Handkuß in das Haus des Juden.

Dieselben Motive füllten auch abends die Karnevalssäle. Seinen Anhängern und Freunden War es ein Freudenfest, das sie noch oft zu begehen gedachten, Männer, die ihn im stillen haßten und öffentlich verehren mußten, hüllten sich zähneknirschend in ihre Dominos und zogen mit Weib und Kindern zu der prachtvollen Versammlung der Torheit, überzeugt, daß ihre Namen gar wohl ins Register eingetragen und die Lücken schwer geahndet würden; das Volk aber sah diese Tage als Traumstunden an, wo es im Rausch der Sinne sein drückendes Elend vergessen könnte; es berechnete nicht, daß die hohen Eintrittsgelder nur eine neue indirekte Steuer waren, die es dem Juden entrichtete.

Der Glanzpunkt dieses Abends war der Moment, als die Flügeltüren aufflogen, eine erwartungsvolle Stille über der Versammlung lag und endlich ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit auffallenden, markierten Zügen, mit glänzenden, funkelnden Augen, die lebhaft und lauernd durch die Reihen liefen, in den Saal trat. Er trug einen weißen Domino, einen weißen Hut mit Purpurroten Federn, auf welchen er die schwarze Maske nachlässig gesteckt hatte; es war nichts Prachtvolles an ihm als ein ungewöhnlich großer Solitär, welcher am Hals die purpurröte Bajute von Seidenflor, die über den Domino hinabfiel, zusammenhielt. Er führte eine schlanke, zartgebaute Dame, die, in ein mit Gold und Steinen überladenes orientalisches Kostüm gekleidet, aller Augen auf sich zog.

"Der Herr Finanzdirektor, der Herr Minister," flüsterte die Menge, als er vornehm grüßend durch die Reihen ging, die sich ihm willig öffneten; und als er in der Mitte des Hauptsaales angekommen war, begrüßten ihn Trompeten und Pauken, und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Masken klatschte ihm Beifall, während man andere Wie von einem unzüchtigen Schauspiele sich abwenden sah. Aber allgemein schien die Teilnahme, womit man die schöne Orientalin betrachtete, die mit dem Minister gekommen war. Seine Lebensweise war zu bekannt, als daß nicht die meisten unter der Larve der reichgeschmückten Dame eine seiner Freundinnen geahnet hätten; nur darüber schien man uneinig, welcher von diesen solche Auszeichnung zuteil geworden sei; die eine schien zu klein für diese Figur, die andere zu korpulent für diese zierliche Taille, die dritte zu schwerfällig, um so leicht und beinahe schwebend über den Boden zu gleiten, und einer vierten, bei welcher man endlich stillestehen wollte, konnte nicht dieses glänzend schwarze Haar, das in reichen Locken um den



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stolzen Nacken fiel, nicht dieses herrliche, dunkle Auge gehören, das man aus der Maske hervorleuchten sah.

Die Menge pflegt, wenn ihre Neugier nicht sogleich befriedigt wird, bei Gelegenheiten von so glänzender und rauschender Art, wie dieser Karneval war, nicht lange bei e ineni Gegenstande stille zu stehen. "Wenn sie die Maske abnimmt, wird man ja sehen," sprach man, ohne der Dame noch längere Aufmerksamkeit zu schenken, als nötig war, um zu bemerken, wie sie zur Menuett antrat. Aber drei junge Männer, die müßig hinter den Reihen der Tanzenden standen, schienen diese Erscheinung noch immer unablässig zu verfolgen.

"Wer sie nur sein mag?" rief der eine ungeduldig. "Ich wollte gern dem verzweifelten Juden fünfzig Eintrittskarten abkaufen, wenn er mir sagte, woher dieses Mädchen kommt, das er wie eine Fürstin in den Saal führte."

"Herr Bruder!" erwiderte der zweite, indem er unter dem Sprechen kein Auge von der Orientalin abwandte, "Herr Bruder, parole d'honneur! diese Widersprüche kann ich nicht Vereinigen, und wenn ich bei Cartesius selbst die Logik samt dem cogito argo sua studiert hätte; eine so ungewöhnlich feine Gestalt, diese Haltung, diese nach den neuesten und vornehmsten Regeln abgemessene Bewegung, diese Art, das Handgelenk rund und spielend zu bewegen, wie ich sie nur in den bedeutendsten Zirkeln zu Wien und Paris sah, dieser Anstand, womit sie den Nacken trägt —"

"Gott verdamm' mich, du hast recht, Herr Bruder," unterbrach ihn der dritte. "Dieses alles und —mit Süß auf den Ball zu kommen! Nein, ein solcher Kontrast ist mir in meinem Leben nicht vorgekommen!

Aus unserer Bekanntschaft," fuhr der erste fort, "aus unsern Kreisen kann sie nicht sein; denn wenn es auch wahr ist, was man flüstert, daß schon mancher elende Kerl von einem Vater seine Tochter mit einer Bittschrift zum Juden schickte, so laut läßt keiner seine Schande werden, daß er sein leibliches Kind mit dieser Mazette auf den Ball schickt!"

"Bitte dich ums Himmels willen, Herr Bruder, nicht so laut! Er hat überall seine Spione, und uns ist er ohnedies nicht grün; denk an deine Familie, willst du dich unglücklich machen? Aber wahr ist's, es kann kein Mädchen aus bessern Ständen sein, und doch ist ihr Wesen für eine Bürgerstochter zu anständig. Doch halt, wer ist der Sarazene, der dort auf uns zukommt? Die Farbe seine Turbans ist ja dieselbe, wie ihn die Scharmante des Juden hat!"

Die jungen Männer wandten sich um und sahen einen schlanken, schöngewachsenen Mann, der, als Sarazene gekleidet, sich durch die einfache Pracht seines Kostüms wie durch Gang und Haltung vor



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gemeineren Masken auszeichnete. Auch er schien die jungen Männer ins Auge gefaßt zu haben; denn er ging langsam an sie heran und zögerte, an ihnen vorüberzuschreiten,

"Was ist deine Parole?" fragte der eine der jungen Männer, der in der Maske einen Freund zu erkennen glaubte. "Hast du nur dein Allah zum Feldgeschrei, oder weißt du sonst noch ein Sprüchlein?"

Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus," erwiderte der Sarazene, indem er stillestand.

"Er ist's, er ist's," riefen zwei dieser jungen Herren und schüttelten die Hand des Sarazenen. "Gut, daß wir die Parole gaben, ich hätte sonst kein Erkennungszeichen für dich gehabt; denn ich war meiner Sache so gewiß, du seiest als Bauer hier, daß ich mit dem Kapitän eine Flasche gewettet habe, du müßtest ein Bauer sein!"

"Laßt uns ans Büfett treten," sagte der zweite, "ich habe dir hier jemand vorzustellen, Bruder Gustav, der sich auf deine Bekanntschaft freut, und du weißt, in Larven erkennt man sich schlecht."

"Freund," erwiderte Gustav, "ich nehme die Larve nicht ab, ich habe Gründe; so angenehm mir die Bekanntschaft dieses Herrn wäre, so muß ich sie doch bis auf morgen versparen."

"Und wenn es nun Pinassa wäre, nach welchem du so oft gefragt? " antwortete jener.

"Pinassa? Mit dem du dich geschlagen? Nein, das ändert die Sache, den will ich sehen und begrüßen; aber —meine Maske nehme ich nur auf zwei Augenblicke und im fernsten Winkel des Speisesaals ab."

"Wir sind's zufrieden, Bruder Sarazene," antwortete der Kapitän. "Aber laß uns nur erst an die zweite Flasche kommen, dann sollst du auch die Gründe beichten, warum du dein Angesicht nicht leuchten lassen willst vor den Freunden!

2.

In dem Speisesaal, welchen sie wählten, waren nur wenige Menschen; denn man verkaufte hier nur ausgesuchte Weine, feine Früchte und warme Getränke, während die größeren Trinkstuben, wo Landwein, Bier und derbere Speisen zu haben waren, die größere Menge an sich zogen. In einer Ecke des Zimmers war ein Tischchen leer, wo der Sarazene, wenn er dem übrigen Teil des Saales den Rücken kehrte, ohne Gefahr erkannt zu werden, die Maske abnehmen konnte. Sie wählten diesen Platz, und als die vollen Römer vor ihnen standen, legten die zwei jungen Krieger die Masken ab, und



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der Kapitän begann: "Herr Bruder, ich habe die Ehre, dir hier den unvergleichlichen Kavalier Pinassa vorzustellen, den berühmtesten Fechter seiner Zeit; denn es gelang ihm, durch eine unbesiegliche Terz-Quart Terz, mich , bedenke, mich, den Senior des Amizistenordens , in Leipzigs unvergeßlichem Rosental hors combat zu machen. Er hat gleich mir die Musen verlassen, hat gesungen: ,Will mir Minerva nicht, so mag Bellona raten,' und hat den alten Hieber und sein ungeheures Stichblatt, worauf er sein Frühstück zu verzehren pflegte, mit dem Paradedegen eines herzoglich württembergischen Leutnants vertauscht."

"Der Tausch ist nicht übel, Herr von Pinassa, und mein Vaterland kann sich dazu Glück wünschen," sagte der Sarazene, indem er sich vor dem neuen Leutnant verbeugte. "Wolltet Ihr einmal in unsern Dienst treten, so war diese Laufbahn die angenehmste. Der Zivilist hat zu dieser Zeit wenig Aussicht, wenn er nicht ein Amt für fünftausend Gulden oder für sein Gewissen und ehrlichen Namen beim Juden kaufen will. Doch diese dünnen Bretterwände haben Ohren — stille davon, es ist doch nicht zu ändern. Wie anders sind Eure Verhältnisse! Der Herzog ist ein tapferer Herr, dem ich einen Staat von zweimalhunderttausend Kriegern gönnen möchte; für uns —ist er zu groß. Der Krieg ist sein Vergnügen, ein Regiment im Waffenglanz seine Freude; leider fällt für uns andere selten eine müßige Stunde ab, und daher kommt es, daß diese Juden und Judenchristen das Zepter führen. Er gilt für einen großen General, er hat mit Prinz Eugen schöne Waffentaten verrichtet, und ein schlanker, junger Mann mit einer Narbe auf der Stirne, Mut in den Blicken, wie Ihr, Herr von Pinassa, ist ihm jederzeit in seinem Heere willkommen."

"Was der Sarazene altklug sprechen kann über Juden und Christen!" sprach der Kapitän. "Doch öffne dein Visier und zeige deine Farben! Mein Kamerad soll nun auch wissen, mit wem er spricht: Das ist der umsichtige, rechtskundige, fürtreffliche Herr gaia utriusque Doktor Lanbek, leiblicher Sohn des berühmten Landschaftkonsulenten Lanbek, welchem er als Aktuaris substituiert ist; ein trefflicher Junge, parole d'honneur! wenn er sich nicht neuerer Zeit hin und wieder durch sonderbare Melancholei prostituierte, noch trefflicher, wenn ihm der Herr auch einen Sinn für das schöne Geschlecht eingepflanzt hütte."

Lanbek nahm bei diesen Worten die Maske ab und zeigte dem neuen Bekannten ein errötendes Gesicht von hoher Schönheit. Unter dem Turban stahlen sich gelbe Locken hervor und umwallten kunstlos und ungepudert die Stirne. Eine kühn gebogene Nase und dunkle, tiefblaue Augen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von



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unternehmender Kraft und einen tiefen Ernst, der mit den weichen Haaren und ihrer sanften Farbe in überraschendem Widerspruche war. Doch das Strenge dieser Züge und dieser Augen milderte ein angenehmer Zug um den Mund, als er antwortete: "Ich öffne mein Visier und zeige Euch ein Gesicht, das Euch recht herzlich bei uns willkommen heißt. Ich trinke auf Euer Wohl dieses Glas; dann aber werdet Ihr entschuldigen, wenn ich aufbreche,"

"Pro poena trinkst du zwei," rief der Kapitän mit komischem Pathos, indem er einen ungeheuren Hausschlüssel aus der Tasche nahm und ihn als Zepter gegen den Sarazenen senkte. "Hast du so wenig Ehrfurcht vor deinem Senior, daß du dich erfrechst, in loco Gläser zu trinken, ohne daß sie dir ordentlich vom Präses diktiert sind? 0 tempora, o mores ! Wo ist Zucht und Sitte dieser Füchse hin? Pinassa! Zu unserer Zeit war es doch anders!"

Die jungen Männer lachten über diese klägliche Reminiszenz des ehemaligen Amizistenseniors; der Kapitän aber faßte Lanbek schärfer ins Auge und sagte: "Herr Bruder, nimm mir's nicht übel, aber in dir steckte schon lange etwas wie ein Fieber, und heute abend ist die Krisis; ich setze meine verlorene Flasche, davon geht nichts ab, aber ich wette zehn neue; sei ehrlich, Gustav —du warst heute abend schon als Bauer hier, und dein Alter weiß nichts vom Sarazenen."

Gustav errötete, reichte dem Freunde die Hand und winkte ihm ein Ja zu.

"Alle Tausend!" rief der Kapitän. "Junge, was treibst du? Wer hätte das hinter dem stillen Aktuarius gesucht? Auf dem Karneval das Kostüm zu ändern! Und so ängstlich, so geheimnisvoll, so abgebrochen; willst du etwa dem Juden zu Leibe gehen?"

Der Gefragte errötete noch tiefer und nahm schnell die Maske vor; ehe er noch antworten konnte, sagte Reelzingen' "Herr Bruder, du bringst mich auf die rechte Fährte. Wo habt Ihr beide, du und die Orientalin, die der Finanzdirektor führte, das Zeug zu Euren Turbanen gekauft? Gustav, Gustav!" — setzte er, mit einem Finger drohend, hinzu — "Du wohnst dem Juden gegenüber, ich wette, du weißt, wer die stolze Donna ist, die er führt."

"Was weiß ich!" murmelte Lanbek unter seiner Larve.

"Nicht von der Stelle, bis du es sagst," rief der Kapitän; "und wenn du auf deinem Trotz beharrst, so schleiche ich mich an die Orientalin und flüstere ihr ins Ohr, der Sarazene habe mich in sein Geheimnis eingeweiht."

"Das wirst du nicht tun, wenn ich dich ernstlich bitte, es zu unterlassen," erwiderte der junge Mann, wie es schien, sehr ernst; " wenn ich übrigens Vermutungen trauen darf, so ist es Lea Oppenheimer, des Ministers Schwester. Und nun adieu! Wenn ihr mir im Saal



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begegnen solltet, kennt ihr mich nicht, und Reelzingen, wenn mein Vater fragt —"

"So weiß ich nichts von dir, versteht sich," erwiderte dieser. Der Sarazene erhob sich und ging. Die Freunde aber sahen einander an, und keiner schien zu wissen, ob er recht gehört habe oder wie er dies alles deuten solle. "Hat denn der Jude eine Schwester?" fragte Pinassa.

"Man sprach vor einiger Zeit davon, daß er eine Schwester zu sich genommen habe; doch hielt man sie für noch zu jung, weil sie sich nirgends sehen läßt," erwiderte Reelzingen nachdenklich. Und wie er errötete!" setzte er hinzu. "Herr Bruder, du wirst sehen, da läßt auch einmal wieder der Satan einen vernünftigen Jungen einen dummen Streich machen."

3.

Lanbek irrte, als er die Freunde verlassen hatte, in den Sälen umher; seine Blicke gleiteten unruhig über die Menge hin, sein Gesicht glühte unter der Larve, und mühsam mußte er oft nach Atem suchen, so drückend war die Luft in dem Saale, und so schwer lag Erwartung, Sehnsucht und Angst auf seinem Herzen. Dichter und stürmischer drängte sich die Menge, als er in die Mitte des zweiten Saales kam; mit Mühe schob er sich noch eine Zeitlang durch; aber endlich riß ihn unwillkürlich der Strom fort, der sich nach einer Seite hindrängte, und ehe er sich dessen versah, stand er an einem Spieltisch, wo Süß mit einigen seiner Finanzräte Karten spielte. Große Haufen Goldes lagen auf dem Tische, und die neugierige Menge beobachtete den berühmtesten Mann ihres Landes und teilte sich flüsternd und murmelnd Bemerkungen mit über die ungeheuren Summen, die er, ohne eine Miene zu verändern, hingab oder gewann.

Gustav hatte den Gewaltigen noch nie so in der Nähe beobachtet wie jetzt, da er, festgehalten durch die Menge, die wie eine Mauer um ihn stand, zum unwillkürlichen Beobachter wurde. Er gestand sich, daß das Gesicht dieses Mannes von Natur schön und edel geformt sei, daß sogar seine Stirne, sein Auge, durch Gewohnheit zu herrschen, etwas Imponierendes bekommen haben; aber feindliche, abstoßende Falten lagen zwischen den Augenbrauen da, wo sich die freie Stirne an die schön geformte Nase anschließen wollte, das Bärtchen auf der Oberlippe konnte einen hämischen Zug um den Mund nicht verbergen, und wahrhaft greulich schien dem jungen Mann ein heiseres, gezwungenes Lachen, womit der jüdische Minister Gewinn oder Verlust begleitete.



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Während die Herren, von der Menge umlagert, spielten und auf irgend etwas zu warten schienen, trat ein Mann in der Kleidung eines Bauern aus der Steinlach aus den Reihen der Neugierigen; ein alter Hut auf dem Kopf, eine grobe blaue Jacke, eine rote Weste mit großen Knöpfen von Zinn, Beinkleider von gelbem Leder und schwarze Strumpfe machten sein unscheinbares Kostüm ans; aber er trug eine sehr feine, gut gemalte Larve. Er stützte sich nach Art der Landleute mit der Hand auf den fünf Fuß hohen Knotenstock, legte sein Kinn auf die Hand und sprach in gut nachgeahmtem Dialekt des Steinlachtals'

"Viel Geld habt Ihr da liegen, Herr! Und habt alles selbst verdient?"

Der Minister sah sich um und bemühte sich, über diese Maskenfreiheit zu lächeln. Vielleicht mochte ihm diese Gelegenheit erwünscht kommen, um sich ein populäres Ansehen zu geben; denn er antwortete sehr freundlich: "Guten Abend, Landsmann."

"Euer Landsmann bin ich gerade nicht," erwiderte der Bauer mit großer Ruhe; "so wie ich tragen sich gewöhnlich die Mausche nicht." unterdrücktes Lachen flog durch die Reihen der Zuschauer. Der Minister schien es aber nicht zu bemerken; denn er fuhr ganz leutselig fort:

"Du bist witzig, mein Freund."

"Gott bewahre mich, dah ich Euer Freund sei, Herr Süß!" entgegenete der Bauer. "Wär' ich Euer Freund, so ging ich wohl nicht in dem schlechten Rock und durchlöcherten Hut; Ihr macht ja Eure Freunde reich."

Nun, dann muß ganz Württemberg mein Freund sein; denn ich mache es reich," sagte Süß und begleitete seine Rede mit heiserem, unangenehmem Lachen.

"Ihr seid ein Allerweltsgoldmacher," entgegnete der Bauer. "Wie schön diese Dukaten sind! Wie viel Schweißtropfen armer Leute gehen wohl auf ein solches Goldstück:

"Du bist ein kapitaler Kerl!" rief Süss, ganz ruhig weiter spielend.

Als der Bauer zu einer neuen Rede ansetzen wollte, zog eine neue Gestalt die Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Mann, dessen Kostüm beinahe ebenso war wie des Bauers, nur hatte er einen langen, spitzen Bart am Kinn und trug einen Tressenrock. Der Bauer sah ihn eine Zeitlang verwundert an, schüttelte ihm dann die Hand und rief: "Ei Hans! Wo kommst du her, und so schmuck und stattlich! Gar nicht mehr wie unsereiner!

"Das macht," erwiderte Hans, indem er aus einer silbernen Jose schnupfte, "ich bin bei einem fürnehmen Herrn in Dienst getreten."



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"Wer ist denn dein Herr: fragte der Bauer.

"Ein Schinder. aber ein fürnehmer. Meinst du, er schindet gemeines Vieh, Pferde, Hunde und dergleichen? Nein, ein Leuteschinder ist er, und noch überdies ein Kartenfabrikant."

Ein Kartenfabrikant:" rief der Bauer.

"Jawohl, denn alle Karten im Lande muß man von ihm kaufen; er stempelt sie. Er ist aber auch ein Gerber."

"Wie das?"

Nun. alle Gerber im Lande müssen die Häute gegerbt von ihm kaufen. Er ist aber auch ein Prägestock.

Wie! ein Prägestock ?

"Ja, er macht alles Geld, was im Lande ist."

"Das ist erlogen," sagte der Bauer, "Du willst sagen, er macht alles zu Geld. was im Lande ist; aber darum ist er noch kein Prägestock. gibt nur einen Prägestock in Württemberg, der dem Land seinen Namenszug aufgedrückt hat.

Die Menge hatte bisher nur ihren Beifall gemurmelt; aber bei der letzten Anspielung auf die Münze brach sie in lautes Gelächter aus; die Stirne des Gewaltigen verfinsterte sich etwa:: ; aber noch immer spielte er ruhig weiter.

"Aber warum hast du dir den Bart so spildig wachsen lassen?" fragte der Bauer weiter. "Das sieht ja ganz indisch aus."

Es ist halt so Mode," erwiderte Hans, "seit die Juden Meister im Lande sind; bald will ich vollends ganz indisch werden."

Als Hans diese lesten Worte sprach, rief eine vernehmliche Stimme aus dem dicksten Haufen "Warte noch ein paar Wochen, Hans, Daun kannst du gut katholisch werden."

Wem je der schreckliche Anblick wurde. wie in einer volkreichen Straße, durch Unvorsichtigkeit oder Bedacht entzündet, eine Tonne Pulvers aufspringt, dem bot sich kaum eine so seltsame Szene dar als die, welche diese wenigen geheimnisvollen Worte hervorbrachten. Der Minister, bleich wie eine Leiche, springt vom Sessel auf, er wirft die Karten mit wütendem Blick auf den Tisch: "Wer sagt dies? Greift ihn im Namen des Herzogs!" ruft er und stürzt, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, auf die Menge; seine Genossen, nicht weniger bestürzt, aber besonnener, ergreifen seinen Arm und ziehen ihn zurück, suchen ihn zu beschwichtigen —sein dunkles Auge will sich durch die Menge bohren, um den Gegenstand seiner Wut zu fassen; die Masken murmeln unwillig und drängen sich; doch als der gefürchtete Mann seine Hand nach dem Bauer ausstreckt und ruft: "So sollst du mir für ihn haften!" da ist er plötzlich von einer drohenden )Senge umringt. "Mastenfreiheit, Jude!" hört man in dumpfen, gefährlichen Tönen; der Bauer und sein Geselle sind in einem Augenblick



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von ihm getrennt, verschwunden, und so schnell, als er vorhin umringt war, ist er wieder verlassen; denn die Menge zerstiebt, von geheimer Furcht gejagt, nach allen Seiten.

Das Gedränge riß Gustav Lanbek mit sich hinweg; seine Gedanken verwirrten sich; es war ihm noch nicht möglich, sich klar vorzustellen , was diesen seltsamen Auftritt verursacht haben könnte. So stand er einige Augenblicke in seinen Gedanken verloren, als er plötzlich seine Hand von einer andern ergriffen fühlte; er sah sich um; die Orientalin stand vor ihm,

4.

"Wo stammt die Rose her auf deinem Hut, Maske?" fragte die Orientalin mit zitternder Stimme.

"Vom See Tiberias," war die Antwort des Sarazenen.

"Schnell! Folgen Sie mir!" rief die Dame und schlüpfte durchs Gedränge. Er folgte, mit Mühe sich durch die Massen schiebend, und nur ihr Turban zeigte ihm hin und wieder den Weg; sein Herz pochte lauter, sein Ohr trug noch die letzten Laute dieser süßen Stimme, und sein Auge sah keinen andern Gegenstand mehr als sie. In einer dunkleren Ecke des zweiten Saales hielt sie an und wandte sich um. "Gustav, ich beschwöre Sie, was ist mit meinem Bruder vorgefallen? Die Menschen flüstern allenthalben seinen Namen; ich weiß nicht, was sie sagen, aber ich denke, es ist nichts Gutes; hat er Streit gehabt? Ach, ich weiß wohl, diese Menschen hassen unser Volk."

Der junge Mann war in peinlicher Verlegenheit. Sollte er mit einem Male den arglosen Wahn dieses liebenswürdigen Geschöpfs zerstören? Sollte er ihr sagen, daß auf ihrem Bruder der Fluch der Württemberger ruhe, daß sie für alle Menschen beten und nur ihn aus dem Gebet ausschließen, daß es zur Sitte geworden sei zu bitten: Herr, erlöse uns von allem Übel und von dem Juden Süß! Lea," antwortete er sehr befangen, "Ihr Bruder wurde von einigen Masken im Spiel gestört und hatte einen Wortwechsel, der vielleicht gerade an diesem Ort auffiel; ängstigen Sie sich nicht!"

"Was bin ich doch für ein törichtes Mädchen!" sagte sie, "ich habe so schwere Träume, und dann bin ich den Tag über so traurig und niedergeschlagen. Und so reizbar bin ich, daß mich alles erschreckt, daß ich immer gleich an meinen Bruder denke und glaube, es könnte ihm Unglück zugestoßen sein.

"Lea," flüsterte der junge Mann, um diese Gedanken zu zerstreuen , "erinnerst du dich, was du versprachst, wenn wir uns auf dem Karneval träfen? Wolltest du mir nicht einmal eine einsame Stunde schenken, wo wir recht viel plaudern könnten?"



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"Ich will," sagte sie nach einigem Zögern; "Sara, meine Amme, steht am Ausgang und wird mich begleiten. Doch wo?"

"Dafür ist gesorgt," erwiderte er; "folge mir, verliere mich nicht aus dem Auge; am Eingang rechts.

Der erfinderische Sinn des jüdischen Ministers hatte, als er den Karneval in Stuttgart arrangierte und diese Säle schnell aus Holz aufrichten ließ, dafür gesorgt, daß, wie in großen Häusern und Schlössern, an diese Säle auch kleinere Zimmer stoßen möchten, wo kleine Zirkel ein Abendessen verzehren konnten, ohne gerade im allgemeinen Speisesaal ihr Inkognito abzulegen. Der Aktuarius hatte durch eine dritte Hand und hinlängliche Bezahlung sich den Schlüssel zu einem dieser Zimmer zu verschaffen gewußt; eine kleine Kollation stand dort bereit, und Lea freute sich über diese Artigkeit des jungen Christen, der sein Möglichstes getan hatte, den Sinn einer in der Küche erfahrenen Dame zu befriedigen, obgleich das Zimmerchen, das nur einen Tisch und wenige Stühle von leichtem Holz enthielt, wenig Bequemlichkeit bot.

"Wie bin ich froh, endlich die lästige Larve ablegen zu können!" sagte sie, als sie mit ihrer Amme eintrat; sie sah sich nach einem Spiegel um, und als sie nur leere Bretterwände erblickte, setzte sie lächelnd hinzu: "Sie müssen mir schon statt eines Spiegels dienen, Gustav, und sagen, ob diese drängende Menge mir den Haarputz nicht verdorben hat."

Entzückt und mit leuchtenden Blicken betrachtete der junge Mann das schöne Mädchen. Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen, dunkeln Augen, beschattet von langen, seidenen Wimpern, diese kühngewölbten, glänzend schwarzen Brauen und die dunkeln Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirne und den schönen Hals fielen und den Vereinigungspunkt dieser lieblichen Zuge, zarte, rote Lippen und die zierlichsten, weißen Zähne, noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame — sie wirkten, verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge Mann eine jener herrlichen Erscheinungen zu sehen glaubte, wie sie Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei ihrer Heimkehr malte.

Wahrlich," rief er, "du gleichst der Zauberin Armida, und sa denke ich mir die Töchter deine:, Stammes, als ihr noch Kanaan bewohntet. So war Rebekka und die Tochter Jephthas."

Wie oft schon habe ich dies gesagt," bemerkte Sara, " wenn ich mein Kind, meine Lea, in ihrer Pracht anblickte! Die Poschen



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und Reifrocke, die hohen Absatzschuhe und alle Modewaren stehen ihr bei weitem nicht wie diese Tracht,"

"Du hast recht, gute Sara," erwiderte der junge Mann: "dock setze dich hier an den Tisch! Du hast zu lange unter Christen gelebt um vor diesem Punsch und diesem Backwerke zurückzuschaudern unterhalte dich gut mit diesen Dingen!"

Sara, welche den Sinn und die Weise des Nachbars kannte, sträubte sich nicht lange und erbarmte sich über die Kunstprodukte der Zuckerbäcker; der junge Mann aber setzte sich einige Schritte von ihr neben die schöne Lea. "Und nun aufrichtig, Mädchen," sagte er, "du hast Kummer, du hast gestern kaum das Weinen unterdrückt, und auch heute wieder ist eine Wolke auf dieser Stirne, die ich so gern zerstreuen möchte. Oder glaubst du etwa nicht, ungläubiges Sind, daß ich dein Freund bin und gerne alles tun möchte, um dich aufzuheitern? "

"Ich weiß es ja, o, ich sehe es ja immer und auch heute wieder," sagte sie, mühsam ihre Tränen bekämpfend, "und es macht mich ja so glücklich. Als Sie mich das erstemal an unserem Gartenzaun grüßten, als Sie nachher, es war anfangs Oktober, mit mir über den Zaun hinüber sprachen und nachher und immer so freundlich und traulich waren, gar nicht wie andere Christen gegen uns, da wußte ich ja wohl, daß Sie es gut mit mir meinen, und — es ist Ja mein einziges, mein stilles Glück!" Sie sagte es, und einzelne Tränen stahlen sich aus den schönen Augen, indem sie sich bemühte, ihn freundlich und lächelnd anzusehen.

"Aber dennoch —?" fragte Gustav.

"Aber dennoch bin ich nicht glücklich, nicht ganz glücklich. In Frankfurt hatte ich meine Gespielinnen, hatte meine eigene Welt, wollte nichts von der übrigen. Ich dachte nicht nach über unsere Verhältnisse ; es kränkte mich nicht, daß uns die Christen nicht achteten; ich saß in meinem Stübchen unter Freunden und wollte nichts von allem, was draußen war. Mein Bruder ließ mich zu sich nach Stuttgart bringen. Man sagte mir, er sei ein großer Herr geworden, er regiere ein Land, in seinem Hause sei es herrlich und voll Freude, und die Christen leben mit ihm wie wir unter uns; ich gestehe, es freute mich, wenn meine Freundinnen meine Zukunft so glänzend ausmalten; welches Mädchen hätte sich an meiner Stelle nicht gefreut?"

Tränen unterbrachen sie aufs neue, und der junge Mann, voll Mitleid mit ihrem Kummer, fühlte, daß es besser sei, ihre Tränen einige Augenblicke strömen zu lassen. Es gibt ein Gefühl in der menschlichen Brust, das wehmütiger macht als jeder andere Kummer; ich möchte es Mitleiden mit uns selbst heißen; es übermannt uns,



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wenn wir am Grabe zerstörter Hoffnungen in die Tage zurückgehen, wo diese Hoffnungen noch blühten, wenn wir die fröhlichen Gedanken zurückrufen, mit welchen wir einer heiteren Zukunft entgegengingen ; wahrlich, dieser bittere Kontrast hat wohl schon stärkere Herzen in Wehmut aufgelöst als das Herz der schönen Jüdin.

"Ich habe alles anders gefunden," fuhr Lea nach einer Weile fort. "In meines Bruders Hause bin ich einsamer als in meiner Kindheit. Ich darf nicht kommen, wenn er Bälle und große Tafeln gibt. Die Musik tönt in mein einsames Zimmer, man schickt mir Kuchen und süsse Weine wie einem Kinde, das noch nickst alt genug ist, um in Gesellschaft zu gehen. Und wenn ich meinen Bruder bitte, mich doch auch einmal, nur in seinem Hause wenigstens, teilnehmen zu lassen, so schlägt er es entweder ganz kalt ab, oder wenn er gerade in sonderbarer Laune war, erschreckte er mich durch seine Antwort."

"Was antwortete er denn ?" fragte der Jüngling gespannt.

"Er sieht mich dann lange und seufzend an, seine Augen werden trüber, seine Züge düster und melancholisch, und er antwortet, ich dürfe nicht auch verloren gehen; ich solle unablässig zu dem Gott unserer Väter beten, daß er mich fromm und rein erhalte, auf daß meine Seele ein reines Opfer werde für seine Seele."

"Törichter Aberglaube!" rief der junge Mann unmutig; "darum also sollst du, armes Kind, allen Freuden des Lebens entsagen, damit er —"

"Hat er sich denn so arg versündigt?' fragte Lea, als ihr Freund, wie bei einer unbesonnenen Rede, schnell abbrach. "Was soll ich denn büßen? Solche hingeworfene Worte machen mich so unglücklich; es ist mir, als schwebe irgend ein Unglück über meinem Bruder, als sei nicht alles recht, was er tut. Niemand steht mir darüber Rede; auch Saras Worte kann ich nicht deuten; denn wenn ich sie darüber befrage, weicht sie aus oder nennt ihn geheimnisvoll den Rächer unsers Volkes."

"Sie ist nicht klug," erwiderte der junge Mann befangen; "dein Bruder hat, wie es überall geht, eine mächtige Gegenpartei; manche seiner Finanzoperationen werden getadelt. Aber wegen seiner darfst du ruhig schlafen," setzte er bitter lachend hinzu, "der Herzog hat ihm heute einen Freibrief geschenkt, der ihn vor jeder Gefahr und Verantwortung sichert."

"O, wie danke ich dies dem guten Herzog!"sagte sie aufgeheitert, indem sie die dunkeln Locken aus der weißen Stirn strich. "So hat er also gar niemand zu fürchten? Die Christen können ihn nicht verfolgen? —Sie antworten nicht? Gestehen Sie nur, Gustav, Sie sind meinem armen Bruder grams"

"Deinem armen Bruder? — Wenn er arm wäre, könnte



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ich ihn vielleicht um seines Verstandes willen ehren! Aber was geht uns dein Bruder an?" fuhr Lanbek düster lächelnd fort; "ich liebe dich, und hättest du alle düsen Engeln zu Brüdern; aber eines versprich mir, Lea, die Hand darauf!

Sie sah ihn erwartungsvoll und zärtlich an, indem sie ihre Hand in die seinige legte.

"Bitte deinen Bruder niemals wieder," fuhr er fort, "dich zu seinen Zirkeln zuzulassen! Mag er nun Grunde haben, welche er will, es ist gut, wenn du nicht dort bist. So viel kann ich dich versichern," o setzte er mit blitzenden Augen hinzu, " wenn ich wüßte, daß du ein einzigesmal dort gewesen, kein Wort mehr würde ich mit dir sprechen!"

Befangen und mit Tränen im Auge, wollte sie eben um Aufschluß über dieses neue Rätsel bitten, als ein lauter Zank im Nebenzimmer die Liebenden aufstörte. Mehrere Männer schienen mit der Polizei sich zu streiten man hatte die Türe des Kabinetts gesprengt, und über diesen Eingriff in die Rechte des Karnevals wurde schnell und mit Heftigkeit gestritten.

"Mein Gott, das ist meines Vaters Stimme!" rief der junge Lanbek; "schleiche dich mit Sara in den Saal, Mädchen! Nehmet den Schlüssel dieser Türe zu euch! Vielleicht können wir später uns wiedersehen." Er drückte der überraschten Lea schnell einen Kuß auf die Stirne, nahm seine Maske vor, und noch ehe sie sich über diesen schnellen Wechsel besinnen konnte, war der Aktuarius schon aus der Türe gestürzt. Im Korridor, den er jetzt betrat, stand schon eine dichte Menschenmasse um die geöffnete Türe des Nebenzimmers versammelt. Deutlicher vernahm er die gewichtige, tiefe Stimme seines Vaters; er stieß und drängte sich wie ein Wütender durch und kam endlich in das Gemach. Fünf alte Herren, die ihm als ehrenwerte Männer und Freunde seines Vaters wohlbekannt waren, standen um den alten Landschaftskonsulenten Lanbek; die einen zankten, die andern suchten zu beruhigen. Es war damals eine gefährliche Sache, mit der Polizei in Streit zu geraten; sie stand unter dem besonderen Schutz des jüdischen Ministers, und man erzählte sich mehrere Beispiele, daß biedere, ruhige Bürger und Beamte, vielleicht nur, weil sie einem Diener dieser geheimen Polizei widersprochen oder Gewalttätigkeit verhindert hatten, mehrere Wochen lang ins Gefängnis geworfen und nachher mit der kahlen Entschuldigung , es sei aus Versehen geschehen, entlassen worden waren. Doch der alte Lanbek schien keine Furcht vor diesen Menschen zu kennen: er bestand darauf, daß die Häscher das Zimmer sogleich verlassen müßten, und es wäre vielleicht noch zu schlimmern Händeln als einem Wortwechsel gekommen, wenn nicht in diesem Augenblick ein ganz anderer Gegenstand die Aufmerksamkeit des Anführers



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der Häscher auf sich gezogen hätte. Der junge Lanbek hatte sich beinahe bis an die Seite seines Vaters vorgedrängt, bereit, wenn es zu Tätlichkeiten kommen sollte, den alten Herrn kräftig zu unterstützen . Er hatte eben seine Maske fester gebunden, damit sie ihm im Handgemenge nicht verloren gehen möchte, als ihn der Polizeidiener erblickte und mit lauter Stimme, indem er auf ihn deutete, rief: "Im Namen des Herzogs! Diesen greift, den Türken dort, der ist der Rechte!"

Die Überraschung und sechs Arme, die sich plötzlich um ihn schlangen, machten ihn wehrlos. So nahe seinem Vater. der ihn hätte retten können, wagte er doch nicht, sich auch nur durch einen Laut zu erkennen zu geben, weil er den Zorn seines Vaters noch mehr fürchtete als die Gewalt des Juden.

Die alten Herren waren stumm vor Staunen über diesen Vorfall; der Anführer der Häscher wurde, als er seinen Zweck erreicht hatte, artiger und entschuldigte sich, worauf jene kalt und abgemessen dankten. Willenlos ließ sich der junge Mann dahinführen. Die Menge, die sich vor der Türe versammelt hatte, teilte sich; aber manche schauten ihm neugierig in die Augen, um zu erraten, wer es sein möchte, den man hier mitten aus der öffentlichen Lust heran: ;: Gustav hörte, als er weiter hingeführt wurde, einen schwachen Schrei; er sah sich um, und beim schwachen Schein der Lampen glaubte er, den Turban der schönen Orientalin gesehen zu haben. Schmerzlich bewegt ging er weiter, und erst, als die kalte Winternacht schneidend auf ihn zuwehte, erwachte er aus seiner Betäubung und übersah nicht ohne Besorgnis die Folgen, die seine Gefangennehmung haben könnte.

5.

Die Polizeidiener hatten den Sarazenen, wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine feine und reiche Kleidung, in da:. Offizierszimmer der Hauptwache gebracht. Der wachhabende Offizier wies ihm mit einer mürrischen Verbeugung eine Bank, die in der fernsten Ecke des Zimmers stand, zu seiner Schlafstätte an, und ermüdet von dem langen Umherirren auf dem Ball, fand der junge Mann dieses Lager nicht zu hart, um nicht bald einzuschlafen.

Trommeln weckten ihn am nächsten Morgen schlaftrunken sah er sich in dem öden Gemach um, blickte bald auf sein hartes Lager, bald auf seine Kleidung, und nach einer geraumen Weile erst konnte er sich besinnen, wo er sei und wie er hierher gekommen. Er trat ans Fenster; noch war alles still auf dem Platze vor der Hauptwache, und



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nur die Kompagnie, die gerade vor seinem Fenster zur Ablösung aufzog, unterbrach die Stille des trüben Februarmorgens. Indem die Trommeln auf der Straße schwiegen, hörte er von der Stiftskirche acht Uhr schlagen, und der Ton dieser Glocke rief ihm alles Uns angenehme und Besorgliche seiner Lage zurück. "Bald wird er nach dir fragen," dachte er, "und wie unangenehm wird es ihn überraschen , wenn er hört, ich sei in dieser Nacht nicht zu Hause gekommen!"

Im Hause des alten Landschaftskonsulenten Lanbek ging alles einen so geordneten Gang, daß dieses Ereignis allerdings sehr 10 störend erscheinen mußte. Zu dieser Stunde pflegte der alte Herr seit vielen Jahren sein Frühstück zu nehmen; mit dem ersten Glockenschlag erschien dann zugleich mit dem Diener, der den Kaffee auftrug, sein Sohn; man besprach sich über Tagesneuigkeiten, über den Gang der Geschäfte, und zu jener Zeit ließ es der allgewaltige 15 Minister nicht an Stoff zu solchen Gesprächen fehlen. Das Gespräch war regelmäßig mit dem Frühstück zu Ende; der Aktuarius küßte dem Alten die Hand und ging dann, einen Tag wie den andern, ein Viertel vor neun Uhr nach seiner Kanzlei. Diese langjährige Sitte des Hauses rief sich Gustav in diesen Augenblicken zurück. "Jetzt 2o wird Johann die Tassen bringen," sagte er zu sich, "jetzt wird er erwartungsvoll nach der Türe sehen, weil ich noch nicht eingetreten bin, jetzt wird er mich rufen lassen; daß ich doch dem guten, alten Herrn solchen Ärger bereiten mußte!" Er warf unwillig seinen Turban weg, stützte die Stirne in die Hand und beschloß, den Offizier, sobald 25 er wiedererscheinen würde, um die Ursache seiner Verhaftung zu fragen.

Die Trommeln ertönten wieder, die Abgelösten zogen weiter, er hörte die Gewehre zusammenstellen, und bald darauf trat ein Offizier in das halbdunkle Gemach. Er warf einen flüchtigen Blick 30 nach seinem Gefangenen in der Ecke, legte Hut und Degen auf den Tisch und setzte sich nieder. Lanbek, der jenen nicht zuerst anreden mochte, bewegte sich, um anzudeuten, daß er nicht mehr schlafe. Bon jour, mein Herr," sagte der Offizier, als er ihn sah, "wollen Sie vielleicht mein Dejeuner mit mir teilen?" 35

Die Stimme schien Gustav bekannt; er stand auf, trat höflich grüssend näher, und mit einem Ausruf des Staunens standen sich die beiden jungen Männer gegenüber. " Parole d'honneur, Herr Bruder!" rief der Kapitän von Reelzingen, "d ich hätte ich hier nicht gesucht! Wie kömmst du in Arrest? Weiß Gott, Blankenberg hatte 40 nicht unrecht, als er prätendierte, du werdest irgend etwas contra rationem riskieren.

"Ich möchte dich fragen, Kapitän," entgegnete der junge Mann, "warum ich hier sitze. Mir hat kein Mensch den Grund angegeben,



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warum man mich gefangennehme; du hast die Wache, Neelzingen; bitte dich, du mußt doch wissen —

Bion garde ! Ichs" rief der Kapitän lachend. "Meinst du, er habe mich mit seiner besonderen Astimation beehrt und in seine Konfidenze gezogen? Nein, Herr Bruder! Als ich ablöste, sagte mir der Leutnant von gestern: ,Oben sitzt einer, den sie vom Karneval auf ausdrücklichen Befehl hergebracht haben.' Er pflegt es gewöhnlich so zu machen."

"Wer pflegt es so zu machen?" fragt Lanbek erblassend.

Wer?" erwiderte jener leise flüsternd; "dein Schwager in spe, der Jude."

"Wie?" fuhr jener errötend fort, "du glaubst, er selbst? Ich hoffte bisher, es sei vielleicht eine Verwechslung vorgefallen! Du hast wohl von dem Auftritte gehört, der bald, nachdem ich euch verlassen hatte, mit dem Juden vorfiel; man rief etwas von Katholischwerden, und da fuhr der Finanzdirektor auf —"

"Was sagst du?" unterbrach ihn der Kapitän mit ernster Miene. indem er näher zu dem Freunde trat und seine Hand faßte. "Das war es also? uns hat man es anders erzählt. Wie ging es zu? Was hat man gerufen?"

Den Aktuarius befremdete der Ernst, den er auf den Zügen des sonst so fröhlichen und sorglosen Freundes las, nicht wenig; er erzählte den Vorfall, wie er ihn mit angesehen hatte, und sah, wie sich die Neugierde des Freundes mehr und mehr steigerte, wie seine Blicke feuriger wurden; als er aber beschrieb, wie Süss nach jenem geheimnisvollen Ausruf wütend geworden und aufgesprungen sei, da fühlte er die Hand des Kapitäns auf sonderbare Weise in der seinigen zucken. "Was bewegt dich so sehr?" fragte Gustav befremdet. "Wie nimmst du nur an solchen Karnevalsscherzen, die am Ende auf irgend eine Torheit hinauslaufen, solchen Anteils Wenn ich nicht wüßte, daß du evangelisch bist, ich glaubte, mein Bericht hal e dich beleidigt."

"Herr Bruder," erwiderte der Kapitän, indem er seinen Einst hinter einem gleichgültigen Lächeln zu verbergen suchte, "du kennst mich ja, mich interessiert alles auf der Welt, und ich bin erstaunlich neugierig; überdies ist manches ernster, als man glaubt, und im Scherz liegt oft Bedeutung."

"Wie verstehst du das?" fragte der Aktuarius verwundert. "Was macht dich so nachdenklich? Hast du wieder Schulden? Kann ich dir vielleicht mit etwas dienen?"

"Bruderherz," entgegnete der Soldat, "du mußt in den letzten Wochen gewaltig verliebt gewesen sein, sonst wäre deinem klaren Blick manches nicht entgangen, was selbst an meinem leichten Sinn



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nicht vorüberschlüpste. Sag einmal, was spricht der Papa von diesen Zeiten? Sprichst du den Obrist von Röder nie bei ihm ? Waren nicht am Freitag abend die Prälaten in eurem Hauses"

"Du sprichst in Rätseln, Kapitän!" antwortete der junge Mann staunend. "Was soll mein Vater mit einem Obrist von der Leib schwadron und mit Prälaten?"

"Freund, mach es kurz! sagte Reelzingen. "Halte mich in solchen Dingen nicht für leichtsinnig; ich will mich nicht in euer Vertrauen eindrängen; aber ich kann dir sagen, daß ich dennoch schon ziemlich viel weiß, und Parole d'honneur!" setzte er hinzu, "ich denke darüber, wie es einem Edelmann und meinem Portepee geziemt."

"Was geht mich dein alter Adelsbrief und dein neues Portepee an?" erwiderte unmutig der Aktuar, "und wie kommst du dazu, dich mit diesen Dingen gegen mich breit zu machen? Ich sage dir, daß ich von allem, was du da so geheimnisvoll schwatzst, keine Silbe verstehe, und kann dir mein Wort darauf geben, und damit genug, Herr von Reelzingen!"

"O mon Dieu!" rief jener lächelnd; "Herr Bruder, wir sind nicht mehr in Leipzig, dies Zimmer ist nicht der göttliche Ratskeller, sondern eine Wachstube; wir sind keine Musen mehr, sondern du bist herzoglicher Aktuar, und ich — Soldat; aber Freunde sind wir noch in Not und Tod, und darum sei Vernünftig und brause nicht mehr auf wie vorhin! Ich glaube dir ja aufs Wort, daß du nichts weißt; aber gut wäre es von deinem Vater gewesen, wenn er dich präveniert hätte. Deine Amour mit der Jüdin ist überdies jetzt ganz und gar nicht an der Zeit; wir alle bitten dich, laß deine Scharmante, mit der du doch niemals eine vernünftige und ehrenvolle Liaison treffen kannst —"

"Was wißt Ihr denn von diesem Verhältnis?" unterbrach ihn der junge Mann düster und erbittert. "Ich dächte, ehe ich Euch hierüber um Nat gefragt, könntet Ihr billigerweise mit Eurer Mahnung warten."

Der feurige junge Soldat, um seinem Freunde zu nützen, wollte eben in derselben Sprache etwas erwidern, als man an der Türe pochte. Der Kapitän schloß auf, und einer seiner Sergeanten winkte ihm, herauszutreten. Gustav hörte sie einige Worte wechseln und sah den Freund bald darauf mit verstörter Miene wieder zurückkehren . "Du bekommst einen sonderbaren Besuch," flüsterte er ihm zu, "er wird gleich selbst eintreten, und ich darf nicht zugegen sein."

"Wer doch? Mein Vater?" fragte Gustav bestürzt.

"Er kommt," sagte der Kapitän, indem er eilends Hut und Degen vom Tische nahm, "d er Jud Süß!



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6.

Vor der Türe des Offizierszimmers hatten seine Diener dem Minister den spanischen Mantel abgenommen, und er trat jetzt ein, stattlich geschmückt und vornehm gekleidet, wie es einem Günstling des Glücks und eines Herzogs in damaliger Zeit zukam. Er trug einen roten Rock, mit goldenen Trotteln und Quasten besetzt; die goldgestickten Aufschläge seines Rocks gingen bis zum Ellbogen zurück, und die Weste von Goldbrokat reichte herab bis an das Knie. Ein kurzer, breiter Degen mit reich besetztem Griff hing an seiner Seite, ein mächtiger Stock unterstützte seine Hand, und auf den reichen, hellbraunen Locken, die bis tief in den Nacken herabfielen, saß ein Hütchen von feinem schwarzen Wachstuch, mit Gold und weißen Federn verbrämt. Die Züge dieses merkwürdigen Mannes waren, in der Nähe betrachtet, zwar etwas zu kühn geschnitten, um schön und anmutig zu heißen; aber sie waren edler als sein Gewerbe und ungewöhnlich; sein dunkelbraunes Auge, da:; frei und stolz um sich blickte, konnte sogar für schön gelten; die ganze Erscheinung imponierte, und sie hätte sogar etwas Würdiges und Erhabenes gehabt, wäre es nicht ein hämischer, feindlicher Zug um die stolz aufgeworfenen Lippen gewesen, was diesen Eindruck störte und manchen, der ihm begegnete, mit unheimlichem Grauen füllte.

Der Kapitän stand fest und aufgerichtet an der Türe, den Hut in der einen, den Degengriff in der andern Hand, als der Minister Süß eintrat. Dieser nahm sein Hütchen ab, musterte, auf seinen Stock gestützt, den Soldaten mit scharfem Blick und sagte dann kurz und mit leiser Stimme: "Wie ist der Namen"

"Hans von Reelzingen, Kapitän im zweiten Grenadierbataillon, dritte Kompagnie."

Man hat studiert?" fuhr der Jude etwas artiger fort. "Die Jurisprudenz in Leipzig," antwortete der Kapitän mit militärischer Kürze.

"Wie lange dient der Herr Kapitän?"

"Ein Jahr und zwei Monate; zuerst bei —"

"Schon gut," unterbrach ihn der Sinister mit einer gnädigen Bewegung der Hand; "können abtreten."

Der Kapitän Reelzingen verbarg seinen Verdruß über das stolze Wesen de:, Emporkömmlings unter einer tiefen Verbeugung und trat ab. Dem Aktuarius aber, obgleich er keine Menschenfurcht kannte, pochte das Herz, als er nun mit dem Manne allein war, vor dem ein ganzes Land mit abergläubischer Furcht zitterte. Er errötete unwillkürlich, als jener ihn lange und prüfend ansah und ihm Gelegenheit gab, auch seine Züge zu mustern und hin und wieder



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etwas zu finden, das ihn an die schöne Lea erinnerte. Der Minister setzte sich endlich in den Armstuhl, den die Offiziere der Garnison zur Bequemlichkeit dieses Zimmers gestiftet hatten, und winkte dem Sarazenen herablassend, sich auf einer Bank, die unfern stand, nieder zulassen.

"Junger Mann," sprach er, " wenn Euch Eure eigene Ruhe und Wohlfahrt lieb ist, so antwortet mir auf das, was ich Euch fragen werde. offen und ehrlich; denn Ihr könnet leichtlich denken, daß es mir nicht schwer werden kann, Euch jeder Lüge, die Ihr waget, zu überweisen."

"Ich bin Herzoglich Württembergischer Aktuar," erwiderte der junge Mann, "und der Eid, den ich als Christ und Bürger —"

"Luissez cela," fiel ihm der Jude ins Wort, "Ihr wäret nicht der erste, der seinen Eid gebrochen. Wer waren gestern, frag ' ich, die beiden Masken, die sich an meinem Tisch zur Belustigung des Publikums unterhielten? Ihr wißt es, Ihr standet zunächst bei mir.

"Das ist mir nicht bekannt, Ew. Exzellenz," sagte Gustav mit fester Stimme.

"Nicht bekannte" rief der Minister. "Bedenket wohl, was Ihr gesagt, ich stehe hier als Euer Richter; habt Ihr keinen an der Stimme gekannt?"

"Keinen."

"Keinen ?" fuhr jener heftiger fort. "Und Euren Vater solltet Ihr nicht an der Stimme kennens"

"Meinen Vater!" rief der junge Mann erblassend; doch besonnen setzte er nach einer Weile hinzu: "Ihr irrt Euch, Herr Finanzdirektor, oder vielmehr, Ihr seid schlecht berichtet; mein Vater ist ein ruhiger, gesetzter Mann, und sein Charakter, sein Amt, seine Jahre verbieten ihm, das Publikum auf einem Maskenball zu amüsieren.

"Sie sollten es ihm verbieten," erwiderte jener mit blitzenden Augen, "und ich werde Mittel finden, es ihm zu verbieten. Ich weiß recht wohl, daß ich diesen Herren von der Landschaft ein Dorn im Auge bin, und zwar aus dem einzigen Grund, weil die Herren nicht rechnen können; verständen sie das Einmaleins so gut wie ich, sie würden sehen, was dem Lande frommt. Noch ist aber nicht aller Tage Abend, und ich will diesen Rebellen zeigen, wer sie sind, und wer ich bin!"

"Herr Finanzdirektor!" rief der junge Mann mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

"Herr Aktuarius?" erwiderte Süß mit spöttischem Lächeln.

"Mein Vater ist ein Ehrenmann," fuhr Gustav fort, ohne sich



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von der stolzen Miene des Gewaltigen einschüchtern zu lassen; "Sie sprechen von Rebellen? Wie können Sie sagen, daß mein Vater dem Herzog nicht immer treu gedient hat? Wie können Sie wagen, ihn einen Rebellen zu schimpfen?"

"Wagen?" lachte Süß. "Hier ist von keiner Wagnis die Rede, Herr Aktuarius; aber Rebell ist jeder, der nur dem Land und nicht dem Herzog dient; er ist des Herzogs Diener, aber er dient ihm schlecht: doch das soll nicht lange mehr so bleiben. Das mögt Ihr übrigens dem Herrn Landschaftskonsulenten, Eurem Vater, sagen, daß ich recht wohl weiß, was die beiden Masken wollten, und daß sie es mit dem dritten abgekartet hatten; ich konnte ihn gestern nacht so gut wie Euch verhaften lassen, und wenn ich es nicht tat, so verdankt er diese Schonung nur Euch.

"Mir?" antwortete der junge Mann staunend. "Mir? Und ist dies etwa auch Schonung, daß ich, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, diese Nacht in diesem Zimmer zubringen durften"

Nein," fuhr jener gütig lächelnd fort, "dies war nur zur Abkühlung auf Euer Rendezvous veranstaltet." Er weidete sich einige Augenblicke an der Verlegenheit des Jünglings und fuhr dann fort: "Das gute Kind, wie hat sie mich gefleht und auf den Knien gebeten, Euch zu retten! Sie glaubte nicht anders, als Ihr seiet wegen irgend eines Kapitalverbrechens gefangen. Wie? Und habt Ihr mir gar nichts zu sagen, Herr Lanbek?"

"Ihr kanntet mich nicht," erwiderte Gustav, "und es ist mir nun wohl begreiflich, warum Ihr so hart mit mir verführet; aber Leas Charakter hätte Euch wohl dafür bürgen können, daß nichts Strafbares in diesem Verhältnis liege."

"Wirtlich? Mort vie:" rief der Minister. "Nichts Strafbares? Meinen Sie, wenn ich etwas Strafbares in diesem Verhältnis ahnete, Sie hätten es mit einer Nacht auf der Wache abgebüßt? Bei den Gebeinen meiner Väter! Wenn ich —auf Neuffen oder Asperg gibt es Keller und Kasematten, wo kein Mond und keine Sonne scheint, da hätte ich den Herrn Sarazenen sitzen lassen, bis er sein Schwabenalter erreicht hätte. Oder meint Ihr etwa in Eurem christlichen Hochmut, einem Israeliten gelte die Ehre seiner Familie nicht ebenso hoch als einem Nazarener?"

Der junge Mann erschrak vor dieser Drohung; denn er bedachte, daß es dem Allgewaltigen ein Leichtes gewesen wäre, ihn spurlos von der Erde verschwinden zu lassen; aber sein mutiger Sinn lehnte sich auf gegen den Übermut dieses Mannes, der seine Privatsache zu einer öffentlichen machte und zur Wahrung seines Hausrechtes mit den Festungen des Landes drohte. "Exzellenz," sagte er mit Blicken, vor welchen der Minister die Augen niederschlug, " wie Sie



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über Ihre eigene Ehre denken, weiß ich nicht; doch scheint es mir nicht sehr ehrenvoll zu sein, solche Drohungen auszustoßen. Mein Vater ist zwar nur ein geringer Mann im Vergleich mit einem so gewaltigen und hohen Herrn; aber der Landschaftskonsulent Lanbek weiß, wo man in Deutschland Gerechtigkeit findet. Wien ist nicht so fern von Stuttgart, und Euern Gnadenbrief von gestern hat der Kaiser nicht unterzeichnet; was aber die Ehre Eurer Schwester betrifft, so kann ich Euch versichern, daß sie mir nicht minder teuer ist als meine eigene."

"Ihr habt hübsche Anlagen zu einem Landschaftskonsulenten," sagte der Jude, ruhig lächelnd, "übrigens, im Vertrauen gesagt, auf den Kaiser müsst Ihr nicht zu sehr pochen; wegen eines württembergischen Schreiber:, fängt man in Wien mit uns keine Händel an. Aber Ihr gefallt mir, mein Schatz; ich habe Eure Arbeiten loben hören, und Köpfe wie der Eure kann man zu etwas Besserem brauchen, als Akten zu heften und Faszikel zu binden; Ihr seid Expeditionsrat mit sechshundert Gulden Besoldung, und es freut mich, daß ich der erste bin, der Euch hiezu gratuliert."

Der junge Mann sprang von seiner Bank auf und wollte reden; aber Überraschung und Schrecken schloß ihm den Mund. Hundert Gedanken kreuzten sich in seinem Kopf. Es war nicht die Freude, vier Stufen, durch welche man sich sonst lange und mühevoll schleppte, nun in einem Augenblicke übersprungen zu haben, was seine Seele füllte; es war der schreckliche Gedanke, vor der Welt für einen Günstling dieses Mannes zu gelten, vor seinem Vater, vor allen guten Männern gebrandmarkt dazustehen.

"Exzellenz!" sprach er befangen. "Ich darf, ich kann diese Gnade nicht annehmen! Bedenken Sie, was wird man sagen, so viele ältere, verdiente Männer —"

Was da! Ich habe Euch Platz gemacht," antwortete der Jude in befehlendem Ton, "ich habe Euch zum Rat ernannt, und Ihr seid es. Keinen Dank, keine übergroße Delikatesse! Ich liebe da:: nicht. — Nun," fuhr er gütig, beinahe zärtlich fort, "und wie steht Ihr mit meiner Lea? Ihr habt mir ja da:, stille, blöde Kind ganz verzaubert. Fürchtet Euch nicht vor mir, junger Herr! Ich bin nicht der Mann, der gerade so sehr auf Reichtum sieht; Eure Familie gehört unter die ältesten und angesehensten Bürgerfamilien, und das gilt mir in diesem Falle so viel oder mehr als Reichtum. Euer Vater wird Euch zwar nicht viel mitgeben; aber mit mir sollt Ihr zufrieden sein; fürstlich will ich meine Lea an statten.

Die Felsenkeller von Neuffen und die tiefen Kasematten von Asperg wären in diesem Augenblick dem jungen Manne willkommener gewesen als diese Versicherung; er dachte an seinen stolzen Vater,



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an seine angesehene Familie, und so groß war die Furcht vor Schande, so tief eingewurzelt damals noch die Vorurteile gegen jene unglücklichen Kinder Abrahams, daß sie sogar seine zärtlichen Gefühle für die schöne Tochter Israels in diesem schrecklichen Augenblick übermannten. "Herr Minister!" sprach er zögernd, "Lea kann keinen wärmeren Freund als mich haben; aber ich fürchte, daß Sie dieses Gefühl falsch deuten, mit einem andern verwechseln, das —ich möchte nicht, daß Sie mich falsch verstehen, und Lea wird Ihnen nie gesagt haben, de ;g ich jemals davon gesprochen hätte —

Der stolze Mann errötete, warf seine Lippen auf, drückte die Augen beinahe zu, und an seiner Stirn begann eine Ader hoch anzuschwellen . "Was ist das?" sagte er streng. "Wie soll ich diese Redensart deuten?"

Herr Minister," erwiderte Gustav gefaßter, "bedenken Sie doch den Unterschied der Religion!"

Habt Ihr diesen bedacht, Herr, als Ihr meiner Schwester diese Liebeleien in den Kopf setztet? Aber ich kann Euch darüber trösten, Lea wird Euch in dieser Hinsicht kein Hindernis geben. Ihr schweigt?" fuhr er heftiger fort, "soll ich mit Eurem Vater darüber reden, junger Mensch? War etwa meine Schwester gut genug dazu, Eure müßigen Stunden auszufüllen, zur Gattin aber wollt Ihr sie nicht Wehe Euch, wenn Ihr so dächtet! Dich und deinen ganzen Stamm würde ich verderben! Euer Vater ist gestern eines schweren Verbrechens schuldig worden, es steht in meiner Hand, ihn zur Verantwortung zu ziehen; in Eure Hand lege ich nun das Schicksal Eures Vaters; entweder —Ihr macht Eure Unvorsichtigkeit gegen mein Haus gut und heiratet meine Schwester, oder ich erkläre Euch öffentlich für einen Schurken und lasse den Herrn Konsulenten in Ketten legen. Vier Wochen gebe ich Emh Bedenkzeit; mein Haus steht Euch offen, Ihr könnt Eure Braut besuchen, so oft Ihr wollt; vier Wochen, versteht Ihr mich? Jetzt seid Ihr frei, und morgen, Herr Expeditionsrat, werdet Ihr Euer Amt antreten."

Nach diesen Worten verbeugte er sich kurz und verließ stolzen Schrittes das Zimmer; dem Kapitän, den er im Vorzimmer traf, befahl er, Kleider für den Herrn Expeditionsrat herbeischaffen zu lassen und ihm seine Freiheit anzukündigen.

Staunend über diesen ganzen Vorfall, besonders über die letzten Worte des Ministers, trat Reelzingen in sein Zimmer. Er fand den Freund bleich und verstört, die Arme über die Brust gekreuzt, das Haupt kraftlos auf die Brust herabgesunken. "Nun, sag mir ums Himmels willen," fing der Kapitän an, indem er vor Gustav stehen blieb, "was wollte er bei dir? Warum ließ er dich verhaften? Was hat sein Besuch zu bedeuten?"



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"Er kam, um mir zu gratulieren," antwortete er mit sonderbarem Lächeln.

"Zu gratulieren? Wozu? Daß du eine Nacht auf der Wache zubrachtest? "

"Nein, weil ich in dieser Nacht Expeditionsrat geworden bin."

"Du?" rief der Kapitän lachend. "Gottlob, daß du so heiter bist und scherzen kannst; als ich hereintrat und dich sah, glaubte ich dich nicht so spaßhaft zu finden; aber im Ernst, Freund, was wollte der Indes"

"Ich sagte es ja, und es ist Ernst; zum Rat hat er mich gemacht. Ist das nicht ein schönes Avancement?"

Der Kapitän sah ihn mit zweifelhaften Blicken lange an; endlich sagte er gerührt: "Nein, du kannst nicht auch zum Schurken werden, Gustav; Gott weiß, wie dies zusammenhängen mag! Aber siehe, wenn ich dich nicht so lange und so genau kennte —glaube mir, die Welt wird dich hart beurteilen; doch nein, du lächelst, gestehe, es ist alles Scherz. Expeditonsrat! Ebensogut könntest du seine Schwester heiraten."

"Ei, das wird ja auch geschehen," sagte Lanbek düster lächelnd; "in vier Wochen, meint mein Schwager, soll die Hochzeit sein."

"Tod und Hölle!" fuhr der Kapitän auf, "mach mich nicht rasend mit diesen Antworten! Wahrhaftig, mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen."

"Wer sagt dir denn, daß ich spaße?" erwiderte Lanbek, indem er langsam aufstand. "Es ist alles so, wie ich sagte, auf Ehre!"

Dem Kapitän schwamm eine Träne im Auge, als er den Freund, den er geliebt hatte, also sprechen hörte; doch nur einen Augenblick gab er diesen weichern Empfindungen nach, dann trat er heftig auf den Boden, setzte seinen Hut auf und rief: "So sei der Tag verflucht, an welchem ich dich zum erstenmal sah und Bruder nannte! Geh, hilf deinem Juden, dem armen Land das Fell vollends vom Leib ziehen, schinde dir auch ein Stück herunter und mach dich reich! O Lanbek, Lanbek! Aber mein Portepee, ja ein Jahr meines Lebens wollte ich verhandeln, um einem meiner Kameraden die Wache abzukaufen; ich selbst will die Exekution kommandieren, wenn man dich und den Juden zum Galgen führt."

"So hoch werd ich mich wohl nicht poussieren," erwiderte Gustav ruhig und ernst; "aber meiner Leiche kannst du folgen, wenn sie mich morgen um Mitternacht neben der Kirchhofsmauer einscharren."

Der Kapitän sah ihn erschrocken an; er mochte tiefen Ernst auf der Stirne des jungen Mannes lesen; denn er wiederholte diesen Blick und begegnete Gustavs Auge. "Willst du mich fünf Minuten lang anhören, Reelzingen?" fragte er. "Du wirst dann über die



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Uneigennützigkeit dieses Ministers staunen. Sonst war doch der Preis einer Amtei zweitausend, und ein Expeditionsrat galt seine dreitausend Gulden unter Brüdern; aber ich Glückskind bekomme ihn umsonst, rein pour rien! Denn das Glück meines Lebens, die Ruhe meiner Familie, der heitere Frieden meines Vaters —daß diese bei dem Handel verloren gehen, ist ja gering zu achten. Doch höre!"

Staunend vernahm der Kapitän diese Worte; aufmerksam setzte er sich neben Gustav nieder. Je höher der Glaube an seinen Freund während seiner Erzählung stieg, desto ängstlicher wurde er für ihn und seine Familie besorgt. Er schloß ihn in seine Arme, er versuchte es, ihm Trost einzusprechen, obgleich er selbst an diese Trostgründe nicht glaubte. "Der Jude ist ein feiner Spieler," sagte er, "deine besten Tarocks hat er dir abgejagt, und da:, Spiel scheint in seiner Hand zu liegen; aber — er könnte sich verrechnet haben. Wir wollen sehen, wie er beschlagen ist, wenn wir — Spadi anspielen."

7.

Wir führen unsere Leser aus dem Offizierszimmer der Hauptwache in Stuttgart nach dem Hause des Landschaftskonsulenten Lanbek. In einem weiten, geräumigen Zimmer, dessen Hausrat nicht überladen und prächtig, aber solid und stattlich ist, finden wir einen ältlichen Mann von mehr als mittlerer Größe. Sein Gesieht und seine Gestalt beweisen, daß er, als er in den Fünfzigen stand, wohlbeleibt gewesen sein mochte; jetzt, zehn Jahre später, hatten sich Falten um Mund und Stirne gelegt, und der weite Schlafrock von feinem grünen Tuch, mit Pelz verbrämt, war für eine reichliche Fülle gefertigt und schlug jetzt weite Falten um den Leib; aber die rötlichen Wangen, die klaren, grauen Augen, der feste Schritt, womit er im Zimmer auf- und abging, ließen, noch ehe man seine volle, sonore Stimme vernahm, ahnen, daß der alte Konsulent an Geist und Körper noch frisch und rüstig sei.

In der Vertiefung des breiten Fensters saßen zwei schöne Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren, die dem Alten, so oft er ihnen den Rücken wandte, besorglich und ängstlich nachschauten, wohl auch untereinander flüsterten, so lange sie von ihm nicht gesehen wurden. Die eine war bemüht, des Vaters ungeheure Allongeperrücke in Ordnung zu bringen, und trotz dem Kummer, der an: ihren Blicken sprach, schien sie doch Freude an dem schönen Kontrast zu finden, welchen die schwarzen Locken dieses Haargebäudes mit ihren zarten, weissen Händchen bildeten. Die dunkelblauen Augen der andern jungen Dame schienen mehr mit der Straße als mit der feinen Arbeit.



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an welcher sie nähte, beschäftigt; doch waren ihre Züge zu ernst, als daß man es müßiger Neugier hätte zuschreiben dürfen.

Sie hatten mehrere Minuten lang geschwiegen; denn die Mädchen Waren viel zu streng erzogen, als daß sie den Vater, der seinen Gedanken nachhing, mit Fragen belästigt hätten; plötzlich sprang die junge Nähterin auf, ließ ihre schöne Arbeit zu Boden fallen, beugte den schlanken Hals näher ans Fenster und sah gespannt nach der Straße. Der Vater sah diese Bewegungen, hielt seine Schritte an, blickte aufmerksam nach seiner Tochter und fragte nur mit Blicken; Käthchen, die jüngere Schwester, vollendete schnell noch eine Stirnlocke der Perrücke, setzte dann das Prachtwerk behutsam auf eine Kommode und kam eben noch zeitig an, um mit Hedwig zu rufen: "Er ist's, er hat heraufgesehen, Vater; er geht sehr schnell; sieh doch, was er für einen sonderbaren Rock anhat:"

"Das ist Blankenbergs Jagdkleid!" sagte Hedwig leise zu ihrer Schwester.

"Geh doch, was weißt du von Blankenbergs Garderoben" erwiderte die jüngere, bedeutungsvoll lächelnd.

"Er hat Gustav schon oft in diesem Kleid besucht," antwortete sie, indem eine dunkle Röte über ihre Wangen flog.

Die Ankunft Gustavs verhinderte seine jüngere Schwester, Hedwig nach ihrer Gewohnheit noch länger zu quälen. Der Vater sah noch ernster aus als vorhin; er hatte sich in seinen Lehnstuhl gesetzt und die strengen Augen auf die Türe geheftet; bang und ängstlich pochte den Schwestern das Herz, als jetzt die Türe aufging und ihr Bruder hereintrat. — Nach dem ersten "guten Morgen" trat für alle drei Parteien eine peinliche Pause ein; endlich trat der Sohn bescheiden zum Vater. "Sie haben mich wohl diesen Morgen vermißt, Vaters" fragte er. "Es ist allerdings ein seltener Fall in unserem Hause, und Sie wurden vielleicht besorgt um mich."

"Das nicht," antwortete der Alte sehr ernst; "du bist alt genug, um nicht verloren zu gehen; aber zweierlei ist mir aufgefallen, nämlich, daß man dich nur eine Stunde auf dem Karneval sah und daß du diese Nacht und ihre Lustbarkeiten so unregelmäßig lang bis morgens neun Uhr ausdehust; du solltest schon seit einer halben Stunde in deiner Kanzlei sein.

"Ich bin heute dort entschuldigt," sagte Gustav lächelnd; "ich habe auch seit heute früh ein Uhr so schrecklich geschwärmt und so unordentlich gelebt, daß es kein Wunder ist, wenn man so spät zu Hause kommt; ratet einmal, ihr Mädchen, wo ich gewesen bin."

Die Schwestern sahen ihn unwillig an; denn sie befürchteten mit Recht, dieser leichtfertige Ton möchte dem alten Herrn mißfallen. "Wie können wir dies wissen?" erwiderte Hedwig. "Ich



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habe nie darnach gefragt, wo du dich mit deinen Kameraden umtreibst; ; doch heute, Bruder, bist du mir ein Rätsel."

"Und in einem Lustschloß bin ich gewesen," fuhr der junge Mann fort, " wo weder ihr beide, noch Papa jemals Waren; ihr erratet es doch nie, auf der Wache."

"Auf der Wache!" riefen die Schwestern entsetzt.

"Das ist mir sehr unangenehm, Gustav," setzte der Landschaftskonsulent hinzu; "meines Wissens bist du der erste Lanbek, den man auf die Wache setzte."

"Mir ist es doppelt unangenehm," antwortete sein Sohn, indem er den Vater fest anblickte, "weil es im Grunde eine Namensverwechslung zu sein scheint; denn meines Wissen:, bin nicht ich jener Lanbek, der die Szene an dem Tisch des Juden aufführte."

Der Alte sah ihn bleich und betroffen an. "Gehet ins Nebenzimmer , Mädchen!" rief er, und als sich die Schwestern staunend, aber schnell und gehorsam zurückgezogen hatten, faßte er die Hand seines Sohnes, zog ihn auf einen Stuhl neben sich nieder und fragte hastig, aber mit leiser Stimme: "Was ist das? Woher weißt du? Wer sagte dir davon?"

"Er selbst, antwortete der Sohn. "Der Jude?" fragte der Alte; "wie ist dies möglich "

"Er war bei mir auf der Wache; ich sehe, wie Sie staunen, Vater; aber bereiten Sie sich auf noch wunderlichere Dinge vor." Der junge Mann hielt für das beste, seinem Vater so viel als möglich zu entdecken; er erzählte ihm also, wie aufgebracht der Minister auf den Konsulenten und seine Partei sei, wie der Sohn ihm widersprochen wie der Minister, statt in heftigeren Zorn zu geraten, ihn plötzlich ; um Expeditionsrat ernannt habe. Nur Leas erwähnte er mit keiner Silbe; der Kapitän hatte ihm dies geraten, und er beschloß, davon zu schweigen, bis er seine Maßregeln getroffen hätte oder die Entdeckung des unglücklichen Verhältnisses unvermeidlich wäre.

"Ich sehe, was ich sehe," sprach der Konsulent nach einigem Nachdenken. "Meinst du, wenn er uns nicht gefürchtet hätte, er winde mich geschont und dich dafür ergriffen haben, um mich gleichsam durch seine Gnade zu beschämen? Er hat mich gefürchtet, und er hat alle Ursache dazu. Ich bin ihm zu populär, und auch du wirst ihm nach und nach zu bekannt mit den hiesigen Bürgern, weil du jetzt statt meiner die Armenprozesse führst. Der Expeditionsrat ist — eine Falle , die er uns beiden legen wollte. der kluge Fuchs.

"Wie verstehen Sie dies, Papa?" fragte Gustav, dem es leichter ums Herz wurde, seit er ahnete, wie sein Vater die Sache aufnehme.

"Sieh, Freund," sprach der Alte zutraulicher, als er je getan, "du wirst das Opfer dieser Kabale; aber, so wahr ich dein Vater



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bin! — du sollst es nicht lange sein. Dieser Jude denkt aber also: Verwehre ich dir, diese Stelle anzunehmen, weil du dadurch in übeln Geruch kommen könntest, so macht er es zu seiner Ehrensache, beklagt sich beim Herrn und ergreift die einzige Gelegenheit, die sich bot, mich zu zwingen, auch mein Amt aufzugeben. Er kennt mich, er weiß, daß er so wenig als der Herzog mich absetzen kann; er weiß auch, wer der alte Lanbek ist, nämlich — sein Feind. Nehmen wir die Stelle an, kalkuliert er weiter, so werden wir verdächtig bei allen, die das Bessere wollen. Der Vater Konsulent der Landschaft, würde man denken, der Sohn —Expeditionsrat; gekauft hat ihm der Alte die Stelle nicht, und der Süß gibt bekanntlich nichts ohne großen Gewinn an Geld oder geheimem Einfluß; folglich —sind wir übergetreten zu dem Gewaltigen. So, glaubt er, werden die Leute urteilen, und er hat es recht klug gemacht; aber er kennt mich nicht ganz; noch weiß ich, gottlob, ein Mittel, uns das Vertrauen der Besseren zu erhalten, und du — wirst und bleibst Expedition: ändern sich die Verhältnisse, so wirst du wieder Aktuarius, und die Menschen erkennen dann deine Unschuld.

"Aber Vater!" sagte der junge Mann zaudernd, "Ihr Ruf ist felsenfest — aber der meinigen Wie lange wird es noch anstehen , bis die Verhältnisse sieh ändern!

"Sohn," erwiderte der Alte nicht ohne Rührung, "du siehst, wie dieses schöne Land bis in sein innerstes Mark zerrüttet ist; meinst du, es könne immer so fortgehen? — Glaube mir, ehe der Frühling ins Land kommt, muß es anders werden; schlechter kann es nimmer werden, aber besser. Darum glaube mir und vertraue auf Gott!"

8.

Während der alte Lanbek noch so sprach und seinem Sohn Mut einzureden suchte, wurde die Hausglocke heftig angezogen, und bald darauf trat ein Offizier in das Zimmer, dem der Konsulent freundlich entgegeneilte. Wenn man das dunkelrote Gesicht, die freien, mutigen Züge und das kleine, aber scharfblickende Auge dieses Mannes sah, so konnte man die Sage von kühner Entschlossenheit und beinahe fabelhafter Tapferkeit, die er unter dem Herzog Alexander und dem Prinzen Eugenius bewiesen haben sollte, glaublich finden.

"Mein Sohn, der vormalige Aktuarius Lanbek," sprach der Alte, "der Obrist von Röder, den du wenigstens dem Namen nach kennen wirst."

"Wie sollte ich nicht?" erwiderte Gustav, indem er sich verbeugte. "Wenn unsere Truppen von Malplaquet und Peterwardein



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erzählen, so hört man diesen Namen immer unter die ersten und glänzendsten zählen.

"Zu viel Ehre fur einen alten Mann, der nur seine Schuldigkeit getan," antwortete der Obrist. "Aber, Konsulent, was sagt Ihr dazu, daß der Inde jetzt auch uns ins Handwerk greift ? Ich komme zu Euch eigentlich nur, um zu fragen: Soll ich, oder soll ich nicht?"

"Wie soll ich da:, verstehen?" fragte der Konsulent staunend; Röder, nur jetzt keinen übereilten Streich!"

"Das ist es eben!" rief jener, auf den Boden stampfend, "meine Ehre und die Ehre des ganzen Korps ist gekränkt! Einen meiner talentvollsten Offiziere sollte ich nach Fug und Recht kassieren lassen um dieses Hundes willen, und tu' ich's, so bin ich morgen selbst außer Dienst."

"Aber so sprecht doch, Obrist!" sagte der Alte, indem er seinem Sohn winkte, Stühle zu setzen, "seht Euch, Ihr seid noah in der ersten Hitze.

"Mein Regiment hat gestern und heute den Dienst," fuhr jener eifrig fort; "da bringt man nun gestern nacht von der Redoute weg einen Menschen auf unsere Wache mit dem ausdrücklichen Befehl vom Juden, ihn wohl zu bewachen, aber keinen weiteren Rapport abzustatten; heute früh zieht der Kapitän Reelzingen auf, findet einen Gefangenen im Offizierszimmer, von welchem nichts im Rapport steht, und — denkt Euch — nach einer halben Stunde kommt der Minister selbst, schickt den Kapitän au:, dem Zimmer, verhört auf unserer Wache den Gefangenen insgeheim, entläßt ihn dann und befiehlt dem Kapitän noch einmal, keinen Rapport abzustatten, und — nimmt ihm das Ehrenwort ab — er einem Offizier auf der Wache —nimmt ihm das Wort ab, den Namen des Gefangenen nicht zu nennen; dahin also ist es gekommen, daß jeder Schreiber oder gar ein hergelaufener Jude uns kommandierte Nach Kriegsrecht muß ich den Kapitän kassieren lassen; meine Ehre fordert, daß ich es nicht dulde; denn ich hatte den Dienst, und ich muss mich rühren, sollte es mich auch meine Stelle kosten."

Die beiden Lanbek hatten sich während der heftigen Rede des Obristen bedeutungsvolle Blicke zugeworfen. "Der Jude ist listiger, als wir dachten," sagte, als jener geendet hatte, der Vater; "also auch auf den Obrist war es abgesehen, auch für ihn war die Falle aufgestellt! Wer meint Ihr wohl, daß der Gefangene wars Da seht ihn, mein leiblicher Sohn saß heute nacht auf Eurer Wache!"

Der Obrist fuhr staunend zurück, und so groß war der Unmut über den Eingriff in seine militärischen Rechte, daß er sich nicht enthalten konnte, einen unwilligen, finstern Blick auf den jungen Mann zu werfen. Als aber der alte Lanbek fortfuhr und ihm erzählte, wie



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er selbst eigentlich die Ursache dieses Vorfalls gewesen und wie alles andere so sonderbar gekommen sei, als er ihm den arglistigen Plan des Ministers näher auseinandersetzte, da sprang Herr von Röder von seinem Stuhl auf. "Wohlan, Alter!" sagte er mit bewegter Stimme zu dem Konsulenten, "daß er mich verfolgt und haßt, hat am Ende nichts zu bedeuten, und daran ist nur der General Römchingen schuld, der mich nie leiden konnte; aber über dir soll er den Hals brechen, oder ich will nicht selig werden! Herr Aktuarius ! Die Stelle musst Ihr annehmen, das ist jetzt keine Frage mehr! Denn Euer Vater darf jetzt nicht von seinem Amt kommen, oder Verfassung und Religion stehen auf dem Spiel. Aber zum Herzog will ich gehen, will sprechen, und sollt' es mich mein Leben kosten."

"Das werdet Ihr nicht tun, Obrist!" sagte der Alte mit Nachdruck und Ernst. "Leset diesen Brief, den man uns aus Würzburg schickt, und sagt mir dann, ob Ihr noch waget, zum Herzog zu gehen und zu sprechen." Der Obrist nahm aus seiner Hand ein Schreiben und fing an zu lesen; doch je weiter er las, desto bestürzter wurden seine Züge, bis er staunend, aber mit zornsprühenden Augen den Alten anblickte und die Arme sinken ließ.

