Hauffs Werke
Fünfter Teil
Novellen
Herausgegeben
von
Max Drescher
Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart
Deutsches Verlagshaus Sang & Co.
Einleitung des Herausgebers.
So schnell und teilweise flüchtig Hauff arbeitete, wenn er Mit
der Konzeption eines Werkes selbst beschäftigt war, so bezeichnend
ist doch sein Streben, sich theoretisch mit der Eigenart der einzelnen
Dichtungsgattungen vertraut zu machen und diese seine
Auffassung womöglich einer seiner Schöpfungen auf dem betreffenden
Gebiete einzuverleiben. So findet sich in der Rahmenerzählung
des "Märchen-Almanach auf das Jahr 1827" seine
Ansicht über das Wesen der Märchen, beziehungsweise der den
Märchen ähnlichen Geschichten, in den "Allgemeinen Bemerkungen"
über Scott (vgl. H. Hofmann, S. 229 ff.) hat er sich
ausführlich über den Roman, in " den letzten Rittern von Marienburg
" speziell über den historischen Roman ausgesprochen, und
auch über die Novelle äußert er sich bei nicht weniger als drei
verschiedenen Gelegenheiten. Zunächst spricht er sich in einer
Rezension der Taschenbücher auf 1828 in Nr. 92 und 94 des
Literaturblattes für 1827 gegen die zu starke Produktion auf
dem Gebiete der Novelle, insonderheit der sogenannten historischen,
aus und wendet sich gleichzeitig gegen die allmählich zu eintönig
gewordene Art Tiecks, dessen Autorität als Schriftsteller
er — wie wir später sehen werden — sonst durchaus anerkennt.
Der für uns in Betracht kommende Passus jener Rezension
lautet: "Denn so jämmerlich ist es mit dem größten Teil
der 860 Almanachsarbeiter und -arbeiterinnen beschaffen, daß
jeder, der von einer unwahrscheinlichen Hexengeschichte einmal
geträumt hat, jeder, der es versteht, eine Chronik mit Auslassung
ungehöriger Stellen abzuschreiben und etwa seine beiden
schönen Nachbarskinder hineinzufügen, sich nicht nur für einen
Van der Velde oder Scott hält, sondern auch seine "historische
Novelle" . d. h. sein Chronikstücklein in einem der 30 oder
40 Almanache abdrucken läßt, die es geben soll. Damit aber keiner
dieser Schwachen allzuempfindlich sich getroffen fühlte, wenn
wir jetzt anfingen, z. B. dieser T. oder dieser B., so gehen
wir lieber zu einem Almanach über. den solches gerade nichts
angeht. Ohnedies gebührt Ludwig Tieck schon der Ehre wegen
die erste Stelle. Also.
Taschenbuch für 1828, herausgegeben von L. Tieck. Berlin,
Räumer.
Nach seiner genialen und doch so bequemen Weise führt
uns Tieck in der ersten Novelle — doch wir schau so eben
im Meßkatalog, daß dieses Taschenbuch unter den zukünftigen
Schriften aufgeführt, also noch nicht fertig ist; es wäre daher
höchst indiskret von uns, Tiecks Novellen, ehe sie noch gedruckt
sind, rezensieren zu wollen."
Eine zweite ausführlichere Auseinandersetzung enthält die
Einleitung Hauffs zur Gesamtausgabe seiner eignen Novellen,
das vertrauliche Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich, das der
Überschrift sowohl als dem Tone nach an Scotts Manier erinnert
(vgl. das Schreiben des Dr. Driasduft an Clutterbeck usw.).
Hier spricht sich Hauff im wesentlichen über die Quellen aus,
die den berühmten Dichtern " aus dem unerschöpflichen Schatz
der Phantasie" fließen, während den "geringeren Sterblichen" ,
zu denen er sich natürlich auch rechnet, "nichts übrigbleibt, als
nach einer Novelle zu spionieren." Kaffeehäuser, Restaurationen,
italienische Keller, Weinstuben sind Stätten. die er zu solchem
Zwecke empfiehlt, als wahre Fundgrube aber bezeichnet er Frauen,
die das fünfundsechzigste hinter sich haben" , da man von
ihnen "allerlei kuriose Sachen" , auch " wie es in diesem oder
jenem Haus zugeht" , "galante Abenteuer von jenem ältlichen,
gesetzten Herrn, der nicht immer so gewesen" , und anderes Interessante
hören könnte. und er behauptet, daß er mehrere seiner
Novellen . ,teils in Berlin. teils in Hannover, Kassel, Karlsruhe,
selbst in Dresden eben von solchen alten Frauen. den Chroniken
ihrer Umgebung, gehört und oft wörtlich wiedererzählt" habe.
Wenn er dann weiterhin sagt, daß " in einer solchen miserablen
Zeit," in der die "wundervolle Märchenwelt" kein empfängliches
Publikum mehr findet, die lyrische Poesie nur noch von
wenigen geheiligten Lippen tönen zu wollen scheint, und uns
vom Drama — sagt man — nur die Dramaturgen übriggeblieben
sind, die Novelle " ein ganz bequemes Ding" sei, so
merkt man aus diesen Proben deutlich genug, worauf es ihm
in diesem Schreiben ankommt. Er will einmal die Berechtigung
der Novelle darlegen, zum andern aber seinen Werken das Gepräge
der Glaubwürdigkeit geben, indem er selbst Namen nennt. denen
er die eine oder andere Fabel verdanke. Ja, er zieht sogar eine
Parallele zum historischen Roman und nimmt für seine Novellen
eine gewisse geschichtliche Wahrheit in Anspruch, die ihm freilich
von manchen Leuten als nicht dichterisch verdacht werde.
Er weiß sich indessen darüber zu trösten und fragt gegen den
Schluß seiner Darlegungen — schon im Eingange hatte er sich
in Gegensatz zu den besten und berühmtesten Novellendichtern
einen " geringen Burschen" genannt —: " Aber ist denn hier
von echter Poesie, von echten Dichtern die Rede? Man lege
doch nicht an die Erzählungen einiger alten Damen diesen erhabenen
Maßstab!" So sehr diese Einleitung von Humor, Scherz,
Ernst und Satire in der schon aus den "Memoiren" bekannten,
Hauff eignen Weise durchseht ist, so vorsichtig man daher jeden
Satz prüfen muss, so geht doch eins entschieden daraus hervor:
Hauff weiß, daß er mit den meisten seiner Werke auf wirklichen
realen Verhältnissen fußt, sei es nun, daß er wahre Ereignisse
seiner Zeit oder ihm überlieferte sagenhafte Stoffe ausbaute
und ausschmückte, sei es, daß er Personen seiner Umgebung in
eine Situation seiner Phantasie einsetzte und poetische Gestalt
gewinnen ließ. Es ist in der Tat interessant zu beobachten,
wie scheinbar völlig belanglose Ergebnisse unseres Dichters
und seines Bekanntenkreises in seinen Werken wiederkehren,
wie er sie bisweilen idealisiert, nicht selten aber auch mit der
Physiognomie des Alltagslebens realistisch wiedergibt. So
wissen wir z. B., daß sein Freund Riecke im Winter 1825/26
als Graf von Gleichen einen Maskenball in Ellwangen besuchte.
In zwei Hauffschen Novellen, im "Jud Süß" , wo die betreffenden
Szenen sicherlich zu den allergelungensten gehören, und in der
Sängerin" wird ein Maskenball eingeflochten, und dem Namen
eines Grafen von Gleichen begegnen wir nicht nur in dem
(et. Skizzen) Entwurfe "Das Fischerstechen" , sondern auch in
dem ausgeführten unbetitelten Singspiele. Der Russenschuster
der "Freien Stunden am Fenster" ist (cf. Hans Hofmann,
S. 60) " der wegen seiner Unterschleife im russischen Kriege in
Stuttgart berüchtigte Bäckermeister Rupfer, gegen den Riecke
am 27. März 1827 eine Verhandlung hat." Auch der Kommerzienrat
Bolnau, der Buchhändler Kaper, der Magister Bunker
mögen auf Stuttgarter Persönlichkeiten zurückzuführen sein. Vor
allem hat unser Dichter seinem Großvater, dem Landschaftskonsulenten
Johann Wolfgang Hauff, in der Gestalt des alten
Lanbeck im "Jud Süß" ein ehrenvolles Denkmal gesetzt. Den
Sommer des Jahres 1825 verbrachte er mit seinen Zöglingen
auf dem der Familie von Hügel gehörigen Schlosse Guttenberg.
Die dort empfangenen Natureindrücke verdichten sich später zu
den Landschaftsgemälden im "Bild des Kaisers" .
Bei weitem sachlicher und ernster als das Schreiben an
Herrn Spöttlich. das man mit gutem Rechte auch als ein
Schreiben des Herrn Spöttlich, als eine einzige große captatio
benevolentiae betrachten könnte. ist ein dritter Exkurs, den
Hauff wenige Wochen vor seinem Tode schrieb und der am 6. und
7. Dezember 1827 von A. B. (wahrscheinlich A. Böttiger) in
einem . .Wilhelm Müller und Wilhelm Hauff" betitelten Aufsatze
im Literaturblatte veröffentlicht wurde. Das auf unser
Thema bezügliche Stück des Artikels ist das folgende: "Die
Richtung, die Hauptbeschäftigung der Almanache besteht jetzt in
einer sonderbaren Erzählungsweise, die sie Novelle nennen, und
doch wollte ich wetten, von allen jenen, die in dieser Form sich
versuchen, sind nur wenige, die über die innere Natur dieser Erzählungsart
und über die Gesetze ihrer Form nachzudenken sich
die Mühe nehmen. In unserer Jugend, wo wir so gerne
Erzählungen von Huber, Lafontaine und anderen lasen, bestand
die Hauptaufgabe und der mächtigste Reiz der Erzählung in
einer guterfundenen, interessanten Geschichte: die inneren Verhältnisse
mußten gut geordnet, der Faden gleichmäßig und zart
gesponnen sein, und es kam darauf an, die Verirrungen oder die
Höhen des menschlichen Herzens nachzuweisen, weniger wie es sich
in Empfindungen und Worten, als wie es sich in überraschenden
und anziehenden Verhältnissen zeigt und ausspricht. Jene Art
von Erzählungen hatte noch das Angenehme, Bequeme, ich möchte
sagen Kindliche des Vortrags an sich. Es wurde in der Erzählung
selten gesprochen, desto mehr gedacht und gehandelt.
Daher konntest du auch mit ein wenig Aufmerksamkeit und
Gedächtnis eine solche Erzählung in jeder Gesellschaft in derselben
Ordnung wieder vortragen, wie du sie gelesen hattest; denn
sie war schon ursprünglich so geordnet und eingerichtet, wie etwa
ein Reisender eine Geschichte, die sich da oder dort zugetragen,
erzählen würde. Eine der trefflichsten Dichtungen dieser Art ist
das Fräulein von Scudéri von Hoffmann. und die Teilnahme,
womit man dergleichen Erzählungen noch immer liest, beweist
mir, daß der jetzt herrschende Geschmack vorübergehend sein werde.
— Hast du Tiecks Novellen gelesen?"
Einige, z. B. die Gemälde, musikalische Leiden und Freuden,
Dichterleben."
Gut; könntest du sie etwa wieder erzählen, in derselben
Ordnung, wie der Verfasser sie zuerst erzählte?"
Unmöglich; zwar steht das Bild, das sie in mir zurückgelassen,
hell und klar vor meiner Seele; die einzelnen Figuren,
die er so scharf und bestimmt zu zeichnen wußte, leben in mir als
Bekannte, die Sätze, welche durchgesprochen wurden, stehen fest
in meinem Gedächtnis, und sogar von der eigentümlichen Melodie
der Gespräche ist etwas in meinem Ohr geblieben, aber —dennoch
wäre ich nicht imstand, einem Dritten eine Tiecksche Novelle
wieder zu erzählen mit seiner Farbenpracht, sondern nur den
schmalen Rahmen, der es einfaßt, könnte ich beschreiben." "Und
wohl aus demselben Grunde, weil du kein Schauspiel erzählen
kannst. Jene Novellen haben das einfache Gebiet der Erzählung
verlassen und sich dem Drama genähert. oder um es anders zu
sagen, im Gespräch entwickeln sich jetzt die Charaktere von selbst,
deren Entwicklungsgang uns sonst nur angedeutet oder beschrieben,
erzählt wurde. Diese Manier, in welcher sich jener Meister, der
sie für sich erschaffen, mit großer Umsicht und Sicherheit bewegt,
haben nun alle unsere Almanachs mehr oder minder angenommen;
; sie ist Mode geworden. Du kannst dir aber kaum
denken, wie linkisch sie sich dabei benehmen. Der kleine Raum
solcher Büchlein. die oft vier bis fünf Novellen enthalten sollen,
gestattet jedem einzelnen nur enge Grenzen. Nun soll die Bequeme
Sprachweise des größern Romans in diesen Novellen mit
kurzer scharfer Zeichnung der Charaktere verbunden werden ; auf
achtzig Seiten soll nicht nur viel geschehen, sondern auch vieles
wörtlich verhandelt werden, man will nicht von dem Autor sich
erzählen lassen, Hans und Kunz haben dies oder jenes getan,
sondern Hans soll es Kunzen aussprechen, was er gedacht, und
Kunz soll diesen Ausspruch anfechten, fortsenden und also seinen
Charakter zeigen. Bei diesem allen soll die Novelle noch die
innere Einheit der Teile, die Rundung und den gleichmäßigen,
sichern Gang der früheren Erzählung haben."
"Und dies verstehen alle jene zweihundert Novellisten?"
"Ach, das gerade ist ja der Jammer, daß sie sich nicht darauf
verstehen, jene Forderungen zu befriedigen, und dennoch Novellen
schreiben!"
An allen angeführten Schwierigkeiten, worunter selbst die
Besseren erliegen, haben unsere Novellenschreiber nicht genug.
Seit Sir Walter auf dem Dudelsack historische Romane vorspielte,
zwitschern auch die Deutschen diese Melodie. und die Mode will.
daß auch die Novellen historisch-romantisch sein sollen. So muß
nun in den engen Raum einer solchen Novelle auch ein Stück der
Welthistorie oder der Chronik gespielt werden, und die redenden
Figuren, die den armen Novellisten ohnedies Mühe genug
machen, müssen auch noch historische Leute sein und in dem gehörigen
Kostüme auftreten.
"Welch jämmerliches Treiben!" rief ich. "Warum ahmen
denn alle jene Herren und Frauen nur fremde Formen nach,
statt ihren Ruhm in Natürlichkeit, in Neuheit der Erfindung,
in Originalität des Entwurfs und der Zeichnung zu suchen?"
In mehrfacher Beziehung sind diese Betrachtungen Hauffs
aufschlussreich. Sie zeigen deutlich, worin für ihn die wesentlichen
Momente im Begriffe der Novelle liegen, sie lehren aber auch,
wie er den Wandel, den diese Form im Laufe der Jahre erfahren
hatte, sachgemäß erkennt und beurteilt. Beachtenswert scheint
auch seine Stellung 3u Tieck, zu dem er übrigens mit aufrichtiger
Hochachtung emporblickt; hat er ihn ja ein halbes Jahr früher
um Rat gefragt, ob es rätlich sei, mit dem geplanten Romane
über die Kämpfe in Tirol im Jahre 1809 anzufangen. "Ich
fühle," schreibt er am 30. März 1827 an Tieck, " in mir ein
Bedürfnis nach Trost und Ermunterung zu diesem Werk, und
lieber lasse ich das Bild in seinen ersten Umrissen, als daß ich
es ohne Ihre Zustimmung beginne. Diese Bitte um ein paar
Zeilen guten Rats könnte sonderbar und lästig erscheinen, wenn
es nicht von alten Zeiten her Sitte gewesen wäre, daß die Jünger
ihre Meister um Rat fragten. Auf das Urteil öffentlicher Kritik,
wie sie gewöhnlich heutzutage betrieben wird. darf ich um so
weniger hören, da sie mir zuweilen ohne Grund schmeichelte, mich
zu verwunden suchte, ohne mir meine Blößen anzudeuten. Ich
wünsche, Sie möchten versichert sein, daß mich zu diesem Brief,
welchen ich zu schreiben einige Tage zauderte, nur ein offenes
redliches Herz und jene Bewunderung, jenes ehrfurchtsvolle Zutrauen
bereden konnten, womit ich bin . . ." Wenn sich Hauff
trotz alledem in dem vorher zitierten Artikel über die Tieckschen
Novellen zwar nicht gerade abfällig, aber doch skeptisch ausspricht
und er dessen Manier als dem Drama zu stark angenähert auffaßt
, so bringt er eben damit seine ehrliche, subjektive Meinung
zum Ausdrucke, die auszusprechen sein gutes Recht war, um so
mehr, als mit der erweiterten Kenntnis Tieckscher Werke eine
veränderte Beurteilung —der allgemeinen Verehrung unbeschadet
— recht wohl möglich wurde. Der letzte Abschnitt der Hauffschen
Ausführungen, in dem er von der Verwendung geschichtlicher
Elemente in der Novelle redet, muss wieder mit großer Vorsicht
behandelt werden. Fast könnte es darnach scheinen, als ob er,
der selbst einen "Lichtenstein" verfaßte, der sich mit der Absicht
trug, die Freiheitskämpfe der Tiroler dichterisch zu verherrlichen
ein Gegner des historischen Prinzips in der Erzählung sei, was
natürlich völlig in Widerspruch zu der Ansicht steht, die er in
"den letzten Rittern von Marienburg" äußerte.
Außer dem in die "Memoiren" verflochtenen "Fluch" hat
Hauff in Summa sechs Novellen verfaßt, die er zunächst in verschiedenen
Zeitschriften und Almanachen veröffentlichte. Als erste
erschien in den Nummern 66 —76 der "Abendzeitung" von 1826
sein "Othello" , dessen Entstehung aber noch dem Jahre 1825
angehört. Möglicherweise liegen die ersten Anregungen dazu, die
auf Stuttgarter Eindrücken beruhen, noch etwas weiter zurück,
wie der Brief zu erkennen gibt, den Hauff Weihnachten 1825 bei
übersendung des genannten Werkes an Theodor Hell, den Herausgeber
der Abendzeitung, richtet, und worin es heißt: "Ich bin,
wie aus anderen Arbeiten zu ersehen, nichts weniger als Fatalist,
was man aus dieser Erzählung vielleicht folgern kann; ich habe
das Faktum (dem einige wirkliche Fälle zugrunde liegen) zweifelhaft
hingestellt und dem Leser überlassen, was er davon denken
mag ; habe den Stoff aber doch nicht unbearbeitet liegen lassen
wollen, da ich in der Tat einiges Interesse daran gehabt."
Weshalb sich hier der Dichter ausdrücklich dagegen verwahrt, von
den Schicksalsdramen seiner Zeit beeinflußt zu sein, wofür der
Othello" doch zweifellos spricht, ist nicht recht einzusehen. Deutliche
Anklänge zeigen sich (cf. H. Hofmann S. 69) an Hoffmanns
"Don Juan" , namentlich am Eingange und am Schlusse. Beide
Werke setzen — natürlich unter ganz verschiedenen Verhältnissen
— mit einer Don Juan-Aufführung ein, und Hoffmanns
letzter Satz "Signora ist heute morgens punkt zwei
Uhr gestorben" zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit Hauffs
Schlußworten: "Sie starb —acht Tage nach Othello." Immerhin
hat hier — glaube ich — mehr der Zufall als die Absicht
gewaltet.
Im "Morgenblatt" für 1826, Nr. 276 —305 ist die zweite
hierhergehörige Arbeit Hauffs "Die Bettlerin vom Pont des
Arts" abgedruckt. Als Veranlassung dazu kommt vielleicht jenes
innerhalb der Novelle selbst verwertete Bild aus der Gemäldegalerie
der Brüder Boisserée in Frage, dessen Kopie des Dichters
Heim später schmückte; möglicherweise hat auch die verschleierte
Engländerin das ihre dazu beigetragen, deren er von Paris aus
in seinem Berichte über das Auftreten der Demoiselle Sonntag
an der dortigen italienischen Oper (et. H. Hofmann, S. 243) mit
folgenden Worten gedenkt: "Die schöne Engländerin, eine Dame,
die sich alle Abende verschleiert auf den Boulevards sehen ließ,
hatte Hunderte herbeigelockt; man hatte die Grazie ihrer Bewegung
, die Majestät ihres Ganges, das wunderschöne Seiden
zeug ihres schottischen Kleides, den reichen geschmackvollen
Faltenwurf ihres Schleiers bewundert, gepriesen, durchgesprochen,
es kamen sogar viele Damen nur dieser Erscheinung wegen auf
die Boulevards, und die Stuhl-Vermieter machten große Geschäfte
in Sous. Aber auch diese blendende Erscheinung ging
vorüber. und nachdem man einige Abende sich damit unterhalten
hatte, zu fragen: "Weiß noch niemand, wer sie ist? Wo wohnt
sie? Hat sie Equipage?" usw. —fehlte es wieder an einem interessanten
Stoffe, und nur hin und wieder tauchte noch der Name
des Stutzers auf, der in der Ekstase auf der Stelle den Stuhl
gekauft hatte, auf welchem einmal die verschleierte Dame sich
niedergelassen." Recht beachtenswert ist endlich die übereinstimmung
des Hauptmotives der "Bettlerin" mit Georg Neinbecks
Schwärmerin" (vgl. Euphorion IV, 319 ff. "Reinbeck als Vorbild
von Wilhelm Hauff," von Ernst Müller, Tübingen). In
der Erzählung Reinbecks handelt es sich gleichfalls um ein junges
Mädchen, das, auf die Mildtätigkeit fremder Menschen angewiesen,
hilflos ihrem Schicksale überlassen ist. Zwei Tage schon hat sie
nichts gegessen, da geht sie nachts auf die Straße, um ihren
Unterhalt zu gewinnen. Sie begegnet einem jungen Deutschen.
Er kommt von einem seiner Freunde, bei dem ihn ein unterhaltendes
Gespräch bei einem Glas Punsch bis gegen zwölf Uhr
gefesselt hielt. Ganz ähnlich erzählt Fröben in der "Bettlerin" .
daß er eines Abends, " es mochte nach elf Uhr sein," auf dem
Rückwege von der Wohnung eines Freundes begriffen war, " wo
wir oft noch bis tief in der Nacht vom Vaterlande, von Frankreich,
von dem, was wir gesehen, von allem möglichen plauderten."
Bernhard, so heißt bei Reinbeck der edelmütige junge Mann, berichtet
nun Weiter: "Stille vor sich her ging ein Mädchen von
hoher, edler Gestalt. Ihr ganzer Anstand trug ebensosehr das
Gepräge der Sittsamkeit, als er bei den übrigen Nymphen der
Themse das entgegengesetzte Gepräge trug, ihr Anzug war fest
und bescheiden. Ihre Erscheinung zog mich unwillkürlich an ; ich
ging langsamer und wartete, daß sie mich anreden sollte. Vergebens!
Ein schüchterner Blick war alles, was mir zuteil wurde . . .
Da redete ich sie an und fragte, ob ich sie nach Hause bringen
sollte. Sie schrak zusammen, als sie meine Stimme hörte, und
doch schien sie meine Anrede erwartet zu haben; denn sie lispelte
mir zu: ,Wenn Sie die Güte haben wollen.' . . . Ich bot ihr
den Arm. Sie lehnte sich so leise darauf, als schiene er ihr eben
keine der zuversichtlichsten Stützen, und ich fühlte, wie ihr Arm
zitterte. ,Ist Ihnen nicht wohl?' fragte ich besorgt. ,Es ist etwas
kühl'. war ihre ganze Antwort. und kaum, daß ich noch die Anzeige
ihrer Wohnung herausbringen konnte." Es kann wohl kein Zweifel
darüber sein, daß Hauff diese Erzählung Reinbecks gekannt hat;
doch verliert sein eignes Werk dadurch keineswegs an Wert. Im
Gegenteil, es ist vielmehr wieder ein Beispiel dafür, wie er ein
in den Grundzügen vorgezeichnetes Motiv in durchaus origineller
Weise umzubilden und für seine Zwecke auszubauen, zu vertiefen
und zu ergänzen verstand; gehört ja gerade "Die Bettlerin vom
Pont des Arts" zu den Novellen, die infolge der äußerst spannenden
Fabel — die Vorlage kann sich damit nicht im entferntesten
messen — und wegen der kräftigen Realistik auch heute noch gern
gelesen werden.
Nicht auf derselben Höhe steht "Die Sängerin" . Sie wurde
im "Frauentaschenbuch" für 1827 veröffentlicht, aber schon 1826
konzipiert, und der Umstand, daß sie motivlich wie stilistisch stärker
als alle übrigen Novellen Claurenschen Einfluß zeigt, macht es
sogar wahrscheinlich, daß — wenn nicht die wirkliche Ausführung,
so doch mindestens der erste Entwurf — in die Zeit vor der Reise
nach Paris, also vor den ersten Mai, zu setzen ist. Ob, wie
H. Hofmann vermutet, die Abfassung dieser Erzählung mit dem
Schicksale der gefeierten Friederike Primavesi in Zusammenhang
steht, ist nicht endgültig festzustellen. Sicherlich aber hat "Die
Sängerin" vielfache Berührungspunkte mit Claurens "Christpüppchen"
. (cf. Günther Koch " Claurens Einfluß auf Hauff.")
Bei Clauren wird Doralice, in Deutschland später Lidschen genannt
, von ihrem eigenen Oheim aus purer Habgier an den als
Wollüstling bekannten Lord Harald verkauft. Auch bei ihm entflieht
das Opfer, es wird aber nicht erzählt, ob, beziehentlich
in welcher Weise sich der um seine Beute betrogene Oheim zu
rächen versucht. Hauff führt erst durch die Fortbildung der
Claurenschen Episode, dadurch, daß den Missetäter der Arm der
Gerechtigkeit noch ereilt, das Motiv zu einem einigermaßen befriedigenden
Abschlusse, wenn uns auch gewisse Allgemeinheiten
wie "Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so schönen Kopf,
ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge waren nichts
weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch ihre Verbindung
und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er lange
keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des Medizinalrates
blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene
Reinheit der Seele, jener Adel der Natur. was diese jungfräulichen
Züge mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß"
oder Sätze wie "Ihre Töne klangen schmelzend und süß
wie die Klänge der Flöte" nicht recht behagen wollen. "Die
Sängerin" ist eins der wenigen Werke Hauffs, von denen sich in
seinem Nachlasse ein Entwurf vorfand. H. Hofmann veröffentlicht
ihn S. 257/58 mit folgendem Wortlaute
Josephine wird von teutschen Aeltern in einer kleinen Stadt
des Elsaß erzogen, ihr Vater ist Musiklehrer. Ein ihr fürchterl.
Mann kommt alle Jahre, ihr Vater ist ihm Geld schuldig. D(ie)
Schulden wachsen. Er macht Handel mit Mädchen und verk(au)ft
s(ein)e Tochter. Man sagt ihr, man wolle sie in ein Institut
bringen. Ankunft in Paris. s(ie) bekommt 1 Zettel worinn si (e)
gewarnt wird sie seye in schlechten Händen. Flucht mit einem
deutschen Gesandten. Sie wird Sängerinn, Verhältniß zu dem
jungen —. Der Vater wird es nie zugeben. Der böse kommt,
siehet sie, sucht sie auf und sucht sie zu tödten. Die Polizei legt
sich darein. sie behauptet ihn an der Maske zu erkennen. D hie)
Redoute. Sch —lpried wählt s(ich) e(in) sch(önes?) Kostüm; er
wiro gefangen. Sacktuch mit eigener Parfümerie. Der Arzt wird
zu einem Kranken geholt. Der Wirth sagt er sey schon längst tot.
D (er) Kranke verlangt ein Sacktuch. Ahnl. Stoff und Parfüm.
Er wird befragt, gesteht. Der alte und junge Schulpried kommen
dazu; er stirbt und hinterläßt bedeutendes Vermögen. heurathsanzeige
im hamb(urgischen) Correspondenten."
An tatsächlich geschichtliche Vorgänge innerhalb Stuttgarts,
beziehungsweise Württembergs, schließt sich "Jud Süß" an, der
in den Nummern 152 —182 des Morgenblattes für 1827 erschien.
Schon frühzeitig interessierte sich Hauff bekanntlich für die politischen
Verhältnisse seines Vaterlandes, und da er während der
Blaubeurer Zeit nicht viel von den Ereignissen in der Hauptstadt
erfuhr. mußte ihm sein Freund Riecke nicht selten ausführlich
Bericht erstatten. So lesen wir z. B. unterm 14. Juni 1820:
"Von den Landständen, sagst Du, hätte ich Dir schreiben sollen,
allein das konnte ich bis jetzt nicht; denn seit der Vakanz erhaschte
ich nur einmal ein Billett und außer, was Du, wie ich, in der
Zeitung liesest, erfuhr ich weiter nichts. In den letzten acht
Tagen aber war mir das Glück günstiger, indem ich so glücklich
war, nicht weniger als 4 Sitzungen in dieser Zeit anzuwohnen
und zwar sehr wichtigen über die Steuerverwilligung. Ich habe
Darin mehrere Bemerkungen gemacht, die ich dir mitteilen will.
Was mir vorzüglich auffiel, ist das Benehmen des Präsidenten.
Anstatt daß dieser, wie z. B. in Frankreich, sich einzig und allein
auf die Leitung der Debatten beschränkt, ohne selbst daran teilzunehmen,
spricht er sagt so viel, als alle anderen Stände miteinander;
seine Klingel, die er dazu hat, um, wenn mehrere
durcheinander sprechen, Stille zu gebieten und zu entscheiden,
wein das Wort als dem zuerst Sprechenden gebühre, braucht er
(zuweilen, wenn selbst nur einer spricht) bloß dazu, sich selbst
das Wort zu verschaffen; gegen den größten Teil der Abgeordneten
(einige ausgenommen) beträgt er sich auffallend barsch und
übermütig; Gegenstände, wobei er befürchtet, sie möchten heftigen
Widerspruch finden, verschiebt er aufs Ende, weil er dann hofft,
die bereits ermüdeten und auch hungrigen Stände werden sie in
der Schnelligkeit bewilligen; und leider täuscht er sich selten in
dieser Hoffnung. Hätte dieser Mann vollends einen starken
Anhang in der Kammer, dann stände es schlimm. allein nicht
selten fällt er gänzlich durch. . . ." —Jedenfalls hat Hauff über
die Person des Finanzministers Süss-Oppenheimer schon in den
Knaben- oder Jünglingsjahren von den Angehörigen seiner
Familie mancherlei sprechen und erzählen hören, grenzte doch der
Garten des ehemaligen Ministers an das Grundstück in der Keilstraße
an, das des Dichters Großvater, der Landschaftskonsulent
Johann Wolfgang Hauff, einst bewohnte. In technischer Hinsicht
gehört "Jud Süß" nicht zu den besten Arbeiten Hauffs. Die
Verbindung des historischen und phantasiemässigen Materials
gelang ihm hier nicht so mühelos als im ",Lichtenstein" , wie z. B.
der Beginn des 15. Abschnittes: " Es würde unsere Leser ermüden
, wollten wir sie von dem Prozeß des Juden Süß noch
länger unterhalten," deutlich zeigt. Außerdem kommen die beiden
Hauptpersonen, die geschichtliche wie die erdichtete, in nur zu
wenig Szenen zu wirklicher Geltung, und das Verhältnis des
jungen Lanbeck zur liebenswürdigen. bemitleidenswerten Lea ist
fast nur skizziert.