"Vater!" sprach der junge Mann, der betroffen bald den Alten, bald den Obristen betrachtete, "Vater, Sie machen mich hier zum Zeugen eine: Auftrittes, bei welchem ich vielleicht besser nicht zugegen gewesen wäre. Ich soll aber gezwungenerweise eine Rolle übernehmen, die mir nicht zusagt. Ich bin zum Expeditionsrat ernannt und weih nicht warum ich darf die Stelle nicht ablehnen, obgleich sie mich vor der Welt zum Schurken macht, und weiß nicht warum; es gehen Dinge vor im Staat und in meines Vaters Hause, man verhehlt sie mir, und ich weiß wieder nicht warum. Herr Obrist von Röder, Sie überreden mich, eine Stelle nicht auszuschlagen, die meines Vaters Namen beschimpft; von Ihnen glaube ich Gründe verlangen zu können, warum ich es nicht tun soll?"

"Gott weih, er hat recht!" rief Röder, indem er den jungen Mann nachdenkend betrachtete. "Ich weiß auch nicht, Alter, warum Ihr ihm nicht längst den Schlüssel gegeben habt. Wenn Ihr ihm übrigens die Augen nicht öffnen wollt, so will ich ihm diesen Dienst tun, weil ich weiß, wie druckend es ist, ein wichtiges Geheimnis halb zu erraten und halb zu ahnen."

Es sei," sagte der Vater, "sehet Euch wieder! Wenn ich dich, mein Sohn, bis jetzt nicht mit Dingen dieser Art vertraut gemacht habe, so geschah es nur aus Furcht, für einen allzu stolzen Vater zu gelten; denn wir hatten uns das Wort gegeben, nur erprobten und ausgezeichneten Männern uns anzuvertrauen. Ich darf dir nicht erst sagen, was in den drei Jahren, seit Alexander regiert, aus



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Württemberg geworden ist. Man soll von einem Lanbek nicht sagen können, daß er gegen seinen Herrn gemurrt hätte; er ist ein tapferer Mann und nach Prinz Eugenius vielleicht der erste Feldherr seiner Zeit; aber das Feldregiment taugt wohl im Lager und vor dem Feind, nicht so in der Kanzlei. Er sieht die Regierung des Ländchens , wie er sagt, etwas zu heldenmäßig an, das heißt, er sieht darüber hinweg und läßt andere dafür sorgen."

"Dieses Ländchen!" rief der Obrist bitter. "Diese:. schöne Württemberg! Es heißt wohl ein alter Syrus), daß, wenn man auch sich alle Mühe gäbe, dieses Land doch nicht könne zugrunde gerichtet werden; aber nous verrons Wenn es so fortgeht, wenn man es durch den Verkauf der Ämter, durch Verhöhnung der Besseren, durch Erhebung der niederträchtigsten Bursche geflissentlich verderbt, wenn man seine Kräfte bis aufs Mark aussaugt —"

"Kurz, mein Freund," fuhr der Alte fort, "es kann nicht so fortgeben. Nach und nach kann es nicht besser werden; denn schon jetzt sitzen bei uns in der Landschaft fünf Schurken, die nicht einmal der Gottseibeiuns für sich repräsentieren ließe; alle Ämter sind verkauft oder für Süßsche Kreaturen käuflich; also kann es nur schlechter werden! Aber es sind zwei Parteien; die da sagen: Es muß anders werden! Die eine Partei ist Süss, der schnöde Jude, der General Römchingen, der feinste von diesen Burschen, Hallwachs, dein neuer Kollege, Metz und noch einige von der Landschaft. Wir wissen, was sie wollen, und es ist nichts Geringeres, als die Stände und den Landtag völlig aufzuheben."

"Und, Gott sei's geklagt," sagte Herr von Röder, "den Herzog haben sie von seiner edelmütigen Seite gepackt, er ist alles zufrieden. Das Land sei aufgebracht über die Stände, sagen sie ihm, man murre über die Landschaft, und nun hat er sich entschlossen, das Institut wie ein Korps Invaliden aufzulösen, dem Lande die jährlichen Kosten der Stände edelmütig zu schenken und allein zu regieren."

"Wie? Verstehe ich recht?" rief der junge Lanbek. "Also unsern letzten Schutz gegen den übeln Willen oder gegen die unrichtige Ansicht eines Herrn will man uns rauben? Auf die Verfassung ist es abgesehen? Doch das ist nicht möglich; Alexander hat sie ja beschworen! Und mit welchen Mitteln will er dies wagen? Meinen Sie wirklich, Herr Obrist, der württembergische Soldat werde seine eigenen Rechte unterdrücken?"

"Hier sind die Hunde," erwiderte der Obrist, indem er auf den Brief zeigte, "die man bei diesem Treibjagen hetzen will."

"Nur ruhig," sprach der Landschaftskonsulent, "höre mich ganz ! Der Herzog ist aufs abscheulichste getäuscht; er glaubt fest, daß es ihm nur ein Wort koste, so werden die Stände nicht mehr sein. und alle



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herzen werden ihm zufliegen. So haben es der Jude und Römchingen ihm vorgeschwatzt: aber sie kennen uns besser und wissen, daß Gewalt zu einem solchen Schritt gehört. Hier ist ein Brief an den Erzbischof von Würzburg, den der General Römchingen geschrieben: Man wolle zum Besten des Landes einige Änderungen vornehmen man könne sich aber auf die Truppen im Lande nicht verlassen, daher solle der Bischof bewirken, daß die Truppen des fränkischen Kreises an einem bestimmten Tag an unserer Grenze seien. Auch an einige Reichsstände in Oberschwaben hat er ähnliche Schreiben erlassen."

"Und im Namen des Herzogs?" fragte der junge Mann.

"Nein, sie lassen ihn nur so durchblicken; aber eine andere Lockspeise haben sie dem Bischof hingeworfen; man sagt nicht umsonst, dah unser alter Reformator Brenz seit einigen Nächten aus seinem Grab aufstehe und die Kanzel besteige — katholisch wollen sie uns machen. Du Staunst: Du willst nicht glauben? Auch ich glaube, daß sie es nicht aus Religiosität tun wollen, sondern entweder soll es den Bischof und die Oberschwaben enger für die Sache verbinden, oder meinen sie, dem Herzog gefällig zu sein, wenn sie in vierundzwanzig Stunden den Glauben reformieren, wie sie das alte Recht reformieren wollen."

"Es kann, es darf nicht sein!" rief der junge Mann. "Die Grundpfeiler unseres Glückes und unserer Zufriedenheit mit einem Schlag umstürzen? Es ist nicht möglich, der Herzog kann es nicht dulden."

"Er weiß und denkt nicht, daß sie dies alles vorhaben," sagte der Obrist; "sein Ruhm ist ihm zu teuer, als daß er ihn auf diese Weise beflecken möchte; aber wenn es geschehen ist, ohne daß die Schuld auf ihn fällt, dann, fürchte ich, wird er das Alte nicht wiederherstellen. Zu welchem Zweck, glaubt Ihr denn, habe der Jude dem Herzog das Edikt von gestern abgeschwatzt, worin er für Vergangenheit und Zukunft von aller Verantwortlichkeit freigesprochen wird ? Das soll ihn schützen in dem kaum denkbaren Fall, wenn der Herzog über die treuen und ergebenen Herren Räte erbost würde, die ihm die unumschränkte Macht zu Füssen legen und in der Stiftskirche einen Krummstab aufpflanzen."

"Und gegen diese wollt ihr kämpfen?" fragte Gustav besorgt und zweifelhaft.

"Kämpfen oder zusammen untergehen," sprach der Alte. "Wer mit uns verbunden ist, musst du jetzt nicht wissen, es genügt dir, zu erfahren, daß es die Trefflichsten des Adels und die Wackersten der Bürger sind. Wir wollten den Kaiser um Schutz anflehen; aber die Umstände sind ungünstig, die Zeit ist zu kurz, um durch alle Umwege zu ihm zu gelangen, und überdies hat der Herzog einen gewaltigen



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Stein im Brett seit den letzten Kriegen; man würde uns abweisen. Uns bleibt nichts übrig als —"

"Wir müssen," rief der Obrist Muti und entschlossen, "das Prävenire müssen wir spielen; Sankt Joseph, den neunzehnten ?mir z, haben sie sich zum Sial gesteckt; aber einige Tage zuvor müssen wir die Feinde de:, Landes gefangen nehmen, die treuen Truppen nach Stuttgart ziehen, das Landvolk zu unserer Hilfe aufrufen und, wenn es gelungen ist, dem Herzog von neuem huldigen und ihm zeigen, an welchem furchtbaren Abgrund er und wir gestanden. Und dann — er ist ein tapferer Soldat und ein Mann von Ehre, Daun wird er erröten vor der Schande, zu welcher ihn jene Elenden verführen wollten."

"Aber der Herzog," fragte der junge Mann, " wo soll er sein und bleiben, während ihr diese furchtbare Gegenmine auffliegen lasset "

Das ist es ja gerade, was uns zur Eile zwingt," erwiderte der Obrist; "sie haben ihn überredet, im nächsten Monate die Festungen Kehl und Philippsburg zu bereisen, und hinter seinem Rucken wollen sie reformieren. Den eliten will er abreisen; schon sind die Adjutanten ernannt, die ihn begleiten sollen, und, wenn ich es (gan darf, mit solchem Gepränge und so viel und laut wird von dieser Reise gesprochen, daß ich fürchte, die ganze Fahrt ist nur Maske, und der Herzog wird nicht über die Grenze gehen."

"Du kennst jetzt unsere Pläne," sprach der alte Herr zu seinem Sohn, "sei klug und vorsichtig! Ein Wort zuviel kann alle:. verraten Darum. wie unter uns gebräuchlich ist, lege deine Sand in die deines Vater; und dieses tapfern Mannes und schwöre uns, zu schweigen!"

"Ich schwöre," sagte Lanbek mit fester Stimme, aber bleich und mit starrem Auge; und sein Vater und der Obrist zogen ihn an ihre Brust und begrüssten ihn als einen der Ihrigen,

9.

Ein drückender, trüber Nebel lag über Stuttgart und gab den Bergen umher und der Stadt ein trauriges, ödes Ansehen; geradeso lag auch ein trüber, ängstlicher Ernst auf den Gesichtern. die man auf den Straßen sah, und es war, als hätte ein Unglück, das man nicht vergessen konnte, oder ein neuer Schlag, den man fürchtete, alle Herzen wie die sonst so lieblichen Berge umflort und in Trauer gehüllt. Am Abend eines solchen Tages schlich der junge Lanbek durch die feuchten Gänge des Gartens. Sein Gesicht war bleich, sein Auge trübe, sein Mund heftig zusammengepreßt, seine hohe



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Gestalt trug er nicht mehr so leicht und aufgerichtet wie zuvor, und es schien, als sei er in den letzten acht Tagen um ebenso viele Jahre älter geworden. Was, er vorausgesehen hatte, war eingetroffen; niemand, der die Lanbeks auch nur dem Rufe nach kannte, konnte die schnelle Erhebung de:, jungen Mannes begreifen oder rechtfertigen. Die Günstlinge und Kreaturen des mächtigen Juden traten ihm mit jener lästigen Traulichkeit, mit jener rohen Freude entgegen, wie etwa Diebe und falsche Spieler einem neuen Genossen ihrer Schlechtigkeit beweisen, und des jungen Lanbeks Gefühl bei solchen neuen werten Bekanntschaften läßt sich am besten mit den unangenehmen und wehmütigen Empfindungen eines Mannes vergleichen, den das Unglück in einen Kerker mit dein Auswurf der Menschen warf und der sich von Räubern und gemeinen Weibern als ihresgleichen begrüßen lassen muss. Die gnädigen Blicke, die ihm der Minister hin und wieder öffentlich, beinahe zum Hohn, zuwarf, bezeichneten ihn als einen neuen Günstling. Jetzt erst sah er, wie viele gute Menschen ihm sonst wohlgewollt hatten; denn so manches bekannte Gesicht, das sonst dein Sohne des alten Lanbek einen guten Tag" zugelächelt hatte, erschien jetzt finster, und selbst wackere Bürgersleute und jene biederen, ehrlichen Weingartner, die sich bei ihm und dem Alten so oft Nat:, erholt hatten, wandten jetzt die Augen ab und gingen vorüber, ohne den Hut zu rücken.

Der Gedanke an Lea erhöhte noch sein Unglück. Er wußte genau, wie unglücklich sein alter Vater, er selbst und die Seinigen werden könnten, wenn der verzweifelte Schlag, den sie führen wollten, mißlang; und doch, so groß der Frevel war, den jener fürchterliche Mann auf sich geladen hatte, dennoch graute ihm, wenn er sich die Folgen überlegte, die sein Sturz nach sich ziehen würde. Was sollte an: der armen Lea werden, wenn der Bruder vielleicht Monate lang gefangen saß? Konnte der Herzog, ein so strenger Herr, Vergehungen und Pläne, wie die des Juden, vergeben, selbst wenn er ihm durch jenes Edikt Straflosigkeit zugesichert hatte?

Und dann durchzuckte ihn wieder die Erinnerung an jene schreckliche Drohung, die Süss gegen ihn ausgestoßen, als er das Verhältnis des jungen Mannes zu seiner Schwester berührte. Alle Angst vor seinem alten Vater, vor der Schande, die eine solche Verbindung, wenn sie auch nur besprochen würde, brächte, kam über ihn. Es gab Augenblicke, wo er seine Torheit, mit der schönen Jüdin auch nur ein Wort gewechselt zu haben, verwünschte, wo er entschlossen war, den Garten zu verlassen, sie nie wiederzusehen, seinem Vater alles zu sagen, ehe es zu spät wäre; aber wenn er sich dann das schöne Oval ihres Hauptes, die reinen, unschuldigen und doch so interessanten Züge und jenes Auge dachte, das so gerne und mit so unnennbarem



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Ausdruck auf seinen eigenen Zügen ruhte, da war es, ich weiß nicht, ob Eitelkeit, Torheit, Liebe oder gar der Einfluß jenes wunderbaren Zaubers, der sich aus Rahel: Tagen unter den Töchter Israels erhalten haben soll — es zog ihn ein unwiderstehliches Etwas nach jener Seite hin, wo ihn, seit die Dämmerung des ersten Märzabends finsterer geworden war, die schöne Lea erwartete.

"Endlich, endlich!" sagte Lea mit Tränen, indem sie ihre weiße Hand durch die Staketen bot, welche die beiden Gärten trennten. Wenn nicht der Frühling indes hätte kommen müssen, wahrhaftig, ich hätte gedacht, es sei schon ein Vierteljahr vorüber. Ich bin recht ungehalten; wozu denn auch in den Garten gehen bei dieser schlimmen Jahreszeit, wenn Ihr frei und offen durch die Haustüre kommen dürfte Wisset nur, Herr Nachbar, ich bin sehr unzufrieden."

"Lea," erwiderte er, indem er die schöne Hand an seine Lippen zog, "verkenne mich nicht, Mädchen! Ich konnte wahrhaftig nicht kommen, Kind! Zu dir durfte ich nicht kommen, und in die Zirkel deines Bruders gehe ich nicht; und wenn ich wüßte, daß du ein einziges Mal da warst, würde ich dich nicht mehr sprechen." Trotz der Dunkelheit glaubte der junge Mann dennoch eine hohe Nöte auf Seas Wangen aufsteigen zu sehen. Er sah sie zweifelhaft an; sie sil) lug die Augen nieder und antwortete: "Du hast recht, ich darf nicht in die Zirkel meines Bruder:, gehen."

"So bist du da gewesen? Ja, du bist dort gewesen!" rief Lanbek unmutig. "Gestehe nur, ich kann jetzt doch schon alles in deinen Augen lesen."

"Höre mich an," erwiderte sie, indem sie bewegt seine Hand drückte, "die Amme hat dir gesagt, was nach dem Karneval vorging, und wie ich ihn bat und flehte, dich frei zu lassen. Seit jener Zeit hat sich sein Betragen ganz geändert; er ist freundlicher, behandelt mich, wie wenn ich auf einmal um fünf Jahre älter geworden wäre, und läßt mich zuweilen sogar mit sich ausfahren. Vor einigen Tagen befahl er mir, mich so schön als möglich anzukleiden, legte mir ein schönes Halsband in die Hand, und abends führte er mich die Treppe herab in seine eigenen Zimmer. Da waren nur wenige, die ich kannte; die meisten Herren und Damen waren mir fremd. Man spielte und tanzte, und von Anfang gefiel es mir sehr wohl, nachher freilich nicht, denn —

"Denn?" fragte Lanbek gespannt.

"Kurz, es gefiel mir nicht, und ich werde nicht mehr hingehen."

"Ich wollte, du wärest nie dort gewesen," sagte der junge Mann.

"Ach, konnte ich denn wissen, daß die Gesellschaft nicht für mich passen würde?" erwiderte Lea traurig. "Und überdies sagte mein



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Bruder ausdrücklich, es werde meinen Herrn Bräutigam freuen, wenn ich auch unter die Leute komme."

"Wen hat er gesagt, w en werde es freuen?" rief Lanbek.

"Nun dich," antwortete Lea "überhaupt, Lanbek, ich weiß gar nicht, wie ich dich verstehen soll; du bist so kalt, so gespannt; gerade jetzt, da wir offen und ohne Hindernis reden können, bist du so ängstlich, beinahe stumm; statt ins Haus zu uns zu kommen, bestellst du mich heimlich in den Garten, ich weiß doch nicht, vor wem man sich so sehr zu fürchten hat, wenn man einmal in einem solchen Verhältnis stehts"

"In welchem Verhältnis?" fragte Lanbek.

"Nun, wie fragst du doch wieder so sonderbar! Du hast bei meinem Bruder um mich angehalten, und er sagte dir zu, im Fall ich wollte und der Herzog durch ein Reskript das Hindernis wegen der Religion zwischen uns aufhöbe. Ich bin nur froh, daß du nicht Katholik bist, da wäre es nicht möglich; aber ihr Protestanten habt ja kein kirchliches Oberhaupt und seid doch eigentlich so gut Ketzer wie wir Juden."

"Lea! Um Gottes willen, frevle nicht!" rief der junge Mann mit Entsetzen. "Wer hat dir diese Dinge gesagte O Gott, wie soll ich dir diesen furchtbaren Irrtum benehmens"

"Ach, geh doch!" erwiderte Lea. "Daß ich es wagte, mein verhaßtes Volk neben euch zu stellen, bringt dich auf. Aber sei nicht bange; mein Bruder, sagen die Leute, kann alles, er wird uns gewiß helfen; denn was er sagt, ist dem Herzog recht. Doch eine Bitte habe ich, Gustav: Willst du mich nicht bei den Deinigen einführen? Du hast zwei liebenswürdige Schwestern, ich habe sie schon einigemal vom Fenster aus gesehen; wie freut es mich, einst so nahe mit ihnen verbunden zu sein! Bitte, laß mich sie kennen lernen."

Der unglückliche junge Mann war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern; seine Gedanken, sein Herz wollten stille stehen. Er blickte wie einer, der durch einen plötzlichen Schrecken aller Sinne beraubt ist, mit weiten, trockenen Augen nach dem Mädchen hin, das, wenn auch nicht in diesem Augenblick, doch bald vielleicht noch unglücklicher werden mußte als er und das jetzt lächelnd, träumend, sorglos wie ein Kind an einem furchtbaren Abgrund sich Blumen zu seinem Kranze pflückte.

"Was fehlt dir, Gustav?" sprach sie ängstlich, als er noch immer schwieg. "Deine Hand zittert in der meinigen; bist du krank? Du bist so verändert." Doch — noch ehe er antworten konnte, sprach eine tiefe Stimme neben Lea: "Sou soir, Herr Expeditionsrat; Sie unterhalten sich hier im Dunkeln mit Dero Braut? Es ist ein kühler Abend;



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warum spazieren Sie nicht lieber herauf ins warme Zimmer? Sie wissen ja, daß mein Haus Ihnen jederzeit offen steht."

"Mit wem sprichst du hier, Gustav?" sagte der alte Lanbek, der beinahe in demselben Augenblick herantrat. "Deine Schwestern behaupten, du unterhaltest dich hier unten mit einem Frauenzimmer.

Es ist der Minister," antwortete Gustav beinahe atemlos.

Gehorsamer Diener," sprach der Alte trocken; "ich habe zwar nicht da:, Vergnügen, Ew. Exzellenz zu sehen in dieser Dunkelheit; aber ich nehme Gelegenheit, meinen gehorsamsten Dank von wegen der Erhebung meines Sohnes abzustatten; bin auch sehr scharmiert, daß Sie so treue Nachbarschaft mit meinem Gustav halten."

"Man irrt sich," erwiderte Süß, heiser lachend, " wenn man glaubt, ich bemühe mich, mit dem Herrn Sohn im Dunkeln über den Zaun herüber zu parlieren ich kam nur, um meine Schwester abzuholen, weil es etwas kühles Wetter ist und die Nachtluft ihr schaden könnte."

"Mit Ihrer Schwestern" sagte der Alte streng. "Bursche, wie soll ich das verstehens Sprich"

"Echauffieren sich doch der Herr Landschaftskonsulent nicht so sehr!" erwiderte der Jude. "Jugend hat nicht Tugend, und er macht ja nur meiner Lea in allen Ehren die Cour."

Schandbube!" rief der alte Mann, indem er seine Hand um den !Lun seine:, Sohnes schlang und ihn hinwegzog. "Geh auf dein Simmer, ich will ein Wort mit dir sprechen; und Sie , Jungfer Süßin, daß Sie sich nimmer einfallen läßt, mit dem Sohn eines ehrlichen Christen, mit in einem Sohn, ein Wort zu sprechen! Und wäre Ihr Bruder König von Jerusalem, es würde meinem Hause dennoch keine Ehre sein." Mit schwankenden, unsichern Schritten führte er seinen Sohn hinweg. Lea weinte laut; aber der Minister lachte höhnisch. ".l ( d'honneur!" rief er, "das war eine schöne Szene; vergessen Sie übrigens nicht, Herr Expeditionsrat. daß Sie nur noch vierzehn Tage Frist zu Ihrer Werbung haben! Bis dahin und von dort an werde ich mein Wort halten."

10.

Die an Furcht grenzende Achtung des jungen Lanbek hieß ihn geduldig und ohne Murren dem Vater folgen, und langjährige Erfahrungen über den Charakter des Alten verboten ihm in diesen Augenblick, wo der Schein so auffallend gegen ihn war, sich zu entschuldigen Der Landschaftskonsulent warf sich in seinem Zimmer



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in einen Armsessel und verhüllte sein Gesicht. Besorgt und ängstlich stand Gustav neben ihm und wagte nicht zu reden; aber die beiden schönen Schwestern des jungen Mannes flogen herbei, als sie die Schwäche des Vaters sahen, fragten zärtlich, was ihm fehle, suchten seine Hände vom Gesicht herabzuziehen und benetzten sie mit ihren Tränen. — "Das ist der Bube," rief er nach einiger Zeit, indem sein Zorn über seine körperliche Schwäche siegte; "der ist es, der das Haus eures Vaters, unsern alten guten Namen, euch, ihr unschuldigen Kinder, mit Elend, Schmach und Schande bedeckte; der Judas, der Vatermörder — denn heute hat er den Nagel in meinen Sarg geschlagen ."

"Vater! Um Gottes willen! Gustav! riefen die Mädchen bebend, indem sie ihren bleichen Bruder scheu anblickten und sich an den alten Lanbek schmiegten,

"Ich weiß, sagte der unglückliche junge Mann, "ich weiß, daß der Schein gegen mich —"

"Willst du schweigen!" fuhr der Konsulent mit glühenden Augen und einer drohenden Geberde auf. "Schein? Meinst du, du könntest meine alten Augen auch wieder blenden wie damals nach dem Karneval? Nicht wahr, es wäre weit bequemer, wenn sich diese beiden Augen schon ganz geschlossen, wenn sie den alten Lanbek so tief verscharrt hätten, daß keine Kunde von der Schande seines Namens mehr zu ihm dringt. Aber verrechnet hast du dich, Elender! Enterben will ich dich; hier stehen meine lieben Kinder, du aber sollst ausgestoßen sein, meines ehrlichen Namens beraubt, verflucht —"

"Vater!" riefen seine drei Kinder mit einer Stimme; die Töchter stürzten sich auf ihn, und zum erstenmal wagte es Hedwig, ihre Lippen auf die geheiligten Lippen des Vaters zu legen, indem sie ihm den zum Fluch geöffneten Mund mit Kissen verschloß. Die jüngere hatte sich unwillkürlich vor Gustav gestellt, seine Hand ergriffen , als wolle sie ihn verteidigen; der junge Mann aber riß sich kräftig los; nie so als in diesem Augenblick glich sein Gesicht, sein drohendes Auge den Zügen seines Vaters, und die beengte Brust Weit vorwerfend, sprach er: "Ich habe alles ertragen, was möglicherweise ein Sohn von seinem Vater ertragen darf; ich habe aber noch andere Pflichten. Meine eigene Ehre muß ich wahren, und wäre es mein eigener Vater, der sie antastet. Es hätte Ihnen genügen können, wenn ich bei allem, was mir heilig ist, versichere, daß ich nicht das bin, wofür Sie mis) halten. Wenn Sie keinen Glauben mehr an mich haben, wenn Sie mich aufgeben, dann bleibt nichts mehr übrig. Lebet wohl —ich will euch nur noch eine Schande machen."

"Du bleibst!" rief ihm der Alte mehr ängstlich und bebend als befehlend nach. "Meinst du, die:. sei der Weg, einen getränkten Vater



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zu versöhnen? Hast du so sehr Eile, mir voranzugehen und einen Weg einzuschlagen, wo ich dich nie mehr träfe? Denn ich habe redlich und nach meinem Gewissen gelebt; dich aber und deine Absicht verstand ich wohl!"

"Aber Vater!" sprach seine jüngste Tochter mit sanfter Stimme, wir hatten ja alle Gustav immer so lieb, und Sie selbst sagten so oft, wie tüchtig er sei; was kann er denn so Schreckliches verbrochen haben, daß Sie so hart mit ihm verfahrens"

"Das verstehst du nicht, oder ja, du kannst es verstehen, des Juden Schwester liebt er, und mit ihr und seinem Herrn Schwager Süß hat er sich am Gartenzaun unterhalten. Jetzt sprich! Kannst du dich entschuldigend O ich Tor, der ich mir einbildete, man habe ihn, um mir eine Falle zu legen, erhoben und angestellt! Seine jüdische Scharmante hat ihn zum Expeditionsrat gemacht!"

"Der Vater will mich nicht verstehen," sprach der junge Mann mit Tränen in den Augen, "darum will ich zu euch sprechen. Euch lieben Schwestern will ich redlich erzählen, wie die Umstände sich verhalten, und ich glaube nicht, daß ihr mich verdammen werdet." Die Mädchen setzten sich traurig nieder, der Alte stützte seine gefurchte Stirne auf die Hand und horchte aufmerksam zu. Gustav erzählte, anfangs errötend und dann oft von Wehmut unterbrochen, wie er Lea kennen gelernt habe, wie gut und kindlich sie gewesen sei, wie gerne sie mit ihm gesprochen habe, weil sie sonst niemand hatte, mit dem sie sprechen konnte. Er wiederholte dann das Gespräch mit dem jüdischen Minister und dessen arglistige Anträge; er versicherte, daß er nie dem Gedanken an eine Verbindung mit Lea Raum gegeben habe und daß er diesen Abend dem Minister es selbst gesagt haben würde, wäre nicht der Vater so plötzlich dazwischen gekommen.

"Du hast sehr gefehlt, Gustav," sagte Hedwig, seine ältere Schwester, ein ruhiges und vernünftiges Mädchen. "Da du nie, auch nur entfernt, an eine Verbindung mit diesem Mädchen denken konntest, so war es deine Pflicht redlicher Mann, dich gar nicht mit ihr einzulassen. Auch darin hast du sehr gefehlt, daß du nicht gleich damals schon deinem Vater alles anvertraut hast; aber so hast du jetzt deine ganze Familie unglücklich und zum Gespött der Leute gemacht; denn meinst du, der Süß werde nicht halten, was er gedroht? Ach, er wird sich an Papa, an dir, an uns allen rächen."

"Geh, bitte den Vater um Verzeihung!" sprach das schöne Käthchen weinend. "Du mußt ihm nicht noch Vorwürfe machen, Hedwig: er ist unglücklich genug. Komm, Gustav," fuhr sie fort, indem sie seine Hand ergriff und ihn zu dem Vater führte, "bitte, daß er dir vergibt; ja, wir werden recht unglücklich werden. der böse



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Mann wird uns verderben, wie er das Land verdorben hat; aber dann lasset doch wenigstens Frieden unter uns sein. Wenn wir uns nur noch haben, so haben wir viel, wenn er uns alles übrige nimmt."

Der Alte blickte seinen Sohn lange, doch nicht unwillig an. "Du hast gehandelt wie ein eitler junger Mensch, und die Aufmerksamkeit, die dir diese Jüdin schenkte, hat dich verblendet. Du hast, ich fühle es für dich, vielleicht schon seit geraumer Zeit, gewiß aber diesen Abend dafür gebüßt. Katharine hat recht; ich will dir nicht länger grollen; wir müssen uns jetzt gegen einen furchtbaren Feind waffnen. Glaubst du, daß er Wort hatten wird mit den vierzehn Tagen Frist, die er dir nachrief?"

"Ich glaube und hoffe es," antwortete der junge Mann.

"Um jene Zeit muß sich mehr entscheiden als nur das Schicksal unseres Hauses," fuhr der Alte fort; "Römchingen und Süß — oder wir; wer verliert, bezahlt die Zeche. Jetzt gelobe mir aber, Gustav, die Jüdin nie mehr, weder im Garten, noch sonstwo, aufzusuchen , und unter dieser Bedingung will ich deine Torheit verzeihen."

Gustav versprach es mit bebenden Lippen und verließ dann das Zimmer, um seine Bewegung zu verbergen. Noch lange und mit unendlicher Wehmut dachte er dort über das unglückliche Geschöpf nach, dessen Herz ihm gehörte und das er nicht lieben durfte. Er teilte zwar alle strengen religiösen Ansichten seiner Zeit; aber er schauderte über dem Fluch, der einen heimatlosen Menschenstamm bis ins tausendste Glied verfolgte und jeden mit ins Verderben zu ziehen schien, der sich auch den Edelsten unter ihnen auf die natürlichste Weise näherte. Erfand zwar keine Entschuldigung für sich und seine verbotene Neigung zu einem Mädchen, das nicht auch seinen Glauben teilte; aber er gewann einigen Trost, indem er sein eigenes Schicksal einer höheren Fügung unterordnete.

Sein Vater und die Schwestern unterhielten sich noch lange über ihn und diese Vorfälle, und die Erinnerung an so manche schöne Tugend des jungen Mannes versöhnte nach und nach den Alten, so daß er selbst das Geheimhalten jener Vorschläge des Ministers einigermaßen entschuldigte. Als aber spät abends die beiden Schwestern allein waren, sagte Käthchen: "Wahr ist es doch, Gustav hat zwar gefehlt; aber an seiner Stelle hätte jeder andere auch gefehlt. Ich habe sie einmal am Fenster und einmal im Garten gesehen; so schön und anmutig sah ich in meinem ganzen Leben nichts. Was sind alle Gesichter in Stuttgart, was ist selbst die schöne Marie, von der man so viel Wunder macht, gegen dieses herrliche Gesicht! Nein, hedwig, ich hätte mich ganz in sie verlieben können."



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"Wie magst du nur so töricht schwatzen!" erwiderte Hedwig unwillig. "Mag sie sein, wie sie will, sie ist und bleibt doch nur eins Jüdin."

11.

Nicht die unglückliche Liebe ihres Bruders allein war es, was in den folgenden Tagen die schönen Töchter des Landschaftskonsulenten Lanbek ängstigte; nein, es war das sonderbare und drückende Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn zu herrschen schien, was die vier schönen blauen Augen im stillen so manche Träne kostete. Man konnte nicht sagen, daß sie sich finster angeblickt, mürrisch gefragt oder kalt geantwortet hätten; aber dennoch sah man ihnen beiden an, daß Gram und Sorgen sie beschäftigten, und die Mädchen wurden immer wieder in ihren Vermutungen über den Grund dieses Grämens irregeleitet , wenn sie zuweilen den alten Mann und seinen Sohn in einer Fensternische beisammen stehen und zutraulicher, aber auch ernster als je zusammen flüstern sahen. Endlich wurden sie sogar für drei Abende in der Woche förmlich aus dem großen Familienzimmer, das winters allen zum Aufenthalt diente, verwiesen, und, was ihres Wissens nie geschehen war, Papas kleines Bibliothekzimmer wurde ihnen für solche Abende besonders geheizt und ihnen die Erlaubnis gegeben, sich an den trefflichen Juristen und Philosophen zu amüsieren .

Freilich bedachten bei solchem Exil weder Vater noch Sohn, daß man von der Bibliothek im obern Stock in das Studierzimmer, von diesem in das Gastzimmer und von dem Gastzimmer in die sogenannte Rumpelkammer kommen könne, von welcher eine viereckige Öffnung, mit einem kleinen Deckel versehen, in das Wohnzimmer hinabging, um Luft und Wärme in dieses Gemach zu leiten: sie bedachten auch nicht, daß weibliche Neugierde wohl noch stärkere Schranken durchbrochen haben würde als diese, die zwischen jener Kammer und der Bibliothek lagen. Einige Abende hatte übrigens doch ein noch mächtigeres Gefühl als Neugierde die Mädchen in der Bibliothek zurückgehalten, nämlich Furcht. Hedwig behauptete, schon öfters oben in jener Kammer Fußtritte und ein schreckliches Stöhnen gehört zu haben, und dem schönen Käthchen graute, dort hinzugehen, weil jenes Gemach nur eine dünne Wand aus Holz und Backsteinen von den Zimmern des gefürchteten Juden Süß trennte.

Eines Abends jedoch, als man die Mädchen schon längst weggeschickt hatte, sah Käthchen, die sich bis auf die Mitte der Treppe hinabgeschlichen hatte, drei Männer bei ihrem Vater eintreten, die



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ihre Neugierde aufs höchste trieben. Der erste, der sich langsam und schnaubend die untere Treppe heraufschob und auf dem Hausflur einige Minuten stehen blieb, um Atem zu sammeln, war niemand geringeres als der lutherische Prälat Klinger. Seine schneeweiße Perücke, seine Prälatenkette, die gerade auf dem Magen ruhte, und seine alten, verwitterten Züge flößten dem Mädchen ungemeine Ehrfurcht ein; ihm folgte hastigen Schrittes der Obrist und Stallmeister von Röder, ein Mann, den man für sehr klug und tapfer, aber zugleich auch in seinen Sitten für sehr unheilig hielt, und über den dritten hätte sie beinahe laut aufgelacht; war der fröhliche Kapitän Reelzingen, der so drollige Geschichten und Schnurren zu erzählen wußte und sie schon auf manchem Ball beinahe zum Lachen gebracht hatte. Heute hatte er sein Gesicht in ganz ehrbare Falten gelegt und sah gerade aus wie damals, als er ihr auf Parole d'honneur schwur, daß er sie vraiment liebe. Sie sah ihm lächelnd nach, bis sein ungeheurer Degen in der Türe verschwunden war, und eilte dann in das Bibliothekzimmer, wo sie die blonde Hedwig traf, welche die Augen fest zugeschlossen hatte, um nicht über ein Gespenst zu erschrecken , wenn etwa zufällig eines in der Bibliothek auf und ab wandelte. "Heute müssenwir hinuntergucken!" erklärte Käthchen. "Und komm nur jetzt gleich mit; denke dir, die Leute kommen hier zusammen wie beim Karneval. Hast du je sonst den Prälaten Klinger und den Kapitän Reelzingen in einem Zimmer gesehen? Und dazu den Obrist Röder und —" setzte sie hinzu, als die Schwester zauderte — "ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht, als die Türe einmal aufging, auch Blankenberg gesehen hätte."

Dieser letzte Name entschied; Käthchen nahm das Licht und ging mit pochendem Herzen voran; Hedwig folgte ihr, so nahe als möglich an die mutigere Schwester gedrängt, und als jene die verhängnisvolle Kammertüre aufschloß, hielt sie sich fest an ihrem Kleide. Die Öffnung war gerade über dem Ofen des Wohnzimmers, das einen Stock tiefer lag, angebracht, und Käthchen konnte, als sie die Klappe aufzog, selbst wenn sie sich auf die Knie legte und den Kopf tief herabbeugte, doch nicht mehr als vier oder fünf der versammelten Männer sehen; auch Hedwig beugte sich jetzt herab und versuchte es, noch tiefer zu blicken als ihre Schwester; aber verdrießlich stand sie wieder auf und sagte: "Nichts als den breiten Rücken des Prälaten, einige Perücken und die Uniform des Obristen kann ich sehen; weißt du denn gewiß, daß Blankenberg zugegen ist?"

"Sicher!" erwiderte Käthchen, schalkhaft lächelnd. "Doch laß uns horchen, was sie sprechen! Vielleicht kennst du deinen Liebhaber an der Stimme."

Sie setzten sich auf den Fußboden neben der Öffnung und



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lauschten; die angenehme Wärme, die von dem Ofen heraufdrang, und ihre Neugierde ließen sie eine Zeitlang die empfindliche Kälte der Märznacht vergessen; endlich richtete sich Hedwig unmutig auf, Meinst du, wir werden klug werden aus diesem Geplauder, wovon man nur die Hälfte versteht? Sie schwatzen wieder, wie immer, vom Wohl des Landes, vom Herzog, von Süß, von allem; was geht das uns an! Komm! Es ist gar schaurig hier und kalt. Mädchen, so steh doch auf!"

Aber Käthchen winkte ihr zu schweigen; man hörte jetzt eben den Obrist Röder mit bestimmter und vernehmlicher Stimme etwas vorlesen; die tiefe Stille umher unterbrach nur zuweilen ein schnell verrauschendes Murmeln des Unwillens. Jetzt sprach der alte Lanbek; Käthchens fröhliche Züge gingen nach und nach in Staunen und Angst über; endlich, als die Männer unten wieder laut, aber beifällig zusammen sprachen und die Gläser anstießen, flog eine hohe Röte über das schöne Gesicht des Mädchens, ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig die Klappe schloß, die Lampe ergriff und mit ihrer Schwester den Rückweg einschlug.

"Hast du was verstanden?" fragte Hedwig. "Du schienst auf einmal so aufmerksam; was haben sie denn Besonderes gesprochen?"

Ich weiß nicht alles, ich kann nicht alles sagen," erwiderte Käthchen nachdenkend; " mir ist's, als hätte mir alles geträumt. Höre — aber schweig! Es könnte uns alle unglücklich machen. Das sind gefährliche Menschen in Vaters Zimmer unten. Mir graut, wenn ich daran denke, was daraus entstehen kann."

"So sprich doch, einfältiges Kind! Ich bin zwei Jahre älter als du, und du sollst keine Geheimnisse vor mir haben.

Denke dir," fuhr Käthchen mit leiser Stimme fort, "der Süß will uns katholisch machen und die Landschaft umstürzen; da verlöre der Vater, und alle anderen verlören ihre Stellen!

"Katholisch!" rief Hedwig mit Entsetzen. "Da müßten wir ja Nonnen werden, wenn wir ledig blieben. Nein, das ist abscheulich!

"Ach, warum nicht gar," erwiderte Käthchen lächelnd über den Jammer ihrer Schwester, "da müßte es viele Nonnen geben, wenn alle, die keine Männer bekommen, ins Kloster gingen; aber sei ruhig, es kommt nicht so weit. In drei Tagen, sagte Röder, werde der Herzog verreisen, und während er in Philippsburg ist, wollen die Männer da unten den Juden und alle seine Gehilfen im Namen der Landschaft gefangen nehmen und dann dem Herzog beweisen, wie schlecht seine Minister waren."

"Ach Gott, ach Gott! Das geht nicht gut," sagte Hedwig weinend. "Alles werden sie verlieren; denn der Herzog traut allen eher als denen von der Landschaft; ich weiß ja, was mir einmal die



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Obristjägermeistenn über den Vater sagte. Du wirst sehen, es geht unglücklich!"

"Und wenn auch, antwortete Käthchen, "so sind wir die Töchter eines Mannes, der, was er tut, zum Besten seines Vaterlandes tut. Das kann uns trösten." Das mutige Mädchen holte aus dem Schranke eine mit vielen schönen Kupfern geschmückte Bibel. Sie gab der weinenden Schwester das Neue Testament, um sich an den Kupfern und Reimsprüchen zu zerstreuen. Sie selbst schlug sich das Alte Testament auf. Sie verbarg ihre eigene Besorgnis um ihren Vater unter einem Liedchen, das sie leise vor sich hinsang, während ihre schönen Finger emsig die vergilbten Blätter von einem Bilde zum andern durcheilten.

12.

Es gibt im Leben einzelner Staaten Momente, wo der aufmerksame Beschauer noch nach einem Jahrhundert sagen wird: Hier, gerade hier mußte eine Krise eintreten; ein oder zwei Jahre nachher wären dieselben Umstände nicht mehr von derselben Wirkung gewesen. Es ist dann dem endlichen Geist nicht mehr möglich, eine solche Fügung der Dinge sich hinwegzudenken und aus der unendlichen Reihe von möglichen Folgen diejenigen aneinander zu knüpfen. die ein ebenso notwendig verkettetes Ganze bilden als ein verflossenes Jahrhundert mit allen seinen historischen Wahrheiten. Hier zeigte sich der Finger Gottes, pflegt man zu sagen, wenn man auf solche wichtige Augenblicke im Leben eines Staates stößt. Es hat aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die, mochte ihr eigener Genius, mochte das Studium der Geschichte sie leiten, solche Momente geahnet, berechnet haben, und sie wirkten dann am überraschendsten, wenn sie sich nicht begnügten, solche Krisen vorhergesehen zu haben, sondern wenn sie Mut genug besaßen, zu rechter Zeit selbst einzuschreiten , Kraft genug, um eine Rolle durchzuführen. Die Geschichte hat längst über die kurze Regierung der Minister Karl Alexanders entschieden. Sie flucht keinem Sterblichen, sonst müßte sie die Tränen und Seufzer Württembergs in schwere Worte gegen die Urheber seines Unglücks im Jahr 1737 verwandeln; aber sie gedenkt mit Liebe einiger Männer, die sich nicht von dem Strome der allgemeinen Verderbnis hinreißen ließen, die ahnten, es müsse anders kommen, die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Änderung der Dinge herbeizuführen, und die auch dann mit Ruhe und Gelassenheit die Sache ihres Landes führten, als ein Höherer es übernommen hatte, einen unerwartet schnellen Wechsel der Dinge herbeizuführen,



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indem er zwei feurige Augen schloß und ein tapferes Herz stille stehen hieß.

Wer sollte es diesem heiteren Stuttgart und seinen friedlichen Straßen ansehen, daß es einst der Schauplatz so drückender Besorgnisse war? Wie beruhigt über den Gang der Dinge sind die Enkel derer, die in jenem verhängnisvollen März jede Stunde für das Schicksal ihrer Familien, für die alten Rechte ihres Landes, selbst für ihren Glauben zittern mußten!

Wer den übermütigen Süß in seiner Karosse, mit sechs Pferden bespannt, durch die "reiche Vorstadt" fahren sah, wie er stolz lächelnd auf die bleichen, feindlichen Gesichter herabblickte, die ihm überall begegneten, wer den schrecklichen Hallwachs, seinen innigen Freund und Ratgeber, neben ihm sah und bedachte, wie viele verderbliche Pläne dieser Mann ersonnen, wie viele unerhörte Monopole er eingeführt habe und wie er immer neue zu erfinden trachte, wer das unbegrenzte Vertrauen kannte, das der Herzog in diese Menschen setzte, der mußte wohl an der Möglichkeit der Rettung verzweifeln.

Dazu kamen noch die sonderbaren und widersprechenden Gerüchte, die im Umlauf waren. Die einen sagten, der Herzog sei nach Philippsburg und Kehl gereist, habe aber das Regiment nicht an den Geheimen Rat, sondern das Siegel dem Juden Süß gegeben; andere widersprachen und behaupteten, man habe den Herzog an einem Fenster des Ludwigsburger Schlosses gesehen, auch seien seine Pferde noch dort, und er sei nicht abgereist. In einem Dorf an der österreichischen Grenze im Oberland sollen die Katholiken plötzlich über die protestantischen Einwohner hergefallen sein, und als letztere den Kampfplatz behaupteten, sei eine Kompagnie Kreistruppen über die Grenze herein ins Dorf gerückt. Am sonderbarsten klang das Gerücht, das sich überdies noch bestätigte, der Oberfinanzrat Hallwachs habe ein kostbares Meßgewand beim Hofsticker bestellt und ihm befohlen, es bis zum achtzehnten März fertig zu machen, und wenn er mit fünfzig Gesellen arbeiten müßte; bring' er es nicht fertig, so werde er eingesetzt. Ein lutherischer Geistlicher, den man mit Namen nannte, soll den Kindern in der Schule Kreuzchen, aus Holz geschnitzt, geschenkt haben mit den Worten: "Nur wenn ihr diese in Händen haltet, könnet ihr recht beten." Endlich erzählte man sich als etwas Verbürgtes, der Jude habe zum Herzog über der Tafel gesagt: "Ihre Stände, Durchlaucht, sind eigentliche Widerstände; aber sie stehen schon so lange, daß sie müde und matt sind." Karl Alexander habe ihm lächelnd zur Antwort gegeben: " C'est vrai ; allons Sone leur donner des chaises, une fois assis. 113 rio leveront gma." Such jene Männer, die entschlossen waren, dem drohenden Verderben zuvorzukommen, hörten diese Gerüchte. Aber sie waren dabei kalt



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und ruhig; wußten sie ja doch, Württemberg stehe eine solche Veränderung bevor, daß es entweder erleichtert oder so tief ins Unglück gestürzt werden würde, daß der Jammer des einzelnen davor verstummen müßte. Man erzählt sich, sie haben alles, was dazu gehört, einem mächtigen und bösartigen Feind mit Hilfe des Landvolks zu begegnen, vorbereitet gehabt, und wenn ihr Unternehmen gelingen sollte, so verdankten sie es nur den wenigen hellstrahlenden Namen einiger Männer aus der Landschaft; denn an diese war man in Württemberg gewöhnt, das Interesse des Landes zu ketten.

Es war spät abends den elften März, als der Landschaftskonsulent Lanbek mit seinem Sohne und dem Kapitän Reelzingen in seiner Wohnstube beim Wein saß. Die beiden Lanbek waren ernst und düster; der Kapitän aber konnte auch jetzt seinen fröhlichen Lebensmut nicht verbergen; denn er teilte seine Aufmerksamkeit und sein Gespräch zwischen der Fensternische, wo die beiden Schwestern Gustavs saßen, und zwischen den beiden Männern an seiner Seite. Hedwig sah bleich und still vor sich hin auf ihre Nadeln; aber auf Käthchens Gesichtchen lag eine höhere Röte als gewöhnlich, und alle Augenblicke zeigte sie die weißen Zähne und die schönen Grübchen in ihren Wangen; denn der Kapitän wußte wieder wunderschöne Späße und Geschichten.

"Wie ist Euer Pferd, Kapitän?" fragte der alte Lanbek.

"Mein Fuchs ist ein besserer Infanterist als ich selbst," erwiderte er. "Wenn ich die sechs ersten Stunden Trab und bergauf Schritt reite, so kann ich die nächsten sechs bequem Galopp reiten. Er hat nur einen Fehler, den, daß er noch nicht bezahlt ist, und macht mir durch diese Untugend oft großen Jammer.

"Ihr könnt," fuhr der Alte fort, " wenn ihr von der Galgensteige an scharf Trab reitet, zwischen elf und zwölf Ludwigsburg passieren; um vier Uhr müßt ihr in Heilbronn sein, und dort laßt ihr die Pferde ruhen; zwischen acht und zehn Uhr seid ihr morgen in Oehringen."

"Aber, Vater," fiel Gustav ein, " wäre es nicht ratsamer, gegen Heidelberg zu reiten? Ich wollte darauf wetten, wir sind gegen Oehringen hin nicht mehr sicher. Bedenken Sie, daß der Deutschorden dort tief herein sich erstreckt, daß sie in Mergentheim gewiß von dem Bischof in Würzburg unterrichtet sind, daß —

"Daß," fuhr der Vater fort, "ihr auf der Straße nach Heidelberg viel mehr auffallet, und daß ihr, wenn ihr etwa die Gegend nicht mehr rein fändet, eine letzte Zuflucht bei meinem alten Herrn und Gönner, dem Herzog in Neustadt, habt, der euch gewiß in den ersten Tagen nicht herausgibt, Ist dann Karl Alexander zufrieden



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mit dem, was wir hier getan, so könnet ihr immer zurückkehren: wo nicht, so gehet ihr, wie schon gesagt, weiter nach Frankfurt."

"Gott, daß ich euch in einer solchen Krisis zurücklassen soll!" rief Gustav mit Tränen. "Daß ich vielleicht an eurem Unglück schuld bin; daß alles schlecht gehen kann, wenn Süß meine Flucht erfährt und sich an Ihnen, Vater, rächt! Nein, ich kann, ich darf nicht gehen!"

"Nein, Vater," fiel Hedwig ein, indem sie noch bleicher als zuvor herbeieilte und ihres Vaters Hand ergriff, " er darf uns nicht verlassen; o, ihr habt schreckliche Dinge vor, ich weiß es wohl, ihr wollt eine Verschwörung gegen die mächtigen Menschen machen. Lassen Sie ab davon, Vater! Süß und die andern werden Ihnen verzeihen; ach, mich tötet die Angst!

"Geh, Mädchen," sprach Käthchen, die auch herangetreten war; "was Männer tun und was unser Vater tut, geht uns nicht an. Aber warum soll denn gerade jetzt Gustav so schnell hinweg? Er könnte uns allen so nützlich sein."

"Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag," sagte der Alte streng, "darum soll er fort. Weil ich ein Briefchen seiner Scharmanten aufgefangen und mit Protest an den Juden geschickt habe, und weil dieser jetzt wütet und euren Bruder mit Gewalt zum Schwager haben oder auf Neuffen setzen will, darum soll und muß er ihm jetzt aus dem Wege gehen. Doch ich wollte dir in dieser Stunde nicht wehe tun, Gustav; wir scheiden als Freunde, und alles andere soll vergessen sein; wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen!"

Indem der Alte die letzten Worte sprach und seinem Sohn die Hand reichte, wurde schnell und heftig an die Türe gepocht, und ehe noch jemand antwortete, trat plötzlich eine Gestalt, in einen Mantel gehüllt, ein. "Was soll dies?" fuhr der alte Lanbek auf. "Wer drängt sich so bei Nacht in mein Haus? Wer sind Sie?"

"Blankenberg!" rief Hedwig, als jener den Mantel abwarf, und trat schnell und errötend einige Schritte vor.

"Verzeihung, Herr Konsulent," sprach der junge Mann eilend, die Not muss mich entschuldigen. Gustav, du mußt im Augenblick fort; der Leutnant Pinassa schrieb mir soeben, daß er dich auf Befehl des Generals Römchingen heute nacht zwischen elf und zwölf Uhr aufheben müsse. Der ehrliche Junge möchte dich nicht gern im Nest treffen."

"Dank, Dank," erwiderte der Alte, indem er Blankenberg die Hand drückte. "Trinket aus, Kinder, und macht den Abschied schnell; hier, mein lieber Reelzingen," fuhr er fort und drückte dem überraschten Kapitän einen großen Beutel in die Hand; " man kann nicht wissen, ob sich euer Weg nicht teilt. Sie sind so edelmütig, meinen Sohn zu begleiten."



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"Und mit Geld wollen Sie dies lohnen?" unterbrach ihn der Kapitän unmutig. "Parole d'honneur, Herr! ich begleite meinen Bruder, weil wir alte Amizisten sind, und nicht wegen Ihrer Spießen. Da soll mich doch —"

"Reelzingen," sagte Käthchen mit ihrer süßen atimme, "Ihr versteht doch gar keinen Scherz; es sind lauter Kupfermünzen, und ich habe dem Vater den Beutel gegeben, Euch in April zu schicken."

"Ich verstehe," flüsterte der Kapitän, indem er errötend dem schönen Mädchen die Hand küßte. "Ich will Euch dafür etwas Schönes von Frankfurt mitbringen."

"Bringet mir," antwortete sie, indem sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, " nur unsern Gustav wohlbehalten zurück! Und," setzte sie, durch Tränen lächelnd, hinzu, "machet mir keine tollen Streiche, die Euch verraten könnten!"

"Die Pferde sind vor dem Seetor," sprach der Alte zu Reelzingen und seinem Sohn. "Ihr dürft nicht das Tor selbst passieren, denn die erste Runde ist schon vorüber. Begleiten Sie meinen Sohn, Herr von Blankenberg, durch die Gärten und bringen Sie mir Nachricht, wie sie fortgekommen sind."

Der junge Lanbek umarmte Vater und Geschwister, die Schwestern folgten ihm und seinen Freunden weinend bis unter die Gartentüre, und als nachher Hedwig ihre jüngere Schwester bitter tadelte, weil sie erlaubt habe, daß der Kapitän sie auf den Mund küsse, antwortete jene: "Du hast gefehlt, nicht ich, daß du es unterlassen hast; solche Höflichkeit waren wir einem Manne schuldig, der für unsern Bruder so viel tut."

"Ei," erwiderte Hedwig errötend, "Blankenberg hat ihn eigentlich doch auch gerettet."

13.

Die beiden jungen Männer ritten schweigend durch die finstere Nacht hin. Kein Stern war am Himmel, und der Wind heulte um die Berge. "Hu! Siehst du dort?" flüsterte Reelzingen, als sie an dem eisernen Galgen vorbeiritten, den einst (1597) Herzog Friedrich dem Alchimisten Honauer aus dem Metall errichten ließ, das er in Gold zu verwandeln versprochen hatte. "Schau diese ungeheure Menge Raben! Es ist, als witterten sie eine neue Beute."

Sein Freund blickte schweigend hinauf, schlug aber plötzlich wieder die Augen nieder; denn ihm war, als sähe er Leas feine, liebliche Gestalt nagend unter dem Galgen sitzen. "Fest genug ist diese Schandsäule aus Eisen," fuhr der Kapitän fort, " um alle



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Schurken im Lande zu tragen; aber wollte man da:. Gold mit aufhängen , das sie eingesackt haben, würde selbst dieser Galgen wie ein morscher Stab zusammenbrechen! Wie diese Raben schaurige Melodien singen! Doch wie? —Dieu nous garde, camarade! Gib deinem Roß die Sporen! Wahrhaftig, dort sitzt ein Gespenst am Galgen!"

Es war, als ob die Pferde selbst diesen Ort des Schreckens fürchteten; denn auf diesen Ruf jagten sie mit Sturmeseile den Berg hinan und waren nicht mehr ruhig, bis man das Gekreisch der Raben nicht mehr hörte.

Es liegt eine kleine Brücke zwischen Stuttgart und Ludwigsburg, von welcher das Volk viel Schauerliches zu erzählen weiß; so viel ist gewiß, daß schon Unerklärliches dort vorgefallen ist und daß mancher Mann sein Gebet spricht, wenn er nachts allein über diese Stelle reitet. Die Sage sagt, daß der Sohn des Konsulenten und sein Freund, der muntere Kapitän, glücklich und in kurzer Zeit bis an jene Brücke gekommen seien; dort aber seien ihre Pferde nicht mehr von der Stelle gegangen und haben geschnaubt und gezittert. Die jungen Leute spornten und gebrauchten ihre Peitschen, als eine alte, zitternde Stimme rief: "Gebt einem alten Mann doch ein Almosen :

"Wer wird bei Nacht und Nebel den Beutel ziehens Zurück, Alter, von der Brücke weg! Unsere Pferde scheuen vor Euch; zurück, sag' ich, oder Ihr sollt meine Peitsche fühlen!"

"Nicht so rasch, junges Blut! Nicht so rasch!" sagte der Alte, dessen dunkle Gestalt sie jetzt auf dem Brückengeländer sitzen sahen. "Eile mit Weile! Kommet noch früh genug; gebt einem alten Mann ein Almosen"

Jetzt ist meine Geduld zu Ende!" rief der Kapitän und schwang seine Peitsche in der Luft. "Ich zähle drei; wenn du nicht weg bist, hau' ich zu."

Der Alte hüstelte und kicherte; Gustav kam es vor, als wachse seine dunkle Gestalt ins Unendliche, und — ein langer Arm streckte einen großen Hut heran, und zum drittenmal, aber drohend und mit furchtbarer Stimme, krächzte der Mann von der Brücke: "Einem alten Mann gib ein Almosen! Es wird dir Glück bringen; und reite nicht so schnell! Vor zwölf Uhr darfst du nicht dort sein."

Neelzingen ließ kraftlos und zitternd seinen Arm sinken er gestand nachher, daß ihn eine kalte Hand angefaßt habe. Gustav aber zog mit pochendem Herzen die Börse und warf ein Silberstück in den großen Hut. "Wie viel Uhr ist's, Alter ?" fragte er.

"Weiß keine Stund' als zwölf Uhr, sprach die Gestalt, die wieder auf dem Geländer zusammenkauerte, mit dumpfer Stimme. "Dank dir, sollst Glück haben; reit zu!" Er sagte es und stürzte



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rücklings mit einem dumpfen Fall in den Sumpf, über den die Brücke führte. Entsetzt gab Reelzingen seinem Pferde die Sporen, daß es sich hoch aufbäumte und Daun in zwei Sprüngen über die Brücke setzte. Gustav aber hielt erschrocken sein Pferd an, stieg ab und blickte über das Geländer der Brücke. Es rührte sich nichts. "Alter" rief er hinab, "hast du Schaden genommen? Kann ich dir helfen?" — Keine Antwort, und alles war still unten wie im Grabe. Jetzt faßte auch den jungen Laubek eine unerklärliche Angst; er fühlte, als er aufstieg, wie sein Pferd zitterte; er wagte es nicht, sich noch einmal nach dem grauenvollen Ort umzusehen, als er seinem Freund nachjagte.

"Das ist da:, zweite Mal, daß er mir begegnet ist," flüsterte Reelzingen tief aufatmend, als Lanbek wieder an seiner Seite war.

"Wers" fragte dieser betroffen.

"Der Teufel," antwortete der Kapitän.

Lanbek gab ihm keine Antwort auf die sonderbare Rede, und sie jagten weiter durch die Nacht hin. In Zuffenhausen schlug es Viertel vor zwölf Uhr, als sie durchritten; in den meisten Häusern brannten noch die Kerzen, und da und dort hörte man geistliche Lieder aus den Stuben. Der Nachtwächter stieß eben ins Horn und rief die Stunde; der Kapitän hielt an und fragte ihn, was diese späten Gesänge und Gebete zu bedeuten haben.

"Ach Herr! Das ist eine arge Nacht," antwortete dieser, "es hat ein Mann an vielen Häusern gepocht und befohlen, die Leute sollen die ganze Nacht bis zwölf Uhr beten.

"Wer ist der Mann?" fragte Lanbek staunend.

Alte Leute, Herr, die ihn gesehen haben, versichern, es sei unser alter Pfarrer gewesen; Gott hab' ihn selig, er ist seit zwanzig Jahren tot; aber es war ja nichts Unchristliches, was er verlangte, drum beten und singen sie in den Lichtkarzstuben und spinnen dazu."

"Diese Nacht kann mich noch wahnsinnig machen," rief der Kapitän, indem sie wegritten. "Gustav, ich glaube, heute nacht geht er leibhaftig auf der Erde um; ich denke, es wäre jetzt gerade die beste Zeit, den alten Burschen zu zitieren, wenn man etwa schnell Obrist werden oder zweimalhunderttausend spanische Quadrupel haben möchte."

"Tor!" antwortete der Freund. "Der, den du meinst, hat mit dem Gebet nichts gemein.

Es war, als ob ihre Pferde nur zum Schein die Beine aufhoben; denn jede Viertelstunde, die sie zurücklegten, schien zu einer neuen anzuwachsen. Noch immer wollte Ludwigsburg nicht erscheinen, und die Nacht war so finster, daß sie auch an der Gegend nicht erkennen konnten, ob sie fehlritten oder ob sie der Stadt schon nahe



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seien. Endlich, nachdem sie etwa wieder eine halbe Stunde geritten sein mochten, sahen sie in der Entfernung von etwa tausend Schritten Lichter schimmern, fanden aber auch zugleich ihren Weg durch vier Pferde versperrt, die, an einen Reisewagen gespannt, quer über die Landstraße standen.

"Führ deine Pferde hinweg, Fuhrmann!" rief der Kapitän, "oder meine Peitsche wird sie bald weggetrieben haben; warum versperrst du den Wegs"

"Gemach, ihr Herren, soll gleich geschehen," antwortete ein Mann, der von dem Wagen stieg. Aber die Zeit, die er dazu brauchte, die herabgefallenen Zügel aufzunehmen und zu ordnen, dauerte dem raschen Soldaten zu lange; er versuchte, über die schlaff liegenden Stränge des vordersten Gespanns wegzusetzen, und forderte seinen Freund auf, ein Gleiches zu tun; doch wie es in solchen Fällen blinder Eile zu geschehen pflegt, in demselben Augenblick zog der Mann am Wagen die Zügel an, und das Pferd des Kapitäns blieb mit einem Fuß in den straff aufgerichteten Strängen hängen.

Lanbek sprang ab, um dem Freund zu helfen, der Kutscher lief bedauernd herzu, und eben war der Fuß des unbezahlten Rosses frei, als man einige Reiter in aller Eile von der Stadt herbeijagen hörte. Der erste mochte einen Vorsprung von fünfhundert Schritten, aber kein gutes Pferd haben; denn der Kapitän unterschied deutlich, daß es kurzen Paradegalopp ging; die Tritte der nachfolgenden Pferde schlugen zwar minder kräftig auf, waren aber flüchtiger. "Platze — allons! —Platz!" rief der erste Reiter; aber in demselben Augenblick hörten auch die beiden jungen Männer eine bekannte Stimme, die mit dem wildesten Ausdruck rief: "Halt, Jude! oder ich schieß' dich mitten durch den Leib."

Unter dem Volke in Württemberg hört man zuweilen noch einen Reim, der diesen merkwürdigen Moment bezeichnet; er heißt:

"Da sprach der Herr von Röder:
Halt oder stirb entweder!"

Und der alte Obrist war auch, der in diesem Augenblick, seinen Begleitern weit voran, eine Pistole in der Hand, ansprengte, den ersten Reiter wütend am Arm packte und schrie: "Wo hinaus, Jude? Warum so schnell zu Roß, als ich dir nachrief zu warten?"

"Mäßigt Euch, Herr Obrist," erwiderte der erste mit stolzem Ton, in welchem aber doch einige Angst durchzitterte; "ich gehe nach Stuttgart, der Frau Herzogin Durchlaucht zu sagen, was in diesem Augenblick für Maßregeln —"

"Das ist auch mein Weg, Herr! erwiderte der Obrist mit furchtbarer Stimme; "und keinen Augenblick geht Ihr von meiner Seite,



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sonst werde ich mit meiner Pistole Beschlag auf Euch legen. Platz da! Wer steht hier im Weg?"

"Der Kapitän von Reelzingen von der ersten Kompagnie und der Expeditionsrat Lanbek."

"Guten Abend, meine Herren!" fuhr Röder fort. "Habt Ihr geladene Pistolen, Kapitän?"

"Ja, mein Herr Obrist," war die Antwort des Soldaten, indem er sie aus den Halftern losmachte,

"Ich kommandiere Euch, in welchem Auftrag Ihr jetzt auch sein möget, auf der linken Seite des Herrn Ministers Süß zu reiten Bei Eurem Dienst und Eurer Ehre als Edelmann, sobald er Miene macht zu entfliehen, jagt ihm eine Kugel nach! Die Verantwortung nehme ich auf mich."

"Herr Expeditionsrat," rief Süß, "ich nehme Euch zum Zeugen, daß mir hier schändliche Gewalt geschieht. Obrist Röder, ich warne Sie noch einmal; dieser Auftritt soll gerochen werden!"

"Aber, Herr von Röder," flüsterte Gustav, "ums Himmels willen, übereilen Sie nichts, bedenken Sie, was daraus entstehen kann! Bedenken Sie," setzte er lauter hinzu, "den furchtbaren Zorn des Herzogs!"

"Der Herzog ist tot," sagte Röder laut genug, daß es alle hören konnten.

"Karl Alexander tot?" rief der Kapitän, auf den alle Begebenheiten dieser Nacht mit einemmal in schrecklichen Erinnerungen hereinstürzten.

"Hat man sichere Nachricht? Gott! Welch ein Fall!" sagte Gustav besorgt. "War er in Kehl?"

Er ist in Ludwigsburg vor einer Viertelstunde schnell und plötzlich gestorben. Drum ist es unsere Pflicht, diesen Herrn da, der sich mit der Regierung sehr stark beschäftigte, schnell an das verwaiste Staatsruder zu bringen."

"Wie, in Ludwigsburg, sagt Ihr," rief Lanbek, "und schnell gestorben? O, ewige Vorsicht!

"In diesem Ludwigsburg hier," sagte Röder wehmütig, "und im Bett am Schlag gestorben. Friede mit seiner Asche! Er war ein tapferer Herr. Aber jetzt weiter, ihr Freunde, daß die Nachricht nicht vor uns nach Stuttgart kömmt!

"Meine Herren," rief Süß mit einer Stimme, die Zorn und Angst beinahe erstickte, "noch bin ich Minister und erinnere Sie an das Edikt des Herzogs, das mich von aller Verantwortung freispricht; ich sage Ihnen, es kann Ihnen allen schlimm gehen, wenn Sie sich mit Herrn von Röder verbinden. Im Namen des Herzogs und seines Erben befehle ich Ihnen, von mir abzulassen."



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"Jetzt hat dein Reich ein Ende, Jude!" rief der Kapitän, lachte wild, riß ihm den Zaum aus der Hand und schlug sein Pferd mit der langen Peitsche auf den Rücken; der Obrist ritt an der rechten Seite, seine Pistole in der Hand; der Zug setzte sich in Galopp, und Gustav folgte halb träumend durch das singende Dorf, an dem alten Mann, der heiser lachend wieder auf der Brücke saß, und an dem Galgen vorüber, wo die Raben krächzten und mit den Flügeln schlugen. Erst hier, als er einen scheuen Blick nach der Richtstätte warf, fiel ihm mit ängstlicher Ahnung Lea und ihr unglückliches Schicksal bei.

14.

Als die Stuttgarter am Morgen nach dieser verhängnisvollen Nacht erwachten, wurden sie von zwei beinahe ganz unglaublichen Nachrichten überrascht. Der Herzog sei, statt außer Landes verreist zu sein, in dieser Nacht zu Ludwigsburg schnell gestorben. Er war ein gesunder, kräftiger Mann gewesen, dem mancher, der ihn gesehen, wohl noch zwanzig bis dreißig Jahre gegeben hätte. Die Klagen um seinen Tod verstummten beinahe vor der Freude über eine andere Nachricht, der Jude Süß sei mit mehreren der höchsten Hofherren im Ludwigsburger Schloß gewesen, als der Herzog so plötzlich starb; er habe sich alsobald, nachdem er die Leiche gesehen, aufs Pferd geschwungen und sei halb wahnsinnig Stuttgart zugeritten; Hera von Röder aber, ein Mann, mit dem sich nicht spaßen lasse, habe ihn eingeholt und bewacht nach Stuttgart geführt. Man lachte über die sonderbare Täuschung des Juden; als er nämlich von der Frau Herzogin, welcher er noch in der Nacht aufgewartet hatte, um zu kondolieren, heraustrat und eine Eskorte nach Haus verlangte, weil er wichtige Akten holen müsse, schloß sich ein Leutnant mit sechs Mann an ibn an. Am Ende de:, Korridors machte ihm ein Hauptmann das Kompliment und folgte mit zwölf Mann; jener meinte zwar lächelnd, "es sei zu viel Ehre" ; als er aber an Lanbeks Haus um die Ecke bog und vier Schildwachen vor seinem Palais bemerkte, als er oben an der Treppe Baionette blitzen sah und Lea bleich, verstört und weinend ihm entgegenstürzte, da merkte er, welche Stunde geschlagen habe, und rief: "Siel, Suis perdu ! "

Obgleich das Testament des verstorbenen Herzogs im Fall seines Todes eine Administration bestellt hatte, welche seinen Ministern angenehmer gewesen wäre, so übernahm doch Herzog Rudolph von Neustadt trat) seines hohen Alters als der nächste Agnat die Administration, und das Land fühlte sich erleichtert und zufrieden dabei. Er ließ, außer anerkannt schlechten Menschen, jeden in der Würde,



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in der er unter der vorigen Regierung stand, und es war dies wirklich eine Art von Gnadenakt, wenn man bedenkt, daß früher zwei Drittteile aller Ämter im Lande gekauft worden waren. Nur einer war nicht zufrieden mit dein Amt, das ihm der Herzog-Administrator mit den huldreichsten Ausdrücken bestätigt hatte; es war der junge Lanbek. Er wurde nicht nur als Expeditionsrat aufs neue ernannt, sondern als der alte Röder im Feuer der Freundschaft für den Landschaftskonsulenten dessen Sohn als einen klugen Kopf und trefflichen Juristen schilderte, wählte ihn der Herzog sogar in die Kommission, die den Prozeß gegen den Juden Süß zu führen hatte. Der alte Lanbek fühlte sich dadurch nicht wenig geehrt und nannte seinen Sohn mehrere Male den Stolz und die Stütze seines Alters; aber Gustav machte diese Wahl unaussprechlich unglücklich. Nicht als ob er nicht, wie jeder andere Bürger, den Mann verdammt hätte, der das Land in so tiefes Elend gestürzt; nicht als ob es gegen sein Gewissen gewesen wäre, Verbrechen ans Licht zu ziehen, die man so künstlich verborgen hatte; aber Lea — es war ja ihr Bruder, den er richten sollte, und dieser Gedanke war es, der ihm dieses Geschäft zum Abscheu machte. Kleine Seelen sättigen sich gerne an Rache, und manchem wäre es eine innige Freude gewesen, einen Mann, der noch vor kurzem so hoch stand, jetzt in der tiefsten Kasematte der Festung zu besuchen, mit herrischer Stimme ihn von seinem Lager aufzusagen und ihn zu martern und zu peinigen. Dieser Mann hatte sich noch überdies gegen Gustav persönlich verfehlt, er hatte ihn mit dem empörendsten Übermut behandelt, ihm sogar mit demselben Gefängnis gedroht, in welchem er jetzt selbst, bange um künftige Freiheit, vielleicht selbst um sein Leben, schmachtete. Aber das Herz des jungen Mannes war zu groß, als daß es hätte freudig pochen sollen, als er zum erstenmal als Richter in den Kerker des Mannes trat, der, jetzt entblößt von aller irdischen Herrlichkeit, angetan mit zerlumpten Kleidern, bleich, verwildert, sich langsam aus seinen rasselnden Ketten aufrichtete. Erinnerte ihn doch jetzt noch dieses Gesicht an die Züge eines unglücklichen, geliebten Wesens; und er konnte sich kaum der Tränen enthalten, als nach dem Schlusse des Verhörs der Gefangene sprach: "Herr Lanbek, es gibt ein unglücklichen, unschuldiges Mädchen, das wir beide kennen; als man in meinem Hause versiegelte, haben sie die rohen Menschen auf die Straße gestoßen — sie war ja eine Jüdin und verdiente also kein Mitleid. —Mir, Herr, ist kein Pfennig geblieben, womit ich ihr Leben fristen könnte; ich weiß nicht, wo sie ist — wenn Sie etwas von ihr hören sollten —sie hat nichts als da: Kleid, das sie trug, als man sie von der Schwelle stieß —geben Sie ihr aus Barmherzigkeit ein Almosen!

Der junge Mann ließ seinen Tränen freien Lauf, als er allein



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den Berg von Hohen-Neuffen herabstieg; er erfuhr zwar nachher, daß ihn der Jude belogen habe, daß er, obgleich man über 500 000 Gulden in Gold und Juwelen in seinem Hause fand, doch beinahe 100000 in Frankfurt in sichern Händen habe, und Gustav konnte leicht einsehen, daß ihn Süß durch diese Vorstellungen von Elend nur habe weich stimmen wollen; aber dennoch konnte er den Gedanken nicht entfernen, daß Lea verlassen und unglücklich sei, und dieser Gedanke wurde immer peinlicher, als er trotz seiner Nachforschungen keine Spur von ihr entdecken konnte.

Der Frühling, Sommer und Herbst waren vorübergegangen, und noch immer dauerte der Prozeß. Es waren Dinge zur Sprache gekommen, wovor selbst den kältesten Richtern graute; aber obgleich der junge Lanbek der Kommission mit edlem Unwillen vorstellte, daß noch vier andere Männer nicht minder schuldig seien als Süß, so schien man doch nur gegen diesen ernstlich verfahren zu wollen, weil ihn der allgemeine Haß als den schuldigsten bezeichnete.

Es war an einem trüben Oktoberabend; der alte Konsulent war seit einigen Tagen verreist, und sein Sohn arbeitete im Bibliothekzimmer an einem neuen Verhör, als seine jüngere Schwester, jetzt die glückliche Braut des Kapitäns Reelzingen, ernster als gewöhnlich zu ihm eintrat. Sie sprach anfangs Gleichgültiges, schien aber nur mit Mühe eine Träne unterdrücken zu können, die endlich wirklich in dem sanften Auge glänzte, als sie fragte, ob er ihr nicht zürnen werde, wenn sie eine bekannte Person zu ihm führe? Er sah sie staunend und verwundert an; doch noch ehe er eine Antwort zu geben vermochte, eilte Käthchen weinend aus dem Zimmer und trat bald darauf mit einem verschleierten Mädchen wieder ein. Noch ehe die trübe Kerze ihre Umrisse deutlich zeigte, noch ehe sie den Schleier zurückschlug, sagte ihm sein ahnendes Herz, wen er vor sich habe. Errötend sprang er auf; aber schon hatte die Unglückliche sich vor ihm niedergeworfen, den Schleier zurückgeschlagen, und Lea war es, welche die einst so geliebten Augen düster und bittend zu ihm aufschlug und die bleichen, magern Hände ineinander gerungen flehend nach ihm hinstreckte. "Barmherzigkeit!" rief sie. "Nur nicht sterben lassen Sie ihn! Man sagt, er müsse sterben; seine einzige Hoffnung ruht noch auf Ihnen. Wo soll ich Worte nehmen, Ihr großmütiges Herz zu erweichen? Welche Sprache soll ich erdenken, an ein Ohr zu sprechen, das mich einst so wohl verstand?" — Tränen ließen sie nicht weiter reden, und auch Käthchen weinte bitterlich. Voll von Schmerz und Überraschung, faßte Gustav ihre kalten Hände und richtete sie auf; er sah sie an — wie schmerzlich war ihm ihr Anblick! Ihre Wangen waren bleich und eingefallen; die schönen Augen lagen tief, und der Mund, der sonst nur zum Lächeln geschaffen



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schien, zeigte, daß er jenes süße Lächeln längst nicht mehr kenne. Das schwarze Haar, das um die weiße Stirne hing, und das bleiche Gesicht vollendeten das Gespenstige ihres Anblicks.

"Lea! Unglückliche Lea!" rief der junge Mann. "Wie lange haben Sie sich verborgen gehalten und Ihren Freunden den letzten Trost geraubt, zu wissen, ob es Ihnen an nichts gebricht, ob die Freunde etwas für Sie tun können!"

"Ach, das ist es nicht, um was ich Ihre edelmütige Schwester gebeten habe, mich hierher zu führen," sagte sie schmerzlich lächelnd. "Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Ich habe alle meine Hoffnungen und Träume längst begraben, ich pflanzte die Erinnerungen als Blumen auf das Grab und begieße diese Blumen mit meinen Tränen. Nein! Sie waren immer so großmütig gegen Unglückliche — geben Sie mir nur den Trost, daß mein Bruder nicht sterben muß. Ach, es ist so bitter zu sterben, und was nützt sein Tod diesem Lande?"

"Lea," antwortete der junge Mann verlegen, "gewiß, es ist bis jetzt noch nicht davon die Rede gewesen, und ich glaube auch nicht — Sie dürfen sich trösten — es wird nicht so weit kommen."

"Es wird, und in Ihrer Hand liegt sein Schicksal," flüsterte sie; "er hat es mir gesagt, ich habe ihn gesprochen. .Wenn nur der Brief nicht wäre, der Brief kann mich verderben.' O Gustav! Halten Sie ihn jahrelang, auf immer im Gefängnis! Was liegt an ihm, wenn er in Ketten sitzt? Nur nicht sterben; Gustav, seien Sie edelmütig — vergessen Sie den Brief, um den niemand weiß als Sie —mit jener schwachen Kerze dort können Sie das Leben eines Menschen retten."

"Bruder," sagte Katharine näher tretend, indem sie seine Hand faßte, "tu es! Dein Gewissen kann nicht gefährdet werden; denn er ist ja auf immer unschädlich gemacht; verbrenne den Brief! Er kann sich ja verloren haben."

Der junge Mann sah die weinenden Mädchen an; ein unabweisbares Gefühl kämpfte in ihm, er schwankte einen Augenblick, und Lea, die diesen Kampf in seinen Mienen las, faßte seine Hand, drückte sie stürmisch an ihr Herz, zog sie zärtlich an ihre Lippen. "Er will!" rief sie entzückt. "O! ich wußte es wohl, er ist edel; er will sich nicht wie die andern an dem Unglücklichen rächen, der ihn einst beleidigt hat, er läßt ihn nicht sterben, belastet mit Sünden, er läßt ihn leben und fromm und weise werden. Wie gütig bist du, o Gott, daß du noch deiner Engel einen gesendet hast auf diese öde Erde, der mit der offenen Hand der Barmherzigkeit segnet und nicht mit dem flammenden Schwert der Rache den Verbrecher zerschmettert!"

"Nein — nein — es ist nicht möglich!" sprach Lanbek mit tiefem Schmerz. "Sieh, Lea, mein Leben möchte ich hingeben, um deine



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Ruhe zu erkaufen; aber meine Ehre! Gott! Meinen guten Namen! Es ist nicht möglich! Sie wissen um den Brief, einige haben ihn gelesen, und — morgen soll ich ihn vortragen. Käthchen! Sprich, ich beschwöre dich, kann, darf ich es tuns

Käthchen weinte, und eine leise Bewegung ihres Hauptes schien anzudeuten, daß es auch ihr unmöglich scheine. Lea aber hatte ihm mit starren Blicken zugehört; über die bleichen Wangen ergoß sich die Röte der Angst; sie beugte sich vor, als könne sie die schreckliche Verneinung nicht recht vernehmen; sie sah, als sich Gustav auf seine Schwester berief, mit einem Blick voll schmerzlicher Zuversicht nach dieser hin, sie streckte die Hand krampfhaft aus wie ein Ertrinkender, der nach dem schwachen Zweig am Ufer die Hand ausstreckt — vergebens

"So muß er sterben," sagte sie nach einer Weile leise, "und du — du brichst ihm den Stab? Das war es also, warum ich lebte — und liebte? Es ist ein sonderbares Rätsel, das Leben! Hätte ich dies gedacht , als ich noch ein fröhliches Kind war! Hätte ich gedacht, daß wir so untergehen müßten?"

"Armes, unglückliches Mädchen!" sprach Käthchen und schloß sie in ihre Arme. "Ach, gewiß, er kann nicht anders handeln, ich sehe es selbst ein; und wenn es dich trösten kann, komm zu mir, so oft du willst, du sollst gewiß treue Teilnahme finden —"

"Lea," unterbrach sie ihr Bruder, " wenn wir etwas für Sie tun können — Sie sind an Wohlstand gewöhnt —dieses Kleid hier sagt mir, daß Sie in Not sind."

"Komm, Lea," fuhr Käthchen fort, "wir sind beinahe von derselben Größe, nimm von meinen Tüchern, von meinen Kleidern! Du machst mir Freude, wenn du es tun willst."

"Das Vermögen Ihres Bruders, das er außer Landes besitzt, sagte Gustav, "soll und muß für Sie gerettet werden; Sie haben die nächsten Ansprüche, und ich will gewiß das meinige tun."

"Guter Gustav," unterbrach sie ihn, indem sie sich zu einem Lächeln zwang, "lassen wir das; die Leute sagen, daß er sein Vermögen den Armen dieses Landes entzogen habe. Da hatte er unrecht, und es wäre besser, er hätte dieses Land nie gesehen; aber ebenso unrecht wäre es von mir, von diesem Golde Gebrauch zu machen, das ihm den Tod bringen wird. Aber von dir, liebes, schönes Mädchen, nehme ich ein Tuch an, weil es jetzt so kalt wird. Ich höre, du bist Braut; sei doch recht glücklich! Möchten dies die letzten Tränen sein, die jetzt in deinen Wimpern hängen; und wenn du weinen mußt, so sei es nur fremdes Unglück, um das dein schönes Herz trauert!"

"Lea," sagte der junge Mann mit tiefem Schmerz, "ich kann



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dich nicht so hinweg lassen; es ist die trügerische Ruhe der Verzweiflung, die aus dir spricht. Besuche doch meine Schwester, sage, wo du wohnst ! —Ach, wenn du Mangel littest! —Scheide nicht im Groll von mir, Lea! Gott weiß, daß ich nicht anders konnte!"

"Und auch ich weiß es, Gustav, und war ein törichtes Mädchen, dich auf diese gefährliche Probe zu stellen; unser Unglück ist so groß, daß eine kleine Hilfe mit deiner Ehre, mit deiner Ruhe zu teuer erkauft wäre. Lebet wohl! Ich brauche wenig, vielleicht bald gar nichts mehr, und sollte ich etwas nötig haben, so bin ich nicht zu stolz, zu dieser Freundin zu kommen, der einzigen, die mir das Unglück erworben hat."