Glücklicher in der Verwendung geschichtlichen Stoffes ist die
Novelle, die im Frauentaschenbuch für 1828 erschien und den
Titel "Die letzten Ritter von Marienburg" trägt. In ihr sind
eigentlich zwei Romane miteinander verflochten. Die wirklich
geschichtlichen Elemente werden nun angedeutet, doch so geschickt
und spannend, daß man an einzelnen Steilen bedauert, keine ausführlichere
Darstellung zu hören. Für Hauff waren sie indessen
nur Nebenzweck; sie dienten lediglich dazu, eine kritische Beleuchtung
der literarischen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner
Zeit zu ermöglichen. Bis zu einem gewissen Grade ist sie ihm
gelungen, und Figuren wie der alte Magister Bunker und der
Buchhändler Kaper tragen ebenso wie die Episode im Entenzapfen
offenbar das Gepräge voller Lebenswahrheit. Für des
Dichters Art bezeichnend ist der Gegensatz, der zwischen der Selbstrezension
seines Werkes im "Morgenblatt" und den innerhalb
der Novelle selbst ausgesprochenen Ansichten über den historischen
Roman zu bestehen scheint, der sich aber löst, wenn man
bedenkt, in welcher Absicht jene Rezension abgefaßt wurde. Sie
lautet
"Die letzten Ritter von Marienburg," Novelle von W. Hauff.
Auch wieder eine Novelle, doch gottlob keine historische, wie wir
beim ersten Anblick geargwohnt hatten. Lieber wäre es uns
gewesen, wenn Herr Hauff seinen Stoff, wie es im ersten Kapitel
geschieht, durchaus zu einer Satire der historischen Romane, nicht
aber zu einer ziemlich unnötigen Belobung derselben benützt hätte.
Auch ist es nicht sehr bescheiden, daß der Herr Verfasser den
Roman, die letzten Ritter von Marienburg, so oft als trefflich
und unvergleichlich schildert, da er doch selbst es ist, der die Skizze
davon entworfen hat.
"Die letzten Partien der Novelle sind abgerissener und
eilender als die ersten und verfehlen dadurch den Charakter der
besonnenen Ruhe und Rundung, den die Novelle haben soll. Herr
Hauff scheint sich zwar diesmal in Hinsicht auf Sprache und Anordnung
mehr Mühe gegeben zu haben. als im vorjährigen
Frauentaschenbuch; aber auch hier sind die Figuren nur skizziert,
flüchtig angedeutet und gelangen somit nicht zu echterm, farbigerem
Leben. Das Motiv, aus welchem Fräulein Elise den
Dichter Palvi aufgibt, ist. wenn ein natürliches, doch jedenfalls
kein poetisches."
In gewissem Sinne historisch ist auch die letzte der Hauffschen
Novellen, "Das Bild des Kaisers" , im "Taschenbuch für Damen"
1828 veröffentlicht. Hier läßt der Dichter nicht geschichtliche Gestalten
selbst auftreten und handeln, sondern es liegt ihm daran,
verschiedene Meinungen über die Person Napoleons zum Ausdruck
zu bringen, deren Vertreter zu einander in Beziehung zu setzen
und schließlich zu versöhnen. General Willi, der begeisterte Verehrer
des großen Kaisers, darf wohl mit Recht als das Porträt
des Kriegsratspräsidenten von Hügel aufgefaßt werden, der jedenfalls
viel von Napoleon zu erzählen wußte. da er längere Zeit
in dessen Umgebung gelebt hatte, und im Hügelschen Hause hat
sich unserem Dichter jedenfalls das gesamte Milieu zum . "Bilde
des Kaisers" aufgetan. Ausführlich wird in dieser Novelle in
der Person Rantows und des jungen Willi eines weiteren Gegensatzes
gedacht. den wir bereits in den ",Memoiren" berührt finden,
des Unterschiedes zwischen nord- und süddeutscher Art. Es hat
den Anschein. als ob Hauff, von berechtigtem Lokalpatriotismus
geleitet, dem jugendlichen, gegen die Schwaben offenbar voreingenommenen
Rantow die Vorzüge seiner süddeutschen Landsleute
zu stark zu Gemüte führte; man darf indessen nicht ungerecht sein
und muß bedenken, daß er andrerseits auch mit herben Urteilen
über sein eignes engeres Vaterland nicht zurückhält, wenn er z. B.
innerhalb der "Letzten Ritter von Marienburg" (S. 284, 28ff.)
Palvi sprechen läßt: "In meinen Augen bist du entschuldigt,
guter Magister, durch deine Erziehung und die Art deines Vaterlandes.
Wer hat sich dort deiner Zeit um einen Geist, wie der
deine war, gekümmert? Was hat man für einen Mann getan,
der nicht in die vier Kardinaltugenden, in die vier Himmelsgegenden
der Brotwissenschaft, in die vier Fakultäten paßte?
Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster zu streichen,
und Wieland floh in das Land der Abderiten, weil es dort keinen
Saum für ihn gab als den Posten eines Stadtschreibers, den er
freilich so schlecht als möglich ausgefüllt haben möchte." Ganz
zweifellos beherrscht unseren Dichter ein stark nationaler Zug, und
daß er dir Gebrechen seiner Zeit in nationalpolitischer Beziehung
klar erkannte, dafür zeugen seine Worte im "Bild des Kaisers" :
O Deutschland, Deutschland, da sieht man, wie dein Elend aus
deiner eigenen Zersplitterung hervorgeht! Sie wollen nicht mehr
Griechen, sondern Platäer, Korinther, Athener, Thebaner und
gar — Spartaner heißen!"
Im Sommer 1827 bereitete Hauff eine Gesamtausgabe der
bis dahin einzeln erschienenen Novellen vor, verfaßte auch schon
die Einleitung dazu, da: bekannte Schreiben an Herrn Spöttlich ;
doch war es ihm nicht beschieden, das Werk zu vollenden. Erst
nach seinem Tode erschienen "Novellen von Wilhelm Hauff.
3 Teile. Stuttgart bei Gebrüder Franckh. 18 28," und zwar enthielt
der 1. Teil: die Einleitung, "Die Bettlerin vom Pont des
lit:" und "Othello" , der 2. Teil "Jud Süss" und . ,Die
Sängerin" , der 3. Teil: "Die letzten Ritter oon Marienburg"
und . ,Das Bild des Kaisers" .
Überblicken wir zum Schlusse Hauffs gesamte novellistische
Tätigkeit, so läßt sich außer der schon früher erwähnten stark realistischen
Tendenz eine weite Tatsache feststellen: Alle seine Arbeiten
bewegen sich innerhalb einer bestimmten, ziemlich eng begrenzten
Bahn. Mancherlei Motive treten mehrfach auf. So steht in zweien
seiner Novellen ein Bild im Mittelpunkte, auch der Traum, dessen
Ende der Wirklichkeit entspricht (cf. Lichtenstein, Einleitung des
Herausgebers) kehrt wieder. Infolge einer Verwechslung erhält im
Othello" der Major, im "Bild des Kaisers" Rantow einen Brief
zugesteckt, der für eine andere beteiligte Person bestimmt war, in
den letzten Rittern von Marienburg" wird Palvis Unglück
dadurch herbeigeführt, daß ihn Elisens Dienstmädchen mit dem
Dr. Zündler verwechselt. In fast allen Werken finden sich Exkurse
über literarische, politische oder gesellschaftliche Fragen, viele
verraten eine ausgesprochene Vorliebe für das Soldatische. In
ähnlicher Weise sind bezüglich des Charakters der eingeführten Personen
sich mehrfach wiederholende Eigentümlichkeiten bemerkbar,
welche die einzelnen Figuren zu Typen stempeln. So kann der
Regisseur im "Othello" recht wohl neben den altmodischen Magister
Bunker gestellt werden, Fröben neben Rempen und den
jungen Lanbeck, dessen Vater neben General Willi und den alten
Tierberg. Noch einförmiger gestaltet sich die Darstellung weiblicher
Charaktere. In fast jeder Novelle kommt nur eine einzige
Vertreterin des weiblichen Geschlechts zur Geltung, die übrigen
sind — wie im "Othello" oder "Jud Süß" — lediglich Staffage
und ohne irgend welche innere Bedeutung; aber selbst diese eine
Gestalt ist nicht Saftig genug herausgearbeitet, ein Fehler, den
schon Maria im "Lichtenstein" zeigte, und der psychologisch in der
Jugend des Dichters und dem damit Hand in Hand gehenden
Mangel an Erfahrung, an Menschenkenntnis begründet ist. Trotzdem
zeigen seine Novellen einen Zug, den sie mit seiner übrigen
Produktion gemeinsam haben und der ihre Bedeutung auch für
die Zukunft erhalten wird : das frische, Lebendige, Ansprechende im
Tone, den raschen, entschlossenen Fortschritt. Außerdem macht
sich — wenn auch keins seiner Werke die höchste Höhe erreichte
doch immerhin innerhalb der sechs Novellen ein für die kurze
Zeit der Entwicklung anerkennenswerter Fortschritt bemerkbar,
und die Vermutung liegt in der Tat nahe, daß uns Hauff. sobald
er nur erst größere Reife erlangte und in ein ruhigeres Fahrwasser
geriet, noch köstlichere Proben seines Könnens und
Strebens beschert hätte.
Novellen
Vertrauliches Schreiben
an Herrn W. A. Spöttlich,
Vizebataillons-Chirurgen a. V. und Mautbeamten in Tempelhof
bei Berlin.
Sie werden mich verbinden, verehrter Herr, wenn Sie diese
Vorrede lesen, welche ich einer kleinen Sammlung von Novellen vordrucken
lasse. Ich ergreife nämlich diesen Weg, einiges mit Ihnen zu
besprechen, teils weil mir nach sechs unbeantwortet gebliebenen
Briefen das Porto bis Tempelhof zu teuer deuchte, teils aber auch,
weil Sie vielleicht nicht begreifen, warum ich diese Novellen gerade
so geschrieben habe und nicht anders.
Sie werden nämlich nach Ihrer bekannten Weise, wenn Sie
"Novellen" auf dem Titel lesen, die kleinen Augen noch ein wenig zudrücken
, auf geheimnisvolle Weise lächeln und, sollte er gerade zugegen
sein, Herrn Amtmann Kohlhaupt versichern: "Ich kenne den
Mann; es ist alles erlogen, was er schreibt;" und doch würden Sie
sich gerade bei diesen Novellen sehr irren. Die besten und berühmtesten
Novellendichter, Lopez de Vega, Boccaz, Goethe, Calderon,
Tieck, Scott, Cervantes und auch ein Tempelhofer haben freilich aus
einem unerschöpflichen Schatz der Phantasie ihre Dichtungen hervorgebracht,
und die unverwelklichen Blumensträuße, die sie gebunden,
waren nicht in Nachbars Garten gepflückt, sondern sie stammten aus
dem ewig grünen Paradies der Poesie, wozu nach der Sage Feen
ihren Lieblingen den unsichtbaren Schlüssel in die Wiege legen. Daher
kommt es auch, daß durch eine geheimnisvolle Kraft alles, was
sie gelogen haben, zur schönsten Wahrheit geworden ist.
Geringere Sterbliche, welchen jene magische Springwurzel, die
nicht nur die unsichtbaren Wege der Phantasie erschließt, sondern auch
die festen und undurchdringlichen Pforten der menschlichen Brust
aufreißt, nicht zuteil wurde, müssen zu allerlei Notbehelf ihre Zuflucht
nehmen, wenn sie —Novellen schreiben wollen. Denn das eben
ist das Ärgerliche an der Sache, daß oft ihre Wahrheit als schlecht erfundene
Lüge erscheint, während die Dichtung jener Feenkinder für
treue, unverfälschte Wahrheit gilt.
So bleibt oft uns geringen Burschen nichts übrig, als nach einer
Novelle zu spionieren. Kaffeehäuser, Restaurationen, italienische
Keller und dergleichen sind für diesen Zweck nicht sehr zu empfehlen.
Gewöhnlich trifft man dort nur Männer, und Sie wissen selbst, wie
schlecht die Restaurationsmenschen erzählen. Da wird nur dies oder
jenes Faktum schnell und flüchtig hingeworfen; reine Nebenbemerkungen
, nichts Malerisches; ich möchte sagen, sie geben ihren Geschichten
kein Fleisch, und wie oft habe ich mich geärgert, wenn man
von einer Hinrichtung sprach und dieser oder jener nur hinwarf "geköpft
"
, "hingerichtet", statt daß man, wie bei ordentlichen Erzählungen
gebräuchlich, den armen Sünder, seinen Beichtvater, den
roten Mantel des Scharfrichters, sein "blinkendes Schwert" sieht, ja
selbst die Luft pfeifen hört, wenn sein nerviger Arm den Streich führt.
Es gibt gewisse Weinstuben, wo sich ältere Herren versammeln
und nicht gerne einen "Jungen", einen "Fremden" unter sich sehen.
Diese pflegen schon besser zu erzählen; dadurch, daß sie diesen oder
jenen Straßenraub, die geheimnisvolle, unerklärliche Flucht eines
vornehmen Herrn, einen plötzlichen Sterbefall, wobei man "allerlei
gemunkelt" habe, schon fünfzigmal erzählten, haben ihre Geschichten
einen Schmuck, ein stattliches Kleid bekommen und schreiten ehrbar
fürder, während die Geschichten der Restaurationsmenschen wie
Schatten hingleiten. Solche Herren haben auch eine Art von historischer
Gründlichkeit, und es gereicht mir immer zu hoher Freude,
wenn einer spricht: "Da bringen Sie mich auf einen sonderbaren
Vorfall," sich noch eine halbe Flasche geben läßt und dann anhebt:
In den siebziger Jahrgängen lebte in meiner Vaterstadt ein Kavalier
von geheimnisvollem Wesen." — Solche Herren trifft man allenthalben,
und sie werden von mehreren unserer neueren Novellisten
stark benützt. Der bekannte versicherte mich, daß er einen ganzen
Band seiner Novellen solchen alten Nachtfaltern verdanke, und erst
aus diesem Geständnis konnte ich mir erklären, warum seine Novellen
so steif und trocken waren; sie kamen mir nachher allesamt vor
wie alte, verwelkte Junggesellen, die sich ihre Liebesabenteuer erzählen
, welche sämtlich anfangen: "Zu meiner Zeit."
Die ergiebigste Quelle aber für Novellisten unserer Art sind
Frauen. die das Fünfundsechzigste hinter sich haben. Die Welt nennt
Medisance, was eigentlich nur eine treffliche Weise zu erzählen ist;
junge Mädchen von sechzehn, achtzehn pflegen mit solchen Frauen
gut zu stehen und sich wohl in acht zu nehmen, daß sie ihnen keine
Blöße geben, die sie in den Mund der alten Novellistinnen bringen
könnte; Frauen von dreißig und ihre Hausfreunde gehen lieber eine
Ecke weiter, um nicht ihren Gesichtskreis zu passieren, oder wenn sie
der Zufall mit der Jugendfreundin ihrer seligen Großmutter zusammenführt
, pflegen sie das gute Aussehen der Alten zu preisen und
hören geduldig ein beißendes Lob der alten Zeiten an, das regelmäßig
ein sanftes Exordium, drei Teile über Hauswesen, Kleidung und
Kinderzucht, eine Nutzanwendung nebst einem frommen Amen enthält.
Solche ältere Frauen pflegen gegen jüngere Männer, die ihnen
einige Aufmerksamkeit schenken, einen gewissen geheimnisvoll zutraulichen
Ton anzunehmen. Sie haben für junge Mädchen und
schöne Frauen, die jetzt dieselbe Stufe in der Gesellschaft bekleiden,
welche sie einst selbst behauptet hatten, feine und bezeichnende Spitznamen
und erzählen den Herren, die ihnen ein Ohr leihen, allerlei
kuriose Sachen" von dem "Eichhörnlein und seiner Mutter" , auch
"wie es in diesem oder jenem Haus zugeht", "galante Abenteuer von
jenem ältlichen gesetzten Herrn, der nicht immer so gewesen" , und sind
sie nur erst in dem abenteuerlichen Gebiet geheimer Hofgeschichten
und schlechter Ehen, so spinnen sie mit zitternder Stimme, feinem
Lächeln und den teuersten Versicherungen Geschichten aus, die man
(natürlich mit veränderten Namen) sogleich in jeden Almanach könnte
drucken lassen.
Niemand weiß so trefflich wie sie das Kostüm, das Gespräch, die
Sitten " vor fünfzig Jahren" wiederzugeben; ich glaubte einst bei
einer solchen Unterhaltung die Reifrocke rauschen, die hohen Stelzschuhe
klappern, die französischen Brocken schnurren zu hören; die
ganze Erzählung roch nach Ambra und Puder, wie die alten Damen
selbst. Und so frisch und lebhaft ist ihr Gedächtnis und Mienenspiel,
daß ich einmal, als mir eine dieser Damen Von einer längst verstorbenen
Frau Ministerin erzählte und ihren Gang und ihren schnarrenden
Ton nachahmte, unwillkürlich mich erinnerte, daß ich diese Frau
als Kind gekannt, daß sie mir mit derselben schnarrenden Stimme ein
Zuckerbrot geschenkt habe. Mehrere Novellen, die ich aufgeschrieben,
beziehen sich auf geheime Familiengeschichten oder sonderbare,
abenteuerliche Vorfälle, deren wahre Ursachen wenig ins Publikum
kamen, und ich kann versichern, daß ich sie alle, teils in Berlin, teils in
Hannover, Kassel, Karlsruhe, selbst in Dresden eben von solchen alten
Frauen, den Chroniken ihrer Umgebung, gehört und oft wörtlich
wiedererzählt habe.
Nur so ist es möglich, daß wir auch ohne jenen Schlüssel zum
Feenreich gegenwärtig in Deutschland eine so bedeutende Menge
Novellen zutage fördern. Die "wundervolle Märchenwelt" findet
kein empfängliches Publikum mehr, die lyrische Poesie scheun nur
noch von wenigen geheiligten Lippen tönen zu wollen, und vom
alten Drama sind uns, sagt man, nur die Dramaturgen geblieben.
In einer solchen miserablen Zeit, Verehrter, ist die Novelle ein ganz
Bequemes Ding. Den Titel haben wir wie eine Maske von den großen
Novellisten entlehnt, und Gott und seine lieben Kritiker mögen wissen,
ob die nachstehenden Geschichten wirkliche und gerechte Novellen
sind.
Ich habe, mein werter Herr, dies alles gesagt, um Ihnen darzutun
, wie ich eigentlich dazu kam, Novellen zu schreiben, wie man
beim Novellenschreiben zu Werk gehe, und —daß alles getreue
Wahrheit sei, wenn auch keine poetische, was ich niedergeschrieben.
Sie werden sich noch der guten Frau von Welkerlohn erinnern,
die immer ein kleid von verblichenem gelben Samt trug, das nur
eine weiche Fortsetzung ihrer harten, gelben Züge schien. Von ihr
habe ich die Geschichte "Othello" betitelt. Sie war viel zu diskret,
um Namen und die Residenz zu nennen, wo diese sonderbaren Szenen
vorfielen; aber wenn ich bedenke, daß sie zur selben Zeit Hofdame in
Scheerau war, als Jean Paul dort lebte, so kann ich nicht anders
glauben, als die Geschichte sei an jenem Hofe vorgefallen. Die zweite
Novelle habe ich aus dem Mund der alten Gräfin Nelkenroth;
man hält sie allgemein für eine böse Frau; aber ich kann versichern,
daß ich sie über Josephens Schicksal Tränen vergießen sah. Man
will zwar behaupten, daß sie oft in Gesellschaft weinerliche Geschichten
erzähle, weil ihr vor zwanzig Jahren ein Maler versicherte, sie habe
etwas von einer Suter dolorosa; aber so viel ist gewiß, daß sie mehrere
Personen des Stücks gekannt haben will, und die Frau, bei welcher
Herr v. roben in S. gewohnt hat, erzählte mir manche Sonderbarkeiten
von ihm. Ich und viele Leute ins., welchen ich die Geschichte
wiedererzählte, gaben sich vergebliche Mühe, über Herrn v. Froben
und die Personen, mit welchen er in Berührung kam, etwas Näheres
zu erfragen. Wir erfuhren nur, daß da: "Bild der Dame" nach dem
Gemälde in der Boisseréeschen Galerie von Strixner lithographiert
worden sei. In Ostende, wo ich durch mehrere Briefe nachforschte,
konnte ich nichts, erfahren, als daß allerdings ein englisches Schiff,
die Luna, Kapitän Wardwood, im August Passagiere nach Portugal
an Bord genommen habe und daß sich im Register des Hafendirektors
ein Don Pedro di Montanjo nebst Nichte und Dienerschaft befinde.
Am Rhein, wo ich mich nach Herrn von Faldner und seiner
Familie erkundigte und erzählte, warum ich nachfrage, erklärte man
mir alle:: für Erfindung; denn es gäbe am ganzen Rhein hinab nur
gesittete Landwirte, die mit ihren Frauen wie die Engel im Himmel
leben.
Sie sehen, ich habe keine Mühe gescheut, die Geschichten, die ich
erzähle, so glaubwürdig als möglich zu machen. Es gibt freilich Leute,
die mir dieser historischen Wahrheit wegen gram sind und behaupten,
der echte Dichter müsse keine Straße, keine Stadt, keine bekannten
Namen und Gegenstände nennen; alles und jedes müsse rein erdichtet
sein, nicht durch äußeren Schmuck, sondern von innen Wahrheit gewinnen
, und wie Mahomeds Sarg müsse es in der schönen, lieben
blauen Luft zwischen Himmel und Erde schweben. Andere halten
es vielleicht auch für eine "rechts widrige Täuschung des
Publikums" und können mich darüber belangen wollen, daß
ich behaupte, dies und jenes habe sich da und dort zugetragen, und
ich könne doch keine stadtgerichtlichen Zeugnisse beibringen. Aber
ist denn hier von echter Poesie, von echten Dichtern die Rede? Man
lege doch nicht an die Erzählungen einiger alten Damen diesen erhabenen
Maßstab! Goethe erzählt in "Dichtung und Wahrheit", er
habe in der Frankfurter Stadtmauer eine Türe und einen wunderschönen
Garten gesehen. Noch heute laufen alle Fremden hin (ich
selbst war dort) und beschauen die Mauer und wundern sich, daß man
nicht wenigstens die Reparatur schauen könne, wenngleich das Loch
nur geträumt und nie in der Mauer war. Solchen poetischen Frevel
gegen ein gesetztes Publikum mag man einem Goethe vorrücken;
armen Menschen ohne den Kammerherrenschlüssel der Poesie, der
die Mauern aufschließt, wenn sie auch keine Türen haben, muß man
solche Freiheiten zugut halten.
Darum lesen Sie, verehrter Herr, diese Geschichten, so abenteuerlich
sie sein mögen, als reine, treue Wahrheit; es wird Sie
weniger ärgern, als wenn Sie Dichtungen vor sich zu haben
meinten und Ihr scharfes Auge ein wirres Gewebe unwahrscheinlicher
Lügen fände.
W.H.
Die Bettlerin vom Pont des Arts.
| Ach, wie lang' ist's, daß ich walle,
Suchend durch der Erde Flur!
Titan, deine Strahlen alle
Sandt' ich nach der teuren Spur;
Keiner hat mir noch verkündet
Von dem lieben Angesicht,
Und der Tag, der alles findet,
Die Verlorne fand er nicht. |
Schiller.
1.
Wer im Jahr 1824 abends hie und da in den Gasthof zum "König
von England" in Stuttgart kam oder nachmittags zwischen zwei und
drei Uhr in den Anlagen auf dem breiten Weg promenierte, muß
sich, wenn anders sein Gedächtnis nicht zu kurz ist, noch einiger Gestalten
erinnern, die damals jedes Auge auf sich zogen. Es waren
nämlich zwei Männer, die ganz und gar nicht unter die gewöhnlichen
Stuttgarter Trinkgäste oder Anlagenspaziergänger paßten, sondern
eher auf den Prado zu Madrid oder in ein Cafe: zu Lissabon oder
Sevilla zu gehören schienen. Denket euch einen ältlichen, großen,
hageren Mann mit schwärzlichgrauen Haaren, tiefen, brennenden
Augen von dunkelbrauner Farbe, mit einer kühngebogenen Nase
und feinem, eingepreßtem Mund. Ergeht langsam, stolz und aufrecht.
Zu seinen schwarzseidenen Unterkleidern und Strümpfen, zu den
großen Rosen auf den Schuhen und den breiten Schnallen am Kniegürtel,
zu dem langen, dünnen Degen an der Seite, zu dem hohen,
etwas zugespitzten Hut mit breitem Rande, schief an die Stirne gedrückt,
wünschet ihr, wenn euch nur einigermaßen Phantasie innewohnt
, ein kurzes, geschlitztes Wams und einen spanischen Mantel
statt des schwarzen Frackes, den der Alte umgelegt hat.
Und der Diener, der ihm ebenso stolzen Schrittes folgt, erinnert
er nicht durch das spitzbübische, dummdreiste Gesicht, durch die fremdartige
, grelle Kleidung, durch das ungenierte Wesen, womit er um
sich schaut, alles angafft und doch nichts bewundert, an jene Diener
im spanischen Lustspiel, die ihrem Herrn wie ein Schatten treu, an
Bildung tief unter ihm, an Stolz neben ihm, an List und Schlauheit
über ihm stehen? Unter dem Arm trägt er seines Gebieters Sonnenschirm
und Regenmantel, in der Hand eine silberne Büchse mit
Zigarren und eine Lunte.
Wer blieb nicht stehen, wenn diese beiden langsam durch die Promenade
wandelten, um ihnen nachzusehen? Es war aber bekanntlich
niemand anders als Don Pedro di San Montanjo Ligez,
der Haushofmeister des Prinzen von P., der sich zu jener Zeit in
Stuttgart aufhielt, und Diego , sein Diener.
Wie es oft zu gehen pflegt, daß nur ein kleines, geringes Ereignis
dazu gehört, einen Menschen berühmt und auffallend zu
machen, so geschah dies auch mit dem jungen Fröben , der schon
seit einem halben Jahr (so lange mochte er sich wohl in Stuttgart
aufhalten) alle Tage Schlag zwei Uhr durch das Schloßportal in die
Anlagen trat, dreimal um den See und fünfmal den breiten Weg auf
und nieder ging, an allen den glänzenden Equipagen, schönen Fräulein,
an einer Masse von Direktoren, Räten und Leutnants vorüberkam
und von niemand beachtet wurde; denn er sah ja aus wie ein
ganz gewöhnlicher Mensch von etwa achtundzwanzig bis dreißig
Jahren. Seitdem er aber eines Nachmittags im breiten Weg auf
Don Pedro gestoßen, solcher ihn gar freundlich gegrüßt, seinen
Arm traulich in den seinigen geschoben hatte und mit ihm einigemal,
eifrig sprechend, auf und ab spaziert war, seitdem betrachtete man
ihn neugierig, sogar mit einer gewissen Achtung; denn der stolze
Spanier, der sonst mit niemand sprach, hatte ihn mit auffallender
Astimation behandelt.
Die schönsten Fräulein fanden jetzt, daß er gar kein übles Gesicht
habe, ja, es liege sogar etwas Interessantes, überaus Anziehendes darin,
was man in den Anlagen eben nicht häufig sehe; die Direktoren und
allerlei Räte fragten, wer der junge Mann wohl sein könnte, und
nur einige Leutnants konnten Auskunft geben, daß er hie und da im
Museum Beefsteaks speise, seit einem halben Jahre in der Schloßstraße
wohne und einen schönen Mecklenburger reite, so ihm eigen
angehörig. Sie setzten noch vieles über Vortrefflichkeit dieses
Pferdes hinzu, wie es gebaut, von welcher Farbe, wie alt es sei, was
es wohl kosten könnte, und kamen so auf Pferde überhaupt zu sprechen,
was sehr lehrreich zu hören gewesen sein soll.
Den jungen Fröben aber sah man seit dieser Zeit öfter in Gesellschaft
Don Pedros, und gewöhnlich fand er sich abends im "König
von England" ein, wo er, etwas entfernt von anderen Gästen, bei dem
Sennor saß und mit ihm sprach. Diego aber stand hinter dem Stuhl
seines Herrn und bediente beide fleißig mit Seies und Zigarren.
Niemand konnte eigentlich begreifen, wie die beiden Herren
zusammengekommen oder welches Interesse sie aneinander fanden.
Man riet hin und her, machte kühne Konjekturen, und am Ende hätte
doch der junge Mann selbst den besten Aufschluß darüber geben
können, wenn ihn nur einer gefragt hätte.2.
Und war denn nicht die schöne Galene der Brüder Boisserée
und Bertram , wo sie sich zuerst fanden und erkannten ?
Diese gastfreien Männer hatten dem jungen Manne erlaubt, ihre
Bilder so oft zu besuchen, als er immer wollte; und er tat dies, wenn
er nur immer in der Mittagsstunde, wo die Galerie geöffnet wurde,
kommen konnte. Es mochte regnen oder schneien, das Wetter mochte
zu den herrlichsten Ausflügen in die Gegend locken, er kam; er sah oft
recht krank aus und kam dennoch. Man würde aber unbilligerweise
den Kunstsinn des Herrn von Fröben zu hoch anschlagen, wenn man
etwa glaubte, er habe die herrlichen Bilder der alten Niederländer
studiert oder nachgezeichnet. Nein, er kam leise in die Türe, grüßte
schweigend und ging in ein entferntes Zimmer vor ein Bild, das er
lange betrachtete, und ebenso still verließ er wieder die Galerie. Die
Eigentümer dachten zu zart, als daß sie ihn über seine wunderliche
Vorliebe für da:, Bild befragt hätten; aber auch ihnen mußte es
natürlich aufgefallen sein; denn oft, wenn er herausging, konnte er
nur schlecht die Tränen verbergen, die ihm im Auge quollen.