"Und vergibst du?" sagte Gustav mit Tränen.

"Ich habe nichts zu vergeben," erwiderte sie, indem sie ihm mit mehr Fassung, als die beiden Geschwister erhalten hatten, die Hand bot. "Lebe wohl, Freund! Ich gehe, meine Blumen zu begießen. Möge der Gott meiner Väter dich so glücklich machen, als es dein reiches Herz verdient!" Sie sagte es, warf noch einen Blick voll Liebe auf ihn und ging, von Käthchen begleitet.

Der junge Mann blickte ihr wehmütig nach; es war ihm, als hätte diese Stunde einen mächtigen Einfluß auf sein Leben; aber er ahnete auch, daß er das unglückliche Mädchen zum letztenmal gesehen habe.

15.

Es würde unsere Leser ermüden, wollten wir sie von dem Prozeß des Juden Süß noch länger unterhalten. Es ging damals wie ein Lauffeuer durch alle Länder und wird da und dort noch heute erwähnt, daß am 4ten Februar 1738 die Württemberger ihren Finanzminister wegen allzu gewagter Finanzoperationen aufgehängt haben. Sie hingen ihn an einen ungeheuren Galgen von Eisen in einem eisernen Käfig auf. Im Dekret des Herzog-Administrators heißt es: "Ihme zu wohlverdienter Straff, jedermänniglich aber zum abscheulichen Exempel." Beides, die Art, wie dieser unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, wo die Blüte der französischen Literatur mit unwiderstehlicher Gewalt den gebildeteren Teil Europas auswärts riß.

Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, den Männer, die zu jener Zeit gelebt haben, oft wiederholen, und der,



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wenn er auch nicht die Tat entschuldigt, doch ihre Notwendigkeit darzutun scheint. "Er mußte," sagen sie, "nicht sowohl für seine eigenen schweren Verbrechen, als für die Schandtaten und Pläne mächtiger Männer am Galgen sterben." Verwandtschaften, Ansehen, heimliche Besprechungen retteten die andern, den Juden — konnte und mochte niemand retten, und "so schrieb man," wie sich der alte Landschaftskonsulent Lanbek ausdrückte, "was die übrigen verzehrt hatten, auf seine Zeche." Es sind seitdem neunzig Jahre verflossen, und wir wissen nicht, ob damals der schmähliche Tod dieses Mannes die Gemüter über alles Frühere beruhigte und befriedigte. Ein Edikt des Administrators wenigstens scheint es nicht ganz zu beweisen; denn er sah sich genötigt, zu verordnen: "daß die Untertanen alle widrigen Nachreden und ungleichen Urteile über den hochseligen Herrn bei Strafe und Ahndung vermeiden und denselben im schuldigst-respektueusesten Andenken halten sollten."

Der alte Lanbek tat das letztere auch ohne dies Edikt; denn so oft der Name Karl Alexanders genannt wurde, lüftete er mit besorgter Miene sein Mützchen und sagte: "Gott habe ihn selig!" Er folgte auch dem hochseligen Herrn noch unter der Vormundschaft Rudolphs von Neustadt. Man sagt, sein Sohn habe nie wieder gelächelt , und selbst Schwager Reelzingen konnte ihm mit den herrlichsten Späßen keine heitere Miene abgewinnen. Noch anno 93 sah man ihn als einen hohen, magern Greis an einem Stock über die Straße schreiten; seine Miene war ernst und düster; aber sein Auge konnte zuweilen weich und teilnehmend sein. Er hat nie geheiratet, und die Sage ging damals, daß er nur einmal und ein unglückliches Mädchen geliebt habe, das ihren Tod im Neckar freiwillig fand. Männer, die ihn gekannt haben, versichern, daß er gewöhnlich kalt und verschlossen, dennoch sehr interessant in der Unterhaltung gewesen sei, wenn man ihn auf gewisse metaphysische Untersuchungen brachte, mit welchen er sich in seinem hohen Alter hauptsächlich beschäftigte Er starb, betrauert von vielen, die ihn und sein Schicksal kannten, und beweint von den Armen und Unglücklichen. Mein Großvater pflegte von ihm zu sagen: "Es war einer von jenen Menschen, die, wenn sie einmal recht unglücklich gewesen sind, sich nicht mehr an das Glück gewöhnen mögen,"



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Die Sängerin.

1.

"Das ist ein sonderbarer Vorfall," sagte der Kommerzienrat Bolnau zu einem Bekannten, den er auf der Breiten Straße in B. traf; "gesteht selbst, wir leben in einer argen Zeit."

"Ihr meint die Geschichte im Norden?" entgegnete der Bekannte. "Habt Ihr Handelsnachrichten, Kommerzienrat? Hat Euch der Minister des Auswärtigen aus alter Freundschaft etwas Näheres gesagt?"

"Ach, geht mir mit Politik und Staatspapieren! Meinetwegen mag geschehen, was da will. Nein, ich meine die Geschichte mit der Fiametti."

"Mit der Sängerin? Wie? Ist sie noch einmal engagiert? Man sagte ja, der Kapellmeister habe sich mit ihr überworfen —"

"Aber um Gottes willen!" rief der Kommerzienrat und blieb staunend stehen; " in welchen Spelunken treibet Ihr Euch umher, daß Ihr nicht wisset, was sich in der Stadt zuträgt? So wisset Ihr nicht, was der Fiametti arrivierte?"

"Kein Wort, auf Ehre! Was ist es denn mit ihr:"

"Nun, es ist weiter nichts mit ihr, als daß sie heute nacht totgestochen worden ist."

Der Kommerzienrat galt unter seinen Bekannten für einen Spaßvogel, der, wenn er morgens von elf bis mittag seine Promenaden in der Breiten Straße machte, die Leute gerne aufhielt und ihnen irgend etwas aus dem Stegreife aufband. Der Bekannte war daher nicht sehr gerührt von dieser Schreckensnachricht, sondern antwortete: "Weiter wisset Ihr also heute nichts, Bolnau? Ihr müht doch nachgerade mit Eurem Witz zu Rande sein, weil Ihr die Farben so stark auftraget. Wenn Ihr mich übrigens ein andermal wieder stellet in der Breiten Straße, so besinnt Euch auf etwas Vernünftigeres , sonst bin ich genötigt, einen Umweg zu machen, wenn ich von der Kanzlei nach Hause gehe.



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"Er glaubt's wieder nicht!" rief der Spaziergänger. "Seht nur, er glaubt's wieder nicht! Wenn ich gesagt hätte, der Kaiser von Marokko sei erstochen worden, so hättet Ihr die Nachricht mit Dank eingesteckt und weitergetragen, weil sich dort schon ähnliches zugetragen hat. Aber wenn eine Sängerin hier in B. totgestochen wird, da will keiner glauben, bis man den Leichenzug sieht. Aber, Freundchen, diesmal ist's wahr, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin!"

"Mensch! Bedenket, was Ihr sagt!" rief der Freund mit Entsetzen. "Die Sängerin erstochen? Tot saget Ihr? Die Fiametti totgestochen?"

"Tot war sie vor einer Stunde noch nicht; aber sie liegt in den letzten Zügen, so viel ist gewiß."

"Aber sprechet doch ums Himmels willen! Wie kann man denn eine Sängerin totstechen? Leben wir denn in Italien? Für was ist denn eine wohllöbliche Polizei da? Wie ging es denn zu? Totgestochen !"

"Schreiet doch nicht so mörderlich," erwiderte Bolnau besänftigend ; "die Leute fahren schon mit den Köpfen aus allen Fenstern und schauen nach dem Straßenlärm. Ihr könnet ja sotta voco jammern, so viel Ihr wollt. Wie es zuging? Ja sehet, da liegt es eben; das weiß bis jetzt kein Mensch. Gestern nacht war das schöne Kind noch auf der Redoute, so liebenswürdig, so bezaubernd wie immer, und heute nacht um zwölf Uhr wird der Medizinalrat Lange aus dem Bette geholt, Signora Fiametti liege im Sterben; sie habe eine Stichwunde im Herzen. Die ganze Stadt spricht schon davon, aber natürlich das tollste Zeug. Es sind allerdings fatale Umstände dabei, daß man nicht ins reine kommen kann; so darf z. B. niemand ins Haus als der Arzt und die Leute, die sie bedienen. Auch bei Hof weiß man es schon, und es kam ein Befehl, daß die Wache nicht am Haus vorbeiziehen dürfe; das ganze Bataillon mußte den Umweg über den Markt nehmen."

"Was Ihr sagt! Aber weiß man denn gar nicht, wie es zuginge Hat man denn gar keine Spur?"

"Es ist schwer, sich aus den verschiedenen Gerüchten auf das Wahre durchzuarbeiten. Die Fiametti, das muß man ihr lassen, ist eine sehr anständige Person, der man auch nicht das geringste nachsagen kann. Nun, wie aber die Leute sind, besonders die Frauen, wenn man da von dem ordentlichen Lebenswandel des annen Mädchens spricht, zuckt man die Achsel und will von ihrem früheren Leben allerlei wissen. Von ihrem frühern Leben! Sie hat kaum siebzehn Jahre und ist schon anderthalb Jahre hier! Was ist das für ein früheres Leben?"

"Haltet Euch nicht so lange beim Eingang auf," unterbrach ihn



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der Bekannte, "sondern kommt auf das Thema! Weiß man nicht, wer sie erstochen hats"

"Nun, das sage ich ja eben; da soll es nun wieder ein abgewiesener, aber eifersüchtiger Liebhaber sein, der sie umbrachte. Sonderbar sind allerdings die Umstände. Sie soll gestern auf der Redoute mit einer Maske, die niemand kannte, ziemlich lange allein gesprochen haben. Sie ging bald nachher weg, und einige Leute wollen gesehen haben, daß dieselbe Maske zu ihr in den Wagen stieg. Weiter weiß niemand etwas Gewisse:,; aber ich werde bald erfahren, was an der Sache ist."

"Ich weiß, Ihr habt so Eure eigenen Kanäle, und gewiß habt Ihr auch bei der Fiametti einen dienstbaren Geist. Es gibt Leute, die Euch die Stadtchronik nennen."

"Zu viel Ehre, zu viel Ehre," lachte der Kommerzienrat und schien sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen. "Diesmal habe ich aber keinen andern Spion als den Medizinalrat selbst. Ihr müßt bemerkt haben, daß ich, ganz gegen meine Gewohnheit, nicht die ganze Straße hinauf und hinab wandle, sondern mich immer zwischen der Karls- und der Friedrichsstraße halte."

"Wohl habe ich dies bemerkt; aber ich dachte, Ihr machtet Fensterparade vor der Staatsräson Baruch."

"Geht mir mit der Baruch! Wir haben seit drei Tagen gebrochen ; meine Frau sah das Verhältnis nicht gerne, weil jene so hoch spielt. Nein, der Medizinalrat Lange kommt alle Tage um zwölf Uhr durch die Breite Straße, um ins Schloß zu gehen, und ich stehe hier auf dem Anstand, um ihn sogleich aufs Korn zu nehmen, wenn er um die Ecke kommt.

"Da bleibe ich bei Euch," sprach der Freund; "die Geschichte der Fiametti muß ich genauer hören. Ihr erlaubt es doch, Bolnau?"

"Wertester, geniert Euch ganz und gar nicht," entgegnete jener; ich weiß, Ihr speiset um zwölf Uhr —lasset doch die Suppe nicht kalt werden! Ueberdies könnte Lange vor Euch nicht recht mit der Sprache heraus wollen; kommt lieber nach Tisch ins Kaffeehaus, dort sollt Ihr alles hören. —Machet übrigens, daß Ihr fortkommt! Dort biegt er schon um die Ecke

2.

"Ich halte die Wunde nicht für absolut tödlich," sprach der Medizinalrat Lange nach den ersten Begrüßungen; "der Stoß scheun nicht sicher geführt worden zu sein. Sie ist schon wieder ganz bei Besinnung, und die Schwäche abgerechnet, die der große Blutverlust



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verursachte, ist in diesem Augenblick wenigstens keine Spur von

"Das freut mich," erwiderte der Kommerzienrat und schob vertraulich seinen Arm in den des Doktors; "ich begleite Ihn noch die paar Straßen bis ans Schloß; aber sag Er mir doch ums Himmels willen etwas Näheres über diese Geschichte; man kann ja gar nicht ins klare kommen, wie sich das alles zugetragen.

"Ich kann Ihm schwören," antwortete jener, "es liegt ein furchtbares Dunkel über der Sache. Ich war kaum eingeschlafen, so weckt mich mein Johann mit der Nachricht, man verlange mich zu einem sehr gefährlichen Kranken. Ich werfe mich in die Kleider, renne hinaus. im Vorsaal steht ein Mädchen, bleich und zitternd, und flüstert so leise, daß ich es kaum hörte, ich solle mein Verbandzeug zu mir stecken. Schon das fällt mir auf; ich werfe mich in den Wagen, lasse die bleiche Mamsell auf den Bock zu Johann sitzen, daß sie den Weg zeige, und fort geht es bis in den Lindenhof. Ich steige vor einem kleinen Hause ab und frage die Mamsell, wer denn der Kranke sei?"

"Ich kann mir denken, wie Er staunte —"

"Wie ich staunte, als ich höre, es ist Signora Fiametti! Ich kannte sie zwar nur vom Theater, hatte sie sonst kaum zwei, dreimal gesehen; aber die geheimnisvolle Art, wie ich zu ihr gerufen wurde, das Verbandzeug, das ich zu mir stecken sollte —ich gestehe, ich war sehr gespannt, was der Sängerin zugestoßen sein sollte. Es ging eine kurze Treppe hinan, einen schmalen Hausflur entlang. Das Mädchen ging voran, ließ mich einige Augenblicke im Dunkeln warten und kam mir dann schluchzend und noch bleicher als zuvor entgegen. ,Treten Sie ein, Herr Doktor,' sagte sie, .ach! Sie werden zu spät kommen, sie wird's nicht überleben.' Ich trat ein, es war ein schrecklicher Anblick."

Der Medizinalrat schwieg sinnend und düster; es schien sich ein Bild vor seine Seele zu drängen, das er umsonst abzuwehren suchte. "Nun, was sah Er?" rief sein Begleiter, ungeduldig über diese Unterbrechung. "Er wird mich doch nicht so zwischen Tür und Angel stehen lassen wollen?"

"Es ist mir manches in meinem Leben begegnet," fuhr der Doktor fort, nachdem er sich gesammelt hatte, "manches, wovor mir graute, manches, das mich erschreckte, aber nichts, was mir das Herz so in der Brust umdrehte wie dieser Anblick. In einem matt erleuchteten Zimmer lag ein bleiches, junges Weib auf dem Sofa; vor ihr kniete eine alte Magd und preßte ihr ein Tuch auf das Herz. Ich trat näher; weiß und starr wie eine Büste lag der Kopf der Sterbenden zurück; die schwarzen, herabfallenden Haare, die dunkeln Brauen und



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Wimpern der geschlossenen Augen bildeten einen schrecklichen Kon trast gegen die glänzende Blässe der Stirn, des Gesichts, des schönen Halses. Die weißen, faltenreichen Gewänder, die wohl zu ihrer Maske gehört hatten, waren von Blut überströmt, Blut auf dem Fußboden und von dem Herzen schien der rote Strom auszugehen, —dies allee stellte sich mir in einem Augenblick dar — es war Fiametti, die Sängerin."

"O Gott, wie mich das rührt!" sprach der Kommerzienrat bewegt und zog ein langes seidenes Tuch hervor, um sich die Augen zu wischen. "Geradeso lag sie noch letzten Sonntag vor acht Tagen in der Oper Othello da, als sie die Desdemona spielte. Schon damals war der Effekt so grausam wahr und wahrhaftig greulich, daß man meinte, der Mohr habe sie in der Tat erdolcht; und jetzt ist es wirklich so mit ihr gekommen! Was mich das rührt!"

"Habe ich Ihm nicht jede übermäßige Rührung verbotene" unterbrach ihn der Arzt. "Will Er mit Gewalt wieder Seine Zufälle bekommen?"

"Er hat recht," sagte der Kommerzienrat Bolnau und fuhr schnell mit dem Tuch in die Tasche; " hat recht; meine Konstitution ist nicht für den Affekt. Erzähl Er nur weiter! Ich werde die Tafelscheiben am Kriegsministerio im Vorbeigehen zählen; das hilft gegen solche Anfälle."

"Zähl Er nur, und wenn es nicht hilft, so kann Er auch noch den obern Stock des Palais mitnehmen. — Die alte Magd nahm das Tuch weg, und mit Erstaunen erblickte ich eine Wunde wie von einem Messerstich, die dem Herzen sehr nahe war. Es war nicht Zeit, mich mit Fragen aufzuhalten, so viele derselben mir auch auf der Zunge schwebten; ich untersuchte die Wunde und legte den Verband um. Die Verwundete hatte während der ganzen Operation kein Zeichen von Leben gezeigt; nur als ich die Wunde sondierte, war sie schmerzlich zusammengezuckt. Ich ließ sie ruhen und bewachte ihren Schlummer.

"Aber das Mädchen und die alte Magd, — hat Er denn diese nicht gefragt, woher die Wunde rühre?"

"Ich will es Ihm nur gestehen, Kommerzienrat, weil Er mein alter Freund ist; ja, als für die Kranke im Augenblick nichts mehr zu tun war, habe ich ihnen rund genug erklärt, daß ich weiter keine Hand mehr an die Dame legen werde, wenn sie mir nicht alles beichten."

"Und was sagten sie? So sprech Er doch!"

"Nach elf Uhr war die Sängerin zu Hause gekommen, und zwar oon einer großen männlichen Maske begleitet. — Ich mochte bei dieser Nachricht die beiden Weiber etwas sehr zweideutig angesehen



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haben; denn sie fingen aufs neue an zu weinen und beteuerten mir mit den außerordentlichsten Schwüren, ich solle doch nichts Schlechtes von ihrer Herrschaft denken; es sei die lange Zeit, seit sie ihr dienen, nie nach vier Uhr abends ein Mann über ihre Schwelle gekommen: das kleine Mädchen, das wohl Romane gelesen haben musste, wollte sogar behaupten, Signora sei ein Engel an Reinheit."

"Das behaupte ich auch," sagte der Kommerzienrat, indem er gerührt die Scheiben des Palais, dem sie sich näherten, zu zählen anfing; "das sage ich auch; der Fiametti kann man nichts Böses nachsagen; sie ist ein liebes, frommes Kind, und was kann sie denn dafür, daß sie schön ist und ihr Leben durch Gesang fristen muß?"

"Glaub Er mir," entgegnete Lange, " ein Arzt hat hierin einen untrüglichen psychologischen Maßstab. Ein Blick auf die engelreinen Züge de: unglücklichen Mädchens überzeugte mich mehr von ihrer Tugend als die Schwüre ihrer Zofen. Doch höre Er weiter: Die Sängerin trat mit dem Fremden in dieses Zimmer und hieß ihr Mädchen hinausgehen. Diese war vielleicht aus Neugierde, was wohl dieser nächtliche Besuch zu bedeuten habe, der Türe nahe geblieben; sie hörte einen heftigen Wortwechsel, der zwischen ihrer Dame und einer tiefen, hohlen Männerstimme in französischer Sprache geführt wurde; Signora sei endlich in heftiges Weinen ausgebrochen, der Mann habe schrecklich geflucht; plötzlich hörte sie ihre Dame einen gellenden Schrei ausstoßen, sie kann sich vor Angst nicht mehr zurückhalten, reißt die Türe auf, und in demselben Augenblicke fährt die Maske an ihr vorbei und durch den Gang an die Treppe. Sie folgt ihr einige Schritte, von der Treppe hört sie ein schreckliches Gepolter; sie musste hinuntergestürzt sein. Von unten dringt ein Ächzen und Stöhnen herauf wie das eines Sterbenden; aber es graut ihr, sie wagt keinen Schritt weiter vorzugehen. Sie geht zurück in die Türe — die Sängerin liegt in ihrem Blute und schließt nach wenigen Momenten die Augen. Das Mädchen weiß sich nicht zu raten; sie weckt die alte Magd, ihrer Herrschaft einstweilen beizustehen, und springt zu mir, um vielleicht ihre Signora noch zu retten."

"Und die Fiametti hat noch nichts geäußert? Hat Er sie nicht befragt?"

"Ich ging sogleich auf die Polizei und weckte den Direktor; er ließ noch um Mitternacht alle Gasthöfe, alle Gassenkneipen, alle Winkel der Stadt durchsuchen; aus dem Tore ist in jener Stunde niemand passiert, und von jetzt an wird jedermann strenge untersucht . Die Hausleute, die im obern Stock wohnen, erfuhren die ganze Sache erst, als die Polizei das Haus durchsuchte; unbegreiflich war es, wie der Mörder entspringen konnte, da er durch seinen Fall hart beschädigt sein mußte; man fand viel Blut unten an der Treppe.



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und es ist mir nicht unwahrscheinlich, daß er sich im Fallen durch seinen eigenen Dolch verwundet hat. Es ist um so unbegreiflicher, wie er entkam, da die Haustüre verschlossen war. Die Fiametti selbst erwachte um zehn Uhr und gab dem Polizeidirektor zu Protokoll, daß sie im strengsten Sinne nicht wisse, auch nicht einmal ahne , wer die Maske sein könne. Alle Ärzte und Chirurgen sind verpflichtet worden, wenn sie zu einem Patienten, der durch einen Fall oder durch eine Messerwunde lädiert ist, gerufen würden, solches anzuzeigen, weil man vielleicht auf diesem Wege dem Mörder auf die Spur kommen könnte. So stehen die Sachen. Ich bin aber überzeugt wie von meinem Leben, daß ein tiefe: Geheimnis zum Grunde liegt, das die Sängerin nicht entdecken will; denn die Fiametti ist nicht die Person, die sich von einem ihr völlig unbekannten Mann nach Hause begleiten läßt. Das scheint auch ihr Mädchen, das beim Verhör zugegen war, zu ahnen. Denn als sie sah, dah Signora nichts wissen wolle, gab sie nichts von dem Wortwechsel an, den sie gehört hatte; mir aber warf sie einen bittenden Blick zu, sie nicht zu verraten. ,Es ist eine entsetzliche Geschichte,' sagte sie, als sie mich nachher zur Treppe begleitete, .aber keine Welt brächte mich dazu, etwas zu verraten, was Signora nicht bekannt werden lassen will.' Sie gestand mir noch etwas, das auf die ganze Sache vielleicht Licht verbreiten würde."

"Nun, und darf ich diesen Umstand nicht auch wissen?" fragte der Kommerzienrat. "Er sieht, wie ich gespannt bin; spann Er ab, spann Er ab, um Gottes willen, ich könnte sonst leicht meine Zufälle bekommen!"

"Höre Er, Bolnau, besinn Er sich, lebt noch ein Bolnau außer in dieser Stadt? Existiert noch irgend ein anderer in der Welt, und wo, sag Er, wo?"

"Außer mir keine Seele in dieser Stadt," antwortete Bolnau: "als ich vor acht Jahren hieher zog, freute es mich, daß ich nicht Schwarz, Weiß oder Braun, nicht Meier, Miller oder Bauer heiße, weil damit allerlei unangenehme Verwechslungen geschehen. In Kassel war ich der einzige Mann in meiner Familie, und sonst gibt es auf Gottes Erdboden keinen Bolnau mehr als meinen Sohn, den unglücklichen Musiknarren; der ist verschollen, seit er nach Amerika segelte. Aber warum fragt Er nach meinem Namen, Doktor?"

"Nun, Er kann es nicht sein, Kommerzienrat, und Sein Sohn ist in Amerika. Aber es ist schon ein Viertel über zwölf Uhr, Prinzeß Sophie ist krank, ich habe mich nur zu lang' mit Euch verschwatzt; lebt wohl; à rovoir!

"Nicht von der Stelle," rief Bolnau und hielt ihn fest am Arm, "saget mir zuvor, was das Mädchen noch gesagt hat!"



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"Nun ja, aber reinen Mund gehalten, Freund! Ihr letztes Wort, ehe sie in jene tiefe Ohnmacht sank, war Bolnau."

3.

Man hatte den Kommerzienrat Bolnau noch nie so ernst und düster durch die Straßen schleichen sehen wie damals, als ihn der Doktor Lange vor dem Palais verließ. Sonst war er munter und rüstig einhergeschritten, und wenn er mit dem freundlichsten Lächeln alle Mädchen und Frauen grüßte, mit den Männern viel lachte und ihnen allerlei Neues erzählte, so hätte man ihm noch keine sechzig Jahre zugetraut. Er schien auch alle Ursache zu haben, fröhlich und guter Dinge zu sein; er hatte sich ein hübsches Vermögen zusammenspetuliert , hatte sich, als es genug schien, mit seiner Frau in B. zur Ruhe gesetzt und lebte nun in Freude und Jubel jahraus, jahrein. Er hatte einen einzigen Sohn gehabt; dieser sollte die Laufbahn des alten Herrn auch durchlaufen und handeln und sich umtun im Kommerz ; so wollte er es haben.

Der Sohn aber lebte und webte nur im Reich der Töne; die Musik war ihm alles, der Handel und Kommerz de: Vaters war ihm zu gemein und niedrig. Der Vater hatte einen harten Sinn, der Sohn auch; der Vater brauste leicht auf, der Sohn auch; der Vater stellte gleich alles auf die Spitze, der Sohn auch; kein Wunder, daß sie nicht miteinander leben konnten. Und als der Sohn sein zwanzigstes Jahr zurückgelegt hatte, war der Vater fünfzig; da brach er ab, sich zur Ruhe zu setzen und wollte dem Sohn den Handel geben. Es war auch bald alles in Richtigkeit und Ruhe; denn in einer schonen Sommernacht war der Sohn nebst einigen Klavierauszügen verschwunden , kam auch richtig nach England und schrieb ganz freundschaftlich, daß er nach Amerika gehen werde. Der Kommerzienrat wünschte ihm Glück auf den Weg und begab sich nach B.

Der Gedanke an den Musiknarren, wie er seinen Sohn nannte, trübte ihm zwar manche Stunde; denn er hatte ihn ersucht, sich nie mehr vor ihm sehen zu lassen, und es stand nicht zu erwarten, daß jener ungerufen wiederkehre; es wollte ihn zuweilen bedünken, als habe er doch töricht getan, als er ihn durchaus im Kommerz haben wollte; aber die Zeit, Gesellschaft und seine heitere Laune ließen diese trüben Gedanken nicht lange aufkommen; er lebte in Jubel und Freude, und wer ihn recht heiter sehen wollte, durfte nur zwischen elf Uhr und mittag durch die Breite Straße wandeln. Sah er dort einen langen, hagern Mann, dessen sehr moderne Kleidung, dessen Lorgnette und Reitpeitsche, dessen bewegliche Manieren nicht mehr recht zu seinen grauen Haaren passen wollten, sah er diesen Mann



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nach allen Seiten grüßen, alle Augenblicke bei diesem oder jenem stillstehen und schwatzen und mit den Armen fechten, so konnte er sich darauf verlassen, es war der Kommerzienrat Bolnau.

Aber heute war dies alles ganz anders. Hatte ihn schon zuvor die Erdungsgeschichte der Sängerin fast zu sehr affiziert, so war ihm das letzte Wort des Doktors in alle Glieder geschlagen. "Bolnau" hatte die Fiametti noch gesagt, ehe sie vom Bewußtsein kam. Seinen eigenen ehrlichen Namen hatte sie unter so verfänglichen Umständen ausgesprochen! Seine Knie zitterten und wollten ihm die Dienste versagen, sein Haupt senkte sich auf die Brust sorgenvoll und gedankenschwer . "Bolnau!' dachte er, "Königlicher Kommerzienrat! Wenn sie jetzt stürbe, die Sängerin, wenn das Mädchen dann ihr Geheimnis von sich gäbe und den Polizeidirektor mit den näheren Umständen des Mordes und mit dem verhängnisvollen Worte bekannt machte! Was kann nicht ein geschickter Jurist aus einem einzigen Wort argumentieren, besonders wenn ihn die Eitelkeit anfeuert, in einer solchen Cause célèbre seinen Scharfsinn zu zeigen." Er lorgnettierte mit verzweiflungsvollen Mienen das Zuchthaus, dessen Giebel aus der Ferne ragte. "Dorthin, Bolnau, aus ganz besonderer Gnade und Rücksicht auf mehrjährige Dienste!"

Er atmete schwerer, er lüftete die Halsbinde; aber erschreckt fuhr er zurück. War dies nicht der Ort, wo man das hanfene Halsband umknüpfte? War nicht dies die Stelle, wo das kalte Schwert durchging ?

Begegnete ihm ein Bekannter und nickte ihm zu, so dachte er: "Holla. der weiß schon um die Sache und will mir zu verstehen geben, daß er wohl unterrichtet sei." Ging ein anderer vorüber, ohne zu grüßen, so schien ihm nichts gewisser, als daß man ihn nicht kennen, sich nicht mit dem Umgang eines Mörders beflecken wolle. Es fehlte wenig, so glaubte er selbst, er sei schuldig am Mord, und es war kein Wunder, daß er einen großen Bogen machte, um das Polizeibureau zu vermeiden; denn konnte nicht der Direktor am Fenster stehen, ihn erblicken und herausrufen: "Wertester, beliebt es nicht, ein wenig heraufzuspazieren? Ich habe ein Wort mit Ihnen zu sprechen!" Verspürte er nicht schon jetzt ein gewisses Zittern, fühlte er nicht jetzt schon seine Züge sich zu einem Armensündergesicht verziehen, nur weil man glauben könnte, er sei der, den die Sängerin mit ihrem letzten Worte angeklagt?

Und dann fiel ihm wieder ein, wie schädlich eine solche Gemütsbewegung für seine Konstitution sei; ängstlich suchte er nach Fensterscheiben, um sich ruhig zu zählen; aber die Häuser und Straßen tanzten um ihn her, der Glockenturm schien sich höhnisch vor ihm zu neigen, ein wahnsinniges Grauen erfaßte ihn, er rannte durch die



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Straßen, bis er erschöpft in seiner Behausung niedersank, und seine erste Frage war, als er wieder ein wenig zu sich gekommen, ob nicht ein Polizeidiener nach ihm gefragt habe.4.

Als gegen Abend der Medizinalrat Lange zu seiner Kranken kam, fand er sie um vieles besser, als er sich gedacht hatte. Ersetzte sich an ihrem Bette nieder und besprach sich mit ihr über diesen unglücklichen Vorfall. Sie hatte ihren Arm auf die Kissen gestützt, in der zartgeformten Hand lag ihr schöner Kopf. Ihr Gesicht war noch sehr bleich; aber selbst die Erschöpfung ihrer Kräfte schien ihr einen eigentümlichen Reiz zu geben. Ihr dunkles Auge hatte nichts von jenem Feuer, jenem Ausdruck verloren, der den Doktor, obgleich er ein bedächtiger Mann und nicht mehr in den Jahren war, wo Phantasie der Schönheit zu Hilfe kommt, schon früher von der Bühne aus angezogen hatte. Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so schönen Kopf, ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge waren nichts weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch ihre Verbindung und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er lange keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des Medizinalrates blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene Reinheit der Seele, jener Adel der Natur, was diese jungfräulichen Züge mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß. "Es scheint, Sie studieren meine Züge, Doktor," sprach die Sängerin lächelnd; "Sie sitzen so stumm und sinnend da, starren mich an und scheinen ganz zu vergessen, was ich fragte. Oder ist es zu schrecklich, als daß ich es hören sollte? Darf ich nicht erfahren, was die Stadt über mein Unglück sagt?"

"Was wollen Sie alle die törichten Vermutungen hören, die müßige Menschen erfinden und weitersagen? Ich habe eben darüber nachgedacht, wie rein sich Ihre Seele auf Ihren Zügen spiegle; Sie haben ,maden in sich — was kümmert Sie das Urteil der Menschen?"

"Sie weichen mir aus," entgegnete sie, "Sie wollen mir entschlüpfen, indem Sie mir schöne Dinge sagen. Und mich sollte das Urteil der Menschen nicht kümmern? Welches rechtliche Mädchen darf sich so über die Gesellschaft, in welcher sie lebt, hinwegsetzen, daß es ihr gleich gilt, was man von ihr spricht? Oder glauben Sie etwa," setzte sie ernster hinzu, "ich werde nichts darnach fragen, weil ich einem Stand angehöre, dem man nicht viel Gutes zutraut? Gestehen Sie nur, Sie halten mich für recht leichtsinnig."

"Nein, gewiß nicht; ich habe immer nur Schönes von Ihnen



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gehört, Mademoiselle Fiametti, von Ihrem stillen, eingezogenen Leben, und daß Sie mit so sicherer Haltung in der Welt stehen, obgleich Sie so einsam und mancher Kabale ausgesetzt sind. Aber warum wollen Sie gerade wissen, was die Menschen sagen? Wenn ich nun als Arzt solche Neuigkeiten nicht für zuträglich hielt?"

"Bitte, Doktor, bitte, foltern Sie mich nicht so lange," rief sie: "sehen Sie, ich lese in Ihren Augen, daß man nicht gut von mir spricht. Warum mich in Ungewißheit lassen, die gefährlicher für die Ruhe ist als die Wahrheit selbst?"

Diesen letzten Grund fand der Medizinalrat sehr richtig; und konnte in seiner Abwesenheit nicht irgend eine geschwätzige Frau sich eindrängen und noch ärgeres berichten, als er sagen konnte? "Sie kennen die hiesigen Leute," antwortete er; "B. ist zwar ziemlich groß, aber, du lieber Gott, bei einer Neuigkeit der Art zeigt es sich, wie kleinstädtisch man ist. Es ist wahr, Sie sind das Gespräch der Stadt, dies kann Sie nicht wundern, und weil man nichts Bestimmtes weiß, so — nun, so macht man sich allerhand seltsame Geschichten. So soll z. B. die männliche Maske, die man auf der Redoute mit Ihnen sprechen sah und die ohne Zweifel dieselbe ist, welche diese Tat beging , ein —

"Nun, so reden Sie doch aus," bat die Sängerin in großer Spannung, "vollenden Sie!"

"ES soll ein früherer Liebhaber gewesen sein, der Sie in — in einer andern Stadt geliebt hat und aus Eifersucht Sie umbringen wollte."

"Von mir das! O, ich Unglückliche!" rief sie schmerzlich bewegt , und Tränen glänzten in ihren schönen Augen; "wie hart sind doch die Menschen gegen ein so armes, armes Mädchen, das ohne Schutz und Hilfe ist! Aber reden Sie aus, Doktor, ich beschwöre Sie! Es ist noch etwas anderes zurück, das Sie mir nicht sagten. In welcher Stadt, sagen die Leute, soll ich —

"Signora, ich hätte Ihnen mehr Kraft zugetraut," sprach Lange, besorgt über die Bewegung seiner Kranken. "Wahrlich, ich bereue es, nur so viel gesagt zu haben; ich hätte es nie getan, wenn ich nicht fürchtete, daß andere mir unberufen zuvorkämen."

Die Sängerin trocknete schnell ihre Tränen. "Ich will ruhig sein," sagte sie wehmütig lächelnd, "ruhig will ich sein wie ein Kind: ich will fröhlich sein, als hätten mir diese Menschen, die mich jetzt verdammen, ein tausendstimmiges Bravo zugerufen. Nur erzählen Sie weiter, lieber, guter Doktor!

"Nun, die Leute schwatzen dummes Zeug," fuhr jener ärgerlich fort. "So soll, als Sie letzthin im Othello auftraten, in einer der ersten Ranglogen ein fremder Graf gewesen sein; dieser will



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Sie erkannt und vor zwei Jahren in Paris in einem schlechten Hause gesehen haben. —Aber, mein Gott, Sie werden immer blasser —"

"Es ist nichts, der Schein der Lampe fiel nur etwas matter herüber; weiter, weiter!"

"Nun, dieses Gerede blieb von Anfang nur in den ersten Zirkeln: nach und nach kam es aber ins Publikum, und da dieser Vorfall hinzukommt , verbindet man beides und versetzt das frühere Verhältnis zu Ihrem Mörder in jenes berüchtigte Haus in Paris."

Auf den ausdrucksvollen Zügen der Kranken hatte während dieser Rede die tiefste Blässe mit flammender Röte gewechselt. Sie hatte sich höher aufgerichtet, als solle ihr kein Wort dieser schrecklichen Kunde entgehen; ihr Auge haftete starr und brennend auf dem Mund des Arztes, sie atmete kaum, ihr Herz schien stillzustehen. "Jetzt ist's aus," rief sie mit einem schmerzlichen Blick zum Himmel, indem Tränen ihrem Auge entstürzten, "jetzt ist es aus; wenn er dies hörte, so war es zu viel für seine Eifersucht. Warum bin ich nicht gestern gestorben! Ach, da hätte ich meinen guten Vater gehabt, und meine füße Mutter hätte mich getröstet über den Hohn dieser grausamen Menschen!"

Der Doktor staunte über diese rätselhaften Worte; er wollte eben ein tröstendes, besänftigendes Wort zu ihr sprechen, als die Türe mit Geräusch aufflog und ein großer junger Mann hereinfuhr. Sein Gesicht war auffallend schön, aber ein wilder Trotz verfinsterte seine Züge, sein Auge rollte, sein Haar hing verwildert um die Stirne. Er hatte ein großes, zusammengerolltes Notenblatt in der Faust, mit welchem er in der Luft herumfuhr und gleichsam agierte, ehe er Atem zum Sprechen fand. Bei seinem Anblick schrie die Sängerin laut auf, der Doktor glaubte anfangs, aus Angst, aber es war Freude; denn ein holdes Lächeln zog um ihren Mund, ihr Auge glänzte ihm durch Tränen entgegen. "Carlo!" rief sie, "Carlo! Endlich kommst du, nach mir zu sehen!"

"Elende!" rief der junge Mann, indem er majestätisch den Arm mit der langen Notenrolle nach ihr ausstreckte. "Laß ab von deinem Sirenengesang, ich komme — dich zu richten!"

"O Carlo! Wie kannst du so zu deiner Giuseppa sprechen!" unterbrach ihn die Sängerin, und ihre Töne klangen schmelzend und süß wie die Klänge der Flöte.

Der junge Mann wollte mit tragischem Pathos antworten; aber der Doktor, dem dieser Auftritt für seine Kranke zu angreifend schien, warf sich dazwischen. "Wertester Herr Carlo," sagte er, indem er ihm eine Prise bot, "belieben Sie zu bedenken, daß Mademoiselle in einem Zustand ist, wo solche Szenen allzusehr ihre schwachen Nerven affizieren!"



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Jener schaute ihn groß an und wandte die Rotenrolle gegen ihn: "Wer bist du, Erdenwurm?" rief er mit tiefer, dröhnender Stimme. "Wer bist du, daß du dich zwischen mich stellst und meinen Zorn?"

"Ich bin der Medizinalrat Lange," entgegnete dieser und schlug die Dose zu, "und in meinen Titeln befindet sich nichts von einem Erdenwurme. Ich bin hier Herr und Meister, so lange Signora krank ist, und ich sage Ihnen im guten, packen Sie sich hinaus, oder modulieren Sie Ihr Presto assai zu einem anständigen Larghetto !"

"O, lassen Sie ihn doch, Doktor," rief die Kranke ängstlich, "lassen Sie ihn doch, bringen Sie ihn nicht auf! Er ist mein Freund; Carlo wird mir nichts Böse:, tun, was ihm auch die schlechten Menschen wieder von mir gesagt haben."

"Ha! Du wagst es noch zu spotten! Aber wisse, ein Blitzstrahl hat die Tore deines Geheimnisses gesprengt und hat die Nacht erhellt , in welcher ich wandelte. Also darum sollte ich nicht wissen, was du warst, woher du kamst? Darum verschlossest du mir den Mund mit deinen Küssen, wenn ich nach deinem Leben fragte? Ich Tor! Daß ich von einer Weiberstimme mich bezaubern ließ und nicht bedachte, daß sie nur Trug und Lug ist! Nur im Gesang des Mannes wohnt Kraft und Wahrheit. Siel! Wie konnte ich mich von den Rouladen einer Dirne betören lassen!"

"O Carlo," flüsterte die Kranke, " wenn du wüßtest, wie deine Worte mein Herz verwunden, wie dein schrecklicher Verdacht noch tiefer dringt als der Stahl des Mörders!"

"Nicht wahr, Täubchen," schrie jener mit schrecklichem Lachen, deine Amorosi sollten blind sein, da wäre gut mit ihnen spielen? Der Pariser muß doch ein wackerer Kerl sein, daß er endlich doch noch das fromme Täubchen fand!

"Jetzt aber wird es mir doch zu bunt, Herr," rief der Doktor und packte den Rasenden am Rock; "auf der Stelle marschier' Er sich zu dem Zimmer hinaus, sonst werde ich die Hausleute rufen, daß sie Ihn expedieren!

"Ich gehe schon, Erdenwurm, ich gehe," schrie jener und stieß den Medizinalrat zurück, daß er ganz bequem in einen Fauteuil niedersaß; "ja, ich gehe, Giuseppa, um nimmer wiederzukehren. Lebe wohl oder stirb lieber, Unglückliche, verbirg deine Schmach unter der Erde! Aber jenseits verbirg deine Seele an einen Ort, wo ich dir nie begegnen möge: ich würde der Seligkeit fluchen, wenn ich sie mit dir teilte, weil du mich hier so schändlich um meine Liebe, um mein Leben betrogen." Er rief es, indem er noch etwas weniges mit den Noten agierte; aber sein wildes, rollendes Auge



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schmolz in Tränen, als er den letzten Blick auf die Geliebte warf, und schluchzend rannte er aus dem Zimmer.

"Ihm nach, halten Sie ihn auf," rief die Sängerin, "führen Sie ihn zurück, es gilt meine Seligkeit!

"Mitnichten, Wertgeschätzte," entgegnete Doktor Lange, indem er sich aus seinem Lehnstuhl aufrichtete; "diese Szene darf nicht fortgespielt werden. Ich will Ihnen etwas Niederschlagendes aufschreiben, das Sie, alle Stunden zwei Eßlöffel voll, einnehmen werden."

Die Unglückliche war in ihre Kissen zurückgesunken, ihre Kräfte waren erschöpft; sie verlor das Bewußtsein von neuem.

Der Doktor rief das Mädchen und suchte mit ihrer Hilfe die Kranke wieder ins Leben zurückzubringen, doch konnte er sich nicht enthalten, während er die Essenzen einflößte, das Mädchen tüchtig auszuschmälen. "Habe ich nicht befohlen, man solle niemand, gar niemand hereinlassen, und jetzt läßt man diesen Wahnsinnigen zu, der Ihr armes Fräulein beinahe zum zweitenmal ums Leben brachte!"

"Ich habe gewiß sonst niemand hereingelassen," sprach die Zofe weinend: "aber ihn konnte ich doch nicht abweisen; sie schickte mich ja schon heute dreimal in sein Haus, um ihn zu beschwören, nur auf einen kleinen Augenblick zu kommen; ich mußte ja sogar sagen, sie sterbe und wolle ihn vor ihrem Tode nur noch ein einziges Mal sehen!"

"So? Und wer ist denn dieser —"

Die Kranke schlug die Augen auf. Sie sah bald den Doktor, bald das Mädchen an; ihre Blicke irrten suchend durchs Zimmer. Er ist fort, er ist auf ewig hin," flüsterte sie; "ach, lieber Doktor, gehen Sie zu Bolnau!"

"Aber, mein Gott, was wollen Sie nur von meinem unglücklichen Kommerzienrat? Er hat sich über Ihre Geschichte schon genug alteriert, daß er zu Bette liegen muß; was kann denn er Ihnen helfen?"

"Ach, ich habe mich versprochen," erwiderte sie, "zu dem fremden Kapellmeister sollen Sie gehen; er heißt Bolani und logiert im Hotel de Portugal."

"Ich erinnere mich, von ihm gehört zu haben," sprach der Doktor, aber was soll ich bei diesem tun?"

"Sagen Sie ihm, ich wolle ihm alles sagen, er soll nur noch einmal kommen —doch nein. ich kann es ihm nicht selbst sagen; Doktor, wenn Sie ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen, ich will Ihnen alles sagen, uns Daun sagen Sie es wieder dem Unglücklichen, nicht wahr?"

"Ich stehe zu Befehl: was ich zu Ihrer Beruhigung tun kann, werde ich mit Freuden tun."



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"Nun, so kommen Sie morgen früh; ich kann heute nicht mehr so viel sprechen. Adieu, Herr Medizinalrat; doch noch ein Wort; Babette, gib dem Herrn Doktor sein Tuch!"

Das Mädchen schloß einen Schrank auf und reichte dem Doktor ein Tuch von gelber Seide, das einen starken, angenehmen Geruch im Zimmer verbreitete,

"Das Tuch gehört nicht mir," sprach jener, "Sie irren sich, ich führe nur Schnupftücher von Leinwand." "Unmöglich!' entgegnete das Mädchen; " wir fanden es heute nacht am Boden, ins Haus gehört es nicht, und sonst war noch niemand da als Sie."

Der Doktor begegnete den Blicken der Sängerin, die erwartungsvoll auf ihm ruhten. "Könnte nicht dieses Tuch jemand anderem entfallen sein?" fragte er mit einem festen Blick auf sie.

"Zeigen Sie her," erwiderte sie ängstlich; "daran hatte ich noch nicht gedacht." Sie untersuchte das Tuch und fand in der Ecke einen verschlungenen Namenszug; sie erbleichte, sie fing an zu zittern.

"Es scheint, Sie kennen dieses Tuch und die Person, die es verloren hat," fragte Lange weiter; "es könnte zu etwas führen; darf ich es nicht mit mir nehmen? Darf ich Gebrauch davon machens"

Giuseppa schien mit sich zu kämpfen; bald reichte sie ihm da; Tuch, bald zog sie es ängstlich und krampfhaft zurück. "Es sei," sagte sie endlich; "und sollte der Schreckliche noch einmal kommen und mein wundes Herz diesmal besser treffen, ich wage es; nehmen Sie Doktor. Ich will Ihnen morgen Erläuterungen zu diesem Tuche geben."

5.

Man kann sich denken, wie ausschließlich diese Vorfälle die Seele des Medizinalrats Lange beschäftigten. Seine ausgebreitete Praxis war ihm jetzt ebensosehr zur Last, als sie ihm vorher Freude gemacht hatte; denn verhinderten ihn nicht die vielen Krankenbesuche, die er vorher zu machen hatte, die Sängerin am andern Morgen recht bald zu besuchen und jene Aufschlüsse und Erläuterungen zu vernehmen. denen sein Herz ungeduldig entgegenpochte? Doch zu etwas waren diese Besuche in dreißig bis vierzig Häusern gut; er konnte, wie er zu sagen pflegte, hinhorchen, was man über die Fiametti sage, vielleicht konnte er auch über ihren sonderbaren Liebhaber, den Kapellmeister Bolani, eines oder das andere erfahren.

Über die Sängerin zuckte man die Achseln. Man urteilte um so unfreundlicher über sie, je ärgerlicher man darüber war, daß so



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lange nichts Offizielles und Sicheres über ihre Geschichte ins Publikum kam. Ihre Neider — und welche ausgezeichnete Sängerin, wenn sie dazu schön und achtzehn Jahre alt ist, hat deren nicht genug? —ihre Neider gönnten ihr alles und machten hämische Bemerkungen; die Gemäßigten sagten: "So ist es mit solchem Volke; einer Deutschen wäre dies auch nicht passiert." Ihre Freunde beklagten sie und fürchteten für ihren Ruf beinahe noch mehr als für ihre Gesundheit. Das arme Mädchen! dachte Lange und beschloß, um so eifriger ihr zu dienen.

Vom Kapellmeister wußte man wenig, weder Schlechtes, noch Gutes. Er war vor etwa drei Vierteljahren nach B. gekommen, hatte sich im Hotel de Portugal ein Dachstübchen gemietet und lebte sehr eingezogen und mäßig. Erschien sich von Gesangstunden und musikalischen Kompositionen zu nähren. Alle wollten übrigens etwas überspanntem, Hochfahrendes an ihm bemerkt haben; die, welche ihn näher kennen gelernt hatten, fanden ihn sehr interessant, und schon mancher Musikfreund soll sich ein Kuvert an der Abendtafel im Hotel de Portugal bestellt haben, nur um seine herrliche Unterhaltung über die Musik zu genießen. Aber auch diese kamen dann überein, daß es mit Bolani nicht ganz richtig sei; denn er vernachlässige , verachte sogar den weiblichen Gesang, während er mit Entzücken von Männerstimmen. besonders von Männerchören spreche. Er hatte übrigens keinen näheren Bekannten, keinen Freund; von seinem Verhältnis zur Sängerin Fiametti schien niemand etwas zu wissen.

Den Kommerzienrat Bolnau fand er noch immer unwohl und im Bette; er schien sehr niedergeschlagen und sprach mit unsicherer, heiserer Stimme allerlei Unsinn über Dinge, die sonst gänzlich außer seinem Gesichtskreise lagen. Er hatte eine Sammlung berühmter Rechtsfälle um sich her, in welchen er eifrig studierte; die Frau Kommerzienrätin behauptete, er habe die ganze Nacht dann gelesen und hie und da schrecklich gewinselt und gejammert. Seine Lektüre betraf besonders die unschuldig Hingerichteten, und er äußerte gegen den Medizinalrat, es liege eigentlich für den Menschenfreund ein großer Trost in der Langsamkeit der deutschen Justiz; denn es lasse sich erwarten, daß, wenn ein Prozeß zehn oder mehrere Jahre daure, die Unschuld doch leichter an den Tag komme, als wenn man heute gefangen und morgen gehangen werde,

Die Sängerin Fiametti, für welche der Doktor endlich ein Stündchen erübrigt hatte, war düster und niedergeschlagen, als sei keine Hoffnung mehr für sie auf Erden. Ihr Auge war trübe, sie mußte geweint haben. Die Wunde war über alle Erwartung gut, aber mit ihrem zunehmenden körperlichen Wohlbefinden schien die



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Ruhe und Gesundheit ihrer Seele zu schwinden. "Ich habe lange darüber nachgedacht," sagte sie, "und fand, daß Sie, lieber Doktor. doch auf höchst sonderbare Weise in mein Schicksal verwebt werden. Ich kannte Sie vorher nicht; ich gestehe, ich wußte kaum, daß ein Medizinalrat Lange in B. existiere. Und jetzt, da ich mit einem Schlage so unglücklich geworden bin, sendet mir Gott einen so teilnehmenden, väterlichen Freund."

"Mademoiselle Fiametti," erwiderte Lange, "der Arzt hat an manchem Bette mehr zu tun, als nur den Puls an der Linken zu fühlen, Wunden zu verbinden und Mixturen zu verschreiben. Glauben Sie mir, wenn man so allein bei einem Kranken sitzt, wenn man den innern Puls der Seele unruhig pochen hört, wenn man Wunden verbinden möchte, die niemand sieht, da wird auf wunderbare Weise der Arzt zum Freunde, und der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Körper und Seele scheint auch in diesem Verhältnisse auffallend zu wirken."

"So ist es," sprach Giuseppa, indem sie zutraulich seine Hand faßte; "so ist es, und auch meine Seele hat einen Arzt gefunden. Sie werden vielleicht viel für mich tun müssen. Es möchte sein, daß Sie sogar vor den Gerichten in meinem Namen handeln müssen. Wenn Sie einem armen Mädchen, das sonst gar keine Stütze hat, dieses große Opfer bringen wollen, so will ich mich Ihnen entdecken."

"Ich will es tun," sprach der freundliche Alte, indem er ihre Hand drückte.

"Aber bedenken Sie es wohl; die Welt hat meinen Ruf angegriffen , sie klagt mich an, sie verdammt mich. Wenn nun die Menschen auch auf Sie höhnisch mit den Fingern deuten, daß Sie der verrufenen Sängerin, der schlechten Italienerin, ach! meiner sich angenommen haben, werden Sie das ertragen können?"

"Ich will es," rief der Doktor mit Ernst. "Erzählen Sie!"

6.

"Mein Vater," erzählte die Sängerin, " war Antonio Fiametti, ein berühmter Violinspieler, der Ihnen aus jüngeren Jahren nicht unbekannt sein kann; denn sein Ruf hatte sich durch Konzerte, die die er an Höfen und in großen Städten gab, überall verbreitet. Ich kann mir ihn nur noch aus meiner frühesten Kindheit denken, wie er mir die Skala vorgeigte, die ich schon im dritten Jahre sehr richtig nachfang. Meine Mutter war zu ihrer Zeit eine vorzügliche Sängerin gewesen und pflegte in den Konzerten meines Vaters einige Arien und Kanzonetten vorzutragen. Ich war vier Jahre alt, als mein



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Vater auf der Reise starb und uns in Armut zurückließ. Meine Mutter mußte sich entschließen, durch Singen uns fortzubringen. Sie heiratete nach einem Jahre einen Musiker, der ihr von Anfang sehr geschmeichelt haben soll; nachher aber zeigte es sieh, daß er sie nur geheiratet, um ihre Stimme zu benützen. Er wurde Musikdirektor in W —b —g, einer kleinen deutschen Stadt in Frankreich, und da fing erst unser Leiden recht an.

"Meine Mutter bekam noch drei Kinder und verlor ihre Stimme so sehr, daß sie beinahe keinen Ton mehr singen konnte. Dadurch war die größte Geldquelle meines Stiefvaters versiegt; denn seine Konzerte waren nur durch meine Mutter glänzend und zahlreich gewesen. Er plagte sie von jetzt an schrecklich; mir wollte er gar nicht mehr zu essen geben, bis er endlich auf ein Mittel verfiel, mich brauchbar zu machen. Er marterte mich ganze Tage lang und geigte mir die schwersten Sachen von Mozart, Gluck, Rossini und Spontini ein, die ich dann Sonntag abends mit großem Applaus absang; das arme Schepperl, so hatte man meinen Namen Giuseppa verketzert, wurde eines jener unglücklichen Wunderkinder, denen die Natur ein schönes Talent zu ihrem größten Unglück gegeben hat; der Grausame ließ mich alle Tage singen, er peitschte mich, er gab mir tagelang nichts zu essen, wenn ich nicht richtig intoniert hatte; die Mutter aber konnte meine Qualen nicht mehr lange sehen; es war, als ob ihr Leben in ihren stillen Tränen dahinfließe; an einem schönen Frühlingsmorgen fanden wir sie tot. Was soll ich Sie von meinen Marterjahren unterhalten , die jetzt anfingen? Ich war elf Jahre alt und sollte die Haushaltung führen, die kleinen Geschwister erziehen und dabei noch singen lernen für die Konzerte! O, es war eine Qual der Hölle!

"Um diese Zeit kam oft ein Herr zu uns, der dem Vater immer einen Sack voll Fünffrankenstücke mitbrachte. Ich kann nicht ohne Grauen an ihn denken. Er war ein großer, hagerer Mann von mittlerem Alter; er hatte kleine, blitzende, graue Augen, die ihn durch ihren unangenehmen, stechenden Ausdruck vor allen Menschen, die ich je gesehen, auszeichneten. Mich schien er besonders liebgewonnen zu haben. Er lobte, wenn er kain, meine Größe, meinen Anstand, mein Gesicht, meinen Gesang. Er setzte mich auf seine Knie, obgleich mich ein unwillkürliches Grauen von ihm wegdrängte; er küßte mich trotz meines Schreiens, er sagte wohlgefällig: ,Noch zwei — drei Jahre, dann bist du fertig, Schepperl!' Und er und mein Stiefvater brachen in ein wildes Lachen bei dieser Prophezeiung aus. An meinem funfzehnten Geburtstag sagte mein Stiefvater zu mir Höre, Schepperl, du hast nichts, du bist nichts, ich gebe dir nichts, ich will nichts von dir, habe auch hinlänglich genug an meinen drei übrigen Rangen; die Christel (meine Schwester) wird jetzt statt deiner



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das Wunderkind. Was du hast, dein bißchen Gesang, hast du von mir, damit wirst du dich fortbringen. Der Onkel in Paris will dich übrigens aus Gnade in sein Haus aufnehmen.' — ,Der Onkel in Paris? rief ich staunend; denn bisher wußte ich nichts von einem solchen. Ja, der Onkel in Paris,' gab er zur Antwort, ,er kann alle Tage kommen.

"Sie können sich denken, wie ich mich freute; es ist jetzt drei Jahre her, aber noch heute ist die Erinnerung an jene Stunden so lebhaft in mir, als wäre es gestern gewesen. Das Glück, aus dem Hause meines Vaters zu kommen, das Glück, einen Onkel zu haben, der sich meiner erbarme, das Glück, nach Paris zu kommen, wo ich mir den Sitz des Putzes und der Seligkeit dachte, —ich war berauscht von so vielem Glück; so oft ein Wagen fuhr, sah ich hinaus, ob nicht der Onkel komme, mich in sein Reich abzuholen. Endlich fuhr eines Abends ein Wagen vor unserem Hause vor. ,Das ist dein Onkel!' rief der Vater; ich flog hinab, ich breitete meine Arme aus nach meinem Erretter —grausame Täuschung! Es war der Mann mit den Fünffrankenstücken.

"Ich war beinahe bewußtlos in jenen Augenblicken; aber dennoch vergesse ich die teuflische Freude nie, die aus seinen grauen Augen blitzte, als er mich hoch aufgewachsen fand; noch immer klingt mir seine krächzende Stimme in den Ohren: ,Jetzt bist du recht, mein Täubchen; jetzt will ich dich einführen in die große Welt.' Er faßte mich mit der einen Hand, mit der andern warf er einen großen Geldsack auf den Tisch; der Sack fuhr auf, ein glänzender Regen von Silber- und Goldstücken rollte auf den Boden; meine drei kleinen Geschwister und der Vater jubelten, rutschten auf dem Boden umher und lasen die Stücke auf, — es war — mein Kaufpreis.

"Schon den folgenden Tag ging es nach Paris. Der hagere Mann —ich vermochte es nicht, ihn Onkel zu nennen — predigte mir beständig vor, welch glänzende Rolle ich in seinen Salons spielen werde. Ich konnte mich nicht freuen; eine Angst, eine unerklärliche Bangigkeit waren an die Stelle meiner Freude, meines Glückes getreten. Vor einem großen, erleuchteten Hause hielt der Wagen; wir waren in Paris. Zehn bis zwölf schöne, allerliebste Mädchen hüpften die breiten Treppen herab uns entgegen. Sie hetzten und küßten mich und nannten mich Schwester Giuseppa; ich fragte den Hagern: .Sind dies Ihre Töchter, mein Herr?' — ,Gui, es äons des filles!' rief er lachend, und die Mädchen und die zahlreiche Dienerschaft stimmten ein mit einem rohen, schallenden Gelächter.

"Schöne Kleider, prachtvolle Zimmer zerstreuten mich. Ich wurde am folgenden Abend herrlich angekleidet; man führte mich in den Salon. Die zwölf Mädchen saßen im schönsten Putz an



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Spieltischen, auf Kanapees, am Flügel. Sie unterhielten sich mit jungen und älteren Herren sehr lebhaft. Als ich eintrat, brachen alle auf, gingen mir entgegen und betrachteten mich. Der Herr des Hauses führte mich zum Flügel, ich mußte singen; allgemeiner Beifall wurde mir zuteil. Man zog mich ins Gespräch, meine ungebildeten, halb italienischen Ausdrücke galten für Naivität; man bewunderte mich, ich erröte heute noch, mit welchen Worten mir man dieses sagte. So ging es mehrere Tage herrlich und in Freuden. Ich lebte ungeniert, ich hätte zufrieden leben können, wenn ich mich nicht höchst unbehaglich, beinahe bänglich in diesem Hause, in dieser Gesellschaft gefühlt hätte; in meiner naiven Unschuld glaubte ich, so sei nun einmal die grobe Welt, und man müsse sich in ihre Sitten fügen. Eines fiel mir jedoch auf. Als ich an einem Abend zufällig an der Treppe vorbeiging, sah ich, daß die Herren, die uns besuchten, dem Portier Geld gaben, dafür blaue oder rote Karten bekamen und solche einem Bedienten vor dem Salon wieder übergaben. Ein junger Stutzer, der an mir vorüberkam, wies mir mit zärtlichen Blicken eine dieser roten Karten; ich weiß heute noch nicht, warum ich darüber errötete. Aber hören Sie weiter, was sich bald zutrug!

"Sehen Sie, lieber Doktor, hier habe ich ein kleines unscheinbares Papier. Diesem bin ich meine Rettung schuldig. Ich fand es eines Morgens unter den Brötchen meines Frühstücks. Ich weiß nicht, von welcher gütigen Hand es kam; aber möge der Himmel das Herz belohnen, das sich meiner erbarmte. Es lautet:

'Mademoiselle!

'Das Haus, welches Sie bewohnen, ist ein Freudenhaus; die Damen, die Sie um sich sehen, sind Freudenmädchen; sollten wir uns in Giuseppa geirrt haben? Wird sie einen kurzen Schimmer Von Glück mit langer Reue erkaufen wollen?'

"Es war ein schreckliches Licht, es drohte, mich völlig zu erblinden; denn es zerriß beinahe zu plötzlich meinen unschuldigen Kindersinn und den Traum Von einer unbesorgten, glücklichen Lage. Was war zu tun? Ich hatte in meinem Leben noch nicht gelernt, Entschlüsse zu fassen. Der Mann, dem dieses Haus gehörte, war mir wie ein fürchterlicher Zauberer, der jeden meiner Gedanken lesen könne, der jetzt schon darum wissen müsse, was ich erfahren. Und dennoch wollte ich lieber sterben, als noch einen Augenblick hier verweilen . —Ich hatte ein Mädchen geradeüber von unserer Wohnung zuweilen Italienisch sprechen hören; ich kannte sie nicht, — aber kannte ich denn sonst jemand in dieser ungeheuren Stadt? Diese vaterländischen Klänge erweckten Zutrauen in mir; zu ihr wollte ich flüchten, ich wollte sie auf den Knien anflehen, mich zu retten.



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"Es war sieben Uhr frühe' ich war meiner ländlichen Gewohnheit treu geblieben, stand immer frühe auf und pflegte gleich nachher zu frühstücken, und dies rettete mich. Um diese Zeit schliefen noch alle, sogar ein großer Teil der Domestiken. Nur der Portier war zu fürchten. Doch — konnte er denken, daß jemand aus diesem Tempel der Herrlichkeit entfliehen werde? Ich wagte es; ich warf mein schwarzes, unscheinbares Mäntelchen um, ich eilte die Treppe hinab; meine Knie schwankten, als ich an der Loge des Portiers vorbeiging; er bemerkte mich nicht; drei Schritte, und ich war frei.

"Rechts über die Straße hinüber wohnte das italienische Mädchen. Ich sprang über die breite Straße; ich pochte am Haus, ein Diener öffnete. Ich fragte nach der Signora mit dem schwarzen Lockenköpfchen, die Italienisch spreche. Der Diener lachte und sagte, ich meine wohl die kleine Exzellenza Seraphine. ,Dieselbe, dieselbe, antwortete ich, ,führen Sie mich geschwind zu ihr!' Er schien anfangs Bedenken zu tragen, weil es noch so früh am Tag sei, doch meine Bitten überredeten ihn. Er führte mich in dem zweiten Stock in ein Zimmer, hieß mich warten und rief dann eine Zofe, der Exzellenza mich zu melden. Ich hatte mir gedacht, das hübsche italienische Mädchen werde meines Standes sein; ich schämte mich, einer Höheren mich zu entdecken; aber man ließ mir keine Zeit, mich zu besinnen; die Zofe erschien, mich vor das Bett ihrer Gebieterin zu führen. Ja, sie war es, es war die schöne junge Dame, die ich hatte Italienisch sprechen hören. Ich stürzte vor ihr nieder und flehte sie um ihren Schutz an; ich mußte ihr meine ganze Geschichte erzählen. Sie schien gerührt und versprach, mich zu retten. Sie ließ den Diener, der mich heraufgeführt hatte, kommen und legte ihm das strengste Stillschweigen auf; dann wies sie mir ein kleines Stübchen an, dessen Fenster in den Hof gingen, gab mir zu arbeiten und zu lesen, und so lebte ich mehrere Tage in Freude über meine Rettung, in Angst über meine Zukunft.

"Es war da: Haus des Gesandten eines kleinen deutschen Hofes, in welches ich aufgenommen war. Die Exzellenza war seine Nichte, eine geborene Italienerin, die bei ihm in Paris erzogen worden war. Sie war ein gütiges, liebenswürdiges Geschöpf, dessen Wohltaten ich nie vergessen werde. Sie kam alle Tage zu mir und tröstete mich; sie sagte mir, daß der Gesandte durch seine Bedienten in dem Hause des argen Mannes nachgeforscht habe. Man sei sehr in Bestürzung, suche es aber zu verbergen. Die Diener drüben flüstern geheimnisvoll , es habe sich eine Mamsell aus einem Fenster des zweiten Stocks in den Kanal der Seine gestürzt. Sonderbare Fügung! Mein Zimmer war ein Eckzimmer und sah mit der einen Seite nach der Straße, die andere ging schroff hinab in einen Kanal. Ich erinnerte mich, an



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jenem Morgen ein Fenster dieser Seite geöffnet zu haben; wahrscheinlich war es offen geblieben, und so mochte man sich mein Verschwinden erklären. Signora Seraphina sollte um diese Zeit nach Italien zurückkehren, sie war so gütig, mich mitzunehmen. Ja, sie tat noch mehr für mich; sie bewog ihre Eltern in Piacenza, daß sie mich wie ihr Kind in ihr Haus aufnahmen; sie ließ mein Talent ausbilden, ihr habe ich Freiheit, Leben, Kunst, o! vielleicht mehr, als ich weiß, zu danken. In Piacenza lernte ich den Kapellmeister Bolani, der übrigens kein Italiener ist, kennen; er schien mich zu lieben, aber er sagte es mir nicht. Ich nahm bald nachher den Ruf an das hiesige Theater an. Man schätzte mich hier, man hat mir sonst wohlgewollt, mein Leben und mein Ruf waren unsträflich, ach, ich habe in dieser langen Zeit nie einen Mann bei mir gesehen, als — ich kann Ihnen dieses schöne Verhältnis ohne Erröten gestehen —als Bolani, der mir bald hieher nachgereist war. Sie haben mein Leben jetzt gehört; sagen Sie mir, habe ich etwas getan, um so bittere Strafe zu verdienen? Habe ich so Entsetzliches verschuldet?"7.

Als die Sängerin geendet hatte, ergriff der Medizinalrat Lange ihre Hand. "Ich wünsche mir Glück," sagte er, "den wenigen guten Menschen, die Sie auf Ihrem Lebenswege gefunden haben, beitreten zu können. Meine Kräfte sind zwar zu schwach, um für Sie tun zu können, was die treffliche kleine Exzellenza für Sie tat; aber ich will suchen, Ihr trauriges Geschick entwirren zu helfen; ich will den Brausewind, Ihren Freund, zu versöhnen suchen. Aber sagen Sie mir nur, was ist denn Herr Bolani eigentlich für ein Landsmann " —

"Da fragen Sie mich zu viel," erwiderte sie ausweichend; "ich weiß nur, daß er ein Deutscher von Geburt ist und, wenn ich nicht irre, wegen Familienverhältnissen vor mehreren Jahren sein Vaterland verließ. Erhielt sich in England und Italien auf und kam vor etwa drei Vierteljahren hieher."

"So, so? Aber warum haben Sie ihm das, was Sie mir erzählten , nicht schon früher selbst gesagt?"

Giuseppa errötete bei dieser Frage; sie schlug die Augen nieder und antwortete: "Sie sind mein Arzt, mein väterlicher Freund, es ist mir, wenn ich zu Ihnen spreche, als spräche ein Kind zu seinem Vater. — Aber konnte ich denn dem jungen Manne von diesen Dingen erzählen? Und ich kenne ja seine schreckliche Eifersucht, seinen leicht gereizten Argwohn; ich konnte es nie über mich vermögen, ihm zu sagen, welchen Schlingen ich entflohen war,"



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"Ich ehre, ich bewundere Ihr Gefühl; Sie sind ein gutes Kind; glauben Sie mir, es tut einem alten Manne wohl, auf solche dezente Gefühle aus der alten Zeit zu stoßen; denn heutzutage gilt es für guten Ton, sich über dergleichen wegzusetzen. Aber noch haben Sie mir nicht alles erzählt; der Abend auf der Redoute, jene schreckliche

"ES ist wahr, ich muß Ihnen noch weiter sagen. Ich habe, so oft ich im stillen über meine Rettung nachdachte, die Vorsehung gepriesen , daß man in jenem Hause glaubte, ich habe mich selbst getötet; denn es war mir nur zu gewiß, daß, wenn jener Schreckliche nur die entfernte Ahnung von meinem Leben habe, er kommen würde, sein Opfer zurückzuholen oder es zu verderben; denn er mochte manches Fünffrankenstück für mich bezahlt haben. Deswegen habe ich, solange ich in Piacenza war, manches schöne Anerbieten zu Theatern abgelehnt, weil ich mich scheute, öffentlich aufzutreten. Als ich aber etwa anderthalb Jahre dort war, brachte mir eines Morgens Seraphina ein Pariser Zeitungsblatt, wonn der Tod des Chevalier de Planto angezeigt war."

"Chevalier de Plantae unterbrach sie der Arzt; "hieß so jener Mann, der Sie an:, dem Hause Ihres Stiefvaters führte?"

"So hieß er. Ich war voll Freude, meine letzte Furcht war verschwunden , und es stand nichts mehr im Wege, meiner Wohltäterin nicht mehr beschwerlich zu fallen. Schon einige Wochen nachher kam ich nach B. Ich ging vorgestern abend auf die Redoute; ich will Ihnen nur gestehen, daß ich recht freudig gestimmt war. Bolani durfte nicht wissen, in welchem Kostüm ich erscheinen würde; ich wollte ihn necken und dann überraschen. Auf einmal, wie ich allein durch den Saal gehe, flüsterte eine Stimme in mein Ohr: .Schepperl! was macht dein Onkel?' Ich war wie niedergedonnert; diesen Namen hatte ich nicht mehr gehört, seit ich den Händen jenes Fürchterlichen entgangen war. Mein Onkel! Ich hatte ja keinen, und nur einer hatte gelebt, der sich vor der Welt dafür ausgab, der Chevalier de Planto. Ich hatte kaum so viel Fassung, zu erwidern: ,Du irrst dich, Maske!' Ich wollte hinwegeilen, mich unter das Gewühl der Menge verbergen; aber die Maske schob ihren Arm in den meinigen und hielt mich fest. ,Schepperl!' sprach der Unbekannte, ,ich rate dir, ruhig neben mir herzugehen, sonst werde ich den Leuten erzählen, in welcher Gesellschaft du dich früher umhergetrieben.' Ich war vernichtet, es wurde Nacht in meiner Seele; nur ein Gedanke war in mir lebhaft, die Furcht vor der Schande. Was konnte ich armes, hilfloses Mädchen machen, wenn dieser Mensch, wer er auch sein mochte, solche Dinge von mir aussagte? Die Welt würde ihm geglaubt haben, und Carlo! ach, Carlo wäre nicht der letzte gewesen, der mich verdammt hätte.



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Ich folgte dem Mann an meiner Seite willenlos. Er flüsterte mir die schrecklichsten Dinge zu; meinen Onkel, wie er den Chavalier nannte, habe ich unglücklich gemacht, meinen Vater, meine Familie ins Verderben gestürzt. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich riß mich los und rief nach meinem Wagen. Als ich mich aber auf der Treppe umsah, war diese schreckliche Gestalt mir gefolgt. .Ich fahre mit dir nach Hause, Schepperl', sprach er mit schrecklichem Lacken; ich habe noch ein paar Worte mit dir zu reden.' Die Sinne vergingen mir, ich fühlte, daß ich ohnmächtig wurde, ich erwachte erst wieder im Wagen, die Maske saß neben mir. Ich stieg aus und ging auf mein Zimmer, er folgte; er fing sogleich wieder an zu reden; in der Todesangst, ich möchte verraten werden, schickte ich Babette hinaus.

'Was willst du hier, Elender?' rief ich, voll Wut, mich so beleidigt zu sehen. .Was kannst du von mir Schlechtes sagen? Ohne meinen Willen kam ich in jenes Haus; ich verließ es, als ich sah, was dort meiner warte.

'Schepperl, mache keine Umstände! Es gibt nur zwei Wege, dich zu retten. Entweder zahlst du auf der Stelle zehntausend Franken, sei es in Juwelen oder Gold, oder du folgst mir nach Paris; sonst weiß morgen die ganze Stadt mehr von dir, als dir lieb ist.' Ich war außer mir. ,Wer gibt dir dieses Recht, mir solche Zumutungen zu machen?' rief ich. ,Wohlan! sage der Stadt, was du willst; aber auf der Stelle verlasse dieses Haus! Ich rufe die Nachbarn.

"Ich hatte einige Schritte gegen das Fenster getan; er lief mir nach, packte meinen Arm. .Wer mir das Recht gibt?' sprach er. .Dein Vater, Täubchen, dein Vater.' Ein teuflisches Lachen tönte aus seinem Mund, der Schein der Kerze fiel auf ein Paar graue, stechende Augen, die mir nur zu bekannt waren. In demselben Moment war mir klar, wen ich vor mir hatte; ich wußte jetzt, daß sein Tod nur ein Blendwerk war, das er zu irgendeinem Zweck erfunden hatte; die Verzweiflung gab mir übernatürliche Kraft; ich rang mich los, ich wollte ihm seine Maske abreißen. ,Ich kenne Euch, Chevalier de Planto,' rief ich, .aber Ihr sollt den Gerichten Rechenschaft über mich geben müssen.' — ,Soweit sind wir noch nicht, Täubchen,' sagte er, und in demselben Augenblick fühlte ich sein Eisen in meiner Brust; ich glaubte zu sterben —

Der Doktor schauderte; es war heller Tag, und doch graute ihm, wie wenn man im Dunkeln von Gespenstern spricht. Er glaubte, das heisere Lachen dieses Teufels zu hören; er glaubte, hinter den Gardinen des Bettes die grauen, stechenden Augen dieses Ungeheuers glänzen zu sehen. "Sie glauben also," sagte er nach einer Weile, "daß der Chevalier nicht tot ist, daß es derselbe ist, der Sie ermorden wollte?"

"Seine Stimme, sein Auge überzeugten mich; das Tuch, das ich



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Ihnen gestern gab, machte es mir zur Gewißheit. Die Anfangslettern seines Namens sind dort eingezeichnet."

"Und geben Sie mir Vollmacht, für Sie zu handeln? Darf ich alles, was Sie mir sagten, selbst vor Gericht angeben?"

"Ich habe keine Wahl, alles! Aber nicht wahr, Doktor, Sie gehen zu Bolani und sagen ihm, was ich Ihnen sagte? Er wird Ihnen glauben, er kannte auch ja Seraphine."

"Und darf ich nicht auch wissen," fuhr der Medizinalrat fort, "wie der Gesandte hieß, in dessen Haus Sie sich verbargen?"

"Warum nicht? Es war ein Baron Martenow."

"Wie?" rief Lange in freudiger Bewegung. "Der Baron Martenow? Ist er nicht in . . . . sahen Diensten?"

"Ja, kennen Sie ihn? Er war Gesandter des . . . scheu Hofes in Pans und nachher in Petersburg."

"O, dann ist es gut, sehr gut," sagte der Medizinalrat und rieb sich freudig die Hände. "Ich kenne ihn, er ist seit gestern hier; er hat mich rufen lassen; er wohnt im Hotel de Portugal."

Eine Träne blinkte in dem Auge der Sängerin, und von frommen Empfindungen schien ihr Herz bewegt. "So mußte ein Mann," sagte sie, "den ich viele hundert Meilen entfernt glaubte, hierher kommen, um die Wahrheit meiner Erzählung zu bekräftigen! Gehen Sie zu ihm; ach, daß auch Carlo zuhören könnte, wenn er Ihnen versichert , daß ich die Wahrheit sprach!"

"Er soll es, er soll mit mir, ich will es schon machen. Adieu, gutes Kind; seien Sie recht ruhig, es muß Ihnen noch gut gehen auf Erden, und nehmen Sie doch die Mixtur recht fleißig, alle Stunden zwei Löffel voll!" So sprach der Doktor und ging. Die Sängerin aber dankte ihm durch ihre freundschaftlichsten Blicke. Sie war ruhiger und heiter; es war, als habe sie eine große Last mit ihrem Geheimnis hinweggewälzt. Sie sah vertrauensvoller in die Zukunft; denn ein gütiges Geschick schien sich des armen Mädchens zu erbarmen.

8.

Der Baron Martenow, dem Lange früher einmal einen wichtigen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte, nahm ihn freundlich auf und gab ihm über die Sängerin Fiametti die genügendsten Aufschlüsse . Er bestätigte nicht nur beinahe wörtlich ihre Erzählung, sondern er brach auch in die lauteste Lobeserhebung ihres Charakters aus; ja, er versprach, wohin er in dieser Stadt kommen würde, überall zu ihren Gunsten zu sprechen und die Gerüchte zu widerlegen, die über sie im Umlauf waren. Er hat auch Wort gehalten; denn



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hauptsächlich seinem Ansehen und der edelmütigen Art, womit er sich der Italienerin annahm, schrieben es ihre Freunde zu, daß die Gesinnungen des Publikums über sie in wenigen Tagen wie durch einen Zauberschlag sich änderten. Der Medizinalrat Lange aber stieg an jenem Tage, als er vom Gesandten kam, aus der Beletage des Hotels de Portugal noch einige Treppen höher, in die Mansarden; in Nr. 54 sollte der Kapellmeister wohnen. Erstand vor der Türe still, um Atem zu schöpfen; denn die steilen Treppen hatten ihn angegriffen . Sonderbare Töne drangen aus dieser Türe in sein Ohr. Es schien ein Schwerkranker dann zu sein; denn er vernahm ein tiefes Stöhnen und Seufzen, das aus hohler Brust aufzusteigen schien. Dann klangen wieder schreckliche französische und italienische Flüche dazwischen, wie wenn Ungeduld dem Jammer Luft machen will, und ein heiseres Lachen der Verzweiflung bildete wieder den Übergang zu jenen tiefen Seufzern. Der Medizinalrat schauderte. "Habe ich doch schon neulich etwas weniges Wahnsinn an dem Maestro verspürt ," dachte er, "sollte er vollends übergeschnappt sein, oder ist er krank geworden aus Schmerz?" Er hatte schon den Finger gekrümmt, um anzuklopfen, als sein Blick noch einmal auf die Nummer der Türe fiel; es war Nr. 53. Wie hatte er sich doch täuschen können; fast wäre er zu einem ganz fremden Menschen eingetreten. Unwillig über sich selbst ging er eine Türe weiter; hier war erst 54; hier lautete es auch ganz anders. Eine tiefe, schöne Männerstimme sang ein Lied, begleitet von dem Pianoforte; der Medizinalrat trat ein; es war jener junge Mann, den er gestern bei der Sängerin gesehen.

Im Zimmer lagen Notenblätter, Gitarren, Violinen, Saiten und anderer Musikbedarf umher, und mitten unter diesen Trümmern stand der Kapellmeister in einem weiten, schwarzen Schlafrock, eine rote Mütze auf dem Kopf und eine Notenrolle in der Hand; der Doktor hat nachher gestanden, es sei ihm bei seinem Anblick Marius auf den Trümmern Von Karthago eingefallen.

Der junge Mann schien sich seiner von gestern zu erinnern und empfing ihn beinahe finster; doch war er so artig, einen Stoß Notenblätter mit einem Ruck von einem Sessel auf den Boden zu werfen, um seinem Besuche Platz anzubieten; er selbst stieg mit großen Schritten im Zimmer umher, und sein fliegender Schlafrock nahm geschickt den Staub von Tischen und Büchern.

Er ließ den Medizinalrat nicht zum Wort gelangen, er überschrie ihn. "Sie kommen von ihr?" rief er. "Schämen sich Ihre grauen Haare nicht, der Kuppler eines solchen Weibes zu werden? Ich will nichts mehr hören; ich habe mein Glück zu Grabe getragen; Sie sehen, ich traure um meine Seligkeit; ich habe einen schwarzen Schlafrock an —schon dies sollte Ihnen, wenn Sie sich entfernt auf Psychologie



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verstehen, ein Zeichen sein, daß ich jene Person für mich als gestorben ansehe. O Giuseppa, Giuseppa!"

"Wertester Herr Kapellmeister," unterbrach ihn der Doktor, "so hören Sie mich nur an —"

Hören? Was wissen Sie von Hören? Lauschen Sie, wenn Sie von Hören sprechen ich will prüfen, ob du Gehör hast, Alter! Siehe, das ist das Weib," fuhr er fort, indem er den Flügel aufriß und einiges spielte, das übrigens dem Doktor, der kein großer Musikkenner war, vorkam wie andere Musik auch. "Hören Sie dieses Weiche, Schmelzende, Anschmiegende? Aber bemerken Sie nicht in diesen Übergängen das unzuverlässige, flüchtige, charakterlose Wesen dieser Geschöpfe? Aber hören Sie weiter," sprach er mit erhobener Stimme und glänzendem Auge, indem er die weiten Ärmel des Trauerschlafrockes zurückschüttelte; " wo Männer wirken, ist Kraft und Wahrheit; hier kann nichts Unreines aufkommen, sind heilige, göttliche Laute!" Er hämmerte mit großer Macht auf den Tasten umher; aber dem Doktor wollte es wieder bedünken, als sei dies nur ganz gewöhnliche Musik.

"Sie haben da eine sonderbare Charakteristik der Menschen," sagte er; "da wir doch einmal so weit sind, dürfte ich Sie nicht bitten, Verehrter, daß Sie mir auch einmal einen Medizinalrat auf dem Klavier vorstellten?"

Der Musiker sah ihn verächtlich an. "Wie magst du nur mit einem schlechten, quiekenden Fis hereinfahren, Erdenwurm, wenn ich den herrlichen, strahlenwerfenden C-Akkord anschlage!"