Großen historischen oder bedeutenden Kunstwert hatte da:: Bildchen
nicht. Es stellte eine Dame in halb spanischer, halb altdeutscher
Tracht vor. Ein freundliches, blühendes Gesicht mit klaren, liebevollen
Augen, mit feinem, zierlichern Mund und zartem, rundem Kimi
trat sehr lebendig aus dem Hintergrund hervor. Die schöne Stirne
umzog reiches Haar und ein kleiner Hut, mit weißen, buschigen Federn
geschmückt, der etwas schalkhaft zur Seite saß. Das Gewand, das nur
den schönen, zierlichen Hals frei ließ, war mit schweren goldenen
Setten umhängt und zeugte ebensosehr von der Sittsamkeit als dem
hohen Stand der Dame.
"Am Ende ist er wohl in das Bild verliebt," dachte man, "wie
Kalaf in das der Prinzessin Turandot, obschon mit ungleich geringerer
Hoffnung; denn das Bild ist wohl dreihundert Jahre alt und das
Original nicht mehr unter den Lebenden."
Nach einiger Zeit schien aber Fröben nicht mehr der einzige Anbeter
des Bildes zu sein. Der Prinz von P. hatte eines Tages mit
seinem Gefolge die Galene besucht. Don Pedro, der Haushofmeister,
hatte die umherschreitende Schar der Zuschauer verlassen und besah
sich die Gemälde, einsam von Zimmer zu Zimmer wandelnd; doch
wie vom Blitz gerührt, mit einem Ausruf des Erstaunens, war er vor
dem Bild jener Dame stehen geblieben. Als der Prinz die Galerie verließ,
suchte man den Haushofmeister lange vergebens. Endlich fand
man ihn, mit überschlagenen Armen, die feurigen Augen halb zugedrückt,
den Mund eingepreßt, in tiefer Betrachtung vor dem Bilde.
Man erinnerte ihn, daß der Prinz bereits die Treppe hinabsteige
; doch der alte Mann schien in diesem Augenblicke nur für eines
Sinn zu haben. Er fragte, wie dies Bild hierhergekommen sei.
Man sagte ihm, daß es Von einem berühmten Meister vor mehreren
hundert Jahren gefertiget und durch Zufall in die Hände der jetzigen
Eigentümer gekommen sei.
"O Gott, nein!" antwortete er, "das Bild ist neu, nicht hundert
Jahre alt; woher, sagen Sie, woher? O, ich beschwöre Sie, wo kann
ich sie finden?"
Der Mann war alt und sah zu ehrwürdig aus, als da ;j man
diesen Ausbruch des Gefühls hätte lächerlich finden können; doch als
er dieselbe Behauptung wieder hörte, daß das Bild alt und wahrscheinlich
von Lukas Cranach selbst gemalt sei, da schüttelte er bedenklich
den Kopf.
"Meine Herren," sprach er und legte beteuernd die Hand aufs
Herz, "meine Herren, Don Pedro di San Montanjo Ligez hält Sie
für ehrenwerte Leute. Sie sind nicht Gemäldeverkäufer und wollen
mir dies Bild nicht als alt verkaufen; ich darf durch Ihre Güte diese
Bilder sehen, und Sie genießen die Achtung dieser Provinz. Aber
es müßte mich alles täuschen, oder —ich kenne die Dame, die jenes
Bild vorstellt."
Mit diesen Worten schritt er, ehrerbietig grüßend, aus dem
Zimmer.
"Wahrhaftig!" sagte einer der Eigentümer der Galerie, " wenn
wir nicht so genau wüßten, von wem dieses Bild gemalt ist, und wann
und wie es in unseren Besitz kam, und welche lange Reihe von Jahren
es vorher in C. hing, man wäre versucht, an dieser Dame irre zu werden.
Scheint nicht selbst den jungen Fröben irgend eine Erinnerung
beinahe täglich vor dieses Bild zu treibens Und dieser alte Don,
blitzte nicht ein jugendliches Feuer aus seinen Augen, als er gestand,
daß er die Donna kenne, die hier gemalt ist Sonderbar, wie oft die
Einbildung ganz vernünftigen Menschen mitspielt; und mich müßte
alles täuschen, wenn der Spanier zum letztenmal hier gewesen wär."
3.
Und es traf ein, kaum war die Galerie am folgenden Vormittag
geöffnet worden, trat auch schon Don Pedro di San Montanjo
Ligez festen, erhabenen Schrittes ein und strich an der langen
Bilderreihe vorüber nach jenem Zimmer hin, wo die Dame mit dem
Federhut aufgestellt war. Es verdroß ihn, daß der Platz vor dem Bilde
schon besetzt war, daß er es nicht allein und einsam, Zug für Zug
mustern konnte, wie er so gerne getan hätte. Ein junger [Mann
stand davor. blickte es lange an, trat an ein Fenster, sah hinaus nach
dem Flug der Wolken und trat dann wieder zu dem Bilde. Es verdroß
den alten Herrn etwas; doch — er mußte sich gedulden.
Er machte sich an andern Bildern zu schaffen; aber, erfüllt von
dem Gedanken an die Dame, drehte er alle Augenblicke den Kopf um,
zu sehen, ob der junge Herr noch immer nicht gewichen sei; aber er
stand wie eine Mauer, er schien in Betrachtung versunken. Der
Spanier hustete, um ihn aus den langen Träumen zu wecken; jener
träumte fort; er scharrte etwas Weniges mit dem Fuß auf dem Boden;
der junge Mann sah sich um, aber sein schönes Auge streifte flüchtig
an dem alten Herrn vorüber und haftete dann von neuem auf dem
Gemälde.
"San Pedro! San Jago di Compostella!" murmelte der Alte,
welch langweiliger, alberner Dilettante!" Unmutig verließ er das
Zimmer und die Galene; denn er fühlte, heute sei ihm schon aller
Genuß benommen durch Verdruß und Arger. Hätte er doch lieber
gewartet! Den Tag nachher war die Galerie geschlossen, und so mußte
er sich achtundvierzig lange Stunden gedulden, bis er wieder zu dem
Gemälde gehen konnte, das ihn in so hohem Grade interessierte. Noch
ehe die Glocken der Stiftskirche völlig zwölf Uhr geschlagen, stieg er
mit anständiger Eile die Treppe hinan, hinein in die Galene, dem
wohlbekannten Zimmer zu, und —getroffen! Er war der erste, war
allein, konnte einsam betrachten.
Er schaute die Dame lange mit unverwandten Blicken an, sein
Auge füllte nach und nach eine Träne, er fuhr mit der Hand über die
grauen Wimpern. "O Laura !" flüsterte er leise. Da tönte ganz
vernehmlich ein Seufzer an seine Ohren; er wandte sich erschrocken
um; der junge Mann von vorgestern stand wieder hier und blickte auf
das Bild. Verdrießlich, sich unterbrochen zu sehen, nickte er mit dem
Haupt ein flüchtiges Kompliment; der junge Mann dankte etwas
freundlicher, aber nicht minder stolz als der Spanier. Auch diesmal
wollte der letztere den überflüssigen Nachbar abwarten, aber vergeblich
; er sah zu seinem Schrecken, wie jener sogar einen Stuhl nahm,
sich einige Schritte vom Gemälde niedersetzte, um es mit gehöriger
Muße und Bequemlichkeit zu betrachten,
"Der Geck!" murmelte Don Pedro, "ich glaube gar, er will mein
graues Haar verhöhnen." Er verließ noch unmutiger als ehegestern
das Gemach.
Im Vorsaal stieß er auf einen der Eigentümer der Galerie; er
sagte ihm herzlichen Dank für den Genuß, den ihm die Sammlung
bereitete, konnte sich aber nicht enthalten, über den jungen Ruhestörer
sich etwas zu beklagen. "Herr B.," sagte er, "Sie haben vielleicht bemerkt,
daß vorzüglich ein es Ihrer Bilder mich anzog; es interessiert
mich unendlich, es hat eine Bedeutung für mich, die —die ich Ihnen
nicht ausdrücken kann. Ich kam, so oft Sie es vergönnten, um das
Bild zu sehen, freute mich recht, es ungestört zu sehen, weil doch gewöhnlich
die Menge nicht lange dort verweilt, und —denken Sie sich,
da hat es mir ein junger, böser Mensch abgelauscht und kommt, so oft
ich komme, und bleibt, mir zum Trotze bleibt er stundenlang vor
diesem Bilde, das ihn doch gar nichts angeht!"
Herr B. lächelte; denn recht wohl konnte er sich denken, wer den
alten Herrn gestört haben mochte. "Das letztere möchte ich denn doch
nicht behaupten," antwortete er; "das Bild scheint den jungen Mann
ebenfalls nahe anzugehen; denn es ist nicht das erste Mal, daß er es
so lange betrachtet."
"Wieso? Wer ist der Mensch?"
"Es ist ein Herr von Fröben," fuhr jener fort, "der sich seit fünf,
sechs Monaten hier aufhält, und seit er das erste Mal jenes Bild gesehen,
eben jene Dame mit dem Federhut, das auch Sie besuchen, kommt er
alle Tage regelmäßig zu dieser Stunde, um das Bild zu betrachten.
Sie sehen also zum wenigsten, daß er Interesse an dem Bilde nehmen
muß, da er es schon so lange besucht."
"Herr! Sechs Monate?" rief der Alte. "Nein, dem habe ich
bitter Unrecht getan in meinem Herzen; Gott mag es mir verzeihen!
Ich glaube gar, ich habe ihn unhöflich behandelt im Unmut. Und ist
ein Kavalier, sagen Sie? Nein, man soll von Pedro di Ligez nicht
sagen können, daß er einen fremden Mann unhöflich behandelte. Ich
bitte, sagen Sie ihm —doch lassen Sie das! Ich werde ihn wieder
treffen und mit ihm sprechen.
4.
Als er den anderen Tag sich wieder einfand und Froben schon
vor dem Gemälde traf, trat er auch hinzu mit recht freundlichem Gesicht
; als aber der junge Mann ehrerbietig auf die Seite wich, um dem
alten Herrn den bessern Platz einzuräumen, verbeugte sich dieser
höflich grüßend und sprach: "Wenn ich nicht irre, Sennor, so hab'
ich Sie schon mehrere Male vor diesem Gemälde verweilen sehen. —
Da geht es Ihnen wohl gleich mir; auch mir ist dieses Bild sehr interessant
, und ich kann es nie genug betrachten."
Fröben war überrascht durch diese Anrede; auch ihm waren die
Besuche des Alten vor dem Bilde aufgefallen, er hatte erfahren, wer
jener sei, und nach der steifen, kalten Begrüßung von gestern war er
dieser freundlichen Anrede nicht gewärtig. "Ich gestehe, mein Herr,"
erwiderte er nach einigem Zögern, "dieses Bild zieht mich vor allen
anderen an; denn — weil — es liegt etwas in diesem Gemälde, das
für mich von Bedeutung ist." —Der Alte sah ihn fragend an, als genüge
ihm diese Antwort nicht völlig, und Fröben fuhr gefaßter fort:
Es ist wunderbar mit Kunstwerken, besonders mit Gemälden. Es
gehen an einem Bilde oft Tausende vorüber, finden die Zeichnung
richtig, geben dem Kolorit ihren Beifall, aber spricht sie nicht tiefer
an, während einem einzelnen aus solch einem Bilde eine tiefere Bedeutung
aufgeht; er bleibt gefesselt stehen, kann sich kaum losreißen
von dem Anblick, er kehrt wieder und immer wieder, von neuem zu
betrachten."
"Sie können recht haben," sagte der Alte nachdenkend, indem
er auf das Gemälde schaute; "aber —ich denke, es ließe sich dies nur
von größeren Kompositionen sagen, von Gemälden, in welche der
Maler eine tiefere Idee legte. Es gehen viele vorüber, bis die Bedeutung
endlich einem aufgeht, der dann den tiefen Sinn des
Künstlers bewundert. Aber sollte man dies von solchen Köpfen behaupten
können?"
Der junge Mann errötete. "Und warum nicht?" fragte er
lächelnd. , .Die schönen Formen dieses Gesichtes, die edle Stirne,
dieses sinnende Auge, dieser holde Mund, hat sie der Künstler nicht
mit tiefem Geiste geschaffen? Liegt nicht etwas so Anziehendes in
diesen Zügen, daß —"
"O bitte, bitte," unterbrach ihn der Alte gütig abwehrend; "
war allerdings eine recht hübsche Person, die dem Künstler gesessen;
die Familie hat schöne Frauen."
"Wie? Welche Familie?" rief der Jüngling erstaunt; er zweifelte
an dem gesunden Verstand des Alten, und doch schienen ihn seine
Worte aufs höchste zu spannen. "Dies Bild ist wohl reine Phantasie
mein Herr, ist zum wenigsten mehrere hundert Jahre alt!"
"Also glauben Sie das Märchen auch?" flüsterte der Alte; "unter
uns gesagt, diesmal hat die Eigentümer ihr scharfer Blick doch irregeleitet
; ich kenne ja die Dame."
"Um Gottes willen, Sie kennen sie? Wo ist sie jetzt? Wie heißt
sie?" sprach Fröben heftig bewegt, indem er die Hand des Spaniers
"Sage ich lieber, ich habe sie gekannt," antwortete dieser mit
zitternder Stimme, indem er das feuchte Auge zu der Dame aufschlug.
Ja, ich habe sie gekannt, in Valencia vor zwanzig Jahren; eine lange
Zeit! Es ist ja aber niemand anders als Donna Laura Tortosi."
"Zwanzig Jahre!" wiederholte der junge Mann traurig und
niedergeschlagen. "Zwanzig Jahre — nein, sie ist es nicht."
"Sie ist es nicht fuhr Don Pedro hitzig auf. "Nicht, sagen Sie?
So können Sie glauben, ein Maler habe diese Züge aus seinem Hirn
zusammengepinselt? Doch ich will nicht ungerecht sein, es war wohl
ein tüchtiger Mann, der sie malte; denn seine Farben sind wahr und
treu. treu und frisch wie das blühende Leben. Aber glauben Sie, daß
ein solcher Künstler aus seiner Phantasie nicht ein ganz anderes Bild
erschaffte Finden Sie nicht, ohne die Familie Tortosi zu kennen, daß
diese Dame offenbar Familienähnlichkeit haben müsse, Familienzüge,
bestimmt und klar von der Natur ausgesprochen, Züge, wie man sie
nie in Gemälden der Phantasie, sondern nur bei guten Porträts
findet? Es ist ein Porträt, sag' ich Ihnen, Sennor, und bei Gott kein
anderes als das der Donna Laura, wie ich sie vor zwanzig Jahren gesehen
in dem lieblichen Valencia."
"Mein verehrter Herr," erwiderte ihm Fröben, "es gibt Ähnlichkeiten
, täuschende Ähnlichkeiten; man glaubt oft einen Freund
sprechend getroffen zu sehen, nur in sonderbarem, veraltetem Kostüm,
und wenn man fragt, ist es sein Urahn aus dem Dreißigjährigen Kriege
oder überdies gar noch ein Fremder. Ich gebe auch zu, daß dieses
Bild sogenannte Familienzüge trage, daß es der liebenswürdigen
Donna Laura gleiche; aber dieses Bild, dieses ist alt, und soviel
weiß man wenigstens aus Registern und Kirchenbüchern, daß es in der
Magdalenenkirche zu C. schon seit hundertundfünfzig Jahren hing,
durch zufällige Stiftung, nicht auf Bestellung, in die Kirche kam und
nach allen Anzeigen von dem deutschen Maler Lukas Cranach gefertigt
wurde."
"So hole der lebendige Satan meine Augen!" rief Don Pedro
ärgerlich, indem er aufsprang und seinen Hut nahm. "Ein Blendwerk
der Hölle ist's; sie will mich in meinen alten Tagen noch einmal durch
dies Gemälde in Wehmut und Gram versenken." Tränen standen
dem alten Mann in den Augen, als er mit hastigen, dröhnenden
Schritten die Galerie verließ.
5.
Aber dennoch war er auch jetzt nicht zum letztenmal dagewesen.
Froben und er sahen sich noch oft vor dem Bilde, und der Alte gewann
den jungen Mann durch sein bescheidenes, aber bestimmtes Urteil,
durch seine liebenswürdige Offenheit, durch sein ganzes Wesen, das
feine Erziehung, treffliche Kenntnisse und einen für diese Jahre seltenen
Takt verriet, immer lieber. Der Alte war fremd in dieser Stadt,
er fühlte sich einsam: dennoch war er der Welt nicht so sehr abgestorben
, daß er nicht hin und wieder einen Menschen hätte sprechen
mögen. So kam es, daß er sich unvermerkt näher an den jungen
Froben anschloß; zog ihn ja dieser auch dadurch so unbeschreiblich an,
daß er ein teures Gefühl mit ihm teilte, nämlich die Liebe zu jenem
Bilde.
So kam es, daß er den jungen Mann auf dem Spaziergang
gerne begleitete, daß er ihn oft einlud, ihm abends Gesellschaft zu
leisten. Eines Abends, als der Speisesaal im "König von England"
ungewöhnlich gefüllt war und rings um die beiden fremde Gäste saßen,
so daß sie sich im traulichen Gespräche gehindert fühlten, sprach Don
Pedro zu seinem jungen Freund: "Sennor, wenn Ihr anders diesen
Abend nicht einer Dame versprochen habt, vor ihrem Gitter mit der
Laute zu erscheinen, oder wenn Euch nicht sonst ein Versprechen hindert
, so möchte ich Euch einladen, eine Flasche echten Pietro Ximenes
mit mir auszustechen auf meinem Gemach."
"Sie ehren mich unendlich," antwortete Froben; "mich bindet
kein Versprechen, denn ich kenne hier keine Dame; auch ist es hiesigen
Orts nicht Sitte, abends die Laute zu schlagen auf der Straße oder
sich mit der Geliebten am Fenster zu unterhalten. Mit Vergnügen
werde ich Sie begleiten.
"Gut; so geduldet Euch hier noch eine Minute, bis ich mit Diego
die Zurichtung gemacht; ich werde Euch rufen lassen.
Der Alte hatte diese Einladung mit einer Art von Feierlichkeit
gesprochen, die Fröben sonderbar auffiel. Jetzt erst entsann er sich
auch, daß er noch nie auf Don Pedros Zimmer gewesen; denn immer
hatten sie sich in dem allgemeinen Speisesaal des Gasthofs getroffen.
Doch aus allem zusammen glaubte er schließen zu müssen, daß es eine
besondere Höflichkeit sei, die ihm der Spanier durch diese Einführung
bei sich erzeigen wolle. Nach einer Viertelstunde erschien Diego mit
zwei silbernen Armleuchtern, neigte sich ehrerbietig vor dem jungen
Mann und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Fröben folgte ihm und
bemerkte, als er durch den Saal ging, daß alle Trintgäste neugierig
ihm nachschauten und die Köpfe zusammensteckten. Im ersten Stock
machte Diego eine Flügeltüre auf und winkte dem Gast, einzutreten.
Überrascht blieb dieser auf der Schwelle stehen. Sein alter Freund
hatte den Frack abgelegt, ein schwarzes geschlitztes Wams mit roten
Buffen angezogen und einen langen Degen mit goldenem Griff umgeschnallt
, und ein dunkelroter Mantillo fiel ihm über die Schultern.
z Feierlich schritt er seinem Gast entgegen und streckte seine dürre Hand
aus den reichen Manschetten hervor, ihn zu begrüßen. "Seid mir
herzlich willkommen, Don Fröbenio," sprach er, "stoßet Euch nicht an
diesem prunklosen Gemach! Auf Reisen, wie Ihr wißt, fügt sich nicht
alles wie zu Hause. Weicher allerdings geht es sich in meinem Saale
zu Lissabon, und meine Divans sind echt maurische Arbeit; doch setzet
Euch immer zu mir auf dies schmale Ding, Sofa genannt, —ist doch
der Wein des Herrn Schwaderer echt und gut; setzt Euch!"
Er führte unter diesen Worten den jungen Mann zu einem Sofa;
der Tisch vor diesem war mit Konfitüren und Wein besetzt; Diego
schenkte ein und brachte Zündstock und Zigarren.
"Schon lange," hub dann Don Pedro an, "schon lange hätte
ich gerne einmal so recht vertraulich zu Euch gesprochen, Don Fröbenio
, wenn Ihr anders mein Vertrauen nicht gering achtet.
Sehet, wenn wir uns oft zur Mittagsstunde vor Lauras Bildnis
trafen, da habe ich Euch, wenn Ihr so recht versunken waret in Anschauung,
aufmerksam betrachtet, und — vergebt mir, wenn meine
alten Augen einen Diebstahl an Euern Augen begingen, —ich bemerkte
, daß der Gegenstand dieses Gemäldes noch höheres Interesse
für Euch haben müsse und eine tiefere Bedeutung, als Ihr mir bisher
gestanden."
Froben errötete; der Alte sah ihn so scharf und durchdringend an
als wollte er im innersten Grund seiner Seele lesen. "Es ist wahr,"
antwortete er, "dieses Bild hat eine tiefe Bedeutung für mich, und
Sie haben recht gesehen, wenn Sie glauben, es sei nicht das Kunstwerk
, was mich interessiere, sondern der Gegenstand des Gemäldes.
Ach, es erinnert mich an den sonderbarsten, aber glücklichsten
Moment meines Lebens! Sie werden lächeln, wenn ich Ihnen sage,
daß ich einst ein Mädchen sah, das mit diesem Bild täuschende Ähnlichkeit
hatte; ich sah sie nur einmal und nie wieder, und darum
gehört es zu meinem Glück, wenigstens ihre holden Züge in diesem
Gemälde wiederaufzusuchen."
"O Gott, das ist ja auch mein Fall!" rief Don Pedro.
"Doch lachen werden Sie," fuhr Fröben fort, " wenn ich gestehe,
daß ich nur von einem Teil des Gesichtes dieser Dame sprechen kann.
Ich weiß nicht, ist sie blond oder braun, ist ihre Stirne hoch oder nieder,
ist ihr Auge blau oder dunkel, ich weiß es nicht! Aber diese zierliche
Nase, dieser liebliche Mund, diese zarten Wangen, dieses weiche Kinn
finde ich auf dem geliebten Bilde, wie ich im Leben geschaut!
"Sonderbar! — und diese Formen, die sich dem Gedächtnis
weniger tief einzudrücken pflegen als Auge, Stirn und Haar, diese
sollten, nachdem Ihr nur einmal sie gesehen, so lebhaft in Eurer
Seele stehen:
"O Don Pedro!" sprach der Jüngling bewegt, "einen Mund, den
man einmal geküßt hat, einen solchen Mund vergißt man so leicht
nicht wieder. Doch, ich will erzählen, wie es mir damit ergangen."
"Halt ein, kein Wort!" unterbrach ihn der Spanier. "Ihr würdet
mich für sehr schlecht erzogen halten müssen, wollte ich einem Kavalier
sein Geheimnis entlocken, ohne ihm das meine zuvor als Pfand gegeben
zu haben. Ich will Euch erzählen von der Dame, die ich in
jenem sonderbaren Bild erkannte, und wenn Ihr mich dann Eures
Vertrauens würdig achtet, so möget Ihr mir mit Eurer Geschichte
vergelten. Doch, Ihr trinket ja gar nicht; ist echter spanischer Wein,
und ihn müßt Ihr trinken, wenn Ihr mit mir Valencia besuchen
w ont."
Sie tranken von dem begeisternden Pietro Ximenes, und der
Alte hub an;
6.
"Sennor, ich bin in Granada geboren. Mein Vater kommandierte
ein Regiment, und er und meine Mutter stammten aus den ältesten
Familien dieses Königreichs. Ich wurde im Christentum und allen
Wissenschaften erzogen, die einen Edelmann zieren, und mein Vater
bestimmte mich, als ich zwanzig Jahre alt und gut gewachsen war,
zum Soldaten. Aber er war ein Mann, streng und ohne Rücksicht im
Dienste, und weil er die Zärtlichkeit meiner Mutter für mich kannte
und fürchtete, sie möchte ihn oft verhindern, mich meine Pflicht gehörig
vollbringen zu machen, beschloß er, mich zu einem anderen Regiment
zu schicken, und seine Wahl fiel auf Pampeluna, wo mein Oheim
kommandierte. Ich lernte dort den Dienst sorgfältig und genau und
brachte es in den folgenden zehn Jahren bis zum Kapitän. Als ich
dreißig alt war, wurde mein Oheim nach Valencia versetzt. Er hatte
Einfluß und wußte zu bewirken, daß ich ihm schon nach einem halben
Jahr als Adjutant folgen konnte. Als ich aber in Valencia ankam,
hatte sich in meines Oheims Hauswesen vieles geändert. Er war
schon längst, noch in Pampeluna, Witwer geworden. In Valencia
lernte er eine reiche Witwe kennen und hatte sie einige Wochen früher,
als ich bei ihm eintraf, geheiratet. Sie können denken, wie ich überrascht
war, als er mir eine ältliche Dame vorstellte und sie seine Gemahlin
nannte; meine Überraschung stieg aber und gewann an Freude,
als er auch ein Mädchen, schön wie der Tag, herbeiführte und sie seine
Tochter Laura, meine Cousine, nannte. Ich hatte bis zu jenem Tage
nicht geliebt, und meine Kameraden hatten mich oft deshalb Pedro el
pedro (den steinernen Pedro) genannt; aber dieser Stein zerschmolz
wie Wachs von den feurigen Blicken Lauras.
"Ihr habt sie gesehen, Don Fröbenio; jenes Bild gibt ihre himmlischen
Züge wieder, wenn es anders einem irdischen Künstler möglich
ist, die wundervollen Werke der Natur zu erreichen. Ach, gerade so
trug sie ihr Haar, so mutig wie auf jenem Gemälde hatte sie das Hütchen
mit den wallenden Federn aufgesetzt, und wenn sie ihr dunkles
Auge unter den langen Wimpern aufschlug, so war es, als ob die
Pforten des Himmels sich öffneten und ein leuchtender Engel freundlich
herabgrüßte.
"Meine Liebe, Sennor, war eine freudige; ich konnte ja täglich
um sie sein; jene Schranken, die in meinem Vaterlande gewöhnlich
die Liebenden trennen und die Liebe schmerzlich, ängstlich, gramvoll
und verschlagen machen, jene Schranken trennten uns nicht. Und
wenn ich in die Zukunft sah, wie lachend erschien sie mir! Mein Oheim
liebte mich wie seinen Sohn; verstand ich seine Winke recht, so schien
es ihm nicht unangenehm, wenn ich mich um seine Tochter bewerbe;
und von meinem Vater konnte ich kein Hindernis erwarten; denn
Laura stammte aus edlem Blute, und der Reichtum ihrer Mutter war
bekannt. Wie mächtig meine Liebe war, könnt Ihr schon daraus sehen,
daß ich da liebte, wo es so gänzlich ohne Not und Jammer abging.
Denn gewöhnlich entsteht die Liebe aus der angenehmen Bemerkung,
daß man der Geliebten vielleicht nicht mißfallen habe; wie Feuer unter
den Dächern fortschleicht und, durch eine Mauer aufgehalten, plötzlich
verzehrend nieder in das Haus und prasselnd auf zum Himmel schlägt,
so die Liebe. Die kleine Neigung wächst. Die unüberwindlich scheinenden
Hindernisse spornen an; man glaubt eine Glut zu fühlen, die
nur im Arm der Geliebten sich abkühlen kann. Man spricht die Dame
am Gitter, man schickt ihr Briefe durch die Zofe, man malt im
Traume und Wachen ihr Bild, ihre Gestalt so reizend sich vor; denn
bisher sah man sie nicht anders als im Schleier und der verhüllenden
Mantilla. Endlich, sei es durch List oder Gewalt, fallen die Schranken.
Man fliegt herbei, führt die Errungene zur Kirche und —besiehet sich
nachher den Schatz etwas genauer. Wie auf dem schönen Wiesengrund
, der nur ein Teppich ist, über ein sumpfig Moorland gedeckt,
wenn du wie auf fester Erde ausschreitest, deine Füße einsinken und
Quellen aus der Tiefe rieseln, so hier. Alle Augenblicke zeigt sich eine
neue Laune bei der Dame, alle Tage lüftet sie Schleier und Mantilla
ihres Herzens freier, und am Ende stündest du lieber wieder an dem
Gitter, Liebesklagen zu singen, um — nie wiederzukehren."
7.
"Bei Gott, Ihr seid ein scharfer Kritiker," erwiderte Fröben errötend;
; "es liegt in dem, was Ihr saget, etwas Wahres; aber ganz so?
Nein, da müßte ja jener Götterfunke, der zündend ins Herz schlägt,
jener selige Augenblick, wo die Hälfte einer Minute zum Verständnis
hinreicht, müsste lügen, und doch glaube ich an seine himmlische Abkunft.
O, ist es mir denn besser ergangen?"
"Ich verstehe, was Ihr sagen wollt," sprach Don Pedro; "jener
Moment ist himmlisch schön, aber beruht gar oft auf bitterer Täuschung.
Höret weiter! Mich reizten, mich hinderten keine Schranken,
und dennoch liebte ich so warm als irgend ein junger Kavalier in Spanien
. Das einzige Hindernis konnte Lauras Herz sein, und — ihr
Auge hatte mir ja schon oft gestanden, daß es dem meinigen gerne
begegne. Alle jene kleinen Beweise meiner Zärtlichkeit, wie man sie
in diesem Zustand gibt, nahm Donna Laura gütig auf, und nach
einem Vierteljahre erlaubte sie mir, ihr meine Liebe zu gestehen. Die
Eltern hatten die Sache längst bemerkt; mein Oheim gab mir seine
Einwilligung und sagte, er habe für mich wegen guter Dienste, die
ich geleistet, beim König um ein Majorspatent nachgesucht. Mit der
Nachricht meines Steigens solle ich dem Vater meine Liebe gestehen
und ihn um Einwilligung bitten. Ich gelobte es; ach, warum habe ich's
getan! Sollte man nicht immer einen Dämon hinter sich glauben, der
uns das Glück wie ein schönes Spielzeug gibt, nur um es plötzlich zu
zerschlagen?
"Ich hatte bald nach der Gewißheit meines Glückes mit einem
Hauptmann aus einem Schweizer-Regiment Bekanntschaft gemacht,
den ich liebgewann und täglich in mein Haus führte. Es war ein
schöner blonder Jüngling mit klaren blauen Augen, von weißer Haut
und roten Wangen. Er hätte zu weich für einen Soldaten ausgesehen,
wenn nicht berühmte Waffentaten, die er ausgeführt, in aller Munde
lebten. Um so gefährlicher war er für die Frauen. Seine ganze Erscheinung
war so neu in diesem Lande, wo die Sonne die Gesichter
dunkel färbt, wo unter schwarzem Haar schwarze Augen blitzen; und
wenn er von den Eisbergen, von dem ewigen Schnee seiner Heimat
erzählte, so lauschte man gerne auf seine Rede, und manche Dame
mochte schon den Besuch gemacht haben, das Eis seines Herzens zu
zerschmelzen.