Die Antwort des Doktors wurde durch ein Klopfen an der Türe unterbrochen; eine kleine, verwachsene Figur trat herein, machte eine Reverenz und sprach: "Der kranke Herr auf Nr. 53 läßt den Herrn Kapellmeister höflichst ersuchen, doch nicht so gar erschrecklich zu hantieren und zu haselieren, wasmaßen derselbe von gar schwacher Konstitution und dem zeitlichen Hinscheiden nahe ist."

"Ich lasse dem Herrn meinen gehorsamsten Respekt vermelden," erwiderte der junge Mann, "und meinetwegen könne er abfahren. wenn es ihm gefällig. Es graut mir ohnedies alle Nacht vor seinem Jammern und Stöhnen, und das Greulichste sind mir seine gottlosen Flüche und sein tolles Lachen. Meint vielleicht der Franzose, er sei allein Herr im Hotel de Portugal? Geniert er mich, so geniere ich ihn wieder."

"Aber verzeihen Euer Hochedelgeboren," sagte der verwachsene Mensch, " er treibt's nicht mehr lange; wollen Sie ihm nicht die letzten Augenblicke —"

"Ist er so gar krank, der Herr?" fragte der Medizinalrat teilnehmend. "Was fehlt ihm ? Wer behandelt ihn ? Wer ist er



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"Wer er ist, weiß ich gerade nicht; ich bin der Lohnlakai; ich denke, er nennt sich Lorier und ist aus Frankreich; vorgestern war er noch wohlauf, aber etwas melancholisch; denn er ging gar nicht aus, hatte auch keine Lust, die Merkwürdigkeiten hiesiger Stadt zu inspizieren; aber am andern Morgen fand ich ihn schwer krank im Bette. Es scheint, er hat in der Nacht einen Schlaganfall bekommen. Aber um alle Welt will er keinen Arzt. Er flucht gräßlich, wenn ich frage, ob ich nicht einen zu ihm führen solle. Er pflegt und verbindet sich selbst; ich glaube, er hat auch eine alte Schußwunde aus dem Kriege, die jetzt wieder aufgegangen ist."

Man hörte in diesem Augenblicke den Kranken nebenan mit heiserer Stimme rufen und einige Verwünschungen ausstoßen. Der Lohnlakai schlug drei Kreuze und flog hinüber.

Der Doktor versuchte noch einmal, ob seine Reden bei dem verstockten Liebhaber keinen Eingang fänden, und wirtlich schien es diesmal zu gelingen. Jener hatte eine Partitur in die Hand genommen, aus welcher er mit leiser Stimme vor sich hinsang; der Doktor benutzte diese ruhigere Stimmung und fing an, ihm das Leben der Sängerin zu erzählen. Anfangs schien der Kapellmeister nicht darauf zu achten; er las emsig in seiner Partitur und tat, als sei außer ihm niemand im Zimmer; nach und nach aber wurde er aufmerksamer. Er hörte auf zu singen; bald hob sich zuweilen sein Auge über die Partitur und streifte prüfend über des Doktors Gesicht, dann ließ er das Notenheft sinken und sah den Erzähler fest an; sein Interesse schien mehr und mehr zu wachsen, seine Augen glänzten, er rückte näher, er faßte den Arm des Mediziners, und als dieser seine Erzählung schloß, sprang er in großer Bewegung auf und rannte im Zimmer auf und nieder. "Ja," rief er, "es liegt Wahrheit Darin, ein Schein von Wahrheit , eine Wahrscheinlichkeit; es ist möglich, es könnte etwa so gewesen sein; Teufel! könnte es nicht auch eine Lüge sein?"

"Das heißt man, glaube ich, decrescendo in Ihrer werten Kunst, Herr Kapellmeister; aber warum denn bei dieser Sache so von der Wahrheit bis zur Lüge herabsteigen? Wenn ich Ihnen nun einen Bürgen für die Wahrheit stellte, Maestro, wie dann?"

Bolani blieb sinnend vor ihm stehen: "Ha, wer dieses könnte, Medizinalrat! In Gold wollte ich dich fassen. Schon der Gedanke verdient, groß und königlich belohnt zu werden! Ja, wer mir Bürge wäre ! — Es ist alles so finster — verworrene Labyrinthe — kein leitendes Gestirn!"

"Wertgeschätzter Freund," unterbrach ihn der Doktor; "ich ertappe Sie hier auf einer Reminiszenz aus Schillers Räubern, so in der Cottaschen Taschenausgabe pagina 175 stehet, wenn ich mich



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recht erinnere. Demungeachtet weiß ich einen solchen Bürgen, ein solches leitendes Gestirn."

"Ha, wer mir einen solchen gäbe!" rief jener. "Er sei mein Freund, mein Engel, mein Gott — ich will ihn anbeten!"

"Es ist zwar in der angeführten Stelle von einem Schwert die Rede, womit man der Otternbrut eine brennende Wunde versetzen will; nichtsdestoweniger aber will ich Sie überzeugen; jener Gesandte, der die arme Giuseppa in seinem Hause aufnahm, logiert zufällig hier im Hause auf Nr. 6; belieben Sie einen Frack anzuziehen und ein Halstuch umzuknüpfen, so werde ich Sie zu ihm führen; er hat mir versprochen, Sie zu überzeugen."

Der junge Mann drückte gerührt die Hand des Arztes; doch auch jetzt konnte er ein gewisses erhabenes Pathos nicht verbergen. "Ihr wart mein guter Engel," sagte er; "wie vielen Dank bin ich für diesen Wink Euch schuldig! Ich fahre nur geschwind in meinen Frack, und sogleich folg' ich Euch zu dem Gesandten.

9.

Die Aussöhnung mit dem Geliebten schien beinahe noch von größerer Wirkung auf die Sängerin zu sein als die kunstreichsten Tränklein ihres Arztes. Ihre Gesundheit besserte sich in den nächsten Tagen zusehends, und bald war sie so weit hergestellt, daß sie die Besuche ihrer teilnehmenden Freunde außer dem Bette empfangen konnte. Diese Wendung ihres Zustandes mochte der Direktor der Polizei abgewartet haben, um die Sache weiter zu verfolgen. Er war ein umsichtiger Mann, und der Ruf sagte von ihm, daß ihm nicht leicht einer entgangen, auf den er einmal sein Auge geworfen, sollte er auch hundert und mehrere Meilen von ihm entfernt sein. Von dem Medizinalrat war ihm die Geschichte der Sängerin mitgeteilt worden; er hatte sodann mit dem Baron Martenow noch weitere Rücksprache genommen und einiges erfahren, was ihm von großem Interesse schien. Der Gesandte hatte ihm nämlich gestanden, daß er damals von dem Vorfall mit der jungen Fiametti Gelegenheit nommen, das ruchlose Leben des Chevalier de Planto höheren Ortes zu berühren. Er hatte nicht versäumt, hauptsächlich den Umstand, daß jenes arme Sind eigentlich verkauft wurde, ins rechte Licht zu setzen. Jenes berüchtigte Haus wurde kurze Zeit darauf von der Polizei aufgehoben, und der Baron schien dies hauptsächlich den Schritten , die er in der Sache getan, zuzuschreiben. Auch hatte er von dem Tode des Chevaliers gehört, glaubte aber mit dem Polizeidirektor, daß dies nur ein kunstgriff gewesen sei, um sein Gewerbe sicherer



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fortzusetzen; denn beide hegten keinen Zweifel, jener Mordversuch an der Sängerin könne nur von diesem schrecklichen Menschen herrühren. Wie schwer war es aber, der Spur dieses Mörders zu folgen; die Fremden, die sich damals in B. aufhielten, waren, wie der Direktor versicherte, alle unverdächtig; nur zwei Umstände konnten zu Gewisserem führen; das Schnupftuch, welches sich im Zimmer der Fiametti gefunden hatte, konnte, wenn man irgendwo ein ähnliches sah, zur Entdeckung leiten; es war daher die genaueste Beschreibung davon in den Händen aller jener Näherinnen und Waschfrauen, welche die Garderobe der Fremden in B. zu besorgen pflegten. Sodann glaubte der Direktor aus psychologischen Gründen annehmen zu können, daß ein zweiter Versuch auf das Leben der Sängerin bald folgen würde, im Falle sich der Mörder noch in der Nähe aufhalte.

Sobald daher die Sängerin wieder bei Kräften war, begleitete der Direktor der Polizei den Doktor Lange, so oft er sie besuchte; wurden dort manche Maßregeln besprochen; manche schien gut, aber nicht wohl auszuführen, manche wurde geradehin verworfen. Giuseppa selbst kam endlich auf einen Gedanken, der den beiden Männern sehr einleuchtete. "Der Doktor," sagte sie, "hat mir erlaubt, in der nächsten Woche wieder auszugehen; wenn er nichts dagegen hat, würde ich auf der letzten Redoute des Karnevals zuerst wieder unter den Leuten erscheinen; es hat etwas Anziehendes für mich, mich dort, wo mein Unglück eigentlich anfing, zum erstenmal zu zeigen. Wenn wir dafür sorgen, daß dies in B. hinlänglich bekannt wird, und wenn der Chevalier noch hier ist, so bin ich wie von meinem Leben überzeugt, daß er unter irgendeiner Maske sich wieder in meine Nähe drängt. Er wird sich zwar hüten zu sprechen, er wird durch nichts sich verraten, , aber seine Anschläge auf mein Leben wird er nicht ruhen lassen, und ich will ihn aus Tausenden erkennen. Seine Größe, seine Gestalt , vor allem seine Augen werden mir ihn kenntlich machen. Was meinen Sie, meine Herren?"

Der Plan schien nicht übel. "Ich wollte wetten," sagte der Direktor, " wenn er erfährt, Sie kommen auf diesen Ball, so bleibt er nicht aus; sei es auch nur, um den Gegenstand seiner Rache wiederzusehen und seiner Wut neue Nahrung zu geben. Ich denke übrigens, Sie sollten keine Larve vors Gesicht nehmen; er wird Sie dann um so leichter erkennen, um so eher in Ihre Nähe, in seine Falle gehen; ich werde ein paar tüchtige Bursche in Dominos stecken und sie Ihnen zur Eskorte geben; auf ein Zeichen von Ihnen soll der alte Fuchs gefangen sein.

Babette, das Kammermädchen der Sängerin, war während dieses Gespräches ab- und zugegangen; sie hatte gehört, wie ihre Dame entschlossen sei, den Mörder oder seine Gehilfen ausfindig zu



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machen; sie glaubte, es sich selbst schuldig zu sein, nach Kräften zu dieser Entdeckung beizutragen. Sie paßte daher den Direktor ab, faßte sich ein Herz und sagte, sie habe schon neulich den Doktor auf einen Umstand aufmerksam gemacht, der zur Entdeckung führen könnte, er scheine aber nicht darauf zu achten,

"Kein Umstand ist bei solchen Vorfällen gering, meine liebe Kleine," antwortete ihr der Mann der Polizei; " wenn Sie irgend etwas wissen —"

"Ich glaube fast, Signora ist zu diskret oder will nicht recht mit der Sprache heraus; als sie den Stich bekam und in meinen Armen ohnmächtig wurde, war ihr letzter Seufzer — Bolnau."

"Wie?" rief der Direktor entrüstet, "und das verschwieg man mir bis jetzt? Einen so wichtigen Umstand! Haben Sie auch recht gehört? Bolnau?"

"Auf meine Ehre," sagte die Kleine und legte die Hand beteuernd auf das Herz. "Bolnau sagte sie, und so schmerzlich, daß ich nicht anders glaube, als so heißt der Mörder; aber bitte, verraten Sie mich nicht!"

Der Direktor hatte den Grundsatz, daß kein Mensch, er sehe so ehrlich aus, als er wolle, zu gut zu einem Verbrechen sei. Der Kommerzienrat Bolnau, und einen anderen wußte er nicht in dieser Stadt, war ihm zwar als ein geordneter Mann bekannt, aber —hatte man nicht Beispiele, daß gerade solche Leute, denen man vor der Welt nichts nachsagen konnte, der Justiz am meisten zu schaffen machten? Konnte er nicht mit diesem Chevalier de Planto unter einer Decke spielen? Ersetzte unter diesen Betrachtungen seinen Weg weiter fort, er näherte sich der Breiten Straße, es fiel ihm bei, daß um diese Zeit der Kommerzienrat sich dort zu ergehen pflegte; er beschloß, ihm ein wenig scharf auf den Zahn zu fühlen. Richtig, dort kam er die Straße herab; er grüsste rechts, er grüsste links, er sprach alle Augenblicke mit einem Bekannten, er lächelte, wenn er weiterging, vor sich hin, er schien munter und guter Dinge zu sein. Er mochte etwa noch fünfzig Schritte vom Direktor entfernt sein, als er diesen ansichtig wurde; er erbleichte, er wandte um und wollte in eine Seitenstraße einbiegen. "Ein verdächtiger, sehr verdächtiger Umstand!" dachte der Direktor, lief ihm nach, rief seinen Namen und brachte ihn zum Stehen. Der Kommerzienrat war ein Bild des Jammers; er brachte in hohlen Tönen ein " Sori jour, Sori jour!" hervor, er schien lächeln zu wollen, aber die Augen gingen ihm über, und sein Gesicht verzog sich krampfhaft; seine Knie zitterten, seine Zähne schlugen hörbar aneinander.

"Ei, ei, Sie machen sich recht rar. Habe Sie schon ein paar Tage nicht an meinem Fenster vorbeigehen sehen Sie scheinen nicht ganz



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wohl zu sein" , setzte der Direktor mit einem stechenden Blicke hinzu, "Sie sind so blaß; fehlt Ihnen etwas :

"Nein — es ist nur so ein kleines Frösteln — ich war wirklich einige Tage nicht wohl, aber gottlob, es geht besser."

"So? Sie waren nicht wohl?" fragte jener weiter. "Das hätte ich kaum gedacht; ich glaubte Sie doch noch vor wenigen Tagen aus der Redoute recht munter zu sehen.

"Ja freilich; aber gleich den folgenden Tag mußte ich mich legen; ich bekam meine Zufälle wieder; aber ich bin jetzt ganz wiederhergestellt

"Nun, da werden Sie nicht versäumen, die nächste Redoute zu besuchen; es ist die letzte und soll sehr brillant werden; ich hoffe, Sie dort zu sehen; bis dahin adieu, Herr Kommerzienrat!"

10.

"Werde nicht manquieren!" rief ihm der Kommerzienrat Bolnau mit jammervoller Miene nach. "Der hat Verdacht!" sprach er zu sich. "Der weiß etwas von dem Worte der Sängerin. Zwar soll sie wiederhergestellt sein; aber kann nicht der Verdacht im Herzen dieses Polizisten um sich fressen? Kann er mich nicht aus Argwohn beobachten lassen? Die geheime Polizei wird mich verfolgen; auf allen meinen Schritten und Tritten sehe ich schlaue, fremde Gesichter. Ich darf nichts mehr reden, so wird es rapportiert, gedeutet; ich werde, o Gott im Himmel, ich werde ein unruhiger Kopf, ein gefährliches Individuum ; und doch lebte ich still und harmlos wie Wilhelm Tell im vierten Akt!"

So sprach der unglückliche Bolnau bei sich; seine Angst vermehrte sich, als er über die verfängliche Frage wegen der nächsten Redoute nachdachte. "Er meint gewiß, ich werde mich nicht in die Nähe der Sängerin wagen, aus bösem Gewissen; aber ich muß hin, ich muß ihm diesen Verdacht benehmen! Und doch —wird mich nicht in ihrer Nähe ein Zittern und Beben überfallen, gerade weil er glauben kann, ich werde aus Gewissensbissen und Angst zittern!" Er quälte sich ab mit diesen Vorstellungen, sie beschäftigten ihn tagelang, er erinnerte sich, daß ein berühmter Schriftsteller in einer eigenen Schrift bewiesen habe, daß man Angst vor der Angst haben könne, und dies schien ihm ganz sein Fall zu sein. Aber er fühlte, daß er sich ein Herz fassen und der Gefahr entgegengehen müsse. Erließ sich vom Maskenverleiher den prachtvollen Anzug des Pascha von Janina holen; er zog ihn alle Tage an und übte sich vor einem großen Spiegel, recht unbefangen aus seiner Maske hervorzuschauen. Er machte sich aus seinem Schlafrock



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eine Puppe und setzte sie auf einen Sessel; sie stellte die Sängerin Fiametti vor. Er ging als Pascha um sie her und sprach: "Es freut mich unendlich, Sie in so erwünschtem Wohlbefinden zu sehen." Am dritten Tage konnte er seine Lektion schon ganz ohne Zittern sagen; daher legte er sich noch Schwereres auf. Er wollte recht artig und unbefangen sein und ihr einen Teller mit Bonbons und Punsch offerieren. Er übte sich mit einem Glas Wasser, das er auf einen Teller setzte. Im Anfang klirrte es schrecklich in seiner zitternden Hand; aber auch diese Schwierigkeit überwand er, ja, er konnte ganz lusti (g dazu sagen: "Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwas weniges Punsch und etzliche Bonbons?" Es ging trefflich; kein Sterblicher sollte ihn beben sehen. Ali Pascha von Janina fühlte Mut in sich, trotz seiner Angst vor der Angst, auf die Redoute zu gehen.

Der Medizinalrat Lange hatte es sich nicht nehmen lassen, die Genesene zum erstenmal wieder unter die Leute zu führen. Sie hatte es ihm gerne zugesagt; hatte er doch durch seine treue Pflege, durch die väterliche Sorgfalt, womit er sich ihrer angenommen, ein Recht auf ihre wärmste Dankbarkeit gewonnen. So kam er mit ihr auf die Redoute, und er schien sich nicht wenig auf den Platz an der Seite des schönen, interessanten Mädchens zugute zu tun. Die Leute in B. sind ein sonderbares Volk. In den ersten Tagen hatte man von den nobelsten Salons bis hinab in die Bierschenken von der Sängerin Übles gesprochen; als aber Männer von Gewicht sich ihrer annahmen, als angesehene Damen sich öffentlich für sie erklärten, drehte sich die Fahne nach dem Winde, und die B . . .er liefen, gerührt über das Schicksal des armen Kindes, in den Straßen umher und starben bald vor Entzücken, daß sie genesen. Als sie in den Saal der Redoute trat, schien alles nur auf sie, als die Königin des Festes, gewartet zu haben; man jubelte und jauchzte, man klatschte in die Hände und rief bravo, als hätte sie eben die schwersten Rouladen zustande gebracht. Auch dem Medizinalrat fiel sein Anteil am Beifall zu. "Sehet, der ist's," riefen sie, "das ist ein geschickter Mann, der hat sie gerettet!"

Die Sängerin fühlte sich freudig bewegt von diesem Beifall der Menge; ja, sie hätte, berauscht von dem Gemurmel der Glückwünschenden, beinahe vergessen, daß sie noch ein ernsterer Zweck in diesen Saal geführt habe; aber die vier handfesten Dominos, die ihren Schritten folgten, die Fragen des Doktors, ob sie die grauen Augen des Chevalier' noch nicht ansichtig geworden, erinnerten sie immer wieder an ihr Vorhaben. Ihr selbst und dem Doktor war es nicht entgangen, daß ein langer, hagerer Türke (man hieß in B. sein Kostüm den Ali Pascha) sich immer in ihre Nähe dränge; und so oft der Strom der Masken ihn wegriß, immer war er ihnen wieder zur Seite. Die Sängerin stieß den Doktor an und winkte mit den Augen nach dem



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Pascha hin. Er erwiderte ihren Blick und sagte: "Ich habe ihn schon lange bemerkt." Der Pascha näherte sich mit ungewissen Schritten; die Sängerin klammerte sich fester an Langes Arm; er war jetzt ganz nahe; starre, graue Äuglein guckten aus der Maske, und eine hohle Stimme sprach zu ihr: "Es freut mich unendlich, wertgeschätzte Mamsell, Sie in so erwünschtem Wohlsein zu sehen." Die Sängerin wandte sich erschreckt ab und schien zu zittern; auch die Maske fuhr bei diesem Anblick bebend zurück und verschwand unter der Menge. "Ist er es?" rief der Medizinalrat. "Fassen Sie sich doch; es gilt hier, ruhig und mit Umsicht zu handeln; glauben Sie, er ist es?" "Noch weiß ich es nicht gewiß," entgegnete sie; "aber ich glaube, seine Augen zu erkennen ."

Der Medizinalrat gab den vier Dominos die Weisung, recht genau auf diesen Pascha acht zu geben, und ging mit der Dame weiter. Aber kaum hatte er einige Gänge durch den Saal gemacht, so erschien der Türke wieder; doch hielt er sich mehr in der Entfernung, als beobachte er die Sängerin.

Der Doktor trat mit seiner Dame an ein Büfett, um ihr auf den gehabten Schrecken eine Tasse Tee zu verordnen; er sah sich um — auch hier wieder der Türke. Und siehe da, jetzt hatte er auf einem Tellerlein ein Glas Punsch und einige Bonbons; er nähert sich der Sängerin, seine Augen funkeln, das Glas hüpft und klappert in seltsamen Klängen auf dem zitternden Teller; er ist an ihrer Seite, er bietet ihr den Teller und sagt: "Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwa: weniges Punsch und etzliche Bonbons ?" Die Sängerin sah ihn starr an; sie erbleichte, sie stieß den Teller zurück und rief: "Ha, der Schreckliche ! Er ist's, er ist's, er will mich vergiften!"

Der Pascha von Janina stand stumm und regungslos; er schien jeden Gedanken an Verteidigung aufzugeben; willenlos ließ er sich von den vier handfesten Dominos hinwegführen.

Beinahe in demselben Augenblicke wurde der Doktor heftig an seinem schwarzen Mantel gezogen; er sah sich um; jener kleine, verwachsene Lohnlakai aus dem Hotel de Portugal stand vor ihm, bleich und von Schrecken entstellt. "Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Medizinalrat, kommen Sie doch gefälligst mit mir auf Nr. 53! Eben will der Teufel den französischen Herrn holen."

"Was schwatzt Er da?" sagte der Doktor unwillig und wollte ihn auf die Seite schieben, um dem Gefangenen auf die Polizeidirektion zu folgen. "Was geht es mich an, wenn ihn der Satan zu sich nimmt?

"Aber ich bitte Sie," rief der Kleine beinahe heulend, " er kann vielleicht doch noch gerettet werden; Hochdieselben sind ja Stadtphysikus allhier und verpflichtet, zu den Fremden in den Hotels zu kommen."



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Der Medizinalrat unterdrückte einen Fluch, der ihm auf der Zunge schwebte; er sah, daß er diesem unangenehmen Gange nicht ausweichen konnte; er winkte den Kapellmeister Bolani herbei, übergab ihm die Sängerin und eilte mit dem kleinen Menschen nach dem Hotel de Portugal.

11.

Es war still und öde in diesem großen Gasthofe; Mitternacht war beinahe schon vorüber, die Lampen in den Gängen und Treppen brannten düster und trübe; es war dem Medizinalrat unheimlich zu Mute, als er zu dem einsamen Kranken hinanstieg. Der Lakai schloß die Türe auf, der Doktor trat ein, wäre aber beinahe wieder zurückgesunken. Denn ein Wesen, das seit einigen Tagen unablässig seine Phantasie im Wachen und im Schlafe beschäftigt hatte, saß hier wirklich und verkörpert im Bette. Es war ein großer, hagerer, ältlicher Mann; er hatte eine spitzig aufstehende, wollene Schlafmütze tief in die Stirne gezogen, seine enge Brust, seine langen, dünnen Arme waren mit Flanell überkleidet, unter der Mütze ragte eine große, spitzige Nase aus einem mageren, braungelben Gesichte hervor, das man schon tot und erstorben geglaubt hätte, wären es nicht ein Paar graue, stechende Augen gewesen, die ihm noch etwas Leben und einen schrecklichen, grauenerregenden Ausdruck gaben. Seine langen, dünnen Finger, die mit den hageren Gelenken weit aus den Ärmeln hervorragten, hatte er zusammengekrümmt; er kratzte mit heiserem, wahnsinnigem Lachen auf der Bettdecke.

"Schaut, er kratzt sich schon sein Grab!" flüsterte der kleine Mensch und weckte damit den Doktor aus seinem Hinstarren auf den Kranken. So, gerade so hatte sich dieser den Chevalier de Planta gedacht; dieses tückische, graue Auge, diese unheilverkündenden Züge, diese dürre, gespensterhafte Figur — es war hier alles, was die Sängerin von jenem schrecklichen Manne gesagt hatte. Doch er besann sich. Kam er denn nicht jetzt eben von der Verhaftung jenes Chevaliers? Konnte nicht ein anderer Mann auch graue Augen haben? War es zu verwundern, , daß ein Kranker abgefallen und bleich war? Der Doktor lachte sich selbst aus, fuhr mit der Hand über die Stirne, als wolle er diese Gedanken hinwegwischen, und trat an das Bett. Doch —selten noch hatte er in so langen Jahren am Bette eines Kranken Grauen und Furcht gefühlt — hier, es war ihm unerklärlich, hier befiel ihn eine Beengung, ein Schauer, die er umsonst abzuschütteln suchte, und er fuhr unwillkürlich zurück, als er die feuchte, kalte Hand in der seinigen fühlte, als er lange umsonst nach einem Puls suchte.



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"Der dumme Kerl," rief der Kranke mit heiserer Stimme, indem er bald Französisch, bald schlechtes Italienisch und gebrochenes Deutsch untereinander warf, "der dumme Kerl hat mir, glaube ich, einen Doktor gebracht. Sie werden mir verzeihen, ich habe nie viel von Ihrer Kunst gehalten. Das einzige, was mich heilen kann, sind die Bäder von Genua; ich habe der Bete schon befohlen, daß er mir Postpferde bestellt; ich werde heute nacht noch abfahren."

"Freilich wird er abfahren," murmelte der kleine Mensch; "aber mit sechs kohlschwarzen Rappen, und nicht nach Genua, wo der selige Fiesko ertrunken, sondern dahin, wo Heulen und Zähnklappem."

Der Doktor sah, daß hier wenig mehr zu machen sei; er glaubte die Vorzeichen des nahen Todes in den Augen, in den unruhigen Bewegungen des Kranken zu lesen, selbst jene Sehnsucht, zu reisen und hinaus ins weite zu kommen, war schon oft der Vorbote eines schnellen Endes gewesen. Erriet ihm daher, sich ruhig niederzulegen, und versprach, ihm einen kühlen Trank zu bereiten.

Der Kranke lachte grimmig. "Liegen, ruhig liegen?" antwortete er. "Wann ich liege, höre ich auf zu atmen ich muß sitzen, im Wagen muß ich sitzen, fort, weit fort! —Was sagt der kleine Menschl Hat er die Pferde bestellt? Kleiner Hund, hast du mein Gepäck in Ordnung ?"

"Ach, Herr und Vater!" krächzte der Kleine; "jetzt denkt er an sein Gepäck; ja, einen schweren Pack Sünden nimmt er mit, der Unmensch . Es ist nicht an den Himmel zu malen, was er geflucht und gotteslästerliche Reden geführt hat."

Der Medizinalrat faßte noch einmal die Hand des Kranken. Fassen Sie Vertrauen zu mir," sagte er; "vielleicht kann Ihnen die Kunst doch auch nützen; Ihr Diener sagte mir, es sei Ihnen eine Schußwunde wieder aufgegangen; lassen Sie mich untersuchen!" Murrend bequemte sich der Kranke dazu, er deutete auf seine Brust. Der Arzt nahm einen schlechtgemachten Verband weg; er fand — eine Stichwunde nahe am Herzen. — Sonderbar! es war dieselbe Größe, derselbe Ort, wie die Wunde der Sängerin.

"Das ist eine frische Wunde, ein Stick)! rief der Doktor und sah den Kranken mißtrauisch an. "Woher haben Sie diese Wunde?"

"Sie glauben wohl, ich habe mich geschlagen? Nein, beim Teufel! Ich hatte ein Messer in der Brusttasche, fiel eine Treppe herab und habe mich ein wenig geritzt,"

"Ein wenig geritzt!" dachte Lange. "Und doch wird er an dieser Wunde sterben.

Er hatte indessen Limonade bereitet und bot sie dem Kranken. Dieser führte sie mit unsicherer Hand zum Munde, sie schien ihn zu erquicken; er war einige Momente still und ruhig; doch als er sah, daß



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er einige Tropfen auf die Decke gegossen hatte, fing er an zu flucher und verlangte ein Schnupftuch. Der Lakai flog zu einem Koffer. schloß auf und brachte ein Tuch heraus — der Doktor sah hin, eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf — er sah wieder hin, es war dieselbe Farbe, derselbe Stoff, es war das Tuch, das man bei der Sänge- rin gefunden. Der kleine Mensch wollte es dem Kranken überreichen er Weß es zurück. "Gehe zu allen Teufeln, du Tier! Wie oft muß ich es sagen, Eau d'Héliotrope darauf!" Der Diener holte eine kleine Flasche hervor und besprengte das Tuch; ein angenehmer Geruch verbreitete sich im Zimmer - es war dasselbe Parfüm, das jenes gefundene Tuch an sich getragen,

Der Medizinalrat bebte an allen Gliedern; es war kein Zweifel mehr, er hatte hier den Mörder der Sängerin Fiametti, er hatte den Chevalier de Planto vor sich; es war ein Hilfloser, ein Kranker, ein Sterbender, der hier im Bette saß; aber dem Doktor war es, als könne er alle Augenblicke aus dem Bette fahren und nach seiner Kehle greifen; er ergriff seinen Hut; es trieb ihn fort aus der Nähe des Schrecklichen.

Der kleine Lakai packte ihn am Rocke, als er ihn gehen sah. "Ach, Wohledler!" stöhnte er. "Sie werden mich doch nicht bei ihm allein lassen wollen? Ich halte es nicht aus, wenn er jetzt stürbe und dann sogleich als flanellenes Gespenst mit der Zipfelmütze auf dem Schädel im Zimmer auf und ab spazierte! Um Gottes Barmherzigkeit willen, verlassen Sie mich nicht!"

Der Kranke grinste fürchterlich und lachte und fluchte untereinander; er schien dein Kleinen zu Hilfe kommen zu wollen, er streckte ein langes, dürres Bein aus dem Bette, er krallte die dünnen Finger nach dem Doktor. Doch dieser hielt es nicht mehr aus. Er warf den Kleinen zurück und floh aus dem Zimmer; noch auf den untersten Treppen hörte er das gräßliche Lachen des Mörders.

12.

Am Morgen nach dieser Nacht fuhr ein hübscher Stadtwagen vor dem Hotel de Portugal vor; es stiegen drei Personen, eine verschleierte Dame und zwei ältliche Herren, heraus und stiegen die Treppe hinan. "Ist der Herr Oberjustizreferendarius Pfälle schon oben?" fragte der eine dieser Herren den Kellner, der sie hinaufführte. Dieser bejahte, und der Herr fuhr fort, indem er sich zu seinem Begleiter wandte: "Und doch ist es eine sonderbare Fügung des Schicksals , daß er die Treppe hinabstürzt und sich selbst den Dolch in die Brust stößt, daß er sich selbst verhindert zu entfliehen, daß gerade Sie, Lange, zu ihm beschieden werden!"



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"Gewiß," sagte die verschleierte Dame; "finden Sie aber nicht auch ein eigentümliches Verhängnis in diesen Schnupftüchern? Das eine mußte er bei mir liegen lassen, welcher Zufall! das andere muß er gerade in dem Augenblick verlangen, wo der Doktor noch bei ihm ist."

"Es mußte so gehen," erwiderte der zweite Herr, " man kann nichts sagen als. es mußte so kommen. Aber in diesem Strudel hätte ich beinahe etwas vergessen; sagen Sie, was ist es mit dem Pascha von Janina? Signora mußte sich offenbar getäuscht haben. Sie haben ihn wieder auf freien Fuß gesetzt? Wer war denn der arme Teufel?"

"Mitnichten und im Gegenteil," sprach der erstere, "ich habe mich überzeugt, daß es ein Mitschuldiger des Chevaliers ist, dem ich schon lange auf der Spur bin. Ich habe ihn hierher bringen lassen, er wird mit dem Mörder konfrontiert werden."

"Nicht möglich!" rief die Dame. "Ein Mitschuldiger?"

"Ja ja!" sagte der Herr mit schlauem Lächeln, "ich weiß allerlei, wenn man mir es auch nicht angibt. Aber, gottlob, wir sind oben, hier ist ja gleich Nr. 53. Mademoiselle, haben Sie die Güte, einstweilen hier auf 54 einzutreten; der Kapellmeister hat es erlaubt und wird Sie nicht hinauswerfen; dafür wollte ich stehen. Wann das Verhör an Sie kommt, werde ich Sie rufen."

Wir brauchen nicht erst zu sagen, daß diese drei Personen die Sängerin, der Doktor und der Direktor waren; sie kamen, um den Chevalier de Planto eines Mordversuchs anzuklagen. Der Direktor und der Medizinalrat traten ein; der Kranke saß noch ebenso im Bette, wie ihn der Doktor in der Nacht gesehen; nur schienen beim Tageslicht seine Züge noch grasser, der Ausdruck seiner Augen, die schon zu erstarren anfingen, noch schauerlicher. Ersah bald den Doktor, bald den Direktor mit seelenlosen Blicken an; dann schien er nachzusinnen, was hier in seinem Zimmer vorgehe; denn der Referendarius Pfälle, ein kurzer, junger Mann mit roten Wangen und kleinen Äuglein, hatte sich einen Tisch zurechtgestellt, einen Stoß Papier vor sich hingelegt und hielt eine lange Schwanenfeder in der Rechten, um zu protokollieren.

"Bête, was wollen diese Herren?" rief der Kranke mit schwacher Stimme dem Lakaien zu. "Du weißt ja, ich nehme keine Besuche an."

Der Direktor trat dicht vor ihn hin, sah ihn fest an und sagte mit Nachdruck: "Chevalier de Planto!"

"Qui vive ?" schrie der Kranke und fuhr mit der Rechten an die Schlafmütze, als wolle er militärisch salutieren,

"Mein Herr, Sie sind der Chevalier de Planto?" fuhr jener fort.

Die grauen Augen fingen an zu glänzen; er warf stechende Blicke



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auf den Direktor und den Referendar, schüttelte mit höhnischer Miene den Kopf und antwortete: "Der Chevalier ist längst tot."

"So? Wer sind Sie denn? Antworten Sie! Ich frage im Namen des Königs."

Der Kranke lachte: "Ich nenne mich Lorier; Bete, gib dem Herrn meine Pässe!"

"Ist nicht nötig; kennen Sie dies Tuch, mein Herr?"

"Was werde ich es nicht kennen, Sie haben es da von meinem Stuhl weggenommen; wozu diese Fragen, wozu diese Szenen? Sie genieren mich, mein Herr!"

"Belieben Sie auf Ihre linke Hand zu schauen," sagte der Direktor; "dort halten Sie ja Ihr Tuch; dieses hier fand sich im Hause einer gewissen Giuseppa Fiametti,"

Der Kranke warf einen wütenden Blick auf die Männer; er ballte seine Faust und knirschte mit den Zähnen; er schwieg hartnäckig, obgleich der Direktor seine Fragen wiederholte. Dieser gab jetzt dem Doktor einen Wink; er ging hinaus und erschien bald darauf mit der Sängerin, dem Kapellmeister Bolani und dem . . . schen Gesandten in dem Zimmer.

"Herr Baron von Martenow," wandte sich der Direktor zu diesem, "erkennen Sie diesen Mann für denselben, den Sie in Paris als Chevalier de Planto kannten?"

"Ich erkenne ihn für denselben," antwortete der Baron, "und wiederhole meine Aussagen über ihn, die ich früher zu Protokoll gab."

"Giuseppa Fiametti, erkennen Sie ihn für denselben, der Sie aus dem Hause Ihres Stiefvaters führte, in sein Haus nach Paris brachte, für denselben, den Sie eines Mordversuches beschuldigen?"

Die Sängerin bebte bei dem Anblicke des fürchterlichen Mannes; sie wollte antworten, aber er selbst ersparte ihr jedes Geständnis. Er richtete sich höher auf, seine wollene Mütze schien spitziger aufzustehen, seine Arme waren steif, er schien sie mit Mühe zu bewegen, aber seine Finger krallten sich krampfhaft auf und zu; seine Stimme schlich sich nur noch leise und heiser aus der Brust herauf, selbst sein Lachen und seine Flüche wurden beinahe zum Geflüster. "Kommst du, mich zu besuchen, Schepperl?" sagte er. "Das ist schön von dir. Nicht wahr, du weidest dich recht an meinem Anblick? Es ist mir wahrhaftig leid, daß ich dich nicht besser getroffen; ich hätte dir dadurch den Schmerz erspart, deinen Oheim vor seiner Abreise von diesen deutschen Tieren verhöhnt zu sehen."

"Was brauchen wir weiter Zeugnis?" unterbrach ihn der Direktor , "Herr Referendarius Pfälle, schreiben Sie einen Verhaftungsbefehl gegen —"

"Was tun Sie?" rief der Doktor, "sehen Sie denn nicht, daß



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ihm der Tod schon am Herzen ist? Er treibt es keine Viertelstunde mehr. Eilen Sie, wenn Sie noch etwas zu fragen haben."

Der Direktor befahl dem Lakai, die Gerichtsdiener zu rufen: sie sollen den Gefangenen heraufbringen. Der Kranke sank mehr und mehr zusammen, sein Auge schien still zu stehen, es hatte nur noch eine Richtung, nach der Sängerin; aber auch jetzt noch schien Wut und Ingrimm daraus hervorzublitzen. "Schepperl," sprach er wieder, "du hast mich unglücklich gemacht, zugrunde gerichtet, darum verdientest du den Tod; du hast deinen Vater zugrunde gerichtet: sie haben ihn auf die Galeere geschickt, weil er dich mir um Geld verkauft hat; er hat mich beschworen, dich umzubringen; es tut mir leid, daß ich gezittert habe. Verflucht seien diese Hände, die nicht einmal mehr sicher stoßen konnten!" Seine greulichen Verwünschungen, die er über sich und Giuseppa ausstieß, wurden durch eine neue Erscheinung unterbrochen. Zwei Gerichtsdiener brachten einen Mann in türkischer Kleidung; es war der unglückliche Ali Pascha von Janina — der Turban bedeckte das jammervolle Haupt des Kommerzienrats Bolnau. Alle erstaunten über diesen Anblick; besonders schien der Kapellmeister sehr betreten; er erblaßte und errötete und wandte sein Gesicht ab. "Monsieur de Planta," sprach der Direktor, "kennen Sie diesen Mann?" Der Kranke hatte die Augen geschlossen; er riß sie mühsam auf und sagte: "Gehet zu allen Teufeln, ich kenne ihn nicht."

Der Türke sah die Umstehenden mit kummervoller Miene an. Ich wußte wohl, daß es so kommen werde, sprach er mit weinerlichem Tone, "es hat mir schon lange geahnet. Aber, Mademoiselle Fiametti, wie konnten Sie doch einen unschuldigen Mann so ins Unglück bringen?"

"Was ist es denn mit diesem Herrn ? fragte die Sängerin. "Ich kenne ihn nicht, Herr Direktor; was hat Daun dieser getane"

"Signora," sprach der Direktor mit tiefem Ernst, " vor den Gerichten gilt keine Nachsicht oder irgend eine Schonung. Sie müssen diesen Herrn kennen; es ist der Kommerzienrat Bolnau. Ihr eigenes Kammermädchen hat eingestanden, daß Sie bei dem Mord seinen Namen ausgerufen haben."

"Freilich," nagte der Pascha, " meinen Namen genannt unter so verfänglichen Umständen!"

Die Sängerin erstaunte; eine tiefe Nöte flog über ihr schönes Gesicht; sie ergriff in großer Bewegung den Kapellmeister bei der Hand. "Carlo," rief sie. "jetzt gilt es zu sprechen, ich kann es nicht verschweigen; ja, Herr Direktor, ich werde diesen teuren Namen genannt haben; aber ich meinte nicht jenen Herrn, sondern —



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"Mich!" rief der Kapellmeister und trat hervor. "Ich heiße, wenn es mein lieber Vater dort erlaubt, Karl Bolnau!"

"Karl! Musikant! Amerikaner!" rief der Türke und umarmte ihn. "Das ist das erste gescheite Wort in deinem Leben, du hast mich aus einem großen Jammer befreit."

"Wenn sich die Sache so verhält," sagte der Direktor, "so sind Sie frei, und wir haben in dieser Sache nur mit gegenwärtigem Herrn Chevalier de Planta zu tun." Er wandte sich um zu dem Bette; dort stand der Arzt und hielt die Hand des Mörders in der seinigen; er legte sie ernst und ruhig auf die Decke und drückte ihm die starren Augen zu. "Direktor," sagte er, "der macht es jetzt mit einem höheren Richter aus."

Man verstand ihn; sie gingen aus dem Gemach des furchtbaren Toten und traten drüben bei dem Kapellmeister, dem glücklichen, wiedergefundenen Sohne des Pascha, ein; die Sängerin verbarg ihr Gesicht an der Brust des Geliebten; ihre Tränen strömten heftig, aber es waren die letzten, die sie ihrem unglücklichen Schicksal weinte; denn der Pascha ging lächelnd um das schöne Paar, er schien an einem großen Entschluß zu arbeiten; er besprach sich heimlich mit dem Medizinalrat und trat von diesem zu seinem Sohn und der Sängerin. "Liebste Mademoiselle," sprach er, "ich habe Ihretwegen vieles ausgestanden; Sie haben meinen Namen so verfänglich genannt, daß ich Sie bitte. ihn mit dem Ihrigen zu vertauschen. Sie haben gestern meinen Teller mit Punsch verschmäht; werden Sie mich wieder zurückstoßen, wenn ich Ihnen gegenwärtigen Herrn Karl Bolnau, meinen musikalischen Sohn, präsentiere mit der Bitte, ihn zu ehelichen?

Sie sagte nicht nein; sie küßte mit Freudentränen seine Hand; der Kapellmeister schloß sie mit Entzücken in seine Arme und schien diesmal sein erhabenes Pathos ganz Vergessen zu haben. Der Kommerzienrat aber faßte des Doktors Hand: "Lange, sage Er, hätte ich denken können, daß es so kommen würde. als Er mir den Schrecken in alle Glieder jagte, als ich die Scheiben des Palais zählte und Er mir sagte: .Ihr letztes Wort war Bolnau!

"Nun, was will Er weiter!" antwortete der Medizinalrat lächelnd. "Es war doch gut, daß ich es Ihm damals sagte; wer weiß, ob alles so gekommen Wäre ohne das letzte Wort der Sängerin."



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Die letzten Ritter von Marienburg.

1. Ein Poet.

"Guten Morgen, Neffe der Musen!" rief mit munterem Ton der junge Rempen einem Bekannten zu, dem er am Markt begegnete. "Ihre Augen leuchten, Ihre Mienen drücken eine gewisse Behaglichkeit aus, und ich wollte wetten, Sie haben heute schon gedichtet."

"Wie man will, bester Stallmeister," entgegnete jener, "in Reimen zwar nicht; aber an meinem neuen Roman habe ich ein paar Kapitel geschrieben.

"Wie, an einem neuen Roman? Das ist göttlich, auf Ehre! Aber ich bitte Sie, warum so geheim mit solchen Dingen, so verschlossen gegen die nächsten Bekannten und Freunde? Sonst ließen Sie doch hin und wieder ein Wörtchen fallen über Anordnung und Charaktere, lasen mir und anderen einige Strophen; wie kommt es denn, daß dies alles nun vorüber ist?"

"War es Euch denn wirklich interessant?" fragte der Dichter nicht ohne wohlgefälliges Lächeln. "Ich muss gestehen, mir selbst kommt, wenn ich etwas niedergeschrieben habe, alles so leer, so gemein, so langweilig vor, daß ich mich ennuyierte, wenn ich es nur in den Revisionsbogen wieder durchlas; da dachte ich denn, es möchte Euch auch so gehen —"

"Uns? Gewiß. es machte uns immer Vergnügen!"

"Gut, lassen Sie uns dort bei dem Italiener eintreten und etwas trinken! Dabei will ich Ihnen den Plan meines neuen —"

"Wie!" rief der Freund des Dichters lachend. "So frühe am Tage schon in die Restauration? Sind wir denn Leute aus einer neumodischen Novelle, daß wir gleich anfangs, des Tages nämlich, in einem Wirtshaus sitzen müssen, als ob es außer der Kirche und der Weinstube kein öffentliches Leben mehr geben könnte!"

"Wie kommen Sie nur auf diese Vergleichung!" entgegnete jener. "Wie oft waren wir morgens bei Primavesi!"



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"Es ging mir nur so durch den Kopf," sprach der Stallmeister; "gestehen Sie selbst, seit Tieck mit Marlow und Green im Wirtshaus zusammenkam, glauben sie alle, es könne keinen schicklicheren Ort geben, um eine Novelle anzufangen; erinnern Sie sich nur an die Almanache des letzten Jahres; doch Sie selbst sind ja solch ein Stück von einem Poeten, und wenn Sie durchaus heute mit dem Italiener anfangen wollen, so mögen Sie Ihren Willen haben."

"Sie werden erwartet, Herr Doktor Zündler," sagte der Italiener, als die beiden Männer in den Keller traten; "der Buchhändler Kaper sitzt schon seit einer Viertelstunde im Eckstübchen und fragte oft nach Ihnen."

Der Stallmeister machte Miene, sich entfernen zu wollen; Doktor Zündler aber faßte hastig seine Hand. "Bleiben Sie immer," rief er, "kommen Sie mit zu dem Buchhändler; er wird wohl von meinem neuen Roman gehört haben und mir Verlag anbieten; da können Sie einmal sehen, wie unsereiner Geschäfte macht; habe ich ja selbst schon oft Ihren Pferdeeinkäufen beigewohnt."

Der Stallmeister folgte; in einer Ecke sah er einen kleinen, bleichen Mann, der hastig an einem Rippchen zehrte und, so oft er einen Biß getan, Lippen und Finger ableckte; er erinnerte sich, diese Figur hier und da durch die Straßen schleichen gesehen zu haben, und hatte den Mann immer für einen Krämer gehalten; jetzt wurde ihm dieser als Buchhändler Kaper vorgestellt. Zur Verwunderung des Stallmeisters sprach er nicht zuerst den Dichter, sondern ihn selbst an. "Herr Stallmeister," sagte er, "schon lange habe ich mich gesehnt, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Wenn Sie oft an meinem Gewölbe vorbeiritten, ritten, ich darf sagen, wie ein Gott, da sagte ich immer zu meinem Buchhalter, und auf Ehre, es ist wahr, 'Winkelmann,' sagte ich — Sie kennen ihn ja, Herr Doktor, — Winkelmann, es fehlt uns schon lange an einem tüchtigen Pferde- und Bereiterbuch. Der Pferdealmanach erscheint schon lange nicht mehr, und was letzthin der Herr Baptist bei den Kunstreitern geschrieben, ist auch mehr für Dilettanten, obgleich die Vignette schön ist' — Sie haben ja den Menschen persönlich gesehen, Herr Doktor; nun, ein solches Buch zu schreiben, wäre der Herr Stallmeister von Rempen ganz der Mann. Etwa fürs erste achtzehn bis zwanzig Bogen, statt der Kupfer nehmen wir Lithographien —

"Bemühen Sie sich nicht," erwiderte der junge Rempen, mit Mühe das Lachen unterdrückend. "Ich bin zum Büchermachen verdorben ; es geht mir nicht von der Hand, und überdies, Herr Kaper, bei unserem Metier, gerade bei unserem, muß der Jüngere sich bescheiden. Da kommt es auf Erfahrung an."

"Und ich dächte, Sie hätten Verlag genug," sagte der Doktor,



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wie es schien, etwas ärgerlich, von dem Buchhändler nicht gleich beachtet worden zu sein.

"O ja, Herr Doktor, Verlag genug, was man so verlegene Bücher nennt; ich könnte Deutschland in allen Monaten, die ein R haben, mit Krebsen versehen' Sie wissen ja selbst.

"Ich will nicht hoffen," rief der Doktor hocherrötend, "daß Sie damit etwa mein griechisches Epos meinen —

"Mitnichten, gewiß nicht, wir haben doch hundert etwa abgesetzt und die Kosten so ziemlich gedeckt, und der Herr Doktor werden mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, es war eine frühe Arbeit, eine Jugendarbeit; hat doch auch Schiller nicht gleich mit dem Tell angefangen, sondern zuerst die Räuber geschrieben. und überdies noch die erste Ausgabe bei Schwan und Götz, wo Franz Moor noch in den Turm kommt, die gar nicht so gut ist als die zweite; aber seit man Ihre vortreffliche Novelle in der Amathusia für 1827, seit man Ihre Rezensionen und Kritiken und die Sonette vor vier Wochen gelesen hat, läßt sich Großes erwarten.

Der Dichter schien beruhigt. "Ich habe Sie immer für einen Mann von gesundem Urteil gehalten, Herr Kaper," sprach er mit gütigem Lächeln; "haben Sie vielleicht schon von meinem neuen Roman gehört?"

"Ich habe, ich habe," erwiderte der Buchhändler mit schlauer Miene; "und wo, raten Sie, wo ich davon gehört habe? Sie erraten nicht? Warum kommen denn der Herr Doktor so gerne in mein Gewölbe? Etwa wegen meiner Leihbibliothek, auf welche Sie immer zu schimpfen belieben, oder wegen des Vis à via?"

"Wie!" rief der junge Mann und drückte die Hand des Buchhändlers . "Hätte etwa Elise —"

"Elise Wilkow, meinen Sie?" fragte der Stallmeister, etwas näher rückend.

"Ja, meine Herren, Fräulein Wilkow," fuhr Herr Sayer vertraulich flüsternd fort; "doch nicht zu laut, wenn ich bitten darf; denn soeben hat sich der Oberjustizreferendar Palvi dorthin gepflanzt in seine tägliche Ecke —"

"Welcher ist es?" fragte der Stallmeister, sich umsehend. "Ich hörte mancherlei von diesem Menschen, sonderbares Gerede von den einen und hohes Lob von anderen; der junge Mann, der so düster in sein Glas sieht, ist Palvi?"

"Es ist nicht viel an ihm," bemerkte der Dichter. "Auf der Universität —ich war noch ein Jahr mit ihm in Göttingen — war er so eine Art von Poetaster; einmal las, ich ein paar gute Gedanken von ihm, die er zu einem Fest gemacht hatte; hier treibt er ein elendes, wüstes Leben und kommt selten in gute Gesellschaft."



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"Aber gerade wegen Fräulein Wilkow dürfen wir vor ihm nicht zu laut werden," flüsterte der Buchhändler. "Ich weiß. er kam, als er noch auf Schulen war, zuweilen hinüber ins Haus, und, wie mir meine Tochter sagte, soll einmal ein Verhältnis zwischen den beiden Leutchen —"

"Wie?" rief der Stallmeister gespannt.

"Possen!" entgegnete der Dichter, indem er auf seinen eleganten Anzug einen Blick herabwarf. "Er sieht aus wie ein Landstreicher ; bringen Sie mir Elise auch nicht in Gedanken mit diesem Menschen zusammen! Ich weiß, sie liebt die Poesie; alles Erhabene, Schöne gefällt ihr, und sagen Sie aufrichtig, hat sie von meinem Roman gesprochen?"

"Sie hat, und wie! Sie ist ein belesenes Frauenzimmer, das muß man ihr lassen; keine in der ganzen Stadt ist so delikat in der Auswahl ihrer Lektüre. So kommt es, daß sie immer in einer Art von Verbindung mit mir steht, und wenn ich etwas Neues habe, bringe ich es gleich hinüber; denn ich selbst habe es in meinen alten Tagen gerne, wenn ein so schönes Kind, ,lieber Herr Kaper' zu mir sagt und gütig und freundlich ist. Es war letzten Sonntag, als ich ihr den Roman .Die letzten Ritter von Marienburg,' brachte, noch unaufgeschnitten, ich hatte ihn selbst noch nicht gelesen. Sie hatte eine kindische Freude und sprach recht freundlich und viel. Und wie wir so plaudern, komme ich auch auf Ihre Novelle, welche sie ungemein lobte und Stil und Erfindung pries. Und so sagte sie denn, ob ich auch schon gehört, daß Sie einen neuen Roman schreiben."

"Ja," fiel der Dichter feurig ein, "und einen Roman schreibe, Kaper, wie Deutschland, Europa noch keinen besitzt!"

"Historisch doch?" fragte der Buchhändler zweifelhaft.

"Historisch, rein geschichtlich; aber dies unter uns!"

"Historisch! Das möchte ich auch raten," sprach der Verleger, eine große Prise nehmend. "Das ist gegenwärtig die Hauptsache. Wenn man es so bedenkt, es ist doch eine sonderbare Sache um den deutschen Buchhandel. Ich war Kommis in Leipzig, als Wilhelm Meister zuerst erschien. Werther und Siegwart waren Mode gewesen , hatten Nachahmung gefunden lange Zeit. Aber mein Prinzipal sagte: ,Er wird sehen, Kaper,' — damals sprach man noch per Er mit den Subjekten — ,Er wird sehen, über kurz oder lang geschieht eine Veränderung.' So war's auch; wir hielten anfänglich nicht viel auf den Wilhelm Meister, es schien uns ein gar konfuses Buch; aber siehe da, man schrieb überall nach diesem Muster, und mancher hat sich ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wieder eine Weile — ich hatte meine eigene Handlung etabliert — lag



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mir oft das Wort meines alten Prinzipals im Sinn: .Alle im Buchhandel ist nur Mode. Wer eine neue angibt, ist Meister.' Wie ich mich noch auf etwas Neues besinne und einen Menschen suche, der etwas Tüchtiges schreiben täte, —da haben wir's, kommt Fouqué mit den Helden und Altdeutschen, und alles macht's nach. Und jetzt hat Walter Scott wieder eine neue Mode gemacht. Ich möchte mir die Haare ausraufen, daß ich keine Taschenausgabe machte, und nichts bleibt übrig als etwa deutsche historische Romane; die gehen noch."

"Fürwahr," bemerkte der Stallmeister lächelnd, "so habe ich bisher ohne Brille gelesen, und der deutsche Parnaß ist in ganz andern Händen, als ich dachte. Nicht um das Interesse der Literatur scheint es sich zu handeln, sondern um das Interesse der Verkäufer?"

"Ist alles so ganz genau verknüpft," antwortete Herr Kaper mit großer Ruhe, "hängt alles so sehr zusammen, daß es sich um den Namen nicht handelt! Deutsche Literatur! Was ist sie denn anders, was man alljährlich zweimal in Leipzig kauft und verkauft? Je weniger Krebse, desto besser das Buch, pflegen wir zu sagen im Buchhandel.

"Aber der Ruhm?" fragte der junge Rempen.

"Der Ruhm? Herr, was nützt mich der Ruhm ohne Geld? Gebe ich eine Sammlung gelehrter Reisen mit Kupfern heraus, die mich schweres Geld kosteten, so hat zwar meine Firma den Ruhm, das Buch verlegt zu haben; aber wer kauft's, wer nimmt's, wer liest das Ding? Sechs Bibliotheken und ein paar Büchersammler, da: ist alles, und wer geprellt ist, bin ich. Nein, Herr von Rempen! Eine vergriffene Auflage von einem Roman, eine Messe von höchstens dreißig Krebsen, das ist Ruhm, der echte ,nämlich Ruhm mit Geld."

"Das ist also ungefähr wie Tee mit Rum, es schmeckt besser," erwiderte der Stallmeister; "aber ich meinte den schriftstellerischen

"I nun, das ist etwas anderes," antwortete er, "den haben die Herren neben dem Honorar umsonst. Und den weiß man sich zu machen, sehen Sie —"

2. Die Kritiker.

Doch die Forschungen des Herrn Kaper wurden hier auf eine unangenehme Weise durch einen Lärm unterbrochen, der im Laden des Italieners entstand. Neugierig sah man nach der Türe, welche durch ein Glasfenster einen Uberblick über den unteren Teil des Gewölbes gewährte. Ein ältlicher und zwei jüngere Herren schienen in heftigem Streit begriffen; jeder sprach, jeder focht mit den Händen :



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der eine stürzte endlich mit hochgeröteten Wangen aus dem Laden, die beiden andern, noch keuchend vom Wortkampf, traten in das Gewölbe. wo die Freunde saßen,

"Herr Rat! Was ist mit Ihnen vorgefallen!" rief Dr. Zündler beim Anblick des älteren Mannes, der, ein gedrucktes Blatt in der Hand zerknitternd, atemlos auf einen Stuhl sank. "Haben Sie denn nicht gelesen, . Zündler?" antwortete für den älteren der jüngere Mann. der unmutig und dröhnenden Schrittes im Zimmer auf und ab ging, "nicht gelesen, wie wir blamiert sind, nicht gelesen, daß man uns alle zusammen hier eine poetische Badegesellschaft, eine Bänkelsängerbande nennt?"

"Tod und Teufel!" fuhr der Doktor auf. "Wer wagt es, diese Sprache zu führen? Wer wagt die ersten Geister der Nation auf diese Art zu benennen? Ich will nicht von mir sagen; was habe ich viel getan, um auf einigen Ruhm Anspruch machen zu können? Aber was fin andere Männer finden sich hier? Sind es nicht — die schönsten Zierden der Nation? So jung Sie sind, Professor, sind denn nicht alle Blätter voll Ihres Lobes wegen Ihrer Trauerspiele, und unser Rat —"

"Aber büßen sollen sie es mir, büßen," rief der letztere, "so wahr ich lebe, und, Zündler, Sie müssen mithelfen und alle, die ins Freitagskränzchen kommen. Hab' ich es mir darum sauer werden lassen zwanzig Jahre lang, daß man jetzt über mich herfällt, und wegen nichts als wegen der Rezension über den dummen Roman Die letzten Ritter von Marienburg', sonst wegen nichts!"

"'Die letzten Ritter von Marienburg,"' fragte der Buchhändler, der als Mann vom Fache mitsprechen zu müssen glaubte; "mich gehorsamst zu empfehlen, Herr Rat; aber ist es nicht bei Wenz in Leipzig erschienen, Z Bände Oktav, Preis 4 Taler netto?"

"Und ich will nun einmal diese Schule nicht aufkommen lassen," fuhr der Erboste fort, ohne auf Herrn Kaper zu hören; "woher kommt es, daß man keine Verse mehr lesen will, daß man die Lyrik verachtet, sei sie auch noch so duftig und gefeilt, daß man über die tiefsinnigsten Sonette weggeht wie über Lückenbüßer, woher als von diesen Neuerungen?

"Aber so zeigen Sie doch, ich bitte," flüsterte der Doktor, das zerknitterte Papier fassend; "ist es denn wirklich so arg, so niederschlagend?

"Lesen Sie immer," erwiderte der Rat gefaßter, "lesen Sie meinetwegen laut, es ist doch in jedermanns Händen; die Herren sind ja ohnedies Zeugen meines Schmerzes gewesen und mögen auch Zeugen sein, wie man Redakteur und Mitarbeiter eines der gelesensten Blätter behandelte



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Der junge Mann entrollte das Blatt. "Wie In den . Blättern für literarische Unterhaltung'? Nein, das hätte ich mir nicht träumen lassen; die waren ja sonst immer so nachbarlich, so freundlich mit uns! Ist es die Kritik, die anfängt: ,Ehe wir noch dieses Buch —'

"Eben diese, nur zu!"

'Die letzten Ritter von Marienburg, historischer Roman von

Hüon. Z Bände. Leipzig. Fr. Wenz.

Ehe wir noch dieses Buch in die Hände bekamen, lasen wir in den ,Blättern für belletristisches Vergnügen' eine Kritik, welche uns beinahe den Mut benahm, diesen dreibändigen historischen Roman nur zu durchblättern. Man kann zwar gewöhnlich auf das Urteil dieser Blätter nicht viel halten. Es sind so wenige Männer von Gehalt damit beschäftigt, daß der wissenschaftlich Gebildete von diesen Urteilen sich nie bestimmen lassen kann; doch machte diese Kritik eine Ausnahme. Es ist nämlich eine Seltenheit, daß die .Blätter für belletristisches Vergnügen' etwas durchaus tadeln; selten ist ihnen etwas schlecht genug; aber diesmal hieben sie so unbarmherzig und greulich hinein, daß wir im ersten Augenblick, auf die kritische Ehrlichkeit solcher Leute trauend, glaubten, dieser Roman müsse die tiefste Saite der Schlechtigkeit berührt haben. Doch zu einer guten Stunde entschlossen wir uns, nachzusehen, wie tief man es in der deutschen Literatur dermalen gebracht habe. Wir lasen. Aber welch ein Geist wehte uns aus diesen Blättern an! Welch mächtiges, erhabenes Gebäude stieg vor unseren Blicken auf, ein Gebäude in so hohem, erhabenem Stil wie die Marienburg selbst; wir fühlten uns fortgerissen, versetzt in ihre Hallen; der letzte Großkomtur und seine Ritter traten uns lebend entgegen, und noch einmal ertönte jene alte Feste vom Waffenspiel und den kräftigen Stimmen ihrer tapferen Bewohner. Wir wollen den Dichter nicht tadeln, daß ein Hauch von Melancholie über seinem Gemälde schwebt, der trim laute Freude, kein behagliches Vergnügen zuläßt. Wo ein so großartiges Schicksal waltet, wo ein ganzes, großes Geschlecht untergeht, da muß ja wohl auch die zarte Liebe, die nur einen Frühling blühte, mit zu Grabe gehen. In diesem außerordentlichen Buche ist ein Geist unter uns getreten, so originell , so groß, so frei, daß er keine Vergleichung gestattet. Ernennt sich Hüon, zwar ein angenommener Name, aber gut gewählt; denn der Verfasser scheint uns nicht minder würdig, von Oberon mit Horn und Becher beschenkt zu werden als jener tapfere Paladin Karls des Großen. Mit Vergnügen müssen einen solchen Jünger Meister wie Goethe und Tieck willkommen heißen, und unsere Zeit darf sich glücklich preisen, einen Mann wie diesen geboren zu haben.

'Aber mit tiefer Indignation müssen wir hierbei einer Clique



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von Menschen gedenken, die diese edle Blume schon in ihrem Keim in den Staub drücken wollten. Freilich ist er euch zu groß, zu erhaben , ihr kleinen belletristischen Seelen; möge immer diese poetische Badegesellschaft in ihrem lauen Versewasser auf- und niedertauchen, nur bespritze sie nicht mit ihrem Schlammwasser den Wanderer , der am Ufer geht und sich verachtend abwendet! Ein Glück ist es übrigens, daß man anfängt, in der guten Gesellschaft auf reinere Melodien zu horchen und daß man diese Bänkelsänger dem Straßenpöbel überläßt. 190,'

Für den Stallmeister war es ein interessantes Schauspiel, die Gesichter der Zuhörer zu mustern, während der Dichter mit schnarrendem Tone diese Kritik ablas. Der Buchhändler, der ihm zunächst saß, versteckte schlecht seine Neugierde und eine gewisse Behaglichkeit hinter einer unmutigen Miene. Vielleicht hatte ihm der Hofrat einmal ein Verlagswerk schlecht rezensiert, oder der Theaterdichter hatte ihm nichts zu verlegen gegeben, oder irgend einer der " Badegesellschaft " hatte ihn beleidigt. Erdachte wie so viele kleine Seelen im ähnlichen Falle: "Gottlob, es ist dafür gesorgt, daß die Rezensenten sich immer selbst wieder rezensieren." Der Rat hatte den Mund auf den Stockknopf gepreßt, und seine Augen irrten auf dem Boden; der Theaterdichter zwang sich zu einer Art von vornehmer Ruhe, die ihm vorhin völlig gefehlt hatte. Sein "O!" oder "Ei!" , das er hin und wieder mit einem kurzen Lachen herauspreßte, klang unnatürlich. Am merkwürdigsten war dem jungen Rempen ein stiller Zuhörer, der scheinbar ohne Teilnahme in der Ecke saß, der Referendar Palvi. Als der Doktor zu lesen anhub, lauschte er mit niedergeschlagenen Augen; dann ergoß sich plötzlich eine brennende Röte über seine Stirne und Wangen. Sie verschwand ebenso schnell als der glänzende Blick seiner großen Augen, den er auf den Lesenden warf, und wer diesen Blick, dieses flüchtige Erröten nicht gesehen, konnte vor- und nachher glauben, er schenke weder diesen Literatoren, noch der Ursache ihres Aufbrausens einige Aufmerksamkeit.

"Nun, was sagen Sie dazu?" fragte der Theaterdichter, nachdem Dr. Zündler geendet hatte. "Sie sind ja auch mit gemeint; denn zahlreiche Stanzen, Sonette, Triolette und Kritiken finden sich hon Ihrer Arbeit in den ,Blättern fürs belletristische Vergnügen."'

"Schweigen kann man nicht!" rief der Doktor entrüstet. "Ja, wir stehen alle für einen, und alle, die ins Freitagskränzchen kommen, müssen beleidigt sein, müssen sich rächen. Ich habe in Berlin einen Bekannten; in den ,Gesellschafter' lass' ich es rücken durch die dritte Hand, oder vielleicht nimmt es Dr. Saphir in die 'Schnellpost' auf; ich kenn' ihn noch von Wien.



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"In meinen Theaterkritiken mache ich Ausfälle," fuhr der Theaterdichter fort. "Ach! wenn nur Marienburg nicht preußisch wäre, ich wollte mich rächen, wollte, o! aber so könnte man alles für Anzüglichkeit nehmen. Und gegen diese .Blätter für literarische Unterhaltung' kann ich nicht offen schimpfen; ich habe noch drei Trauerspiele dort liegen, die noch nicht rezensiert sind. Aber wo nur ein Loch offen ist, will ich einen Ausfall machen!"

"Ich will untergehen," sagte der Rat pathetisch, indem er seinen Wein bezahlte und den Hut ergriff, "fallen will ich, ader siegreich hervorschreiten aus diesem Kampf. Die ganze Lyrik ist in mir beleidigt , auch alle Romantiker; denn wir haben auch Romanzen gemacht und diese Hermaphroditen von Geschichte und Dichtung, diese Novellenprosaiker, diese Scott-Tieckianer, diese — genug, ich werde sie sturzen; und damit guten Morgen!"

Als dieser Rat nach seinem dixi mit vorgeschobenen Knien aus dem Zimmer ging, war er zwar nicht anzusehen wie ein Ritter, der zum Turnier schreitet; der Professor aber und der Doktor Zündler folgten ihm in schweigender Majestät; sie schienen, als seine Knappen oder Pagen Schild und Lanze dem neuen Orlando furioso nachzutragen.

3 Ein prosaisches Herz.

Bei dein Stallmeister hatte diese Szene, nachdem das Komische, was sie enthielt, bald verflogen war, einen störenden, unangenehmen Eindruck hinterlassen. Er hatte sich mit der schönen Literatur von jeher gerade nur so viel befaßt, als ihm nötig schien, um nicht für ungebildet zu gelten, und auch hier war er mehr seiner Neigung als dem herrschenden Geschmacke gefolgt. Er wußte wohl, daß man ihn bemitleiden würde, wollte er öffentlich gestehen, daß er Smollets Peregrine Pickle für den besten Roman und einige sangbare Lieder von Kleist für die angenehmsten Gedichte halte; er behielt dieses Geheimnis für sich, brummte, wenn er morgens ausritt, sein Liedchen, ohne zu wissen, welcher Klasse der Lyrik es angehöre, und las', wenn er siel) einmal ein literarisches Fest bereiten wollte, ausgesuchte Szenen im Peregrine Bickle. Ein paar Almanache, ein paar schöngeistige Zeitschriften durchflog er, um, wenn er darüber gefragt wurde, nicht erröten zu müssen. So kam es, daß er vor Schriftstellern oder "Leuten, die etwas drucken ließen," große Ehrfurcht hatte; denn seine Seele war zu ehrlich, um ohne Grund von Menschen schlecht zu denken, deren Beschäftigung ihm so fremd war als der Hippogryph seinen Ställen. Um so verletzender wirkte auf ihn der



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Anblick dieser erbosten Literatoren. "Man tadelt es an Schauspielern," sprach er zu sich, "daß sie außerhalb des Theaters oft roh und ungebildet sich zeigen, daß sie Tadel, auch den gerechten, nicht ertragen wollen und öffentlich darüber schimpfen und schelten. Aber zeigten sich denn diese Leute besser? Ist es nicht an sich schon fatal, seinen Unmut über eine Beschimpfung zu äußern? Muß inan das Wirtshaus zum Schauplatz seiner Wut machen und sich so weit vergessen, daß man wie ein Betrunkener sich gebärdet? Und wie schön ließen diese Leute siel) in die Karten sehen! Also weil sie beleidigt sind —vielleicht mit Recht, — wollen sie wieder beleidigen, wollen ihre Privatsache zu einer öffentlichen machen? Das also sind die Leiter der Bildung, das die feinfühlenden Dichter, die, wie Freund Zündler sagt, Instrumente sind, die nie einen Mißton von sich geben?"

Kummervoll dachte er dabei an ein Wesen, das ihm vor allen teuer war. Der Buchhändler hatte nicht mit Unrecht geäußert, daß Elise Wilkow ein sehr belesenes Frauenzimmer sei. Nach Remp ens Ansichten über die Stellung und den Wert der Frauen schien sie ihm beinahe zu gelehrt, in Stunden des Unmuts nannte er es wohl gar überbildet. Er hatte es niemand, kaum sich selbst gestanden, daß sie seine stillen Huldigungen nicht unbemerkt ließ, daß sie ihm manchen gütigen Blick schenkte, aus dem er vieles deuten konnte. Er war zu bescheiden, um zu glauben, daß dieses liebenswürdige Geschöpf ihn lieben könnte, und dennoch verletzte ihn ihr ungleiches, zweifelhaftes Benehmen. Es war eine gewisse Koketterie des Geistes, die das liebenswürdige Mädchen in seinen Augen entstellte. Wenn er zuweilen in freundlichem Geplauder mit ihr war, wenn sie so traulich, so natürlich ihm von ihrem Hauswesen, ihren Blumen, ihren Vergnügungen erzählte, wenn er sich ganz selig fühlte, daß sie so lange, so gerne mit ihm spreche, so führte gewiß ein feindlicher Dämon einen jener Literatoren oder Dichter herbei, deren diese gute Stadt zwei Dutzende zählte, und Elise war wie ausgetauscht. Ihre schönen Augen schimmerten dann vor Vergnügen, ihr schlanker Hals bog sich vor, und ohne auf eine Frage des guten Stallmeisters zu achten, ohne seine Antworten abzuwarten, befand man sich mit Blitzesschnelle in einem kritischen oder literarischen Geplänkel, wo Rempen zwar die ungemeine Belesenheit, das schnelle Urteil, den glänzenden Witz seiner Dame bewundern, sie selbst aber bedauern musste, daß sie dieser Art von Gespräch, diesem gesuchten Vergnügen sichtbarer entgegenkam, als es sich für ein Mädchen von siebzehn Jahren schickte.

"Und an dieses Volk, an diesen literarischen Pöbel, wirft sie ihre glänzenden Gedanken, ihre zartesten Empfindungen, wirft sir



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Blicke und Worte weg, die einen andern als diese gedruckten Seelen überglücklich machen würden. Und fühlen sie es denn? Sind sie dadurch geehrt, entzückt? Nur mit ihnen spricht sie über das, was sie gelesen, als ob sonst niemand lesen könnte, nur ihnen zeigt sie, was sie gefühlt, als ob gerade diese Versmacher und Rezensenten die gefühlvollsten Leute wären und ein so schönes, liebenswürdiges Wesen zu würdigen verständen. Nein, diese Toren sehen es überdies noch als einen schuldigen Tribut, als eine geringe Anerkennung ihrer eminenten Verdienste an, wenn die Krone aller Mädchen mit ihnen schwatzt wie mit ihresgleichen, während andere wackere Leute in der Ferne stehen. Und diese Menschen, die sich heute so niedrig gebärdeten, bilden ihren Hofstaat, dies sind die genialen Männer, mit welchen sie so gerne spricht!

Diese Gedanken beschäftigten ihn den ganzen Tag. Sein Stallpersonal konnte sich heute gar nicht in ihn finden. Der gutmütige, milde Herr war zu einem rauhen, mürrischen Gebieter geworden. Die Stallknechte klagten es sich beim Füttern; acht Pferde hatte er hinausgejagt durch dick und dünn, und jedes hatte einen andern Fehler gehabt. Die Bereiter hatte er zum ersten Male streng getadelt, und als es Abend wurde, war man im Stall darüber einig, dem Stallmeister von Rempen müsse etwas Außerordentliches begegnet sein, vielleicht sei er sogar in Ungnade gefallen. Man bedauerte ihn; denn sein leutseliges Wesen hatte ihn zum Liebling seiner Untergebenen gemacht.

Und wahrlich, der Abend dieses Tages war nicht dazu gemacht, diese düsteren Gedanken zu zerstreuen. Der Geheimrat von Remyen, sein Oheim, gab alle vierzehn Tage einen großen Klub, in welchem er, das Unmögliche möglich zu machen, die getrenntesten Extreme zu vereinigen suchte. Dieser Klub hatte sich früher in drei verschiedene Abteilungen getrennt. Es war in jener Stadt eine literarische Sozietät, deren Mitglied der alte Rempen war; sie versammelte sich, um zu lesen, zu rezensieren, gelehrt zu sprechen; an einem andern Tage war großer, umwechselnder Singtee, an einem dritten Abend Tanzunterhaltung. "Tria juncta in uno, drei Köpfe unter einem Hut," sagte der alte Rempen und lud sie alle zusammen ein. Der bunteste Wechsel schien ihm die interessanteste Unterhaltung, und darum preßte er wie ein Seelenverkäufer Literatoren, Soldaten, Justizleute, lese , gesang- und tanzlustige Damen und packte sie in seinen Salon zusammen zu Tee und Butterbrot. in der festen Überzeugung, die wahre Springwurzel der Unterhaltung gefunden zu haben. Für seinen Neffen aber vereinigten sich Himmel und Fegfeuer in diesem Klub. Erhörte Elisen singen; seine nahe Verwandtschaft zu dem alten Rempen, der keinen Sohn hatte, machte



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es ihm möglich, wie ein Kind des Hauses, nicht wie ein Gast aufzutreten und mit Elisen ungestört zu tanzen und zu plaudern. Aber seine Höllenqualen begannen, wenn er den Oheim, umgeben von einem Kreise älterer und jüngerer Herren, mit wichtiger Miene etwas erklären sah; wenn er endlich ein Buch aus der Tasche zog durchblätterte, es im Kreise umherzeigte und die Herren vor Freude stöhnten: — "Ah — etwas Neues, schon gelesen? Göttlich — vorlesen bitte vorlesen, — Professor am besten lesen, — in den Saal und lesen." — "Lesen, vorlesen!" tönte es dann von dem Munde älterer Damen und jener Herren, die nicht tanzen wollten, und Elise — nahm mit einer kurzen Verbeugung Abschied, drängte sich in den literarischen Kreis, wurde als Königin des guten Geschmacks begrüsst, hatte gewöhnlich das Buch schon gelesen, stimmte für die Vorlesung und war für den armen Stallmeister auf den ganzen Abend verloren.

Mit diesen trüben Erinnerungen gelangte er an das Haus seines Oheims. Er war eben im Begriff, einzutreten, als das Gespräch zweier Männer, die sich diesem Hause näherten, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Soviel der matte Schein einer fernen Laterne erraten ließ, war der eine ein ältlicher, dürftig gekleideter Mann. der andere jünger, höher und festlich gekleidet.

"Brüderchen!" sprach der ältere mit einem Akzent, der nicht dieser Gegend angehörte. "Brüderchen, bleib mir aus dem fatalen Haus! So oft Ihr wieder herauskommt, seid Ihr zwei, drei Tage ein geschlagener Mann. Laß die Bursche dort oben in Gott's Namen auf Stelzen gehen und Unsinn schwatzen, bleibet aber nur Ihr hinweg, 's ist noch Euer Tod!

"Ich muß sie sehen, Alter!" sprach der jüngere, "ich muß sie hören. Es gehört zu meinem Glück, sie gesehen zu haben."

"Ihr seid ein Narr!" erwiderte der andere, "sie mag Euch nicht, sie will Euch nicht. Ihr seid ein armer Teufel und gehört nicht in diese Sozietät. Aber fassen kann ich Euch nicht! 'S gehört ein Wort dazu, nur ein Wörtchen, ein bißchen von einem Geständnis, und Ihr könnt vielleicht glücklich sein. Geh fort, geh fort; scherwenze in der noblen Welt, werde ein Schuft wie alle und vergiß den alten, armen Bunker! Leb wohl! Will nichts mehr von dir!"

Er wollte unmutig weggehen; aber der junge Mann hielt ihn auf. "Sei vernünftig," bat er; "willst auch du mich noch elend machen? Tu es immer, laß mich liegen wie einen Hund, wenn du es über dein Herz vermagst! Ich bin ja ohnedies unglücklich genug." "Jammere nur nicht so!" sprach der Alte gerührt. "Geh hinauf, wenn du es nicht lassen kannst. Aber bleibe nicht da, wenn sie vorlesen! Du ärgerst dich. Komm zu mir!"



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"Ich komme," erwiderte der jüngere nach einigem Nachsinnen. "Um zehn Uhr will ich kommen. Wohin?

Heute in den Entenzapfen! Im Rosmarin ist heilloses Volk, Schneider und Schuster und die Affen und Bären aus den Druckereien — es ist heute Montag. Aber, Brüderchen, im Entenzapfen ist Cerevis, man trinkt es in Augsburg nicht besser."

Ein Wagen mit hellglänzenden Laternen rollte in diesem Augenblick auf das Haus zu; der junge Mann sagte eilig zu, und der alte lich langsam die Straße hin. Der Stallmeister konnte sich kaum von seinem Erstaunen erholen. Wer konnte aus so sonderbarer Gesellschaft in den Tanzsaal seines Oheims kommen? Noch sonderbarer schien es ihm, daß man diesen glänzenden Klub, der alle geistreiche und noble Welt der Stadt vereinigte, verlassen wollte, um in dem Entenzapfen Bier zu trinken. in einer Winkelkneipe, die er kaum dreimal von seinen Stallknechten hatte rühmen gehört. Er setzte dem sonderbaren Gast, der flüchtig die Treppe hinaneilte, nach, er holte ihn im hellerleuchteten Korridor ein, ging an ihm vorüber, sah sich um und erblickte da:, düstere Auge und die markierten Züge des Referendars Palvi.

Verworrene Gedanken flogen vor seiner Seele vorüber, als er ihn erkannte; seine Worte "Ich muß sie sehen," der Wink des Buchthändlers Palvi sei früher in einem Verhältnis zu Elisen gestanden, Staunen über die sonderbaren Reden mit dem Alten, wunderliche Sagen, die er früher über diesen Palvi vernommen, alle diese Gedanken wollten auf einmal zur Klarheit dringen und machten, daß er sich vornahm, über eines wenigstens sich diesen Abend Gewißheit zu verschaffen, über sein Verhältnis zu Elisen.

4. Ein Singtee.

Der größte Teil der Gesellschaft hatte sich schon versammelt, als die jungen Männer eintraten. Des Stallmeisters scharfes Auge durchirrte den Damenkreis, der an den Wänden hin sich ausbreitete; er fand endlich Elisen an einem fernen Fenster im Gespräch mit seiner Tante; aber ihr schönes Gesicht hatte nicht den Ausdruck von Heiterkeit und Laune, die er sonst so gern sah; sie lächelte nicht, sie schien verstimmt. Es kostete ihn einige künstlich angeknüpfte Gespräche, einige Neuigkeiten vom Hufe, im Vorübergehen erzählt, um sich bis an jenes Fenster durchzuwinden,

Die Tante sprach so eifrig, Elise hörte so aufmerksam zu, daß er endlich die herabhängende Hand der Tante erfassen und ehr erbietig küssen musste, uni sich bemerklich zu machen. Elisens Wangen



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glühten, als sie ihn erblickte, und die Tante rief staunend: "Wie gerufen, Julius! Ich sprach soeben mit dem Fräulein von dir, du wirst dir etwas darauf einbilden so gut wird es dir nicht alle Tage."

"Und was war der Inhalt Ihres Gespräches, wenn man fragen darf?"

"Deine Klagen von letzthin," erwiderte die Tante lachend, "dein Kummer, daß dich das Fräulein mitten in der Rede stehen gelassen habe, um mit irgend einem eminenten Dichter zu verkehren . Doch am besten machst du dies mit Fräulein Elise selbst aus," setzte sie hinzu und ging weiter,

Elise schien sich wirklich einer kleinen Schuld bewußt; denn sie schlug die Augen nieder und zögerte zu sprechen; als aber Rempen bei seinem unmutigen Schweigen verharrte, sagte sie, halb lächelnd, halb verlegen: "Ich gestehe, es war nicht artig, und sicher würde ich es mir gegen einen Fremden nicht erlaubt haben; aber daß Sie mir dergleichen übelnehmen, da Sie meine Weise doch kennen" —

"So stände ich Ihnen denn näher als jene gelehrten und berühmten Herren?" erwiderte er freudig bewegt, "darf es sogar als ein Zeichen Ihres Zutrauens nehmen, wenn Sie mich so plötzlich verlassen, um zu jenen zu sprechens"

"Sie sind zu schnell, Herr Stallmeister!" sagte sie. "Ich meinte nur, weil Sie meine Eltern kennen und ich viel zu Ihrer Tante komme, müsse man die Konvenienz nicht so genau berechnen. Und muß man denn im Leben alles so ängstlich berechnen?"

Sie bemerkte dies halb zerstreut, und es entging Rempen nicht, daß ihr Auge eine andere Richtung genommen habe, als zu ihrer Rede paßte; er verfolgte diesen Blick und traf auf Palvi, der mit einem ältlichen Herrn sprach und zugleich seine Blicke brennend und düster auf Elisen heftete. Ein tiefer Atemzug stahl sich aus ihrer Brust, als sie ihre Augen, die weder zärtlich, noch freudig glänzten, von ihm abwandte. Sie errötete, als sie bemerkte, wie ihr Nachbar die Richtung ihrer Blicke bemerkt habe; verlegen und zerstreut flüsterte sie: "Wie kommt doch er hierher zu Ihrem Onkel?"

Der Stallmeister war so boshaft, sie zu fragen, wen sie denn meine.

"Den Referendar Palvi," antwortete sie leichthin, als wollte sie ihre vorige Frage verbessern, " er ist vielleicht mit Ihrem Hause bekannt?"

"Ich kenn' ihn nicht," erwiderte der Stallmeister etwas ernst; "doch warum sollte er nicht hier sein? Kennen Sie ihn vielleicht? Man sagt, es sei ein Mann von schönen Talenten, der —"

"Wie freut es mich, dich wieder gesund zu sehen, Klotilde!"



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rief seine Nachbarin und hüpfte auf ein Mädchen zu, das sechs Schritte von ihr entfernt stand; verblüfft, als hätte er einen dummen Streich begangen, stand der Stallmeister und sah ihr nach.

Man hatte indessen um Ruhe und Stille gebeten, ein Fräulein von kleiner Gestalt, aber gewaltiger Stimme wollte sich hören lassen und stellte sich zu diesem Zwecke auf ein gepolstertes Fußbänkchen hinter ein elegantes Notenpult. Die Männer setzten sich Stühle hinter die Frauen, die Frauen machten erwartungsvolle Mienen, und es war so tiefe atille in dem großen Zimmer, daß man nur die Bedienten hin und wieder "ist's gefällig?" brummen hörte, wenn sie Tee anboten. Beim ersten Takt, den man zur Begleitung des kleinen Fräuleins auf dem Flügel anschlug, entwich der junge Rempen in ein Nebenzimmer, um ungestört seinen Gedanken nachzuhängen ; er zog weiter, wandelte ein paarmal im Salon auf und ab und bog dann in die nächste Türe, dem Ende der Enfilade zu. Im letzten Zimmer saß ein Mann in einem Sofa, der die Stirne in die Hand gelegt hatte. Bei Rempens Nähertreten wendete er den Kopf, und den Stallmeister hatte seine schnelle Ahnung nicht betrogen. es war Palvi.

"Auch Sie scheinen die Musik nicht in der Nähe zu lieben," sagte Julius, indem er sich zu ihm auf das Ruhebett setzte; "kaum bis hierher dringen die zarteren Töne."

"Es geht mir damit wie mit dem Geruch starkduftender Blumen," erwiderte Palvi mit angenehmer Stimme. "Mit diesen Düften in einem verschlossenen Zimmer zu sein, macht mich krank und traurig; aber im Freien, so aus der Ferne atme ich ihren Balsam mit Wollust ein, ich unterscheide und errate dann jede einzelne Nuance, ich möchte sagen, jede Schattierung, jeden Ton, jeden Übergang des Geruches."

"Sie haben recht, jede Musik gewinnt durch Entfernung," bemerkte Rempen; "aber das Jammervollste ist mir, jemand singen sehen zu müssen. Besonders ängstigt mich die kleine Person, die jetzt eben etwas vorträgt. Sie ist nett, beinahe zierlich gebaut, aber alle Gliederchen en miniature Nun stellt man sie immer auf ein Fußbänkchen, damit sie gesehen wird. Hinter ihr steht der Musikdirektor mit der Violine. Von Anfang macht es sich ganz gut. Der Direktor spielt piano und verzieht höchstens den Mund links und rechts nach dem Strich seines Fiedelbogens, nach und nach kommt er ins Feuer; ,Forte, più forte', flüstert er und wackelt mit dem Kopf; jetzt fängt auch die Kleine an, sich zu heben; anfänglich wiegt sie sich auf den Zehen und bewegt die Ellenbogen, als nähme sie einen kleinen Ansatz zum Fliegen; doch crescendo mit des Musikers Perpendikularbewegungen schreiten ihre Gebärden vor, sie weht und



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rudert mit den Armen; sie hebt und senkt sich, bis sie im höchsten Ton auf den Zehenspitzen aushält und — wie leicht kann da die Fußbank umschlagen !

Der Referendar lächelte flüchtig. "Beinahe noch verschiedener als beim Lachen gebärden sich die Menschen, wenn sie singen," sagte er; "haben Sie nie in einer evangelischen Kirche die Mienen der Weiber unter dem Gesang betrachtet: Betrachten Sie ein zartes, schwärmerisches Kind von sechzehn Jahren, das mit rundgewölbten Lippen, Frieden und Andacht in den Zügen, die zarten Wimpern über die feuchten Augen herabgesenkt, ihren Schöpfer lobt. Sie können aus den vielen Hunderten ihre Stimme nicht herausfinden, und doch sind Sie überzeugt, sie müsse weich, leise, melodisch sein. Setzen Sie neben das Kind zwei ältliche Frauen, die eine wohlbeleibt , mit gutgenährten Wangen und Doppelkinn, die Augen gerade vor sich hinstarrend, die andere etwas vergilbt, mit runzlichen, dürren Zügen und spitzem Kinn, auf die gebogene Nase eine Brille geklemmt — und Sie werden erraten können, daß die Dicke einen hübschen Bariton murmelnd singt, die andere in die höchsten Nasentöne und Triller hinaufsteigt."

"Sie scheinen genau zu beobachten." antwortete lachend der Stallmeister. "Es fehlt nur noch, daß Sie die dicke Frau mit dem murmelnden Bariton für die Mutter der Kleinen, die spitzige aber für ihre ledige Tante ausgeben, eine alte Jungfer, die nicht sowohl von unserem Herrgott als von den Nachbarinnen umher gehört sein will. Was sagen Sie aber zu der sonderbaren Gewohnheit der Primadonna unserer Oper? In den tiefen Tönen ist ihr hübsches Gesicht ernsthaft, beinahe melancholisch; wenn sie aber aufsteigt, klärt es sich auf, und hat sie nur erst die oberen Doppeltgestrichenen hinter sich, so schließt sie die Augen wie zu einem seligen Traum, sie lächelt freundlich und hold und lächelt, bis sie wieder abwärts geht. Gleichgültig ist ihr dabei, was für Worte sie singt. Sie könnte in den tiefsten Tönen ,Ich liebe dich, meines Herzens Wonne,' singen und ungemein ernsthaft dabei aussehen, und könnte ebenso leicht .Ich sterbe, Verräter!' in den höchsten Rouladen schreien und ganz hold und anmutig dazu lächeln. Wie erklären Sie dies?"

"Es ist nicht schwer zu erklären," entgegnete palvi nach einigem Nachsinnen; "die tiefen Töne fallen ihr etwas schwer; sie muß noch drücken, etwa wie man einen großen Bissen hinabwürgt, und unmöglich kann sie das mit heiterem Gesicht mit den hohen Tönen aber geht es wohl folgendermaßen zu; Als sie noch jung war und die höheren Töne in ihrer echten Kraft sich erst bildeten, mochte sie einen Lehrmeister gehabt haben, der ihr unerbittlich alle Tage die



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Skala bis oben hinauf vorgeigte. Für einen klaren höchsten Ton bekam sie wohl ein Stück Kuchen, ein Tuch oder sonst dergleichen etwas; je höher sie es nun brachte, desto freudiger strahlte ihr Gesicht vor Vergnügen über ihre eigenen Töne, und so mochte sie sich angewöhnt haben, mit der freundlichsten Miene zu singen .Ich verzweifle!"'

In diesem Augenblicke ertönte eine reine, volle Frauenstimme in so schmelzenden, süßen Tönen, daß die beiden Männer unwillkürlich ihre Rede unterbrachen und lauschten. Eine leichte Röte flog über Remp ens Gesicht; denn er erkannte diese Stimme. Sein Auge begegnete dem dunkeln Auge Palvis, das wohl eine Weile prüfend auf seinen Zügen verweilt haben mochte.

"Kennen Sie die Stimme?" fragte Rempen etwas befangen.

"Ich kenne sie," erwiderte jener und stand auf.

"Und wollen Sie sich den Genuß vermindern und näher tretend"

"Ich möchte wohl auch die Worte des Textes hören," entschuldigte sich jener nicht ohne Verlegenheit.

Der Stallmeister folgte ihm; Palvi schwebte schnellen, aber leisen Schrittes über den Boden hin und setzte sich unweit des Zimmers, wo Elise sang, auf ein Bankett, indem er Rempen durch einen stummen Wink einlud, sich neben ihn zu setzen. Sie lauschten; es war die bekannte Melodie einer jener alten französischen Romanzen, die, indem sie durch ihren ungekünstelten Wohllaut dem Ohre schmeicheln, in mutigen Tönen das Herz erheben; aber ein deutscher Text war untergelegt, Worte, von welchen die Sängerin selbst wunderbar ergriffen schien; denn sie trug sie mit einem Feuer vor, das ihre Zuhörer mit erfaßte.

Der junge Rempen fühlte sein Herz von Liebe zu der Sängerin wie von dem hohen Schwung ihres Gesanges mächtiger gehoben; aber mit Verwunderung und Neugierde sah er die tiefe Bewegung, die sich auf den Zügen seines Nachbars ausdrückte. Seine Augen strahlten, sein Haupt hatte sich mutig und stolz aufgerichtet, und um Wangen und Stirne wogte eine dunkle Röte auf und ab, jene Röte, die ein erfülltes, von irgend einer mächtigen Freude überraschtes Herz verrät.

Mit gekrümmtem Rücken, auf den Zehenspitzen schlich jetzt der Oheim Rempen heran. Schon von weitem drückte er seinem Neffen durch beredtes Mienenspiel seinen Beifall über den herrlichen Gesang aus, und als er nahe genug war, flüsterte er: "Heute singt sie wieder wie die Pasta, voll Glut, voll Glut; und der schöne Text, den sie untergelegt hat! —er ist aus einem neuen Roman, "Die letten Ritter von Marienburg."'



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Der junge Mann winkte seinem Oheim ungeduldig, stille zu sein der Alte schlich weiter zu einer andern Gruppe, und die beiden lauschten wieder ungestört, bis der Gesang geendet war.

5. Die letzten Ritter von Marienburg.

Rauschender Beifall füllte dann das Gemach; man drängte sich uni die Sängerin, und auch Remyen folgte seinem Herzen, das ihn zu Elisen zog. Aber schon war sie von einem halben Dutzend jener Literatoren umlagert, die ihn immer verdrängten. "Welch herrliches Lied!" hörte er den Doktor Zündler sagen, "welche Kraft, welche Fülle von Mut, und wie zart gehalten!" Doch dem Stallmeister entging nicht, daß der Rat, der ebenfalls bei der Gruppe stand, den jungen Doktor durch einen freundschaftlichen Rippenstoß aufmerksam darauf zu machen schien, daß er etwas Ungeschicktes gesagt habe. Er erschrak, errötete und fragte in befangener Verlegenheit , woher das Fräulein das schöne Lied habe.

"Es ist aus den ,Letzten Rittern von Marienburg', von Hüon." Gemurmel des Staunens und Beifalls lief durch die dichten Massen, als man diesen Titel hörte. "Wie, ein neuer Roman? — Ah, derselbe, welchen die ,Blätter fürs belletristische Vergnügen' so tüchtig ausg — Sie sind ja da, leise, leise — — Wo kann man den Roman sehen?" — So wogte das Gespräch und Geflüster auf und ab, bis der Wirt des Hauses mit triumphierendem Lächeln ein Damenkörbchen an seidenen Bändern in die Höhe hielt, es öffnete und ein Buch hervorzog. Er schlug den Titel auf, er zeigte ihn der gespannten Gesellschaft, und mit freudigem Staunen las man in großen gotischen Lettern: "Die letzten Ritter von Marienburg." — "Vorlesen, bitte, vorlesen," tönte es jetzt von dreißig, vierzig schönen Lippen, und selbst die jungen Männer, die sonst diese Unterhaltung weniger liebten, stimmten für die Vorlesung. Aber eine nicht geringe Schwierigkeit fand sich jetzt in der Wahl des Vorlesers; denn jene Literatoren, die sonst in diesem Zirkel dieses Amt bekleidet hatten, stemmten sich heute bestimmt dagegen; der eine war erhitzt, der andere hatte Katarrh, der dritte war heiser, und allen war die Unlust anzusehen, daß nicht ihre eigenen Produkte, sondern fremde Geschichten vorgelesen werden sollten.

"Ich wüßte keinen besseren vorzuschlagen," sagte endlich ein Kriminalpräsident von großem Gewicht, "als dort meinen Referendar Palvi; wenigstens zeugen seine Referate von sehr guter Lunge und geschmeidiger Kehle." Indem der Kriminalpräsident seinen eigenen Witz belachte und im Chorus sechs Juristen



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pflichtgemäß mit einstimmten, verbeugte sich der junge Mann, anchelchen die Rede ging, während eine flüchtige Röte über sein Gesicht zog, und zur Verwunderung der Gesellschaft, die ihn sehr wenig kannte, ergriff er das Buch und die Tasche und fragte bescheiden, welcher von den Damen beides gehöre.

Dem Stallmeister, der hinter ihm stand, hatte dies längst sein scharfes Auge gesagt. Elise war flüchtig errötet, als der Onkel den Beutel emporgehoben und das Buch daraus hervorgeholt hatte. Als aber Palvi anfragte, als er mit seinem dunkeln Auge den Kreis der Damen überstreifte und bei ihr stillestand, da goß sich ein dunkler Karmin über Stirne, Wangen und den schönen Hals des Fräuleins; sie schien überrascht, verlegen, und als jene Röte ebenso schnell verflog, schien sie sogar ängstlich zu sein. "Das Buch gehört mir, Herr von Palvi," sagte sie schnell und mit einem kurzen Blick auf ihn. — "Und werden Sie erlauben, daß daraus vorgelesen wird? Daß ich daraus vorlese?" fragte er weiter.

"Ich habe hier nichts zu bestimmen," erwiderte sie, ohne aufzusehen ; "doch das Buch steht zu Diensten."

"Nun, dann nicht gesäumt!" rief der Oheim. "Stühle in den Kreis und ruhig sich gesetzt und andächtig zugehört; denn ich denke, wir werden einen ganz angenehmen Genuß haben."

Man tat nach seinem Vorschlag; in bunten Kreis setzte sich die zahlreiche Gesellschaft, und sei es, daß man auch hier Fräulein Elise als literarische Königin ansah, oder war es eine sonderbare Fügung des Zufalls, der Vorleser kam so gerade ihr gegenüber zu sitzen, daß, so oft sie die Augen aufhob, diese schönen Augen auf ihn fallen mußten.

"Aber, Freunde," bemerkte die Dame vom Hause, "dieser Roman hat, soviel ich weiß, drei Bände; wollen wir sie alle anhören, so kommt unsere junge Welt heute nicht mehr zum Tanzen und wir anderen nicht zum Spiel; ich denke, man wählt die schönsten Stellen aus."

"Wer aber soll sie wählen? fiel ihr Gatte ein. "Das Dina ist nagelneu, niemand hat es gelesen; doch Fräulein Wilkow wird uns helfen können. Können Sie nicht schöne Stellen andeuten und uns den Faden des übrigen geben?"

Man bat so allgemein, so dringend, daß Elise nach einigem Z gern nachgab. "Der Roman," sagte sie, "spielt, wenn ich mir die Jahreszahl richtig gemerkt habe, in den Jahren 1455 und 1456 in und uni Marienburg in Ostpreußen. Der deutsche Orden ist von seinen früheren, einfachen und reinen Sitten abgekommen; dies und innerer Zwiespalt, wie Neid und Anfeindungen von allen Seiten her, drohen, einen baldigen Umsturz der Dinge herbeizuführen, wie



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dann auch durch den Verrat böhmischer Ordenssoldaten, gegen Ende des dritten Teils, Marienburg für den Orden auf immer verloren geht. Auf diesen geschichtlichen Hintergrund ist aber die interessante Geschichte eines Verhältnisses zwischen einem jungen deutschen Ritter und einem Edelfräulein aufgetragen. Sie ist die Tochter des Kastellans von Marienburg, eines geheimen und furcht baren Feindes des Ordens, der, anscheinend dem Deutschmeister befreundet, nur dazu in Marienburg lebt, um jede Blöße des Ordens den Polen zu Verraten. Der Roman beginnt in der Ordenskirche, wo die Ritter und viele Bewohner von Marienburg und der Umgegend bei einem feierlichen Hochamte versammelt sind, um den Tag zu feiern, an welchem vor vielen Jahren der erste Komtur mit seinem Konvent in dieser Burg einzog. Der letzte Meister, Ulerich von Elrichshausen, ein Mann, der sich dem nahenden Verderben noch entgegenstemmen will, hält eine eindringliche Rede an die Ordensglieder. Der Gottesdienst endet mit einer feierlichen, lateinischen Hymne. Indem zwei der jüngsten Ritter, nach der Sitte bei solchen Gelegenheiten, den vornehmsten fremden Besuchern das Geleite bis in den Vorhof geben, bemerkt der eine von ihnen, daß der andere im Vorbeistreifen ein kleines Päckchen in die Hand einer verschleierten Dame gedrückt habe. Die Kirche ist leer, und im zweiten Kapitel fragt nun der erstere den zweiten um die Bedeutung dessen, was er gesehen. Er ist sein Waffenbruder, ein Bündnis, das nach der Sitte der Zeit fester als irgend ein Freundschaftsband galt, und Kuno von Elrichshausen, der Neffe des Meisters, der Held des Romans, gesteht ihm endlich sein Verhältnis zu der Dame, erzählt ihm von seinem Leben, seiner Liebe, seinen trostlosen Aussichten .

"Der Freund ratet ab, Kuno aber verschmäht jede Warnung und bittet jenen, er möchte ihn an diesem Abend zu einer Zusammenkunft mit der Geliebten begleiten. Diese Zusammenkunft in einem verfallenen Teil des älteren Schlosses ist so schauerlich schön, daß ich möchte, sie würde ganz gelesen.

Palvi las. Wer je ein Buch, das er sonst nicht kannte, in Gesellschaft vorgelesen, der weiß, daß etwas Beunruhigendes in dem Gedanken liegt, daß man mit gehaltener Sicherheit auf einem Felsenpfade gehen soll, den man noch nie betreten. Dieses beängstigende Gefühl wächst, wenn es ein Gespräch ist, das man vorträgt. Man kann den Atem, den Rhythmus, den Ausdruck der Empfindung nicht richtig abmessen und verteilen. man weiß nicht, ob jetzt die höchste höhe der Lust ausgedrückt ist, ob jetzt der Dichter die tiefste Saite der Wehmut berührt habe, ob er nicht noch tiefere Akkorde anschlagen werde, und der Zuhörer pflegt diese Unsicherheit störend



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mitzuempfinden. Aber wunderbar las dieser junge Mann, den ein zufälliger Scherz seines Vorgesetzten zum Vorleser gestempelt hatte. Es war, als lese er nicht mit den Augen, sondern mit der Seele ohne dieses Organ, als spreche er etwas längst Gedachtes, eine Erinnerung aus. als kenne er den Inhalt, den Geist dieser Blätter, und sein Gedächtnis habe das Buch nur wegen der zufälligen Wortstellung vonnöten. Wenn das. was er la: nicht durch Inhalt und Form so großartig, dieses Gespräch zweier Liebenden so neu, so bedeutungsvoll gewesen wäre, diese Art, etwas vorzutragen, hätte zur Bewunderung hinreißen müssen.

Wir fürchten zu ermüden, wollten wir den Gang der Gefühle im Gespräch dieser Liebenden verfolgen. Wir bemerken nur, daß der jüngere Teil dieser Gesellschaft mächtig davon ergriffen wurde, daß Fräulein Elise, die anfangs den Vorleser mit scheuen, staunenden Blicken angesehen hatte, in tiefer Rührung die Augen senkte und kaum so viel Fassung fand, ihre Erzählung weiter fortzusetzen.

"Die Liebenden," sagte sie, "so wenig Trost im Schluß dieser Szene lag, sind zufrieden in dem Gedanken an die Gegenwart. Je dunkler aber die Zukunft vor ihnen liegt, desto angenehmer dünkt es ihnen, die Gegenwart mit schönen Träumen auszufüllen. Der Deutschmeister bekommt die Nachricht, daß der Kaiser, von den Einflüsterungen Polens halb besiegt, dem Orden zürne, ihm namentlich innere Zügellosigkeit vorwerfe. Der Meister versammelt daher im großen Rempter ein Kapitel, wo er die Ritter anredet. Diese Stelle ist eine der trefflichsten im Buche; denn der Verfasser befriedigt hier auf wunderbare Weise zwei Interessen. Indem der Meister die Verhältnisse des Ordens bis auf die zartesten Nuancen aufdeckt und berechnet, bekommt der Leser nicht nur ein schönes Bild von dem einsichtsvollen, umsichtigen Ulerich von Erichshausen, von der erhabenen Würde eines Nachfolgers so großer Meister, von der gebietenden Stellung eines Herrschers auf Marienburg, sondern er bekommt auch auf ungezwungene und natürliche Weise eine übersicht über die historische Grundlage des Romans. Der Meister schärft die Haus- und Sittengesetze und schließt mit einer furchtbaren Drohung für den Übertreter.

"Der Held des Romans, voll schönen Glaubens an alles Edle und Reine, sieht in seiner Freundschaft für Wanda, so heißt das Fräulein, kein Unrecht. Er seht, begleitet von seinem Freunde, die nächtlichen Zusammenkünfte fort. In einer derselben ist ein wunderschönes Märchen eingewoben, eine Sage, die man auch mir in meiner Kindheit oft erzählt haben muß; denn sie klang mir wie alte Erinnerungen."

Sie hielt inne; mit einem Blick voll Liebe und Wehmut fragte



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Palvi, ob er das Märchen lesen solle. Sie nickte ein kurzes Ja, und er las. Der junge Rempen hatte während des Märchens sein Auge fest auf Elisen gerichtet. Er bemerkte, daß sie anfangs heiter zuhörte, mit einem Gesicht, wie man eine bekannte Lieblingsmelodie hört und die kommenden Wendungen zum Voraus erratet; nach und nach wurde sie aufmerksam; es kamen einige sonderbare Reime vor, die Palvi so rasch und mit so eigenem singenden Tone vortrug, daß sie dadurch tief ergriffen schien; Erinnerungen schienen in ihr auf- und niederzutauchen, sie preßte die Lippen zusammen, als unterdrücke sie einen inneren Schmerz; er sah, wie sie bleich und immer blasser wurde, er sah sie endlich ihrer Nachbarin etwas zuflüstern ; sie standen beide auf, aber ebenso schnell sank Elise wieder kraftlos auf ihren Stuhl zurück.

Die Bestürzung der Gesellschaft war allgemein. Die Damen sprangen herzu, um zu helfen; aber sei daß, wie es oft zu geschehen pflegt, gerade das unangenehme Gefühl dieser störenden, geräuschvollen Hilfe sie wieder emporraffte, oder war es wirklich nur etwas Vorübergehendes, ein kleiner Schwindel, was sie befiel sie stand beinahe in demselben Moment wieder aufrecht, bleich, aber lächelnd, und konnte sich bei der Gesellschaft entschuldigen, diese Störung veranlaßt zu haben.

An Erzählen und Vorlesen war übrigens nach diesem Vorfall diesen Abend nicht wohl wieder zu denken, und man nahm mit Vergnügen den Vorschlag an, sich am übernächsten Nachmittage in einem öffentlichen Gartensalon zu versammeln und die "Ritter von Marienburg" gemeinschaftlich zu genießen.

Der Stallmeister fühlte sich von dieser Szene auf mehr als eine Weise ergriffen; er konnte zwar Palvi nichts vorwerfen, er hatte zwei Worte mit Elisen und diese öffentlich gesprochen; es war, wenn er selbst auch wirkliche Rechte auf das Fräulein gehabt hätte, kein Grund zur Eifersucht da; denn sie schien jenen sogar zu scheuen, zu fliehen; aber dennoch lag etwas so Rätselhaftes in Palvis Besagen , etwas so schmerzlich Rührendes in seinen Mienen, und doch wieder in seinem ganzen Wesen eine so gehaltene Würde, daß Rempen sich vornahm, was es ihn auch kosten möge, Aufschluß über ihn zu suchen. Der Oheim war bemüht, die frühere Ordnung und Freude herzustellen. Spieltische wurden aufgestellt, und aus dem Salon lud eine Violine und die lockenden Akkorde einer Harfe die junge Welt zum Tanzen ein.



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6. Der Eremit.

Mit bewachenden Blicken folgte der Stallmeister Palvi, der, noch immer das Buch in der Hand haltend, gedankenvoll umherging. In einer Vertiefung des Fensters saß Elise. Eben ging eine Freundin von ihr weg, und Rempen nahm wahr, wie sich Palvi ihr zögernd nahte, wie er ihr mit einer tiefen Verbeugung das Buch überreichte. Schnell trat auch er hinzu, und nur die breite, dunkelrote Gardine trennte ihn von den beiden.

"Elise," hörte er den jungen Mann sagen, "seit zehn Monaten zum ersten Male wird es mir möglich, so nahe zu stehen; nur eine Bitte habe ich —"

"Schweigen Sie," sagte sie in leisen, aber leidenschaftlichen Tönen, "ich will nichts hören, nichts sprechen! Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich verachte Sie.

"Nur das Warum möchte ich wissen," bat er, beinahe weinend, nur ein Wörtchen! Vielleicht können Sie mich doch verkennen!"

"Ich kenne Sie zu gut," erwiderte sie unmutig, " einen so niedrigen , gemeinen Menschen kann ich nur verabscheuen."

"Gemein, niedrige" rief er bitter. "Und dennoch schwöre ich, daß ich Ihnen Achtung abzwingen will; diesen gemeinen, niedrigen Mann sollen Sie schätzen müssen! Wissen Sie, ich bin —"

"Daß Sie ein recht elender Mensch sind, weiß ich lange; darum bitte ich, entfernen Sie sich; diesen Zirkel werde ich aber nie mehr besuchen, wenn Ihnen noch einmal einfallen sollte, mich anzureden."

Bei diesen Worten stand sie rasch auf und entfernte sich mit einer kurzen Verbeugung gegen den unglücklichen jungen Mann.

So gewichtig diese Worte, so bedeutungsvoll diese Szene war, konnte sie doch dem Stallmeister kein deutlicheres Licht geben. Palvi durfte wagen, sie mit "Elise" anzureden; sie behauptete, ihn ganz zu kennen, sie sprach so heftig ihre Gefühle aus, daß ihren Haß notwendig Liebe geboren haben mußte. — Er sah Palvi, nachdem er noch eine Weile in der Vertiefung des Fensters verweilt hatte, nach der Tür des Vorsaale gehen. Er folgte ihm dahin, und wie zufällig nahm er zugleich mit jenem seinen Mantel um.

"Auch Sie scheinen kein Freund des Tanzes zu sein," redete er den Referendar an.

"Ich habe es längst aufgegeben," antwortete er, "aber Sie, Sie -- ein Glücklicher, und nicht tanzen?"

"Ein Glücklicher?" erwiderte der Stallmeister freundlich. "Davon möchte ich mir doch noch eine nähere Definition erbitten. Überhaupt, hier wird mir so langweilig zu Mute, und zu Hause geht



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mir die Tanzmusik im Kopf herum; gehen wir, wenn Sie nichts Besseres vorhaben, nicht irgend wohin zusammens"

Palvi schien in einiger Verlegenheit zu sein. "Ich weiß nicht, was mir Ihre Gesellschaft so wünschenswert macht," antwortete er; "ich möchte die Hälfte der Nacht mit Ihnen verplaudern, und dennoch) werden Sie es glauben? — ich rechnete darauf, früh diese Gesellschaft zu verlassen, und habe einem Freunde den übrigen Teil des Abends zugesagt."

"Wohlan!" fuhr der Stallmeister scherzend fort. "Wenn Sie nichts gar zu Wichtiges zu besprechen haben, so folge ich Ihnen dahin."

Der junge Mann errötete. "Das Haus ist abgelegen," sagte er, "und für solche Gäste vielleicht nicht ganz passend."

"Und wenn es der Entenzapfen wäre," rief Rampen; "es soll ja vortreffliches Cerevis dort geben."

Mit einer Mischung von Staunen und Freude blickte ihn der Referendar an; doch ehe er noch fragen konnte, sprach Rampen weiter: "Verzeihen Sie meiner Neugierde, die diesmal die Diskretion überwog! Der Zufall machte mich zum Zeugen, als der wunderliche alte Herr Sie diesen Abend einlud, und schon damals wünschte ich, mit von der Partie zu sein, um so mehr," setzte er verbindlich hinzu, "da ich diesen Abend so manchen poins reunion zwischen uns fand."

"Gut, so folgen Sie mir — Sie werden ein Original kennen lernen, das gewiß mehr unsere Aufmerksamkeit verdient, als die schwachen Kopien dort oben, die doch immer für Originale gelten möchten, ja, sich selbst dafür halten. Ich meine jene Poeten und Literatoren. die uns heute morgen ein so wunderbares Schauspiel gegeben haben."

"In seiner Art diesen Abend ein nicht minder sonderbares," entgegnete Rempen; " oder sollte Ihnen entgangen sein, wie ungezogen sie sich benahmen, als man verlangte, dieser Roman solle vorgelesen werden? Schien es nicht, als wollten sie durch stilles, höhnisches Lächeln, durch ihre kalte Entschuldigung, zum Vorlesen nicht bei Stimme zu sein, durch so manche Zeichen ihres Mißfallens der Gesellschaft die Ueberzeugung aufdringen, als sei das Buch schlecht und unwürdige Man kann nicht verlangen, daß sie sich — wollen sie einmal ungesittet sein — im Keller eines Italieners Fesseln anlegen; sie bezahlen dort, und ihre Rede ist frei; aber in einer Gesellschaft wie diese mußten sie sich den Gesetzen des Anstandes fügen."

"Ich wollte vieles wetten," bemerkte Palvi, "der Mann, zu dem ich Sie jetzt führe, ab er gleich in seinen Gewohnheiten und



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Sitten wenig gesellschaftliche Bildung verrät, würde sich weniger unschicklich benommen haben."

"Und wer ist er denn?" fragte der Stallmeister.

"Er gehört einem Schlag von Leuten an, die man in unseren Ländern jetzt weniger oder nicht so auffallend und originell sieht als früher, ein sogenannter württembergischer Magister. Bitte übrigens, glauben Sie nicht, daß in diesem Begriffe etwas Lächerliches liege; denn eine nicht geringe Zahl würdiger, gelehrter Männer unserer Zeit gehören diesem Stande an. Es gab in früherer Zeit — ob jetzt noch, weiß ich nicht — in jenem Lande eine Pflanzschule für tiefe Gelehrsamkeit. Es gingen Philologen, Philosophen, Astronomen , Mathematiker in Menge daran:, hervor, zum Beispiel auch ein Kepler, ein Schelling, Hegel und dergleichen. Vor zwanzig Jahren soll man allenthalben in Deutschland Leute aus dieser Schule gesehen haben; den Titel Magister bekamen sie als Geleitsbrief mit. Sie waren gewöhnlich mit tiefen Kenntnissen ausgerüstet, aber vernachlässigt in äußeren Formen, in Sprache und Ausdruck sonderbar, und spielten eine um so auffallendere Figur, als sie gewöhnlich ihrer Stellung nach, als Lehrer an Universitäten, als Erzieher in brillanten Häusern, in der Gesellschaft durch ihr Äußeres den Rang nicht ausfüllten, den ihnen ihre Gelehrsamkeit gab. Eine solche Figur aus alter Zeit ist mein Freund. Er ging schon vor dreißig Jahren aus seinem Vaterlande, hat aber weder in Kurland, noch in Sachsen seine Eigenheiten abgelegt. Er lebt hier, abgeschieden von der Welt, in einem Dachstübchen; ich halte ihn für einen der tiefsten Denker des Zeitalter:, dabei ist er ein liebenswürdiger Dichter, und dennoch ist sein Name gänzlich unbekannt. Die gelehrtesten Rezensionen in den Leipziger und Haller Blättern sind von seiner Hand; manche Entdeckung, mancher tiefgedachte Satz, womit jetzt die neuen Philosophen ihre Werke anfputzen, sind von ihm; er hat sie spielend hingeworfen."

"Also ein literarischer Eremit!" rief Rempen aus indem er, nicht ohne kleinen Schauder, an der Seite des Referendars durch enge, schmutzige Gäßchen ging. "Eine Nachteule der Minerva in bester Forme"

"Wenn es heutzutage wieder einen Diogenes geben könnte, erwiderte jener, "ich glaube, er müßte im Kostüm meines Magisters erscheinen. Dieses ehrliche, kluge, ein wenig ernste Gesicht, die kunst los um den Kopf hängenden Haare, da:: verstossene Hütchen, der abgetragene Rock, den er mit keinem anderen vertauschen mag, die sonderbare, beinahe zärtliche Neigung zu einer alten, schwarzgerauchten Pfeife, dazu ein dunkelbraunes Meerrohr mit silbernem Knopfe, und diese ganze Gestalt in der düsteren, schwärzlichen Spelunke,



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in welche wir eben treten wollen —nehmen Sie dies alles zusammen, und Sie werden finden, das Urbild eines modernen zynischen Philosophen ist fertig, nur würde er einen Alexander nicht um ein wenig Sonne, sondern um ein klein bißchen Feuer für seine Pfeife bitten."

Durch einen Vorplatz, wo das trübe Licht einer schmutzigen Laterne einen zweifelhaften Schein auf Kornsäcke und umgestülpte Bierfäßchen warf, traten jetzt die beiden jungen Männer in das größere Schenkzimmer des Entenzapfen. Der Wirt, dick und angeschwollen von von dem Kosten seines eigenen Getränkes, schlief in einem Lehnsessel hinter dem Ofen; einige abgerissene Gestalten spielten bei einem Stümpfchen Licht mit schmierigen Karten und sahen die Vorübergehenden mit matten, schläfrigen Augen an.

Palvi ging vorüber in ein zweites, kleineres Gemach, das für bessere Gäste eingerichtet schien. Derselbe Alte, den Rempen diesen Abend flüchtig gesehen, saß dort allein hinter einer Kanne Bier. Auf den Tisch hatte er mit Kreide einen mathematischen Satz gemalt. Er schaute, die Stirne in die Hand gestützt, aufmerksam auf seine Berechnung nieder, und nur große Tabakswolken, die er hin und wieder ausstieß, zeigten, daß er lebe und atme. Erst nach dem Abend gruß seines Freundes richtete er sich auf und zeigte ein ernstes gleichgültiges Gesicht, dem nur das glänzende, ungemein interessant Auge einiges Leben verlieh.

Die Gegenwart eines Fremden schien ihm unangenehm aufzufallen. Kurz abgebrochen, indem er hastig mit dem Rockärmel di Figuren von dem Tisch abwischte, sagte er: "Seid lange ausgeblieben."

"Dafür bringe ich aber einen seltenen Gast mit," erwidert der junge Mann, "der das Entenbier versuchen will."

"Literatoren" fragte der Uta etwas mürrisch.

"Wo denkst du hin, Magister? Ein hiesiger Literator und der Entenzapfen! Nein, er ist nicht von diesen, sondern heißt Herr von Rempen und ist Stallmeister.

"Da haben der Herr die echte Quelle gefunden," sprach der Alte freundlich und mit einer Herzlichkeit, die ihn sogar angenehm machte. "Der Entenzapfen hat solid Getränke. Setzet euch, da bringt die Kellnerin schon die Kannen."

Der Stallmeister erschrak vor der großen Kanne, die ihm das niedliche Kellermädchen mit den roten Lippen kredenzte; aber die Neugierde nach dem Magister, der Drang, von Palvi nähere Aufschlüsse über Elisens Betragen zu erhalten, milderten seinen Schauder vor dem Entenzapfen.

"Es hat einen eigenen Reiz für mich," sagte er, um die Anrede des Alten zu erwidern, "so aus einer glänzenden Gesellschaft, wo



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alles voll Glanz und Putz, voll Berechnung und eitlen Bemühens ist, mich in die Einsamkeit einer solchen Schenke zu begeben. Man wird so leicht verführt, jenes schimmernde Wesen für wahres Leben, für ein Ideal der Gesellschaft zu nehmen, und nur ein plötzlicher, recht greller Tausch kann von diesem Wahne retten, besonders wenn man das Glück hat, Männer zu finden, die zu vernünftigem Gespräch bereitwillig sind.

"Ich kann mir's denken aus früherer Zeit," entgegnete der Alte mit ironischem Lächeln. "Nun hat man wieder anständig geschnattert und gezwitschert, Tee getrunken und göttlichem Gesange gelauscht , und als man gar ästhetisch zu werden, vorzulesen anfing, seid ihr aus Angst davongelaufen

"Nein," antwortete Rempen, "solange gelesen wurde, blieben wir.

Wies" rief der Magister. "Und Ihr habt es über Euch vermocht , Herr Referendar, allerlei rosenfarbene Poesie anzuhören."

"Man las .Die letzten Ritter von Marienburg'," belehrte ihn der Stallmeister.

Ei, der Tausend!" sagte der Alte, mit einem sonderbaren Seitenblick auf Palvi, "könnte man doch solche Speise vertragen, ohne den ästhetischen Gaumen und Magen zu verderbens Hat sich denn die Welt gedreht, oder waren unsere hiesigen Schöngeister nicht zugegen?

"Doch, sie waren dabei," erwiderte Rempen, "sie wagten es nicht, sich dagegen zu setzen, obgleich der Zorn aus ihren Augen sprühte; denn noch diesen Morgen hatten sie sich bündig und deutlich erklärt." Und nun erzählte er den Auftritt im Keller des Italieners mit einer Geläufigkeit, über welche er sich selbst wundern mußte. Mehrmals wurde er von einem schnellen, kurzen Lachen des Alten unterbrochen; als er aber mit dem furchtbaren Bündnisse der literarischen Trias endete, brach der alte Mann in so herzliches Gelächter aus, daß der Wirt zum Entenzapfen mit einem tiefen Gestöhne erwachte und sich im Sessel umwälzte.

"Der Herr Stallmeister erzählen gut," sprach dann der Magister, indem er Tränen, die das Lachen hervorgelockt hatte, verwischte. Ich kenne sie, diese Bursche, diesen Chorus von Halbwissern. Sie sind geachteter beim Stadtpublikum und auf dem Landsitze als der wahre Gelehrte, sie sind die Vornehmern unter den Musensöhnen und machen ungebeten die Honneurs auf dem Parnaß, als wären sie Prinzen des Hauses oder zum mindesten Kammerjunker; um so weniger können sie es verschmerzen, wenn ihre Blöße aufgedeckt und ihre Schande ans Licht gestellt wird. Sie fühlen ihr Nichts, sie sehen einander ab; aber sie wollen es sich nicht merken lassen."



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"Am sonderbarsten und unerklärlichsten scheint mir ihre Wut gegen das, was man salat historischen Roman nennt," bemerkte der Stallmeister. "Ich bin zu wenig im Gebiete der Literatur bewandert, um es mir erklären zu können."

"Danken Sie Gott,' erwiderte der Alte, "daß Sie ein heitere:, rüstiges Handwerk erwählt haben und von diesem unseligen, feindlichen Treiben nichts wissen. Kommt mir doch diese schöne Literatur jetzt vor wie scharfer Essig. Mit gehöriger Zutat vom Öl des Lebens. Philosophie, ist sie die Würze Eurer Tage; aber kostet sie gesondert, so ist sie scharf, abstoßend. Betrachtet sie genau, etwa durch ein tüchtiges Glas, so sehet Ihr das Azidum, aufgelöst in eine Welt von kleinen Würmern, die sich wälzen und einander anfallen, über andere wegkriechen."

"Pfui! Aber ihr Verhältnis zum historischen Roman?"

"Sie geberden sich," antwortete Bunker, "als ab sie gegen irgend eine Erscheinung des Zeitgeistes ankämpfen könnten. wie Pygmäen gegen einen Riesen. Als ob nicht schon die ,Ilias so gut historisch gewesen wäre als irgend ein Roman des Verfassers von Waverley'. Und ist nicht ,Don Quichotte' der erste aller historischen Romanes Doch nehmen Sie nähere Beispiele bei uns ! Spricht sich nicht in .Wilhelm Meister' das Element eines historischen Romans geheimnisvoll auss Müssen wir nicht den Begebenheiten, in die der Held verwickelt ist, eine gewisse Zeitgeschichte unwillkürlich unterlegen? Müssen wir nicht das Lager des Prinzen als eine notwendige historische Dekoration damaliger Zeit ansehen? Und die ,Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten', sind sie nicht eine historische Novelle? Wir betraten also zum mindesten keinen neuen Boden. kein neues, zweifelhaftes Gebiet." — "Und welch kleiner Schritt," bemerkte Palvi, "welch natürlicher Übergang ist vom historischen Drama, wie wir es bei Goethe finden, zum modernen geschichtlichen Roman. Diese Dramen liegen durch ihr eigentümliches, natürliches Leben dem Romane schon um vieles näher als die historischen Schauspiele Shakespeare:,. Wie im Romane sprechen dort die Helden nicht großartige Gefühle au:.; sie halten nicht gedehnte Reden, sondern ihre Reden erzählen von den schlummernden Entschlüssen ihrer Seele, und wir erblicken in einer einzelnen Wendung Motive, ahnen Handlungen. die sich nachher verwirklichen.

"Die Völker scheinen sich in unseren Tagen zu scheiden und scharf abzugrenzen. Doch diese Scheidung ist nur scheinbar; denn die Menschheit ist durch so viele Erfindungen sich näher gerückt worden. Wir gehören mehr und mehr der Welt an. Wir sprechen von entfernten Polarländern oder von Amerika mit einer Bestimmtheit, einem Gefühle der Nähe, wie unsere Großväter von Frankreich



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sprachen. Wir sind jetzt erst Europäer geworden. Darum ist uns nichts mehr fremd, was in diesem alten Weltteile geschieht. Der Unterschied der Sprache hat aufgehört; denn, Dank sei es unseren gewandten Übersetzern, es ist, als ob Scott und Irving in Frankfurt oder Leipzig lebten.

"Gewiß!" fiel Rampen ein, "auch in der Gesellschaft sind sich die verschiedenartigsten Elemente näher getreten. Unsere jungen Männer erzählen jetzt von einer Reise nach London oder Rom mit mehr Bescheidenheit oder Gleichgültigkeit, als sonst einer von einer Reise an einen zwanzig Meilen entfernten Hof erzählte. Aber ist uns durch alles dies, daß wir in einer so breiten Gegenwart leben, die Geschichte nicht viel mehr fern, als nahe gerückt?"

"Ich gebe zu," sagte der Alte, "das ernste Studium der Historie, aber nicht das rein menschliche Interesse daran. Die Geschichte war sonst die Geschichte der Könige, und an ihre oft unbedeutende Person knüpfte sich das Leben unsterblicher Männer. Die neuere Zeit, so große Veränderungen um uns her, haben uns anders denken gelehrt. Es ist die Geschichte der Meinungen, es sind die Schicksale gewisser Prinzipien, die wir kennen lernen möchten. Ihr Kampf erscheint in jedem Zeitalter mehr oder minder und unter der verschiedensten Gestalt, und dieser Kampf der Meinung ist es, was jeder Periode ihr Interesse gibt, er ist es, der, dem Romane zum Grunde gelegt, unsere Teilnahme auf unbeschreibliche Weise anzieht."

"Ich ahne, daß Sie recht haben," erwiderte der Stallmeister. Gleichwohl kann ich diese Idee meinen bisherigen Ansichten noch nicht recht anpassen. Denn wie vertragen sich zum Beispiel mit dieser welthistorischen Ansicht jene sonderbaren Figuren Walter Scotts, die bald als rohe Hochländer, bald als Räuber, als Fischer in die Geschichte unmittelbar eingreifen und so anziehend erscheinen:"

"Das ist es ja gerade, was ich sagte," antwortete der Magister. Wir ahnen in der Geschichte des Landes und des Volkes, die uns Professoren auf Kathedern vortragen, daß es nicht immer die Könige und ihre Minister waren, die Großes, Wunderbares, Unerwartetes herbeiführten. Da oder dort hat die Tradition den Schatten, den Namen eines Mannes aufbehalten, von dem die Sage geht, er habe großen und geheimnisvollen Anteil an wichtigen Ereignissen gehabt. Solche Schatten, solche fabelhafte Wesen schaffte die Phantasie des Dichters zu etwas Wirklichem um. In seinen Mund, in sein und seiner Verbündeten geheimnisvolles Treiben legt er die Idee, legt er den Keim zu Taten und Geschichten, die man im Handbuch nur als geschehen nachliest, vergebens nach ihren Ursachen forschend. Indem solche Figuren die Ideen persönlich vorstellen, bereiten sie



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dem Leser hohen Genuß und oft ein um so romantischeres Interesse, unscheinbarer sie durch Bildung und die Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft anfänglich erscheinen."

"Und so hielten Sie es für möglich, daß auch die deutsche Geschichte interessante Stoffe für historische Romane bieten könnte?" fragte Rempen. "Mir schien sie immer zu zerrissen, zu flach, zu wenig romantisch und großartig."

"Das letztere glaube ich nicht," erwiderte Palvi. "Und muß denn gerade der Hintergrund, das historische Faktum das Erhabene sein? Ist es nicht der Zweck des Romans, Charaktere in ihren verschiedenen Nuancen, Menschen in ihren wechselseitigen Beziehungen zu schildern? Und kann sich nicht ein großartiger Charakter an einer Tat, einem Zwecke erproben, der für die allgemeine Geschichte von geringerer Bedeutung ist? Oder glauben Sie, weil Tieck in die Sevennen flüchtete, um auf einem historischen Hintergrunde zu ruhen, er habe damit sagen wollen, unsere Geschichte biete keinen Stoff, der seines hohen Genius würdig wäre?"

"Diese ,Ritter von Marienburg'," nahm der Alte das Wort. "beschäftigen sich mit keinem großartigen historischen Ereignisse. Schon fünfzig Jahre, ehe das Unglück des Ordens in Ostpreußen wirklich hereinbricht, gewahrt man, daß er sich nie mehr zu seinem alten Glanze erheben könne, daß früher oder später die Elemente selbst, die seine Größe beförderten, seinen Sturz bereiten werden. Er fällt; denn er hat seinen Beruf erfüllt. Aber an die geschichtliche Figur des Großmeisters, an die Täler der Nogat, an die Mauern der erhabenen Burg weiß jener Hüon Fäden anzuknüpfen, woraus er ein erhabenes Gewebe schafft. Ich möchte sagen, er baut aus den Trümmern jenes gestrandeten Schiffes eine Hütte, worin sich bequem wohnen läßt.

"Nun verstehe ich Sie," rief der Stallmeister; "und weil sie diesen Standpunkt nicht erreichten, weil sie diese höhere Ansicht nicht erfassen mögen, kämpfen jene Leutchen gegen diesen historischen Roman. Es ist Brotneid; sie wollen ihn nicht aufkommen lassen, weil er die Kunden an sich ziehen könnte.

"Hat er nicht recht, der Herr Stallmeister?" wandte sich der Magister lächelnd an seinen Nachbar. "Sie schimpfen alle aufeinander und zusammen auf jedes Größere, diese Kleinmeister. Mich freut es nur, daß mein Doktor Zündler auch bei der furchtbaren Freitags-Trias ist.



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7. Der Dichter.

"Ihr Doktor Zündler ?" fragte Rempen befremdet. ",Kennen Sie ihn?

Ob ich ihn kenne!" erwiderte der Alte lachend

"Der Herr Stallmeister macht keinen schlimmen Gebrauch davon," sagte Palvi zu dem Magister, "und zu größerem Verständnis der Poesie ist es ihm nützlich, wenn er es weiß. Bist du es zufrieden, Alter?"

"Es sei! Aber der Herr Stallmeister wird diskret sein," antwortete der Alte.

Was werde ich erfahren?" fragte Rempen. "Wie geheimnisvoll werden Sie auf einmal :

"Sie kennen den Doktor Zündler, einen der ersten Lyriker dieser Stadt," sprach Palvi "sein Ruhm war früher gerade nicht sehr groß, doch etwa seit einem halben Jahre regt er die Flügel mächtig. Hier sitzt der Dädalus, der sie ihm gemacht hat."

"Wie soll ich dies verstehen?" erwiderte der Stallmeister.

Unser Magister hier ist ein sonderbarer Kauz," fuhr jener fort; einer seiner bedeutendsten Fehler ist Ängstlichkeit, sonderbar verschwistert mit Gleichgültigkeit. Er hätte es weit bringen können auf dem deutschen Parnaß; aber er war zu ängstlich, um etwas drucken zu lassen. Doch, wie vermöchte ein dichterischer Genius von diesem Hindernisse sich besiegen zu lassen! Erdichtete fort, für sich."

"Ich machte Verse," fiel der Alte gleichgültig ein.

"Du hast gedichtet!" sagte Palvi. "Aber seine besten Arbeiten, seine gründlichsten Forschungen hat er um acht Groschen den Bogen in Journale zersplittert, weil er sich scheute, seinen Namen auf ein Titelblatt zu setzen, und von den glühendsten Poesien seiner Jugend fand ich die einzigen Spuren in halbverbrannten Fidibus. In meinen Augen bist du entschuldigt, guter Magister, durch deine Erziehung und die Art und Weise deines Vaterlandes. Wer hat sich dort zu deiner Zeit um einen Geist, wie der deine war, bekümmert? Was hat man für einen Mann getan, der nicht in die vier Kardinaltugenden . in die vier Himmelsgegenden der Brotwissenschaft, in die vier Fakultäten paßte? Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster zu streichen, und Wieland floh das Land der Abderiten, weil es dort keinen Raum für ihn gab als den Posten eines Stadtschreibers, den er freilich so schlecht als möglich ausgefüllt haben mochte."

"Mensch, nichts Bitteres gegen mein schönes Vaterland," sagte der Alte mit sehr ernstem Blick. , .Es war die Wiege großer Männer.

"Du sagst es," erwiderte Palvi, "die Wiege, aber nicht das Grab. Und dieser Umstand mag seine eigenen Ursachen haben.



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Zum mindesten findet man in Odessa wie am Mississippi, in Polen und in Rio Janeiro und überdies noch auf den Kathedern aller bekannten Universitäten deine Landsleute. Doktor Zündler nun, um von diesem zu reden, hatte das Glück, eines Tages eine Wohnung zu beziehen, in deren Giebel unser Magister ein Freilogis bewohnt, weil er den Knaben des Hausherrn zum Gelehrten bilden soll. Doktor Zündler hat, um sich zum Dichter zu bilden, viel gelesen und hat den großen Menschenkennern bald abgemerkt, daß sie auf Originale Jagd machen. Erstellt sich daher alle Tage zwei Stunden mit seinem Glas unter da Fenster und stellt Betrachtungen über die Menschen an, wie der selige Hoffmann in .Vetters Eckfenster', nur, behauptet man, mit verschiedenem Erfolg. Denn der selige Kammergerichtsrat guckte durch das Kaleidoskop, das ihm eine Fee geschenkt, der Doktor Zündler aber durch ein ganz gewöhnliches Opernglas. Da sah er einigemal den Magister und — nun, Bunkerchen, erzähle!"

Ein behagliches Lächeln verbreitete sich über das Gesicht des Alten; er trank in längeren Zügen aus seinem Glas und erzählte dann: "Eine- Tages sagte mir meine Aufwärterin, daß sich der wunderschöne reiche Herr in der Beletage erkundigt habe, wer ich wäre, was ich treibe und dergleichen. Bald darauf kam ein schön geputzter Herr in mein Stübchen, beguckte mich von allen Seiten, fragte mich allerlei und wunderte sich ungemein, daß ich ein Gelehrter sei. Er hatte mich meiner Physiognomie nach für einen unglücklichen Musiker gehalten. Sein Staunen wuchs, als er einige poetische Versuche, die am Boden lagen, aufnahm und las. Er wollte nicht glauben, daß sie von mir herrühren, und nahm sie endlich aus reinem Interesse', wie er sagte, mit. Den folgenden Tag schickte er mir ein paar Flaschen Wein. Es freute mich, ich hatte gehört, daß er reich sei; ich bin arm und trank den Wein. Nachdem ich die erste Flasche hinunter hatte und warm war, ging die Tür auf, und mein Doktorchen kam herein. Ein Wort gab das andere; man kam auf meine Poesien, ich machte wenig daraus, er viel; er schwatzte mir etwas vor von einer Erbschaft, die er gewinnen könne von seinem Oheim, einem portierten Verehrer der Musen; seine bisherigen Versuche haben aber nur den Unwillen des Erblassers erregt. So machte es sich von selbst, daß ich ihm meinen ganzen Kram von Poesie anbot; mich selbst amüsierten diese Verse nur, solange ich sie entwarf und ausarbeitete; ob sie da;: Publikum lese, ob es mich dabei nenne. war ja so gleichgültig! Im Scherz ging ich einen Akkord ein, daß ich ihm auch eine Novelle und später einen Roman schriebe. Ergibt mir dafür Wein, Knaster, zuweilen Geld, und ich habe da: Bequeme, daß niemand, weder in Lob noch Tadel, meinen Namen nennt, was mir unausstehlich ist, und daß ich mich



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mit keinem Journalredakteur, mit keinem Buchhändler, keinem Rezensenten herumbeißen muß.

"Ist dies nicht köstlich, Stallmeister?" fragte Palvi lachend. Was halten Sie von diesem trefflichen Lyriker, von diesem Zunder, der ohne fremden Stahl und Stein kein Feuer gibt?"

"Ist es möglich!" rief der junge Rempen staunend aus. "Ist eine solche lächerliche Niederträchtigkeit jemals erhört worden! Und diesen Menschen konnte auch ich für einen Dichter halten, konnte den Genius bewundern, der auf einmal über ihn gekommen? Und auch sie , auch sie ," fuhr er in Gedanken versunken fort, "auch sie ehrt und achtet ihn um dieser Gaben willen, zeichnet ihn aus, spricht mit ihm über seine neuesten Werke. Es ist, um rasend zu werden!"

Palvi sah den jungen Mann bei diesen Worten teilnehmend, beinahe gerührt an; er schien mit Mühe eine tiefe Wehmut zu bekämpfen; aber der Alte fuhr fort: "Solch belletristisches Ungeziefer, das sich vom Marke anderer mästet, hätte ich schon längst gern in der Nähe geschaut, und so studierte ich diesen Hohlkopf. Wenn allerlei Mittel von außen her einen Dichter machen könnten, er müßte es längst sein. Denken Sie sich, er trägt, wenn er sich zum Dichten niedersetzt, einen Schlafrock, dessen Unterfutter aus einem Schlafrock gefertigt ist, den einst Wieland trug. Hoffmanns Tintengefäß hat er in Berlin erstanden, von einem Sattler in Weimar aber den ledernen überzug eines Fauteuils, in welchem Goethe oft gesessen. Mit diesem hat er seinen Stuhl beschlagen lassen, und so will er seine Phantasie gleichsam u posteriori erwärmen. Auch liegt auf seinem Tisch eine heilige Feder, Schiller soll damit geschrieben haben. Er hat gehört, daß große Dichter gern trinken; darum geht er morgens ins Weinhaus und zwingt sich zu einer Flasche Rheinwein; abends aber, wenn er schon ganz dumm und schläfrig ist, trinkt er schwarzen Kaffee mit Rum und liegt dann in schrecklichen Geburtsschmerzen und ist gewärtig, irgend eine neue Maria Stuart oder Jungfrau von Orleans hervorzubringen."

Indem der Magister Bunker also sprach, schlug es elf Uhr, und nicht sobald hatte er den ersten dumpfen Ton der Glocke vernommen, als er hastig sein Glas austrank, einige Groschen auf den Tisch legte, dem erstaunten Stallmeister mit einer gewissen freundlichen Rührung die Hand bot und sie ihm und Palvi herzlich drückte. Dann aber rannte er so eilends aus dem Entenzapfen, daß Rempen nicht einmal sein freundliches "Gute Nacht" erwidern konnte.

"Sie staunen," sprach der Referendar, "daß uns der sonderbare Mensch so plötzlich und verwirrt verläßt. Er wohnt bei einem strengen Mann, der immer fünf Minuten nach elf Uhr die Haustür schließt.



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Weil nun der arme Magister eigentlich als Almosen sein Freilogis genießt, darf er keinen Hausschlüssel führen, wie Leute, die ordentlich bezahlen, und so jagt er, sobald die Glocke elf Uhr schlägt, so schnell davon wie ein Gespenst, das mit dem ersten Hahnenschrei in sein Grab entweicht."

"Ist dieser Mensch glücklich oder unglücklich zu nennen?" fragte Rempen nachdenkend.

"Ich denke, glücklich," erwiderte Palvi sehr ernst; " wer wenig hofft, hat nickst:, zu fürchten; er ist ruhig. Die Zeit mildert ja alles, und für die Erinnerung ist er kalt geworden."

"Hat er je geliebt ?"

Er hat geliebt, die Tochter jenes Hauses in Kurland. wo er Erzieher war. Er muß sehr liebenswürdig gewesen sein; denn die junge Gräfin starb nachher aus Kummer. Er selbst aber brachte zwei Jahre tiefer Schwermut in einem Irrenhause zu."

"Gott, welch ein Schicksal!" rief der junge Mann gerührt. "Wer hätte dies ahnen können? Er hat uns eine so heitere Außenseite gezeigt."

"Wozu soll er seinen Schmerz zur Schau tragen?" entgegnete Palvi. "Er gehört nur sein, und er verschließt ihn mit den Trümmern besserer Tage in seiner Brust. Ich denke, es ist dies die einzige Art, wie Männer leiden müssen."

"Es müßte mich alles täuschen," sagte Rempen nach einer Pause, "oder auch Sie lieben nicht glücklich. Nennen Sie mich nicht unbescheiden. Sie haben mir zu viel Interesse eingeflößt, und auch die Dame, die ich meine, steht mir nicht so fern, als daß nicht meine wärmste Teilnahme bei dieser Frage wäre."

Der Referendar sah ihn überrascht, doch nicht gerade verwundert an; sein ernstes, dunkles Auge schien die Züge des Fragenden noch einmal zu prüfen. "Es gibt wenige Menschen," antwortete er, "die diese Frage an mich gerichtet hätten. Doch an Ihnen freut mich gerade diese Offenheit. Ich weiß, Sie meinen Elise Wilkow; ich liebe sie."

"Und werden wieder geliebt?" fragte Rempen errötend.

"Ich zweifle; doch möchte ich von Ihnen nicht verkannt werden, darum will ich Ihnen die kurze Geschichte dieser Liebe geben. Meine Eltern, sie sind beide tot, lebten in dieser Stadt, unser Haus war mit den Wilkows sehr befreundet; denn mein und Elisens Großvater sind aus demselben Lande hier eingewandert. Ich bin um so viel älter denn Elise, daß uns unsere Kinderspiele nicht zusammenführten . Wohl aber durfte ich, als auch meine Mutter starb, das Haus hin und wieder besuchen, und ich faßte in einem noch sehr jungen Herzen eine glühende Neigung für das schöne Kind. Nach



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den ersten Jahren meines Universitätslebens kam ich hierher. Sie war herrlich herangeblüht und gestand mir, daß sie mir recht gut sei. Elise war damals fünfzehn Jahre alt. Ich kam in rohe Gesellschaften. Mein Vermögen und mein Stipendium reichten nur das erste Mal hin, meine Schulden zu decken. Das zweite Mal drückte mich eine bei weitem geringere Verlegenheit unangenehmer, weil ich keinen Rat wußte. Sie hatte es erfahren, und durch fremde Hand wurden meine Schulden getilgt. Mädchen in guten Ständen, in einem soliden Hause aufgewachsen, wissen nicht, wie leicht ein armer Teufel in solche Verlegenheit kommt. Sie schmälte mich in den Ferien und hielt mich für einen schlechten Menschen. Ich versprach Fleiß und solides Leben. Das Unglück eines meiner Freunde, der einen anderen erschoß, ritz mich mit fort und wieder ins Elend. Auch da hat sie mir wieder geholfen und mich zu Ehren gebracht, t. Bei so vielen Wohltaten konnte mich vor mir selbst nur der Gedanke entschuldigen, daß es die Hand der Geliebten sei, die mich gerettet, daß ich diese Hand einst auf immer in die meinige legen werde.

"Ich raffte mich zusammen, und bald darauf gelang es mir durch Fleiß und Eifer, hier angestellt zu werden. Meine Stellung zu Elisen war aber eine ganz andere geworden. Der alte Wilkow hatte erfahren, wie mich seine Tochter unterstützt hatte, und verbot mir schon beim ersten Besuch sein Haus, aus dem einfachen Grunde, weil ich arm und leichtsinnig sei.

"Elise selbst lebte in großen, glänzenden Zirkeln, wohin ich keinen Zutritt hatte, verkehrte mit allerlei schönen Geistern und galt für die Krone der jungen Damen. Ich konnte sie höchstens in öffentlichen Gärten, auf Bällen und Konzerten, im Theater sehen. Und nur ihr freundlicher Blick konnte mich für so viel Entsagung trösten, konnte mich von dem beinahe Unbegreiflichen versichern, daß dieses allgemein angebetete Geschöpf — mich liebe."

Der Stallmeister suchte vergebens seine Bewegung zu verbergen. Eine hohe Röte lag auf seinem Gesicht, und sein Auge hing voll Erwartung an den Lippen Valvis,

"Beruhigen Sie sich," sagte dieser, als er den unangenehmen Eindruck bemerkte, den seine Erzählung auf den jungen Mann machte. "Fürchten Sie nichts, ich werde bald zu Ende sein. Ich war glücklich und zufrieden; ich kannte ihre Vorliebe für Poesie, und die Liebe ermutigte mich, einen Versuch zu wagen, der mich ihr noch werter machen sollte. Ich strengte alle meine Kräfte an, um sie mit etwas Gelungenem zu überraschen. Da brachte man mir eines Tages einen Brief. Ich erkannte ihre Züge, ich riß ihn auf und — sie schrieb mir mit kurzen, aber heftigen Worten, daß



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sie sich auf ewig von mir lossage, daß sie mich in tiefster Seele verachte; warum, werde mir mein eigenes Gewissen sagen. Ich versuchte mancherlei Wege, um mich ihr zu nahen; mein Gewissen sprach mich von irgend einem Fehler gegen die Geliebte frei; darum wollte ich mir Gewißheit über das Warum verschaffen. Doch sie wich überall aus, und noch heute —heute abend in jenem Zirkel hat sie alle meine Hoffnungen zertrümmert,"

In dem edelmütigen Herzen des jungen Remyen siegte jetzt Mitleiden über jedes andere Gefühl. Er faßte die Hand des unglücklichen, ihm so interessanten Mannes; er gelobte ihm, bei Elisen für ihn zu sprechen, sie um die Ursachen ihres Betragens zu befragen.

Aber jener erwiderte mit dem Stolze, den unverdiente Kränkung gibt: "Vertrauen ist die erste Bedingung der Liebe. Wo Vertrauen fehlt, da war nie Liebe, oder sie ist jedem Zufall ausgesetzt . Ich habe Elisen auf immer verloren, selbst wenn sie mich wieder lieben würde."

"Und in diesem Zustand wollen Sie hier fortleben?" fragte Rempen, seine Hand ergreifend. "Wollen Elisen sehen und dabei fühlen, daß Sie verachtet sind)"

"Nein, gewiß nicht," sprach jener mit düsterem Lächeln; "mein Geschäft in dieser Stadt ist zu Ende. Es bleibt mir nur noch übrig, die Geliebte vor Menschen zu warnen, die ihrer nicht wert sind. Diesen literarischen Pöbel, der ihr so unendlich wert scheint, will ich noch vor ihren Augen entlarven; und ich glaube ihr damit nützlich zu sein; denn die Stellung, die Elise jetzt eingenommen, würde sie später nimmer glücklich machen. Sie selbst werden mir dazu helfen, mein Freund; schlagen Sie ein ! Wir wollen unsere Penelope von diesen Freiern retten."

"Wohlan!" rief der Stallmeister, indem er aufbrach, "vielleicht findet sich morgen schon Gelegenheit, wenn uns die letzten .Ritter von Marienburg' versammeln; aber dann," setzte er entschlossen hinzu, "noch einen Versuch, um auch Sie glücklich zu machen!"

8 Die Krähen unter den Pfauen.

Der schöne Frühlingstag und die Furcht, für ungebildet zu gelten, wenigstens durch ihr Nichterscheinen geringes Interesse an der schönen Literatur zu verraten, vereinigte den größten Teil des Rempenschen klubs in dem Gartensaal, den man zum Sammelplatz bestimmt hatte. Der junge Rempen war zu Pferd herausgekommen, geraume Zeit vor den übrigen Gästen; gedankenvoll setzte er sich auf den Altan des Hauses und schaute in den Fluß hinab. Wie so gern hätte er sich schon heute am frühen Morgen



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Gewißheit verschafft, warum Elise so plötzlich mit Palvi gebrochen, auf eine Weise gebrochen, die notwendig, er gestand es sich mit Schmerz, auf den Charakter des jungen Mannes einen düsteren Schatten werfen mußte. Oft verwünschte er den gestrigen Tag und daß er diesen Menschen kennen gelernt habe, nur um ihn heute unaussprechlich zu achten und vielleicht morgen zu verlieren, zu — bedauern; denn verachten? Nein, es konnte keinen Fall geben, der ihn diesen Mann hätte verächtlich machen können. War es denn möglich, daß eine so großartige Seele etwas Gemeinem, Niedrigem sich hingeben könnte? "Er ist arm," sagte der gutmütige Rempen zu sich, " er muß dürftig sein; denn seine Stelle kann ihn nicht ernähren ; vielleicht hat er wieder Schulden gemacht, sie hat es erfahren und deutet als Leichtsinn, was vielleicht Not ist? Aber kann, wenn selbst Leichtsinn wäre, dieser den Geliebten in ihren Augen verächtlich, elend machen?" Wie ergrimmte er in seiner Gedankenfolge über jene Schranken, welche das Herkommen und die "gute Sitte" um vornehme Häuser und ihre Töchter gezogen, wie unnatürlich erschien es ihm, daß der Geliebte die Zürnende nicht in ihrem Hause, auf dem Wege, überall befragen, vielleicht versöhnen könnte, daß vielleicht ein kleines, aber sichtbares Ausweichen, eine scharfe und laut ausgesprochene Rede dazu gehörte, ihn, nach den Sitten der Gesellschaft, auf immer zu entfernen! "Oder wie? Sollte sie ihn vielleicht nie geliebt haben?" setzte er getrösteter hinzu. — "Es wäre möglich, daß ihm diese Gewißheit weniger schmerzlich wäre als ihr Haß, aber —darf sie ihn deswegen hassen?"

Ein großer Zug von Damen und Herren hatte während dieser Gedanken des jungen Rempen den Berg erstiegen und war jetzt in den Gartensaal getreten.

Noch fehlte Elise; aber man konnte nun um so ungezwungener ihren Geschmack und ihre Belesenheit bewundern. Auch Palvi wurde gebührendes Lob gespendet; man hatte selten mit dieser Gewandtheit , mit diesem Ausdruck etwas vorlesen gehört, und die Bewunderung stieg, als man sich sagte, daß er wahrscheinlich diesen Roman nicht zuvor gelesen habe. Elise kam mit Onkel und Tante Rempen angefahren, und Julius vergaß so ganz seine vorigen Gedanken, seine Vorsätze, daß er vor Freude errötend herbeisprang, sie aus dem Wagen zu heben, daß er halb unbewußt ihre Hand drückte und dies erst erkannte, als er diesen Druck erwidert fühlte. Alle jene düsteren Bilder, die auf dem Altan vor seiner Seele vorübergezogen. verschwanden vor dem Glanz ihrer Schönheit. Er hatte sie nie so reizend, so wundervoll gesehen, wenigstens so huldreich war sie nie gegen ihn gewesen. Den Grund davon gestand ihm in einer Ecke des Saals die Tante. Er hatte den Zirkel gestern abend so bald verlassen,



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daß Elise glaubte, sie habe ihn gekränkt. Dieser Gedanke erfüllte ihn jetzt so ganz, daß er in ihre Nähe eilte, daß er mit ihr sprach und scherzte und erst durch die wiederholte Mahnung seines Onkels darauf aufmerksam gemacht werden konnte, daß die Gesellschaft sich bereits im Kreise gesetzt habe und die Erzählung des Fräuleins Wilkow erwarte.

"Mein Unfall," sprach sie mit leichtem Erröten, "hat mich gestern, wenn ich nicht irre, gerade bei der Zusammenkunft der Ritter mit dem Fräulein getroffen. Wandas Vater, der nicht nur von außen, sondern auch im Innern dem Orden durch Zwischenträgerei und Uneinigkeit zu schaden sucht, hat überall Spione. Erwünscht ist ihm, daß ihm einer die Anzeige von jener nächtlichen Zusammenkunft macht. Er denkt keinen Augenblick daran, daß es seine Tochter sein könnte, sondern schleicht sich mit Knechten in jene Ruinen und überfällt zuerst den Freund; die Dame und ihre Amme, die immer zugegen war, entfliehen; es kommt zum Gefecht, die Knechte werden in die Flucht geschlagen und auch der Alte zieht sich zurück, doch nicht, ohne sich vorher mit einem Zeichen von seinem Gegner versehen zu haben.

"Den anderen Tag versammelt der Großmeister ein Kapitel. Er entdeckt den Rittern diesen Vorfall und beschwört die Schuldigen, sich zu nennen. Sie schweigen. Noch einmal fordert er sie vergebens auf und zeigt dann der Versammlung eine goldene Kette, woran ein Siegelring befestigt ist. Das Wappen wird erkannt, und der Freund sieht sich genötigt zu gestehen. Er übersieht mit klarem Blick seine Lage; die geschärften Gesetze müssen ihn schuldig sprechen, darum ist für ihn keine Rettung. Doch glaubt er, da er selbst verloren ist, seinen Freund retten zu können. Er gesteht, in den Ruinen mit einer Dame gesprochen zu haben. Der Meister ist tief ergriffen von diesem Geständnis; es ist ein tapferer junger Mann, den da: Urteil trifft, er wurde von vielen geliebt. Peinlich ist die Lage de: Helden selbst und treffend die Beschreibung, wie die Furcht vor Entehrung, die Hoffnung, der Freund könne gerettet werden, ihn bald zur Entdeckung antreiben, bald davon zurückhalten. Das Urteil der Ritter wird gesammelt. Es lautet: ,Entehrender Ausschluß aus dem Orden.' Jetzt aber erzählt der Meister, daß noch ein zweiter Johanniter diesen Fehltritt geteilt habe; er verspricht, die Strafe in Entlassung zu mildern, wenn der Schuldige den Mitschuldigen entdeckt. Jener schweigt und verratet ihn nicht. Da stürzt der Neffe des Meisters hervor und bekennt seine ganze Schuld. Diese Szene, der Schmerz des alten Ulerich von Elrichshausen und der Wettstreit der Freunde, von welchen jeder der Schuldige sein will. ist so treffend, daß man sie hören muß.



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Jetzt erst sah man sich nach dem Vorleser um. Doktor Zündler sprang nach dem Buch, das auf dem Tische lag, um zu lesen, und hatte sich schon mit freundlichem, zuversichtlichem Lächeln Elisen genähert, als der alte Rempen plötzlich aus den dichten Reihen der Männer Palvi herbeiführte. "Nein, nein," sagte er, "hier steht der Mann, der uns gestern gezeigt hat, wie gut er einen Roman vorlese; ich denke, bester Doktor, Ihre Stimme paßt mehr zum Leichten, Lyrischen." Mit spöttischem, halb verlegenem Lächeln reichte der Doktor das Buch hin, und Palvi las, wenn es möglich war, noch schöner als am gestrigen Abend. Diese erhabene und so unglückliche Freundschaft, die Zeremonien ihrer Ausstoßung aus dem Orden, ihre letzten Worte, als sie das Schloß verlassen, lockten in manches Auge Tränen der Wehmut, und Elise selbst schien so gerührt, daß Palvi mehrere Kapitel weiter las, um ihr Fassung zu geben. Unsern Lesern ist dieser Roman zu bekannt, als daß wir nicht besorgen müßten, sie durch längere Auseinandersetzung zu ermüden. Jene interessanten Abteilungen, wo die beiden verstoßenen Ritter an den romantischen Ufern der Nogat umherstreifen, jene glücklichen Schilderungen eines schönen Landes, die Nachrichten über die alten Preußen, in deren Mitte der Orden zwei Jahrhunderte zuvor den Samen der Kultur getragen hatte, ihre altertümlichen Gebräuche, die unverkennbaren Spuren heidnischer Sitten und Gebräuche, auf sonderbare Weise mit christlichem Ritus vermischt, dies alles, getragen und veredelt von der tiefen Melancholie Kunos, von seines Freundes Seelenstärke und heiterem, unverzagtem Mut, spannte die Zuhörer und riß sie hin.

Elise hatte sich bald wieder so weit gefaßt, daß sie mit Ruhe weiter erzählen konnte. Sie erzählte, wie die beiden Vertriebenen die Verräterei des Ordenskastellans entdecken, der die Polen heimlich nach Marienburg rief; wie sie unter Gefahr und Beschwerden sich durch die aufrührerischen Preußen nach Marienburg durchschlagen , den Meister warnen und verborgen auf Gelegenheit harren, dem Orden zu nützen. Mit großer Begeisterung las Palvi jene Schlachtszenen, worin der Meister bei einem Ausfall auf die Polen von seinem Neffen gerettet wird, wo der Freund die heilige Fahne des Ordens, der ihn verstoßen, aus dem dichtesten Haufen der Feinde zurückbringt und diese erhabene Tat mit einer tödlichen Wunde zahlt. Tiefe Rührung brachten jene Stellen hervor, wo der Sterbende seinem Freund so manches Rätselhafte in seinem Betragen auflöst und ihm gesteht, daß auch er selbst Wanda auf; innigste geliebt habe. Der Schmerz um den Sterbenden bewegt Kuno zu dem romantischen Entschluß, seiner Liebe auf immer zu entsagen, besonders da ein Verdacht in ihm keimt, daß sie ihn weniger geliebt



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als den Freund. Die nächtliche Bestattung dieses edeln Menschen, die Wiederaufnahme Kunos in den Orden Waren von ergreifender Wirkung, nicht minder rührend Wandas Versuche, den Geliebten noch einmal zu sprechen, und als sie sich vergessen glaubt, ihr schnelles Hinwelken.

Der Kastellan ist von dem Czirwenka, dem Hauptmann der böhmischen Besatzung, der dessen Geständnis fürchtet, selbst getötet worden; verlassen, verwaist, auch von der Liebe verlassen, will sie nur so lange noch in der Nähe des Geliebten weilen, bis der Frühling heraufkommt; doch nicht nur diese zarte Blume, auch der Orden trägt den Tod im Herzen, und beide sollten den letzten Frühling in Marienburg sehen.

Der Großmeister Ulerich von Elrichshausen kann sich mit seinen Rittern nicht mehr gegen den Aufstand der Preußen und gegen seine eigenen Söldner halten. Er will den Orden nach Deutschland führen und bedingt sich von den Verrätern freien Abzug. Schon sind die Pferde gerüstet, der Zug will aufbrechen, und die Ritter nehmen mit blutenden Herzen von den Hallen dieser Burg Abschied, und als alle noch einmal ihr Teuerstes mustern, was sie verlassen sollen, kann Kuno dem letzten Ruf der Geliebten nicht widerstehen; er will zu ihr und — findet sie sterbend. Sie schien nur noch so viel Leben in sich zu tragen, um ihn von ihrer Treue, ihrer Liebe zu versichern. Indessen hat Czirwenka die Tore geöffnet. Sechshundert Polen ziehen ein, und, statt dem Orden freien abzug zu gönnen, wird der Großmeister vom Pferde gerissen, verspottet und verhöhnt. Kuno verläßt die sterbende Geliebte, um ihm beizuspringen; ein heftiges Gefecht entspinnt sich in den Höfen, einem großen Teil der Ritter, den Meister in der Mitte, gelingt es, zu entkommen; aber Kuno mit sechs anderen tapferen Ordensbrüdern , welche die Fahnenwache bildeten, werden von den übrigen abgeschnitten; kämpfend ziehen sie sich über die breiten Stufen bis in den großen Rempter zurück, wo sonst die Ordensfahne stand. Der Entschluß, sie lebend nicht zu übergeben, beseelt sie; sie pflanzen da:, Panier an seinem alten Standpunkt auf und umgeben es. Lange gelingt ihnen, das Siegeszeichen so vieler Schlachten zu verteidigen. Aber die Polen dringen immer heftiger ein; Über macht und Verrat siegen, und über ihre Fahne gebreitet, sterben die letzten Ritter von Marienburg.

Es entstand eine Pause, als Palvi geendet hatte; es schien niemand jene Stille stören zu wollen, die unter zwei oder drei heilig und rührend, in größeren Gesellschaften peinigend ist. Doch je erhabener da:: Gefühl ist, welches zu einer solchen Ruhe zwingt, desto ängstlicher sind die Menschen, mit etwas Gemeinem diese



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Nachklänge tieferer Empfindungen zu unterbrechen. Sie rennen dann auf allen Vieren durch die Speisekammer ihrer Erinnerung, um etwas Feines, Eingemachtes, Kandierten vorzusetzen, statt ihre frischen. natürlichen Gefühle sprechen zu lassen.

"Dieser ganze Roman," lispelte endlich eine Dame, deren Blässe und feuchte Augen auf zarte Nerven schließen ließen, "kommt mir Vor wie jener Ausspruch Jean Pauls; .Wie manche stille Brust ist nichts als der gesunkene Sarg eines erblaßten, geliebten Bildes.' Dieser Hüon liebt gewiß unglücklich, und darum gefällt er sich in diesem tragischen Geschick."

"Gerade dies kommt mir überaus komisch vor," bemerkte der Rat, dem Reid und Verdruß um die Nasenflügel spielten; "dieser Mensch hat zu wenig Tiefe, zu wenig Empfindung, um die Wehmut, das Unglück zu zeichnen; doch ich habe mich an einem anderen Ort hinlänglich darüber ausgesprochen. Gewiß, es ist so, wie ich sage. Es steht ja gedruckt, mein Urteil," setzte er hinzu, indem er sich vornehm in den Stuhl zurücklehnte.

"Doch glaube ich, auch gegen ein gedrucktes Urteil findet noch Appellation statt." sagte der junge Remyen mit gleichgültiger Miene.

"Wieso?" rief der Rat errötend.

Rempen war etwas betroffen; aber die munteren Augen seines Oheims, der hinter dem Stuhl des Rats stand, winkten ihm, fortzufahren. "Ich meine, ich habe so etwas gelesen, das Ihr Urteil, bester Herr Rat, völlig umstiess," entgegnete er; "übrigens ist ein gedrucktes Urteil immer nur das Urteil eines einzelnen, und dem einzelnen muß erlaubt sein, dagegen zu streiten. Ich zum Beispiel finde diesen Roman besser, als Sie ihn gemacht haben. Auch glaube ich, Tiefe des Gefühls müsse dem abgehen, der dies in den .Letzten Rittern von Marienburg' nicht findet."

Der Oheim hatte solche: wohl nicht geahnt: denn er und die ganze Gesellschaft schienen erstaunt über die Kühnheit des Stallmeister:

"Solche historische Romane," nahm der Professor das Wort, "sind nur Fabrikarbeiten. Die Form ist gegeben, und wie leicht, wie sicher läßt sich diese Form von jedem handhaben! Nehmen Sie irgend einen Lappen der Welthistorie, zerreißen ihn in kleine Fetzen und neiden die hergebrachten Personen von A bis Z darein, so haben Sie einen historischen Roman. Die weitere Entwicklung ist leicht, besonders wenn man es sich so leicht macht wie dieser Hüon, und nur genugsam Floskeln eingestreut sind; wenn das Tränentuch häufig als Panier aufgepflanzt wird, so kann der Eindruck nicht verfehlt werden.

"Und doch däucht mir," erwiderte Palvi, "es ist bei weitem



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schwerer, einen Roman zu dichten, der den Forderungen einer wahren, vernünftigen und billigen Kritik entspricht, als ein Drama zu schreiben."

"Und was nennen Sie denn eine vernünftige und billige Kritik, Herr Referendarius?" fragte Doktor Zündler mit ungemein klugem und spöttischem Gesicht.

"Man muß ein Buch," erwiderte Palvi mit großer Ruhe, " man muß insbesondere ein Gedicht zuerst nach den Empfindungen beurteilen, die es in uns hervorruft, denn auf Gefühl ist ja ein solches Werk berechnet; es soll angenehm unterhalten, durch den Wechsel freudiger und wehmütiger Szenen befriedigen. Und dann erst, wenn unser Herz darüber entschieden hat, daß das Buch ein solches sei, das unsere Gefühle erhoben, befriedigt hat, dann erst erlaube man dem Verstand, sein Urteil darüber zu fällen, und ihm bleibt es übrig, nachzuweisen, was in Anordnung oder Stil gefehlt ist."

"Da müsste man am Ende alle Herzen abstimmen lassen," sagte der Rat, mitleidig lächelnd, "müßte umherfragen, hat's gefallen oder nicht? ehe man ein öffentliches Urteil fällt. Aber dem ist nicht so; unsere Journale waren es von jeher, denen zu loben oder zu verdammen zustand, und der gebildete, geläuterte Geschmack ist es, der dort richtet."

"Überhaupt dächte ich," setzte Doktor Zündler mit zärtlichem Seitenblick auf Elisen hinzu, " man kann über Dinge dieser Art in Gesellschaft eine gebildete Dame mit Vergnügen hören, wie schon Goethe im 'Tasso' sagt; aber ein öffentliches Urteil müssen nur Leute vom Fach fällen, und nur Leute vom Fach können dagegen opponieren .

"Und halten Sie sich etwa für einen Mann vom Fach?" fragte Palvi mit großem Nachdruck.

Der Doktor verbarg seinen Unmut über diese Frage nur mühsam hinter einem lächelnden Gesicht. "Ich denke, die Welt zählt mich zu Deutschlands Dichtern," sagte er.