"Eines Morgens kam ein Freund zu mir, der um meine Liebe
zu Laura wußte, und gab mir in allerlei geheimnisvollen Reden zu
verstehen, ich möchte entweder auf der Hut sein, oder ohne das Majors-Patent
meine Base heiraten, indem sonst noch manches sich ereignen
könnte, was mir nicht angenehm wäre. war betreten, forschte
näher und erfuhr, daß Donna Laura bei einer verheirateten Freundin
hie und da mit einem Mann zusammenkomme, der, in einen Mantel
verhüllt, ins Haus schleiche. Ich entließ den Freund und dankte ihm.
Ich glaubte nichts davon; aber ein Stachel von Eifersucht und Mißtrauen
war in mir zurückgeblieben. Ich dachte nach über Lauras Betragen
gegen mich; ich fand es unverändert; sie war hold, gütig gegen
mich wie zuvor, ließ sich die Hand, wohl auch den schönen Mund küssen
—aber dabei blieb es auch; denn jetzt erst fiel mir auf, wie kalt sie
immer bei meiner Umarmung war, sie drückte mir die Hand nicht
wieder, wenn ich sie drückte, sie gab mir keinen Kuß zurück.
"Zweifel quälten mich; der Freund kam wieder, schürte durch
bestimmtere Nachrichten das Feuer mächtiger an, und ich beschloß bei
mir, die Schritte meiner Dame aufmerksamer zu bewachen. Wir
speisten gewöhnlich zusammen, der Oheim, die Tante, meine schöne
Base und ich. Am Abend des Tages, als mein Freund zum zweitenmal
mich gewarnt, fragte die Tante bei Tische ihre Tochter, ob sie ihr
Gesellschaft leisten werde auf dem Balkon.
"Sie antwortete, sie habe ihrer Freundin einen Besuch zugesagt.
Unwillkürlich mochte ich sie dabei schärfer angesehen haben; denn sie
schlug die Augen nieder und errötete. Sie ging eine Stunde, ehe die
Nacht einbrach, zu jener Dame. Als es dunkel wurde, schlich ich mich
an jenes Haus und hielt Wache; rasende Eifersucht kam über mich, als
ich die Straße herauf, nahe an die Häuser gedrückt, eine verhüllte Gestalt
schleichen sah. Ich stellte mich vor die Haustüre; die Gestalt kam
näher und wollte mich sanft auf die Seite schieben. Aber ich faßte sie
am Gewand und sprach: ,Sennor, wer Ihr auch seid, in diesem Augenblick
glaube ich einen Mann von Ehre vor mir zu haben, und bei Eurer
Ehre fordere ich Euch auf, steht mir Rede!'
"Bei dem ersten Ton meiner Stimme sah ich ihn zusammenschrecken;
er besann sich eine kleine Weile und entgegnete dann: ,Was
soll es?-
"
",Schwört mir bei Eurer Ehre,' fuhr ich fort, ,daß Ihr nicht wegen
Donna Laura di Tortosi in dieses Haus geht.'
"Wer erkühnt sich, mir über meine Schritte Rechenschaft abzufordern?'
rief er mit dumpfer, verstellter Stimme. An seiner Aussprache
merkte ich, daß er ein Fremder sein müsse; eine düstere Ahnung
ging in meiner Seele auf. ,Der Kapitän di San Montanjo wagt es,'
antwortete ich und riß ihm, ehe er sich dessen versah, den Mantel vom
Gesicht — es war mein Freund Tannensee, der Schweizer.
"Er stand da wie ein Verbrecher, keines Wortes mächtig. Aber ich
hatte meinen Degen blank gezogen, und sprachlos vor Wut deutete ich
ihm an, dasselbe zu tun. ,Ich habe keine Waffen bei mir als einen
Dolch,' erwiderte er. Schon war ich willens, ihm ohne Zögern den
Degen in den Leib zu rennen; aber als er so regungslos auf alles gefaßt
vor mir stand, konnte ich das Schreckliche nicht vollbringen. Ich
behielt noch soviel Fassung, daß ich ihn bestimmte, am anderen Morgen
vor dem Tor der Stadt mir Rechenschaft zu geben. Die Türe hielt ich
besetzt; er sagte zu und ging.
"Noch lange hielt ich Wache, bis endlich die Sänfte für Laura
gebracht wurde, bis ich sie einsteigen sah; dann folgte ich ihr langsam
nach Hause. Die Qualen der Eifersucht ließen mich keinen Schlaf auf
meinem Lager finden, und so hörte ich, wie sich um Mitternacht
Schritte meiner Türe näherten. Man pochte an; verwundert warf
ich meinen Mantel um und schloß auf; es war die alte Dienerin Lauras,
die mir einen Brief übergab und eilends wieder davonging.
"Sennor! Gott möge Euch vor einem ähnlichen Brief in Gnaden
bewahren! Sie gestand mir, daß sie den Schweizer längst geliebt habe,
als sie mich noch gar nicht kannte; daß sie aus Furcht vor dem Zorn
ihrer Mutter, die alle Fremden hasse, ihn immer zurückgehalten, um
sie zu werben; daß sie, von den Drohungen meiner Tante genötigt,
meine Anträge sich habe gefallen lassen. Sie nahm alle Schuld auf
sich, sie schwur mit den heiligsten Eiden, daß Tannensee mir oft habe
alles gestehen wollen und nur durch ihr Flehen, durch ihre Furcht,
nachher strenger verwahrt zu werden, sich habe zurückhalten lassen.
Sie deutete mir ein schreckliches Geheimnis an, das die Ehre der Familie
beflecken werde, wenn ich ihr und dem Hauptmann nicht zur
Flucht verhelfe. Sie beschwor mich, von meinem Streit abzustehen;
denn wenn er falle, so bleibe ihr, seiner Gattin , nichts übrig,
als sich das Leben zu nehmen. Sie schloß damit, meine Großmut anzurufen;
sie werde mich ewig achten , aber niemals lieben.
"Ihr werdet gestehen, daß ein solcher Brief, gleich kaltem Wasser,
alle Flammen der Liebe löschen kann; er löschte sogar zum Teil meinen
Zorn. Aber vergeben konnte ich es meiner Ehre nicht, daß ich betrogen
war; darum stellte ich mich zur bestimmten Stunde auf dem
Kampfplatz ein. Der Kapitän mochte tief fühlen, wie sehr er mich beleidigt
; obgleich er ein besserer Fechter war als ich, verteidigte er sich
nur, und nicht seine Schuld ist es, daß ich meine Hand hier zwischen
Daumen und Zeigefinger in seinen Degen rannte, so daß ich außerstand
war, weiter zu fechten. Ich gab ihm, während ich verbunden
wurde, Lamas Brief. Erlas, er bat mich flehend, ihm zu vergeben,
ich tat es mit schwerem Herzen.
"Die Geschichte meiner Liebe ist zu Ende, Don Fröbenio; denn
fünf Tage darauf war Donna Laura mit dem Schweizer verschwunden
.
"Und mit Ihrer Hilfe?" fragte Fröben.
"Ich half, so gut es ging. Freilich war der Schmerz meiner Tante
groß; aber in diesen Umständen war es besser, sie sah ihre Tochter nie
wieder, als daß Unehre über das Haus kam."
"Edler Mann! Wie unendlich viel muß Sie dies gekostet haben!
Wahrhaftig, es war eine harte Prüfung."
"Das war es," antwortete der Alte mit düsterem Lächeln. "Anfangs
glaubte ich, diese Wunde werde nie vernarben; die Zeit tut
viel, mein Freund! Ich habe sie nie wiedergesehen, nie von ihnen
gehört; nur einmal nannten die Zeitungen den Obrist Tannensee
als einen tapferen Mann, der unter den Truppen Napoleons in der
Schlacht von Brienne dem Feinde langen Widerstand getan habe.
Ob es derselbe ist, ob Laura noch lebt, weiß ich nicht zu sagen.
"Als ich aber in diese Stadt kam, jene Galerie besuchte und nach
zwanzig langen Jahren meine Laura wiedererblickte, ganz so, wie
sie war in den Tagen ihrer Jugend, da brachen die alten Wunden
wieder auf, und — nun, Ihr wisset, daß ich sie täglich besuche."
8.
Mit umständlicher Gravität, wie es dem Haushofmeister eines
p . . . .schen Prinzen, einem Mann aus altkastilischem Geschlechte geziemte,
hatte Don Pedro di San Montanjo Ligez seine Geschichte vorgetragen
. Als er geendet, trank er einigen Seies, lüftete den Hut,
strich sich über atime und Kinn und sagte zu dem jungen Mann an
seiner Seite: "Was ich wenigen Menschen vertraut, habe ich Euch
umständlich erzählt, Don Fröbenio, nicht um Euch zu locken, mir mit
gleichem Vertrauen zu erwidern, obgleich Euer Geheimnis so sicher
in meiner Brust ruhte als der Staub der Könige von Spanien im
Eskunal! — Obgleich ich gespannt bin, zu wissen, inwiefern Euch
jene Dame interessiert, —aber Neugierde ziemt dem Alter nicht, und
damit gut!"
Fröben dankte dem Alten für seine Mitteilung. "Mit Vergnügen
werde ich Ihnen meinen kleinen Roman zum besten geben," sagte
er lächelnd; " er betrifft keiner Dame Geheimnisse und endet schon da,
wo andere anfangen. Aber wenn Sie erlauben, werde ich morgen
erzählen; denn für heute möchte es wohl zu spät sein."
"Ganz nach Eurer Bequemlichkeit," erwiderte der Don, seine
Hand drückend. "Euer Vertrauen werde ich zu ehren wissen." So
schieden sie; der Spanier begleitete den jungen Mann höflich bis an
die Schwelle seines Vorsaals, und Diego leuchtete ihm bis in die
Straße.
Nach seiner Gewohnheit ging Fröben den Tag nachher in die
Galerie; er stand lange vor dem Bilde, und wirklich dachte er an
diesem Tage mehr an den Alten denn an die gemalte Dame; aber
er wartete über eine Stunde —der Alte kam nicht. Erging mit dem
Schlag zwei Uhr in die Anlagen, ging langsamen (l) ritte:: um den
See, vorbei an schönen Equipagen, noch schöneren Damen, vorbei
an unzähligen Direktoren und Leutnants, zog oft sein Fernglas und
schaute die lange Promenade hinab; aber die ehrwürdige Gestalt
seines alten Freundes wollte sich nicht zeigen; umsonst schaute er
nach den dünnen schwarzen Beinen, nach dem spitzen Hut, umsonst
nach Diego in den bunten Kleidern, mit Sonnenschirm und Regenmantel;
er war nicht zu sehen. "Sollte er krank geworden sein ?
fragte er sich. und unwillkürlich ging er nach dem Schloßplatz hin und
nach dem Gasthof zum "König von England", um Don Pedro zu besuchen
"Fort ist die ganze Wirtschaft, auf und davon," antwortete
auf seine Frage der Oberkellner, "gestern abend noch bekam der Prinz
Depeschen, und heute vormittag sind Seine Hoheit nebst Gefolge in
sechs Wagen nach W. abgereist; der Haushofmeister, er fuhr im zweiten,
hat für Sie eine Karte hier gelassen."
Begierig griff Fröben nach diesem letzten Freundeszeichen. Es
war nur Don Pedro di San Montanio Ligez, Major
Rio di S. A. usw. darauf zu lesen. Verdrießlich wollte Fröben
diesen kalten Abschied einstecken; da gewahrte er auf der Rückseite
noch einige Worte mit der Bleifeder geschrieben; er las: "Lebt wohl,
teurer Don Fröbenio! Eure Geschichte müßt Ihr mir schuldig bleiben;
grüßet und küsset Donna Laura!"
Er lächelte über den Auftrag des alten Herrn, und doch, als er
in den nächsten Tagen wieder vor dem Bilde stand, war er wehmütiger
als je; denn es war in seinem Leben eine Lücke entstanden
durch Don Pedros Abreise. Er hatte sich so gerne mit dem guten
Alten unterhalten, er hatte seit langer Zeit zum erstenmal wieder in
einem genaueren Verhältnis mit Menschen gelebt, und deutlicher als
je fühlte er jetzt, daß nur der Einsame, der Hoffnungslose ganz unglücklich
ist. Wäre das Bild nicht gewesen, das ihn mit seinem eigentümlichen
Zauber zurückhielt, schon längst hätte er Stuttgart verlassen,
das sonst keine Reize für ihn hatte. Als ihm daher eines Tages
die Herren Baisse ria die treue Kopie jenes lieben Bildes, ein litho
graphiertes Blatt, zeigten und ihn damit beschenkten, nahm er es als
einen Wink des Schicksals auf, verabschiedete sich von dem Urbild,
packte die Kopie sorgfältig ein und verlieh diese Stadt so stille, als er
sie betreten hatte.
9.
Sein Aufenthalt in Stuttgart hatte nur dem Bilde gegolten,
das er in jener Galerie gefunden. Er war, als er die Hauptstadt
Württembergs berührte, auf einer Reise nach dem Rhein begriffen,
und dahin zog er nun weiter. Er gestand sich selbst, daß ihn die letzten
Monate beinahe allzuweich gemacht halten. Er fühlte nicht ohne
Beschämung und leises Schaudern, daß sein Trübsinn, sein ganzes
Dichten und Trachten schon an Narrheit gestreift hatten. Er war
zwar unabhängig, hatte dieses Jahr noch zu Reisen bestimmt, ohne
sich irgend einen festen Plan, ein Ziel zu setzen; er wollte diese lange
Unterbrechung seiner Reise auf die angenehme Lage der Stadt, auf
die herrlichen Umgebungen schieben. Aber hatte er denn wirklich)
jene Stadt so angenehm gefunden? Hatte er Menschen aufgesucht,
kennen gelernt? Hatte er sie nicht vielmehr gemieden, weil sie seine
Einsamkeit, die ihm so lieb geworden, störten ? Hatte er die herrlichen
Umgebungen genossen? "Nein," sagte er lächelnd zu sich, " man wäre
versucht, an Zauberei zu glauben! Ich habe mich betragen wie ein
Tor, habe mich eingeschlossen in mein Zimmer, um zu lesen. Und
habe ich denn wirklich gelesen? Stand nicht ihr Bild auf jeder Seite?
Gingen meine Schritte weiter als zu ihr , oder um einmal allein
unter dem Gewühl der Menge auf- und abzugehen? Ist es nicht
schon Raserei, auf so langen Wegen einem Schatten nachzujagen,
jedes Mädchengesicht aufmerksam zu betrachten, ob ich nicht den
holden Mund der unbekannten Geliebten wiedererkenne?"
So schalt sich der junge Mann, glaubte recht feste Vorsätze zu
fassen, und — wie oft, wenn sein Pferd langsamer bergan geschritten
war, vergaß er oben, es anzutreiben, weil seine Seele auf anderen
Wegen schweifte; wie oft, wenn er abends sein Gepäck öffnete und
ihm die Rolle in die Hände fiel, entfaltete er unwillkürlich das Bild
der Geliebten und vergaß, sich zur Ruhe zu legen.
Aber die reizenden Gebirgsgegenden am Neckar, die herrlichen
Fluren von Mannheim, Worms, Mainz verfehlten auch auf ihn den
eigentümlichen Eindruck nicht. Sie zerstreuten ihn, sie füllten seine
Seele mit neuen, freundlichen Bildern. Und als er eines Morgens
von Bingen aufbrach, stand um ein Bild vor seinem Auge, ein Bild,
das er noch heute erblicken sollte. Fröben hatte mit einem Landsmann
Frankreich und England bereist, und aus dem Gesellschafter
war ihm nach und nach ein Freund erwachsen. Zwar mußte er, wenn
er über ihre Freundschaft nachdachte, sich selbst gestehen, daß Übereinstimmung
der Charaktere sie nicht zusammenführte; doch oft pflegt
es ja zu geschehen, daß gerade das Ungleiche sich heißer liebt als das
Ähnliche. Der Baron von Faldner war etwas roh, ungebildet;
selbst jene Reise, das bewegte Leben zweier Hauptstädte wie Paris
und London, hatte nur seine Außenseite etwas abschleifen und mildern
können. Er war einer jener Menschen, die, weil sie durch fremde oder
eigene Schuld gewählte Lektüre, feinere tiefere Kenntnisse und die
bildende Hand der Wissenschaften verschmähten, zu der Überzeugung
kamen, sie seien praktische Menschen, d. h. Leute, die in sich selbst alles
tragen, um was sich andere, es zu erlernen, abmühen, die einen natürlichen
Begriff von Ackerbau, Viehzucht, Wirtschaft und dergleichen
haben und sich nun für geborene Landwirte, für praktische Haushälter
ansehen, die auf dem natürlichsten Wege das zu erreichen glauben,
was die Masse in Büchern sucht. Dieser Egoismus machte ihn glücklich;
denn er sah nicht, auf welchen schwachen Stützen sein Wissen beruhte;
noch glücklicher wäre er wohl gewesen, wenn diese Eigenliebe bei den
Geschäften stehen geblieben wäre; aber er trug sie mit sich, wohin er
ging, erteilte Rat, ohne welchen anzunehmen, hielt sich, was man ihm
nicht gerade nachsagte, für einen klugen Kopf und ward durch
dieses alles ein unangenehmer Gesellschafter und zu Hause vielleicht
ein kleiner Tyrann, aus dem einfachen Grund, weil er klug war und
immer recht hatte.
"Ob er wohl sein Sprichwort noch an sich hat," fragte sich Fröben
lächelnd, "das unabwendbare: ,Das habe ich ja gleich gesagt!' Wie oft,
wenn er am wenigsten daran dachte, daß etwas gerade so geschehen
werde, wie oft faßte er mich da bei der Hand und schrie: .Freund
Froben, sag an, hab' ich es nicht schon vor vier Wochen gesagt, daß
es so kommen würde? Warum habt Ihr mir nicht gefolgt?' Und
wenn ich ihm sonnenklar bewies, daß er zufällig gerade das Gegenteil
behauptet habe, so ließ er sich unter keiner Bedingung davon abbringen
und grollte drei, vier Tage lang."
Fröben hoffte, Erfahrung und die schöne Natur um ihn her
werden seinen Freund weiser gemacht haben. An einer der reizendsten
Stellen des Rheintals, in der Nähe von Caub, lag sein Gut, und
je näher der Reisende herabkam, desto freudiger schlug sein Herz über
alle diese Herrlichkeit der Berge und des majestätischen Flusses, uni
so öfter sagte er zu sich: "Nein, er muß sich geändert haben; in diesen
Umgebungen kann man nur hingebend, nur freundlich und teilnehmend
sein, und im Genuß dieser Aussicht muß man vergessen,
wenn man auch wirklich recht hat, was bei ihm leider der seltene
Fall ist."
10.
Gegen Abend langte er auf dem Gute an; er gab sein Pferd vor
dem Hause einem Diener, fragte nach seinem Herrn und wurde in
den Garten gewiesen. Dort erkannte er schon von weitem Gestalt
und Stimme seines Freundes. Erschien in diesem Augenblick mit
einem alten Mann, der an einem Baum mit Graben beschäftigt war,
heftig zu streiten. "Und wenn Ihr es auch hundert Jahre nach dem
alten Schlendrian gemacht habt statt fünfzig, so muß der Baum doch
so herausgenommen werden, wie ich sagte. Nur frisch daran, Alter!
Es kömmt bei allem nur darauf an, daß man klug darüber nachdenkt."
Der Arbeiter setzte seufzend die Mütze auf, betrachtete noch einmal
mit wehmütigem Blick den schönen Apfelbaum und stieß dann schnell,
wie es schien, unmutig, den Spaten in die Erde, um zu graben. Der
Baron aber pfiff ein Liedchen, wandte sich um, und vor ihm stand
ein Mensch, der ihn freundlich anlächelte und ihm die Hand entgegenstreckte.
Er sah ihn verwundert an. "Was steht zu Dienst?" fragte
er kurz und schnell.
"Kennst du mich nicht mehr, Faldner?" erwiderte der Fremde.
"Solltest du bei deiner Baumschule London und Paris so ganz vergessen
haben?"
"Ist's möglich, mein Fröben!" rief jener und eilte, den Freund
zu umarmen. "Aber, mein Gott, wie hast du dich verändert! Du bist
so bleich und mager; das kömmt von dem vielen Sitzen und Arbeiten;
daß du auch gar keinen Rat befolgst! Ich habe dir ja immer gesagt,
es tauge nicht für dich."
"Freund," entgegnete gröben, den dieser Empfang unwillkürlich
an seine Gedanken unterwegs erinnerte, "Freund, denke doch ein
wenig nach! Hast du mir nicht immer gesagt, ich tauge nicht zum
Landwirt, nicht zum Forstmann und dergleichen, und ich müßte eine
juridische oder diplomatische Laufbahn einschlagen?"
"Ach, du guter Fröben!" sagte jener, zweideutig lächelnd, "so
laborierst du noch immer an einem kurzen Gedächtniss Sagte ich
nicht schon damals —"
"Bitte, du hast recht, streiten wir nicht!" unterbrach ihn sein
Gast, "laß uns lieber Vernünftigeres reden, wie es dir erging, seit
Wir uns nicht sahen, wie du lebst!"
Der Baron ließ Wein in eine Laube setzen und erzählte von
seinem Leben und Treiben. Seine Erzählung bestand beinahe in
nichts als in Klagen über schlechte Zeit und die Torheit der Menschen.
Er gab nicht undeutlich zu verstehen, daß er es in den wenigen Jahren
mit seinem hellen Kopf und den Kenntnissen, die er auf Reisen gesammelt
, in der Landwirtschaft weit gebracht habe. Aber bald
hatten ihm seine Nachbarn unberufen dies oder jenes abgeraten,
bald hatte er unbegreifliche Widerspenstigkeit unter seinen Arbeitern
selbst gefunden, die alles besser wissen wollten als er und in ihrer Verblendung
sich auf lange Erfahrung stützten. Kurz, er lebte, wie er
gestand, ein Leben voll ewiger Sorgen und Mühen, voll Hader und
Zorn, und einige Prozesse wegen Grenzstreitigkeiten verbitterten
ihm noch die wenigen frohen Stunden, die ihm die Besorgung seines
Gutes übrigließ. "Armer Freund"' dachte Fröben unter dieser Erzählung;
"so reitest du noch dasselbe Steckenpferd, und es geht wie
der wildeste Renner mit dir durch, ohne daß du es zügeln kannst."
Doch die Reihe zu erzählen kam auch an den Gast, und er konnte
seinem Freund in wenigen Worten sagen, daß er an einigen Höfen
bei Gesandtschaften eingeteilt gewesen sei, daß er sich überall schlecht
unterhalten, einen langen Urlaub genommen habe und jetzt wieder
ein wenig in der Welt umherziehe.
"Du Glücklicher! rief Faldner. "Wie beneide ich dir deine Verhältnisse;
heute hier, morgen dort, kennst keine Fesseln und kannst
reisen, wohin und wie lange du willst. Es ist etwas Schönes um das
Reisen! Ich wollte, ich könnte auch noch einmal so frei hinaus in die
Welt!"
"Nun, was hindert dich denn?" rief Froben lachend; "deine
große Wirtschaft doch nicht? Die kannst du alle Tage einem Pächter
geben, läßt dein Pferd satteln und ziehest mit mir!"
"Ach, das verstehst du nicht, Bester!" erwiderte der Baron verlegen
lächelnd. "Einmal, was die Wirtschaft betrifft, da kann ich
keinen Tag abwesend sein, ohne daß alles quer geht; denn ich bin doch
die Seele des Ganzen. Und dann —ich habe einen dummen Streich
gemacht —doch laß das gut sein! Es geht einmal nicht mehr mit dem
Reisen."
In diesem Augenblicke kam ein Bedienter in die Laube, berichtete,
daß die gnädige Frau zurückgekommen sei und anfragen lasse,
wo man den Tee servieren solle.
"Ich denke, oben im Zimmer," sagte er leicht errötend, und der
Diener entfernte sich.
"Wie, du bist verheiratet?" fragte Fröben erstaunt. "Und das
erfahre ich jetzt erst! Nun, ich wünsche Glück; aber sage mir doch —
ich hätte mir ja eher des Himmels Einfall träumen lassen als diese
Neuigkeit; und seit wann?"
"Seit sechs Monaten," erwiderte der Baron kleinlaut und ohne
seinen Gast anzusehen; "doch wie kann dich dies so in Erstaunen
setzen; du kannst dir denken, bei meiner großen Wirtschaft, da ich
alles selbst besorge, so —"
"Je nun, ich finde es ganz natürlich und angemessen; aber wenn
ich zurückdenke, wie du dich früher über das Heiraten äußertest, da
dachte ich nie daran, daß dir je ein Mädchen recht sein würde."
"Nein, verzeihe!" sagte Faldner, "ich sagte ja immer und schon
damals —"
"Nun ja, du sagtest ja immer und schon damals," rief der junge
Mann lächelnd, "und schon damals und immer sagte ich, daß du nach
deinen Prätensionen keine finden würdest; denn diese gingen auf
ein Ideal, das ich nicht haben möchte und wohl auch nicht zu finden
war. Doch noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch! Da aber
eine Dame im Hause ist, die uns zum Tee ladet, so kann ich doch wahrlich
nicht so in Reisekleidern erscheinen; gedulde dich nur ein wenig,
ich werde bald wieder bei dir sein. Auf Wiedersehen!"
Er verließ die Laube, und der Baron sah ihm mit trüben Blicken
nach. "Er hat nicht unrecht," flüsterte er.
Doch in demselben Augenblick trat eine hohe weibliche Gestalt in
die Laube. "Wer ging soeben von dir?" fragte sie schnell und hastig.
"Wer sprach dies auf Wiedersehen?"
Der Baron stand auf und sah seine Frau verwundert an; er bemerkte,
wie die sonst so zarte Farbe ihrer Wangen in ein glühendes
Rot übergegangen war. "Nein, das ist nicht auszuhalten!" rief er
heftig. "Josephe, wie oft muß ich dir sagen, daß Hufeland Leuten
von deiner Konstitution jede allzurasche Bewegung streng untersagt;
wie du jetzt glühst! Du bist gewiß wieder eine Strecke zu Fuß gegangen
und hast dich erhitzt und gehst jetzt gegen alle Vernunft noch
in den Garten hinab, wo es schon kühl ist. Immer und ewig muß ich
dir alles wiederholen wie einem Kind; schäme dich!"
"Ach, ich habe dich ja nur abholen wollen," sagte Josephe mit
zitternder Stimme; "werde nur nicht gleich so böse! Ich bin gewiß
den ganzen Weg gefahren und bin auch gar nicht erhitzt. Sei doch
gut!"
"Deine Wangen widersprechen," fuhr er mürrisch fort. "Muß
ich denn auch dir immer predigen? Und den Schal hast du auch nicht
umgelegt, wie ich dir sagte, wenn du abends noch herab in den Garten
gehst; wozu werfe ich denn das Geld zum Fenster hinaus für dergleichen
Dinge, wenn man sie nicht einmal brauchen mag? O Gott!
ich möchte oft rasend werden. Auch nicht das Geringste tust du mir zu
Gefallen; dein ewiger Eigensinn bringt mich noch um. O, ich möchte
er
"Bitte, verzeihe mir, Franz!" bat sie wehmütig, indem sie große
Tränen im Auge zerdrückte; "ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen
und wollte dich hier überraschen; ach, ich dachte ja nicht mehr an
das Tuch und an den Abend. Vergib mir! Willst du deinem Weib
vergeben?"
"Ist ja schon gut, laß mich doch in Ruhe, du weißt, ich liebe solche
Szenen nicht; und gar vollends Tränen! Gewöhne dir doch um
Gottes willen die fatale Weichlichkeit ab, über jeden Bettel zu weinen!
— haben einen Gast, Froben, von dem ich dir schon erzählte, er
reiste mit mir. Führe dich vernünftig auf, Josephe, hörst du? Laß
es an nichts fehlen, daß ich nicht auch noch die Sorgen der Haushaltung
auf mir haben muß! Im Salon wird der Tee getrunken."
Er ging schweigend ihr voran die Allee entlang nach dem Schlosse.
Trübe folgte ihm Josephe; eine Frage schwebte auf ihren Lippen;
aber so gern sie gesprochen hätte, sie verschloß diese Frage wieder tief
in ihre Brust.
11.
Als der Baron spät in der Nacht seinen Gast auf sein Zimmer
begleitete, konnte sich dieser nicht enthalten, ihm zu seiner Wahl Glück
zu wünschen. "Wahrhaftig, Franz," sagte er, indem er ihm feurig
die Hand drückte, " ein solches Weib hat dir gefehlt. Du warst ein
Glückskind von jeher; aber das hätte ich mir nicht träumen lassen,
daß du bei deinen sonderbaren Maximen und Forderungen ein solch
liebenswürdiges, herrliches Kind heimführen werdest."
"Ja, ja, ich bin mit ihr zufrieden," erwiderte der Baron trocken,
indem er seine Kerze heller aufstörte; " man kann ja nicht alles haben!
An diesen Gedanken muß man sich freilich gewöhnen auf dieser unvollkommenen
Welt."
"Mensch! Ich will nicht hoffen, daß du undankbar gegen so vieles
Schöne bist. Ich habe viele Frauen gesehen, aber weiß Gott, keine
von solch untadelhafter Schönheit wie dein Weib. Diese Augen!
Welch rührender Ausdruck! Glaubt man nicht liebliche Träume auf
ihrer schönen Stirne zu lesen? Und diese zarte, schlanke Gestalt! Und
ich weiß nicht, ob ich ihren feinen Takt, ihr richtiges Urteil, ihren gebildeten
Geist nicht noch mehr bewundern soll."
"Du bist ja ganz bezaubert," lächelte Faldner; "doch von jeher
hast du zuviel gelesen und weniger aufs Praktische gesehen; ich sagte
es ja immer — mit den Weibern ist es ein eigenes Ding," fuhr er
seufzend fort, "glaube mir, in der Wirtschaft ist oft eine, die es versteht
und die Sache flink umtreibt, besser als ein sogenannter gebildeter
Geist. Gute Nacht! Sei froh, daß du noch frei bist und —
wähle nicht zu rasch!"
Unmutig sah ihm ,gröben nach, als er das Zimmer verlassen
hatte. "Ich glaube, der Unmensch ist auch jetzt nicht mit seinem Lose
zufrieden; hat einen Engel gewählt und schafft sich durch seine lächerlichen
Prätensionen eine Hölle im Hause. Das arme Weib."
Es war ihm nicht entgangen, wie ängstlich sie bei allem, was sie
tat und sagte, an seinen Blicken hing, wie er ihr oft ein grimmiges
Auge zeigte, wenn sie nach seinen Begriffen einen Fehler begangen,
wie er ihr oft mit der Hand winkte, die Lippen zusammenbiß und
stöhnte, wenn er glaubte, von dem Gast nicht gesehen zu werden.