"Die Welt," antwortete der Referendar, "die betrogene Welt, aber nicht ich —so wenig als ich meinen Dekopisten für ein Genie halte."

Die Gesellschaft fiel aus ihrer Spannung in eine sonderbare Bewegung. Die Damen sahen unmutig auf Palvi, ein Teil der Männer lachte über des Doktors auffallenden Mangel an Fassung, ein anderer Teil mißbilligte laut solche Reden in einer guten Gesellschaft .

"Herr von Palvi," rief endlich Zündler bebend, — man wußte nicht, ob vor Wut oder Schrecken, — " wie soll ich Ihre sonderbaren Reden verstehen?"



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"Ja, ja, Doktor," sagte der Stallmeister laut lachend, "auch mit meiner Bewunderung hat es ein Ende; man sagt, Sie haben sich Ihre Gedichte und sonstigen schönen Sachen machen lassen." "Machen lassen?" fragte der Chorus der Literatoren mit Bestürzung.

"Hat sie machen lassen:" rief die Gesellschaft.

"Wer wagt dies zu sagen?" schrie der Doktor, indem er bleich und atemlos aufsprang.

"Nun, leider derjenige selbst, der sie Ihnen verfertigt hat," antwortete Rempen mit großer Ruhe, "der Magister Bunker; er logiert oben in Ihrem Hause.

Der entlarvte Dichter versuchte noch einige Worte zu sprechen; er war anzusehen wie der Kopf eines Enthaupteten; die Augen drehen sich noch, die Lippen scheinen Worte zu sprechen; aber der Geist ist entflohen, der diesen Organen Leben gab. Eilig drängte er sich dann durch den Kreis, stürzte nach seinem Hut und verließ den Saal und die vor Verwunderung verstummte Gesellschaft.

"Ist es denn wahr?" sprach endlich die von Angst und Sorge erbleichte Elise, indem sie den Stallmeister sehr ernst ansah.

"Gewiß, mein Fräulein!" erwiderte dieser lächelnd. "Ich würde der Gesellschaft diese Szene erspart haben; aber ich war zu tief über die freche Stirn erbittert, womit dieser Mensch mich und Sie alle hinterging. Doch hören Sie von dem wunderlichen Mann, der ihm alles dichtet!"

Man setzte sich schweigend, und Rempen erzählte; während seiner Erzählung schlich sich der Redakteur der "Blätter für belletristisches Vergnügen" au:, dem Saal, ihm folgten seine Genossen. beschämt und ergrimmt über sich, den Doktor und die ganze Welt. Der Gesellschaft aber gereichte die Erzählung des Stallmeisters zu nicht geringem Vergnügen. Die gute Stimmung war wieder her gestellt, der Punsch, den der alte Rempen als Nachsatz von gestern gab, löste die Zungen, man fühlte sich weniger beengt, seit die öffentlichen Schiedsrichter hinweggegangen waren, man sprach allgemein das Lob des vorgelesenen Romans aus. Auch die Toasts wurden nicht vergessen, und als Julius von Rempen die Gesundheit aller wahrhaften Dichter und ihrer gründlichen kritiker ausgebracht hatte, wagte es Elise mit glänzenden Augen, aber tief errötenden Wangen, die Gesellschaft aufzufordern, auf das Wohl des neuen Hüon und "er letzten Ritter von Marienburg" zu trinken.



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9. Das Geheimnis.

Elise hatte dem Stallmeister. als er beim Nachhausefahren neben dem Wagen ritt, erlaubt, sie den anderen Tag zu besuchen; er kain, er fand sie allein und gütiger gegen ihn gesinnt als je. Sie neckte ihn über seine Eingriffe in die literarische Welt und riet ihm, nie etwas drucken zu lassen; denn er habe alle Rezensenten gegen sich aufgebracht.

"Und sind denn nicht Sie mir einige Minuten gram gewesen," fragte er lächelnd, "weil es einer Ihrer Freier war, den ich entlarvte?"

"Einer meiner Freier?" fragte sie hocherrötend. "Zündler? Sie irren

"O, Sie schenkten ihm oft ein geneigtes Ohr," fuhr er fort, "verabschiedeten mich oft mitten im Gespräch, um auf die Worte dieses großen Dichters zu lauschen."

"Gewiß nicht, Rempen!" antwortete sie verlegen. "Und einer meiner Freier, sagten Sie, als ob ich deren viele hätte!"

Ich kenne wenigstens einige," erwiderte er mit lauerndem Blick.

"Und wen ?"

"Zum Beispiel Palvi."

"Palvi!" rief sie erbleichend. "Was wollen Sie mit Palvi? Ich kenne ihn nicht."

"Elise," erwiderte der Stallmeister sehr ernst, "Sie kennen ihn. Der Zufall ließ mich vorgestern hören, daß Sie ihm selbst sagten, wie gut Sie ihn kennen. Sie liebten ihn."

"Nimmermehr!" rief sie mit glühendem Gesicht. "Er ist ein Abscheulicher! Glauben Sie, ich werde einen Elenden lieben, der — mein Kammermädchen anbetet?"

"Elise! Valve"

Ja, ich gestehe es," flüsterte sie, in Tränen ausbrechend. Ihnen gestehe ich es: Es gab eine Zeit, wo ich für diesen Menschen alles hätte tun können. Ich kannte ihn noch aus meiner Kindheit und auch später; er war mir wert. Aber hören Sie: Schon oft hatte mir mein eingebildetes Kammermädchen von einem schönen Herrn erzählt, der sie immer anrede, ihr von Liebe vorschwatze und dem sie recht herzlich zugetan sei. Eines Tages stand sie dort am Fenster; auf einmal schlägt sie die Hände zusammen vor Freude, bittet mich, ans Fenster zu treten und ruft: "Sehen Sie, der dort in der Türe des Buchladens steht, der ist der schöne Herr!" Sie macht mir Platz. ich trete arglos hin, und aus dem Laden tritt in diesem Augenblick —"

"Wie, doch nicht Palvi ? rief der Stallmeister, ergrimmt über das schlechte Betragen eines Mannes, den er geachtet hatte.



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"Er selbst," flüsterte Elise und drückte ihre weinenden Augen in ihr Tuch.

Der Stallmeister überließ das unglückliche Mädchen einige Minuten der Erinnerung an einen tiefen Kummer; hatte er ja doch selbst diese Pause nötig, um sich zu sammeln. Liebe, Mitleiden, so viele andere Empfindungen stürmten auf ihn ein, rissen ihn hin, Elisens Hand zu ergreifen und sie an seine brennenden Lippen zu ziehen. Erschreckt, überrascht blickte sie ihn an; doch schien ein günstiges Gefühl für ihn ihren strafenden Blick zu mildern.

"Und darf ein Mann," sprach er bewegt, "zu Ihnen von Liebe reden, nachdem Sie so Bitteres von uns erfahren? Darf er sagen, er würde treu sein bis in den Tod, wenn Sie ihm nur einen Teil jener Liebe schenken könnten, die jener ganz besaß?"

"Julius, was fällt Ihnen ein?" rief sie mit bebenden Lippen, doch ohne ihm ihre Hand zu entziehen. "Wozu —"

"Elise," fuhr er fort, "ich kann einem so großen und schönen Herzen, wie da:: Ihrige ist, wenig Trost geben; aber die Zeit mildert; und kann nicht treue und aufmerksame Liebe selbst schönere Vorzüge ersehen?"

Sie wollte antworten, sie errötete und schwieg; aber ihren Blick voll Liebe und Wehmut durfte er günstig für sich deuten; er schloß sie in seine Arme und küsste ihren schönen Mund.

"Aber mein Gott, Rempen," sagte sie, indem sie sich sanft von ihm loszumachen suchte, " was machen Sie doch?"

"Ich habe dich ja längst geliebt," fuhr er fort, "hatte nur einen Wunsch; ich glaubte dein Herz nicht mehr frei und zögerte; jetzt, da ich weiß, daß nur Gram, aber keine fremde Liebe in diesem Herzen wohnt, jetzt mußte ich dieses lästige Geheimnis von mir werfen. Aber wie? — zürnen Sie mir vielleicht über alles dieses?"

"Julius!" rief sie, erschreckt von dem wehmütigen Ton, womit er die letzten Worte sagte. Dieser Name, so sanft und wohlwollend ausgesprochen, ihr ängstlicher, zärtlicher Blick sagten ihm mehr als alle Worte. "Und darf ich mit dem Vater reden, Elise? Darf ich?" setzte er hinzu.

Sie errötete und erbleichte ebenso schnell wieder, sie sah ihn eine kleine Weile prüfend an, eine Träne trat in ihre schönen Augen; aber um ihren Mund zog ein flüchtiges, feines Lächeln; sie drückte seine Hand; eine kleine Bewegung des Hauptes und die hohe Röte, die wieder über ihre Wangen ging, sagten ja, und schnell, wie vom Winde hinweggetragen, war sie in ein anderes Zimmer entschlüpft.

Der Stallmeister war in jeder Hinsicht eine so gute und anständige Partie, daß der alte Wilkow, als der Geheimrat von Rempen für seinen Neffen warb, keinen Anstand nahm, seine Zusage zu



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geben. Der junge Mann selbst war so von seinem süßen Glück erfüllt, daß er lange nicht an die Begebenheiten dachte, die diesem wichtigen Schritt vorangegangen waren. Endlich erinnerte ihn ein Zufall an Palvi; so unangenehm diese Erinnerung war, so fühlte er doch als Mann und als künftiger Gatte Elisens, daß er diesem Menschen, mochte er sich auch wirklich schlecht gezeigt haben, Erklärung schuldig sei. Und wie bebte seine Hand, als er ihm in wenigen Zeilen sagte, daß Elisens Widerwille unüberwindlich sei, daß er ihn versichern könne, daß sie niemals einen Mann mehr lieben werde, welchen sie aufzugeben nicht unrecht gehabt, dah er selbst versuchen wolle, Palvis Stelle bei ihr zu ersetzen. Ja, seine Hand, sein Herz bebte, als er diese Buchstaben niederschrieb; konnte ihn nicht beruhigen, daß er sich ins Gedächtnis recht lebhaft zurückrief, wie niedrig und elend dieser Mensch an einer so zarten, heiligen Liebe, wie sie Elise gab, gefrevelt habe. Die edeln Züge, das Auge dieses Mannes standen vor ihm; ein so hoher und liebenswürdiger Geist, so fein in Urteil und Benehmen, und dennoch so wenig sittliche Würden Die Erinnerung an jenen Abend, wo sich ihm Palvi so ernst und doch so herzlich genähert hatte, wo er ihm sein inneres Leben aufschloß und ein verarmtes Herz bei solchem Reichtum der Gedanken, eine tief verwundete Seele bei solcher Gesundheit des Geistes zeigte, machte ihn so wehmütig, daß er nahe daran war, die kaum geschriebenen Zeilen zu zerreißen; aber der Gedanke an Elise, die Vermutung , daß dieser Palvi jene schönen Empfindungen, so tiefe Rührung nur geheuchelt haben müsse, erkalteten schnell seine warme Teilnahme. Entschlossen schickte er den Brief ab, und doch deuchte es ihm, als er seinen Boten verschwinden sah, er habe einen Todespfeil auf ein edles Herz entsendet.10. Zweifel.

Der alte Herr von Rempen erinnerte sich mehrerer Fälle, wo die feierliche Verlobung gräflicher, sogar fürstlicher Paare gleich den andern oder dritten Tag, nachdem die Werbung angenommen worden, vor sich gegangen war. Er stand daher um so weniger an, seinen Neffen und Elisens Vater zu gleicher Eilfertigkeit zu treiben, als er selbst gleich nach dieser Szene, wobei seiner Meinung nach sein Segen notwendig sei, mehrere Wochen auf dem Lande verweilen wollte. So kam es, daß sich der Stallmeister durch den verhängnisvollen Zug der Umstände auf einmal in die ruhige Bucht eines schönen, häuslichen Glückes versetzt sah, als er sich kaum noch auf hoher See glaubte oder wenigstens von Klippen träumte, an



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welchen seine Hoffnung auf immer scheitern könnte. Am Morgen jenes festlichen Tages, der zu seiner Verlobung angesetzt war, brachte ihm ein Knabe einen Brief. Die Hand, die ihn überschrieben, war ihm unbekannt. Eröffnete und fand den Namen des Magisters Bunker unterzeichnet. So unangenehm auch die Erinnerungen sein mochten, mit welchen dieser Name in Verbindung stand, so machte doch das Andenken an diesen alten Mann und die wenigen rührenden Worte des Briefes tiefen Eindruck auf ihn. Erbat den Stallmeister, dem Knaben zu ihm zu folgen; er habe ihm notwendig etwas zu eröffnen und sei selbst zu schwach und angegriffen, als daß er über die Straße gehen könne. Rempen fürchtete anfangs ein Zusammentreffen mit Palvi. Als aber der Knabe auf seine Frage, ob Herr von Palvi bei dem Alten sei, antwortete: "Ach nein! der ist schnell ganz weggereist und kommt nimmer wieder, und der alte Herr Magister hat geweint wie ein Kind," so nahm er eilends seinen Hut und folgte.

Der Knabe führte ihn durch mehrere Seitenstraßen in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo nur arme Leute und Handwerker wohnten. bis vor ein kleines, aber reinliches Haus. Dort stieg er eine Treppe hinan und öffnete dem Stallmeister eine Tür. Es war ein Zimmer voll Verwirrung und Unordnung, in das sie traten. Papiere und Bücher lagen am Boden zerstreut, und die Trümmer einer Gitarre mischten sich mit ausgeleerten Flaschen und alten Schuhen. Auf den Stühlen lagen Kleidungsstücke, auf dem schlechten Kanapee aber saß, den Kopf in die Hand gestützt, ein Mann, in welchem Rempen den Alten erkannte. Beim Geräusch, das ihr Eintreten verursachte, wandte er den Kopf um und hatte Tränen in den alten Augen.

"Vergeben Sie mir!" sagte er, indem er mit Mühe sich aufraffte . "Meine Beine tragen mich nicht mehr zu Ihnen, und meine Hand zittert — ich musste meine Botschaft mündlich geben."

"Was ist vorgegangene" rief der junge Mann bestürzt. "Sie sind krank. Sie weinen um wen? Und von wem eine so feierliche Botschaft

Der Alte trocknete sich die Augen. "Er hat viel auf Sie halten," sprach er, "noch gestern und vorgestern hat er immer von Ihnen gesprochen und innig bedauert, daß er Sie so spät erst kennen gelernt habe. Sie hätten können herzliche Freunde werden; denn Sie sind keiner von den schuftigen Gesellen, die er verabscheute."

"Mein Gott, Sie sprechen von Palvi? Wo ist er?"

"Möge ihn ein gütiger Arm vor den Wellen des flusses bewahrt haben!" erwiderte der Alte sehr ernst; "doch, nicht wahr, junger Mann, es gehört größere Kraft dazu, einen Kummer zu



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tragen, als sich von ihm zerbrechen zu lassen? Nicht wahr? Ich glaube es wenigsten', und er ist eine kräftige Seele, er kann nicht zum Selbstmörder werden."

Rempen verhüllte sein Gesicht, er konnte den tiefen Gram des Alten nicht länger sehen. Aber dieser zog ihm ängstlich die Hand von den Augen. "O, lesen Sie doch," sagte er, indem er ihm einen Brief darbot; "lesen Sie genau, prüfen Sie jedes Wort; nicht wahr, es steht nichts dann, daß er sich töten wolle?"

Rempen nahm das Blatt; es war in wenigen Worten ein kurzer, aber ergreifender Abschied an den Alten. Er müsse ihn und diese Stadt verlassen, schrieb er. Als Grund gab er nur flüchtig sein unglückliches Verhältnis zu Elisen an, von welchem der Alte völlig unterrichtet schien.

Rempen suchte den Alten zu trösten; sei so natürlich, sagte er, daß Palvi sich zerstreuen wolle, daß er vielleicht nur eine kleine Reise mache.

Aber der Alte schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. "Er kommt nicht wieder, und ach, ich habe keine Freude und keinen Freund mehr! bat alle seine kleinen Rechnungen bezahlt, und mir," setzte er weinend hinzu, " mir hat er seine Bücher und alles hinterlassen. —Doch zu meinem Auftrag! Sie sehen, wie sehr er Sie schätzte, hier ist ein Paket mit Büchern an Sie, die Adresse schrieb er noch heute morgen, und in einem kleinen Zettelchen, das er darauf gelegt hat, bittet er mich, Sie bei allem, was heilig ist, zu versichern, daß er kein schlechter Mensch gewesen sei, daß er Sie liebe und in Ihrem Glück sein eigene:, finde."

Indem der Magister noch diese Worte sprach, hörte man ein Geräusch auf der Treppe, eilende Schritte nahten dem Zimmer, die Tür ging auf, und, ein Zeitungsblatt in der Hand, stürzte der Buchhändler Kaper in das Zimmer. "Wo ist er?" rief er erhitzt und atemlos. "Wo ist der große und unvergleichliche Hüon, unser Scott, unser letzter Ritter? Wo ist die Blüte und der Kern unserer Literatur? Ich meine den Herrn Referendar von Palvi, der hier logiert, wenn ich nicht irre," setzte er hinzu, als er den Gesuchten nicht im Zimmer fand.

"Er ist verreist, antwortete der Alte.

"Himmel! komme ich zu spät?" fuhr Sayer fort; "wissen Sie nicht, hat Hüon schon einen Verleger zum nächsten Historischen? Daß wir es erst heute erfahren müssen! — Ei! ei! gratuliere, Herr Stallmeister, zu meiner schönen Nachbarin. — Aber wer hätte das gedacht, daß wir den göttlichen Hüon in den eigenen Mauern hätten, daß es dieser Herr von Palvi wäre!



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"Wie?" rief der Stallmeister, indem er den Alten staunend anblickte, " er wäre Hüon?"

"Da steht's, da steht's gedruckt im Konversationsblatt," schrie der Buchhändler, indem er seine Zeitung dem jungen Rempen überreichte .

"Hüon," sagte der Alte, " er war Hüon. Wohl hat er den Ungläubigen die Backenzähne ausgezogen, und vergebens kämpften sie gegen meinen edlen, jugendlichen Paladin; aber sein Geschick wollte, er sollte Hüon ohne Rezia sein."

Noch einmal öffnete sich die Tür und spie, wie das Tor im Löwengarten des Königs Franz, zwei Leoparden auf einmal au: Es waren der Rat und der dramatische Professor, die hereinstürzten. Wo ist er?" riefen sie. "Vergessen sei alle Fehde! Wir hatten ja einen ganz andern im Verdacht, der Autor dieses Romans zu sein; darum, gewiß nur darum haben wir ihn gehauen. Ins Freitagskränzchen soll er kommen, Mitarbeiter soll er werden am ,Belletristischen Vergnügen Den Zündler soll er uns ersetzen, der treffliche Hüon!" So schrien sie durcheinander; aber mit Hohn und Verachtung blickte sie der Alte an. "Ihr findet ihn nicht mehr," sagte er. "Er ist hinweg für immer."

"Hat er etwa einen Ruf bekommen?" rief der Professor.

Ha!" rief ihm der Rat nach, "das ist ja wohl Zündlers rätsel hafter Magister. Herrlicher Fund! Wir zahlen zehn Taler pro Bogen, Wertgeschätzter. Arbeiten Sie mit an unserm Blatte, was Sie wollen, Gedichte, Novellen, Rezensionen, Kunstgefühle, wir nehmen alles auf!"

Zurück!" entgegnete der alte Mann mit mehr Hoheit, als ihm Remyen zugetraut hatte. "Ich habe einen Freund verloren, eine große, schöne Seele, und bin nicht gesonnen, ihn mit euch und euren Talern zu ersetzen. Dort am Boden liegen Palvis Papiere — teilet euch in seinen poetischen Nachlaß!"

Er sprach nahm den Stallmeister unter den Arm und verließ mit ihm langsam das Zimmer. Kaper, der Rat und der Professor stürzten wie Drachen auf den Boden und über die Papiere her, und mitten in seinem Kummer mußte der Stallmeister lächeln, als ihm der Alte auf der Treppe entdeckte, jene werden nur Fragmente von juridischen Relationen und unbedeutende Kriminalakten finden. Als aber der Alte an der Tür des Hauses mühsam und auf seinen Stab gestützt, an den Häusern hinschleichen wollte, ergriff Remyen seinen Arm von neuem und führte ihn trotz seiner Widerrede bis zu seiner Wohnung. Dort setzte sich der Magister auf einen Stein, um Kräfte zu gewinnen; denn sein Stübchen lag fünf Stockwerke hoch.



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11. Gagné? — Perdu!

Elise saß zu derselben Stunde vor der Toilette. Gedankenvoll sah sie vor sich hin, indem das Kammermädchen ihre Haare ordnete. Vielleicht hatte der tägliche Anblick dieser Zofe den Stachel entheiligter Liebe nur immer noch tiefer in das Herz gedrückt; und dennoch vermochte sie nicht über sich, das Mädchen wegzuschicken. Es war der Stolz einer erhabenen Seele, was sie von diesem Schritt abhielt, der vielleicht auch von ihren Eltern getadelt worden wäre; denn das Mädchen diente treu und geschickt. Doch so tief diese Wunde sein mochte, Elise suchte in diesem Augenblick ihren Schmerz zu übertäuben . Wenn nach den Gesetzen der Natur das Wesen in uns zu derselben Zeit verschiedentlich beschäftigt sein könnte, wenn es möglich wäre, in dem nämlichen Moment in dem Herzen so ganz anders zu fühlen, als man oben hinter den Augen denkt, so müßte Elisens Seele in dieser Stunde nach verschiedenen Richtungen sich geteilt haben. Im Hintergrunde ihres Herzens flüsterten tiefe, wehmütige Töne die Erinnerung einer schönen Zeit, sie sangen in klagenden Weisen jene Tage, wo Elise auf der ersten Stufe der Jugend das Auge de:, Geliebten verstand. In volleren Akkorden rauschten diese Erinnerungen, als sie von Stunden seliger Liebe, von Trennung und der Wonne des Wiedersehens sprachen. "Verloren, verloren durch seine eigene Schuld!" weinte dann ihre Seele. "Untergegangen ein so großer, schöner Geist in Leichtsinn und Niedrigkeit!" Doch diese Gefühle schlichen nur gleich Schatten vorbei. Sie suchte mit aller Gewalt des Geistes den Blick von diesen Erscheinungen abzuwenden, sie dachte sich das ruhige, klare Wesen ihres zukünftigen Gatten, sein bescheidenes und doch so würdiges Betragen, seine reine Herzensgüte — sie rief sich alles dies hervor, ja, sie versuchte zu lächeln und freundlichere Gefühle dadurch zu erringen, aber — es gelang ihr, ruhig, doch nicht heiter zu werden.

Der Putz war vollendet, sie richtete sich vor dem hohen Spiegel auf, und die ire ude an ihrer eigenen hübschen Gestalt verdrängte auf Augenblicke jene düsteren, wehmütigen Bilder.

"Nein, und wenn er noch so Proper angetan wäre," sagte in diesem Augenblick da:, Kammermädchen am Fenster, "mich soll er nicht mehr anreden dürfen!"

"Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mehr von solchen Dingen reden," rief Elise mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

"Ach Gott! Gnädiges Fräulein, ich will ja auch gar nichts mehr von dem schlechten Menschen wissen aber ich sagte nur so, weil er wieder in Herrn Kapers Laden steht.

Elise zitterte, sie wollte von dem Spiegel hinwegeilen; aber



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unwiderstehlich zog es sie an das Fenster. Sie warf einen Blick hinüber, und unter jener Tür stand — Doktor Zündler.

"Wie!" rief sie, kaum ihrer Worte mächtig, der Zofe zu, "ist es denn dieser?"

J, freilich! Swer werden Sie mir nur nicht böse!"

"Und dieser ist derselbe, den du damals meintest ?" fuhr sie mit bebenden Lippen fort.

"Wer denn anders?" entgegnete jene ruhig; "aber ich weiß jetzt, er ist ein schlechter Mensch, und jetzt weiß ich auch, wie er heißt: Doktor Zündler."

"Geh, geh, bringe die Kleider weg," flüsterte Elise, indem sie ihr glühendes Gesicht halb bewußtlos in die Kissen des Sofas drückte; das Mädchen eilte erschrocken hinweg, und die unglückliche Braut war mit ihrem Gram allein. Welche Gefühle stimmten auf sie ein! Beschämung, Liebe, Unmut über sich selbst. Sie sprang auf; ein Gang durch das Zimmer machte sie mutiger. Sie wollte Rempen alles gestehen; sie war einen Augenblick überzeugt, er werde so edel sein, zurückzutreten, Palvi werde leicht zu versöhnen sein. Aber die Stadt wußte, daß heute ihre Verlobung sei. Ihr Vater hat dem Geliebten sogar das Haus verboten; wurde er jemals einwilligen, sie glücklich zu machen? Nein! —Scham vor der Welt, Reue, Angst warfen sie nieder. Bleich, erschöpft und zitternd fand sie der Stallmeister, als er bald darauf ernster, als zu diesem fröhlichen Tag sich schickte, in Elisens Zimmer trat.

"Ich muß Ihnen eine sonderbare Nachricht geben," sagte er bewegt, indem er sich zu ihr setzte und, beschäftigt mit seinen Gedanken , ihre Verwirrung nicht bemerkte. "Palvi ist weggereist, und zwar auf immer."

"Er ist tot!" rief sie. "Gewiß, schnell, sagen Sie es nur heraus, er hat sich getötet!"

Nein," erwiderte Rempen, " er hat mir einen Brief zurückgelassen, worin er Sie und mich zum letztenmal begrüßt. Er ist nach Frankreich gegangen. Dorthin lautet auch sein Paß, wie mir soeben mein Onkel erzählte."

Elise schwieg. Sie fühlte, daß sie ihn erst in diesem Augenblick ganz verloren habe; aber sie hatte Kraft genug, jeden Laut des Kummers zu unterdrücken.

"Doch, was Sie noch mehr befremden wird," fuhr er fort, "jenen Roman, den Sie uns letzthin erzählt haben, hat uns der Autor selbst vorgelesen."

"Palvi!" rief sie in so eigenem Ton, daß der Stallmeister erschrak "Er wäre —"

"Hüon, der Autor der .Letzten Ritter von Marienburg'. Es steht



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schon in öffentlichen Blättern, und hier schickt er mir und Ihnen dieses Werk." Der Stallmeister öffnete ein Paket und gab Elisen die Bücher. Sie öffnete eines derselben. Ihr Blick fiel auf das Märchen, woraus Palvi mit so sonderbarem Akzent einige Reime gelesen, und jetzt erst stieg eine längst erbleichte Erinnerung in ihr auf. Es war ja ein Märchen, das Palvis Vater den Kindern oft erzählt hatte.

Eine große Träne schwamm in ihrem schönen Auge und fiel herab auf diese Zeilen.

In diesem Augenblick öffneten sich die Flügeltüren. Mit feierlichem Gesicht und überladen mit seinen Orden, trat der Geheime Rat von Rempen herein. Mit Anstand trat er vor da: Fräulein ihr den Arm zu bieten. "Die Familien sind im Salon versammelt," sprach er. "Ist es gefällig, jetzt die Ringe zu wechselns Doch wie? Sind Sie so sehr in unsere Literatur verliebt, daß Sie sogar gerade vor der Verlobung Lesestunden mit meinem Neffen halten? Was lesen Sie denn, wenn man fragen darfs"

Mit einem schmerzlichen Lächeln stand Elise auf und nahm seinen Arm. "Etwas Altes in neuer Form," erwiderte sie, "ein Märchen von unteraegangener Liebe!"

"Ei, ei," setzte der Oheim lächelnd und mit dem Finger drohend hinzu, "etwa: Solches vor der Verlobung? Und wie heißt denn der Titel?" fragte er, indem er sie in den Saal führte.

"Er heißt; ,Die letzten Ritter von Marienburg."'



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Das Bild des Kaisers.

Ne crains pas cependant ombre encore inquiète,
(Sue vienne outrager ta majesté muette!
Non — la lyre aux tombeaux n'a jamais insulté

A. de Lamartine.

1.

In dem Kabriolett des Eilwagens, der zweimal in der Woche von Frankfurt nach Stuttgart geht, reisten vor einigen Jahren an einem der schönsten aage des September zwei junge Männer. Der eine von ihnen war erst eine Station hinter Darmstadt eingestiegen und hatte dem früheren Passagier schon beim ersten Anblick durch sein schmuckes Äußere und den freundlichen Gruß, womit er sich neben ihn setzte, die Furcht, der Zufall möchte ihm eine unangenehme Nachbarschaft geben, völlig benommen. Der Fortgang der Reise bewies, daß er nicht unrichtig geurteilt hatte, wenn er seinen Reisegefährten für einen wohlerzogenen, anständigen Mann hielt. Was er sprach, war, wenn nicht gerade heiter. doch offen und verständig; nicht selten sogar überraschten den Reisenden leicht hingeworfene Äußerungen, Gedanken seines Nachbars, die von feiner Bildung, gesellschaftlicher Erfahrung und einer Belesenheit zeugten, die er denn doch hinter dem etwas groben Jagdrock und der unscheinbaren Ledermütze nicht gesucht hätte. Überhaupt deuchte diesem Reisenden, er müsse, je weiter er im Süden vor drang, desto öfter und nicht ohne Beschämung dem Lande und den Bewohnern Vorurteile abbitten, die man in der Ferne vom Hörensagen, besonders in einem Alter von vierundzwanzig Jahren, so leicht annimmt.

Wie anders war ihm dieses Land im Brandenburgischen geschildert worden! Manche Reisende hatten zwar diese Bergstraße, dieses Neckartal gelobt; doch erschien dann ihre Beschreibung matt und klein gegen die Wunder der Schweiz, zu welchen sie auf dieser Straße geeilt waren. Über die Bewohner war aber in seiner Heimat nur eine Stimme. Hier, bald hinter Darmstadt, fangen die



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Schwaben an, erzählte man dem jungen Reisenden in Berlin mit einem mitleidigen Blick auf die Karte, mit einem noch mitleidigeren auf ihn, der diese Länder besuchen wolle. Da geht alles gesellschaftliche Leben, alle Bildung aus; ein rohes, ungesittetes Volk, das nicht einmal gutes Deutsch sprechen kann. Und leider nicht nur die untersten Klassen leiden an diesem Manget, auch die besseren Stände haben einen Anstrich von eingeschränktem, ungalantem Wesen und reden so elendes Deutsch, daß sie vor Fremden, um nicht erröten zu müssen, Französisch sprechen. Das war der Reisepfennig, den man ihm nach Schwaben mitgab, und in dem jungen und romantischen Kopf des jungen Brandenburgers hatten diese Sagen sich endlich während der schönen Musse, die ihm die Sandkunst Saßen und die schnapsenden Postillons seines Vaterlandes gönnten, so sonderbar gestaltet, daß er sich selbst wie einer jener wohlerzogenen jungen Herren in einem Scottischen Roman erschien, die, von den wehmütigen Erinnerungen an die feinsten Zirkel, an Theater und alle Genüsse der großen Welt erfüllt, von London aus reisen, um das Hochland und seine barbarischen Bewohner zu besuchen.

Doch als die herrliche Welt jener Berge voll Obst und Wein und jene gesegneten Täler sich vor seinen Blicken auftaten, als die schönen Dörfer mit ihren roten Dächern, mit ihren reinlichen, fröhlichen Menschen seinem erstaunten Auge sich zeigten, als da und dort zwischen prachtvollen Buchenwäldern eine alte Burg und ein Schloß mit schimmernden ,unstern auftauchte, da fiel er beinahe in das andere Extrem; er strömte über von Lob und Bewunderung und bemitleidete die arme, flache Mark, ihren kahlen Sandboden, ihre mageren Tannen und ihre bleichen Bewohner, von welchen vielleicht Tausende aus dem Leben gingen, ohne nur eine jener üppigen Trauben gesehen zu haben, die hier in unendlicher Fülle durch das grüne Laub schimmerten, und ein schwacher Trost für seinen Patriotismus war, daß die Natur seine Landsleute durch höhere Einsicht, eine wohllautandere Sprache und feinere Bildung in etwas wenigstens entschädigt habe.

Der junge Mann an seiner Seite schien übrigens, obgleich man seiner Sprache den südlichen Akzent anfühlte, die Gesetze des Anstandes nicht minder gut zu verstehen als der Brandenburger; zum mindesten verriet keine seiner Fragen Neugierde, über dessen Stand, Vaterland und Reisezweck etwas zu erfahren; er benahm sich zuvorkommend. aber würdig, schien geneigter zu antworten als zu fragen, und übernahm es, ohne sich dadurch belästigt zu fühlen. den Fremden über Namen und Geschichte der Burgen und Städte. die ihm auffielen, zu unterrichten.



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So ruhig und kalt übrigens der junge Mann im Jagdkleid über diese Dinge Aufschluß gab, so waren es doch wei Punkte, über welche er wärmer und länger sprach. Einmal, als sein Nebensitzer über die gute Gesellschaft in Schwaben einige seiner sonderbaren Begriffe preisgab, sah ihn der Grune mit Verwunderung an, fragte ihn auch, ob er vielleicht auf einem andern Wege schon früher in Schwaben gewesen sei, und als jener es verneinte. erwiderte er:

Ich weiß, man macht sich hin und wieder, besonders in Norddeutschland , sonderbare Begriffe von uns. Ob mit Recht, mögen Sie selbst entscheiden, wenn Sie einige Zeit in unserer Mitte verweilt haben. Doch möchte ich Ihnen raten, zuvor etwas unbefangener die mögliche Quelle solcher Urteile zu betrachten. Ich gebe zu, daß eine gewisse nachteilige Ansicht über mein Vaterland seit Jahrhunderten besteht; zum mindesten sind die Schwabenstreiche nicht erst in unsern Tagen bekannt geworden. Doch scheint ein großer Teil dieser aberwitzigen Dinge aus einer gewissen Eifersucht der Volksstämme hervorzugehen und aus der Kleinstädterei, die von jeher in unserem lieben Deutschland herrschte. In Schwaben zum Beispiel erzählt man alle jene Sonderbarkeiten, die andere uns aufbürden, von den Östreichern; daß aber dieses Vorurteil selbst in neueren Zeiten, selbst durch die Fortschritte der Kultur und das regere gesellige Leben nicht geschwächt wurde, hat zwei wichtige Gründe; die größere Schuld aber liegt nicht auf der Seite von Süddeutschland."

"Bitte!" rief der brandenburgische Reisende etwas ungläubig, ich sollte doch nicht denken —"

"Man beurteilt unsere Sitten nach meinen Landsleuten, die man in Norddeutschland sieht. Wenn nun diese auch die vernünftigsten Menschen wären, es würden ihnen doch zwei Mängel anhängen, die sie in Ihren Augen in Nachteil setzen. Einmal die Sprache —"

"Bitte! erwiderte sein Gefährte verbindlich. "Nicht alle! Sie zum Beispiel drücken sich allerliebst aus."

"Ich drücke mich aus, wie ich denke, und so macht es ein guter Teil meiner Landsleute auch; weil wir aber die Diphthongen anders aussprechen als ihr, die Endsilben entweder nach unserer altertümlichen Form ändern, oder im Sprechen übereilen, klingt euch unsere Sprache auffallend, hart, beinahe gemein. Die meisten Schwaben, die Sie bei sich sehen, sind junge Männer, die von der Universität kommen und die Anstalten in Norddeutschland besuchen. oder Kaufleute, die ihr Handelsweg dahin führt. Diesen Menschen legen nun Ihre Landsleute durchaus ihren eigenen Masstab an und tun sehr unrecht daran. In Ihrem Lande wird den äußeren Formen



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und dem Benehmen des Knaben und des Jünglings einige Aufmerksamkeit geschenkt, er wird sehr bald in die geselligen Kreise gezogen; bei uns findet dies vielleicht erst um acht oder zehn Jahre später statt."

"Nun, das ist es ja gerade, was ich sagte," entgegnete jener; "diese Formen gewinnt keiner durch sich selbst, und dies ist also ein Fehler Ihrer Erziehung —"

"Vorausgesetzt, dah jene Formen wirtlich so trefflich, daß sie das sind, was dem zukünftigen Bürger eines Staates vor allem als nützlich und notwendig einzuimpfen ist."

"Das soll es ja nicht; aber so auf dem Wege mitnehmen kann er sie doch wohl," meinte der Fremde.

"Wenn er sie nur so mitnimmt, verliert er sie auch gelegentlich," erwiderte der Schwabe. "Doch das ist nicht der Punkt, wovon wir sprechen. Ich behaupte nur, man hat in Norddeutschland unrecht, unsere Sitten und unsere Gesellschaft nach Leuten zu beurteilen, die der Gesellschaft eigentlich noch nicht angehört hatten, die vielleicht in die Welt geschickt wurden, um ihre Sitten abzuschleifen. Oder wollten Sie nach einigen jungen Gelehrten, die gerade aus der Studierstube zu Ihnen kamen und sich vielleicht ungeschickt in Sprache und Manieren zeigten, die Landsleute dieser Menschen beurteilens"

"Gewiß nicht; aber gestehen Sie selbst, man hört doch selbst von der guten Gesellschaft in Schwaben so sonderbare Gerüchte, von ihren Sitten und Gebräuchen, von ihren Frauen und Mädchen."

"Vielleicht kaum so sonderbar," versetzte der Jäger lächelnd, "als man bei uns von den Sitten Ihrer Damen hört; denn unsere Mädchen stellen sich die norddeutschen Damen gewiß immer mit irgend einem gelehrten Buch in der Hand vor. Die zweite Quelle des Irrtums über mein Vaterland sind aber Ihre reisenden Landsleute und die eigentümlichen Verhältnisse unseres Familienlebens. In Norddeutschland fällt es nicht schwer, in Famitienkreisen Zutritt zu bekommen, durch einen Bekannten zehn zu erwerben. In Schwaben ist es anders; man ist heiter, gesellig unter sich, — der Fremde wird als etwas Fremdes angestaunt, aber eher vermieden als eingeladen; doch werden Sie für diese scheinbare Kälte immer eine Entschädigung finden. Ihre Landsleute öffnen die Tür. aber selten das Herz; meine Schwaben sind vorsichtiger, aber sie schließen sich an den, welchen sie liebgewonnen, mit einer Herzlichkeit an, die sie bei künstlichen und verfeinerten Sitten umsonst suchen."

"Und also liegt eine zweite Quelle unserer Vorurteile," fragte der Fremde, "darin, daß meine Landsleute eigentlich gar nicht in Ihren besseren Kreisen einheimisch wurden?



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"Gewiß!" sagte der Nachbar. "Lernen Sie, wenn Ihnen das Glück wohlwill, in die Kreise unserer bessern Stände zu kommen, lernen Sie uns näher kennen, lassen Sie sich nicht durch Ihre eigenen Ansichten über Leben und Sitte durchaus leiten, und Sie werden ein gutes, herzliches Völkchen finden, gebildet genug, um, wenn man nur die rechte Saite anschlägt, sich mit den gebildetsten zu messen, vernünftig genug, um die Grenzen guter Sitten festzuhalten und das Lächerliche der unsitte zu belächeln.

Der Fremde aus der Mark lächelte. "Er liebt sein Land," dachte er, "und er verteidigt es mit Wärme, weil er es nicht sinken lassen will oder Besseres nie gesehen hat." Er entschuldigte bei sich die warme Verteidigung des Schwaben; aber dennoch konnte er es sich nicht versagen, einen kleinen Triumph über jenen zu feiern. Er machte ihn mit der Geläufigkeit der Zunge und jener Ubung, über ein Nichts schnell und vieles zu sprechen — die man im Norden unseres Vaterlandes häufiger als im Süden treffen soll —, auf andere große Vorzüge aufmerksam, welche die nördlichen Provinzen Deutschlands vor den südlichen voraushaben. Erzählte immer zwanzig Schriftsteller und Dichter seiner Heimat gegen e inen im Süden, und der Schwabe konnte endlich dem Schwall seiner Beredsamkeit nur dadurch Einhalt tun, daß er, als sie um eine Ecke der Landstrasse bogen, auf die erhabenen Ruinen von Heidelberg hinwies; der Fremde betrachtete sie staunend und mit Entzücken. Ihre rötlichen Steinmassen waren von der sinkenden Herbstsonne noch höher gerötet, und der Abend ließ die Bäume und Gesträuche, die in den verfallenen Mauern wachsen, im dunkelsten, wundervollsten Grün erscheinen. Durch die hohen, offenen Fensterbogen blickte der schwärzliche Wald hervor; den Gipfel des Berges umzog jener duftige Schleier, welcher allen Gegenständen so eigenen geheinmisvollen Reiz verleiht, und von oben herab spiegelten sich die rötlichen Abendwölkchen und der dunkelblaue Himmel in den Fluten de:. Neckars.

"Und haben Sie solche Poesie in der Marks" fragte der Jäger mit gutmütigem Lächeln.

Der Fremde schien es nicht zu hören; unverwandt hingen seine Blicke an diesem reizenden Schauspiel; er mochte fühlen, daß es sich an solchen Stellen über Poesie nicht gut streiten lasse.

Nach diesem Vorfall kehrte übrigens auf dem Gesicht des Jägers die vorige Ruhe und Unbefangenheit zurück; er stritt über keinen Gegenstand, schien sogar über manche Dinge sich behutsam auszudrücken.

Als aber das Gespräch unter den beiden Reisenden, da die hereinbrechende Nacht ihre Aufmerksamkeit auf die Gegend hemmte,



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auf einige neuere Ereignisse und auf Politik kam, schien es dem jungen Mann aus der Mark, obgleich er die Züge seines Nachbars nicht mehr gut unterscheiden konnte, sein Atem gehe schneller, seine Rede werde wärmer, kurz, man habe einen Punkt der Unterredung getroffen, welcher für den Schwaben von hohem Interesse sei. Man sprach von der Gestalt und der innern Kraft Deutschlands. Mit einer gewissen Erbitterung zog jener eine Parallele zwischen jetzt und sonst, die nicht gerade zum Vorteil der neueren Zeit ausfiel. Der Fremde, dessen Grundsätze im ganzen nicht mit diesen Ansichten übereinstimmen mochten, gab ihm dennoch, nicht ohne einiges Selbstgefühl, die letzten Sätze zu. Unglücklicherweise fing er seinen Satz Ich bin ein Preuße" an und reizte dadurch unwillkürlich den Unmut des jungen Mannes noch mehr auf. Denn dieser vergaß nun jede Rücksicht der Klugheit; mit einer Beredsamkeit, die an jedem andern Orte dienlich gewesen wäre, suchte er seine Meinung durchzuführen, und nichts war ibm zu hoch, das er nicht mit seinem eigenen Maßstab gemessen hätte. Der Preuße, der solche Leute nur vom Hörensagen und unter dem gefährlichen Namen "Köpenicker" kannte, erschrak über diese Äußerungen. Konnte nicht der Postillon, konnte nicht ein Passagier im Bauch des Wagens diese Reden vernommen haben! Spandau, Köpenick, Jülich und alle möglichen festen Plätze schwebten vor seiner aufgeregten Phantasie, und das beste Mittel, seinen Nachbar zum Stillschweigen zu bringen, schien ihm, wenn er sich in die Ecke drückte und sich schlafend stellte.2.

Als die beiden Reisenden am Morgen nach dieser gefährlichen Nacht erwachten, sahen sie in geringer Entfernung die Türme von Heilbronn aus dem Nebel tauchen. "Hier endet meine Fahrt," sagte der Herr im grünen Rock, indem er auf die Stadt deutete, "und Ihnen danke ich es," setzte er mit einem freundlichen Blick auf seinen Nachbar hinzu, "daß ich diesmal diesen Wagen ungern verlasse. Wie angenehm wäre mir noch ein Tag in Ihrer Gesellschaft vergangen!

"Es ist mein Los schon seit vierzehn Tagen gewesen," erwiderte der Brandenburger. "Der enge Raum macht nachbarlich; Menschen, welche vielleicht in einer größeren Stadt, selbst wenn sie Zimmernachbarn gewesen wären, jahrelang unter sich kein Wort gewechselt hätten, treten sich nahe durch den so natürlichen Drang nach Mitteilung. . Der Platz an meiner Seite wechselte öfter als in einer Schlacht, doch darf ich mir Glück wünschen, Sie wenigstens so lange



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zu meinem Nachbar gehabt zu haben; denn so bin ich auf die angenehmste Weise in Ihr Vaterland eingeführt worden.

"Werden Sie länger in Württemberg verweilen?"

Ich besuche Verwandte meiner Mutter," erwiderte der Fremde; "je nachdem sie und die Residenz mir gefallen, werde ich länger oder kürzer verweilen."

Wir werden uns schwerlich wiedersehen," sagte der Grüne, "ich wüsste wenigstens nicht, was mich nach Stuttgart treiben sollte. Vergessen Sie aber nie, was ich Ihnen über den Charakter meiner Landsleute sagte. Können Sie nach ihrer Denkungsart, nach ihren Sitten sich ein wenig richten, so werden Sie überall gesucht und willkommen sein. Unsern Damen sind Sie dann als Fremder nur um so interessanter, und unsern Männern — nun, da kommt es immer auf den Zirkel an, in welchem Sie leben; nur müssen Sie," setzte er mit einem Lächeln hinzu, das zwischen Ironie und gutmütiger Freundlichkeit schwebte, "nie zu deutlich und fühlbar machen — —

"Nun?" rief der Fremde erwartungsvoll, als jener innehielt.

"Daß Sie kein Deutscher, sondern ein Preuße sind."

Das schmetternde Horn des Postillons und das Rasseln des schweren Wagens auf dem Steinweg übertönte die Antwort des Fremden. Den Passagieren ward in dieser Stadt eine kleine Rast vergönnt, und der Fremde wollte seinen Nachbar vom Eilwagen noch einmal zum Frühstück einladen. Doch schon unter der Türe des Posthause:: überreichte diesem ein alter Reitknecht mehrere Briefe; er riß den einen hastig, errötend auf, und sein Reisegefährte bemerkte im Vorübergehen, daß es die Handschrift einer Dame sei. Der Fremde trat etwas verstimmt in dein Wirtshaus ans Fenster; er sah den Jäger angelegentlich mit seinem Diener sprechen , und bald darauf führte man zwei schöne Pferde vor. In demselben Augenblick trat der grüne Herr eilends in den Saal, seine Augen suchten und fanden den Reisegefährten; er trat zu ihm, doch nur, um schnell, aber herzlich von ihm Abschied zu nehmen, und so konnte ihn der Brandenburger zu seinem großen Verdruß nicht einmal nach dem Haus und der Familie Käthchens von Heilbronn fragen, eine Frage, die er sich unter seinen Reisenotizen aufgezeichnet und doppelt unterstrichen hatte. Doch der Anblick des Jägers, wie er sich so leicht in den Sattel des schönen, stolzen Pferdes schwang, wie er so majestätisch über den Markt hinsprengte, söhnte ihn mit der beinahe unhöflichen Hast aus womit jener von ihm Abschied genommen hatte. Er gestand sich, selten eine so wohlgebaute Gestalt mit einem so schönen, ausdrucksvollen Gesicht vereint gesehen zu haben.



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"Wer war dieser Herr im Grunen Kleids" fragte er den Kellner, der am andern Fenster dem Reiter nachblickte.

"Mit dem Namen kann ich nicht dienen," antwortete jener; "ich weiß nur, daß man ihn ,Herr Baron' nennt, daß sein Vater einige Stunden von hier am Neckar Guter hat und daß sie sehr reich sein sollen; in die Stadt kommt er selten."

Nicht ganz zufrieden mit dieser Erklärung, setzte sich der junge Mann wieder in den Wagen. Sein Vater, der früher einmal in diesem Lande gewesen war, hatte ihm so viel Sonderbares von schwäbischen Baronen' erzählt, daß er in seinem liebenswürdigen und gewandten Reisegefährten keinen solchen vermutet hätte. Sein neuer Nachbar, der ihm gleich in der ersten Viertelstunde vertraute, daß er ein Hopfenhändler aus Bayern sei, machte ihm den Verlust, den er erlitten, nur um so fühlbarer, und da er am Hopfenbau wenig Unterhaltung fand, beschäftigte er sich damit, über den Charakter des jungen Mannes, der ihn verlassen hatte, nachzudeuten und dann noch einmal alle Erwartungen und Hoffnungen zu durchlaufen, die er sich von seinen Verwandten, zu welchen er reiste, gemacht hatte. Von dem Oheim versprach er sich für seine unterhaltung wenig; er mußte nach seiner Berechnung ein vorgerückter Sechziger sein: mürrisch, ungesellig und eigensinnig hatte ihn sein Vater schon vor fünfundzwanzig Jahren gekannt, und solche Eigenschaften pflegen sich im Alter nicht zu verbessern. Desto mehr versprach sich der junge Mann von Fräulein Anna, seiner Cousine Von einem seiner Freunde, der längere Zeit in Schwaben gelebt hatte, war sie ihm als eine Zierde dieses Landes genannt worden. Ein angenehmes, trauliches Verhältnis von fünf bis sechs Wochen schien ihm ganz wünschenswert, und so eifrig war seine Berechnung der Mittel, die ihm zu Gebot standen, sich liebenswürdig zu zeigen, so gewiß war er sich des Eindrucks bewußt, den seine Person, sein Wesen unfehlbar machen müsse, für so leicht zu erobern hielt er das Herz eines ,Fräuleins in Schwaben', daß ihm nicht einmal der Gedanke kam, die schöne Cousine Anna könne sich vielleicht schon versehen haben.

Er ließ sich, in der Residenz angekommen, sogleich nach dem Hause führen, wo sein Oheim sonst gewohnt hatte;

Aber mit dem Donnerworte
Ward ihm aufgetan.
Die du suchest —

wohnen schon seit langer Zeit auf einem Landgut. sie werden auch im nächsten Winter nicht zurückkehren, und selbst dies Hans gehört ihnen nicht mehr eigen.



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Der Reisende aus Brandenburg war schnell entschlossen. Er benützte diesen Tag, um sich die freundliche Stadt zu betrachten, und eilte dann denselben Weg, welchen er hergekommen war, zurück nach dem unteren Neckartal, wo der Landsitz seines Oheims lag.

Je näher er dieser reizenden Gegend kam, desto angenehmer war es ihm, daß er einige Wochen auf dem Lande zubringen sollte. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß man auf dem Lande, abgeschnitten von den Zerstreuungen der Stadt und jener Formen enthoben, die man dort für schön und notwendig, hier für überflüssig und lästig hält, schnell bekannt und befreundet wird, daß man sich, auf eine kleine Gesellschaft beschränkt, schneller naherückt. — Etwa eine Stunde von dem Gut bog der Weg von der Hauptstraße ab. Der Kutscher, den er gemietet hatte, deutete auf einen Fußpfad, der in den Wald lief; der Fahrweg winde sich um den ganzen Berg her, sagte er, doch auf diesem Pfad könne man zu Fuß in bei weitem kürzerer Zeit zum Schloß Thierberg hinaufgelangen. Der junge Mann stieg aus; er war bisher auf einem Bergrücken gefahren, sah nun eine mäßige, mit Wald bewachsene Anhöhe vor sich und schloß, weil er gehört hatte, das Schloß seines Oheims liege im Neckartal. man müsse von dieser Höhe eine weite Aussicht in da:: Tal genießen. Er ließ den Wagen weiterfahren und stieg den Seitenpfad hinan. Ein Wald von prachtvollen Buchen nahm ihn auf. Nie hatte er diesen Baum so kräftig, so majestätisch gesehen; zwischendurch erblickte er hie und da Eichen und schöne Eschen, und zu seiner nicht geringen Verwunderung Waldkirschbäume von ungewöhnlicher Höhe. Nach und nach wurde ihm das Steigen schwerer; der Berg schien sich auf einmal steiler zu erheben, und er war oft versucht, die unbequeme Eleganz zu verwünschen, in welche ihn sein Berliner Schneider gekleidet hatte. Endlich hatte er den Gipfel erreicht; aber noch öffnete sich keine Aussicht. Die Bäume schienen dichter zu werden, je mehr sich der Pfad wieder senkte, und als sich, um seine Ungeduld zu vermehren, der kleine Pfad in zwei noch kleinere teilte, die nach verschiedenen Richtungen liefen, schmälte er auf den Kutscher und auf seine eigene Torheit, die ihn verleitet hatten, in einem fremden Wald sich zu verirren. Erschlug endlich den Weg rechts ein und sah, nachdem er einige hundert Schritte gegangen war, zu seiner großen Freude ein buntes Kleid durch das Laub schimmern.

Er verdoppelte seine Schritte und war nicht wenig betroffen, als er plötzlich vor einer jungen Dame stand, die im Schatten einer alten Eiche auf einer Bank saß. Sie hatte ein Buch in der Hand, von welchem sie, als sein Schritt in den abgefallenen Blättern rauschte, langsam und ruhig ihre schönen Augen erhob; doch auch



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sie schien betroffen, als es ein junger, städtisch gekleideter Herr war, den sie in dieser Einsamkeit vor sich sah; sie errötete flüchtig, aber sie senkte ihren Blick nicht, der fragend an dem unerwarteten Besuch hing. Der junge Mann verbeugte sich einigemal, ehe er recht wußte, was er sagen wollte. "Ist wohl das schöne Mädchen Cousine Anna?" war alles, was er in diesem Augenblicke zu denken und sich zu fragen vermochte, und erst als er sich diese Frage schnell bejaht hatte, trat er näher zu der jungen Dame, die indessen ihr Buch schloß und von ihrem Bänkchen aufstand. "Bitte um Vergebung," sagte er, " wenn ich Sie gestört haben sollte; ich fürchte, von dem Wege abgekommen zu sein. Kann ich hier nach dem Schloß des Herrn von Thierberg kommen?"

"Auf diesem Fußpfad nicht wohl, wenn Sie hier nicht bekannt sind," erwiderte sie mit einer tiefen, aber klangvollen Stimme; Sie haben oben einen Fußpfad links gelassen, der nach dem Schloß führt." Sie verbeugte sich nach diesen Worten, und der junge Mann ging seinen Weg zurück; doch kaum hatte er einige Schritte gemacht, so zog ihn ein unwiderstehliches Gefühl zurück. Das schöne Mädchen stand noch einmal von ihrem Sitz auf, als sie ihn zurückkehren sah; doch diesmal schien Bestürzung ihre Wangen zu färben, und eine gewisse Ängstlichkeit blickte aus ihren großen Augen. Auf die Gefahr hin, für unbescheiden zu gelten, fragte der Reisende, ob er vielleicht die Ehre gehabt habe, mit Fräulein von Thierberg zu sprechen.

"Ich heiße so," antwortete sie etwas befangen.

"Eh Sion, nau chère cousine ! sagte er lächelnd, indem er sich artig verbeugte; "so habe ich das Vergnügen, Ihnen Ihren Vetter Rantow vorzustellen."

"Wie, Vetter Albert!" rief sie freudig. "So haben Sie endlich doch Wort gehalten? Wie wird sich der Vater freuen! Und was macht Onkel und die liebe Tante, und wie sind Sie (gereist: So drängte sich eine Frage nach der andern über die schönen Lippen, und Vetter Rantow fand, verloren in sein Glück, eine schöne Muhme zu besitzen, keine Worte, alle nach der Reihe zu beantworten. Wie reizend, wie naiv klang ihm die Sprache! Er konnte nicht sagen, daß sie gegen irgend eine Regel des Stils gesündigt hätte, und doch deuchte es ihm, es seien ganz andere Worte, ganz andere Töne, als die er in seinem Vaterland gehört hatte. Erfühlte, er sei zu schnell gereist, als daß er allmählich auf diesen Kontrast vorbereitet worden wäre.

"Dies ist mein Lieblingsspaziergang," sagte sie, indem sie langsam neben ihm herging. "Zwar ist der Weg im Tal noch angenehmer, der Neckar macht schöne Windungen, alte Burgen schmücken die Höhen — und die unsrige spielt dabei nicht die schlechteste Rolle,



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wenigstens was das Altertum betrifft —, Dörfer und sogar ein Städtchen sieht man Tal auf und ab; aber der Rückweg ins Schloß hinauf ist dann so steil und mühsam, und auf der Straße gehen mir zu viele Leute. Der Wald hier liegt nicht höher als das Schloß, in einem halben Stündchen geht man herüber und ist dann so köstlich einsam, als sätze man in seinem Boudoir bei verschlossenen Türen."

"Bis dann der Zufall einen Vetter aus Preußen hereinwehen muß, der die köstliche Einsamkeit stört." unterbrach sie Rantow.

"Im ganzen genommen," fuhr sie fort, "ist es im Schloß gerade auch nicht geräuschvoll. Es ist so einsam als irgend ein bezaubertes Schloß in ,Tausend und eine Nacht'. Außer der Dienerschaft und jni hintern Flügel dem Amtmann, den man nie zu sehen bekommt, sind wir, der Vater und ich, die einzigen Bewohner; ja, die Einsamkeit im Schloß ist oft so schrecklich und traurig, daß ich mich lieber in die Waldeinsamkeit flüchte, wo das Rauschen der Bäume und der Gesang der Vögel doch noch einiges Leben verkünden."

3.

Überrascht stand der junge Mann stille, als sie aus dem dichten Holz durch eine Wendung des Weges auf einmal dem Schloß gegenüberstanden . Die Bewohner des südlichen Deutschlands sind von Jugend auf an Anblicke dieser Art gewöhnt. Man trifft in Franken und Schwaben selten ein Tal von der Länge einiger Stunden, in welches nicht eine Burg oder zum mindesten ein gebrochener Turm und ein halbes Tor herabschauten. Die natürliche Beschaffenheit des Landes. die vielen Berge und kleinen Flüsse, überdies die eigentümliche Verfassung des zahlreichen Landadels begünstigten oder nötigten in früherer Zeit zu diesen befestigten Wohnungen. Aber der Norden unseres Vaterlandes trägt weniger Spuren dieser alten Zeit; die weiten Ebenen boten keine so natürliche Befestigung wie die Felsen und Gebirgsausläufer des Südens, und hatte auch hier und dort eine solche Feste im platten Land gestanden, so war sie nur desto schneller dem Verfall und der Zerstörung Preisgegeben. Die Nachbarn teilten sich brüderlich in die teuren Steine, und ihr Gedächtnis verwehte der Wind, der über die Ebene hinstrich. Darum war es dem jungen Mann aus der Mark ein so überraschender Anblick, sich in solcher Nähe einer dieser altertümlichen Burgen gegenüber zu sehen, um so überraschender, da er durch diese düsteren, tiefen Tore als Gast einziehen, in jenem altertümlichen Gemäuer wohnen sollte. Doch bald erfüllte kein anderer Gedanke mehr als der malerische Anblick. der sich ihm darbot, seine Seele. Der alte, schwärzlichgraue



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Wartturm war auf der Mittagsseite von oben bis in den Graben hinab mit einem Mantel von Efeu umhängt. Nus den Ritzen der Mauer sproßten Zweige und grüne Ranken, und um das Tor zog sich ein breites Rebengeländer, dessen zarte Blätter und Fasern sich mit sanfter Gewalt um die rostigen Angeln und Ketten der Zugbrücke geschlungen hatten. Zur rechten Seite des Schlosses hinderte der dunkle Wald die Aussicht aber links, an den hohen Mauern vorüber, tauchte das Auge hinab in die Tiefe de:, schönen, fruchtbaren Neckartales, schweifte hinauf, den Fluß entlang, zu Dörfern und Weilern und weit über die Weinberge hin nach fernen blauen Gebirgen.

"Das ist unser Thierberg," sagte da:: Fräulein; " es scheint, die Gegend habe einigen Reiz für Sie, Vetter, und ich möchte Ihnen wahrlich raten, recht oft aus dem Fenster zu sehen, um vor unserer Einsamkeit und diesem häßlichen, alten Gemäuer nicht zu erschrecken!"

"Ein häßliches Gemäuer nennen Sie diese alte Burg?" rief der Gast. "Kann man etwas Romantischeres sehen als diese Türme, mit Efeu bewachsen, diesen Torweg mit den alten Wappen, diese Zugbrücke, diese Wälle und Gräben? Glaubt man nicht, das Schloß von Bradwardine oder irgend ein andere aus Scottischen Romanen zu sehen? Erwartet man nicht, ein Sickingen, ein Götz werde uns jetzt eben aus dem Tore entgegentreten —"

"Für diesmal höchstens ein Thierberg," erwiderte das Fräulein lachend, "und auch von diesen spukt nur noch einer in den fatalen Mauern. Dergleichen Türme und Zinnen liebe ich ungemein in einem Roman oder in Kupfer gestochen; aber zwischen diesen Mauern zu wohnen, so einsam, und winters, wenn der Wind um diese Türme heult und das Auge nichts Grünem mehr sieht als jenen Eppich dort am Turm — Vetter! mich friert schon jetzt wieder, wenn ich nur daran denke. Doch kommt, Herr Ritter, das Burgfräulein will Euch selbst einführen."

Der düstere, schattenreiche Hof, in welchen sie traten, kühlte etwas die warme Begeisterung de: Gastes. Ersah sich flüchtig um, als sie hindurchgingen, und bemerkte, daß der Platz für ein Turnier denn doch nicht groß genug gewesen sein müsse, erschrak vor einem halb zerstörten Turm, dessen Rudera drohend über die Mauer herein hingen, erstaunte über den scharfen Zahn der Zeit, der in die dicke Mauer mächtige Risse genagt und dem Auge eine freie Aussicht in da: Tal hinab geöffnet hatte, und gab in seinem Herzen schon auf den ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe, wo ein heftiger Zugwind durch schlecht verwahrte Fenster blies, der Bemerkung seiner Cousine über die Wohnlichkeit des Hauses vollkommen Beifall. Sechs bis acht Hunde begrüssten in einer großen, mit Backsteinen



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gepflasterten Halle das Fräulein mit freundlichem Klaffen und Wedeln, und ein gefesselter Raubvogel, der in einer Ecke auf der Stange satz, stieß ein unangenehmes Geschrei aus und schwenkte die Flügel. "Das ist nun unsere Antichambre, unser Hofgesinde," sagte Anna, indem sie lächelnd auf die Tiere zeigte; "verwünschte Prinzen und Prinzessinnen, die Sie entzaubern können. — Doch lassen Sie uns jetzt eintreten," setzte sie nach einer Weile ernster hinzu; " in diesem Zimmer ist der Vater.

Sie öffnete eine hohe, schwere Flügeltüre, und durch das altfränkisch ausstaffierte Gemach fiel der Blick des Jünglings auf einen alten Mann, der in einer tiefen Fensterwölbung saß, wie es schien, in ein Zeitungsblatt vertieft. Bei dem Gruß seiner Tochter sah er sich um, und als er den Fremden erblickte und Anna seinen Namen nannte, stand er auf und ging ihm langsam, aber festen Schrittes entgegen. Mit Bewunderung sah sein Neffe die hohe, gebietende Gestalt, die ihn unwillkürlich an jenen Wartturm dieser Burg erinnerte , den so viele Jahre nicht einzustürzen vermochten und dessen Alter nur der Efeu anzeigte, der sich an ihm emporgeschlungen hatte. Zwar hatte die Zeit in diese fünfundsechzigjährige Stirne Furchen gegraben, um die Schläfe fielen dünne, graue Haare, und der Bart und die Augenbrauen waren silberweiß geworden; aber das Auge leuchtete noch ungetrübt, und der Nacken trug den Kopf noch so aufrecht wie in jugendlicher Kraft, und die Hand gab einen beinahe kräftigeren Druck, als der Neffe zu erwidern vermochte.

"Bist willkommen in Schwaben," sagte er mit tiefer, kräftiger Stimme; "'s war ein vernünftiger Einfall meiner Frau Schwester, daß sie dich herausschickte. Mach dir's bequem; setz dich zu mir ans Fenster, und du, Anna, bringe Wein!"

So war der Empfang auf Thierberg. So herzlich und offen er aber auch sein mochte, so konnte doch der junge Mann mehrere Stunden lang ein gewisses unbehagliches Gefühl nicht verdrängen. Er hatte sich den Oheim ganz anders gedacht. Er glaubte nach der Beschreibung. die ihm sein Vater gemacht hatte, einen rauhen, aber fröhlichen alten Landjunker zu finden, der seine Hasen hetzt, mit Laune die Händel seiner Bauern schlichtet, von seinen Kleppern gerne erzählt und zuweilen mit seinen Freunden und Nachbarn ein Glas über Durst trinkt. Er bedachte nicht, wie fünfundzwanzig Jahre und eine so verhängnisvolle Zeit, wie die, welche dazwischen lag, auf diesen Mann gewirkt haben konnten, Das ruhige, ernste Auge des Oheims, das prüfend auf seinen Zügen zu ruhen schien, die ungesuchten, aber gründlichen Fragen, Womit er den Neffen über sein bisheriges Leben und Treiben ins Gebet nahm. das ironische Lächeln, das hie und da bei einer Äußerung des jungen Mannes



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um seinen Mund blitzte, dies alles und das ganze gewichtige Wesen des Alten imponierten ihm auf eine Weise, die ihm höchst unbequem war. Er konnte sich kein Herz fassen, den Oheim ebenso traulich zu behandeln, wie jener ihn; er kam sich vor wie ein angehender Staatsdiener, dem ein Minister Audienz gibt, und es war dies zu seinem nicht geringen Verdruß da:, zweite Mal, daß er sich über die ,Landjunker in Schwaben' getäuscht sah.

Auch seine Base erschien ihm ganz anders, als er sie gedacht hatte. Erfand zwar alle jene liebenswürdige Natürlichkeit, jenes unbefangene, ungesuchte Wesen, was man ihm an den Töchtern dieses Landes gerühmt hatte; aber diese Unbefangenheit schien nicht aus Unwissenheit, sondern aus einem feinen, sichern Takt hervorzugehen, und was sie sprach, zeugte von einem so vortrefflich gebildeten Geist, daß ihre Natürlichkeit nur darin zu bestehen schien, daß sie alles Geistreiche, sei es witzig oder erhaben, wie etwas Natürliches, Angebornes vorbrachte, daß es nie als etwas Erlerntes, als etwas Gesuchtes erschien. Am ärgerlichsten war es ihm, daß sie ihn schon nach den ersten Stunden zu durchschauen schien. Die ausgesuchten Artigkeiten, die er ihr sagte, zog sie ins Komische, den feineren Komplimenten wich sie auf unbegreifliche Art aus; wollte er ihr nur den zarten, in Berlin gebildeten jungen Mann zeigen, so nannte sie ihn gewiß immer " Herrn von Nantow" . Und dennoch mußte er sich gestehen, daß er nie so viel Harmonie der Bewegung, der Miene, der Gestalt und der Stimme gesehen habe. Ihr ganzes Wesen erschien ihm wie da:, Hauskleid, das sie jetzt eben trug. Es war einfach und von bescheidenen Farben, und dennoch kleidete es ihre feine, schlanke Gestalt mit jener geschmackvollen Eleganz, die auch dem anspruchslosesten Gewand einen geheimnisvollen Zauber verleiht, ein Toilettengeheimnis, worüber, so viel der junge Mann sich erinnerte, noch nie ein Modejournal Aufschluß gab und das ihm mehr das Zeichen und Symbol einer harmonischen Seele als die Folge einer sorgfältigen Erziehung zu sein schien.

Dieselbe Übereinstimmung glaubte er zwischen dem alten Herrn und dem Gemach zu finden, in welches er zuerst geführt worden war. Es war der verblichene Glanz eines früheren Jahrhunderts, was ibm von den Winden und Hausgeräten entgegenblickte, die schweren, gewirkten Tapeten, mit Leisten befestigt, die einst vergoldet waren und deren Farbe jetzt ins Dunkelbraune spielte, die breiten Armstuhle mit ausgeschweiften, zierlich geschnitzten Beinen, die Polster, mit grellen Farben künstlich ausgenäht, mit Papageien, Blumentöpfen und den Bildern längst begrabener Schoßhündchen geziert. Wie manchen Wintertag mochten seine Ahnfrauen über dieser mühsamen Arbeit gesessen sein, die ihnen vielleicht einst für das



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Vollendetste galt, was der menschliche Geschmack je ersonnen, und die jetzt ihrem Urenkel geschmacklos, schwerfällig und, hätten sich nicht so ehrwürdige Erinnerungen daran geknüpft, beinahe lächerlich erschien! Und doch kam ihm dies alles, der ehrwürdigen Gestalt seines Oheims gegenüber, wie durch Altertum und langjährige Gewohnheit geheiligt vor. Ersah, man sei in Thierberg erhaben über den Wechsel der Mode, und wenn er hinzufügte, was ihm sein Vater über die mancherlei Unglücksfälle und die mißlichen Umstände, worin sich der Oheim befand, gesagt hatte, so fühlte er sich beschämt, daß er diese Umgebungen nur einen Augenblick habe grotesk und sonderbar finden können. Er fühlte, daß er unverschuldeter Armut, wenn sie sich in so ernstem und würdigem Gewande zeige, seine Achtung nicht versagen könne. Ja, vor diesen Wänden, diesem Geräte und vor dem unscheinbaren, groben Hausrock des Oheims erschien er sich selbst, wenn er einen Blick auf seine modische und höchst unbequeme Tracht warf, wie ein Tor, beherrscht von einem Phantom, das ein Weiser lächelnd an sich vorübergleiten läßt.

Dies waren die Eindrucke, welche der erste Abend in Thierberg auf die Seele des jungen Rantow machte. So ernst sie aber am Ende auch sein mochten, so konnte er doch ein Lächeln nicht unterdrücken, als mit dem Schlage acht Uhr, den die alte Schloßuhr zögernd und zitternd angab, eine Flügeltüre am Ende des Zimmers aufsprang, ein kleiner Kerl in einem verschossenen, bordierten Rock, der ihm weit um den Leib hing, hereintrat, sich dreimal verbeugte und dann feierlich sprach: "Le souper est servi." o

"S'il vous plaît," sagte der Alte mit ernsthaftem Gesicht und einer Verbeugung zu seinem Neffen, reichte seinen Arm der schönen Anna und ging langsamen Schrittes dem Speisezimmer il.

4.

Mit den Flügeltüren des Speisesaales und dem ersten Blick, den er hineinwarf, hatte sich übrigens dem Gast aus Brandenburg ein weites Feld der Erinnerung geöffnet. Von diesem gemalten Plafond, der die Erschaffung der Welt vorstellte, von dem schweren Kronleuchter, den der Engel Gabriel als Sonne aus den Wolken herabhängen ließ, von den gelben Gardinen von schwerer Seide batte ihm seine Mutter oft gesprochen, wenn sie von ihrem väterlichen Schloß in Schwaben und von dem ungemeinen Glanz erzählte, welcher einst durch ihre hochselige Frau Großmutter, die Tochter eines reichen Ministers, in die Familie und in die schöneren Appartements zu Thierberg gekommen sei, Schon seine Mutter



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hatte in ihrer Kindheit diese Prachtstücke mit großer Ehrfurcht vor ihrem Altertum betrachtet, und seit dieser Zeit hatten sie zum mindesten dreißig bis vierzig Jahre gesehen.

"Das ist der Familiensaal," sagte während der Tafel der alte Thierberg, als er die neugierigen Blicke sah, womit sein Neffe dieses Gemach musterte. "Vor Zeiten soll man es die Laube genannt haben, und meine Ahnherren pflegten hier zu trinken. Mein Großvater selig ließ es aber also einrichten und schmücken. Er war ein Mann von vielem Geschmack und hatte in seiner Jugend mehrere Jahre am Hof Ludwigs Xlv, zugebracht. Auch meine Frau Großmutter war eine prächtige Dame, und sie beide haben das Innere des Schlosses auf diese Art eingeteilt und dekoriert."

"Am Hofe Ludwigs Xlv. !" rief der junge Mann mit Staunen. Da:, ist eine schöne Zeit her; wie mancherlei Gäste mag dieser Saal seit jener Zeit gesehen haben!"

"Viele Menschen und wunderbare Zeiten," erwiderte der alte Herr. "Ja, es ging einst glänzend zu auf Thierberg, und unsere Gäste befanden sich bei uns nicht schlimmer als bei jedem Fürsten des Reichs. Miau komite kein fröhlicheres Leben finden als das auf diesen Schlössern, so lange unsere Ritterschaft noch blühte. Da galt noch unser Ansehen, unsere Stimme. Man war ein Edelmann so gut als der König von Frankreich, und ein Freiherr war ein freier Mann, der nichts über sich kannte als seinen gnädigen Herrn, den Kaiser. und Gott; jetzt —

"Vater!" unterbrach ihn Anna, als sie sah, wie die Ader auf seiner Stirn anschwoll und wie eine dunkle Röte, ein Vorbote nahenden Sturmes, auf seinen Wangen aufzog. "Vater!" rief sie mit zärtlichen Tönen, indem sie seine Hand ergriff. "Nichts mehr über dies Thema! Sie wissen, wie es Sie immer angreift."

"Törichtes Mädchen!" erwiderte der alte Herr, halb unwillig, halb gerührt von der bittenden Stimme seiner schönen Tochter. Warum sollte ein Mann nicht stark genug sein, nach Jahren von d e m zu sprechen, was er zu dulden und zu tragen stark genug war Der Vetter kennt nur unsere Verhältnisse, wie sie jetzt sind. Er ist geboren zu einer Zeit, wo diese Stürme gerade am heftigsten wüteten, und aufgewachsen in einem Lande, wo die Ordnung der Dinge längst schon anders war. Er kann sich also nicht so recht denken, was die Vorfahren seiner Mutter waren, und deshalb will ich ihn belehren."

Der Freiherr nahm nach diesen Worten sein großes Glas auf dessen Deckel die sechzehn Wappenschilde seines Hauses, aus Silber getrieben, angebracht waren, und trank, um Kraft zu seiner Belehrung zu sammeln. einen langen, tüchtigen Zug. Doch Fräulein



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Anna sah an ihm vorüber den Gast mit besorglichen. bittenden Blicken an. Er verstand diesen Wint und suchte den Oheim von dieser Materie abzubringen.

"Es ist wahr," fiel er ein, noch ehe jener da:: Glas wieder auf den Tisch gesetzt hatte, "in Preußen sind die Verhältnisse anders und sind seit langer Zeit anders gewesen. Aber sagen Sie selbst, kann man ein Land in Europa finden, das, meinem Vaterland gliche? Ich gebe zu, daß andere Länder an Flächeninhalt. an Seelenzahl uns bei weitem überwiegen; aber nirgends trifft man auf so kleinem Raum eine so kräftige, durch innere Tugend imponierende Macht; es ist das Sparta der neuen Zeit. Und nicht ein glücklicher Boden oder ein milder Himmel bewirkten so Großes, sondern der Genius großer Männer hat ein Preußen geschaffen, weil sie es verstanden, die schlummernden Kräfte zu wecken, dem Volke selbst zeigten, welche Stellung es einnehmen müsse; weil sie Preußen geworden sind, ist auch ein Preußen erstanden."

Der alte Herr hatte seinem Neffen ruhig zugehört; bei den letzten Worten aber zog sich sein Gesicht zu solcher Ironie zusammen, daß der Brandenburger errötete. "Der Sohn meines Nachbars, des Generals von Willi, würde sagen, wenn er dich hörte: ,O Deutschland , Deutschland, da sieht man, wie dein Elend aus deiner eigenen Zersplitterung hervorgeht! Sie wollen nicht mehr Griechen, sondern Platäer, Korinther, Athener, Thebaner und gar — Spartaner heißen!' Ich wünsche nur," setzte er lächelnd hinzu, "daß die Spartaner nicht zum zweitenmal einen Epaminondas im Felde finden mögen. Die Schlacht bei Leuktra war kein Meisterstück der Kriegskunst unserer modernen Spartaner."

"Unser Unglück bei Jena," sagte der junge Mann verdrießlich, kann man weder dem Volt, noch dem König zuschreiben, und ich glaube, wir haben uns an Napoleon hinlänglich gerächt; wir haben nicht nur Deutschland wieder frei gemacht, sondern ihn selbst entthront ."

"So? Das seid ihr gewesen?" fragte der Oheim. "Gott weiß, ich tat bis jetzt sehr Unrecht, daß ich dieses Ereignis der halben Million Soldaten zuschrieb, die man aus ganz Europa gegen ihn zusammenhetzte. Warst du vielleicht selbst mit dabei, Neffe? Du kannst wahrscheinlich als Augenzeuge reden ?

Der Neffe errötete und schickte einen ängstlichen Blick nach Anna, die ihr Lächeln kaum unterdrücken konnte. "Ich war damals noch auf der Schule," antwortete er, "und es hat mich nachher oft geärgert, daß ich nicht mit dabei war. Ich gebe zu, daß die andern auch mitgeholfen haben; aber in allen Schlachten waren es nur die Preußen, die entschieden haben; denken Sie nur an Waterloo!



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"Seid überzeugt, ich denke daran," erwiderte der alte Herr mit großem Ernst, "und denke mit Vergnügen daran. Wenn einer ein Feind jenes Mannes ist, so bin ich es; denn er hat uns und alles unglücklich gemacht und das alte schöne Reich umgekehrt wie einen Handschuh. Aber das mit deinen Landsleuten weißt du denn doch nicht recht. Ich glaube schwerlich, daß eure jungen Soldaten, wenn sie auch wirklich so begeistert waren, wie man sagte, so viele Stöße auf ihr Zentrum ausgehalten hätten, als am achtzehnten Juni jene Engländer, die schon in allen Weltteilen gedient hatten."

"Nicht die Jahre sind es," sagte jener, "die in solchen Augenblicken Kraft geben, sondern das Selbstbewußtsein, der Stolz einer Nation und die Begeisterung des Soldaten für seine Sache, und die hat der Preuße vollauf."

Ich habe in meiner Jugend auch ein paar Jahre gedient," entgegnete der Oheim, " anno 85 bei den Kreistruppen. Damals waren die Soldaten noch nicht begeistert; darum kenne ich da: Dina nicht. Nächstens wird mich aber mein Nachbar, der General, besuchen; mit diesem mußt du darüber sprechen."

"Wie dem auch sei," fuhr der Gast fort, "es freut mich innig, daß Sie über den Hauptpunkt, über den Unwillen gegen die Franzosen und im Haß gegen diesen Korsen, mit mir übereinstimmen. Bei uns zu Hause behauptet man, daß er in Süddeutschland leider noch immer als eine Art Heros angesehen und, es ist lächerlich zu sagen, von vielen sogar als ein Beglücker der Menschheit verehrt werde."

"Sprich nicht zu laut, Freund," erwiderte der alte Herr, " wenn du es nicht mit dieser jungen Dame hier gänzlich verderben willst. Sie ist gewaltig napoleonisch gesinnt."

Sie werden darum nicht schlechter von mir denken," sagte Anna, hocherrötend,"weil ich einen Mann nicht geradehin verdammen mag, dessen unverzeihlicher Fehler der ist, daß er ein großer Mensch "

"Großer Mensch!" rief der Alte mit blitzenden Augen, "den Teufel auch, großer Mensch! Was heißt das Daß er den rechten Augenblick erspähte, um wie ein Dieb eine Krone zu stehlen? Daß er mit seinen Bajonetten ein treffliches Reich über den Haufen warf, seine herrliche natürliche Form zertrümmerte, ohne etwas Besseres an die Stelle zu setzen! Großer Mensch!"

"Sie sprechen so, weil —"

"Anna, Anna!" fiel er seiner Tochter in die Rede. "Meinst du, ich spreche nur darum so, weil er uns elend machte? Weil er diese- Tal und diesen Wald mir entriß, weil er diese Menschen, die mir und meinen Ahnen als ihren Herren dienten. an einen



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andern verschenkte? Weil die ungebetenen Gäste, die er uns schickte, das Bißchen aufzehrten oder einsteckten, was mir noch geblieben war? Es ist wahr, an jenem Tage, wo man ein fremdes Siegel über das alte Wappen der Thierberge klebte, wo man mein Vieh zählte und schätzte, meine Weinberge nach dem Schuh ausmaß, meine Wälder lichtete und die erste Steuer von mir eintrieb, an jenem Tage sah ich nur mich und den Fall meines Hauses; aber ging es der ganzen Reichsritterschaft besser? Mussten wir nicht sogar erleben, daß ein Mann von der Insel Korsika erklärte, es gebe keinen deutschen Kaiser und kein Deutschland mehr

"Gott sei es geklagt!" sagte der junge Rantow, "und uns wahrhaftig hat er es nicht besser gemacht.

"Ihr, gerade ihr seid selbst schuld daran," fuhr der alte Herr immer heftiger fort. "Ihr hattet euch längst losgesagt vom Reich, hattet kein Herz mehr für das Allgemeine, wolltet einen eigenen Namen haben und tatet euch viel darauf zu gut. Ihr sahet es vielleicht sogar gern, daß man uns Schaft fur Schaft entzweibrach, weil man uns fürchtete, so lange die übrigen Speere ein Band umschlang. Habt ihr nicht gesehen, wie weit es tam, als man in Sparta jeden Griechen einen Fremden nannten Verdammt sei dieses Jahrhundert der Selbstsucht und Zwietracht, verdammt diese Welt von Toren, welche Eigenliebe und Herrschsucht Größe nennt!"

"Aber, lieber Vater —" wollte das Fräulein besänftigend einfallen; doch der alte Herr war bei seinen letzten Worten schnell aufgestanden, und der kleine Mensch in der Thierbergischen Livree eilte auf seinen Wink mit zwei Kerzen herbei.

"Gute Nacht," wandte er sich noch einmal zu seinem Neffen; stoße dich nicht daran, wenn du mich zuweilen heftig siehst; 's ist so meine Natur. Schlafet wohl, Kinder!" setzte er ruhiger hinzu, "wenn die Gegenwart schlecht ist, muß man von besseren Zeiten träumen." Anna küsste ihm gerührt die Hand, und die erhabene Gestalt de:, alten Herrn schritt langsam der Türe zu. Rantow war so betroffen von allem, was er gehört und gesehen, daß es ihm sogar entging, welche komische Figur der Diener machte, der seinem irm zu Bette leuchtete. Die weite Staatslivree, die er trug, hing beinahe bis zum Boden herab, und die langen, bordierten Aufschläge bedeckten völlig die Hände, welche die silbernen Leuchter trugen. war anzusehen wie ein großer Pilgrim, der einen Kalvarienberg hinan auf den Knien rutscht. Um so erhabener war der Kontrast des Mannes, der ihm folgte; er erschien, als er durch den altfränkischen Saal unter den Familiengemälden seiner Ahnen vorbei schritt, wie ein wandelndes Bild der guten alten Zeit.