Und mit welcher Engelsgeduld trug sie dies alles! Sie hatte tiefen,
wunderbaren Eindruck auf ihn gemacht. Das reiche blonde Haar, das
um eine freie Stirne fiel, ließ blaue Augen, rote Wangen, vielleicht
auch ein Näschen erwarten, das durch seine zierliche Keckheit Blondinen
mehr als Brünetten ziert. Aber von diesem allem nichts. Unter
den blonden Wimpern ruhte, wie das Mondlicht hinter dünnen
Wolken, ein braunes Auge, das nicht durch Glut oder große Lebendigkeit
, sondern durch ein gewisses Etwas von sinnender Schwermut
überraschte, das Froben bei schönen Frauen, so selten er es fand, so
unendlich liebte. Ihre Nase näherte sich dem griechischen Stamm,
die Wangen waren gewöhnlich bleich, nur von einem leisen Schatten
von Rot unterlaufen, und das einzige, was in ihrem Gesichte blühte,
waren statt der Rosen der Wangen die Lippen, bei deren Anblick man
sich des Gedankens an zarte, rote Kirschen nicht erwehren konnte.
"Und diese herrliche Gestalt," fuhr Fröben in seinen Gedanken
weiter fort, "so zart, so hoch und, wenn sie über das Zimmer geht,
beinahe schwebend! Schwebend? Als ob ich nicht gesehen hätte,
daß sie recht schwer zu tragen hat, daß die Lippen so manches Wort
des Grams verschließen, daß die Augen nur auf die Einsamkeit warten,
um über den rohen Gatten zu weinen! Nein, es ist unmöglich," fuhr
er nach einigem Sinnen fort, "sie kann ihn nicht aus Liebe geheiratet
haben. Die Welt, die hinter diesem Auge liegt, ist zu groß für Faldners
Verstand, das Herz seines Weibes zu zart für den rohen Druck ihres
Haustyrannen. Ich bedaure sie!"
Er war während dieser Worte an einen Schrank getreten, worin
die Diener sein Reisegeräte niedergelegt hatten. Erschloß ihn auf;
sein erster Blick fiel auf die wohlbekannte Rolle, und er errötete. "Bin
ich dir nicht ungetreu gewesen diesen Abend?" fragte er. "Hat nicht
ein anderes Bild sich in mein Herz geschlichen? Ja, und ertappe ich
mich nicht auf Reflexionen über das Weib meines Freundes, die mir
nicht ziemen, die ihr auf jeden Fall nichts nützen können?" Er entrollte
das Bild der Geliebten und blieb betroffen stehen. Wie ein Gedanke
, der bisher in ihm schlummerte und verworren träumte, erwachte
es jetzt mit einem Male in ihm, daß die Frau von Faldner
wunderbare Ähnlichkeit mit diesem Bilde habe. Zwar waren ihre
Haare, ihre Augen, ihre Stirne gänzlich verschieden von denen des
Bildes; aber überraschende Ähnlichkeit glaubte er in Nase, Mund und
Kinn, ja sogar in der Haltung des zierlichen Halses zu finden. "Und
diese Stimme!" rief er. "Klang mir diese Stimme nicht gleich anfangs
so bekannt? Wie ist mir denn? Wäre es möglich, daß die Gattin
meines Freundes jenes Mädchen wäre, die ich nur einmal, nur halb
gesehen und ewig liebe und von jenem Augenblicke an vergebens
suche? Diese Gestalt —ja, auch sie war groß, und als ich den Mantel
umschlang, als sie an meinem Herzen ruhte, fühlte ich eine feine,
schlanke Taille. Und begegnete ich nicht heute abend so oft ihrem
Auge, das prüfend auf mir ruhte? Sollte auch sie mich wiedererkennen?
Doch —ich Tor! Wie könnte Faldner bei seinem Mißtrauen,
bei seinen strengen Grundsätzen über Adel und unbescholtenen
Ruf eine — unbekannte Bettlerin geheiratet haben?"
Er sah wieder prüfend auf das Bild herab; er glaubte in diesem
Augenblick Gewißheit zu haben, im nächsten zweifelte er wieder. Er
klagte sein treuloses Gedächtnis an. Hatte nicht dieses Gemälde sich
so ganz mit seinen früheren Erinnerungen vermischt, daß er die Unbekannte
sich nicht mehr anders dachte als wie dieses Bild? Und nun,
da er auf eine neue, auffallende Ähnlichkeit gestoßen, stand er nicht
vor einem Labyrinth von Zweifeln? Er warf das Gemälde auf die
Seite und verbarg seine heiße Stirn in die Kissen seines Bettes. Er
wünschte sich tiefen Schlaf herbei, damit er diesen Zweifeln entgehe,
daß ihm das wahre Bild mit siegender Kraft in seinen Träumen
aufgehe.
12.
Als Fröben am anderen Morgen in den Salon trat, wo er frühstücken
sollte, war sein rastloser Freund schon ausgeritten, um eine
Dammarbeit an der Grenze seines Gutes zu besichtigen. Der Diener,
der ihm diese Nachricht gab, setzte mit wichtiger Miene hinzu, daß sein
Herr wohl kaum vor Mittag zurückkommen dürfte, weil er noch seine
neue Dampfmühle, einige Schläge im Wald, eine neue Gartenanlage
nebst vielem anderen besichtigen müsse. "Und die gnädige
Frau?" fragte der Gast.
"War schon vor einer Stunde im Garten, um Bohnen abzubrechen,
und wird jetzt bald zum Frühstück hier sein."
Froben ging im Saal umher und musterte in Gedanken den vergangenen
Abend. Wie anders erscheinen alle Bilder in der Morgenbeleuchtung
, als sie uns im Duft des Abends erschienen! Auch mit
den verworrenen Gedanken, die gestern in ihm auf und abschwebten,
ging es ihm so; er lächelte über sich selbst, über die Zweifel, die ihm
seine rege Phantasie aufgeweckt hatte. "Der Baron," sprach er zu
sich, "ist am Ende doch ein guter Mensch; freilich viele Eigenheiten,
einige Rohheit, die aber mehr im Äußern liegt; aber wer länger mit
ihm umgeht, gewöhnt sich daran, weiß sich darein zu finden. Und
Josephe, —wie vorschnell man oft urteilt! Wie oft glaubte ich rührenden
Kummer, tiefe Seelenleiden, Resignation in den Augen, in den
Mienen einer Frau zu lesen, ließ mich vom Teufel blenden, sie recht
zart trösten und aufrichten zu wollen, und am Ende lag der ganze Zauber
in meiner Einbildung; es war dann, näher betrachtet, eine ganz gewöhnliche
Frau, die mit den sinnenden Augen, worin ich Wehmut
sah, ängstlich die Augen an ihrem Strickstrumpf zählte oder hinter der
von Gram umwölkten Stirne bedachte, was sie auf den Abend kochen
lassen wollte." Er verfolgte diese Gedanken, um sich selbst mit Ironie
zu strafen, um die zartere Empfindung, jene Nachklänge von gestern,
zu verdrängen, die ihm heute töricht, überspannt erschienen. In diese
Gedanken versunken, war er an den Spiegel getreten und hatte die
Besuchkarten überlesen, die dort angesteckt waren. Da fiel ihm eine
in die Hand, welche Faldners eigene Verlobung ankündigte. Er las
die zierlich gestochenen Worte. "Freiherr F. von Faldner mit seiner
Braut Josephe von Tannensee."
"Von Tannensee?" Wie ein Blitz erleuchtete ihm dieser Name
jene dunkle Ähnlichkeit, die er zwischen der Gattin seines Freundes
und seinem lieben Bilde gefunden. Wie? Wäre sie vielleicht die
Tochter jener Laura, die einst mein guter Don Pedro geliebt? Welche
Freude für ihn, wenn es so wäre, wenn ich ihm von der Verlorenen
Nachricht geben könnte! Fand er nicht in jenem wunderbaren Bilde
die täuschendste Ähnlichkeit mit seiner Cousine? Kann nicht die Tochter
der Mutter gleichen?
Er verbarg die Karte schnell, als er die Türe gehen hörte; er sah
sich um, und —Josephe schwebte herein. War es das zierliche Morgenkleid,
das ihre zarte Gestalt umschloß — war ihr die Beleuchtung des
Tages günstiger als das Kerzenlicht? Sie kam ihm in diesem Augenblick
noch unendlich reizender vor als gestern. Ihre Locken flatterten
noch kunstlos um die Stirne, der frische Morgen hatte ein feines Rot
auf ihre Wangen gehaucht, sie lächelte zu ihrem Morgengruß so freundlich
, und doch mußte er sich schon in diesem Augenblick einen Toren
schelten; denn ihre Augen erschienen ihm trübe und verweint.
13.
Sie lud ihn ein, sich zu ihr zum Frühstück zu setzen. Sie erzählte
ihm, daß Faldner schon mit Tagesanbruch weggeritten sei und ihr
seine Enschuldigung aufgetragen habe; sie beschrieb die mancherlei
Geschäfte, die er heute vornehme und die ihn bis zu Mittag
zurückhalten werden. "Er hat ein Leben voll Sorgen und Mühen,"
sagte sie; "aber ich glaube, daß diese Geschäftigkeit ihm zum Bedürfnis
geworden ist."
"Und ist dies nur in diesen Tagen so?" fragte Froben; "ist jetzt
gerade besonders viel zu tun auf den Gütern?"
"Das nicht," erwiderte sie, "es geht alles seinen gewöhnlichen
Gang; er ist so, seit ich ihn kenne. Er ist rastlos in seinen Arbeiten.
Diesen Frühling und Sommer verging kein Tag, an welchem er nicht
auf dem Gute beschäftigt gewesen wäre."
"Da werden Sie sich doch oft recht einsam fühlen," sagte der
junge Mann, "so ganz allein auf dem Lande, und Faldner den ganzen
Tag entfernt."
"Einsam " erwiderte sie mit zitterndem Ton und beugte sich nach
einem Tischchen an der Seite; und Fröben sah im Spiegel, wie ihre
Lippen schmerzlich zuckten. "Einsam? Nein! Besucht ja doch die Erinnerung
die Einsamen und, —" setzte sie hinzu, indem sie zu lächeln
suchte —
"glauben sie denn, die Hausfrau habe in einer so großen
Wirtschaft nicht auch recht viel zu tun und zu sorgen? Da ist man nicht
einsam, oder — man darf es nicht sein."
Man darf es nicht sein? Du Arme! dachte Froben, verbietet
dir dein Herz die Träume der Erinnerung, die dich in der Einsamkeit
besuchen, oder verbietet dir der harte Freund, einsam zu sein? Es
lag etwas im Ton, womit sie jene Worte sagte, das ihrem Lächeln
zu widersprechen schien.
"Und doch," fuhr er fort, um seinen Empfindungen und ihren
Worten eine andere Richtung zu geben, "und doch scheinen gerade
die Frauen von der Natur ausdrücklich zur Stille und Einsamkeit bestimmt
zu sein; wenigstens war bei jenen Völkern, die im allgemeinen
die herrlichsten Männer aufzuweisen hatten, die Frau am meisten
auf ihr Frauengemach beschränkt, so bei Römern und Griechen, so
selbst in unserem Mittelalter."
"Daß Sie diese Beispiele anführen könnten, hätte ich nicht gedacht,"
entgegnete Josephe, indem ihr Auge wie prüfend auf seinen
Zügen verweilte. "Glauben Sie mir, Froben, jede Frau, auch die
geringste, merkt dem Mann, ehe sie noch über seine Verhältnisse unterrichtet
ist, recht bald an, ob er viel im Kreise der Frauen lebte oder nicht.
Und unbestreitbar liegt in solchen Kreisen etwas, das jenen feinen Takt,
jenes zarte Gefühl verleiht, immer im Gespräch auszuwählen, was
gerade für Frauen taugt, was uns am meisten anspricht, ein Grad
der Bildung, der eigentlich keinem Mann fehlen sollte. Sie werden
mir dies um so weniger bestreiten," setzte sie hinzu, "als Sie offenbar
einen Teil Ihrer Bildung meinem Geschlechte verdanken."
"Es liegt etwas Wahres darin," bemerkte der junge Mann, "und
namentlich das letztere will ich zugeben, daß Frauen weniger auf
meine Denkungsart als auf die Art, das Gedachte auszudrücken, Einfluß
hatten. Meine Verhältnisse nötigten mich in der letzten Zeit, viel
in der großen Welt, namentlich in Damenzirkeln, zu leben. Aber eben
in diesen Zirkeln wird mir erst recht klar, wie wenig eigentlich die
Frauen, oder um mich anders auszudrücken, wie wenige Frauen in
dieses großartige Leben und Treiben passen."
"Und warum?"
"Ich will es sagen, auch auf die Gefahr hin, daß Sie mir böse
werden. Es ist ein schöner Zug der neueren Zeit, daß man in den
größeren Zirkeln eingesehen hat, daß das Spiel eigentlich nur eine
Schulkrankheit oder ein modischer Deckmantel für Geistesarmut sei.
Man hat daher Whist, Boston, Fara und dergleichen den älteren
Herren und einigen Damen überlassen, die nun einmal die Konversation
nicht machen können. In Frankreich freilich spielen in Gesellschaft
Herren von zwanzig bis dreißig Jahren; es sind aber nur die
armseligen Wichte, die sich nach einem englischen Dandy gebildet
haben oder die selbst fühlen, daß ihnen der Witz abgeht, den sie im
Gespräch notwendig haben müßten. Seitdem man nun, seien die
Zirkel groß oder klein, die sogenannte Konversation macht, das heißt,
sich um das Kamin oder in Deutschland um den Sofa pflanzt, Tee
dazu trinit und ungemein geistreiche Gespräche führt, sind die Frauen
offenbar aus ihrem rechten Geleise gekommen."
"Bitte, Sie sind doch gar zu strenge! Wie sollten denn —"
"Lassen Sie mich ausreden!" fuhr Fröben eifrig fort, indem er,
ohne es zu wissen, die Hand der schönen Frau in seine Hände nahm.
"Eine Dame der sogenannten guten Gesellschaft empfängt jede Woche
Abendbesuche bei sich; sechsmal in der Woche gibt sie solche heim.
In solchen Gesellschaften tanzt höchstens das junge Volk einigemal,
außer es wäre auf großen Bällen, die schon seltener vorkommen. Der
übrige Kreis, Herren und Damen, unterhält sich. Es gibt nun ungemein
gebildete, wirklich geistreiche Männer, die im Männerkreise
stumm und langweilig, vor Damen ungemein witzig und sprachselig
sind und einen Reichtum sozialer Bildung, allgemeiner Kenntnisse
entfalten, die jeden staunen machen. Es ist nicht Eitelkeit, was diese
Männer glänzend oder beredt macht, es ist das Gefühl, daß das Interessantere
ihres Wissens sich mehr für Frauen als für Männer eignet,
die mehr systematisch sind, die ihre Forderungen höher spannen."
"Gut, ich kann mir solche Männer denken; aber weiter!"
"Durch solche Männer bekommt das Gespräch Gestaltung, Hintergrund
, Leben; Frauen, besonders geistreiche Frauen, werden sich
unter sich bei weitem nicht so lebendig unterhalten, als dies geschieht,
wenn auch nur ein Mann gleichsam als Zeuge oder Schiedsrichter
dabeisitzt. Indem nun durch solche Männer allerlei Witziges, Interessantes
auf die Bahn gebracht wird, werden die Frauen unnatürlich
gesteigert. Um doch ein Wort mitzusprechen, um als geistreich,
gebildet zu erscheinen, müssen sie alles aufbieten, gleichsam alle
Hahnen ihres Geistes aufdrehen, um ihren reichlichen Anteil zu der
allgemeinen Gesprächflut zu geben, in welcher sich die Gesellschaft
badet. Doch, verzeihen Sie, dieser Fonds ist gewöhnlich bald erschöpft;
denken Sie sich, einen ganzen Winter jede Woche sieben Abende geistreich
sein zu müssen, welche Qual!"
"Aber nein, Sie machen es auch zu arg, Sie übertreiben —"
"Gewiß nicht; ich sage nur, was ich gesehen, selbst erlebt habe.
Seit in neuerer Zeit solche Konversation zur Mode geworden ist,
werden die Mädchen ganz anders erzogen als früher; die armen Geschöpfe
. was müssen sie jetzt nicht alles lernen vom zehnten bis ins
fünfzehnte Jahr! Geschichte, Geographie, Botanik, Physik, ja sogenannte
höhere Zeichenkunst und Malerei, Ästhetik, Literaturgeschichte
, von Gesang, Musik und Tanzen gar nichts zu erwähnen.
Diese Fächer lernt der Mann gewöhnlich erst nach seinem achtzehnten,
zwanzigsten Jahr recht verstehen; er lernt sie nach und nach, also
gründlicher; er lernt manches durch sich selbst, weiß es also auch besser
anzuwenden, und tritt er im dreiundzwanzigsten oder später noch in
diese Kreise. so trägt er, wenn er nur halbwegs einige Lebensklugheit
und Gewandtheit hat, eine große Sicherheit in sich selbst. Aber das
Mädchen? Ich bitte Sie! Wenn ein solches Unglückskind im fünfzehnten
Jahre, vollgepfropft mit den verschiedenartigsten Kenntnissen
und Kunststücken, in die große Welt tritt, wie wunderlich muß
ihm da alles zuerst erscheinen! Sie wird, obgleich ihr oft ihr einsames
Zimmer lieber wäre, ohne Gnade in alle Zirkel mitgeschleppt, muß
glänzen, muß plappern, muß die Kenntnisse auskramen, und — wie
bald wird sie damit zurande sein! Sie lächeln? Hören Sie weiter!
Sie hat jetzt keine Zeit mehr, ihre Schulkenntnisse zu erweitern; es
werden bald noch höhere Ansprüche an sie gemacht; sie muß so gut
wie die älteren über Kunstgegenstände, über Literatur mitsprechen
können. Sie sammelt also den Tag über alle möglichen Kunstausdrücke,
liest Journale, um ein Urteil über das neueste Buch zu bekommen,
und jeder Abend ist eigentlich ein Examen, eine Schulprüfung
für sie, wo sie das auf geschickte Art anbringen muß, was
sie gelernt hat. Daß einem Manne von wahrer Bildung, von
wahren Kenntnissen vor solchem Geplauder, vor solcher Halbbildung
graut, können Sie sich denken; er wird diese Unsitte zuerst lächerlich,
nachher gefährlich finden; er wird diese Überbildung verfluchen,
welche die Frauen aus ihrem stillen Kreise herausreißt und sie zu
Halbmännern macht, während die Männer Halbweiber werden,
indem sie sich gewöhnen, alles nach Frauenart zu besprechen und zu
beklatschen; er wird für edlere Frauen jene häusliche Stille zurückwünschen,
jene Einsamkeit, wo sie zu Hause sind und auf jeden Fall
herrlicher brillieren als in einem jener geistreichen Zirkel!"
"Es liegt etwas Wahres in dem, was Sie hier sagten," erwiderte
Frau von Faldner; "ganz kann ich nicht darüber urteilen, weil ich nie
das Glück oder das Unglück hatte, in jenen Zirkeln zu leben. Aber
mir scheint auch dort, wie überall, das minder Gute nur aus der übertreibung
hervorzugehen. Es ist wahr, was Sie sagen, daß uns Frauen
ein engerer Kreis angewiesen ist, jene Häuslichkeit, die einmal unser
Beruf ist. Wir werden ohne wahren Halt sein, wir werden uns in ein
unsicheres Feld begeben, wenn wir diesen Kreis gänzlich verlassen.
Aber wollen Sie uns die Freude einer geistreichen Unterhaltung mit
Männern gänzlich rauben? Es ist wahr, solche sieben Abende in der
Woche müssen zum Unnatürlichen, zu Überbildung oder zur Erschöpfung
führen; aber ließe sich denn hier nicht ein Mittelweg denken?
"Ich habe mich vielleicht zu stark ausgedrückt, ich wollte —"
"Lassen Sie auch mich ausreden," sagte sie, ihn sanft zurückdrängend
. "Sie sagten selbst, daß Frauen unter sich seltener ein
sogenanntes geistreiches Gespräch lange fortführen. Ich weiß nur
allzuwohl, wie peinlich in einer Frauengesellschaft eine sogenannte
geistreiche Dame ist, welcher alles frivol erscheint, was nicht allgemein,
nicht interessant ist. Wir fühlen uns beengt, ängstlich und wollen am
Ende mit unserem bißchen Wissen lieber vor einem Mann erröten als
vor einer Frau. Gewöhnlich wird, wenn nur Frauen zusammen sind
oder Mädchen, die Wirtschaft, das Hauswesen, die Nachbarschaft,
vielleicht auch Neuigkeiten oder gar Moden abgehandelt; aber sollen
wir denn ganz auf diesen Kreis beschränkt sein? Soll denn, was allgemein
interessant und bildend ist, uns ganz fremd bleiben?"
"Gott! Sie verkennen mich; wollte ich denn dies sagen?"
"Es ist wahr," fuhr sie eifriger fort, "es ist wahr, die Männer besitzen
jene tiefe, geregeltere Bildung, jene geordnete Klarheit, die
jede Halbbildung oder gar den Schein von Wissen ausschließt oder
gering achtet. Aber wie gerne lauschen wir Frauen auf ein Gespräch
der Männer, das an Gegenstände grenzt, die uns nicht so ganz ferne
liegen, zum Beispiel über ein interessantes Buch, das wir gelesen,
über Bilder, die wir gesehen; wir lernen gewiß recht viel, wenn wir
dabei zuhören oder gar mitsprechen dürfen; unser Urteil, das wir im
stillen machten, bildet sich aus und wird richtiger, und jeder gebildeten
Frau muß eine solche Unterhaltung angenehm sein. Auch glaube
ich kaum, daß die Männer uns dies verargen werden, wenn wir nur,"
setzte sie lächelnd hinzu, "nicht selbst glänzen, den bescheidenen Kreis
nicht verlassen wollen, der uns einmal angewiesen ist."
14.
Wie schön war sie in diesem Augenblick! Das Gespräch hatte ihre
Wangen mit höherem Rot übergossen, ihre Augen leuchteten, und
das Lächeln, womit sie schloß, hatte etwas so Zauberisches, Gewinnendes
an sich, daß Fröben nicht wußte, ob er mehr die Schönheit
dieser Frau oder ihren Geist und die einfache schöne Weise, sich auszudrücken
, bewundern sollte.
"Gewiß,"sagte er, in ihren Anblick verloren, "gewiß, wir müßten
sehr ungerecht sein, wenn wir solche zarte und gerechte Ansprüche nicht
achten wollten; denn die Frau müsste ich für recht unglücklich halten,
die bei einem gebildeten Geist, bei einer Freude an Lektüre und gebildeter
Unterhaltung keine solchen Anklänge in ihrer Umgebung
fände; wahrlich, so ganz auf sich beschränkt, müßte sie sich für sehr
unglücklich halten."
Josephe errötete, und eine düstere Wolke zog über ihre schöne
Stirne; sie seufzte unwillkürlich, und mit Schrecken nahm Fröben
wahr, daß ja eine solche Frau, wie er sie eben beschrieben, an seiner
Seite sitze. Ja, ohne es zu wollen, hatte er ihren eigenen Gram verraten
. Denn konnte ihr roher Gatte jenen zarten Forderungen entsprechen?
Er, der in seiner Frau nur seine erste Schaffnerin sah, der
jedes Geistige, was dem Menschen interessant oder wünschenswert
dünkt, als unpraktisch geringschätzte, konnte er diese Ansprüche auf den
Genuß einer gebildeten Unterhaltung befriedigen? War nicht zu
befürchten, daß er ihr solche sogar geflissentlich entzog?
Noch ehe Fröben so viel Fassung gewonnen hatte, seinem Satz
eine allgemeine Wendung zu geben und das ganze Gespräch von
diesem Gegenstand abzuwenden, sagte Josephe, ohne ihn seinen Verstoß
fühlen zu lassen: "Wir Frauen auf dem Lande genießen diese
Freude freilich seltener; übrigens sind wir dennoch nicht so allein,
als es dem Fremden vielleicht scheinen möchte; man besucht einander
um so öfter; sehen Sie nur, welche Masse von Besuchen dort am
Spiegel hängt!"
Fröben sah hin, und jene Karte fiel ihm bei. "Ach ja,"sagte er,
indem er sie hervorzog, "da habe ich vorhin einen kleinen Diebstahl
begangen;" er zog sie hervor und zeigte sie. "Können Sie glauben,
daß ich bis gestern nicht einmal wußte, daß mein Freund verheiratet
sei? Und Ihren Namen erfuhr ich erst vorhin durch diese Karte. Sie
heißen Tannensee?"
"Ja " antwortete sie lächelnd, "und diesen unberühmten Namen
tauschte ich gegen den schönen von Faldner um."
"Unberühmt? Wenn Ihr Vater der Obrist von Tannensee war,
so war Ihr Name wohl nicht unberühmt."
Sie errötete. "Ach, mein guter Vater!" rief sie. "Ja, man erzählte
mir wohl von ihm, daß er für einen braven Offizier des
Kaisers gegolten habe, und —sie haben ihn als General begraben.
Ich habe ihn nicht gekannt; nur einmal, als er aus dem Feldzug zurückkam,
sah ich ihn und nachher nicht wieder; es sind schon dreizehn Jahre,
seit er tot ist."
"Und war er nicht ein Schweizer?" fragte Froben weiter.
Sie sah ihn staunend an. "Wenn ich nicht irre, sagte mir meine
Mutter, daß Verwandte von ihm in der Schweiz leben."
"Und Ihre Mutter, heißt sie nicht Laura und stammt aus einem
spanischen Geschlecht:"
Sie erbleichte, sie zitterte bei diesen Worten. "Ja, sie hieß Laura,"
antwortete sie —
"aber mein Gott, was wissen Sie denn von uns,
woher? —Aus einem spanischen Geschlechte?" fuhr sie gefaßter fort.
"Nein, da irren Sie, meine Mutter sprach deutsch und war eine
Deutsche."
"Wie? So ist Ihre Mutter tot?"
"Seit drei Jahren," erwiderte sie wehmütig.
"O, schelten Sie mich nicht, wenn ich weiter frage: Hatte sie nicht
schwarze Haare und, wie Sie, braune Augen? Hatte sie nicht viele
Ähnlichkeit mit Ihnen:
"Sie kannten meine Mutter?" rief sie ängstlich und zitterte
heftiger.
"Nein; aber hören Sie einen sonderbaren Zufall!" erwiderte
Fröben. "Es müßte mich alles täuschen, wenn ich nicht einen trefflichen
Verwandten Ihrer Mutter kennen gelernt hätte." Und nun
erzählte er ihr von Don Pedro. Er beschrieb ihr, wie sie sich vor dem
Bilde gefunden, er ließ die Kopie von seinem Zimmer bringen und
zeigte sie; er sagte ihr, wie sie genauer bekannt geworden und wie
ihm Don Pedro seine Geschichte erzählte. Aber die letztere wiederholte
er mit großer Schonung; er datierte sogar aus einem gewissen
Zartgefühl jene Vorfälle und Lamas Flucht um ein ganzes Jahr
zurück und schloß endlich damit, daß er, wenn Josephe ihre Mutter
nicht eine Deutsche nennen würde, bestimmt glaubte, Mutter Laura
und jene Donna Laura Tortosi des Spaniers, der Schweizerhauptmann
Tannensee und ihr Vater, der Obrist, seien dieselben Personen.
Josephe war nachdenklich geworden; sinnend legte sie die Stirne
in die Hand; sie schien ihm, als er geendet hatte, nicht sogleich antworten
zu können.
"O, zürnen Sie mir nicht," sagte gröben, " wenn ich mich hinreißen
ließ, dem wunderlichen Spiel des Zufalls diese Deutung zu
geben."
"O, wie könnte ich denn Ihnen zürnen?" sagte sie bewegt, und
Tränen drängten sich aus den schönen Augen. "Es ist ja nur mein
schweres Schicksal, das auch dieses Dunkel wieder herbeiführt. Wie
könnte ich auch wähnen, jemals ganz glücklich zu sein?"
"Mein Gott, was habe ich gemacht!" rief Froben, als er sah,
wie ihre Tränen heftiger strömten. "Es ist ja alles nur eine törichte
Vermutung von mir. Ihre Mutter war ja eine Deutsche, Ihre Verwandten
und Sie werden ja dies alles besser wissen —"
15.
"Meine Verwandten?" sagte sie unter Tränen. "Ach, das ist ja
gerade mein Unglück, daß ich keine habe. Wie glücklich sind die, welche
auf viele Geschlechter zurücksehen können, die mit den Banden der
Verwandtschaft an gute Menschen gebunden sind; wie angenehm
sind die Worte Onkel, Tante; sie sind gleichsam ein zweiter Vater,
eine zweite Mutter, und welcher Zauber liegt vollends in dem Namen
Bruder! Wahrlich, wenn ich fähig wäre, einen Menschen zu beneiden,
ich hätte oft dies oder jenes Mädchen beneidet, die einen Bruder hatte;
es war ihr inniger, natürlichster, aufrichtigster Freund und Beschützer."
Fröben rückte ängstlich hin und her; er hatte hier, ohne es zu
wollen, eine Saite in Josephens Brust getroffen, die schmerzlich
nachklang; es standen ihm Aufschlüsse bevor, vor welchen ihm unwillkürlich
bangte. Er schwieg, als sie ihre Tränen trocknete und
fortfuhr:
"Das Schicksal hat mich manchmal recht sonderbar geprüft. Ich
war das einzige Kind meiner Eltern, und so entbehrte ich schon jene
große Wohltat, Geschwister zu haben; wir wohnten unter fremden
Menschen, und so hatte ich auch keine Verwandte. Mein Vater schien
mit den Seinigen in der Schweiz nicht im besten Einverständnis zu
leben; denn meine Mutter erzählte mir oft, daß sie ihm grollen, weil
er sie geheiratet habe und nicht ein reiches Fräulein in der Schweiz,
das man ihm aufdringen wollte. Auch meinen Vater sah ich nur
wenig; er war bei der Armee, und Sie wissen, wie unruhig unter dem
Kaiser die Zeiten waren. So blieb mir nichts als meine gute Mutter.
und wahrlich, sie ersetzte mir alle Verwandte. Als sie starb, freilich,
da stand ich sehr verlassen in der großen Welt; denn da war unter
Millionen niemand, zu dem ich hätte gehen und sagen können: .Nun
sind sie tot, die mich ernährten und beschützten, seid Ihr jetzt meine
Eltern!"'
"Und Ihre Mutter hieß also nicht Tortosi?" sagte Fröben.
"Ich nannte sie nicht anders als Mutter, und nie hat sie über
ihre früheren Verhältnisse mit mir gesprochen; ach, als ich größer
wurde, war sie ja immer so krank! Mein Vater nannte sie nur Laura,
und in den wenigen Papieren, die man nach ihrem Tode fand und
mir übergab, wird sie Laura von Tortheim genannt."