Als der alte Herr das Gemach verlassen hatte, stand das Fräulein



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mit einer Verbeugung gegen ihren Gast auf und trat in ein Fenster. Der junge Mann fühlte an ihrem Schweigen, daß er diesen Abend Saiten berührt haben müsse, die man anzutasten sonst vielleicht sorgfältig vermied. Sie blickte hinaus in die Nacht, und Rantow trat an ihre Seite; er hatte oft erprobt, wie sich Mißverständnisse leichter lösen, wenn man sie in einen Scherz kehrt, als wenn man mit Ernst oder Wehmut darüber spricht. Mit solch einem Scherz wollte er Anna versöhnen; doch als er zu ihr ans Fenster trat, war der Anblick, der sich ihm darbot, so überraschend, daß kein heiteres Wort über seine Lippen schlüpfen konnte. Das tiefe, schwärzliche und doch so reine Blau, das nur ein südlicher Himmel im Mondlicht zeigt, hatte er noch nie gesehen. Über Wald und Weinberge herab goß der Mond seltsame Streiflichter, und im Tal schimmerten seinen Glanz nur die zitternden Wellen des Neckars und die Spitze des dunkeln Kirchturms zurück. Der salbe Schein dieses Lichtes der Nacht hatte Annas Züge gebleicht, und in ihren schönen Augen schwamm eine Träne. Jetzt erst, als alles so still und lautlos war, vernahm man aus der Ferne die gehaltenen Töne einer Flöte, und diese Klänge verbanden sich so sanft mit dem milden Schimmer des Mondes, daß man zu glauben versucht war, es seien seine Strahlen, die so melodisch sich auf die Erde niedersenkten. Ein seliges Lächeln zog über Annas Gesicht, ihr glänzender Blick hing an einer Waldspitze , die weit in das Tal vorsprang, und ihre tieferen Atemzüge schienen der Flöte zu antworten.

"Wie prachtvoll ist selbst die Nacht in Ihrem Tal!" sprach nach einer Weile der Gast. "Wie schön wölbt sich der Himmel darüber hin, und der Mond scheint nur für diesen stillen Winkel der Erde geschaffen zu sein."

Anna öffnete das hohe Bogenfenster. "Wie warm und mild es noch draußen ist!" sagte sie, indem sie freundlich in das Tal hinabschaute. "Kein Lüftchen weht.

"Aber die Bäume neigen sich doch her und hin," erwiderte er, "sie rauschen, gewiß vom Wind bewegt.

"Kein Lüftchen weht!" wiederholte sie und hielt ihr weißes Tuch hinaus. "Sehen Sie, nicht einmal dieses leichte Tuch bewegt sich. Und kennen Sie denn nicht die alte Sage von den Bäumen? Nicht der Nachtwind ist es, der ihre Blätter bewegt, sie flüstern jetzt und erzählen sich, und wer nur ihre Sprache verstünde, könnte manches Geheimnis erfahren.

"Vielleicht könnte man dann auch erfahren, wer der Flötenspieler ist," sagte der Vetter, indem er Anna schärfer ansah; denn schon war er so eifersüchtig auf seine schöne Base geworden. daß



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ihm die süßen Töne vom Wald her und ihr Tuch, das sie noch immer aus dem Fenster hielt, in Wechselwirkung zu stehen schienen.

"Das kann ich Ihnen auch ohne die Bäume verraten," erwiderte sie lächelnd, indem sie das Tuch zurücknahm. "Das ist ein munterer Jägerbursche, der seinem Mädchen einen guten Abend spielt."

"Dazu ist aber die Entfernung doch beinahe zu groß," fuhr er fort, "manche Töne werden nicht ganz deutlich."

Im Dorf unten hört man es besser als hier oben," sagte sie gleichgültig und schloß das Fenster; "überdies sagt ja das Sprichwort: .Das Ohr der Liebe hört noch weiter als das des Argwohns."'

"Schön gesagt," rief der junge Mann; "doch das Auge des Argwohns sieht weiter als das der Liebe."

"Sie haben recht," entgegnete sie; "aber nur bei Tag, nicht bei Nacht."

Diese, wie es schien, ganz absichtslos gesagten Worte überraschten den jungen Mann so sehr, daß er beschämt die Augen niederschlug. Er warf sich seine Torheit vor, daß er nur einen Augenblick glauben konnte, es sei ein Liebhaber dieses arglosen Kindes, der dort im Walde musiziere.

"Und nun gute Nacht, Vetter," fuhr Anna fort, indem sie eine Kerze ergriff. "Träumen Sie etwas recht Schönes! Man sagt ja, der erste Traum in einem Hause werde wahr. Hans, leuchte dem Herrn Baron ins rechte Turmzimmer! Und dies noch," setzte sie auf französisch hinzu, als der Diener näher trat, "vermeiden Sie, mit meinem Vater über Dinge zu sprechen, die ihn so tief berühren. Er ist sehr heftig; doch gilt sein Zorn nie der Person, sondern der Meinung. Es war meine Schuld, daß ich Sie nicht zuvor unterrichtet habe; morgen will ich nähere Instruktionen erteilen. — Gute Nacht!"

Sinnend über dieses sonderbare und doch so liebenswürdige Wesen, folgte der Gast dem Diener, und die dumpfhallenden Gänge und Wendeltreppen, das vieleckige, in wunderlichen Spitzbogen gewölbte Gemach, das altertümliche Gardinenbett, so manche Gegenstände , die er sonst so aufmerksam betrachtet hätte, blieben diesmal ohne Eindruck auf seine Seele, die nur eifrig beschäftigt war, den Charakter und das Benehmen Annas zu prüfen und zu mustern.

5.

Als der Gast am folgenden Morgen nach einer sorgfältigen Toilette hinabging, um mit seinen Verwandten zu frühstücken, konnte er sich anfänglich in dem alten Gemäuer nicht zurechtfinden. Ein Diener, auf welchen er stieß, führte ihn dem Saale zu, und an



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den Gängen und Treppen, die er durchwandern mußte, bemerkte er erst, was ihm gestern nicht aufgefallen war, daß er im entlegensten Teil dieser Burg geschlafen habe. Auf sein Befragen gestand ihm der Diener, daß sein Gemach das einzige sei, das man auf jener Seite noch bewohnen könne, und außer dem Wohnzimmer mit den gewirkten Tapeten, dem Schlafzimmer des alten Herrn, dem Saal, dem kleinen Zimmerchen in einem andern Turm, wo Fräulein Anna wohne, sei nur noch das ungeheure Bedientenzimmer, das früher zu einer Küche gedient habe, und die Wohnung des Amtmanns einigermassen bewohnbar; die übrigen Gemächer seien entweder schon halb eingestürzt, oder werden zu Fruchtböden und dergleichen benutzt. Der stolze Sinn des Oheims und die fröhliche Anmut seiner Tochter standen in sonderbarem Widerspruch mit diesen öden Mauern und verfallenen Treppen, mit diesen sprechenden Bildern einer vornehmen Dürftigkeit. Der junge Mann war, wenn nicht an Pracht, doch an eine gewisse reinliche Eleganz in seiner Umgebung selbst an den Treppen und Wänden gewöhnt, und er konnte daher nicht umhin, seine Verwandten, die in so großer, augenscheinlicher Entbehrung lebten, für sehr unglücklich zu halten. Das romantische Interesse, das der erste Anblick dieser Burg für ihn gehabt hatte, verschwand vor dieser traurigen Wirklichkeit, und wenn er sich dachte, wie die Mauerrisse und Spalten, durch welche jetzt nur die warme Morgensonne hereinfiel, den Stürmen des Winters freien Durchgang lassen mussten, war ihm Annas Furcht vor dieser Jahreszeit wohl erklärlich.

"Und ein so zartes Wesen diesen rauhen Stürmen ausgesetzt!" sagte er zu sich, " ein so reicher und gebildeter Geist ohne Umgang, vielleicht ohne Lektüre, einen ganzen Winter lang in diesen Mauern von Schnee und Wetter gefangengehalten, einsam bei dem ernsten, feierlichen, alten Mann! Und dieser ehrwürdige Alte, der einst bessere Tage gesehen, durch die Ungunst der Zeit in unverschuldete Dürftigkeit und Entbehrung versetzt!" Von so gutmütiger Natur war das Herz des jungen Mannes, daß er vor der Tür des Saales halb und halb den Entschluß faßte, um die schöne Anna zu freien, sie in die Mark zu führen oder, wenn ihm das Leben in Schwaben besser gefallen sollte, mit ihr in die Residenz zu ziehen und für den Sommer Thierberg wieder instand setzen zu lassen.

Der Alte empfing ihn mit einem herzlichen Morgengruß und derben Händedruck, und Anna erschien ihm heute noch freund licher und zutraulicher als gestern. Das Tagewerk der Knechte wurde in seiner Gegenwart angeordnet, und mit Wonne sah er Anna eine Geschäftigkeit im Hauswesen entfalten, die er der feingebildeten jungen Dame nicht zugetraut hätte. Auch über ihre



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eigenen Geschäfte sprachen die Bewohner des Schlosses. er Alte wollte vormittags mit seinem Verwalter rechnen, Anna den Gast unterhalten und einen Spaziergang mit ihm ins Tal hinab machen. Nach Tisch wollte sie bei einigen Damen in der Nachbarschaft Besuche abstatten, der Alte das Stück Wald, das ihm noch eigen gehörte, mustern, und Albert sollte ihn begleiten. Der Abend sollte sie alle zum Spiel vereinigen. So angenehm dem jungen Mann die Aussicht war, einen ganzen Vormittag mit der schönen Cousine zu verleben. so erschreckte ihn doch ein so langer Waldspaziergang mit dem ernsten Onkel, der alle Augenblicke die sonderbarsten, vielseitigsten Kentnisse verriet und in so hohem Alter noch ein Wortgedächtnis hatte, vor welchem jenem graute. "Wie, wenn er dich den ganzen Nachmittag ausfragte, was du gelernt hast!" sagte er zu sich. "Wie schnöde wird es dann an den Tag kommen, welche Lehrstühle und -säle in Berlin du nicht besucht, und wie schnell wird er ahnen, welche du besucht hast." Einiger Trost für ihn war seine geläufige Zunge und ein wenig Disputierkunst, das einzige, was ihm von seinem Hofmeister übrig geblieben war. Doch wie einen zum Galgen Verdammten das Henkermahl noch erfreut, da: ihm der Nachrichter zu- und anrichten muß, so richtete sich seine geängstigte Seele an der schönen Gegenwart auf. Und welcher Himmel ging ihm erst auf. als der Onkel, nachdem er schon Hut und Stock ergriffen hatte, sich noch einmal zu seinem Neffen wandte. "Noch etwas!" sagte er zu ihm. "So lange Thierberg steht, ist es Sitte, daß die nächsten Verwandten gleicher Linie mit du unter sich reden; ich denke. du wirst mit Anna keine Ausnahme machen, weil du hundert Meilen nördlicher geboren bist."

Anna lächelte und schien es ganz in der Ordnung zu finden; aber mit freudeglühenden Wangen sagte der junge Mann zu; dankbar blickte er dem alten Oheim nach, der ihm in diesem Augenblick wie ein Bote der Liebe erschien. Leider vergaß er dabei, daß dieses Du nicht das süsse, heimliche Du der Liebe sei und daß ein so nahes Verhältnis zwar der Freundschaft förderlich, für die entstehende Liebe aber ein Hindernis sein könnte,

"Und du wolltest mir gestern abend noch Instruktionen geben." sagte er, indem er sich in das Fenster zu dem Fräulein setzte. "Es ist mir angenehm, wenn du mir recht viel vom Onkel sagst; ich habe ihn mir durchaus anders gedacht, und daher kam nun wohl gestern abend mein Mißgriff."

"Wie hast du dir ihn denn gedacht?" fragte Anna.

"Nun, ich setzte mir aus dem, was Mutter und Vater erzählten, ein Bild zusammen, das nun freilich nicht paßt. Seit mein Vater



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Kammerjunker an eurem hose war und nachher die Mutter nach Preußen heimführte, mögen es doch etwa dreißig Jahr sein. Damals war wohl Onkel etwa fünf- bis sechsunddreißig Jahre alt, und man nannte ihn noch immer den Junker; denn der Großvater Thierberg lebte noch. Mein Vater beschreibt ihn nun gar komisch, wenn er auf ihn zu sprechen kommt. Er war hier im Schloß aufgewachsen unter der Aufsicht seines Herrn Papa und seiner Frau Mama. Die guten Großeltern könnte ich malen. Sie müßten in den geblümten und ausgenähten Fauteuils sitzen, aufrecht und anständig frisiert; die Großmama in einem blauseidenen Reifrock, der Großpapa in einem verschossenen Hofkleid. Sie sind die regierende Familie in ihrem Lande, der Amtmann und der Pastor ihr Hofstaat. Der Erbprinz lernte hier nicht viel mehr, als sich anständig verbeugen, die Hand küssen, reiten und jagen, und die Prinzessinnen sollen ihn an Bildung weit übertroffen haben. Die zwei Jahre Garnisonsleben bei den Reichstruppen hatten ihn nicht gerade verfeinert, und so soll er immer zur größten Lust der Verwandten gedient haben, wenn er um die Zeit, da man alljährlich die Remontepferde von Leipzig brachte, in die Residenz kam. Meine Mutter wurde damal:: bei Onkel Wernau erzogen, und mein Vater kam täglich in das Haus. Wenn dann dein Vater im Herbst zum Besuch kam, verhehlte er nicht, daß er nur gekommen sei, um die schönen Remontepferde zu betrachten, zog den ganzen Tag bei Bereitern und in den Stillen umher, freute sich, mit seiner großen Pferdekenntnis glänzen zu können, und unterhielt abends die glänzende Gesellschaft bei Wernaus durch sein sonderbares Wesen, das zwar nie linkisch oder unanständig, aber im höchsten Grade naiv, ungezwungen und komisch war. Mein Vater sagte oft: ,Er war ein Bild der guten alten Zeit, nicht jener steifen Zeit, wo man den Hofton und die Reifrocke in jedem Winkel des Landes affektierte, sondern einer viel früheren. Er war da:. Muster eines schwäbischen Landjunkers."

Der junge Mann hielt inne in seiner Beschreibung, als er sah, daß seine Zuhörerin lächelte. "Du findest vielleicht diese Züge unwahr ," sagte er, "weil sie auf heute nicht mehr passen, und doch versichere ich —"

"Mir fiel nur," erwiderte sie, "als du dies das Bild eine:: schwäbischen Landjunker:. nanntest, jenes Buch ein, das beinahe mit denselben Zügen einen Landjunker in — Pommern schildert. Du versetzest nun dieses Bild in mein Vaterland, in dieses Schloß sogar; sonderbar ist es übrigens, daß beinahe kein Zug mehr zutrifft. In dem gutgemalten Bild eines Jünglings muss man sogar die Züge des Greises wieder erkennen: doch hier

"Das wollte ich ja eben sagen; ich fand den Onkel so ganz



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und durchaus anders, daß ich selbst nicht begreifen konnte, wie er einst jener muntere, naive Junge habe sein können.

"Ich spreche ungern mit Männern über Männer; ich meine, es passe nicht für Mädchen," nahm Anna das Wort; "über meinen Vater vollends habe ich nie — beinahe nie gesprochen," setzte sie errötend hinzu; "doch mit dir will ich eine Ausnahme machen. Ich zwar kenne den Vater nicht anders, als wie er jetzt ist; es ist möglich, daß er vor dreißig Jahren etwas anders war; aber bedenke, Vetter Albert, durch welche Schule er ging! Alles, alles, was ihm einst lieb und wert war, hat diese furchtbare Zeit niedergewühlt. Oder meinst du, jene Verhältnisse, so sonderbar und unnatürlich sie vielleicht erscheinen, seien ihm nicht teuer gewesen? Wie oft, wenn die alten Herren von der vormaligen Reichsritterschaft im Saal waren und sich besprachen über die gute alte Zeit, wie oft hätte ich da weinen mögen aus Mitleid mit den Greisen, die sich nun so schwer in diese neuen Gestaltungen finden!"

"Aber ging es ganz Europa besser? Denke an Spanien, Frankreich, Italien, Polen und das ganze Deutschland!" erwiderte der Gast.

"Ich weiß, was du sagen willst," fuhr sie eifrig fort; " man soll über dem Unglück und der Umwühlung eines Weltteils so kleine Schmerzen vergessen; aber wahrlich, so weit sind wir Menschen noch nicht. Auf diesen Standpunkt erhebe sich, wer kann, und ich meine, er wird auch in seiner Großherzigkeit wenig Trost, weder für sich, noch für das Allgemeine finden. Und ich möchte überdies noch behaupten, daß unter allen, die überall gelitten haben, vielleicht gerade diese Ritterschaft nicht am wenigsten litt. Andere Wunden, die man nur dem Vermögen schlägt, heilen mit der Zeit; doch wo, nicht durch Revolution, sondern im Namen gesetzlicher Gewalt, so alte, lang gewöhnte Bande zersprengt und Formen, die auf ewig gegründet schienen, zertrümmert werden, das eine Stück hierhin, das andere dorthin gerissen — da werden die teuersten Interessen in innerster Seele verwundet. Wenn so die alten Hauptleute und Räte der Ritterschaft, einige Komture und deutsche Ritter um die Tafel sitzen, so glaubt man oft, Gespenster, Schatten aus einer andern Welt zu sehen. Doch wenn man dann bedenkt, daß dies alles, was sie einst erfreute, so lange vor ihnen zu Grabe ging und diese Titel von der jungen Welt nicht mehr verstanden werden, so kann man mit ihnen recht traurig werden."

"Es ist wahr," bemerkte der Gast, "und man muh gerecht sein; sie wurden von früher Jugend in der Achtung und im ritterlichen Eifer für jene alten Formen erzogen, glänzten vielleicht eben im ersten Schimmer einer neuen Amtswürde, als das Unglück hereinbrach



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und alles auflöste; und wie schwer ist es, alten Gewohnheiten zu entsagen, alte Vorurteile abzulegen!

"Um so schwerer," setzte Anna hinzu, " Wenn man ein Recht und gesetzliche Ansprüche darauf zu haben glaubt. Hätte man jene Bande sanft gelöst, man würde sich nach und nach gewöhnt haben; so aber war es das Werk eines Augenblicks. Vermögen, Ansehen und Würden gingen zugleich verloren, und mancher wurde geflissentlich gekränkt. So wurde der Unmut über die Veränderungen zur Erbitterung. Der Vater hat oft erzählt, wie sie ihm an einem Tage alle Familienwappen von den Wänden gerissen, das Vieh geschätzt, Pferde weggeführt, die Braupfannen versiegelt und für Staatseigentum erklärt haben; die Mutter war trank, der Vater außer sich gebracht durch höhnische Behandlung der neuen Beamten, und um das Unglück vollkommen zu machen, legten sie fünfundsiebzig Franzosen in dieses Schloß, die nicht plündern, aber ungestraft stehlen durften und, wenn sie weiter zogen, nur ebensoviel neuen Gästen Platz machten."

"Wahrhaftig," rief Albert, "ein solches Schicksal hätte wohl auch den fröhlichsten Junker ernst machen müssen!"

Wie es ging, weiß ich nicht, nur so viel nahm ich mir aus Gesprächen ab, daß er seit jener Zeit ganz verändert sei. Er hielt sich meistens zu Hause, la: viel und studierte manches. Er gilt jetzt in der Gegend für einen Maun, der viel weiß, und muß in manchen Fällen Rat geben. Doch um auf die Instruktionen zu kommen, die ich dir erteilen wollte, so kannst du sie aus dem, was ich dir erzählte , selbst abnehmen. Berühre nie die früheren politischen Verhältnisse, wenn du ihn nicht wehmütig machen willst, sprich nie von dem Kaiser —"

"Von welchem Kaiser?" unterbrach sie der Vetter.

"Nun, von Napoleon, wollte ich sagen; er sieht ihn als den Urheber aller seiner Leiden an, und wenn etwa der General in diesen Tagen kommen sollte, latz dich in keinen politischen Diskurs ein; sie sind schon so heftig aneinander geraten."

"Wer ist denn der General?" fragte Albert. "Hat nicht dein Vater mich gestern aufgefordert, mit ihm über die neuere Kriegszucht zu sprechen?"

"Der General Willi ist unser Nachbar," erwiderte Anna, "und wohnt eine halbe Stunde von hier, den Neckar abwärts. Er gehört so sehr der neueren Zeit an, als der Vater der alten, und ich kann ihm seine Art, zu denken, ebensowenig verargen als meinem Vater. Er machte in den früheren Feldzügen eine sehr schnelle Karriere, und der Kaiser selbst soll ihn im Feldzuge von 1809 beredet haben, unsem Dienst zu verlassen und in die Garde zu treten. Er war



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mit in Rußland, wurde bei Chalons gefangen und zog sich nachher gänzlich zurück. Hier hat er nun ein Gut gekauft, ist ein sehr vermöglicher Mann und lebt im stillen seinen Erinnerungen. Du kannst dir denken, daß ein Mann, der in solchen Verhältnissen seine schönsten Jahre lebte, wohl auch noch heute von der Sache, für welche er einst focht, eingenommen ist er ist, was man so nennt, ein eigensinniger Napoleonist und hat wenigstens so gut als irgend einer Grund dazu."

"Wenn er ein Franzose wäre," entgegnete Albert, "dann möchte es ihm hingehen. Aber für einen Deutschen schickt es sich doch wahrhaftig nicht. Es war keine Sache , für welche er focht, sondern ein Phantom.

"Streiten wir nicht darüber," fiel ihm Anna ins Wort. "Ich bin überzeugt, wenn du diesen liebenswürdigen, edeln Mann kennen lernst, wirst du ihm seinen Enthusiasmus vergeben.

"Wie alt ist er denn?" fragte jener befangen.

"Ein guter Fünfziger," erwiderte Anna lächelnd. "Mir aber scheint er, wie gesagt, für seine Gesinnungen ein so gutes Recht zu haben als der Vater. Wurde ja doch auch, was ihm groß und erhaben deuchte, zerstört und verhöhnt, und du weißt, daß dies nicht der Weg ist, die Menschen mit dem Neueren auszusöhnen. Die beiden Herren haben große Zuneigung zueinander gefaßt, obgleich sie in ihren Meinungen so schroff einander gegenüberstehen. Oft kommt es unter ihnen zu so heftigem Streit, daß ich immer einmal einen wirklichen Bruch der nachbarlichen Verhältnisse voraussehe. Ich glaube, wenn mehr Damen zugegen wären, würde es nie so weit kommen; aber leider hat auch der General vor einigen Jahren seine Frau verloren. Sie war eine treffliche Frau, und meine Mutter schätzte sie sehr; der Vater konnte es ihr aber nie vergeben, daß sie eine Bürgerliche war, und seine Schwester, die jetzt eben bei ihm ist, pflegt immer nur auf kurze Zeit einzukehren."

Der alte Thierberg, der in diesem Augenblicke von seinem Amtmann zurückkam, unterbrach dieses Gespräch, das der junge Mann noch lange hätte fortsetzen mögen; denn Base Anna erschien ihm, wenn sie lebhaft sprach, wenn ihre Augen während ihrer Rede immer heller glänzten und ihre zarten Züge jede ihrer Empfindungen abspiegelten, immer reizender, liebenswürdiger zu werden, und er glaubte aus dem Vergnügen, das ihr die Unterhaltung mit ihm zu gewähren schien, nicht mit Unrecht einen günstigen Schluß fin sich ziehen zu dürfen.



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6.

Von allen seinen früheren reichsfreiherrlichen Rechten war dem alten Thierberg nur die Ernennung oder, wie man es dort nannte, die Präsentation des Schulmeisters übriggeblieben, und er verwünschte auch diesen letzten Rest ehemaliger Größe und Gewalt, als er nachmittags zwei Schulamtskandidaten mit dem Thierberger Prediger ins Schloß treten sah. Er hieß seinen Neffen allein in den Wald vorausgehen und versprach, bald zu folgen. Der junge Mann wanderte langsam jenen Weg hinan, welchen ihn Anna zuerst geführt hatte. Oft stand er stille und sah zurück auf diese altertümliche Burg, und gerne verweilte sein Auge auf jenem Turm, in dessen Zimmerchen Anna wohnte. Wie liebte er dieses klare, ruhige, natürliche Wesen, gepaart mit so viel Anstand und mit so feiner Bildung! Er konnte sich auf nichts Ähnliches besinnen. Oft wollten war in seiner Erinnerung die Damen der Mark diesem Schwabenland den Vorrang streitig machen. Es deuchte dem jungen Mann, er habe elegantere Formen gesehen, gewandter, zierlicher sprechen gehört; er rief sich jede einzelne Schönheit, die ihn sonst bezauberte, zurück; aber er bekannte, daß es gerade diese unbefangenheit, diese Ruhe sei, was ihm so überraschend, so neu, so liebenswürdig erschien. Sie ist zu verständig, zu ruhig, zu klar, um jemals recht lieben zu können," fuhr er in seinen Gedanken fort; "aber schätzen wird sie mich, sie wird Interesse an mir finden. Und gerade diese Klarheit, diese Art, über das Leben zu denken, muh ihr andere, bessere Verhältnisse längst wünschenswert gemacht haben. Bequeme, elegante Wohnung, eine geschmackvolle Garderobe, Wagen, Pferde, Bediente, eine ausgesuchte Bibliothek, das sind die Dinge, welche in einem solchen kalten Herzen die Liebe ersetzen; so unbefangen sie ist, so weiß sie doch in ihrer Unbefangenheit die Dame recht wohl zu spielen, und wirklich — es muss ihr als Frau von Rantow allerliebst stehen!"

Der junge Mann war unter diesen Träumen einer schönen Zukunft auf einer Höhe angelangt, wo er einen Teil de:, reizenden Neckartales überschauen konnte. Vorwärts zu seiner Linken gewahrte er eine Waldspitze, die weit vorsprang und ihm die Ausicht auf den andern Teil des Tales verdeckte. Er verglich sie mit der Lage des Schlosses und fand, es müsse dieselbe Bergspitze sein, von welcher gestern jene füßen Flötentöne herübertönten. Von dort aus, hatte ihm Anna gesagt, könne man einen weiten, freien Blick über das ganze Tal genießen, und rasch beschloß er, nicht erst den Oheim abzuwarten, sondern im Genuß einer herrlichen Aussicht auf jener Waldecke seinen Gedanken nachzuhängen. Er hatte sich die Richtung gut gemerkt, und nicht lange, so trat er auf diesen reizenden Platz heraus. . Das Tal schwenkte sich in einem schönen Bogen an Thierberg



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vorüber um diese Bergecke. Rechts und bei weitem näher, als Albert gedacht hatte, lag die Burg, durch eine breite Waldschlucht von dieser Stelle getrennt. Man konnte mit einem guten Fernglas deutlich in die Fenster von Thierberg sehen, und der junge Mann ergötzte sich eine Zeitlang an den Zügen des Pastors und seines Oheims, die in eifrigem Gespräch an der Fensterbrüstung standen. Auch Annas Turmfenster war geöffnet; aber statt ihrer holden Züge sah man nur einen kleinen Orangenbaum, den sie an die Sonne gestellt hatte. In der Mitte des Tales zog in kleineren Bogen der Neckar hin, viele freundliche Halbinseln bildend, und in kleiner Entfernung entdeckte das Auge des jungen Mannes ein neues Schloß, in dessen Fenstern sich die Mittagssonne spiegelte. Es war in gefälligem, italienischem Stil aufgebaut, die Säulen und der Balkon, schlank und zierlich, machten einen sonderbaren Kontrast mit den dunkeln, schweren Mauern des Thierbergs zu seiner Rechten, und wie diese Burg auf der Nordseite des Gebirges auf einem steilen Waldberg hing, so ruhte jenes schöne Lustschloß auf der Südseite gegenüber an einem sanften Rebhügel, dessen reinlich und nett angelegte Geländer und Spaliere sich bis an den Fluß herabzogen. Albert war in diesen reizenden Anblick versunken und dochte nach über diesen Gegensatz, welchen die beiden Schlösser, wie Bilder der alten und neuen Zeit, hervorbrachten, als feste Männertritte hinter ihm durch das Gebüsch rauschten und ihn aus seinen Betrachtungen weckten. Er wandte sich um und war vielleicht nicht weniger erstaunt als der Mann. der jetzt durch die letzten Büsche brach und vor ihm stand. — Es war sein Gefährte vom Eilwagen. Er hatte eine Jagdtasche übergeworfen, trug eine Büchse unter dem Arm, und zwei große Windhunde stürzten hinter ihm aus dem Gebüsch.

Wie, ist es möglich!" rief der Jäger und blieb verwunderungsvoll stehen. "Ich hätte mir noch eher einfallen lassen, hier auf einen Adler denn auf Sie zu stoßen!"

Sie sehen, ich benütze Ihren Rat," erwiderte der junge Mann, "ich durchspüre jeden Winkel Ihres Landes nach schönen Aussichten —"

"Aber wie kommen Sie hierher?" fuhr jener fort, indem er ihn aufmerksamer betrachtete. "Und Sie sind auch nicht auf der Reise, wie ich sehe. Haben Sie sich in der Nähe eingemietet?"

Albert deutete lächelnd auf die alte Burg hinüber. "Dort und gestehen Sie," sagte er, "ich hätte keinen schöneren Punkt wählen können."

"In Thierberg ?" rief der Jäger mit steigendem Erstaunen, indem er auf einen Augenblick leicht errötete. "Wie ist es möglich, in Thierberg? Oder sind vielleicht gar Thierbergs die Verwandten,



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"Die ich in der Stadt besuchen wollte und hier auf ihrem Landsitz traf. Ich segne übrigens diesen Geschmack meines Oheims," setzte Albert mit einer Verbeugung hinzu, "da er mich aufs neue in die Nähe meines angenehmen Reisegesellschafters führte."

"So wären Sie vielleicht ein Nantow aus Preußen?" fragte der Jäger aufs neue,

Allerdings," antwortete der Gefragte. "Aber wie folgern Sie dies? Sind Sie vielleicht mit meinem Oheim bekannt?"

"Ich besuche ihn zuweilen," sagte jener mit einem langen Seitenblick auf das alte Schloß. "Ich bin gerne dort; doch beinahe hätte ich das Glück gehabt, Ihre Bekanntschaft noch früher zu machen. Ich reiste vor einem Jahre in Ihre Heimat, und auf den Fall, daß mich meine Straße über Fehrbellin geführt hätte, war ich mit einem Brief an Ihre Eltern versehen, mit einem Brief von Ihrem Oheim selbst. — Aber habe ich zu viel gesagt, wenn ich von den Reizen unseres Neckartales sprach? Finden Sie nicht alles hier vereinigt, was man immer für das Auge wünschen kanut"

"Ich dachte schon vorhin darüber nach," versetzte Rantow. "Wie verschieden ist der Charakter dieser beiden Berge nr Seite des Tales! Hier dieser dunkle Wald mit Schluchten und Felsenrissen, durch welche sich Bäche herabgießen, die alte Burg, halb Ruine, auf diese jäh abbrennende Wand hinausgerückt. Jenseits die sanften, wellenförmigen Rebhügel mit bläulichroter Erde und dem sanften Grin des Weins. Und diese Kontraste durch das lieblichste Tal, durch den Fluß vereinigt, der bald hierhin, bald dorthin zu den Bergen sich wendet! Wahrhaftig, es müßte nichts Angenehmeres sein, als auf einer dieser grünen Halbinseln ein einsames Idyllenleben zu führen!"

"Ja," entgegnete der Jäger lächelnd. "Wenn der Fluß nicht in jedem Frühjahre austräte und Damon, die Hätte und — seine Daphne zu entführen drohte! Aber, waren Sie schon unten im Tal?"

"Noch nicht, und wenn etwa Ihr Weg hinabführt, werde ich Sie gerne begleiten."

Der Jäger lockte seine Hunde und schlug dann einen Seitenpfad ein, der in die Tiefe führte. Rantow, der hinter ihm ging, bewunderte den schlanken Bau, den kräftigen Schritt und die gewandten Bewegungen des jungen Mannes. Er war einigemal versucht, zu fragen, wer er sei, wo er wohne. Aber es lag etwas so Bestimmtes, Überwiegendes in seinem ganzen Wesen, daß er diese Frage immer wieder auf eine bequemere Zeit verschob. Im Tal wandte sich der Jäger stromabwärts. Kinder und Alte, die ihnen begegneten, grüssten ihn überall freundlich und zutraulich. Manche blieben wohl auch stehen und schauten ihm nach. Oft stand er stille



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und machte den Fremden auf jeden schönen Punkt aufmerksam, erzählte ihm von der Lebensart der Leute, von ihren Sitten und ländlichen festen. esten.

Der Weg bog jetzt um den Berg, und plötzlich standen sie dem neuen Schloß gegenüber, das Albert von der Höhe herab gesehen hatte. "Welch herrliches Gebäude!" rief er, "wie malerisch liegt es in diesen Weinbergen! Wem gehört dieses Schloß

"Meinem Vater," erwiderte der Jäger freundlich. "Ich denke, Sie setzen mit mir über und versuchen den Wein, der auf diesen Hügeln wächst."

Gerne folgte der junge Mann dieser einfachen Einladung. Sie gingen ans Ufer, wo der Jäger einen Kahn losband. Erließ seinen Gast einsteigen und ruderte ihn leicht und kräftig über den Fluß. Auf reinlichen, mit feinem Kies bestreuten Wegen, durch hohe Spaliere von Wein gingen sie dem Schloß zu, dessen einfach schöne Formen in der Nähe noch deutlicher und angenehmer hervortraten, als ans der Ferne betrachtet. Unter dem schattigen Portal, das vier Säulen bildeten, saß ein Mann, der aufmerksam in einem Buche las. Als die jungen Männer näherkamen, stand er auf und ging ihnen einige Schritte entgegen. Er war groß, aufrecht und hager und etwa zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt Ein schwarzes, blitzendes Auge, eine kühn gebogene Nase, die dunkelbraune Gesichtfarbe und eine hohe, gebietende Stirne, wie seine ganze Haltung gaben ihm etwas Auffallendes, Überraschendes. Er trug einen einfachen militärischen Oberrock, ein rotes Band im Knopfloch, und noch ehe er ihm vorgestellt wurde, wußte der junge Nantow aus diesem allem, daß es der General Willi sei, vor welchem er stand. Ihn selbst stellte der junge Willi als Vetter der Thierbergs und als seinen Reisegefährten vor.

Der General hatte eine tiefe, aber angenehme Stimme; er antwortete: "Mein Sohn hat mir von Ihnen gesagt. Ihre Mutter kenne ich wohl, habe sie früher in der Residenz gesehen. Als wir nach Schlesien marschierten, wurde ich nach Berlin geschickt. Ich blieb vier Wochen bei der Feldpost dort und ritt während dieser Zeit mehreremal nach Fehrbellin hinüber, Ihre Eltern zu besuchen."

"Wahrhaftig!" rief der junge Mann, "ich erinnere mich, mehrere französische und deutsche Offiziere damals in unserem Hause gesehen zu haben. Es müsste mich alles täuschen, Herr General. oder ich kann mich noch Ihrer erinnern. Ihre Uniform war grün und schwarz, und einen großen grünen Busch trugen Sie auf dem Hut. Sie ritten einen großen Rappen."

"Ach ja, die alte Leda!' sagte der General. "Sie hat treu ausgehalten bis an die Beresina. Dort liegt sie zwanzig Schritte . .



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von der Brücke im Sumpf. Es War ein gutes Tier, und in der Garde nannte man sie le diable noir, — Grüne Büsche, sagen Sie? — Richtig, ich diente damals unter den schwarzen Jägern von Württemberg . Ein braves Korps, bei Gott! Wie haben sich diese Leute bei Linz geschlagen!"

"War es damals," bemerkte Rantow, "als Marschall Vandamme, den Gott verdamme, äußerte: ,Ses bougres battent comme nous!'?"

"Sie haben da eine sonderbare Übersetzung des Namens Vandamme, doch ach! Sie sind ein Preuße, — gut, ich gebe zu, der General Vandamme war verhaßt, besonders in der süddeutschen Armee. Er wußte es auch recht gut. Aber seine Bewunderung über die Bravour jener Soldaten hätte er vielleicht artiger, aber nie mit mehr Wahrheit ausdrücken können."

Sie Waren unter diesen Worten bis unter das Portal des Hauses getreten. Ein Buch lag dort aufgeschlagen, der junge Willi sah es lächelnd an und sagte: "Zum sechstenmal, mein Vater?"

"Zum sechstenmal," erwiderte jener, indem auch durch seine ernsten Züge ein leichtes Lächeln ging. "Sie sehen, Herr von Rantow, inan zieht oft die Kinder nur dazu auf, daß sie ihre Eltern nachher wieder aufziehen. So kann er es nicht recht leiden, daß ich gewisse Bücher oft lese. Und doch ist es ein guter Grundsatz, nicht vielerlei Bücher, aber wenige gute öfter zu lesen."

"Sie haben recht," erwiderte Rantow. "Und darf ich wissen, welches Buch Sie zum sechstenmal lesen?" Der General bot es ihm schweigend.

"Ah! die schöne Fabel von 1812," rief Albert, "der Feldzug des Grafen Segur! Nun, ein Gedicht wie dieses darf man immer wieder lesen, besonders wenn man, wie Sie, den Gegenstand kennen gelernt hat."

"Sie nennen es Gedicht?" fragte der General. "Da Sie nicht aus Erfahrung sprechen können, ist wohl General Gourgaud Ihr Gewährsmann. Aber ich kann Sie versichern, in diesem Buche ist so furchtbare Wahrheit, so traurige Gewißheit, daß man das Wenige, was Dichtung ist, darüber vergessen kann. Die Figuren in diesem Gemälde leben; man sieht ihren schwankenden Marsch über die Eisfelder, man sieht brave Kameraden im Schnee verscheiden, man sieht ein Riesenwerk, jene große, kampfgeübte Armee. durch die Ungunst des Schicksals in viele Tausend traurige Trümmer zerschlagen . Aber ich liebe es, unter diesen Trümmern zu wandeln, ich liebe es, an jene traurigen, über das Eis hinschwankenden Männer mis) an; denn ich habe ihr Glück und — ihr Unglück geteilt."



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"Ich bewundere nur deine Geduld, Vater," erwiderte der Sohn; "du kannst diese französischen Tiraden, die, wenn man sie in nüchternes Deutsch auflöst, beinahe lächerlich erscheinen, lesen und immer wieder lesen! Ich erinnere mich aus diesem berühmten Buche einer solchen Stelle, die im Augenblicke da: Gefühl besticht, nachher, mich wenigstens, lächeln machte. Die Armee hat sich in größter Unordnung hinter Wilna zurückgezogen. Die Russen sind auf den Fersen. Eine Zeitlang imponiert ihnen noch die Nachhut des Heeres; aber bald löst sich auch diese auf, und die ersten der Russen, indem sie einen Hohlweg heraufdringen, mischen sich schon mit den letzten der Franzosen. Segur schließt seine Periode mit den Worten: .Ach! Es gibt keine französische Armee mehr!' — Doch es gibt noch eine,' fährt er fort; ,Ney lebt noch; er reißt dem Nächsten das Gewehr aus der Hand,' usw. Kurz, der edle Marschall tut in übertriebenem Eifer noch einige Schüsse auf den Feind und repräsentiert gleichsam in sich selbst die halbe Million Soldaten, die Napoleon gegen Rußland ins Feld führte. Ist dies nicht mehr als dichterisch ist dies nicht lächerlich überstiegen?"

"Ich erinnere mich noch recht wohl jenes Moments, und so grausam unser Schicksal, so gedrängt unser Rückzug war, so ließ er uns doch einige Augenblicke frei, diesem Krieger und seiner wahrhaft antiken Größe unsere Bewunderung zu zollen. Wenn du denkst, wie es von großer Wichtigkeit war, daß er mit wenigen Tapfern jenes Defilee eine Zeitlang gegen den Feind behauptete, daß er und die Seinigen allerdings in diesem Augenblick noch die einzigen wirklichen Kombattanten waren, die den Russen die Spitze boten, so wird dich jener Ausdruck weniger befremden; ich wenigstens danke es Segur, daß er auch jenem erhabenen Moment einen Denkstein setzte."

"Also ist jene Szene wahr?"

"Gewiß! Und eine schöne, großartige Idee liegt dann, daß man weiß, wer von der großen Armee zuletzt gegen die Russen schlug, daß es Ney war, welchen jener hohe Ruhm, der ihm sogar aus diesem Rückzug sproßte, die Handgriffe des gemeinen Soldaten nicht vergessen lieh. Er war, wie Hannibal, der letzte beim Rückzug.

"Was sagen Sie aber über jenen, welcher der erste in der Armee und der erste beim Rückzug war?" bemerkte Rantow. "Ich glaube, zwanzig Jahre früher hätte er jeden Schritt mit seinen Garden verteidigt —"

"Und zwanzig Jahre später vielleicht auch," fiel ihm der General ins Wort, "und wäre vielleicht als Greis eines schönen Todes mit seinen Garden gestorben. Anno 13, werden Sie aber wohl wissen, war er Kaiser eines Landes, von welchem er ohne Nachricht, ohne



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Hilfe, auf so viele hundert Meilen getrennt war. Was hielt ihn bei der Armee, nachdem unser Unglück entschieden war? Glauben Sie nicht, daß er etwas Ähnliches wie den Abfall Ihres York geahnt hat! Mußte er nicht in Frankreich frische Mannschaft holen?"

"Warum zog er gegen Asien zu Feld, der neue Alexander," sagte Rantow spöttisch lächelnd, " wenn er ahnte, daß das Preußenvolk in seinem Nücken nur darauf laure, ihm den Todesstreich zu geben? War dies die gerühmte Klugheit des ersten Mannes des Jahrhunderts?"

"Glauben Sie, junger Mann," erwiderte der General, "der Kaiser war erhaben über einen solchen Verdacht. Er wußte, daß Ihr Künig ein Mann von Ehre sei, der ihn im Rücken nicht überfallen werde; er wußte auch, daß Preußen zu klug sei, um à la Don Quichotte die große Armee allein anzugreifen."

"Preußen war ihm nichts schuldig rief der junge Mann errötend. "Man weiß, wie Bonaparte selbst seine Friedensbündnisse gehalten hat; man war nicht schuldig, zu warten, bis es dem großen Manne gefällig sei, die Kriegserklärung anzunehmen. Der Gefesselte hat das Recht, in jedem günstigen Angenblicke seine Fesseln zu zerreißen, und sollte er auch den damit zertrümmern müssen, der sie ihm anlegte."

"Nun, Vater," setzte der junge Willi hinzu, "das ist es ja, was ich schon lange sagte, wenn ich den Aufstand de:, ganzen Deutschlands in Schutz nahm. Wer gab den Franzosen das Recht, uns in Ketten und Bande zu schlagen? unsere Torheit und ihre Macht! Wer gab uns das Recht, ihnen das Schwert zu entwinden und die Spitze gegen sie selbst zu wenden? Ihre Torheit und unsere Macht!"

"Ich gebe zu," antwortete der General mit Ruhe, "daß man im Volk, vielleicht auch unter Politikern, also spricht und sprechen darf. Niemals aber darf der Soldat diese Sprache führen, um eine schlechte Tat zu beschönigen. Es gibt manche glänzende Verrätereien in der Geschichte; die Seiten, wo sie begangen wurden, waren vielleicht mit der Gegenwart so sehr beschäftigt, daß man die Verräter gepriesen hat; aber die Nachwelt, welche die Gegenstände in hellerem Lichte sieht, hat immer gerecht gerichtet und manchen glänzenden Namen ins schwarze Register geschrieben. Auch die Sache des Kaisers wird die Nachwelt führen. So viel ist aber gewiß, daß zu allen Zeiten, wo es Soldaten gibt, einer, der seine Fahne verläßt, immer für einen Schurken gelten wird."

"Ich gebe dies zu," erwiderte Rantow, " nur sehe ich nicht ein, wie dies den übereilten Zug nach Rußland entschuldigen könnte."

"Meinen Sie denn, der Zustand Preußens sei uns so unbekannt gewesene" fragte der General. "Man wußte so ziemlich, wie es dort



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aussah. Ich war von Mainz bis Smolensk im Gefolge des Kaisers und namentlich in deutschen Provinzen oft an seiner Seite, weil ich die Gegenden kannte und manchmal in seinem Namen Fragen an die Einwohner tun mußte. In den preußischen Stammprovinzen fiel ihm und uns allen die Haltung und das Ansehen der jungen Leute auf. Das ganze Land schien von Beurlaubten angefüllt, und doch waren es immer nur die jungen Männer, die hier geboren und erzogen waren. Die Haare waren ihnen militärisch verschnitten, ihre Haltung war aufgerichtet, geregelt; sie standen selten wie faule, müßige Gaffer da, wenn der Kaiser und sein Gefolge vorüberzog. Nein, sie machten Front, wenn sie ihn sahen, die Füße standen eingewurzelt, der linke Arm straff angezogen und an die Seite gedrückt, das Auge hatte die regelrechte Richtung, und die rechte Hand machte ihren Soldatengruß. Es waren dies keine Bauerbursche mehr, sondern Soldaten, und der Kaiser wußte wenigstens, daß nicht die ganze preußische Armee mit ihm ziehe."

"Er ließ einen gefährlichen, beleidigten Feind in seinem Rücken," bemerkte Rantow.

"Ein gefährlicher Feind, Herr von Rantow, ist etwa eine beleidigte Schlange, aber nicht eine Armee, nicht Männer von Ehrgefühl. Das preußische Heer hatte sich mit der großen Armee vereinigt , und sobald dies geschehen war, stand sie unter dem Oberbefehl des ersten Kriegers dieser Armee; in dieser Eigenschaft hatten wir weder von ihnen, noch von den Zurückgebliebenen etwas zu fürchten; die Untergebenen band ihr Eid an ihre Fahnen, und die Generale, die Repräsentanten dieser Fahnen, band ihre Ehre. Wenn Sie die Sache aus diesem natürlichen Gesichtspunkte betrachten wollen, so werden Sie am Betragen des Kaisers bei Beginn jenes unglücklichen Feldzuges nichts übereiltes oder Unkluges finden."

"Das preußische Heer, das gezwungen mit ausrückte," erwiderte der junge Mann, "gehörte nicht diesem Kaiser der Franzosen, sondern seinem rechtmäßigen König, und in demselben Augenblicke. als dieser sie ihrer Pflichten gegen jenen ersten Krieger entband —

"Konnten sie gegen uns selbst die Waffen richten," fiel der General ein, "da haben Sie vollkommen recht; sie konnten ihre Karrees bilden, uns den Gehorsam weigern und im Fall des Zwanges Feuer auf unsere Kolonnen geben, sie konnten sich im Angesichte der Armee mit den Russen vereinigen, sie durften dies alles tun —"

"Nun ja — das war es ja eben, was ich meinte —"

"Nein, Herr! Das war es nicht fuhr jener eifrig fort. Nur erst, verstehen Sie wohl, nur dann erst, wann ihr König sie ihres Eides entband, konnten sie den Gehorsam verweigern, sie mußten es sogar, auch auf die Gefahr hin, zugrunde zu gehen.



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So lange dies nicht der Fall war, handelten sie, wenn sie feindlich auftraten, als Verräter an ihrer Ehre und sogar an ihrem König; denn die Ehre des Königs. der die Befehlshaber gewählt hatte. bürgte gleichsam für ihr Betragen."

"Nun wenn ich auch dies von den Befehlshabern zugebe," erwiderte Rantow, "so hat wenigstens die Armee immerhin ihre Pflicht getan."

"In diesem Falle nimmermehr!" rief der General. "Wenn der Chef keinen Befehl seines Herrn vorweisen kann, um seine Schritte zu entschuldigen, und den noch seine Schuldigkeit nicht tut oder sogar zum Verräter wird, — und zum Verräter nicht für sich allein, sondern mit einem ganzen Korps, — so hat jeder Offizier, jeder Soldat hat das Recht, ihn vor der Front vom Pferde zu schießen."

"Ei, Vater!" rief der junge Willi.

"Mein Gott, dies denn doch nicht," rief zugleich der Fremde; "einen General esot vom Pferde zu schießen!"

"Und wenn man es unterlassen hat," fuhr jener mit blitzenden Augen fort, "so hat man seine Pflicht versäumt. Aber ich tenne noch recht wohl jene schändliche Zeit und die Motive, die damals die Handlungen der Menschen lenkten; Wölfe und Tiger waren sie geworden, die menschliche Natur hatte man ausgezogen, Treue, Ehre, Glauben, alles verloren, und für Heroismus galt damals, was sonst für eine Schandtat gegolten hätte!"

"Nun, etwa:, Herrliches und Erhabenes, was sich damals offenbarte, werden Sie doch nicht leugnen können," sprach der Marker; "der allgemeine Enthusiasmus, womit das ganze Volk aufstand, war doch wirklich erhaben, ergreifend!"

"Das ganze Volks —aufstand?" rief der General, bitter lachend. "Da müßte Deutschland erst auferstehen, ehe die Deutschen aufstünden. Es war bei manchem ein schöner, aber unkluger Eifer. bei einigen Haß, bei vielen Übermut, bei den meisten war es Sache der Mode, und Sie vergessen, daß Osterreise), Bayern, Württemberg, daß Schwaben und Franken nicht, was Sie sagen, aufstanden und denn doch auch zu Deutschland gehörten. Und Ihre Enthusiasten selbst! Vor diesen wären wir gewiß nie aus Sachsen gewichen!"

"Wenn es ihnen auch an jenen gerühmten Eigenschaften eines alten, gedienten Soldaten gebrach, wahrhaftig, ihr Wille war schon, ihre Taten groß, und ihre Einheit, ihre Aufopferung ersetzte vieles —"

"Einheit? Aufopferung? Wir nahmen, es war schon auf französischem Boden, einmal ein solches Individuum gefangen. Es war ein junger. schön geputzter Mann. Der Kaiser hatte von diesen Volontärs sprechen gehört, man hatte ihm ihre kleidung.



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ihre Haltung überaus kamisch beschrieben, er ließ daher den Gefangenen vortreten. Als dieser den Kaiser erblickte, geriet er in augenscheinliche Verwirrung, dachte nicht mehr daran, daß er selbst Soldat geworden sei und gegen den größten Krieger zu Felde ziehe, sondern er nahm seinen Tschako am Schild, riß ihn nach gewöhnlicher bürgerlicher Weise vom Kopf, daß der schöne Federbusch elendiglich in den Kot hing, und kratzte mit dem Fuße hinten aus. Der Kaiser ließ ihn durch mich fragen, ob er unter den deutschen Freiwilligen diene. Jener aber verbeugte sich noch einmal und sagte: .Ich bin vom Frankfurter Korps der Rache.' Der Kaiser konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und als er weiter ritt, wandte er sich noch einmal um. Der Sohn der Rache stand noch immer ganz verblüfft unter einem Haufen von Franzosen, und setat erst schien er aus dem Traum zu erwachen; er mochte sich auf die schöne Z eile zurückwünschen. Der arme Teufel sah aus , als wäre er ein jui, als hätte er nur seinem Schatz zu Gefallen sich in dem Korps der Rache einschreiben lassen. Und dieser Rächer kehrte nicht mehr hinter den Ladentisch seines Vaters heim. Ich sah ihn sechs Tage nachher, ohne Beine, sterbend wieder; seine eigenen Landsleute hatten ihn in unsern Reihen getötet. Und von solchen Menschen verlangen Sie Einheit, Aufopferung?"

Der Preuße hatte dem General unmutig zugehört; es kam ihm vor, als liege in den Zügen dieses Mannes Spott und Verachtung einer Sache, die er immer als etwas Ungeheures, Welthistorisches, Großartiges zu betrachten gewöhnt gewesen war. Der junge Willi sah diese unangenehmen Gefühle, die mit der Ehrfurcht vor dem General in Kantons Brust zu kämpfen schienen. Er nahm daher schnell da: Wort und sagte: "Du warst damals auf feindlicher Partei, lieber Vater, du sahst alles in einem andern Lichte, und ich zweifle, ob nicht eure jungen sich auf ähnliche Weise benommen hätten. Aber wahr bleibt es immer und jedem unbefangenen Auge noch jetzt sichtbar, daß damals ein erhabener, ungewöhnlicher Geist unter dem Volke, hauptsächlich im Norden, wehte; die Mittelstände vorzüglich haben gezeigt, daß sie einer bewunderungswürdigen Kraftäußerung fähig seien, und darauf, so schlecht auch die Zeiten sind, kann man noch immer einige Hoffnung gründen."

sah den jungen Mann bei den letzten Worten befremdet an, als wüßte er sich diesen Sah nicht zu erklären; doch erfreut, seine eigenen Gesinnungen wiederholt zu hören, wandte er sich wieder an den General. "Er hat recht," sagte er, "auf feindlicher Seite konnten Sie das rührende Bild dieser Aufopferung nicht so genau kennen lernen. Aber die großen Worte unserer Redner. volontaire malgré Konskribierten Kautow



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die feurigen, aufrufenden Lieder unserer Sänger, die begeisternde Aufopferung unserer Frauen, sie gaben, verbunden mit dem Mut, der frommen Kraft und der gottgeweihten Hingebung unserer Jünglinge und Männer, Szenen, die ebenso erhaben als unvergeßlich sind."

"Und wofür denn dieses alles?" fragte der alte Soldat, "wozu so große Aufopferungen, was hat man damit erreicht und errungen? Ließ sich dies alles nicht voraussehen?"

"Und was haben denn Sie, Herr General, auf jener Seite erreicht und errungen? Das ist einmal das Schicksal alles menschlichen Lebens und Treibens, daß man kämpft, sich hingibt, aufopfert , um am Ende nichts oder wenig zu erreichen. Zwanzig Jahre haben Sie jenem Mann geweiht, jenem Eigensüchtigen, der nur sich und immer nur sich bedachte. Jetzt liegt er auf einem öden Felsen, seine Genossen sind zerstreut, aufgerieben — was, was haben denn Sie gewonnen?"

"Ein Endchen rotes Band und die Erinnerung," antwortete er lächelnd, indem er mit einer Träne im Auge auf seine Brust herabsah. Es lag etwas so Ergreifendes, Erhabenes in dem Wesen des Mannes, als er diese Worte sprach, daß Rantow, errötend, als hätte er eine Torheit gesagt, seine Augen von ihm abwandte und betreten den Sohn ansah. Doch dieser schien nicht auf das Gespräch zu merken; er blickte unverwandt und eifrig auf ein kleines Gebüsch am Fluß, von welchem man eben das Plätschern eines Ruders vernahm; jetzt teilten sich die Zweige der Weiden, und ein schöner Mädchenkopf bog sich lächelnd daraus hervor.

7.

"Unsere schöne Nachbarin!" rief der General freundlich und eilte auf sie zu, ihr die Hand zu bieten; die jungen Männer folgten, und mittels seiner trefflichen Lorgnette entdeckte Rantow zu seinem nicht geringen Vergnügen, daß es Anna sei, die hier so plötzlich, gleich einer Najade, aus dem Fluß auftauchte. Der General küßte sie auf die Stirne und bot ihr dann den Arm; sie grüßte seinen Sohn kurz und freundlich fragte flüchtig nach des Generals Schwester und verweilte dann mit einem Ausdruck der Verwunderung auf ihrem Gast. "Du hier, Vetter Albert?" rief sie, indem sie ihm die Hand bot. "Nun, das muß ich gestehen, für so flug hätte ich dich nicht gehalten, — deinen schönen Verstand in Ehren, — daß du sogleich die angenehmste Gesellschaft in der ganzen Gegend auffinden würdest; welcher Zauberer hat dich denn hierher gebracht?"

"Mein Sohn," sagte der General, "hatte das Glück, Ihren



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Vetter auf seiner kleinen Reise kennen zu lernen, und fand ihn jenseits in Ihrem Forst —"

"Und lud mich ein, ihn hierher zu begleiten," fuhr Rantow fort, " wo ich schon wieder wie gestern das Unglück hatte, zu streiten und immer heftiger zu widersprechen. Du lächelst, Annas Aber es ist, als brächte es hier das Klima so mit sich; zu Hause bin ich der friedfertigste Kerl von der Welt, habe vielleicht in zwei Jahren nicht so viel disputiert, als hier in zwei Tagen, und wie käme ich vollends mit Herren wie der Herr General oder mein Onkel in Streits"

"Ist es möglich?" fragte der General, "mit Herrn von Thierberg, mit Ihrem Vater, Ännchen, kommt er in Streit? Ich dachte doch, da Sie mit mir in politischen Ansichten so gar nicht übereinstimmen, Sie müßten von Ihres Oheims Grundsätzen eingenommen sein."

"Nun, so ganz unmöglich ist eine dritte oder vierte Meinung doch nicht, bemerkte der junge Willi lächelnd; "ich bin gewiß nicht von Ihrem politischen Glaubensbekenntnis und glaube, daß sich mit der Welt jetzt etwas machen ließe, wenn ihr nicht fünfzehn Jahre früher mit Feuer und Schwert reformiert und die Menschen eingeschüchtert hättet; aber mit Herrn von Thierberg lebe ich deswegen doch in ewigem Kampf, und wir beide haben unsere gegenseitige Bekehrung längst aufgegeben."

"Demagogen streiten gegen alle Welt," erwiderte ihm Anna lächelnd und doch, wie es schien, ein Wenig unmutig. "Sie sind ein Inkurable in diesem Spital der Menschheit; haben Sie je gehört, daß ein solcher politischer Ritter von la Mancha, solch ein irrender Weltverbesserer von Grund aus kuriert worden wäre?"

"Ich sehe, Sie wollen den Krieg auf mein Land spielen," sagte Robert, "Sie wollen, wie immer, meine Ansichten zur Zielscheibe Ihres liebenswürdigen Witzes machen, und doch soll es Ihnen nicht gelingen, mich aus der Fassung zu bringen, heute wenigstens gewiß nicht. Sie kennen wohl die schönen Eigenschaften brei Fräulein Cousine noch nicht ganz, Rantow? Nehmen Sie sich um Gottes willen in acht, ihr trauen!"

"Freund," entgegnete Rantow, " in diesem Süddeutschland finde ich mich selbst nicht mehr; es ist alles ganz anders, man denkt, man spricht anders, als ich gewöhnt bin, und so mag ich mir selbst kein Urteil mehr zutrauen, am wenigsten über Anna."

"General!" rief Anna, "Sie führen nachher hoffentlich meine Verteidigung gegen Ihren Herrn Sohn?'

"Nun merken Sie auf, Rantow!' sprach der junge Willi. "Dah dieses Fräulein die Schönste im ganzen Neckartal von Heidelberg



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bis Tübingen ist, behaupten nicht nur alle reisenden Studenten, sondern auch sie selbst weiß es nur allzu gut und hat sich ganz darnach eingerichtet; sie ist aber dabei so spröde wie Leandra im eben angeführten Don Quichotte. Nach ihren politischen Ansichten, —denn sie ist gewaltig politisch, — ist sie ein Amphibion. Sie hält es bald mit dem Alten, bald mit der neuen Zeit. Sie ist gewaltig stolz, daß sie vierundsechzig Ahnen hat, auf ihrem Stammschloß lebt, und daß schon anno 950 ein Thierberg einen Acker gekauft hat. Auf der andern Seite ist sie durch und durch napoleonisch. Sie hat den ersten Lügner seiner Zeit, den Moniteur, öfter gelesen als die Bibel, trägt ein Stückchen Zeug. da: Montholon meinem Vater schickte und das angeblich von Napoleons letztem Lager stammt, in einem Ring, singt nichts als kaiserliche Lieder von Beranger und Delavigne, und kurz —sie liebt eben jenen Mann mit Enthusiasmus, der den Glanz ihrer vierundsechzig Ahnen in den Staub geworfen hat."

"Sind Sie nun zu Ende?" fragte Anna ruhig lächelnd, indem sie ihren Ring an die Lippen zog. "Weißt du aber auch, Vetter, daß er den ärgsten Anklagepunkt, das schwärzeste Verbrechen in seinen Augen, aus Edelmut verschwiegen hat? Nämlich da:., daß ich kein sogenannten deutsches Mädchen bin, daß ich nicht jetzt schon in meinem kämmerlein mich im Spinnen übe, wie es einer deutschen Maid frommt, und keine Lorbeerkranze für die Stirne der künftigen Sieger flechte. Weißt du denn auch, wer dieser Herr ist? Das ist ein Glied eines ungeheuern, unsichtbaren Bundes, der nächstens das Oberste zu unterst kehren wird; nun, bei euch soll es ja noch mehrere solcher Staatsmänner geben. Aber, Herr von Willi, wie ist mir doch, ist es denn wahr, was man mir letzthin erzählte, daß unter euern geheimen Gesetzen eines ausdrüklich gegen junge Damen von Adel gerichtet sei und also lautete: .Wenn ein biderber deutscher Ritter um eine Jungfrau freit, die ehemals der adeligen Kaste angehörte, und solche an;, törichtem Hochmut ihre Hand versagt, soll ihr Name öffentlich bekannt gemacht und sie selbst für wahnsinnig erklärt werden.

Das Pathos, womit Anna diese Worte vorbrachte, war so komisch, daß der General und Rantow unwillkürlich in Lachen ausbrachen; der junge Willi aber errötete, und unmutig entgegnete er: "Wie mögen Sie sich nur immer über Dinge lustig machen, die Ihnen so ferne liegen, daß Sie auch nicht das Geringste davon fühlen können? Ich gebe zu, daß es Ihnen in Ihrem Stande, in Ihren Verhältnissen recht angenehm und behaglich scheinen mag, weil Sie freiere Formen und natürlichere Sitten nicht kennen. keine Ahnung davon haben. Warum aber mit Spott Gefühle



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verfolgen, die wenigstens in Männerbrust mächtig und erhaben wirken und zu allein Schönen und Guten begeistern?"

"Wie ungezogen!" erwiderte Anna. "Sie haben mit Spott begonnen und meine Ahnen und den Kaiser der Franzosen schlecht behandelt und nehmen es nun empfindlich auf, wenn man über die Herren Demagogen und ihre Träume scherzt! Wahrlich, wenn nicht Ihr Vater ein so braver Mann und mein getreuester Anhänger wäre, Sie sollten es entgelten müssen. Doch zur Strafe will ich Sie über das Gedicht examinieren, das Sie mir für meinen Vater versprochen haben." Sie nahm bei diesen Worten Roberts Arm und ging mit ihm den Baumgang hin, und Ubert Rantow hätte in diesem Augenblicke viel darum gegeben, an der Stelle des jungen Willi neben ihr gehen zu dürfen; denn nie hatte ihm ihr Auge so schön, ihre Stimme so klangvoll und rührend gedeucht, als in diesem Augenblick.

"Sie ist ein sonderbares, aber treffliches Kind," sagte der General, indem er ihr lächelnd nachblickte. "Wenn sie ihm doch alle seine Schwärmereien aus dem Kopfe reden könnte! Aber so wird er nie glücklich werden; denken Sie, Nantow, er hat oft Stunden, wo es ihm lächerlich, ja töricht erscheint, daß er in meinem bequemen Schloß wohnt und Nachbar Görge und Michel, die doch auch ,deutsche Männer' sind, nur mit einer schlechten Hütte sich begnügen müssen. Das ist eine sonderbare Jugend, das nennen sie jetzt Freiheitssinn! Und doch ist er sonst ein so wackerer und vernünftiger Junge."

"Ein liebenswürdiger, trefflicher Mensch," bemerkte Albert, indem er oft unruhige Blicke nach jenen Bäumen streifen ließ, unter welchen Willi und Anna wandelten. "Ich darf Ihnen sagen, daß ich über seine Gewandtheit, über die feinen gesellschaftlichen Formen staunte, die er so unbefangen entwickelt; er muß viel und lange in guten Zirkeln gelebt haben; und dennoch so sonderbare, spießbürgerliche Pläne!"

"Er war in London, Paris und Rom," sagte der General gleichgültig, "und er lebte dort unter meinen Freunden. Ich glaube, Lafayette und Foy haben mir ihn verzogen."

"Wie! Lafayette, Foy, hat er diese gesehen?" fragte Rantow staunend.

"Er war täglich in der Umgebung beider Männer, und sie fanden an dem Jungen mehr, als ich erwarten konnte. Da hörte er nun die Amerikaner und die Herren von der linken Seite; und weil er manche der exaltiertesten Schreier als meine alten Freunde kannte, glaubte er in seinem jugendlichen Eifer, es müsse alles wahr sein, was sie schwatzten, und fand sich am Ende geschickt, selbst mit zu reformieren. Da ist er nun mit allen unruhigen Köpfen in diesem



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ruhigen Deutschland bekannt. Keine Woche vergeht, ohne daß sie einen jener deutschen Radikalreformer, mit langen Haaren, Stutzbärtchen, Beilstöcken und sonderbaren Röcken in meinen Hof bringt; sie nennen ihn ,Bruder' und sind so wunderliche Leute, daß sie alle Briefe an meinen Robert mit einem ,deutschen Gruß zuvor anfangen."

"Ich kenne diese Leute, bemerkte 'Abert mit wegwerfender Miene, "sie zeigen sich auch bei uns zu Hause. Aber wie kann nur ein Mann von so glänzenden Anlagen für ein anständigeres Leben und für die gute Gesellschaft, wie Robert, mit so gemeinen Menschen umgehen, die im Bier ihr höchstes Glück finden, rauchend durch die Straßen gehen, in gemeinen Schenken umherliegen und alles Noble, Feine gering achtens"

"Gemein , lieber Herr von Rantow, habe ich sie noch nie gefunden," erwiderte der General lächelnd, "was ich unter .gemein verstehe; daß sie rauchen, macht sie höchstens für einen Nichtraucher unangenehm, daß sie Bier trinken, geschieht wohl aus Armut; denn meinen Wein haben sie nicht verachtet, und von der bonne société denken sie gerade wie ich; sie langweilen sich dort und finden das Steife gezwungen und das Gezierte lächerlich. Sonst fand ich sie unterrichtet, vernünftig, und nur in ihrer Kleidung und in ihren Träumereien dachte ich mit Anna an Don Quichotte und fand komisch, daß sie sich berufen glauben, die Welt zu erlösen von allem Ubel."

Der junge Mann verbeugte sich stillschweigend gegen den General, als wolle er ihm dadurch seinen Beifall zu erkennen geben; bei sich selbst aber dachte er: Ich lasse mich aufknüpfen, wenn er nicht selbst raucht und lieber Stettiner und Josty als Franzwein trinkt; doch einem alten Soldaten kann man es verzeihen, wenn er roh und unhöflich ist. Ersah sich zugleich wieder nach Anna um; das Gespräch schien von beiden Seiten mit großem Interesse geführt zu werden die Gegenwart de:, Generals verhinderte ihn, von seiner Lorgnette Gebrauch zu machen, und doch war sie ihm nie so nötig gewesen als in diesem Augenblick; denn er glaubte gesehen zu haben, wie der junge Willi Annas Hand ergriff und — an seine Lippen führte. Der General mochte die Unruhe und Zerstreuung des jungen Mannes bemerken; er ging mit Rantow dem Baumgang zu, und als Anna sie herankommen sah, ging sie ihnen mit Willi entgegen. Des Generals Schwester, eine würdige Dame, welcher Annas Besuch galt, kam in diesem Augenblick herzu, und da in ihrer Gegenwart nichts Politisches, das zum Streit führen konnte, abgehandelt werden durfte, so zog es die Gesellschaft vor, ihrer Einladung zu folgen und unter der Halle des Schlosses den Wein des Generals



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und die schönen Früchte seiner Gärten zu kosten. Man beschloß, daß der General und sein Sohn morgen den Besuch auf Thierberg erwidern sollten, und so schieden die beiden Willi, als ihre Gäste in den Kahn stiegen, mit Ehrfurcht von ?luna, mit der Herzlichkeit alter Freunde von Rantow.8.

Der Gast aus der Mark, obgleich er in jedem Damenkreis seiner Heimat mit jener Sicherheit aufgetreten war, welche man sich durch Erziehung und gehöriges Selbstvertrauen erwirbt, obgleich er sich in Berlin manches schwierigen Sieges hatte rühmen können, fühlte sich doch nie in seinem Leben so befangen als an jenem Abend, wo er mit Anna am Neckar hin nach Thierberg zurückkehrte. Tausend Zweifel plagten und quälten ihn, und jetzt erst, als ihm der letzte Blick, den Anna dem jungen Willi zugeworfen hatte, zu feurig für bloße Achtung, zu zögernd für gute Nachbarschaft geschienen hatte, jetzt erst fühlte er, wie mächtig schon in ihm die Neigung zu seiner schönen Base geworden sei. Zwar, wenn er seine eigene Gestalt, sein ausdrucksvolles Gesicht, sein sprechendes Auge, seine gewählte und reiche Sprache, seine eleganten Formen, die Sicherheit und Gewandtheit seines Geistes, kurz, wenn er alle seine Vorzüge mit Robert Willis Eigenschaften maß, so glaubte er, sich doch ohne Anmaßung trösten zu können; fehlte doch jenem, wenn er sich auch gut auszudrücken vermochte, jener unnachahmliche Tonfall der Sprache, fehlte ihm, wenn man ihm auch Anstand und Würde nicht streitig machen konnte, jene letzte Vollendung und Feinheit eines modischen Wundervogels (Incroyabilis, Sann.), jenes unnachahmliche Genie des Geschmackes, das angeboren sein muß; es fehlt ihm, so schloß der Berliner mit heimlichem Lächeln bei sich selbst, jenes anis quoi. das den Geschöpfen Gottes das Siegel der Veredlung und Vollendung aufdrückt und auch den gewöhnlichsten Menschen zu einem homme comme il Taut macht! Aber Anna ist hier auf dem Lande, ist in Schwaben aufgewachsen, fuhr er fort, sie könnte, ehe sie mich sah, mit Robert Willi — "Anna, eine Frage," sprach er ängstlich zu ihr, nachdem sie eine geraume Weile still fortgewandelt waren, "und nimm doch diese Frage nicht übel auf! Liebst du diesen jungen Willi? Stehst du mit ihm in einem Verhältniss

Das Fräulein von Thierberg errötete leicht über diese Frage, und diese Röte konnte ebensogut der Frage als dem Gegenstand gelten, den sie berührte. "Wie kömmst du auf diesen Einfall, Vetter?"



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erwiderte sie. "Und meinst du denn, wenn ich auch das Unglück haben sollte, diesen Willi zu lieben, was mir übrigens noch nie in den Sinn kam, ich würde etwa dich zum Vertrauten in meinen Herzensangelegenheiten wählen, weil ich dich schon seit zwei Tagen kenne? Mein Gott, Vetter," setzte sie schalkhaft lächelnd hinzu, "was seid ihr doch für närrische Leute in Preußen!"

"Ich will mich ja durchaus nicht in dein Geheimnis drängen, hochedle und gestrenge Dame," sagte er, "aber meinst du denn, dein langes und, wie es schien, interessantes Gespräch mit ihm sollte mir nicht aufgefallen seine Meinst du, ich glaube, ihr habt nur von Versen gesprochen?"

"Wenn ich nun sagte, wir haben nur von Versen gesprochen," entgegnete sie eifrig, "so müßest du es doch glauben. Leuten, die gerne Arges denken, fällt alles auf. Diesmal übrigens hat sich dein Scharfsinn nicht betrogen; das übrige Gespräch drehte sich auch noch um etwas anderes als Verse, um ein Geheimnis, ein gar wichtiges Geheimnis."

"Also doch?" — rief der junge Mann mit ungläubiger Miene. Siehst du, also doch!"

Doch," antwortete sie lächelnd, "und weil du so artig bist, will ich dich auch mit ins Geheimnis ziehen, vielleicht kannst du behilflich sein; er riet mir selbst, es dir zu entdecken."

"Wie?" entgegnete er bitter. "Meinst du, ich sei nur deshalb nach Schwaben gekommen, um Herrn von Willi:, Liebesboten an meine Base zu machen? Da kennst du mich wahrhaftig schlecht; eher sage ich deinem Vater die ganze Geschichte, und ich glaube nicht, daß er sich einen solchen Tugendbünder, einen solchen Weltverbesserer und Demagogen zum Schwiegersohn wählen wird."

Anna war verwundert stehen geblieben, als sie diesen heftigen Ausbruch seiner Leidenschaft vernahm. "Habe die Gnade und höre zuvor, um was man dich bitten wird," sagte sie, und, wie es schien, nicht ohne Empfindlichkeit; "so viel weiß ich aber, daß, wäre ich ein junger Saur und überdies ein Berliner, ich mich gegen Damen ganz anders betragen würde." Bestürzt wollte Ubert etwas zur Entschuldigung erwidern; aber mit freundlicherer Miene und gütigeren Blicken fuhr sie fort: "Du weißt und hast es heute selbst gehört, wie sehr der General seinen Napoleon liebt und verehrt. Nun ist nächstens sein Geburtstag, der zufällig auf einen berühmten Schlachttag des Kaisers füllt, und da will ihn sein Sohn mit etwas Napoleonischem erfreuen. Er hat sich durch einen Bekannten in Berlin eine Kopie jenes berühmten Bildes von David verschafft, das Bonaparte zu Pferd noch als Konsul vorstellt. Es ist kein übler Gedanke; denn so nimmt er sich am besten aus, er ist noch jung, mager, und da;,



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interessante, feurige Gesicht unter dem Hut mit der dreifarbigen Jeder ist malerischer, eignet sich mehr fur die Darstellung eines Helden, als wie er nachher abgebildet wird. Und dieses Bild des Kaisers ist unser Geheimnis."

"Aber was soll ich hiebei tun?" fragte 'Albert, der wieder freier atmete, da kein anderes, gefürchtetes Geständnis ihn bedrohte,

"Höre weiter! Diese;, Bud wird in diesen Tagen ankommen, und zwar nicht bei Generals, sondern bei uns. In meinem eigenen Zimmer wird es bis am Vorabend des Geburtstages bleiben, und dann müssen wir beide dafür sorgen, dah der General, während das Bild hinübergeschafft wird, nicht zu Hanse oder wenigstens so beschäftigt sei, dah er nichts bemerkt. Während der Nacht wird dann das Bild im Salon aufgehängt und bekränzt, und wenn Daun morgens der gute Willi zum frühstück in den Salon tritt, ist es sein Held, der ihn an diesem feierlichen Tage zuerst begreifft!"

"Gut ausgedacht, erwiderte Nantow lächelnd, " und wenn es nur nicht dieser Held wäre, wollte ich noch so grille meine Hilfe anbieten, doch —auch so werde ich mitspielen; hast ja du mich darum gebeten!" Sein Ton war so zärtlich, als er dies sagte, daß ihn luna überrascht ansah. Er bemerkte es und fuhr, indem er ihren Arm näher an seine Brust zog, fort: "Du kannst ja ganz über mich gebieten Anna; ach, daß du immer über mich gebieten möchtest! Lie freut es mich, daß du nicht schon liebst, nicht schon versagt bist! Darf ich bei dem Onkel um diel) werben?"

In Anna schien zu kämpfen, ob sie bei diesen Worten wie über eine Torheit lächeln oder erzürnt weinen solle; wenigstens wechselte auf sonderbare Weise die Farbe ihres schonen Gesichtes mit Röte und Blässe. Sie zog ihren Arm schnell an:, seiner Hand und sagte: "So viel kann ich dir sagen, Vetter, dah uns hier in Schwaben nichts unerträglicher ist als Empfindsamkeit und Koketterie und dah wir diejenigen für Toren halten, die nach zwei Tagen schon Bündnisse für die Ewigkeit sel) ließen wollen."

"Anna!" fiel ihr der junge Maun mit bittender Gebärde ins Wort. "Glaubst du nicht an die Allgewalt der Liebe? Wann aml ihre Dauer unsterblich ist, so ist doch ihr Anfang das Werk eine: Augenblicks, und ich —"

"Kein Wort mehr, Albert," rief sie unmutig, " wenn ich nicht alles dem Vater sagen und ihn um Schutz gegen deine Torheit an rufen soll! Das wäre dir wohl bequem," fuhr sie gefaßter und lächelnd fort, " um deine Langeweile in Thierberg zu vertreiben, einen kleinen Roman zu spielen? Spiele ihn in Gottes 'Naman wenn du nichts Besseres zu tun weißt, — mich wirst du vielleich



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trefflich damit unterhalten, nur verlange nicht, daß ich die zweite Nolle Darin übernehme."

"O Anna ! spross) er seufzend. "Verdiene ich diesen Spott? Ich meine es so redlich, so treu Das Los, das ick) dir bieten kann, ist nicht glänzend; aber es ist doch so, dah du vielleicht zufrieden, glücklich sein könntest."

"Werde nur nicht tragisch," erwiderte sie. "Alles höre ich lieber als solches Pathos. Spott verdienst du auf jeden Fall, und zum mindesten kann er dich heilen. Komm, sei vernünftig, begleite mich recht artig und wie es sich ziemt nails Hause. Aber sei überzeugt, wenn noch ein einziges Wort dieser Art übet deine Lippen kömmt, so beschäme ich dich vor dem nächsten besten Bauer und rufe ihn heran, und wenn du im Schloß oben diese Torheiten fortsetzest, so werde ich nie mehr mit dir allein sein." Der Ton, womit sie dies aussprach, klang zwar bestimmt, mutig und befehlend; doch schien ihr schalkhaftes Auge und ihr lächelnder Mund dem strengen Befehl zu widersprechen, und Nantow, den diese widersprechenden zeichen verwirrten, begnügte sich zu schweigen, zu seufzen, mit Blicken zu sprechen und einen erneuerten Kampf auf einen glücklicheren Moment zu verschieben. Mit großer Besonnenheit und Ruhe knüpfte sie ein Gespräch über den General an, und so gelangten sie, weniger ver stimmt, als man hütte denken sollen, nails Thierberg. Der Alte lies siel) ihre Ausflüge erzählen und schien nicht unzufrieden, daß Albert diese neue Bekanntschaft gemacht habe. "Es sind wackere Leute, diese Willis, und das ganze Tal hat ihnen Wohltaten zu danken. Es soll wenige hohe Offiziere von der Bildung und den ausgezeichneten Kenntnissen des Generals geben, und den jungen habe ich selbst schon auf dem Sum gehabt und gefunden, daß er tiefe, gründliche Kenntnisse hat und mit Eifer Studien treibt, die man heutzutage unter der jüngeren Generation selten findet. Ein kluges, gewandtes, feuriges Bürschchen; aber, aber —diese verschrobenen, überspannten Ansichten. Ich glaube, er würde mich in meinem eigenen Hanse anfallen, wollte ich sagen, daß das Bauernpack immer Bauernpack bleibe, und si )um man sie aml) noch so frei von Lasten, nails so gelahrt machte, daß die Bürgerlichen bei ihrem Leist bleiben und nieset an der erhabenen Figur de: Staates künsteln und pinseln und meisseln sollen. Aber das kommt um daher. weil der alte Tor unter seinem Stand geheiratet hat; da will unu der junge den galilei gut machen, indem er die Vettern und Basen und das ganze Verwandtschaftsgefindel seiner hochseligen Frau Mutter, spießbürgerlichen Angedenkens, recht och stellt

"Aber, Vater." bemerkte Anna, "daß er aus diesem Grunde tut, kannst du doch nicht behaupten. Ich gebe zu, er stellt uns alle



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insgesamt etwas tief und die andern an unsere Seite; aber er ist ein Enthusiast und hat von Freiheit und Volksleben Begriffe, die sich nie ausführen lassen.

"Lehre mich die Menschen nicht kennen, Kind!" sagte der Alte lächelnd. "Eitelkeit ist der Grundtext in jedem, die Variationen mögen heißen, wie sie wollen; aber was sagst du zu dem Vater, Neffen"

"Bei uns würde man ihn steinigen, wollte er öffentlich aussprechen , was ich heute habe hören müssen. Ja, in einer Gesellschaft von Preußen sollte er einmal solch Wort sagen! Ich glaube, man würde weder sein Alter, noch seinen Stand berücksichtigen. Sein ganzes Gespräch ist ein Triumphgesang der Vergangenheit und ein Fluch der Gegenwart. Ich glaube, er hält es für die größte Sünde, daß wir das schmähliche Joch abgeschüttelt und die übrigen, vielleicht gegen ihren Willen, mitbefreit haben. Eine Schande, daß ein deutscher Mann etwas Solches nur denken tann. Aber bei nächster Gelegenheit will ich ihm sagen, wie sehr ich vom Grund des Herzens seinen Kaiser und alle Franzosen hasse.

"Das hat er von mir schon oft gehört," erwiderte Herr von Thierberg, "mehr denn zwanzigmal; ich hasse sie alle, allesamt wie die Hölle!"

"Alle, Vater, alle:" fragte Anna mit Bedeutung.

"Nein, du dast recht, Kind! Einen nehme ich aus, den ich täglich loben und preisen möchte. Hätte er nicht so verzweifelt gut Französisch gesprochen, ich hätte geglaubt, es sei ein Engel vom Himmel. Leider war und blieb er nur ein Franzose."

"Und wer ist denn dieser Eine, den Sie so feierlich ausnehmen?" fragte Albert.