"Ei nun!" nef Fröben heiter, "das ist ja so klar wie der Tag;
Laura hieß Ihre Mutter, Tortheim ist nichts anderes als Tortosi, das
die lieben Flüchtlinge veränderten, Tannensee hieß jener Kapitän in
Valencia, er ist Ihr Vater, der Obrist Tannensee; und noch mehr:
Sagen Sie nicht selbst, daß dieses Bild Ihrer Mutter Laura vollkommen
gleiche, und erkannte nicht mein werter Don Pedro in dem Urbild
seine Donna Laura? Jetzt sind Sie nicht mehr einsam, einen trefflichen
Vetter haben Sie wenigstens, Don Pedro di San Montanjo
Ligez! Ach, wie wird sich mein Freund über die berühmte Verwandtschaft
freuen!"
"O Gott, mein Mann!" rief sie schmerzlich und verhüllte das
Gesicht in ihr Tuch.
Unbegreiflich war es Froben, wie sie dies alles so ganz anders
ansehen könne als er; er sah ja in diesem allem nichts als die Freude
Don Pedros, eine Tochter seiner Laura zu finden. Er war reich, unverheiratet,
trug noch immer den alten Enthusiasmus für seine schöne
Cousine in sich, also auch eine schöne Erbschaft kombinierte Fröben aus
diesem wunderbaren Verhältnis. Er ergriff Josephens Hand, zog
sie herab von ihren Augen; sie weinte heftig.
"O, Sie kennen Faldner schlecht," sagte sie, " wenn Sie meinen,
daß ihn diese Vermutungen freudig überraschen werden! Sie kennen
sein Mißtrauen nicht. Alles soll ja nur seinen ganz gewöhnlichen
Gang gehen, alles recht schicklich und ordentlich sein, und alles Außergewöhnliche
haßt er aus tiefster Seele. Ich mußte es ja," fuhr sie nicht
ohne Bitterkeit fort, "ich mußte es ja als eine Gnade ansehen, daß
mich der reiche, angesehene Mann heiratete, daß er mit den wenigen
Dokumenten zufrieden war, die ich ihm über meine Familie geben
konnte. Muß ich es denn," rief sie heftiger weinend, "muß ich es denn
nicht noch alle Tage hören, daß er mit den angesehensten Familien
sich hätte verbinden, daß er dieses oder jenes reiche Fräulein hätte
heiraten können? Sagt er es mir nicht so oft, als er mir zürnt, daß
mein Adel neu sei, daß man von dem Geschlecht meiner Mutter gar
nichts wisse und daß sogar einige Tannensee in der Schweiz das von
abgelegt haben und Kaufleute geworden seien?"
Jetzt erst ging dem jungen Mann ein schreckliches Licht auf. "Also
in ein Haus des Unglücks, in eine unglückselige Ehe bin ich gekommen,"
sprach er zu sich. "Ach, nicht aus Liebe hat sie ihn geheiratet, sondern
aus Not, weil sie allein stand; und Faldner, so kenne ich ihn, hat sie
genommen, weil sie schön war, weil er mit ihr glänzen konnte. Das
unglückliche Weib! Und der Barbar macht ihr Vorwürfe über ihr
Unglück, läßt sie sogar fühlen, was sie ihm verdanken" Ein gemischtes
Gefühl von Unmut über seinen Freund, von Mitleid und Achtung
gegen die schöne, unglückliche Frau zog ihn zu ihr hin; er küßte ihre
Hand, er bemühte sich, ihr Mut und Vertrauen einzuflößen. "Sehen
Sie dies alles als nicht gesagt an!" flüsterte er; "ich sehe, es macht
Ihnen Kummer; was nützt es denn Faldner? Verschweigen wir ihm
die törichten Mutmaßungen, die ich hatte, die ja ohnedies zu nichts
führen können!" —
Josephe sah ihn bei diesen Worten groß an; ihre Tränen verlöschten
in den weitgeöffneten Augen, und Fröben glaubte eine Art
von Stolz in ihren Mienen zu lesen. "Mein Herr," sagte sie, und ihre
Gestalt schien sich höher aufzurichten, "ich kann unmöglich glauben,
daß, was Sie sagten, Ihr Ernst sein kann; auf jeden Fall werden Sie
wissen, daß die Gattin des Barons von Faldner kein Geheimnis mit
Ihnen teilt, das nicht ihr Gatte wissen dürfte."
Unter diesen Worten hatte sie das Teegeschirr unsanft von
sich gerückt, war aufgestanden, und —nach einer kurzen Verbeugung
verließ sie den erstaunten Gast. Froben wollte ihr nach, wollte abbitten
. was er getan, wollte alles auf einmal gut machen; aber sie war
schon in der Türe verschwunden, ehe er nur Fassung genug hatte, sich
vom Sofa aufzuraffen. Unmutig ging er hinab in den Garten; er
wußte nicht, sollte er sich selbst grollen oder der Empfindlichkeit der
Dame, die ihm in diesem Augenblick übergross erschien. Doch, wie es
in solchen Fällen zu geschehen pflegt, sein aufgeregtes Blut wallte
nach und nach ruhiger, und sein Geist gewann Raum, über sich selbst
nachzusinnen. Und hier fand er nun manches, was Josephen zur Entschuldigung
diente. "Sie liebt ihn nicht," sagte er zu sich, " er behandelt
sie vielleicht roh, zeigt sich mehr als Herr denn als Gatte. Sie wurde
weich, als ich mit ihr über höhere Genüsse des Lebens sprach; ich sah,
wie sie erschrak, als sie sich gegen mich verraten hatte, als sie aussprach,
welcher Mangel selbst mitten im äußeren Glück sie drücke. Und mußte
s:e sich nicht ängstlich berührt fühlen, daß sie diesen Mangel einem
Freund ihres Gatten vernet? Und weiter, als ich ihr alles, alles sagte,
als ich mit einer gewissen Bestimmtheit von ihrer Abstammung sprach,
als ich, vielleicht etwas unzart, Saiten berührte, die sonst niemand bei
ihr antastete, mußte sie nicht dadurch schon außer sich selbst geraten?
Und als sie vollends den Argwohn, die Zweifelsucht des Barons bedachte
, wurde sie nicht immer ängstlicher, immer verlegener? "Und
ich," fuhr er fort, indem er sich vor die Stirne schlug, "ich konnte ihr
zumuten, ein Geheimnis mit mir zu teilen, das sie ihrem nächsten
Freund, ihrem Gatten, nicht verraten dürfte? Mußte sie nicht fürchten,
wenn sie es verheimlichte, ganz in meiner Hand zu sein? Mußte ihr
nicht das ganze Anerbieten sonderbar, unzart vorkommen?" Wie
hoch, wie edel erschien ihm jetzt erst der Charakter dieser Frau! Wo
nahm sie bei dieser Jugend, — denn sie konnte höchstens neunzehn
zählen, —solche Stärke, solche Umsicht, solche ungewöhnliche Bildung,
solche feine gesellige Formen her? Er fühlte vielleicht zum erstenmal
in seinem Leben, daß den Frauen etwas von Feinheit, Schlauheit,
Kraft, überwindung, kurz, daß ihnen ein Geheimnis innewohne,
dem der Mann, selbst der stolze, gewichtige, nicht gewachsen sei.16.
Der Baron von Faldner war zum Mittagessen zurückgekommen,
und Josephe hatte ihn mit ihrer gewohnten Anmut, vielleicht ein wenig
ernster als gewöhnlich, empfangen. Aber hastig riß er sich aus ihrer
Umarmung. "Ist es nicht, um toll zu werden, Frohen?" rief er, ohne
seine Frau weiter zu beachten. "Mit horrenden Kosten lasse ich mir
eine Dampfmaschine aus England kommen, lasse sie, auf die Gefahr
hin, daß alles zugrunde gehe, ausschwärzen, du kennst ja die Gesetze
hierüber. Und jetzt, da ich meine, im trockenen zu sein, da ich schon
achtzig, ja hundert Prozent berechnete, jetzt geht sie nicht!"
"Franz!" rief Josephe erbleichend.
"Sie geht nicht?" rief ihr Froben nach.
"Sie geht nicht!" wiederholte der unglückliche Landwirt. "Die
Fugen greifen nicht ein, das Räderwerk steht, es muß irgend etwas
verloren gegangen sein. Ich lieh, wie du weiht, Josephe, ich ließ ws
mich ja alles kosten, mit teurem Gelde ließ ich einen Mechanikus aus
Mainz kommen; ich legte ihm die Zeichnungen vor. ,Nichts leichter
als dies,' sagte der Hund, und jetzt, da ich ihm A zu A, Bau B gebe,
— denn es ist alles numeriert und beschrieben, —jetzt kann kein
Teufel zusammensetzen; o, es ist, um rasend zu werden!"
Man setzte sich verstimmt zu Tische. Der Baron verbiß seinen
inneren Grimm über die fehlgeschlagene Hoffnung und den wahrscheinlichen
Verlust des Kapitals; er trank viel Wein und exaltierte sich
zu schlechten Scherzen. Josephe war noch bleicher als gewöhnlich; sie
besorgte still ihr Amt als Hausfrau, und nur Froben wußte einigermaßen
ihre Gefühle zu deuten; denn sie vermied es, ihn anzusehen.
Ihm quoll der Bissen im Munde; er sah den Unmut einer getäuschten
Hoffnung in den Mienen seines Freundes, er sah den Mut, die Entschlossenheit
und doch wieder die unverkennbare Angst auf den Mienen
der schönen Frau; es war ihm zuweilen, als sei mit ihm erst das Unglück
über dieses Haus hereingebrochen. Das Gespräch schlich während
der Tafel nur mühsam und stockend hin: doch als das Dessert aufgetragen
war und die Diener auf Josephens Wink sich entfernt hatten,
holte sie einigemal mühsam Atem, ihre Wangen färbten sich röter,
und sie sprach:
"Du hast heute früh eine recht sonderbare Unterhaltung zwischen
mir und deinem Freunde versäumt. Schon oft, wie du weißt, klagten
wir über Mangel an Verwandschaft von meiner Seite. Jetzt scheint
mir auf einmal ein neues Licht aufzugehen; denn er bringt uns ja viele
und angesehene Verwandte ins Haus."
Verwundert und fragend sah Faldner seinen Freund an. Dieser
war im ersten Augenblicke etwas betroffen; doch hier galt es, mit Umsicht
zu handeln. Wunderbar fühlte er in diesem Augenblick das Übergewicht
eines Mannes von Welt über die niedere, beinahe rohe
Denkungsart eines Baron Faldner, und mit mehr Gelassenheit, mit
weiser Benützung der Umstände erzählte er die sonderbare Geschichte
des Bildes und seiner Bekanntschaft mit Don Pedro.
Gegen alle Erwartung wurde der Baron zusehends heiterer
während der Erzählung; " ei —sonderbar," waren die einzigen Worte,
die ihm hie und da entschlüpften, und als Froben geendet hatte, rief
er: Was ist klarer als dies? Donna Laura Torti) si und Laura von
Tortheim, der Schweizer Kapitän Tannensee und dein Vater sind
dieselben. Und reich, sagst du, lieber Froben, reich ist der Haushofmeister?
Begütert, unverheiratet und hegt noch die alte Vorliebe für
seine Dulcinea von Valencia? Eider Tausend, Josephchen, da könnte
es ja noch eine reiche Erbschaft von Piastern geben!"
Josephe hatte wohl diese Äußerung nicht erwartet; der Gast sah
ihr an, daß sie dieses gemeine Wort lieber ohne Zeugen gehört hätte;
aber eine drückende Last schien sich dennoch ihrem Busen zu entladen;
sie drückte die Hand ihres Gatten, vielleicht nur, weil er ihr diesmal
weniger Bitteres gesagt hatte als sonst, und ziemlich aufgeheitert sagte
sie: "Mir selbst scheint in dem sonderbaren Zusammentreffen unseres
Freundes mit dem Spanier eine eigene Fügung des Schicksals zu
liegen; ja, ich glaube sogar, daß es spanische Lieder waren, die hie
und da meine Mutter, wenn sie einsam war, zur Laute sang. Ja,
vielleicht kommt es eben daher, daß ich nichtin Eurem Glauben erzogen
wurde, obgleich mein Vater, wie ich bestimmt weiß, reformierten
Glaubens war. Nun, das beste ist, unser Freund schreibt an Don
Pedro."
"Ja, tu' mir den Gefallen," sagte Faldner; "schreibe an den alten
Don, seine Laura habest du nicht gefunden, aber offenbar ihre Tochter;
es könnte doch zu etwas führen, du verstehst mich schon; wem will er
auch seinen Mammon vermachen als dir, du Goldkind? Ich habe es
ja immer gesagt, und auch zur Gräfin Landskron sagt' ich es, als ich
um dich anhielt; ,Wenn sie auch nicht viel, eigentlich gar nichts hat, mit
ihr kommt Segen in mein Haus.' Und haben wir da nicht den Segen:
Wie hoch, sagest du, daß du den Spanier schätzest?"17.
Der Baron hatte frische Flaschen befohlen, und Josephe stand bei
den letzten Worten auf und entfernte sich. Unbegreiflich war Froben,
wie unzart sein Freund mit dem holden, edlen Wesen verfuhr er
fühlte, wie sie sich vor ihm der Gemeinheit ihres Gatten schäme, er
fühlte es und antwortete daher ziemlich unmutig: "Was weiß ich!
Meinst du denn, ich frage die Leute, mit denen ich umgehe, wie ein
Engländer: ,Wieviel wiegst du?"'
"Ach, ich kenne ja deine sonderbaren Grillen über diesen Punkt,"
lachte der Baron, "dir ist ein armseliger Geselle, wenn er nur das sogenannte
Sentiment und Savoir vivre besitzt, so gut als einer, der zweimalhunderttausend
Pfund Renten hat; aber ernstlich, mit dem Don
müssen wir ins reine kommen, und ich rechne ganz auf dich."
"Ja doch, du kannst gänzlich auf mich rechnen. Aber wie war es
denn mit der Gräfin Landskron? Du sagtest mir ja noch nicht einmal,
wie du deine Frau kennen lerntest."
"Nun, das ist eigentlich eine kurze Geschichte," erwiderte Faldner,
indem er sich und dem Freunde von neuem Wein in das Glas goß;
"Du kennst meinen praktischen Sinn, meinen richtigen Takt in dergleichen
Dingen. Es stand mir die Wahl frei unter den Töchtern des
Landes; reiche, bemittelte, schöne, hübsche, alles stand mir zu Gebot.
Aber ich dachte; Nicht alles ist Gold, was glänzt, und suchte mir eine
tüchtige Hausfrau. So kam ich durch Zufall auch auf das Gut der
Gräfin Landstron. Josephe war damals noch als Fräulein von Tannensee
ihre Gesellschaftsdame. Das emsige, geschäftige Kind gefiel
mir; Tee eingießen, Äpfel schälen, Bohnen brechen, die Blumen begießen
, kurz, alles wußte sie so zierlich und nett zu machen, daß ich
dachte, diese oder keine wird eine gute Hausfrau werden. Ich sprach
mit der Gräfin darüber. Swar schreckten mich anfangs die kurzgefaßten
Nachrichten wieder ab, die mir die Landskron über Josephens
Verhältnisse geben konnte. Sie sagte mir, daß sie Josephens Mutter
gekannt und nach ihrem Tode das Mädchen zu sich genommen habe;
Vermögen hatte sie nicht, aber die Gräfin gab eine anständige Ausstattung.
Das Kopulationszeugnis ihrer Eltern, ihr Taufschein war
richtig — nun, man ist ja in der Liebe gewöhnlich ein Narr, und so
nahm ich sie zu mir."
"Und bist gewiß unendlich glücklich mit diesem holden Wesen."
"Nun, nun, das geht so; praktisch ist sie nun einmal gar nicht,
und ich muß ihr die dummen Bücher ordentlich konfiszieren, nur daß
ich sie an Haus und Garten gewöhne; denn wie will man am Ende
hier auf dem Lande auskommen, wenn die Hausfrau sich vornehm in
den Sofa setzt, Romane und Almanachs liest, empfindelt, wozu sie
ohnedies großen Hang hat, und weder Küche noch Garten besorgt?"
"Aber, mein Gott, dazu könntest du ja Mägde halten!" bemerkte
Froben, den der Wein und das Gespräch noch wärmer und unmutiger
gemacht hatten.
"Mägde?" fragte Faldner lachend und sah ihn groß an. "Mägde!
Da sieht man wieder den Theoretiker! Freund, davon verstehst du
nichts! Würden mir nicht die Mägde hinterrücks den halben Garten,
die schönen Gemüse, Obst und Salat verkaufen? Und vollends in
der Küche! Woher nur Holz und Butter genug nehmen, wenn alles
den Mägden anvertraut ist! Nein, die Frau muß da schalten und
walten, und leider bin ich da mit Josephen schlecht gefahren; doch
komm, stoß an! Der Don soll alles gut machen."
Fröben, so sehr sein Herz, sein zärterer Sinn durch alles, was
er hier sah und hörte, verletzt wurde, wagte nichts entgegen zu reden.
Er folgte dem Hausherrn, als dieser jetzt aufstand, hielt seine Umarmung
geduldig aus und nahm sogar, mehr, um Josephen so bald
nach diesem Vorfall nicht zu sehen, als aus Freude an des Barons
Gesellschaft, seine Einladung an, ihn nach der neuen Dampfmühle
zu begleiten. Die Pferde wurden vorgeführt, die Männer schwangen
sich auf, und schon wollte Fröben um die Ecke biegen, als er noch einen
Blick zurückwarf und Josephens Gestalt im Fenster erblickte; sie zog
ihr Tuch von dem Auge, sie blickte ihnen wehmütig nach, sie grüßte
mit der zierlichen Hand. "Deine Frau winkt uns noch, um Abschied
zu nehmen," rief er Faldner zu; aber dieser lachte ihn aus. "Was
meinst du denn?" sagte er im Weiterreiten. "Glaubst du, ich habe sie
so zart und weich gewöhnt, daß wir auf einen Nachmittag mit Küssen
und Drücken, mit Grützen und Schnupftuchwedeln Abschied nehmen
Gott bewahre mich, dadurch verwöhnt man die Weiber, und wenn es
dir einmal begegnen sollte, daß du auch heiratest, so mache es um
Gottes willen wie ich. Kein Wort von einer Reise oder einem Spazierritt
vorher. Das Pferd wird vorgeführt. —,Wohin, mein Lieber?'
fragt sie dann das erste oder zweite Mal. Keine Antwort, sondern
die Handschuhe angezogen. .Aber wirst du mich denn so allein lassen?'
fragt sie weiter und streichelt dir die Wangen; du nimmst getrost die
Reitpeitsche und sagst: ,Ja, ich will heute abend noch auf das Vorwerk
, es ist dies und das zu tun. Adje! und wenn ich bis neun Uhr
nicht zu Hause bin, brauchst du mit der Suppe nicht zu warten.' Sie
erschrickt. du achtest es nicht; sie will nach, du winkst ihr mit der Reitgerte
zurück; sie stürzt ans Fenster, hängt sich und das Tränentüchlein
heraus und ruft adje! und wedelt hin und her mit dem weißen Fahnen.
Laß wehen und achte nicht darauf! Drück dem Gaul die Sporen in
den Leib und davon: ich kann dir schwören, das setzt die Weiber in
Respekt. Das dritte Mal fragte die meine nicht mehr, und gottlob,
das Gewinsel hat ein Ende!"
Der Baron hatte während dieser trefflichen Rede in größter Gemütsruhe
eine Pfeife gestopft, Feuer angeschlagen und dampfte jetzt,
indem er seine Felder und Wälder überschaute, ohne eine Antwort
seines Gastes zu erwarten; aber dieser preßte die Lippen zusammen,
und noch stärker preßte die Rede des rohen Mannes sein volles Herz.
"O, du Hund von einem Menschen," sprach er bei sich, "schlechter
noch als ein Hund; denn der Herr hat dir ja Vernunft gegeben! Wie
man ein Pferd zureitet oder einen Baum in bessere Erde setzt, hast
du gelernt; aber eine schöne Seele zu behandeln, ein liebendes Herz
zu verstehen, liegt außer deinen Grenzen. Wie sie ihm nachsah, so
voll Wehmut, denn er hatte nicht von ihr Abschied genommen, so
voll Engelsgeduld, sie hatte ihm ja seine rohen Worte schon wieder
vergeben, mit einem Blick, so voll von Liebe! Von Liebe? Kann
sie ihn denn lieben? Wird nicht ihr zarter Sinn tausendmal von ihm
beleidigt? Sieht sie denn nicht, wie er seinem Jagdhund mehr Zärtlichkeit
beweist als ihr? Oder wie? fuhr er in seinem Hinträumen fort,
sollte sie, weil sie einmal sein Weib geworden ist, Zärtlichkeit für den
fühlen, den sie an Geist so weit überragt und den sie dennoch —
fürchtet? Oder sollte es immer und ewig das Los dieser armen Wesen
sein, daß unter Hunderten nur eine wahrhaft lieben darf, daß die
anderen, von der Natur zu einem herrlichen Gefäß zärtlicher, hoher
Liebe ausgerüstet, erwachsen, blühen, verwelken, ohne wahre Liebe
zu kennen? Doch dieser Gedanke wäre mir noch erträglicher als der,
daß sie ihn wirklich lieben könnte! Nein, es kann, es darf nicht sein!"
Unwillkürlich hatte er bei den letzten Worten durch eine rasche Bewegung
seinem Pferde die Sporen gegeben; raffte sich auf und
flog dahin. "Ho, ho, Junge! Du willst mit mir in die Wette reiten?"
rief ihm der Baron nach und steckte die Pfeife bei. "Zweihundert
Schritte gebe ich dir vor und hole dich dennoch ein." Kunstgerecht
berechnete er dann den Zwischenraum und als er dachte, Froben
habe die vorgegebenen Schritte zurückgelegt, ließ er sein Pferd weit
ausstreichen und gelangte zu seinem nicht geringen Triumph in demselben
Moment mit dem Freunde vor der Dampfmühle an.
18.
Der Mechanikus, ein bescheidener Mann, der aber allgemein den
Ruf großer Geschicklichkeit genoß, empfing sie an der Türe. "Noch
immer nicht weiter:" fragte Faldner, indem sein Gesicht sich verfinsterte
"Wahrhaftig, entweder ist mein Korrespondent in London
ein Schurke und verdient gehangen zu werden, oder Ihr, Meister
Fröhlich, versteht zwar Taschenuhren zusammenzudrechseln, aber
keine Dampfmühle aufzuschlagen, wie Ihr mir vorgespiegelt."
Der Mann schien tief gekränkt durch die Worte des Barons; eine
hohe Röte überflog sein Gesicht, und ein bitteres Wort schwebte auf
seinen Lippen; aber er unterdrückte es und fuhr mit der Hand über
sein schlichtes Haar, als wollte er seinen inneren Unmut wie seine
Haare glätten. "Halten zu Gnaden, Herrn Baron," antwortete er,
"wenn man mir Aufriß und Berechnung einer Maschine vorlegt und
dazu Räderwerk und Schrauben so genau verzeichnet sind, so will ich
eine Maschine zusammensetzen, wenn ich sie auch nie zuvor gesehen.
Aber dann muß ich freies Spiel haben, und dann steh' ich auch dafür,
daß alles recht wird; aber so —
"Nun, daß ich selbst ein wenig mitgeholfen, meint Ihr? Darauf
soll also alles, geschoben werden? Ihr sagt selbst, daß Ihr in Eurem
Leben noch keine solche Maschine gesehen, und ich habe eine gesehen,
zwei, drei, in Frankreich und England, und weiß recht gut, daß die
größeren Räder in der Mitte des Zylinders eingreifen und die kleineren
oben angebracht sind —"
"Aber mein Gott, erlauben Eure Gnaden," entgegnete der
Künstler ungeduldig, "diese Ihre Dampfmühle ist nun einmal nach
anderer Struktur, das kann man ja schon an der Zeichnung sehen —"
"Zeichnung hin, Zeichnung her, Dampfmaschinen sind Dampfmaschinen,
und eine sieht aus wie die andere. Betrogen bin ich, von
allen Seiten angeführt; da: Geld zum Fenster hinausgeworfen!"
Fröben hatte indessen die Zeichnungen zur Hand genommen
und sie durchgesehen. Er fand, daß die Struktur dieser Mühle sehr
einfach und schön, und wenn die bezeichneten Räder und Schrauben
paßten, sehr leicht aufzuschlagen sei. Er hatte in früheren Zeiten
Mathematik und Physik gründlich studiert, er hatte zugleich mit dem
Freunde die berühmtesten Maschinenwerke gesehen und kennen gelernt
, kam aber, weil er sich selten darüber äußerte, bei dem Herrn
von Faldner, der sich mit seinen Kenntnissen ungemein viel wußte,
in den Verdacht, wenig oder nichts vom Maschinenwesen ou verstehen.
Er wandte sich nun, als Faldners Unmut noch größer zu
werden drohte, an den Mechanikus, fragte nach diesen und jenen
Stücken, die auf der Zeichnung angegeben waren, und als jener sie
vorwies, als man sah, wie richtig sie ineinander passen, sagte er zu
Faldner; "Ich wollte wetten, du bist durchaus nicht betrogen; denn
so gut hier F und u in P passen, —du siehst, es sind die Hauptzüge,
wodurch die Stampfmühle mit der Ölpresse in Verbindung gesetzt
wird — so gut muß sich auch das übrige fügen."
"Ach, Sie hat unser Herrgott hergesandt " rief der Mechanikus
freudig, "wie Sie doch dies gleich so wegbekamen! Ja, das F ist der
Hauptzug; u hier greift in das Stangenwerk ein, hier wird das
Rad KL befestigt."
"Die Maschine ist sehr einfach," fuhr Fröben fort, "und der
ganze Irrtum meines Freundes kommt daher, daß er die Struktur
größerer Werke vor Augen hat, die freilich anders aussehen. Du
wirst dich übrigens erinnern, daß wir in Devonshire bei Sir Henry
Smith eine Ölmühle sahen, die beinahe ganz nach diesem Plan gebaut
war."
Der Baron verbarg sein Staunen hinter einem ironischen
Lächeln, womit er bald den Freund, bald den Mechanikus ansah.
"Machet, was ihr wollt," sagte er gleichgültig, "ich gebe die ganze
Geschichte verloren; vernünftger wäre es gewesen, ich hätte einen
englischen Mechaniker mitkommen lassen. Versuche immer dein Heil
an dem heillosen Schraubenwerk! Ich denke, wenn ich dich in einigen
Stunden abhole, wirst du dieses Maschinen-ABC schon satt haben:
denn dann, ich weiß es ja, bist du doch nur ein ABC Schütze." Pfeifend
verließ er das Gebäude, setzte sich auf und ritt in den Wald.
Fröben aber ließ sogleich wieder auseinanderlegen, was nach des
Barons eigenmächtigem Plan bisher zusammengefügt war. Die
Nummern wurden geordnet, und er wurde unter diesem Geschäft
nach und nach heiterer; denn es zerstreute die düsteren Bilder in
seiner Seele, und nicht ohne Lächeln bemerkte er, wie ihn der Mechanikus
mit leuchtenden Blicken betrachtete, wie ihn seine Gesellen und
Jungen gleich einem Altmeister ihrer Kunst ehrfurchtsvoll ansahen.
Freude und Leben war in die Werkstätte gekommen, wo man diesen
Morgen nur die Befehle, die Flüche des Barons, die Bitten und
Gegenreden des Meisters gehört hatte; bald war alles in Ordnung
gebracht, und als der Baron abends aus dem Wald zurückkam, seinen
Gast abzuholen, erstaunte er und schien sich im ersten Augenblick nicht
einmal über das sichtbare Fortschreiten des Werkes zu freuen. Er
hatte erwartet, alles in Bestürzung und Konfusion zu treffen; aber
der Mechanikus überreichte ihm lächelnd die Zeichnung, führte ihn
an den Zylinder und zeigte ihm, indem er bald auf das Papier, bald
auf das Werk hindeutete, mit stolzer Freude, was sie bis jetzt schon
geleistet haben. "Wenn es so fortgeht," setzte der Mechanikus hinzu,
"und wenn der fremde Herr dort uns auch morgen so trefflich an
die Hand geht, so garantiere ich, daß wir noch vor Sonntag ferse
werden.
"Tolles Zeug!" war alles, was der Baron antwortete, inden
er die Zeichnung zurückgab, und Froben war ungewiß, ob es Flüche
oder Danksagungen seien, was sein Freund hin und wieder murmelte
als sie zusammen nach dem Schloß zurückntten.
19.
Der glückliche Fortgang des Maschinenbaues, vielleicht auch die
schimmernde Aussicht auf Don Pedros spanische Quadrupel hatten
den Baron in den nächsten Tagen fröhlicher gestimmt. Froben hatte
an den Spanier nach W. geschrieben, und sein Gastfreund nahm ihm
das Versprechen ab, so lange bei ihm zu verweilen, bis aus W. eine
Antwort angelangt sei. Auch gegen Josephe betrug er sich etwas
menschlicher, und er hatte ihr, wahrscheinlich mehr aus Rücksicht auf den
Freund als auf sie, sogar erlaubt, daß sie ihre Haushaltungsgeschäfte
abkürzen und vormittags oder abends, wenn ihn selbst Geschäfte abhielten,
sich von Fröben vorlesen lassen oder Spaziergänge mit ihm
machen dürfe. Und sie lebte in diesen wenigen Tagen zusehends auf.
Ihre Haltung wurde kräftiger, ihre Wangen rötete ein Schimmer von
stillem Vergnügen, und in manchen Augenblicken, wenn ein holdes
Lächeln um ihre Lippen zog, wenn jene feinen Grübchen in den Wangen
erschienen, gestand sich Fröben, daß er selten eine schönere Frau
gesehen habe; ja, ihr Anblick verwirrte ihn oft so ganz, daß er ein geliebtes
Bild seiner Träume verwirklicht glaubte, daß halbversunkene
Erinnerungen wieder in ihm auftauchten, daß ihm sogar ihre Stimme,
wenn sie bewegt, gerührt war, so bekannt deuchte, als hätte er sie
nicht hier zum erstenmal gehört. Seltener zog er in jenen Tagen das
Bild hervor, das er sonst stundenlang betrachtet hatte, und wenn es
ihm zufällig in die Hände fiel, wenn er es aufrollte, wenn er in das
Auge der unbekannten Geliebten sah, so fühlte er sich beschämt; er
glaubte ihrem leblosen Gemälde diese Vernachlässigung abbitten zu
müssen. "Doch," sprach er dann zu sich, als müßte er sich entschuldigen,
"ist es denn unrecht, der armen Freundin einige Tage ihres freudelosen
Lebens angenehmer zu machen? Und wie wenig gehört dazu,
dieses holde Wesen zu erfreuen, sie glücklicher zu stimmen! schönes
Buch mit ihr zu lesen, mit ihr zu sprechen, sie auf einem Spaziergang
an ihre Lieblingsplätzchen zu begleiten — dies ist ja alles, was sie
braucht, um heiter und froh zu sein. Welchen Himmel könnte Faldner
in seinem Hause haben, wenn er nur zuweilen die eine oder andere
dieser kleinen Freuden mit ihr teilte!"