"Siehe, das ist eine wunderliche Geschichte," fuhr der Oheim fort. "Doch ich will sie dir erzählen, es ist ein schönes Stück. Ich machte im Jahre 1800 eine Reise nach Italien mit meiner seligen Frau. Ehe wir uns dessen versahen, brach der Krieg aus, und da wir vernahmen, daß Moreau gegen Deutschland ziehe, beschloß ich, meine Frau bei einer befreundeten Familie in Rom zurückzulassen und allein, um desto schneller reisen zu können, nach Schwaben heimzukehren . Ich wählte, teils weil ich dort am wenigsten auf Franzosen zu stoßen hoffte, teils weil einer meiner Vettern die Besatzung in der kleinen Festung Bard kommandierte, teils der Neuheit der Gegend wegen die Straße über den Großen Bernhard, der bald nachher durch den Übergang des Konsuls Bonaparte so berühmt wurde. Dort am Fuß des Berges, auf der Schweizerseite, überfielen mich fünf zerlumpte Kerls von der französischen Armee. die ich hier freilich nicht vermuten konnte. Ich zeige ihnen meinen Paß.



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aber es half nichts, sie rissen mich und meinen Reitknecht, den alten Hans, den du noch hier siehst, vom Pferd, zogen uns Rock und Stiefeln aus, nahmen mir Uhr und Börse, und eben wollten sie auch meinen Mantelsack untersuchen, als eine schreckliche Stimme hinter uns Halt gebot.

"Die Räuber sahen sich um und ließen, wie vom Donner gerührt, die Arme sinken; denn es war ein französischer Offizier, der hinter uns zu Pferd hielt, und sie hielten, man muß selbst dem Teufel Gerechtigkeit widerfahren lassen, strenge Mannszucht. ,Wer sind Sie, mein Herr?' fragte er, nachdem er abgestiegen war. Ich erzählte ihm kurz meine Verhältnisse und den Zweck meiner Reise. Er nahm meinen Paß, sah ihn durch und fragte mich, ob ich solchen den Soldaten gezeigt habe. Als ich es bejahte, wandte er sich an die Bursche, die noch immer kerzengerade und verlegen dastanden: Seid ihr Soldaten? Seid ihr Franzosen?' rief er zürnend und sah, troia seinem schlechten Oberrock, sehr vornehm aus. .Auf der Stelle kleidet ihr diesen Herrn und seinen Diener an, ordnet sein Gepäck und geht dann, wohin ihr beordert seid.' Noch nie bin ich so schnell bedient worden. Ein junger Kerl wollte mir gegen meinen Willen die Stiefeln anziehen und bat mich mit Tränen im Auge, es zu erlauben. Solchen Gehorsam habe ich nie in der Reichsarmee gesehen. Ich sagte es auch dem Offizier, der sich, nachdem wir fertig waren, zu mir ins Gras setzte und für seine Landsleute Vergebung und Entschuldigung erbat. Ich sagte ihm, daß dieser ganze Vorfall durch jenen schönen Anblick von Disziplin aufgewogen werde. Ehe ich mich dessen versah, waren wir in ein tiefe:, Gespräch über die Zeitereignisse und namentlich über das Schicksal des Adels verwickelt. Ich stritt lebhaft für unsern alten Reichsadel; aber kurz und bestimmt und so artig als möglich wußte er meine besten Gründe zu widerlegen. Ich merkte wohl aus allem, und er gestand es auch offen, daß er ein Ci-devant sei. Er gestand auch zu, daß eine Republik in neueren Zeiten etwas Schwieriges, beinahe Unnatürliches sei, daß Institute wie der Adel nützlich, ja gewissermaßen notwendig seien, behauptete aber, daß der Adel überall von neuem geboren werden und nur aus kriegerischem Verdienst und Ruhm hervorgehen müsse."

"Wie?" fiel ihm Rantow ins Wort, "so allgemein dachte man schon damals in jener Armee an das, was nachher jener sogenannte Kaiser wirklich ausführte? Das ist wunderbar!" — "Auch mir sind nachmals," erzählte der alte Thierberg, "da Napoleon die Ehrenlegion und Dotationen schöpfte, oft die Worte meines guten Kapitäns eingefallen. Diesen gewann ich in einer Stunde, die wir zusammen sprachen, so lieb, als wäre er kein Franzose, als wären wir langiährige Freunde. Endlich mahnte ihn die Feldmusik eines ferne



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heranziehenden Regiments zum Aufbruch. Ich schenkte ihm meine silberne Feldflasche, die er erst nach langem Streit und endlich lachend annahm; mir gab er dafür eine kleine Ausgabe des Tacitus und eine von den bunten Federn auf seinem Hut, womit sich damals die republikanischen Offiziere schmückten. Die Bajonette des Regiments blitzten über den nächsten Hügel herab, und die Musiker begannen eben ihr ,Siona enfants', als er aufs Pferd stieg; er gab mir noch einige Verhaltungsmaßregeln, drückte mir lächelnd die Hand, und unter dem Marchons, ça ira!' setzte er den Berg hinan. Noch heute steht dieser liebenswürdige, interessante junge Mann vor meinen Augen, wie er den Fuß der Alpe hinanritt, der Wind in seinem Mantel, in seinen Federn wehte und er grüßend noch einmal sein geistreiches Gesicht nach mir umwandte. Damals, aber nur einen Augenblick lang, und ich weiß heute noch nicht warum, schlug mein Herz für diese Franzosen, und solange ich die Musik hören konnte, sang ich das Allons enfants und das Marchons, ?u ira mit, Nachher freilich schämte ich mich meiner Schwäche, haßte dieses Volk nach-wie vorher, und nur mein Retter in der Not, mein Kapitän, steht in meinem dankbaren Gedächtnis."

"Allerdings ein wunderbarer Fall," sagte Rantow, als der Alte nicht ohne tiefe Rührung geendet hatte; "artige und honette Leute gab es zwar immer unter diesen Truppen; aber die gute Disziplin war ungleich seltener. Ich hätte mögen den Schrecken jener fünf Soldaten sehen."

"Nun, Hans," sagte Anna zu dem Diener, der aufmerksam und gespannt zuhorchte, "du hast sie ja gesehen."

"Ich sag' Ihnen, gnädiges Fräulein, wie aus Stein gemeißelt standen sie vor dem Kapitän und schämten sich, und Augen hat er auf sie dargemacht wie der Lindwurm auf den Ritter Sankt Georg. Als die Franzosen nachher zu uns herauskamen, bin ich oft halbe Tage lang an der Landstraße von Heidelberg gestanden und habe sie Regiment für Regiment defilieren lassen; aber der Kapitän war nie dabei, der ist wohl schon lange tot,"

"Ehre und Segen mit seinem Andenken, wo er auch sein möge," sprach der alte Thierberg. "Ist er gestorben, so hat er doch alles, was nachher in der Welt Ungerechtes und Frevelhaftes geschah, nicht mehr mitmachen müssen. Vielleicht hat er sich auch vom Dienst zurückgezogen, als der Diktator sich zum Kaiser machte; denn mein braver Kapitän, der so nobel dachte, kann kein Freund des übermütigen Korsen gewesen sein,"

Anna lächelte, aber sie mochte das Lieblingsthema ihres alten Vaters, die Geschichte "vom besten Franzosen", nicht durch eine Apologie jenes großen Sohnes einer kleinen Insel stören.



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9.

Man hatte sich heute früher getrennt als sonst, und Albert, den der Schlaf noch nicht besuchen wollte, stand unter dem Bogenfenster seines altertümlichen Zimmers und schaute in das Tal hinab. Er dachte nach über alle Worte seiner schönen Cousine, er fand so viel Stoff, sie anzuklagen und sich zu bedauern, daß er das erste Mal in seinem Leben im Ernste sich selbst sehr schwermütig erschien.

Dieses eine Mal nach so vielen flatterhaften und flüchtigen Geschichten war er sich recht klar und deutlich bewußt, ernstlich zu lieben; niemals zuvor hatte er einem Gedanken an ein häusliches Verhältnis, an das Glück der Ehe, Raum gegeben, und nur erst diesem fröhlichen, unbefangenen Geschöpf war es gelungen, seine Ansichten über seine Zukunft ernster, seine Gefühle würdiger zu machen. Er wunderte sich, gerade da zurückgewiesen zu werden, Wo er es wirklich redlich meinte; es befremdete ihn, gerade in jenen Augen als flüchtig und kokett zu erscheinen, die ihn so unwiderstehlich angezogen, gefesselt hatten; er schämte sich, daß bei diesem natürlichen Kinde seine sonst überall anerkannten Vorzüge ohne Wirkung bleiben sollten; er sah darin ein böses Vorzeichen; denn seine bisherige Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß die Überraschung, daß der erste Eindruck entscheiden müsse.

Aus diesen Gedanken weckte ihn eine Flöte, die wie am gestrigen Abend süße Töne vom Wald herüberhauchte. Aufs neue erwachte in ihm der Gedanke, daß diese Serenade wohl Anna gelten könnte. Er sah schärfer nach dem Wald hinüber, und — er irrte sich nicht — es war jene Waldecke, die er heute besucht hatte, woher die Töne kamen. Schnell warf er seinen Mantel über, eilte hinab und bat den alten Hans, ihm das Tor zu öffnen; er gab vor, auf einem Platz im Wald unweit des Schlosses ein Taschenbuch zurückgelassen zu haben, dem der Nachttau schaden könnte. Die Flötenklänge, die immer weicher und schmelzender wurden, dienten ihm zu Führern nach jener Waldecke; immer eifriger drang er durch das Gebüsch; denn er hatte einen Blick nach der Burg hinüber geworfen und gesehen, daß ein weißes Tuch von Annas Fenster wehte. Schon sah er die Umrisse des Flötenspielers, schon rief er: "Halt, Freund Musikus, ich werde die zweite Stimme spielen!" da schlug dicht neben ihm ein Hund an, und als er erschreckt auf die Seite sprang, stürzte er über die Wurzeln einer alten Eiche unsanft zur Erde.

Als er sich nach einer Weile wieder aufgerichtet hatte und auf den Platz zutrat, wo der Mann mit der Flöte gesessen hatte, fand er weder von ihm noel) von dem Hund eine Spur, wohl aber hörte er tief unten am Berg die Büsche rauschen und das Gesträuch



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knacken. Beschämt wandte er sich ab und sah nach dem Schloß hinüber. Ein heller Schein war an Annas Fenster; aber es war kein Tuch, wie er geglaubt hatte, sondern der Mond, der in den Gläsern sich spiegelte. Er warf sich seine Unbesonnenheit, seine Hast und Eile, sein Mißtrauen, seine Eifersucht vor. Er suchte für das Entweichen des Flötenspielers die gewöhnlichen und prosaischen Gründe auf; er wollte Anna unschuldig finden, und dennoch wurde er nicht ruhig.

So stand er in dem Anblick der vom Mondlicht übergossenen Burg da, als er plötzlich mit einem Schrei des Schreckens auffuhr; denn eine kalte Hand rührte an die seinige; er sah sich um, und eine dunkle Gestalt stand vor ihm. Ehe er noch fragen, sich nur fassen konnte, fühlte er, daß man ein Papier in seine Hand gedrückt habe, und zugleich stürzte sich dieses geheimnisvolle Wesen in den Wald; doch war es nicht so ätherischer Natur, daß es nicht im Forteilen das Gesträuch zerknickt und Zweige abgestoßen hätte. Albert wurde es ganz unheimlich an diesem Ort. Sein aufgeregtes Blut, die tiefe Stille der Nacht, das schaurige Dunkel der Buchen und gegenüber die altergraue Burg, ihre Fenster vom Monde so sonderbar beleuchtet , daß er geheimnisvolle Schatten in den hohen Gemächern hin und her schleichen sah — es war ihm so bange, daß er schnell seinen Weg zurückeilte, daß er im Wald laut auftrat, nur um sich selbst in dieser unheimlichen Stille zu hören.

Die Laterne des alten Hans warf ihm ein tröstliches Licht aus dem Tor entgegen. Eilends ließ er den Alten mit der Lampe voran nach seinem Zimmer gehen; er entrollte das Papier und erschrak vor einem fremden Unglück; denn die wenigen Zeilen lauteten:

"Dein Brief traf mich erst heute. Die Antwort ein andermal. S. Z. N. und noch drei andere wurden heute frühe verhaftet und nach der Festung geführt. Ich weiß nicht, ob Du Dich schuldig fühlst; aber vernünftig wäre es, wenn Du Dich auf die Beine machtest. In Deiner Lage kann es nicht schaden. Ich schickte diese Zeilen an den gewöhnlichen Platz' Gott gebe, daß sie Dich treffens Was Du auch tun wirst, Robert, sei diskret und nenne mich nie!"

Wer der unglückliche Flötenspieler gewesen sei, sah jetzt Albert deutlich; doch zu großmütig, um aus dieser Verwechselung einen Vorteil ziehen zu wollen, faßte er rasch den Entschluß, den jungen Willi zu retten. Aber fremd und unbekannt in dieser Gegend, deuchte es ihm unmöglich, dies allein auszuführen. Er schickte schnell den alten Hans nach dem Turm, wo Anna wohnte; er ließ sie dringend bitten, ihm nur auf zwei Minuten in einer sehr wichtigen Sache Gehör zu geben. Erfolgte dem Alten bis an die Türe des Saales, und dort blieb er in dem großen, weiten Gemach allein, um seine



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Cousine zu erwarten. Zu jeder andern Zeit hätte der Anblick, der sich ihm hier darbot, mächtig auf seine Seele wirken müssen. Ein ungewisses Licht schimmerte durch die Fenster und fiel auf die Gemälde seiner Ahnen. Ihre Gestalten schienen lebendiger hervorzutreten , ihre Gesichter waren bleicher als sonst, und die ausgestreckte Hand einer längst verstorbenen Frau von Thierberg schien sich zu bewegen. Dazu rauschten die Bäume und murmelte der Fluß auf so eigene Weise, daß man glauben konnte, dieses Geräusch gehe von den Gewändern der Verstorbenen aus.

In diesen Augenblicken aber hatte er nur ein Ohr für die immer leiser schallenden Tritte des alten Dieners; sein Auge hing erwartungsvoll an der Türe, sein Herz pochte unruhig einer Gewißheit entgegen, die keine erfreuliche sein konnte.

Bald tönten die Schritte wieder den Korridor herauf; er strengte sein Ohr an, ob er nicht auch den leichten Tritt seiner Base vernehme; die Tür öffnete sich, und sie erschien mit Hans und ihrem Mädchen; er sah ihrer Kleidung und ihren Augen an, daß sie noch nicht geschlummert hatte. Noch ehe sie fragen konnte, reichte er ihr schnell das Billett und sagte französisch in wenigen Worten, wie er es erhalten habe. Eine hohe Röte flammte über das schöne Gesicht, solange er sprach; sie wagte es nicht, die zarten Augenlider aufzuschlagen; doch kaum hatte sie einen Blick auf die Zeilen geworfen, so erbleichte sie, sah ihn mit großen Augen erschrocken an und zitterte so heftig, daß sie sich an dem Tisch halten mußte.

"Ich muß sogleich hinübereilen," sagte er nähertretend, "und nur darum habe ich dich rufen lassen, daß du mir ein Mittel angebest, wie ich durch den Fluß komme. Ich möchte bei den Domestiken nicht gerne Aufsehen erregen."

"Zu Pferd, schnell zu Pferd," rief sie hastig, indem sie bebend seine Hand ergriff; "schwimm hinüber und dann schnell nach Neckareck."

"Aber bei Nacht?" erwiderte er zaudernd. "Ich kenne die Stellen nicht, wo man durchkommen kann, der Fluß ist tief und reißend."

"Führe mir des Vaters Pferd heran:" Hans!" wandte sie sich an den erschrockenen Diener. "Schnell, du begleitest mich, ich will selbst hinüber!

"Fähre es heraus, Alter, aber für mich!" fiel Rantow unmutig ein. "Wie magst du mich so verkennen, Anna? Du wirst mir den Weg zu einer Stelle zeigen, wo ich durch den Neckar kommen kann."

"Nein, so geht es nicht!" sagte sie, beinahe weinend und sank auf einen Stuhl nieder. "Du wirst .nicht hinüberkommen. Führe



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ihn durchs Dorf hinab, Hans, mach unsern Kahn los und schiffe den Vetter hinüber! Du mußt zu Fuß hinüber, Albert; in einer halben Stunde kannst du dort sein. O Gott, ich habe es ja schon lange geahnt, daß es so kommen würde! Sag ihm , er soll nicht zögern, ich wolle ihn überall lieber wissen als in einem Kerker!"

Der junge Mann drückte ihr schweigend die Hand und winkte dem Alten, zu gehen. Nie zuvor hätte er sich für fähig gehalten, so schönen Hoffnungen so schnell zu entsagen; aber der Gedanke an die schöne, kummervolle Anna, die er bis jetzt nur lächelnd gesehen hatte, spornte ihn zu immer schnelleren Schritten, und so mächtig ist in einem Herzen, das die Selbstsucht noch nicht ganz umsponnen hat, das Gefühl, in einem entscheidenden Moment Hilfe oder Rettung zu geben, daß er in diesem Augenblick in dem jungen Willi nur einen Unglücklichen und nicht Annas Geliebten sah.

Am Ufer schloß der Alte schnell den Kahn los und bat den Gast, sich ruhig niederzusetzen; aber dennoch konnte Albert diesem Gebot nicht völlig Folge leisten; denn als sie ungefähr die Mitte des Neckars erreicht hatten, hörte man deutlich den Hufschlag von Pferden und das Rollen eines Wagens von der Landstraße her; die sich jenseits dem Ufer näherte. Er richtete sich auf trotz dem Schelten des Alten und dem unruhigen Schaukeln des Kahns und sah im Schein einiger Laternen einen Wagen mit vier Pferden, von einigen, wie es schien, bewaffneten Reitern begleitet, vorüberfahren . "Ist dies eine Hauptstraße?" fragte er den alten Hans. "Kann dies vielleicht ein Postwagen sein, der dort fährt?"

"Hab' hier noch nie einen gesehen," erwiderte jener mürrisch, "und um einen Postwagen zu sehen, möchte ich kein kaltes Bad im Neckar wagen."

"Schnell! Wo geht man nach Neckareck, nach dem Gut des Generals?" fragte Albert, welcher besorgte, er möchte zu spät gekommen sein. "Spute dich, Alter!"

"So lassen Sie mich doch den Kahn erst wieder anschließen!" sagte Hans. "Doch, wenn Sie Eile haben, nur hier links immer die Straße fort ! Sie führt gerade auf das Schloß zu; ici) will schon nachkommen."

Der junge Rantow lief mehr, als er ging; der Alte keuchte mühsam hinter ihm her; aber so oft er ihn erreicht hatte, lief jener wieder schneller, als würde er verfolgt. Endlich sah er das Schloß mit seinen weißen Säulen durch die Nacht schimmern; es fiel ihm ängstlich auf, daß viele Fenster erleuchtet waren. und als er näher kam. sah er deutlich Menschen an den Fenstern hin- und herlaufen. Der Schrecken dieser Nacht und die ungewöhnlich schnelle Bewegung hatten seine Kräfte beinahe erschöpft, aber dieser beunruhigende Anblick trieb



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ihn zu noch rascherem Laufen; in wenigen Minuten langte er an dem Schloß an; aber er mußte sich an die Pforte lehnen und nach Atem suchen, ehe er eintrat,

Der erste, dem er an der erleuchteten Treppe begegnete, war der Gardist, ein alter französischer Kriegsgefährte des Generals, der jetzt mehr den Haushofmeister als den Diener spielte. Erschien bleicher als sonst und schlich trübselig die Treppe herab. "Wo ist Euer junger Herr?" rief Albert hastig. "Führt mich schnell zu ihm!"

"Sacre bleu!" antwortete der Gardist erstaunt, als er den jungen Mann erkannte. "Weiß es Fräulein Anna schon? 0 la pauvre enfant!"

"Wo ist Robert?" rief Rantow drängender.

"ll est prisonnier ! erwiderte er traurig. "Auf die Festung gebracht comme ennemi de la patrie, comme démocrate, vier dragons la gensdarmerie haben ihn eskortiert. O, mein armer Monsieur Robert!"

"Führet mich zum General!" sagte Rantow, als er diese Nachricht hörte.

Monsieur General est sorti."

"Wohin?" rief der junge Mann, unwillig darüber, daß er jedes Wort dem alten Soldaten abfragen mußte.

"Mit seinem Sohn à la capitale, zu fragen, was Monsieur Willi verschuldet,"

Als Rantow sah, daß hier nichts mehr zu tun sei, suchte er einen anderen Bedienten auf und ließ sich die näheren Umstände der Verhaftung erzählen. Er hörte, daß spät abends, in Roberts Abwesenheit, ein Kommissär angekommen sei, der nach einer kurzen Rücksprache mit dem General die Papiere des jungen Willi untersucht und teilweise versiegelt habe. Darauf sei Robert nach Hause gekommen und habe sich gutwillig darein ergeben, dem Kommissär zu folgen; er habe seinem Vater das Wort darauf gegeben, daß man ihn unschuldig finden werde; das letztere habe der General einem Bedienten befohlen, am nächsten Morgen dem Herrn von Thierberg und seiner Familie zu sagen; er habe sich dann zu Pferd gesetzt und sei, nur von einem Bedienten begleitet, vom Schloß weggeritten. Der junge Willi selbst hatte weder nach Thierberg, noch sonst wohin Aufträge zurückgelassen.

So viel erfuhr Albert, und diese Nachrichten waren nicht dazu geeignet, ihn auf dem Rückweg freudiger zu stimmen. Er konnte auf den Trost, welchen Robert seinem Vater gegeben, keine große Hoffnung bauen, und vor allem war ihm vor dem Augenblick bange, wo er die schmerzliche Kunde der trauernden Anna bringen sollte.



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10.

Es waren seit jener traurigen Nacht mehrere Wochen verstrichen: sie deuchten der armen Anna ebensoviele Monate. Das Laub der Bäume fing schon an, sich zu bräunen, der Herbst mit seinem fröhlichen Gefolge war in das Tal eingezogen, Gesang und Jubel schallte von den Rebhügeln, schallte antwortend aus dem Fluß herauf, welcher Kähne, mit Trauben schwer belastet, abwärts trug. Als würde einem verwegenen, in diesen Bergen eingedrungenen Feind ein Gefecht geliefert, so krachte Büchsen- und Pistolenfeuer aus den Weinbergen; doch nicht das Wutgeschrei zurückgeworfener Kolonnen, sondern das Jauchzen einer freudeberauschten Menge stieg auf, wenn die Gewehre recht laut knallten oder wenn die vorspringenden Ecken der Bergreihen die tiefere Stimme eines Pfundböllers zehnfach nachriefen.

Mit verschiedenen Empfindungen sahen die Bewohner des Schlosses Thierberg diesem fröhlichen Treiben von einer altertümlichen Terrasse des Schlosses zu. Der junge Rantow blickte unverwandt und mit glänzenden Augen auf dieses Schauspiel, das ihm ebenso neu als anziehend erschien. Er hatte in seiner Heimat, im Kreise vertrauter Freunde, oft bemerkt, wie der Wein, diese Himmelsgabe, die Wangen freundlicher färbte, die Zungen löste und zu traulichem Gespräch, wohl auch zum Gesang, selbst die ernsteren fortriß; doch nie hatte er gedacht, daß eine noch rauschendere Freude, ein höherer Jubel mit der Bereitung des fröhlichen Trankes sich verbinden könnte. Wie poetisch deuchte ihm dieses lebhafte Gemälde! Welch frische, natürliche Bilder zeigte ihm sein Opernglas! Diese Gruppen hatte der Zufall geordnet, und doch schienen sie ihm reizender, als was die Kunst je erfunden. "Siehe," sagte er zu Anna, die, den schönen Kopf auf den Arm gestützt, ihm gegenübersaß und zuweilen einen ernsten Blick über das Tal hingleiten ließ, "siehe, dort gegenüber jenen Alten mit den silbergrauen Haaren! Wie viele solche Herbste mag er schon gesehen haben! Wahrlich, ich könnte an der Gruppe um ihn her seine Lebensgeschichte studieren. Der blonde Knabe, der ihm eben die große Traube brachte, ist wohl sein Enkel; den jungen Burschen, der mit der Pritsche die Mädchen neckt und durch seine Scherze von der Arbeit abhält, indem er sie anzutreiben scheint, halte ich für seinen jüngeren Sohn; siehe, jenes Mädchen hat seinen Schlag derb erwidert; sie ist wohl das Liebchen des muntern Burschen denn sie lachen alle und verspotten ihn. Dieser gebräunte, breite Mann von vierzig, der soeben den ungeheuern , mit Trauben gefüllten Korb auf seine Schultern hob, ist wohl der ältere Sohn und des blonden Knaben Vater. So hast



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du die vier Altersstufen, die sie wohl alle ohne viele Aenderung durchlaufen mögen."

"Gewiß, ohne viele Aenderung und ohne viel Vergnügen," bemerkte der alte Herr von Thierberg, der gleichgültig hinabblickte; "da:. ewige Einerlei seit vielen hundert Jahren. Der Kleine dort wird jetzt bald in die Schule getrieben und von seinem Schulmeister täglich geprügelt, gerade wie vorzeiten sein Großvater. Der junge Bursche wird bald Soldat oder auf ein paar Jahre Knecht in der Stadt. Kömmt er dann nach Hause und der Vater ist tot, so bekommt er sein kleines Stückchen Erbe und glaubt, heiraten zu missen; und hat er vier Kinder, so werden sie, wenn auch er einst stirbt, das armselige Erbe unter sich teilen und gerade viermal ärmer sein als er. So treibt es sich herauf und herab; zu dem Pulver, das sie heute verschießen, haben sie ein ganzes Jahr gespart, um doch auch e inen Tag zu haben, an welchem sie sich betäuben können; und das nennen sie lustig sein! Das nennen die Städter ein Fest, ein malerisches Volksvergnügen!"

"Nein! Sie sehen es zu düster an, Oheim!" entgegnete der Gast. "Mir scheint, ich gestehe es, eine wundervolle Poesie in diesem Treiben zu liegen. Diese Menschen sind so behende, so lebendig, so regsam. Stellen Sie einmal meine Marker hierher. wie unbeholfen und ungeschickt sie sich benehmen würden! Ich schäme mich heute noch der Unerfahrenheit, die ich letzthin zeigte; ich nahm in einem Ihrer Weinberge einem hübschen Mädchen das gebogene Messer ab und versprach, sie zu unterstützen; als ich die erste Traube abgeschnitten hatte und sie in das Körbchen legte, betrachtete das Mädchen nur den Stiel der Traube und sagte lächelnd: ,Er hat wohl noch nicht oft Trauben geschnitten?' und siehe, ich hatte, statt schief zu schneiden, gerade geschnitten. Nein! mir scheint diese Weinlese ein fortdauernder Festtag der Natur, eine liebliche, verkörperte Poesie."

"Poesie?" erwiderte Anna, indem sie einen trüben, wehmütigen Blick auf die Berge gegenüber warf. "Eine Poesie, die mir das Herz durchschneidet. Mir erscheint dieses fröhliche Treiben wie ein Bild des Lebens. Unter langem Jammer und Ungemach ein Tag der Freude, der durch seine hellen, freundlichen Strahlen das öde Dunkel umher nur noch deutlicher zeigt, aber nicht aufhellt! O, kenntest du erst das Leben dieser Armen näher! Wenn du sie beim ersten Erwachen des Frühlings sehen könntest! Jeder Winter verwüstet ihre steilen Gärten; der Schnee löst sie auf und reißt ihre beste, fruchtbarste Erde mit sich hinab. Aber rastlos zieht jung und alt heraus. Die Erde. die ihnen das Wasser nahm, tragen sie wieder hinauf und legen sie sorglich um die Reben her. Vom frühesten



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Morgen, in der Glut des Mittags, bis am späten Abend steigen sie, schwer beladen, die steilen, engen Treppen hinan. Welche Freude, wenn dann der Weinstock schön steht und nach den Blüten treibt; aber wie bitter ist zugleich ihre Sorge; denn der kleinste Frost kann ihre zarte Pflanze vernichten. Und fällt nun der böse Tau oder eine kalte Nacht, wie schauerlich ist dann ihr Geschäft anzusehen! Alle, selbst die kleinsten Kinder, strömen noch vor Tag in den Weinberg. Dort legen sie alte Stücke von Kleidern und Tüchern neben die Rebstöcke und brennen sie an, daß der qualmende Rauch die zarte Pflanze schützen möchte. Wie arme Seelen, ins Fegfeuer verbannt, schleichen sie um die kleinen, zuckenden Feuer und durch die Schleier, die der Ranch um sie zieht. Die Kleinen rennen umher, sie können noch nicht berechnen, welches Unglück sie sehen, aber die Männer und Weiber wissen es wohl; es ist eine kühle Morgenstunde, die das Werk langer, mühsamer Wochen zerstört und sie ohne Rettung noch tiefer in die Armut senkt."

"Wahrhaftig! Du bist Sank, Annal" sagte der alte Herr, indem er lächelnd zu ihr trat und doch nicht ohne leise Besorglichkeit seine Hand auf ihre schöne Stirne legte. "Du warst ja doch sonst so fröhlich im Herbst, gabst solchen bösen Gedanken niemals Raum und freutest dich mit den Fröhlichen. Bist du krank?"

Anna errötete und suchte fröhlicher zu scheinen, als sie es war. "Krank bin ich nicht, lieber Vater," erwiderte sie; "aber ich bin doch alt genug, um sogenannte Herbstgedanken haben zu dürfen. Man kann doch nicht immer fröhlich sein, und — mein Gott!" rief sie, indem sie errötend aufsprang — "ist er es nicht? — Seht dort! —"

"Willi?" rief Rantow verwundert und wandte sich nach der Seite, wohin Anna deutete.

"Wer denn?" sagte der Alte, indem er bald seine zitternde und verwirrte Tochter, bald seinen Gast ansah. "Wie kommst du nur auf Willi? Wer soll denn kommen? So sprechet doch!"

Aber in diesem Augenblicke trat auch schon der, dem Annas Ausruf gegolten hatte, herein; es war der alte Gardist. Er war noch nicht ganz auf die Terrasse getreten, als schon Anna, jede andere Rücksicht vergessend, zu ihm hinflog, seine Hand ergriff und eine Frage aussprechen wollte, zu welcher ihr der Atem fehlte. Der alte Soldat zog lächelnd seine Hand zurück, grüßte mit militärischem Anstand und berichtete in Form eines militärischen Rapportes, daß der General noch diesen Abend zu Hause eintreffen und —

"Ist er frei?" unterbrach ihn Anna, und seinen Sohn mitbringen werde, der auf sein Ehrenwort und die Sanson, die der Herr General gestellt habe, aus der Haft entlassen worden sei.



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In Annas Augen drängten sich Tränen; sie zitterte heftig und setzte sich nieder; der alte Thierberg, durch diesen Anblick überrascht, preßte die Lippen zusammen und blickte seine Tochter unwillig an, und Albert, der in den Zügen seines Oheims las, daß jener ein Geheimnis ahne, dessen Teilnehmer er bis jetzt allein gewesen war, fühlte sich befangen; er fürchtete für Anna, und erst in diesem Augenblick wurde es ihm deutlich, daß es fur ihn selbst besser gewesen wäre, sich nie in diese Angelegenheit zu mischen. "Ich lasse dem Herrn General danken und Glück wünschen," sagte nach einer peinlichen Pause Herr von Thierberg zu dem Grenadier und winkte ihm, zu gehen. "Wünsche nur," fuhr er fort, indem er auf der Terrasse mit heftigen Schritten auf und ab ging, "wünsche nur, daß die paar Wochen Gefängnis eine gute Wirkung auf den Herrn Weltstürmer gehabt haben mögen! Ein paar Monate hätten nicht schaden können, wäre es auch nur gewesen, um das heiße Blut abzukühlen und die vorschnelle Zunge zu fesseln. Aber das alles ist das Erbteil seiner hochweisen Frau Mama! Ein junger Mann von unbeflecktem Adel hätte sich so weit nicht verirrt; aber das, gewinnt man bei solchen Heiraten ; weil sie sah, daß man in unserem Zirkel ihre Abkunft nicht vergessen habe, hat sie ihrem Sohn solche republikanische Ideen eingeprägt und ihn zu einem Toren, wo nicht zu einem verderblichen menschen gemacht." Diese und andere Worte stieß er schnell und heftig aus, und plötzlich blieb er vor seiner Tochter stehen, sah sie mit grimmigen Blicken an und sagte Daun: "Ich glaube jetzt in der Tat, daß du kränker bist, als ich dachte; geh auf dein Zimmer! — Ich werde mit dem Vetter diesen Abend allein speisen; geh!"

Das arme Kind ging hinweg, ohne ein Wort zu sagen; sie mochte die Natur ihres Vaters kennen und wissen, daß jeder Widerspruch seinen Zorn steigere; sie mochte auch fühlen, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorgehe, wo sie zu wenig Macht über sich besaß, um ihr Geheimnis zu verbergen.

Als sie weggegangen war, schritt der Alte wieder eine Zeitlang schweigend hin und her; dann trat er zu seinem Neffen und fragte mit bewegter Stimme: "Was sagst du zu dem Auftritt, den wir da gesehen haben? Meinst du wirklich, es wäre möglich?"

"Ich kann Sie nicht verstehen, lieber Oheim."

"Nicht verstehen, Junge? So soll ich es denn selbst in den Mund nehmen? Wisse —ich habe entdeckt, daß Anna den —den von Driben nun, daß sie den Sohn des Generals liebt. — Zum Teufel, Junge! Du erwiderst nichts? Wie magst du so — so gleichgültig aussehen, wenn von der Ehre deiner Familie die Rede ist? Rede!"

"Ich tang hierin nichts sehen," entgegnete der junge Mann



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trotzig, "was etwa der Thierbergschen Ehre zu nahe treten könnte. Der alte Willi ist von Adel, ist ein berühmter General, ist reich —"

"Also abkaufen sollen wir uns unsere Ehre lassen, abhandeln? — Bursche, wenn du nicht mein Neffe wärst — Gott strafe mich, aber ich kenne mich selbst nicht, wenn ich in Wut bin. —Reich: Siehe, für so schlecht und niederträchtig halte ich mein Kind selbst nicht, daß es daran gedacht haben sollte. Sieh dich um — so weit du sehen kannst, war einst alles — alles mein; ich habe nichts mehr als diese verfallenen Türme und eine Hufe Landes, wie der gemeinste Bauer; aber auch dieses soll diese Nacht noch hinfahren, in den Schuldturm soll man mich werfen, mich auspfänden, mein altes Wappen entzwei schlagen, wenn ich je zugebe —"

"Oheim!" fiel ihm der Neffe erbleichend ins Wort, "bedenken Sie sich zuvor, ehe sie einen solchen Frevel aussprechen! Was kann dieser junge Mann dafür, daß sein Vater reich ists Beträgt er sich denn aufgeblasen? Macht er Anspruche auf seinen Reichtums Ich sagte es ja vorhin nur so in der Übereilung.

"Nein, das tun sie nicht, die Willim," antwortete nach einer Pause der Alte; "das ist noch ihre gute Seite. Aber das macht ihn nicht besser. Seine Grundsätze sind es, die ich hasse; er ist mein bitterster Feind!"

"Wie wäre dies möglich?" erwiderte Rantow beruhigend. "Wie könnte er Ihr persönlicher Feind sein!"

Was persönlicher Feind!" rief Thierberg heftiger. "Solche Feindschaft kenne ich nicht, und mein Feind musste ein anderer sein als dieser Knabe; aber ein Todfeind bin ich all diesem Wesen, diesen Neuerungen, diesem Deutschtum, Bürgertum, Kosmopolitismus, und welche Namen sie dem Unsinn geben mögen, und dessen treuester Anhänger eben dieser junge Mensch da ist. Das ganze erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts hatte den verdammten Geschmack dieses Unwesens, und man wird sehen, wohin es im jetzigen kommt, wenn diese Menschen und ihre Gesinnungen um sich greifen; aber, so wahr Gott lebt, man soll von dem letzten Thierberg nicht sagen können, daß er in seinen alten Tagen einem dieser Weltverbesserer die Hand zur Unterstützung gereicht hätte!"

"Aber, Oheim!" fiel Albert ein, dem es in diesem entscheidenden Augenblicke keine Sünde deuchte, gegen seine eigene Überzeugung zu sprechen, "gibt es denn in diesem Jahrhundert auch nur eine Familie, die nicht, wenn man sie einzeln durchginge, die verschiedensten Gesinnungen in sich schlösse? Wird denn der einzelne Mann dadurch schlechter, daß er eine andere Meinung hat als wir? Ist nicht Protestant und Katholik in den Augen des Vernünftigen



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gleich viel wert? Denkt nicht der General selbst ganz verschieden von seinem Sohn?"

"Laß mir den Glauben aus dem Spiel, Neffe!" entgegnete jener. "Darüber zu richten, geht weder dich, noch mich an. Aber dieser General vollends, der meinen Todfeind als Schutzpatron anbetet und diesen Bonaparte für den heiligen Georg hält, der den Lindwurm des veralteten Jahrhunderts tötete — diesen in m ein e r Familie! Es würde mich töten!"

"Aber wissen Sie denn, ob auch der junge Willi Ihre Tochter liebt? Hat denn Anna irgend etwas gestanden?"

Der Alte sah seinen Neffen bei dieser Frage lange und erschrocken an; Daun fuhr er nach einigem Nachsinnen gefaßter fort: "Nein, einer solchen Schmach halte ich sie nicht fähig; meinst du, meine Tochter werde sich in einen solchen — Menschen verlieben, ohne daß er sie zuvor mit tausend Künsten dazu verlockte? Nein, dazu ist sie mir noch immer zu gut! Aber —ich will mir Gewißheit verschaffen !"

Er sprach es, und noch ehe ihn Rantow aufhalten konnte, eilte der alte Mann hinweg, um seine Tochter zur Rede zu stellen. Düster schaute ihm der Gast aus der Mark nach. "Wahrlich, wenn die Aktien so stehen, werde ich weder Brautführer, noch Hochzeitsgast in Thierberg sein," sprach er; "der Alte müßte sich denn durch ein Wunder in einen Demagogen oder der Demagoge in einen rechtgläubigen Verehrer der alten Reichsritterschaft verwandeln."

11.

Es hatte dem General Willi nicht geringe Mühe gekostet, von seinem Sohn das Unglück einer längeren Gefangenschaft abzuwenden . Sein Ansehen war zwar in der Hauptstadt jenes Landes, welchem sein Gut angehörte, durch den Wechsel der Verhältnisse und Meinungen nicht gesunken; man verehrte in ihm einen Mann von hohem Verdienst, militärischer Umsicht und Tapferkeit, und es gab manche, die ihn wegen seiner treuen und ausdauernden Anhänglichkeit an jenen Mann, der einst das, Schicksal Europas in der Rechten getragen, bewunderten; es gab viele, die ihm, wenn sie auch diese Bewunderung nicht teilten, doch wegen der Beharrlichkeit und Charakterstärke, die er in den Tagen des Unglücke entfaltet hatte, wohlwollten. Dennoch mußte er sein ganzes Ansehen aufbieten, manche Türe öffnen, um seinem Sohn, auf dem der Verdacht , mit Verdächtigen in Verbindung zu stehen ,lastete, nützen zu können.



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Der General war ein Mann von zu großem Rechtsgefühl, als daß er, wenn er seinen Sohn schuldig glaubte, diese Schritte für ihn getan hätte. Aber es genügte ihm an der einfachen Versicherung seines Sohnes. "Ich teile," hatte er ihm gesagt, als er verhaftet wurde, "ich teile im allgemeinen die Gesinnungen jener Männer, die man jetzt zur Untersuchung zieht; aber — ich teile weder ihre Pläne, noch ihre Ansichten, die sie über die Mittel zum Zweck haben. Ich habe nur gedacht , nie gehandelt , habe mir selbst gelebt, nicht mit andern, und Beschuldigungen, welche andere treffen mögen, werden nie auf mich kommen." So war es denn gelungen, den jungen Willi auf so lange frei zu machen, als nicht stärkere Beweise, die gegen ihn vorgebracht würden, seine Anwesenheit vor den Gerichten notwendig machten, eine Schonung, die er nur der Fürsprache seines Vater:. und dem Vertrauen verdankte, das man in die Bürgschaft des Generals Willi setzte.

Sie konnten sich beide wohl denken, welches Aufsehen dieser Vorfall in der Umgegend von Neckareck gemacht haben mußte; hätten sie in einer Stadt gewohnt, so würden sie sich wohl damit begnügt haben, ihren Bekannten von ihrer Rückkunft Nachricht zu geben; aber die Sitte auf dem Lande fordert größere Aufmerksamkeit für gute Nachbarn; man mußte fünf oder sechs Familien im Umkreis von drei Stunden besuchen, mußte ihre Neugierde über diesen Vorfall umständlich befriedigen; kurz, man mußte sich zeigen, wie man sich etwa nach einer überstandenen Krankheit bei den Bekannten wieder zeigt und für ihre Teilnahme Dank sagt. Als aber der General mit seinem Sohn am dritten Tag nach ihrer Rückkehr nach Thierberg aufbrach, war es noch ein anderer Grund als Höflichkeit gegen gute Nachbarn, was sie dorthin zog. Der junge Willi mochte in den einsamen Wochen seiner Gefangenschaft Zeit gefunden haben, über sein Leben und Treiben nachzudenken; er mochte gefunden haben, daß ihn jene politischen Träume, welchen er nachgehängt hatte, nicht befriedigen könnten, daß es ein höheres, reineres Interesse gebe, wodurch sein Leben Bedeutung und Gehalt, seine Seele Ruhe und Zufriedenheit gewände,

Der General lächelte, als ihm Robert sein Verhältnis zu Anna entdeckte und die Wünsche auszusprechen wagte, die sich mit dem Gedanken an die Geliebte verbanden. Er lächelte und gestand seinem Sohn, daß er längst dieses Verhältnis geahnet, daß er gewünscht habe, das unruhige Treiben des jungen Mannes möchte eine festere Richtung annehmen. "Ich kenne dich," sagte er ihm; "wärest du zu jener Zeit jung gewesen, Wo wir in Europa umherzogen, um Krieg zu führen, so hätte deine Phantasie mit aller Kraft die großartigen Bilder des Krieges ergriffen, ich hätte dir den ersten Raum



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geöffnet, du selbst hättest dann deine Laufbahn gemacht. Daß du in diesen stillen Feiertagen des Jahrhunderts nicht dienen willst, kann ich dir nicht übel nehmen. De:, Umherschweifende in der Welt bist du satt, das Leben in den Salons genügt dir nicht, —so bleibe bei mir, besorge an meiner Statt meine Güter! Ich kann dabei nur gewinnen; ich gewinne Zeit für mich und meine Erinnerungen, gewinne dich, und —" setzte er mit einem freundlichen Händedruck hinzu, " wenn du anders deiner Sache gewiß bist, gewinne ich Anna."

Sie besprachen diese Kapitel auch auf dem Weg nach Thierberg wieder, und Robert gab seinem Vater Vollmacht, bei dem Alten und Anna für ihn zu werben. Sie verhehlten sich nicht, daß eine nicht unbedeutende Schwierigkeit im Charakter des alten Thierberg liegen könne. Ihre Gesinnungen hatten so oft die seinigen beinahe feindlich durchkreuzt; man hatte sich wegen Meinungen so oft gezankt, man war oft unzufrieden, beinahe verstimmt auseinander gegangen. Aber sie trösteten siel) damit, daß er doch nie persönliche Abneigung gezeigt habe, und die Vorteile, die für Thierberg aus dieser Verbindung hervorgingen, erschienen so bedeutend, daß der General, als sie über die Zugbrücke ritten, sich schon im Geist als Vater der schönen Anna zu sehen glaubte und vertrauensvoll auf das Thierbergsche Wappen über dem alten Portal zeigte. "M u t gewinnt , führen sie als Symbol im Wappen," flüsterte er seinem Sohn zu. "Das fügt sich trefflich: denn weißt du noch, was der Wahlspruch deiner Ahnen war"

"Der Will' ist stark!" rief der junge Willi, freudig errötend . "Mut gewinnt — und der Will' ist stark!"

Im Schloßhof empfing Rantow die Angekommenen. Er entschuldigte seinen Oheim mit einem kleinen gichtischen Anfall, der ihn verhindere, die steile Treppe herabzusteigen und seinen Geisten entgegenzugehen. Er sagte dies schnell und nicht ohne einige Verlegenheit , die er hinter einem Schwall von Glückwünschen für Robert Willi zu verbergen suchte. Nach den Verhältnissen, die gegenwärtig in den alten Mauern von Thierberg herrschten, konnte nicht leicht etwas störender wirken als dieser Besuch. Man hatte zwar den Vetter aus der Mark nicht mit in das Geheimnis gezogen. Der Vater schien es zu bereuen, daß er sich nur so weit gegen seinen Neffen ausgesprochen habe, und Anna hatte mit ihm seit einigen Tagen nie mehr über Willi gesprochen, sei es auf ein Verbot ihres Vaters, sei es aus Argwohn, er möchte dem Alten ihr Geheimnis verraten haben. Seit jenem Abend jedoch, wo die Rückkehr Roberts angekündigt worden war, herrschte eine Spannung, die um so drückender wurde, da die ganze Gesellschaft zwar aus dreierlei Parteien, aber — nur aus drei Personen bestand.



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Anna sprach wenig, hielt sich meist auf ihrem Zimmer auf wohin Albert noch niemals eingeladen worden war. Der Alte war mürrisch, aufbrausender als sonst gegen seine Diener, gegen seinen Gast herzlich wie zuvor, aber ernster und einsilbiger, gegen seine Tochter kalt und gleichgültig. Ertrank, trotz der bittenden Blicke die Anna zuweilen nach ihm hinzusenden wagte, mehr Wein als gewöhnlich, schimpfte dann auf die ganze Welt, verschlief den Nachmittag und ließ sich abends den Amtmann holen, um ein Spiel mit ihm zu machen. Dann setzte sich Anna mit ihrer Arbeit in ein Fenster, ließ sich von dem Vetter etwa:, vorlesen; aber Tränen, die hin und wieder auf ihre Hand herabfielen, zeigten dem jungen Mann, wie wenig ihr Geist mit dem beschäftigt sei, was er eben las. Der Anfall von Gicht, der über den Alten kam, machte die Sache womöglich noch schlimmer. Man sah, wie er alle Kraft aufbot, seine Schmerzen zu unterdrücken, nur um der natürlichen Hilfe seiner Tochter weniger zu bedürfen, und wenn fälle eintraten, wo er diese Hilfe nicht abweisen konnte, wenn das schöne Kind bleich und mit Tränen im Auge vor ihm kniete, um seine Beine in warme Tücher zu hüllen, da wandte er sich ab, pfiff irgend ein altes Liedchen, nannte sich einen Mann, der bald in die Grube fahren musse, und fand es schön, daß doch ein Enkel der Thierberge zugegen sein werde, wenn man den letzten dieses Namens beisetzte.

Rantow wußte zwar, daß sein Oheim da:: Gastrecht gegen seine Nachbarn nicht verletzen werde; aber diese letzten Tage fielen ihm schwer auf die Seele, als er die Fremden die Treppe hinanführte, und er sah voraus, daß die beiden Willis gewiß nichts dazu beitragen würden, die Verstimmung aufzulösen.

Der Empfang war übrigens herzlicher, als er sich gedacht hatte. Es gibt eine gewisse höfliche Freundlichkeit, die man sich angewöhnen kann, ohne sich dessen bewußt zu werden. Besonders auffallend erscheint diese Eigenschaft, wenn sich Männer begrüssen, von welchen wir wissen, daß sie keiner Heuchelei fähig sind, und die dennoch. sei es durch Meinungen, sei es durch Verhältnisse, sich feindlich gegenüberstehen. So schien es auch der alte Thierberg nicht über sich vermögen zu können, sein gewohntes Ah! schön! schön! Freut mich, Platz genommen!" diesmal mit einem kälteren und förmlicheren Gruß zu vertauschen, und die fünfhundertjährige Gastfreundschaft dieser Burg schien die unwillkommenen Gäste in ihre schützenden Arme zu schließen. Ein Blick von Anna hatte dem jungen Willi gesagt, was hier vorgegangen sei. Erfand sie blaß, ihre Stimme nicht so fest wie sonst, es lag Kummer um den holden Mund, und ihre Augen schienen weicher geworden zu sein. Er pries im stillen ihren richtigen Takt, daß sie mehr zu dem General sprach als zu ihm;



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denn er hätte, von diesem Anblick ergriffen, nicht Fassung genug gehabt, Gleichgültiges mit ihr zu reden. Rantow, der einen ganz andern Auftritt erwartet hatte, wunderte sich, daß auch in diesem "ehrlichen Schwaben," wo ihm sonst alles so offen und ehrlich deuchte, vier Menschen, die sich so nahe standen, ein so falsches Spiel unter sich spielen könnten, ihre Gedanken, ihre Leidenschaften unter einer so ruhigen Hülle zu verdecken wüssten. Er sah staunend bald den jungen Willi und den alten Thierberg an, die ganz ruhig und abgemessen sich über die Ereignisse der letzten Wochen besprachen; bald hörte er auf das Gespräch zwischen dem General und der Geliebten seines Sohnes, die dasselbe Thema, nur mit Veränderungen, abhandelten, wobei übrigens Anna eine solche Ruhe an den Tag legte, daß sie nie hastig fragte, von nichts mehr als schicklich ergriffen war. Der General wandte sich im Gespräch und ging mit ihr langsam im Saal auf und ab. Erstellte sich endlich wie zufällig in einen tiefen Fensterbögen, und Albert entging es nicht, daß er sich dort schnell zu dem schönen Mädchen herabbückte, ihr etwas zuflüsterte, was eine tiefe Röte auf ihre Wangen jagte. Sie schien erschrocken, sie faßte seine Hand, sie sprach leise, aber heftig zu ihm; aber er lächelte, schien sie zu beruhigen, zu trösten, und so stolz und zuversichtlich war seine Stirne. waren seine Züge, als müsste er in diesem Augenblick seine Division ins Feuer führen, um den schwankenden Sieg zu entscheiden.

Der Gast aus der Mark ahnete, daß dort in jenem Fensterbögen ein Entschluss gefaßt oder mitgeteilt worden sei, der auf Annas Schicksal sich beziehe, und das Herz pochte ihm, wenn er an den eisernen Trotz seines Oheims dachte. Die Diener hatten indessen Wein herbeigebracht, man setzte sich in eines der weiten Fenster, und wenn nur die Gemüter der fünf Menschen, die um den kleinen Tisch saßen, weniger befangen waren, der schöne Tag, der Anblick des herrlichen Tales, das vor ihnen lag, hätte sie zu immer höherer Freude stimmen müssen.

Der General, dem es peinlich sein mochte, daß das Gespräch nach und nach zu stocken anfing, bat Anna um ein Lied, und ein Wink ihres Vaters bekräftigte diese Bitte. Man brachte ihre Gitarre herbei, der junge Willi stimmte die Saiten; aber waren es die Worte des Generals, war es der Anblick ihres Vaters, war es die langersehnte Nähe des Geliebten, was sie verwirrte, sie errötete und gestand, daß sie in diesem Augenblick kein passendes Lied zu singen wusste. Man schlug vor, man verwarf, bis Rantow beifiel, wie man einst in Berlin eine berühmte, schöne Sängerin von einer ähnlichen Verlegenheit befreite. Er schnitt kleine Zettel und ließ jeden ein Lied aufschreiben. Dann faltete er die Papiere geschickt und zierlich



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zusammen, schüttelte sie als Lose durcheinander und ließ die Sängerin eines wählen.

Sie wählte, sie öffnete das Los und errötete sichtbar, indem sie den General besorgt anblickte. "Das hat niemand anders als Sie geschrieben," sagte sie. "Warum denn gerade dieses Lied? Es ist nicht immer politisch, ein politisches Lied zu singen!"

"Wenn es nun aber mein Lieblingslied ist!" erwiderte Willi. "Ich appelliere an Ihren Vater; stand nicht die Wahl durchaus frei?"

"Gewiß," antwortete der Alte, "du singst, Anna; und wenn das Lied Politik enthalten sollte — nun, erdichtete Politik kann man ja immer noch ertragen."

Sie nickte schweigend Gehorsam zu. Aber von jenem Augenblick an, wo sie mit einem kurzen, aber kräftigen Vorspiel den Gesang anhob, schien auf ihren lieblichen Zügen eine Art von Begeisterung aufzugehen. Eine zarte Röte spielte auf ihren Wangen, ihre Augen glänzten, und um den schönen Mund, der die Töne so voll und rund hervorströmen ließ, spielte anfangs ein Lächeln, das mehr und mehr in Wehmut überging. Es war eine französische Ode, aus welcher sie einige Stellen vortrug. Die Melodie, bald heiter, ermunternd, bald erhaben und triumphierend, bald ernst und getragen, schmiegte sich an das wechselnde Versmaß und den Gedankengang der Strophen, und so süß war ihre Stimme, so ausdrucksvoll ihr Vortrag, so hinreißend ihr ganzes Wesen, das mit dem Gesang sich zu verschmelzen schien, daß die Männer, wenn sie gleich über den Gegenstand die verschiedensten Gesinnungen hegten, doch von dem Strom der Töne mit fortgerissen wurden. Wie erhaben war ihr Vortrag, als sie sang:

"Cachez ce lambeau tricolore!
C'est sa voix; il aborde, et la France est à lui."


***
Ernst, beinahe traurig, hod) nicht ohne Triumph fuhr fie fort:
"II la joue, il la perd; l'Europe est satisfaite
Et l'aigle, qui, tombant aux pieds du Léopard
Change en grand capitaine un héros de hasard,
Illustre aussi vingt rois, dont la gloire muette
N'eût jamais retenti chez la postérité;
Et d'une part dans sa défaite,
Il fait à chacun d'eux une immortalité").


***
Als fie geendet [jatte, legte fie hic Gitarre nieder und ging, während die Männer lied) in verlegener Stille satzen, schnell hinweg. 
1) Sept Messénlennes nouvelles par M. C. Délavigne. 1re. J e départ.



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"Il la jano, il la perd," sprach der alte Thierberg lachend. "Eine große Wahrheit! Und dieser Dichter, wer er auch sein mag, konnte jenen Mann nicht besser schildern; seine ganze Größe bestand ja nur dann, daß er das rouge noir so hoch als möglich spielte, und der alte Satz, daß der kaltblütigste Spieler endlich gewinnt, bestätigte sich an ihm. Der Leopard hat doch die Bank gesprengt, und Wellington wird es eben darum keinen Kummer machen, wenn man ihn heros hasard nennt,"

"Wie lächerlich sind solche Hyperbeln!" rief Rantow, "als ob zwanzig Könige ihren Nachruhm, ihre Unsterblichkeit diesem Sommerkönig zu verdanken hätten! Was uns betrifft wenigstens, so wird man eingestehen müssen, daß der Ruhm der preußischen Waffen älter ist als der des sogenannten Siegers von Italien und nicht von der großen Nation geadelt werden mußte." .

"Und dennoch," erwiderte der General mit großer Ruhe, "dennoch wird man einst nicht sagen, es war Bonaparte, der zur Zeit dieses oder jenes Königs lebte — man wird sagen, Herr von Rantow, sie waren Zeitgenossen Napoleons. Doch was den Obergeneral de:, englischen Heeres in der Bataille von Mont St. Jean betrifft, so möchte es die Frage sein, ob ihm der Titel heros hasard sehr angenehm ist; so viel ist wenigstens gewiß, daß er jene Schlacht nicht gewonnen, sondern nur — nicht verloren hat."

"Es ist ein Glück für die Welt," bemerkte Thierberg lächelnd, "daß man Ihren Satz umkehren kann und daß er dann noch höhere Wahrheit enthält; Ihr Herr und Meister hat jene Schlacht zwar nicht gewonnen , aber desto gewisser verloren."

"Er hat sie verloren," antwortete der General; "was die Welt damit verlor, will ich nicht aussprechen; aber jene Strophe, womit Anna ihren Gesang schloß, drückte aus, wer noch am Abend jenes unglücklichen Tages, als Cäsar und sein Glück von der Übermacht zerschmettert wurden, als meine braven Kameraden auf Mont St. Jean den letzten Atem aushauchten, der — Größere war.

"Der Größere! Und dies können Sie noch fragen, General ?' entgegnete heftig der junge Mann aus der Mark. "Als die Strahlen der Abendröte über jenes denkwürdige Feld streiften, beleuchtend die Schande Frankreichs und sein verwirrtes Heer, als blutend aber unbesiegt das englische Heer jene Hügel deckte und Deutschland: Völker stolzen Schrittes in die Ebene herabstiegen, um den Kampf siegend zu entscheiden — denken Sie sich, ich bitte, jenen erhabenen Moment, und sagen Sie mir, wer da der Größere war."

"Der Gott des Zufalls," erwiderte der General. "Mächtger war er wenigstens als jener alte Held, der auch noch an seinem letzten



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Schlachttage zeigte, welche mächtige Kluft zwischen dem Genie und roher, wohlgenährter, tierischer Kraft befestigt sei. Er ist gefallen, nicht, weil ihm England oder Deutschland gewachsen war, sondern, weil er früher oder später fallen mußte, weil er einen Vertilgungskrieg gegen sich selbst führte, der seine Kräfte aufrieb; oder können Sie mir beweisen, daß an jenem Tage von Waterloo das Genie des englischen Feldherrn oder gar Ihres Blücher ihn besiegte?"

Seien wir gerecht," nahm der junge Willi das Wort; "geben wir zu, daß ihm keiner seiner militärischen Gegner gewachsen war, so beweist dies noch immer nichts für jene innere Größe, für jene moralische Erhabenheit, welche die Mitwelt mit sich fortreißt, ihr Jahrhundert bildet und Segen noch auf die späte Nachwelt bringt. Napoleon war ein großer Soldat, — aber kein großer Mensch."

"Sohn!" erwiderte der General, "wie kannst du in irgendeinem Fach des Wissens groß, größer als sonst ein Mann des Jahrhunderts werden, ohne ein großer Mensch zu sein? Die Maschine ist es nicht, nicht dieser Körper ist es, was sie groß macht, es ist der Geist. Jene veralteten Formen Europas, von klugen Männern vor tausend Jahren ausgedacht, stürzten zusammen, weil es Formen waren, die der Geist verlassen hatte; sie brachen ein vor den Blitzen seines Genies, sie hatten da: Schicksal jener Leichname, die, in Grüften eingeschlossen, in ihren fürstlichen Leichenprunk gehüllt , Jahrhunderte überdauern, weil sie die Kerkerluft ihre: Grabes nicht vermodern läßt. Berühre sie mit lebendiger Hand, hauche sie an mit freiem Odem, und — sie zerfallen in Asche!"

"Dies beweist nicht gegen mich," sagte Willi.

"Und wo ist denn das große und feste Reich, das der große Mann gründete?" unterbrach ihn Thierberg; "Sie vergleichen unsere schönen alten Institutionen, Gott möge es Ihnen verzeihen, mit einem Leichnam; aber was war denn jener korsische Kaiserthron, was sein Staatsgebäude, als ein Kartenhaus?"

"Ich habe nie gesagt, daß Napoleon der Mann war, einen großen Staat zu gründen," antwortete der alte Wille "Frankreich war unter ihm ein Lager, dessen erste Posten die Rheinbundstaaten bildeten. Er hätte vielleicht ein Ende genommen, das seiner oder Frankreichs unwürdig gewesen wäre, Wenn er einige Jahre in beständiger Ruhe und in Frieden regiert hätte."

So war also das Ende, welches er nahm, seiner würdige" fragte Rantow lächelnd.

"Nicht der Platz, auf welchem wir stehen," versetzte der General nicht ohne Wehmut, "nicht der Raum. sei er groß oder klein, gibt uns Würde oder Schmach. Wir sind es, die uns und unsere Posten



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adeln oder schänden. Die Welt hat gelacht und gehöhnt, als man den größten Geist des Jahrhunderts auf eine öde Insel verbannte. Dort, an der höchsten Felsenspitze, haben sie den alten Adler angeschlossen, wo er nur in die Sonne, auf den weiten Ozean und in einige treue Herzen sah. Aber man hat nicht bedacht, wie vielen Stoff zum Lachen man der Nachwelt gebe; es war nicht Strafe, was ihn dorthin verbannte; werin Europa konnte ihn strafen? Es war — Furcht. So mußte es kommen, daß man in ihm noch immer den Gefürchteten sah, und manche Herzen, die sich von ihm abgewendet hatten, fingen an, ihn wieder zu lieben; pflegt doch das Unglück die Menschen zu versöhnen, und — es war ja nichts an seine Stelle getreten, was ihn hätte vergessen machen können."

"Glauben Sie etwa, Herr Nachbar," sagte Thierberg, "es hätte wieder ein solcher Attila auftreten müssen, nur um die Zeitungsschreiber zu unterhalten? Vergessen wird man wohl jenen Namen noch lange nicht, aber — man wird ihn verdammen."

"Mancher hat ein persönliches Recht dazu, und ich kann ihn darum nur beklagen, nicht entschuldigen, daß sein Gang über die Erde nicht die gebahnte Straße ging. Aber man wird auch mit andern Gefühlen sich seiner erinnern. Die Großen der Erde scheinen zwar nicht viel von ihm gelernt zu haben, desto mehr vielleicht die Kleinen. Er hat sich seine Bahn so erhaben aufgerissen als Alexander, er hat sie verfolgt wie Cäsar, man hat ihm gedankt wie dem Hannibal , auf jenem Felsen hat er gelebt wie Seneca, und seine letzten Tage waren eines Sokrates würdig."

"In diesem Punkt werden wir nimmer einig," erwiderte der alte Thierberg: " was mich betrifft, so kommt er mir vor, als habe er seine Laufbahn eröffnet wie ein Aventurier, habe sie verfolgt wie ein Räuber, habe mit seinem Raub verfahren wie ein verzweifelter Spieler und habe geendet wie ein — Komödiant!"

"Wir sind noch nicht seine Nachwelt," bemerkte Robert Willi. "Erst wenn alle Parteien, die persönliches Interesse aussprachen, von der Erde verschwunden sind, dann erst wird man mit klarem Auge richten. Mein Held ist er nicht; aber in seinen italienischen Feldzügen erscheint er wie ein Wesen höherer Art, und dies wenigstens werden Sie auch zugeben, Herr von Thierberg."

"Es ist möglich," versetzte der Alte; " er hat damals mein Staunen, meine Bewunderung erregt; aber wie schnell wurde ich von meiner Vorliebe geheilt! Wenn er damals den Bourbons den Thron zurückgegeben hätte — die Macht hatte er dazu —so wäre er mir wie ein Engel erschienen."

"Dies war wegen seiner Armee, die anders dachte, unmöglich," antwortete der General.



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"Sie erinnern sich," fuhr der Alte fort, "daß ich Ihnen öfter von einem französischen Kapitän erzählte, der mich in der Schweiz aus großer Verlegenheit rettete, — der einzige Franzose, den ich achte und für den ich noch jetzt alles tun könnte. Mit diesem sprach ich damals auch über diesen Punkt. Ich sagte ihm, daß Frankreich ohne Rettung verloren gehe, wenn es in der ewigen, sich immer von neuem gebärenden Revolution fortfahre; nur ein König an der Spitze könne es retten. — Ergab es zu; er sagte mir, daß die Bourbons eine große Partei in Paris hätten und daß mein Gedanke vielleicht erfüllt würde. Ich fragte ihn, wie der Konsul Bonaparte, der damals an der Spitze stand, darüber dächte. ,Er äußert sich nicht,' erwiderte mir der Kapitän; ,aber wenn ich ihn recht verstehe,' setzte er lächelnd hinzu, ,so wird Frankreich bald nur einen Meister haben.' Ich deutete dies Wort meines neuen Freundes damals auf die Zurückkunft der Bourbons; leider ist es an Bonaparte selbst in Erfüllung gegangen."

Der junge Willi war schon zu Anfang dieser Rede aufgestanden; er hatte Annas Vater die Geschichte von seinem Kapitän schon einige dutzendmal erzählen gehört, und sein Blut wallte in diesem Augenblick noch zu unruhig, als daß er sie von neuem anhören mochte; er ging mit zögernden Schritten im Saal auf und nieder; als aber der alte Thierberg im Gespräch mit dem General auf die jetzigen Verhältnisse Frankreichs einging, ein Punkt, über den sie niemals in Streit gerieten, gesellte sich auch Rantow zu dem jungen Willi. Er ließ sich von ihm die Geschichte der letzten Wochen noch einmal wiederholen, führte ihn unbemerkt in das nächste Zimmer und dann auf den breiten Hausflur. Dort hielt er plötzlich inne und flüsterte dem erstaunten jungen Mann ins Ohr: "Sie dürfen vor mir kein Geheimnis mehr haben; Anna hat mir alles entdeckt, und auf meinen Beistand können Sie sich verlassen." Noch einen Augenblick zweifelte Robert, weil ihm diese Nachricht zu neu und unerwartet kam; als aber Rantow ins einzelne einging und ihm erzählte, was in jener Schreckensnacht vorgefallen sei, als er ihm entdeckte, wie ungünstig gegenwärtig die Verhältnisse seien, da stand jener nicht länger an, die Hilfe, die ihm geboten wurde, anzunehmen; er bat Albert, ihm, wenn es möglich wäre, Gelegenheit zu verschaffen, mit Anna zu sprechen.

Der Gast aus der Mark dachte einige Augenblicke nach, ob er dies möglich machen könnte; Anna hatte ihn selbst zwar nie auf ihr Boudoir im Turm eingeladen; aber er hoffte, in solcher Begleitung , nicht unwillkommen zu sein; das einzige, was ihn hätte abhalten können, war die Furcht vor dem Zorn seines Oheims, im Fall diese Zusammenkunft entdeckt wurde; aber die Lust, wo er nicht selbst



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die Rolle übernehmen konnte, wenigstens die Intrige zu unterstützen, siegte über jede Bedenklichkeit; er winkte dem jungen Willi, ihm zu folgen. Der Gang nach Annas Turm war ihm bekannt. Nach der Lage ihrer Fenster mußte ihr Gemach noch zwei Stockwerke höher liegen als der Saal. Sie stiegen eine enge, steile Treppe von Holz hinan, die unter jedem Tritte, so behutsam sie auch stiegen, ächzte. Zum nicht geringen Schrecken begegnete ihnen auf dem ersten Stock der alte Hans, der sie verwundert ansah. Albert winkte seinem Gefährten, nur immer voranzugehen; er selbst nahm, ohne in seiner Bestürzung zu bedenken, ob es klug sein möchte, den alten Diener auf die Seite. "Hans!" sagte er, " wenn du deinem Herrn ein Wort " "O," erwiderte jener schlau lächelnd, "da hat es gute Wege, so wenig als in jener Nacht, da Sie mich beinahe in den Neckar warfen —ich bin so still wie ein toter Hund." Beruhigt folgte Rantow dem Liebhaber; sie hatten bald das Ende der Treppe erreicht und standen nun auf einer Art von Vorsaal; die Reinlichkeit und Zierlichkeit, die hier herrschte, ließ ahnen, daß man sich nicht mehr weit von Annas Gemach befinde. Zwei Türen gingen auf diesen Vorplatz; sie wählten auf gutes Glück die nächste, pochten an — keine Antwort. Sie pochten wieder; jetzt tat sich die zweite Türe auf, und Anna erschien auf der Schwelle.

Sie errötete, als sie die beiden jungen Männer sah; doch als habe dieser Besuch nichts Auffallendes an sich, lud sie dieselben durch einen freundlichen Wink ein, näher zu treten. "Ihr kommt wohl, um die schöne Aussicht von meinem Turm zu betrachten?" sagte sie. "Jetzt erst fällt mir bei, daß du nie hier warst, Albert; aber so ganz bin ich schon an diesen herrlichen Anblick gewöhnt, daß es mir nicht einmal einfiel, dich hieher einzuladen."

12.

Das Gemach war klein, die Geräte gehörten einer früheren Zeit an; aber dennoch war alles so freundlich und geschmackvoll geordnet, daß Rantow, nachdem er die Aussicht geprüft, die nächsten Umgebungen gemustert und alles recht genau angesehen hatte, dieses Zimmer für das schönste im Schloß erklärte. Nur eine breite Kiste, von schlechtem Holz zusammengezimmert, die auf einer Kommode stand. schien ihm nicht mit den übrigen Gerätschaften zu harmonieren. So ungerne er die beiden Liebenden, die, anscheinend in die Aussicht auf das Tal hinab vertieft, eifrig zusammen flüsterten, stören mochte, so war doch seine Neugierde, zu wissen, was der geheimnisvolle



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Schrank verberge, zu groß, als daß er nicht seine Base darüber befragt hätte.

"Bald hätte ich das Beste vergessen!" rief sie aus. "Das Bild für Ihren Vater ist heute angekommen, Robert; ich habe es hieher gestellt, weil mein Vater nie hieher kömmt und weil ich es doch auch betrachten wollte." Sie rückte unter diesen Worten den Deckel des Schrankes. Willi half ihn herabnehmen, und das Bild eines Reiters, der auf einem wilden Pferd eine Anhöhe hinansprengt, wurde sichtbar.

"Bonaparte!" rief Rantow, als ihm die kühnen, geistvollen Züge aus der Leinwand entgegensprangen.

Erkennst du ihn?" fragte Anna lächelnd. "Das war der Sieger von Italien!"

"Ich hätte nicht geglaubt, daß die Kopie so gut gelingen könnte," bemerkte Willi "aber wahrlich, David war ein großer Maler. Wie edel ist diese Gestalt gehalten, wie glücklich der Einfall, diesen hochstrebenden Mann nicht in der gebietenden Stellung eines Obergenerals, sondern in einer Kraftäußerung aufzufassen, die einen mächtigen Willen und doch eine so erhabene Ruhe in sich schließt."

"Ich kenne das Original," sagte Rantow, " es ist in der Galerie zu Berlin aufgestellt, und ich finde diese Kopie trefflich; für Liebhaber des Gegenstandes, worunter ich nicht gehöre, gewinnt dieses Gemälde um so höheres Interesse, als die Idee dazu von Napoleon selbst ausging. Man sagt, David habe ihn malen wollen als Helden, den Degen in der Hand, auf dem Schlachtfelde; Bonaparte aber erwiderte die merkwürdigen Worte: ,Nein! Mit dem Degen gewinnt man keine Schlachten; ich will ruhig gemalt sein — auf einem wilden Pferde."

"Dank dir für diese Anekdote," erwiderte Anna, "sie macht mir das Bild um so lieber, und nicht wahr, Robert," setzte sie hinzu — auch Ihr Vater soll durch seine Originalität nur noch mehr erfreut werden."

"Anna!" unterbrach die Beschauenden eine dumpfe, wohlbekannte Stimme. Sie sahen sich um; der alte Thierberg, auf seinen Diener gestützt, stand mit hochrotem, zürnendem Gesicht und zitternd vor ihnen; der General, welcher seitwärts stand, schien verlegen und ängstlich. Aber so schnell war dieser Schreck, so groß die Furcht Annas vor ihrem Vater und so furchtbar sein Anblick, daß sie zu schwanken anfing, und hätte der General sie nicht unterstützt, sie wäre in die Knie gesunken.

"Sind das die gerühmten Sitten Ihres Herrn Sohnes," wandte sich der Alte bitter lachend zu dem General, indem er bald den Sohn. bald den Vater ansah. "Heißt das, wie Sie mir vorzumalen suchten,



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sich in den zartesten Grenzen des Anstandes halten? Herr! Wie kommen Sie dazu, mit meiner Tochter allein auf ihrem Zimmer zu sein ?

"Onkel —" rief Rantow, um ihn zu belehren.

"Schweig, Bursche!' antwortete ihm der zürnende Alte, indem er immer den jungen Willi mit glühenden Blicken ansah.

"Ich denke," erwiderte dieser ruhig und mit stolzer Fassung, "die Erziehung Ihrer Tochter und Annas Sitten müssten Ihnen Bürge sein, daß ein Mann, selbst wenn er allein käme, sie besuchen dürfte, vorausgesetzt, sie will ihn empfangen, und über den letzteren Punkt steht nach allen Gesetzen der guten Sitte der jungen Dame selbst, nicht aber Ihnen, Herr von Thierberg, die Entscheidung zu."

Diese Worte schienen seinen Eifer noch mehr zu entflammen, er atmete tief auf; aber in diesem Augenblick trat sein Neffe mutig dazwischen und redete ihn auf eine Weise an, die, wie ihn sein kurzer Aufenthalt bei den Thierbergs gelehrt hatte, die Wirkung nicht verfehlen konnte. "Herr von Thierberg," rief er bestimmt und mit ernster Miene. "Sie haben mir vorhin zu schweigen geboten; ich werde aber nicht schweigen, wenn man meiner Ehre zu nahe tritt. Ich bin es gewesen, der Herrn von Willi hieher führte, ich bin es gewesen, der ihn hier unterhielt, und er hat mich hieher begleitet, weil ich ihn darum gebeten habe."

"Du warst zugegen?" fragte der Oheim mit etwas gemilderter Stimme. "Aber was Teufel geht dich das Zimmer meiner Tochter an? Was hattest du hier zu suchen?"

Mit einer theatralischen Wendung und sprechender Miene wandte sich der Neffe gegen die Hinterwand des Zimmers, deutete mit dem ausgestreckten Arm hin und sprach: "Hier steht, was ich

Der Alte trat mit schnelleren Schritten, als seine Krankheit erlaubte, näher. Er betrachtete das Bild und blieb mit einem Ausruf des Erstaunens stehen; seine trotzige Miene klärte sich auf, seine Stirn entfaltete sich, sein blitzendes Auge schimmerte nur noch von Rührung und Freude. "Gott im Himmel," rief er ans, indem er das Mützchen abnahm, das er beständig trug, " wer hat mir das getan , woher, woher habt ihr ihn? Wer hat ihn meinen Gedanken nachgebildet? Wer hat mir diese Züge, diese Augen hier, hier aus meinem Herzen herausgestohlen?"

Die Männer sahen sich staunend an; betreten richtete sich Anna auf und trat näher; denn sie besorgte, ihr alter Vater rede irre. Wer hat dieses Bild hieher gestellt?" fragte er nach einer Pause, indem er sich umwandte, und alle sahen Tränen in seinen Augen glänzen.



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"Ich, mein Vater," sagte Anna zögernd.

"O, du gutes Kind," fuhr er fort, indem er sie in seine Arme schloß, " wie unrecht habe ich dir vorhin getan! Als ich in dieses Zimmer trat, glaubte ich, du habest mich tief gekränkt, und doch hast du mich so unendlich erfreut! —Kennst du ihn, Hans?" wandte er sich an seinen Diener. "Kennst du ihn nicht wieder?"

"Gott straf' mich, er ist's!" erwiderte der alte Reitknecht. "Solche schreckliche Augen machte er gegen die fünf Buschklepper, die uns auszogen. O, das war ein braver Herr!"

Die, welche den Herrn und seinen Diener so sprechen hörten, konnten sich von ihrem Staunen kaum erholen; sie sahen sich lächelnd an, als ahnten sie eine sonderbare Fügung des Geschicks, als sei ein schweres Gewitter segnend über ihnen hinweggezogen. Der General aber, der bald Anna, bald das Bild mit blitzenden Augen betrachtet hatte, trat näher heran und fragte den alten Thierberg, wen er denn in diesem Bilde wiedererkennen

"Das ist derselbe treffliche Kapitän," antwortete er, "der mich am Fuß des St. Bernhard aus der Gewalt ruchloser Soldaten errettete; wie? Er ist derselbe, von welchem ich Ihnen so oft erzählte, das Muster eines braven Mannes, eines gebildeten und klugen Soldaten."

"Nun, so bitte ich Sie," fuhr der General mit inniger Rührung fort, indem auch ihm eine Träne im Auge schwamm, "ich bitte Sie im Namen dieses Mannes, den ich auch kannte, Sie mögen ihm vergeben, wenn er nachher anders handelte, als Sie damals dachten!"

"Wie: Sie haben ihn gekannt?" rief der Alte dringend, indem er die Hand des Generals faßte. "Wer war er? Wie heißt er? Lebt er noch ?"

"Er ist tot — seinen Namen kannte die Welt — dieser Mann hier ist —"

"Nun?" drängte der Alte den General, dem die Stimme zu brechen schien. "Wer? Doch nicht —"

"Dieser Mann," rief der General mit einem feurigen Blick auf das Gemälde, "dieser Mann war — Napoleon Bonaparte, der Kaiser der Franzosen!"

Der Alte setzte seine Mütze auf; er drückte die Augen zu, und in seinem Gesichte kämpfte Unmut mit Rührung. Doch als er nach einer Weile das Bild wieder ansah, schien er es nicht über sich zu vermögen, dem stolzen Reiter gram zu werden. "Du also," sprach er zu ihm, "du warst dieser — kühne Mann? Das war also deine Meinung? Du hast mir mein Kleid, meinen Hut und meine Börse zurückgegeben, um mir nachher mein alles zu raubens"



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"Vater," sagte Anna schmeichelnd, "wie glücklich waren Sie aber dennoch! Der erste Mann des Jahrhunderts hat so traulich zu Ihnen gesprochen."

"Ja, das haben wir," erwiderte der Alte lächelnd und nicht ohne Stolz; "recht freundlich haben wir uns unterhalten, ich und er, und er schien Gefallen an mir zu finden. Ich habe nicht gehört, daß der erste Konsul sich je gegen einen so offen ausgesprochen hätte wie damals gegen mich. ,Frankreich wird nicht mehr lange ohne König sein,' waren seine eigenen Worte. Du hast es erfüllt, kleiner Schelm! —Ha! Und gerade so sah er aus, so warf er noch einmal den stolzen Kopf herüber, als er sein Roß den Berg hinantrieb und die Feldmusik des Regimentes herüberklang. General Willi — es war doch ein großer Geist!"

"Gewiß!" sagte der General freudig gerührt, indem er dem Alten die Hand drückte. "Aber wie kam nur dieses Bild hieher zu Ihnen, Anna?"

"Darf ich es verschweigen, Robert?" antwortete sie. "Nein, er hat es ja doch schon gesehen. Ihr Sohn wollte Sie an Ihrem Geburtstag damit überraschen, und ich erlaubte, daß das Bild einstweilen hier aufgestellt würde."

Der alte Thierberg hatte aufmerksam zugehört; er schien überrascht und ging auf den jungen Willi zu, dem er seine Hand bot. "Junger Mann," sagte er, "ich habe Ihnen vorhin bitter unrecht getan; ich sehe jetzt, daß Sie ein schönerer Zweck auf dieses Zimmer führte, als ich anfangs dachte; werden Sie mir meine übereilten Worte, meine Hitze vergeben?"

Robert errötete. "Gewiß, Herr von Thierberg," antwortete er; und wenn Sie noch zehnmal heftiger gewesen wären, so konnten Sie mich zwar kränken, aber niemals beleidigen; es ist hier nichts zu vergeben."

"Wirklich?" erwiderte der alte Herr sehr freundlich. "Und, wenn ich fragen darf — wo haben Sie das Bild gekauft? Könnte man nicht sich auch ein Exemplar verschaffen? Ich möchte doch den gans capitaine, meinen Kapitän, in meinem Zimmer haben."

"Wie ich meinen Vater kenne," sagte der junge Mann, "so wird er dieses Bild vielleicht noch lieber in Ihrem Hause als in dem seinigen sehen. Ich bitte, erlauben Sie, daß ich es dort aufhänge."

"Sie machen mir ein großes Geschenk, lieber Robert," sagte Thierberg. "Wohin ist es mit unseren Gesinnungen gekommen? Ich glaube, wir denken im Grunde gleich über diesen Bonaparte,



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und doch sind Sie es, der mir ihn anbietet, und mir macht es Freude, ihn anzunehmen. Ich habe wenige Bilder, aber einige alte, gute; suchen Sie sich etwas aus, nehmen Sie dafür aus meinem Schloß, was Sie wollen!"

"Halt!" rief der General. "Bei diesem Handel bin ich auch beteiligt ; ich kenne den unglücklichen Geschmack meines Sohnes und weiß, wie wenig er auf alte Bilder hält; wollen sie ihm nicht ein jüngeres dafür geben? Thierberg, vor diesem Bilde, das nun auch für Sie von Bedeutung ist, wiederhole ich meine Werbung: Ihre Anna um diesen Napoleon!

Der alte Herr war betreten; er warf verlegene Blicke auf die Umstehenden; endlich haftete sein Auge auf Davids Gemälde. "Du hast viel verschuldet," sprach er, "Europas alte Ordnung hast du umgeworfen, und nun nach deinem Tode willst du dich in meine Haushaltung mischens

"Herr Baron," sagte der alte Hans mit gerührter Stimme, nehmen Sie es einem alten Diener nicht ungnädig auf! Aber wissen Sie noch, was Sie zu dem braven Kapitän sagten, und was Sie mir oft erzählt haben? Monsieur, haben Sie gesagt, wenn Sie einst durch Schwaben kommen und in unsere Gegend, so vergessen Sie nicht, auf Thierberg einzusprechen, daß Sie mich nicht zu Ihrem ewigen Schuldner machen."

Herr von Thierberg aber strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirne, warf noch einen zögernden Blick auf das Bild und führte dann Anna zu Robert Willi. "Nimm sie hin!" sagte er fest und ernst. "Ich habe es nicht tun wollen; aber vielleicht war es gut, daß dies alles so kommen mußte. Nimm sie hin!"

Mit großer Rührung umarmte der General den alten Mann, und indem Robert überrascht und selig seine Braut, wir wissen nicht; ob zum erstenmal, an seine Lippen druckte, schüttelte der Gast aus der Mark, um nicht ganz teilnahmlos zu erscheinen, dem alten Diener herzlich die Hand. Albert hatte nachher erzählt, daß er in jenem feierlichen Augenblick, trotz seines inneren Widerstrebens, gut napoleonisch gesinnt gewesen sei und zum erstenmal in seinem Leben jene Macht und Überlegenheit gefühlt und anerkannt habe, die jener große Geist auf die Gemüter zu üben pflegte.

Er erzählte auch, daß der alte Thierberg jenen sonderbaren Tausch niemals bereut habe; er fand in seinem Schwiegersohne Eigenschaften, die er ihm nie zugetraut hatte; und als er ihn bei der Verwaltung der Güter seines Vaters mit Rat und Tat unterstützte , lebte er im Glücke seiner Kinder die Tage seiner eigenen Jugend wieder.