Der junge Mann fühlte sich übrigens, ohne daß er es sich
selbst recht gestand, angenehm berührt, geschmeichelt von Josephens
Anhänglichkeit an ihn. Schien ihr nicht jeder Morgen, jeder Abend ein
neues Fest zu sein? Wenn er herabkam zum Frühstück, hatte sie schon
alles zierlich und nett bereitet; bald wählte sie den Saal, der eine
herrliche Aussicht auf den fernen Rhein öffnete, bald die Terrasse,
von wo sie das ländliche Gemälde der Arbeiter in den Feldern und
an den Weinbergen vor sich hatten, so nah, um alles wie ein treues
Tableau zu betrachten, und doch ferne genug, um im stillen Genuß
des Morgens nicht gestört zu sein; bald hatte sie eine Laube im Garten
ausgesucht, wo die Welt ringsum von dichten Platanen abgeschlossen
und nur der frischen Morgenluft oder dem Frührot der Zutritt gestattet
war. So erschien sie immer neu und überraschend; und wenn
der Freund herzutrat, wie freudig stand sie auf, wie hold bot sie ihm
die Hand zum Gruß, wie lebhaft wußte sie, wenn er, noch ganz in
ihren Anblick versunken, ohne Worte war, das Gespräch anzuknüpfen,
dies und jenes zu erzählen, durch Laune und feine Beobachtung
allem, was sie sagte, ein eigenes Gewand, einen eigentümlichen Reiz
zu geben! Und wenn sie dann nachher schnell und emsig das Geräte
des Frühstücks auf die Seite räumte, wenn er sein Buch hervorzog,
wenn sie mit der Arbeit, die sie selten beiseite legte, ihm sich gegenübersetzte
und erwartungsvoll an seinen Lippen hing, da war es ihm
oft, als müsse er alles, die ganze Welt vergessen, und einen kleinen,
kurzen, seligen Augenblick träumte er, er sei ein glücklicher Gatte und
sitze hier an der Seite eines geliebten Weibes.20.
Es gereichte Josephen in den Augen ihres Freundes zu keinem
geringen Ruhm, daß sie gerade jenen Dichter zu ihrem Liebling erwählt
hatte, der auch ihn vor allen anzog. Zwar mußte er ihr oft bei
Vorlesungen aus Jean Pauls herrlichen Dichtungen zu Hilfe kommen,
um dieses oder jenes dunklere Gleichnis zu erklären; aber sie faßte
schnell, ihr natürlicher Takt und ihr zarter Sinn, der so ganz in dem
Dichter lebte, ließ sie manches erraten, ehe ihr noch der Freund Gewißheit
gegeben hatte.
"Es liegt doch," sagte sie eines Tages, "eine Welt voll Gedanken
in diesem Hesperus! Jede menschliche Empfindung bei Freude und
Schmerz, bei Liebe und Gram liegt zergliedert vor uns da; er weiß
uns, indem wir den süßen Duft einer Blume einsaugen, ihre innersten
Teile, ihre zarten Blätter, ihre feinsten Staubfäden zu beschreiben,
ohne daß er sie zerstört, entblättert. Denn das, glaube ich, ist ja das
große, tiefe Geheimnis dieses Meisters, daß er jede tiefere Empfindung
nicht beschreibt, sondern andeutet, und doch wieder nicht flüchtig
andeutet, sondern wie durch das feine Mikroskop eines Gleichnisses uns
einen tiefen Blick in die Menschenseele tun läßt, wo Gedanke an Gedanke
aufsteigt, und das Auge, überrascht, aber entzückt über die
wundervolle Schöpfung, in eine Träne übergeht."
"Sie haben," erwiderte der Gastfreund, " wie es mir scheint, in
diesen Worten sein Geheimnis wirklich ausgesprochen. Mir ist sonst,
ich gestehe es offen, nichts so in der innersten Seele zuwider als das
sichtbare Abmühen eines Autors, dem Leser recht klar und deutlich
zu machen, was sein Held oder die Heldin oder eine dritte, vierte Person
da oder dort empfunden oder gedacht. Aber unser Dichter —
wie herrlich, wie reich ist auch hierin seine Erfindung! Wir leben,
wir denken, wir weinen unwillkürlich mit Viktor, und Klotildens
bleichere Wangen, ihre klagelose Trauer trifft uns tiefer, als jede Beschreibung
es sagen kann, und im wannen, weichen Glück der Liebenden
möchten wir ein Strahl der Abendsonne sein, der in der Laube
um ihre Umarmung spielt, jene Nachtigall, die ihnen die fromme
Feier ihrer Seligkeit mit ihrer glockenhellen Stimme einläutete."
"Es ist sonderbar," bemerkte Josephe, "der Faden dieses Romans,
was man sein Gerippe nennt, würde uns bei einem anderen nicht im
mindesten interessant, vielleicht sogar gesucht, langweilig dünken.
Sechs verlorene, vertauschte, wiedergefundene Söhne, statt daß
z. B. Walter Scott gewöhnlich nur einen hat und sogar der Verfasser
des Walladmorin seiner Parodie mit zweien sich begnügt;
eine junge Dame, die zu ihrer Qual von ihrem Bruder geliebt wird,
selbst aber seinen Freund liebt; ein kleiner, simpler Hof in Duodez,
ein Pfarrhaus voll Ratten und Kinder und ein Edelsitz, wo Unedle
wohnen; denken Sie sich diese gewöhnlichen Dinge in einer Reihenfolge,
so haben Sie einen unserer gewöhnlicheren Romane Von verlorenen
Söhnen usw. und nicht einmal einen rechten Jammer, um
mich so auszudrücken, als etwa Le Beaus Ermordung durch den Hof
junker oder das tragische Ende des Lords im fünften Akt. Aber welch
ein Leben, welch eine Welt wird aus dieser Geschichte, wenn ihr jener
Dichter seinen Blumenmantel umhängt! Welche geistreiche Luft,
höher und reiner als jede irdische, kommt uns aus der verehrenden
Liebe Viktors und Klotildens zu ihrem Lehrer Emanuel, welche Wehmut
aus den Täuschungen eines kalten Lebens, wenn Viktor und
jenes liebenswürdige Wesen sich verkennen, nicht finden; welche Wonne
"Ja," rief der junge Mann, "unser Dichter ist wie ein groser
Musiker. Er hat ein ausgespieltes, alte-, längst gehörtes Thema vor
sich; aber indem er den Gang des alten Liedchens beibehält, führt er
die Gedanken auf eine Weise aus, die uns so überraschend, so neu
endlich, wenn ihre Seelen unter dem nächtlichen, gestirnten Himmel
im Schmerz der Trennung sich aufschließen und überströmen in Liebe!
erscheint, daß wir das Thema vergessen und nur auf die Wendungen
horchen, in die er übergeht, in welchen er die Himmelsleiter der Töne
wie ein Engel auf- und abgeht und uns einen geöffneten seligen Himmel
im Traume zeigt, während wir vielleicht wie Jakob in der Wirklichkeit
auf recht hartem Lager liegen. Dann ist er bald weich wie eine
Flöte, durchdringend wie die Hoboe, bald voll, rührend wie das Wald
horn aus der Ferne, bald braust er daher wie mit den mächtigsten,
tiefsten Bässen, majestätisch, erhaben, bald nur sanft lispelnd wie die
Äolsharfe oder in Wehmut aufgelöst wie die Töne der Harmonika."
"Wie danke ich es ihm," sagte Josephe weich, "daß er versöhnt,
daß er die Wunden unserer Wehmut heilt! Es hätte ja in seiner Macht
gestanden, Klotilden untergehen zu lassen im Schmerz unerwiderter
Liebe; vor ihrem Tode hätte ihr Viktor noch zugerufen: ,Ich liebte
dich ja über alles,' und sie wäre lächelnd eingeschlafen. Denken Sie
sich den ungeheuren Schmerz, die Bitterkeit gegen das Geschick, wenn
wir diese Menschen so hätten untergehen sehen, ohne Hoffnung, ohne
Trost! Aber es wäre ja nicht möglich gewesen; Viktor hätte nicht so
lange geliebt, hätte sich an Joachime oder die Fürstin hingegeben;
denn ein Mann kann ja ohne erwiderte Liebe nicht lange lieben!"
"Glauben Sie das wirklich?" erwiderte Fröben wehmütig
lächelnd. "O, wie wenig müssen Sie uns kennen, wie klein müssen
Sie von uns denken, wenn wir nicht einmal den Mut besäßen, dieses
kurze Leben hindurch treu zu lieben, auch ohne geliebt zu werden!"
"Ich halte es bei Frauen für möglich," sagte die schöne Frau;
"Liebe ohne Gegenliebe ist ein tiefes Unglück, und Frauen sind ja
mehr dazu gemacht, stille Leiden zu tragen ein Erdenleben lang, als
ihr. Der Mann würde einen solchen Gram von sich werfen, oder
der glühende Kummer müßte ihn verzehren!"
"Beides nicht —ich lebe ja noch und liebe," sagte Fröben, zerstreut
vor sich hinblickend.
"Sie lieben!" rief Josephe, und mit so eigenem Ton, daß der
junge Mann erschreckt aufblickte; sie schlug die Augen nieder, als ihr
sein Blick begegnete, eine tiefe Röte überflog ihr Gesicht und ging
ebenso schnell wieder in tiefe Blässe über.
"Ja," sagte er, indem es ihm mit Mühe gelang, es scherzhaft
zu sagen, "der Fall, den Sie setzten, ist der meinige, und noch liebe
ich, vielleicht ruhiger, aber nicht minder innig als am ersten Tag; ich
liebe sogar beinahe ohne Hoffnung; denn die Dame meines Herzens
weiß nicht um meine Liebe; und dennoch, wie Sie sehen, hat mich der
Kummer noch nicht getötet."
"Und darf man wissen!" sagte sie zutraulich, aber, wie es Froben
schien, mit zitternder Stimme, "darf man wissen, wer die Glückliche
ist —"
"Ach. sehen Sie, das ist gerade das Unglück, ich weiß ja nicht, wei
sie ist, noch wo sie sich aufhält, und liebe dennoch, ja, Sie werden mich
für einen zweiten Don Quichotte halten, wenn ich gestehe, daß ich sie
nur einigemal flüchtig sah, mich nur noch einiger Partien ihres Gesichts
erinnern kann und dennoch in der Welt umherstreife, um sie
zu finden, weil es mir zu Hause keine Ruhe läßt."
"Sonderbar," bemerkte Josephe, indem sie ihn nachdenklich ansah,
"sonderbar; es ist wahr, ich kann mir einen solchen Fall denken;
aber dennoch machen Sie eine seltene Ausnahme, lieber Froben;
wissen Sie denn, ob Sie geliebt werden, ob das Mädchen Ihnen
treu ist?"
"Nichts weiß ich von diesem allem," erwiderte er ernst und mit
verschlossenem Gram, "ich weiß nichts, als daß ich glücklich wäre,
wenn ich jenes Wesen mein nennen könnte, und weiß nur allzugut,
daß ich vielleicht auf immer verzichten muß und nie ganz glücklich
werde!"
Je seltener sonst der junge Mann über diese Gefühle sich aussprach
, desto mächtiger kamen in diesem Augenblick alle Schmerzen
der Erinnerung an gramvolle Stunden und eine Wehmut über ihn,
der er sich nicht gewachsen fühlte. Erstand schnell auf und ging aus
der Laube dem Schlosse zu. Aber Josephe sah ihm mit Blicken voll
unendlicher Liebe nach; Träne um Träne löste sich aus den zuckenden
Wimpern, und erst als sie wie ein Quell auf ihre schöne Hand herabfielen
, erweckten sie Josephen aus ihren Träumen. Und beschämt,
als hätte sie sich bei einer geheimen Schuld belauscht, errötete sie und
preßte ihr Tuch vor diese verräterischen Augen.
21.
Die Vorhersagung des alten Mechanikus war eingetroffen; denn
mit dem letzten Tag der Woche waren auch die Maschinen der Dampfmühle
fertig aufgestellt. Der Baron, so unmutig er anfangs gewesen
war, hatte in der Freude seines Herzens, als der erste Versuch glücklich
gelungen war, den Alten und seine Gesellen reichlich beschenkt entlassen
und auf Sonntag alle seine Nachbarn in der Umgegend eingeladen
um mit einem kleinen Feste seine Mühle einzuweihen. So
glücklich und heiter er an diesem Tage war, so fröhlich und jovial er
seine zahlreichen Gäste empfing, so entging es doch Fröbens beobachtenden
Blicken nicht, daß er die arme Josephe mit hunderterlei Aufträgen
und Anordnungen plagte, daß sie ihm nichts zu Dank machen
konnte. Bald sollte sie in der Küche sein, um das Gesinde anzutreiben
und selbst mitzuhelfen, bald besserte er dies oder jenes an ihrem putz,
bald wollte er vor Ungeduld verzweifeln, wenn sie nicht schnell genug
die Treppe herabflog, um mit ihm am Portal die Ankommenden zu
empfangen, bald wollte er die Tafel so oder anders gestellt haben,
bald wollte er den Kaffee im Garten, bald im Salon trinken. Mit
Engelsgeduld und einer Resignation, die dem Freunde unbegreiflich
war, ertrug sie alle diese Unbilden. Sie war überall, sorgte für alles
und wußte sogar einen Augenblick zu finden, um den Gastfreund zu
fragen, warum er gerade heute so trübe sei, ihn aufzumuntern, an
der allgemeinen Fröhlichkeit teilzunehmen.
Allgemein entzückte die Schönheit, die behende Aufmerksamkeit
der Hausfrau; die Männer priesen den Baron glücklich, einen solchen
Schatz im Hause zu haben, und mehrere der älteren Damen sagten
ihm unverhohlen ihre Bewunderung über die seltenen Talente zur
Wirtschaft, über die Einsicht und Ordnung einer so jungen Frau.
"Siehst du," flüsterte der Glückliche Froben zu, "siehst du, was eine
Zucht wie die meinige Wunder wirkt? Ich bin im ganzen heute recht
zufrieden mit ihr; aber wenn ich nicht im geheimen überall selbst
nachhülfe, wie stünde es dann um die wirtschaftliche Ehre der Hausfrau
frau! Aber es macht sich, ich sagte es ja immer, es macht sich." Die
allgemeine Fröhlichkeit und der Wein steigerten Faldner immer höher,
und es war endlich hohe Zeit, die Tafel aufzuheben; denn er und
einige Herren aus der Nachbarschaft erlaubten sich schon Scherze und
Anspielungen, welche jedes zartere Ohr beleidigten.
Man fuhr nach der neuen Dampfmühle, man weihte sie unter
Scherz und Lachen förmlich ein, man ging wieder zurück und erstaunte
aufs neue über die geschmackvollen und doch so bequemen Anordnungen
, welche Josephe indessen im Garten getroffen hatte. Sie
hatte es gewagt, nach ihrer eigenen Erfindung schnell eine große geräumige
Laube errichten zu lassen; alle möglichen Erfrischungen erwarteten
dort die Gäste, und ihr allgemeines Lob bewirkte ein Wunder.
Der Baron wurde nicht einmal ungehalten, daß man junge
Eschen und Tannen aus seinem Walde zu der Laube verwendet, daß
man seinen eigenen Plan, ein Zelt aus Brettern und Teppichen aufzuschlagen
, nicht befolgt hatte. Er küsste seine Frau auf die Stirne
und dankte ihr für die angenehme Überraschung.
Man setzte sich in bunten Reihen umher. Die Männer sprachen
den alten Weinen des Hausherrn fleißig zu, und bald hatte eine allgemeine
Fröhlichkeit die Gesellschaft erfaßt. Man spielte witzige,
geistreiche Spiele, und als die mutwillige Laune der Männer noch
höher stieg, wurden sogar Pfänderspiele nicht verschmäht. So kam
es, daß bei ihrer Auslösung auch Fröben sein Pfand mit einer Strafe
lösen sollte, und Josephe, welcher die Bestimmung dieser Strafe aufgelegt
war, befahl ihm, eine wahre Geschichte aus seinem Leben
zu erzählen. Man gab ihrer Wahl allgemeinen Beifall, der Baron
schlug vor Freuden über seine kluge Frau in die Hände, und als Froben
zauderte und sich besann, rief er: "Nun, soll ich etwas für dich erzählen
aus deinem Leben? Etwa die pikante Geschichte von dem
Mädchen vom Pont des Arts?"
Froben errötete und sah ihn Mißbilligend an; aber die Gesellschaft,
die hier vielleicht ein lustiges Geheimnis ahnte, rief: "Die Geschichte
von dem Mädchen, die Geschichte vom Pont des Arts!" und
vielleicht nur, um der Indiskretion seines Freundes zu entgehen, den
der Wein schon etwas über die gewöhnlichen Grenzen hinausgerückt
hatte, bequemte er sich, zu erzählen; der Baron aber versprach der
Gesellschaft, sobald der Erzähler von der genauen Wahrheit abweichen
würde, wolle er Noten zu der Geschichte geben; denn er sei selbst
dabei gewesen.
22.
"Ich weiß nicht," hub Fröben an, "ob der Gesellschaft bekannt
ist, daß ich vor mehreren Jahren mit unserem Faldner reiste, namentlich
in Paris mit ihm einige Zeit zusammen lebte, ja ein Haus mit
ihm bewohnte? Wir hatten so ziemlich gemeinschaftliche Studien,
besuchten dieselben Zirkel, machten gegenseitig unsere früheren Bekannten
mit dem Freunde bekannt und lebten auf diese Weise unzertrennlich
. Wir hatten einen gemeinschaftlichen Freund, den ebenso
liebenswürdigen als gelehrten Doktor M., einen Landsmann, der in
der Rue Taranne wohnte, die bekanntlich in die Rue St. Dominique
führt und auf dem linken Ufer der Seine liegt. Unser gewöhnlicher
Abendspaziergang war durch die Champs élysées über die schöne
Brücke ins Marsfeld und von da durch Faubourg St. Germain in die
Wohnung unseres Freundes, wo wir oft noch bis tief in die Nacht vom
Vaterlande, von Frankreich, von dem, was wir gesehen, von allem
möglichen plauderten. Wir wohnten, um dies noch hinzuzusetzen, am
Place des Victoires, ziemlich entfernt von der Rue Taranne, und
wählten zum Rückweg gewöhnlich Pont des Arts, um das Louvre
zu durchschneiden und uns einen Umweg durch die Seitenstraßen zu
ersparen. Eines Abends, es mochte nach elf Uhr sein —es hatte etwas
geregnet, und der Wind wehte besonders in der Nähe des Flusse:. sehr
kalt und schneidend — gingen wir auch vom Quai Malaquais über
den Pont des Arts dem Louvre zu. Der Pont des Arts ist nur für
Fußgänger zugänglich, und so kam es, daß um diese Zeit nicht mehr
viel Leben um und auf der Brücke war. Wir gingen, d ;e Mäntel fester
um uns ziehend, stillschweigend über die Brücke; schon wollte ich die
Brückenstufen auf der anderen Seite hinabeilen, als ein überraschender
Anblick mich festhielt.
"An die Brücke gelehnt, stand eine schlanke, ziemlich hohe weibliche
Gestalt. Ein schwarzes Hütchen war tief ins Gesicht geknüpft und
zum Überfluß noch mit einem grünen Schleier versehen; ein schwarzer
Mantel von Seide fiel um den Leib, und der Wind, der die Gewänder
in diesem Augenblick fester anschmiegte, verriet eine ungemein zarte,
jugendliche Taille; aus dem Mantel ragte eine kleine Hand hervor,
die einen Teller hielt; vor ihr aber stand ein kleines Laternchen, dessen
Licht unruhig flackerte, sein Schein fiel auf einen zierlichen Fuß. Es
wohnt vielleicht nirgends so sehr als in jener Stadt das tiefste Elend
neben dem höchsten Glanz und Wohlleben; aber dennoch sieht man
verhältnismäßig wenige Bettler. Sie drängen sich selten unverschämt
herzu, und nie wird man sehen, daß sie dem Fremden nachlaufen,
ihn mit Bitten verfolgen. Alte Männer oder Blinde sitzen oder knien
an den Ecken der Straßen, den Hut vor sich hinhaltend, und überlassen
es dem Vorübergehenden, ob er ihren bittenden Blick beachten will.
"Am schauerlichsten, wenigstens für mein Gefühl, waren immer
jene verschämten Bettler, die nachts mit verhülltem Haupt, eine
brennende Kerze vor sich, regungslos, fast schon wie erstorben, in einer
Ecke stehen; viele meiner Bekannten in Paris hatten mich versichert,
daß man darauf rechnen könne, daß dies meistens Leute aus besseren
Ständen seien, die durch Unglück so tief herabgekommen sind, daß
sie entweder Arbeit suchen müssen, oder sind sie zu verschämt, vielleicht
zu schwach, um für Brot zu arbeiten, so ergreifen sie diesen letzten
Ausweg, ehe sie, wie so viele Unglückliche, ihr Leben in der Seine der
Vergessenheit übergeben.
"Von dieser Klasse der Bettelnden war die weibliche Gestalt an
dem Pont des Arts, deren Anblick mich unwiderstehlich fesselte. Ich
sah sie näher an; ihre Glieder schienen vor Frost noch heftiger zu
zittern als das Flämmchen in der Laterne; aber sie schwieg und ließ
ihr Elend und den kalten Nachtwind für sich reden. Ich suchte in der
Tasche nach kleinem Gelde; aber es wollte sich kein Sou, sogar kein
einzelner Frank finden. Ich wandte mich an Faldner und bat ihn um
Münze; aber unmutig, durch mein Zögern der schneidenden Kälte
ausgesetzt zu sein, rief er mir in unserer Sprache zu: ,So laß doch das
Bettelvolk und spute dich, daß wir zu Bette kommen, mich friert!' —
Nur ein paar Sous, Bester!' bat ich; aber er packte mich am Mantel
und wollte mich wegziehen.
"Da rief die Verhüllte mit zitternder, aber wohltönender Stimme
und zu unserer Verwunderung auf gut deutsch: .O, meine Herren,
seien Sie barmherzig!' Diese Stimme, diese Worte und unsere Sprache
hatten etwas so Rührendes für mich, daß ich nochmals um einige
Münze bat. Er lachte: .Nun wohlan, da hast du ein paar Franks,'
sagte er, .versuche dein Heil mit der Jungfer, aber mich laß aus dem
Zug treten!' Er drückte mir das Geld in die Hand und ging lachend
weiter. Ich war in diesem Augenblick wirklich verlegen, was ich tun
sollte; sie mußte ja gehört haben, was Faldner sagte, und beleidigen
mag ich am wenigsten einen Unglücklichen. Ich trat unschlüssig näher.
'Mein Kind,' sagte ich, ,Sie haben hier einen schlechten Standpunkt
gewählt; hier werden heute abend nicht mehr viele Menschen vorübergehen.'
Sie antwortete nicht gleich. .Wenn nur,' flüsterte sie
nach einer Weile kaum hörbar, ,diese Wenigen Gefühl für Unglück
haben!' Diese Antwort überraschte mich; sie war so ungesucht und
doch so treffend. Die edle Haltung des Mädchens, der Ton, womit
sie jene Worte gesagt, verrieten Bildung. .Wir sind Landsleute,'
fuhr ich fort, ,darf ich Sie nicht bitten, daß Sie mir sagen, ob ich vielleicht
mehr für Sie tun kann, als so im Vorübergehen zu geschehen
pflegt?' —,Wir sind sehr arm,' antwortete sie, wie mir schien, etwas
mutiger, ,und meine Mutter ist krank und ohne Hilfe.' Ohne weitere
Überlegung, nur von dem unbestimmten Gefühl, daß mich das Mädchen
sehr anzog, getrieben, sagte ich: .Führen Sie mich zu ihr" Sie
schwieg, der Vorschlag schien sie zu überraschen. .Halten Sie dies für
nichts anderes,' fuhr ich fort, ,als für meinen redlichen Willen, Ihnen
zu helfen. wenn ich kann.' — ,So kommen Sie,' erwiderte die Verschleierte,
hob ihr Laternchen auf, löschte es aus und verbarg es samt
dem Teller unter dem Mantel."23.
"Wie?" rief der Baron laut lachend, als Froben schwieg, "weiter
willst du nicht erzählen? Willst es auch heute wieder machen, wie du
es mir schon damals machtest: Nämlich bis hierher, meine Herren
und Damen, hat er ganz nach reiner historischer Wahrheit erzählt.
Er glaubte mich vielleicht weit weg, und ich stand keine zehn Schritt
von der erbaulichen Samariterszene unter dem Portal des, Palais
und sah ihm zu; ob der Dialog wirklich so vor sich gegangen, weiß ich
nicht; denn der schändliche Wind verwehte die Worte; aber ich sah,
wie die Dame ihr Lämpchen auslöschte und mit ihm zurück über die
Brücke ging. Die Nacht war mir zu kalt, um ihm bei seinem galanten
Abenteuer zu folgen; aber am Ende, ich wollte wetten, sah er weder
eine kranke Mama, noch dergleichen, sondern die Dame vom Pont
des Arts hatte das alte Sirenenlied nur auf andere Weise gesungen."
Er belachte seinen eigenen Witz, und die Männer stimmten ein
in das rohe Gelächter; die Damen aber sahen vor sich nieder, unb
Josephe schien mit den Worten ihres Gatten so unzufrieden als mit
der sonderbaren Erzählung ihres Freundes; denn bleich wie der Tod
hielt sie ihre Tasse in den Händen, daß sie klirrte, und sandte dem
jungen Mann nur einen Blick zu, für den er in diesem Augenblicke
keine andere als eine tief beschämende Deutung wußte. "Ich glaube
zwar," sprach er, mit starker Stimme das Gelächter der Männer unterbrechend
, "mein Pfand gelöst zu haben; aber mein eigener Vorteil
will, daß ich eine Deutung dieses Vorfalls nicht zulasse, die mein
Freund ihm unterzulegen scheint; Sie erlauben mir daher, daß ich
fortfahre, und bei meinem Leben," setzte er hinzu, indem er errötete
und sein Auge höher leuchtete, "ich will Ihnen die reine Wahrheit
sagen.
"Das Mädchen bog über die Brücke ein, woher ich gekommen
war. Während ich schweigend mehr hinter als neben ihr ging, hatte
ich Zeit, sie zu betrachten. Ihre Gestalt, soweit sie der Mantel sehen
ließ, ihre ganze Haltung, besonders aber ihre Stimme war sehr
jugendlich, ihr Gang schnell, aber leicht und schwebend. Sie hatte
meinen Arm abgelehnt, als ich ihn zur Führung angeboten. Am
Ende der Brücke bog sie nach der Rue Mazarin ein. ,Ist Ihre Mutter
schon lange krank?' fragte ich, indem ich wieder an ihre Seite trat und
versuchte, durch den Schleier etwas von ihren Zügen zu erspähen.
Seit zwei Jahren,' antwortete sie seufzend; ,aber seit acht Tagen
ist sie recht elend geworden.' —,Waren Sie schon öfter an jenem Ort?'
Wo?' fragte sie. —,Auf der Brücke.' — ,Diesen Abend zum erstenmal,'
erwiderte sie. — ,Dann haben Sie sich keinen guten Platz gesucht
; andere Passagen sind frequenter.' Doch schon, indem ich dies
sagte, bereute ich, es gesagt zu haben; denn es mußte sie ja verletzen.
Mit unterdrücktem Weinen flüsterte sie: ,Ach, ich bin ja hier so unbekannt,
und — ich schämte mich, so ins Gedränge zu gehen.'
"Wie grenzenlos mußte das Elend sein, das dieses Geschöpf
zwang zu betteln. Zwar wollten auch mir, ich gestehe es, einigemal
solche Gedanken kommen, wie sie Faldner hatte, aber immer verschwanden
sie wieder, weil sie widersinnig, unnatürlich waren. Wenn
sie zu jener verworfenen Klasse von Mädchen gehörte, warum sollte
sie sich verhüllt an einen einsamen Ort stellen? Warum geflissentlich
eine Gestalt verbergen, die, soviel die Umrisse flüchtig zeigten, gewiß
zu den schöneren zu zählen war? Nein, es war gewiß wirkliches
Elend und jene zarte Verschämtheit Vor unverschuldeter Armut da,
die das Unglück so unbeschreiblich rührend macht.
"Hat Ihre Mutter einen Arzt?' fragte ich wieder nach einiger
Weile. — ,Sie hatte einen; aber als wir keine Arznei mehr kaufen
konnten, wollte er sie ins Spital des lncurables bringen lassen, und
—das konnte ich nicht ertragen. Ach Gott, meine arme Mutter ins
Spital!' Wie viel tiefer Schmerz lag in den letzten Worten dieses
Mädchens!
"Sie weinte, sie führte ihr Tuch unter dem Schleier ans Auge,
und Laterne und Teller, die sie in der anderen Hand trug, verhinderten
sie, den Mantel zusammenzuhalten; der Wind wehte ihn weit auseinander
, und ich sah, daß ich mich nicht betrogen hatte; sie war von
feiner, schlanker Taille; sie trug ein einfaches, soviel mein flüchtiger
Blick bemerkte, sehr reinliches Kleid. Sie haschte nach dem Mantel,
und indem ich ihr behilflich war, ihn wieder umzulegen, fühlte ich
ihre weiche, zarte Hand.
"Wir waren schon durch die Straßen Mazarin, St. Germain,
ECOLE ( DE Médecine und von dort durch einige kleine Seitenstraßen
gegangen, als sie auf einmal stehen blieb und klagte, sie habe den Weg
verfehlt. Ich fragte sie, in welcher Gegend sie wohne, und sie gab
St. Severin an. Ich war in Verlegenheit, denn diese Straße wußte
ich selbst nicht zu finden. Machte es Angst oder Kälte, ich sah sie heftiger
zittern. Ich sah mich um; ich bemerkte noch Licht in einem
Souterrain, wo Eau de vie verkauft wurde; ich bat sie, zu warten,
stieg hinab und erkundigte mich. Man wies mich zurecht, und ich
glaubte mich hinfinden zu können. Als ich heraufkam, hörte ich in
der Nähe laut reden; ich sah beim schwachen Schein einer Laterne,
wie sich das Mädchen heftig gegen zwei Männer wehrte, von denen
der eine ihre Hand, der andere den Mantel gefaßt hatte; sie lachten,
sie sprachen ihr zu; ich ahnete, was vorging, sprang herzu und riß dem
einen die Hand weg, die er gefaßt hatte; sprachlos, weinend klammerte
sie sich fest an meinen Arm.
'Meine Herren,' sagte ich, ,ihr sehet, ihr seid hier im Irrtum;
ihr werdet im Augenblick den Mantel von Mademoiselle loslassen!'
'Ach, Verzeihung, mein Herr!' erwiderte der, welcher ihren
Mantel gefaßt hatte. ,Ich sehe, Sie haben ältere Rechte auf Mademoiselle!'
Und lachend zogen sie weiter.
"Wir gingen weiter, das arme Kind zitterte heftig, sie hielt noch
immer meinen Arm fest, sie war nahe daran, niederzusinken.
'Nur Mut!' sagte ich zu ihr, .St. Severin ist nicht ferne, Sie
werden bald zu Hause sein.' Sie antwortete nicht, sie weinte noch
immer. Als wir in der Straße waren, die nach der Beschreibung
St. Severin sein mußte, blieb sie wieder stehen. ,Nein, Sie dürfen
nicht weiter mit mir gehen, mein Herr!' sagte sie. ,Es darf nicht sein.'
— 'Aber warum denn nicht, da Sie mich so weit mitgenommen haben?
Ich bitte, trauen Sie mir keine schlechten Absichten zu! Ich hatte
bei diesen Worten, ohne es zu wissen, ihre Hand ergriffen und vielleicht
gedrückt; sie entzog sie mir hastig und sagte: ,Vergeben Sie,
daß ich die Unschicklichkeit beging, Sie so weit mitzuführen; bitte
verlassen Sie mich jetzt!' Ich fühlte, daß der Auftritt vorhin sie tief
verletzt hatte, daß er ihr vielleicht gegen mich selbst Mißtrauen einflößte,
und eben dies rührte mich unbeschreiblich; ich nahm das Silber,
das mir Faldner gegeben, und wollte es ihr hinreichen; aber der Gedanke
, wie wenig diese kleine Gabe ihr helfen könne, zog meine Hand
zurück, und ich gab ihr das wenige Gold, das ich bei mir trug.
"Ihre Hand zuckte, als sie es nahm; sie schien es für Silber zu
halten, dankte mir aber mit zitternder, rührender Stimme und wollte
gehen.
'Noch ein Wort,' sagte ich und hielt sie auf; ,ich hoffe, Ihre Mutter
wird gesund werden; aber es könnte ihr doch noch an etwas gebrechen,
und Sie, mein Kind, sind nicht für solche Abendgänge wie der heutige
gemacht. Wollen Sie nicht heute über acht Tage um diesel Zeit
vor der Ecole Médecine sein, daß ich mich nach Ihrer Mutter
erkundigen kann?' Sie schien unschlüssig, endlich sagte sie: ,Ja.' —,Und
setzen Sie doch den Hut mit dem grünen Schleier wieder auf, daß ich
Sie erkenne,' fügte ich hinzu; sie bejahte es, dankte noch einmal, ging
eilend die Straße hin und war schnell in der Nacht verschwunden.
24.
"Als ich am Morgen nach dieser Begebenheit erwachte, schien
es mir, als hätte mir von diesem allem nur geträumt. Aber Faldner,
der bald herbeikam und mich nach seiner zarten Manier zu schrauben
anfing, riss mich aus meinem Zweifel. Die Sache schien mir, so recht
deutlich am Morgenlicht betrachtet, doch allzu fabelhaft, als daß ich
sie dem ungläubigen Freund hätte erzählen mögen. Man ist in neuerer
Zeit zu jenem Grad der Sittenverfeinerung gekommen, die schon ins
Gebiet der Unsittlichkeit hinüberstreift; man will in manchen Fällen
lieber wild, etwas liederlich und schlecht erscheinen, man gibt lieber
eine Zweideutigkeit zu, nur um nicht als ein Tor, als ein Sonderling,
als ein Mensch von schwachem Verstand und beschränkten Lebensansichten
zu gelten.
"Im Innern kränkte mich aber noch mehr als Faldners Schraubereien
eine Unruhe, ein Etwas, was ich nicht zu deuten wußte. Ich
machte mir Vorwürfe, daß ich nicht einmal ihr Gesicht gesehen hatte.
'Wozu,' sagte ich mir, ,wozu diese übertriebene Diskretion? Wenn
ich ein paar Napoleons hingebe, so kann ich doch um die Gunst bitten,
den Schleier etwas zu lüften?' Und doch, wenn ich mir das ganze
Betragen des Mädchens, das, so einfach es war, doch von Gemeinheit
auch nicht im geringsten etwas an sich hatte, zurückrief, wenn ich
bedachte, wie mich ihre edle Haltung, der gebildete Ton ihrer
Antworten anzog, so mußte ich mich, halb zu meinem Arger, rechtfertigen
. Es liegt etwas in der menschlichen Stimme, das uns, ehe wir
Züge und Auge, ehe wir den Stand des Sprechenden kennen, den Ton
angibt, in welchem wir mit ihm sprechen müssen. Wie unendlich, nicht
sowohl in der Form, als im Klang der Sprache, unterscheidet sich der
Gebildete vom Ungebildeten, und des Mädchens Töne waren so weich
und zart, ihre kurzen Antworten oft so aus der tiefsten Seele gesprochen
. Den ganzen Tag konnte ich diese Gedanken nicht los werden,
sogar abends in eine glänzende Gesellschaft von Damen begleitete
mich das arme Mädchen mit dem schwarzen Hütchen, dem grünen
Schleier und dem unscheinbaren Mantel.
"In den nächsten Tagen ärgerte ich mich über meine Torheit,
welche schuld war, daß das Mädchen erst nach acht Tagen wiedersehen
konnte; ich zählte die Stunden ab bis zu dem nächsten Freitag,
und es war, als hätte jene Hauptstadt der Welt, wie sie ihre Bewohner
nennen, nichts Reizendes mehr in sich, als die Bettlerin vom
Pont des Arts. Endlich, endlich erschien der Freitag. Ich brauchte
alle mögliche List, um mich auf diesen Abend von Faldner und den
übrigen Freunden loszumachen, und trat, als es dunkel wurde,
meinen Weg an. Ich hatte über eine Stunde zu gehen und Zeit
genug, über meinen Gang nachzudenken. ,Heute,' sagte ich zu mir,
heute wirst du ins reine kommen, was du von dieser Person zu denken
hast; du wirst ihr anbieten, mit ihr zu gehen; nimmt sie es an, so hast
du dich schon das erste Mal betrogen. Auch das Gesicht muß sie heute
zeigen.
"Ich war so eilends gegangen, daß es noch nicht einmal zehn
Uhr war, als ich auf dem Place I'Ecolo Médecine anlangte,
und —auf elf Uhr hatte ich sie ja erst bestimmt. Ich trat noch in ein
Cafe, durchblätterte gedankenlos eine Schar von Zeitungen; — endlich
schlug es elf Uhr.
"Auf dem Platz waren wenige Menschen und, so weit ich mein
Auge anstrengte, kein grüner Schleier zu sehen. Ich hielt mich immer
auf der Seite der Arzneischule, weil dort mehrere Laternen brannten.
Die Momente solchen Erwartens sind peinlich. Wenn sie an deinem
Gold genug hätte und gar nicht käme, wenn sie deine Gutherzigkeit
verlachten dachte ich, als ich den Platz wohl schon zehnmal auf- und
abgegangen war. Es schlug halb zwölf; schon fing ich an, über meine
eigene Torheit zu murren; da wehte im Schein einer Laterne, etwa
dreißig Schritte von mir, etwas Grünes; mein Herz pochte ungestümer
, ich eilte hin —sie war es. .Guten Abend,' sagte ich, indem
ich ihr die Hand bot, ,schön, daß Sie doch Wort gehalten; schon glaubte
ich, Sie werden nimmer kommen.' Sie verbeugte sich, ohne meine
Hand zu fassen, und ging an meiner Seite hin; sie schien sehr gerührt.
Mein Herr, mein edler Landsmann,' sprach sie mit bewegter Stimme,
ich mußte ja Wort halten, um Ihnen zu danken. Ich komme heute
gewiß nicht, um Ihre Güte aufs neue in Anspruch zu nehmen. Ach,
wie reich, wie freigebig haben Sie uns beschenkt! Kann Sie der innige
Dank einer Tochter, können die Gebete und Segenswünsche meiner
kranken Mutter Sie entschädigen?'
'Sprechen wir nicht davon,' erwiderte ich. ,Wie geht es Ihrer
Mutter?' —,Ich glaube, wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen,' antwortete
sie, ,der Arzt spricht zwar nichts Bestimmtes aus, aber sie
selbst fühlt sich kräftiger. O, wie danke ich Ihnen! Von Ihrem Geschenk
konnte ich ihr wieder kräftige Speisen bereiten, und glauben
Sie mir, der Gedanke, daß es noch so gute Menschen gibt, hat sie
beinahe ebensosehr gestärkt.'
'Was sagte Ihre Mutter, als Sie zu Hause kamen?' —,Sie war
sehr in Sorgen um mich, weil es schon so spät war,' erwiderte sie;
ach, sie hatte so ungern mir die Erlaubnis zu diesem Gang gegeben
und malte sich jetzt irgend ein Unglück vor, das mir begegnet sei. Ich
erzählte ihr alles; aber als ich mein Tuch öffnete und die Gaben, die
ich gesammelt hatte, hervorzog und Gold dabei war, Gold unter den
Kupfer- und Silberstücken, da erstaunte sie, und —' sie stockte und schien
nicht weiter reden zu können; ich dachte mir, die Mutter habe sie arger
Dinge beschuldigt, und forschte weiter; aber mit rührender Offenheit
gestand sie' .Die Mutter habe gesagt, der großmütige Landsmann
müsse entweder ein Engel, oder ein Prinz gewesen sein.'
'Weder das eine, noch das andere,' sagte ich ihr. ,Aber wie
weit haben Sie ausgereicht? Haben Sie noch Geld?'
'O, wir haben noch,' erwiderte sie mutig, wie es scheinen sollte;
aber mir entging nicht, daß sie vielleicht unwillkürlich dabei seufzte.
'Und was haben Sie noch?' sagte ich etwas bestimmter und
dringender.
'Wir haben eine Rechnung in der Apotheke davon bezahlt und
einen Monat am Hauszins, und der Mutter habe ich davon gekocht;
es ist aber immer noch übrig geblieben.
"Wie ärmlich mußten sie wohnen, wenn sie von diesem Gelde
eine Apothekerrechnung, einen Monat Hauszins bezahlen und acht
Tage lang kochen konnten! — ,Ich will aber genau wissen,' fuhr ich
fort, .was und wieviel Sie noch haben.
'Mein Herr!' sagte sie, indem sie beleidigt einen Schritt zurücktrat.
'Mein gutes Kind, das verstehen Sie nicht,' erwiderte ich, indem
ich ihr näher trat, ,oder Sie wollen es sich aus übertriebenem
Zartgefühl nicht gestehen; ich frage Sie ernstlich, wenn Sie mit den
paar Franken zu Rande sind, haben Sie Hilfe :u erwarten?'
'Nein,' sagte sie schüchtern und weich' ,keine!'
'Denken Sie an Ihre Mutter und verschmähen Sie meine Hilfe
nicht!' Ich hatte ihr bei diesen Worten meine Hand geboten; sie ergriff
sie hastig, drückte sie an ihr Herz und pries meine Güte.
Nun wohlan, so kommen Sie!' fuhr ich fort, indem ich ihren
in den meinigen legte; ,ich kam leider nicht gerade von Hause,
als ich hierher kam, und hatte mich nicht versehen; Sie werden daher
die Güte haben, mich einige Straßen zu begleiten bis in meine Wohnung,
daß ich Ihnen für die Mutter etwas mitgebe.' Sie ließ sich
schweigend weiter führen, und so angenehm mir der Gedanke war,
sie noch ferner unterstützen zu können, so war doch mein Gefühl
beinahe beleidigt, als sie ganz ohne Sträuben mitging — nachts in
die Wohnung eines Mannes; aber wie ganz anders kam es, als ich
dachte. Wir mochten wohl etwa zwei- oder dreihundert Schritte fortgegangen
sein, da stand sie stille und entzog mir ihren Arm. ,Nein,
es kann, es darf nicht sein,' rief sie, in Tränen ausbrechend. — ,Was
betrübt Sie auf einmal?' fragte ich verwundert, ,was darf nicht sein?'
'Nein, ich gehe nicht mit, ich darf nicht mit Ihnen gehen.'
'Aber, mein Gott,' erwiderte ich, indem ich mich etwas aufgebracht
stellte, .Sie haben doch wahrhaftig sehr wenig Vertrauen zu
mir; wenn nicht Ihre Mutter wäre, gewiß, ich ginge jetzt von Ihnen;
denn Sie tränken mich.'
"Sie nahm meine Hand, sie drückte sie bewegt. ,Habe ich Sie
denn beleidigt?' rief sie. .O, Gott weiß, das wollte ich nicht; verzeihen
Sie einem armen unerfahrenen Mädchen! Sie sind so großmütig,
und ich sollte Sie beleidigen?
'Nun denn, so komm,' sagte ich, indem ich sie weiter zog, ,es ist
keine Zeit zu verlieren, es ist spät, und der Weg ist weit.' Aber sie
blieb stehen, weinte und flüsterte: ,Nein, um keinen Preis gehe ich
weiter.'
'Aber vor wem fürchtest du dich denn ? Es kennt dich ja kein
Mensch, es sieht dich ja keine Seele; du kannst getrost mit mir kommen.'
Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich! Nein, nein, es
darf nicht sein, dringen Sie nicht weiter in mich!' Sie zitterte; ich
fühlte wohl, wenn ich ihr die Not der Mutter noch einmal recht
dringend vorstellte, so ging sie mit; aber die Angst des Mädchens
rührte mich tief.
'Gut, so bleiben Sie hier,' sprach ich. ,Aber sagen Sie mir,
können Sie vielleicht arbeiten:
'O ja, mein Herr,' erwiderte sie, ihre Tränen trocknend.
'Könnten Sie vielleicht meine feinere Wäsche besorgens
'Nein,' antwortete sie sehr bestimmt. ,Dazu sind wir nicht eingerichtet.
"Hier ist ein weißes Tuch,' fuhr ich fort. ,Können Sie mir vielleicht
ein halb Dutzend besorgen und fertig machen?'
"Sie besah das Tuch und sagte: ,Mit Vergnügen, und recht fein
will ich es nähen!' Zu meiner eigenen Beschämung mußte ich jetzt
dennoch Geld hervorziehen, obgleich ich es vorhin verleugnet hatte.
'Kaufen Sie sechs solcher Tücher,' fuhr ich fort, ,und können Sie
wohl drei davon bis Sonntag abend fertig machen?' Sie versprach
es; ich gab ihr noch etwas für die Mutter und sagte ihr, daß ich heute
darauf nicht eingerichtet sei, aber Sonntag mehr tun könne. Sie
dankte innig; es schien sie zu freuen, daß ich ihr Arbeit gegeben; denn
noch einmal plauderte sie davon, wie schön sie die Tücher machen
wolle, ja, wenn ich nicht irre, so fragte sie mich sogar, ob sie nicht einen
englischen Saum einnähen dürfe. Ich sagte ihr alles zu; aber als sie
nun Abschied nehmen wollte, hielt ich sie noch fest. ,Eines müssen Sie
mir übrigens noch zu Gefallen tun,' sprach ich, ,Sie können es gewiß
und leicht.'
'Und was?' fragte sie. ,Wie gerne will ich alles für Sie tun.
'Lassen Sie mich diesen neidischen Schleier aufheben und Ihr
Gesicht sehen, daß ich doch eine Erinnerung an diesen Abend habe.
"Sie wich mir aus und hielt ihren Schleier fester. ,Bitte, lassen
Sie das,' erwiderte sie und schien ein wenig mit sich selbst zu kämpfen,
Sie haben ja die schöne Erinnerung an Ihre Wohltaten; die Mutter
hat mir streng verboten, den Schleier zu lüften, und ich versichere Sie,'
setzte sie hinzu, ,ich bin häßlich wie die Nacht, Sie würden nur erschrecken!'
"Aber dieser Widerstand reizte mich nur noch mehr; ein wirklich
häßliches Mädchen, dachte ich, spricht nicht so von ihrer Häßlichkeit;
ich wollte den Schleier fassen, aber wie ein Aal war sie entwischt.
Dimanche! à revoir!' rief sie und eilte davon. Erstaunt blickte ich
ihr nach; etwa fünfzig Schritte von mir blieb sie stehen, winkte mir
mit meinem weißen Tuch und rief mit ihrer silberhellen Stimme:
Gute Nacht!'
25.
"In den nächsten Tagen beschäftigte mich der Gedanke, welchem
Stand das Mädchen wohl angehören könnte. Je lebhafter ich mir
ihre gebildete Sprache, ihren zarten Sinn zurückrief, desto höher
steigerte ich sie in meinen Gedanken. Darüber wenigstens mußte sie
mir Gewißheit geben, nahm ich mir vor und beschloß, mich nicht
wieder so abspeisen zu lassen wie mit dem Schleier. Der Sonntag
kam. Du wirst dich noch jenes Nachmittags erinnern, Faldner, wo
wir mit den Freunden in Montmorency im Garten des großen Dichters
saßen. Ihr wolltet spät in der Nacht zu Hause fahren, und ich
trieb immer zu einer frühen Rückfahrt, und als ihr dennoch bliebet,
da machte ich mich trotz eures Scheltens davon. Freilich glaubtest du
damals nicht, was ich vorgab, ich könnte die Nachtluft nicht vertragen;
aber daß ich zu einem Rendezvous mit der Bettlerin vom Pont
des Arts eile, konntest du auch nicht denken. Sie war diesmal die
erste auf dem Platze, und weil sie mir die Tücher zu bringen hatte,
war sie schon bange geworden, ich könnte sie verfehlt haben und glauben
, sie werde nicht Wort halten. Mit beinahe kindischer Freude und,
wie es mir schien, noch größerem Zutrauen als früher plauderte sie,
indem sie mir beim Schein einer Straßenlaterne die Tücher zeigte.
"Sie schien es gerne zu hören, daß ich ihre feine Arbeit lobte.
'Sehen Sie, auch Ihren Namen habe ich hereingezeichnet,' sagte sie,
indem sie das zierliche E. v. F. in der Ecke vorwies. Dann wollte sie
mir eine Menge Silbergeld als Überschuß zurückgeben, und nur meine
bestimmte Erklärung, daß sie mich dadurch beleidige, konnte sie bewegen
, es als Arbeitslohn anzunehmen.
"Ich bestellte aufs neue wieder Arbeit, weil ich sah, daß dem
zarten Sinn des Mädchens ein solcher Weg meiner Gaben mehr zusagte,
und diesmal waren es Jabots und Manschetten, die ich bestellte.
Ihre Mutter war nicht kränker geworden, konnte aber das Bett noch
nicht verlassen; doch schon dieser Mittelzustand erschien ihr tröstlich.
Als die Mutter abgehandelt war, wagte ich es, sie geradehin zu fragen,
wie denn eigentlich ihre Verhältnisse seien.
"Die Geschichte, die sie mir in wenigen Worten preisgab, ist in
Frankreich so alltäglich, daß sie beinahe jedem Armen zum Aushängeschild
dienen muß. Ihr Vater war Offizier in der großen Armee gewesen,
war nach der ersten Restauration der Bourbons auf halben
Sold gesetzt worden, hatte nachher während der hundert Tage wieder
Partei ergriffen und war bei Mont St. Jean mit den Garden gefallen
. Er mochte ziemlich unvorsichtig gehandelt haben; denn seine
Witwe verlor die Pension und lebte von da an ärmlich und elend. In
den zwei letzten Jahren fristeten sie ihr Leben meist vom Verkauf
ihrer geringen Habe und waren jetzt eben an jenen äußersten Grad
des Elends gekommen, wo dem Armen nichts übrig bleibt, als aus
der Welt zu gehen.
"Ich fragte das Mädchen, ob sie nicht ihr Verhältnis hätte
bessern können, wenn sie etwa ihre Mutter auf andere Weise zu
unterstützen gesucht hätte.
'Sie meinen, wenn ich einen Dienst genommen hätte?' erwiderte
sie ohne alle Empfindlichkeit. ,Sehen Sie, das war nicht möglich.
Vor der Krankheit der Mutter war ich viel zu jung, kaum vierzehn
Jahre vorüber, und dann wurde sie auf einmal so elend, daß sie das
Bett nicht verlassen konnte; da brauchte sie also immer jemand um
sich, und konnte ich denn ihre Pflege einer Fremden überlassen? Ja,
wenn sie gesund geblieben wäre, da hätte ich mit Freuden alle unsere
früheren Verhältnisse verleugnet, wäre etwa in einen Putzladen gegangen
oder als Gouvernante in ein anständiges Haus; denn ich habe
manches gelernt, mein Herr; aber so ging es ja nicht!'
"Auch diesmal bat ich vergeblich, den Schleier zu lüften. Die
Andeutungen, die sie über ihr Alter gegeben, reizten mich, ich gestehe
es, nur noch mehr, das Gesicht dieses Mädchens zu sehen, die wenig
über sechzehn Jahre haben konnte; aber sie bat mich so dringend,
davon abzulassen, ihre Mutter habe ihr so triftige Gründe angegeben,
daß es nimmer geschehen könne.
"Wir trafen uns von da an alle drei Tage. Ich hatte immer
einige kleine Arbeiten für sie, und pünktlich war sie damit fertig. Je
fester ich in dem Betragen blieb, das ich einmal gegen sie angenommen,
je strenger ich mich immer in den Grenzen des Anstandes hielt, desto
zutraulicher und offener wurde das gute Mädchen. Sie gestand mir
sogar, daß sie zu Hause die drei Tage über immer an den nächsten
Abend denke. Und ging es mir denn anders? Tag und Nacht beschäftigte
ich mich mit diesem sonderbaren Wesen, das mir durch
seinen gebildeten Geist, durch sein liebenswürdiges Zartgefühl, durch
sein eigentümliches Verhältnis zu mir immer interessanter wurde.
"Der Frühling war indessen völlig heraufgekommen, und die
Zeit war da, die ich mit Faldner schon längst zu einer Reise nach England
festgesetzt hatte. Mancher hält es vielleicht für töricht, was ich
ausspreche, aber wahr ist es, daß ich an diese Reise nur mit Widerwillen
dachte; Paris an sich hatte nichts Interessantes mehr für mich;
aber jenes Mädchen hatte alle meine Sinne so gefangen genommen,
daß ich einer längeren Trennung nur mit Wehmut entgegensah.
Ausweichen konnte ich nicht, ohne mich lächerlich zu machen; denn
es war sonst kein bündiger Grund vorhanden, die Reise aufzuschieben;
ich schämte mich sogar vor mir selbst und stellte mir die ganze Torheit
meines Treibens vor. Ich beschloß die Abreise; aber gewiß hat sich
wohl keiner je so wenig auf England gefreut als ich.
26.
"Acht Tage zuvor sagte ich es dem Mädchen; sie erschrak, sie
weinte. Ich bat sie, ihre Mutter zu fragen, ob ich sie nicht besuchen
dürfe; sie sagte es zu. Das nächste Mal aber brachte sie mir sehr betrübt
die Antwort, daß mich ihre Mutter bitten lasse, diesen Besuch
aufzugeben, der für ihren Gemütszustand allzu angreifend sein würde.
Ich hatte jenen Besuch eigentlich nur darum nachgesucht, um mein
Mädchen bei Tag und ohne Schleier zu sehen; ich verlangte dies also
aufs neue wieder; aber sie bat mich, am Abend vor meiner Abreise
noch einmal zu kommen, sie wolle ihre Mutter so lange bestürmen, bis
sie die Erlaubnis erhalte, den Schleier aufzuheben. unvergesslich wird
mir immer dieser Abend sein. Sie kam, und meine erste Frage war,
ob die Mutter es erlaubt habe; sie sagte Ja und hob von selbst den
Schleier auf. Der Mond schien helle, und zitternd, begierig blickte ich
unter den Hut. Aber die Erlaubnis schien nur teilweise gegeben zu
sein; denn meine Schöne trug sogenannte Venetianeraugen, die den
oberen Teil ihres Gesichtes verhüllten. Doch wie schön, wie reizend
waren die Partien, welche frei waren! Eine feine zierliche Nase,
schöngeformte blühende Wangen, ein kleiner lieblicher Mund, ein
Kinn, wie aus Wachs geformt und ein schlanker, blendend weißer
Hals; über die Augen konnte ich nicht recht ins reine kommen, aber
sie schienen mir dunkel und feurig.
"Sie errötete, als ich sie lange entzückt betrachtete. ,Werden Sie
mir nicht böse,' flüsterte sie, ,daß ich diese Halbmaske vornahm! Die
Mutter wollte es von Anfang ganz abschlagen, nachher gestattete sie
es nur unter dieser Bedingung; ich war selbst recht ärgerlich darüber;
aber sie sagte mir einige Gründe, die mir einleuchteten.'
'Und was sind diese Gründe?' fragte ich.
'Ach, mein Herr!' erwiderte sie wehmütig, ,Sie werden ewig in
unserem Herzen leben, aber Sie selbst sollen uns ganz vergessen; Sie
sollen mich nie, nie wiedersehen, oder wenn Sie mich auch sehen, nicht
erkennen.'
'Und meinen Sie denn, ich werde Ihre schönen Züge nicht wiedererkennen
, wenn ich auch Ihre Augen, Ihre Stirne nicht sehen darf?'
Die Mutter meint,' antwortete sie, .das sei nicht wohl möglich;
denn wenn man ein Gesicht nur zur Hälfte gesehen, sei das Wiedererkennen
schwer.'
'Und warum soll ich dich denn nicht wiedersehen, nicht wiedererkennen?'
'"Sie weinte bei dieser Frage, sie drückte meine Hand und sagte:
Es darf ja nicht sein! Was kann Ihnen denn daran liegen, ein unglückliches
Mädchen wiederzuerkennen! und nein, die Mutter hat
recht; es ist besser so.'
"Ich sagte ihr, daß meine Reise nicht lange dauern werde, daß
ich vielleicht schon nach zwei Monaten wieder in Paris sein könne, daß
ich sie wiederzusehen hoffe. Sie weinte heftiger und verneinte es. Ich
drang in sie, mir zu sagen, warum sie glaube, ich werde sie nicht mehr
sehen.
'Mir ahnt,' erwiderte sie, ,ich sehe Sie heute zum letztenmal; ich
glaube, meine Mutter wird nicht lange mehr leben, —der Arzt sagte
es mir gestern, — und dann ist ja alles vorbei! Und wenn sie auch
länger lebt, in London werden Sie ein so armes Geschöpf, wie ich bin,
lange vergessen.'
"Ihr Schmerz machte mich unendlich weich; ich sprach ihr Mut
ein; ich gelobte ihr, sie gewiß nicht zu vergessen; ich nahm ihr das Versprechen
ab, immer den ersten und fünfzehnten eines jeden Monats
auf diesen Platz zu kommen, damit ich sie wiederfinden könnte; sie
sagte es unter Tränen lächelnd zu, als ob sie wenig Hoffnung hätte.
Nun, so lebe wohl auf Wiedersehen,' sagte ich, indem ich sie in meine
Arme schloß und einen kleinen einfachen Ring an ihre Hand steckte,
lebe wohl und denke an mich und vergiß nicht den Ersten und Fünfzehnten!'
'Wie könnte ich Sie vergessen!' rief sie, indem sie weinend zu mir
aufblickte. ,Aber ich werde Sie nimmer wiedersehen; Sie nehmen
Abschied auf immer.'
"Ich konnte mich nicht enthalten, ihren schönen Mund zu küssen;
sie errötete, ließ es aber geduldig geschehen; ich steckte ihr einen Tresorschein
in die kleine Hand, sie sah mich noch einmal recht aufmerksam
an und drückte sich heftiger an mich. ,Auf Wiedersehen,' sprach ich,
indem ich mich sanft aus ihren Armen wand. Der letzte Moment des
Abschieds schien ihr Mut zu geben; sie zog mich noch einmal an ihr
Herz; ich fühlte einen heißen Kuß auf meinen Lippen. ,Auf immer!
Lebe wohl auf immer!' rief sie schmerzlich, riß sich los und eilte über
den Platz hin.
"Ich habe sie nicht wiedergesehen! Nach einem Aufenthalt von
drei Monaten kehrte ich von London nach Paris zurück; ich ging am
fünfzehnten auf den Place l'Ecolo Médecine, ich wartete
über eine Stunde. mein Mädchen erschien nicht. Noch oft am ersten
und fünfzehnten wiederholte ich diese Gänge; wie oft ging ich
durch die Straße St. Severin, blickte an den Häusern hinauf, fragte
wohl auch nach einer armen deutschen Frau und ihrer Tochter! Aber
ich habe nie wieder etwas von ihnen erfahren, und das reizende Wesen
hatte recht, als es mir beim Abschied zurief: ,Auf immer!"'
27.
Der junge Mann hatte seine Erzählung mit einem Feuer vorgetragen,
das ihr große Wahrheit verlieh und wenigstens auf den
weiblichen Teil der Gesellschaft tiefen Eindruck zu machen schien. Josephe
weinte heftig, und auch die andern Fräulein und Frauen
wischten sich hin und wieder die Augen. Die Männer waren ernster
geworden und schienen mit großem Interesse zuzuhören; nur der
Baron lächelte hin und wieder seltsam, stieß bei dieser oder jener
Stelle seinen Nachbar an und flüsterte ihm seine Bemerkungen zu.
Jetzt, als gröben geschlossen hatte, brach er in ein lautes Gelächter
aus. "Das heiße ich mir sich gut aus der Affäre ziehen," rief er. "Ich
habe es ja immer gesagt, mein Freund ist ein Schlaukopf. Seht nur,
wie er die Damen zu rühren wußte, der Schelm! Wahrhaftig, meine
Frau heult, als habe ihr der Pfarrer die Absolution versagt. Das ist
köstlich, auf Ehre! Dichtung und Wahrheit! Ja, das hast du deinem
Goethe abgelauscht, Dichtung und Wahrheit, es ist ein herrlicher
Fröben fühlte sich durch diese Worte aufs neue verletzt. "Ich
sagte dir schon," sagte er unmutig, "daß ich die Dichtung oder Erdichtung
gänzlich beiseite ließ und nur die Wahrheit sagte; ich hoffe, du
wirst es als solche ansehen.
"Gott soll mich bewahren," lachte der Baron. "Wahrheit! Das
Mädchen hast du dir unterhalten, Bester, das ist die ganze Geschichte,
und aus deinen Abendbesuchen bei ihr hast du uns einen kleinen Roman
gemacht. Aber gut erzählt, gut erzählt, das lasse ich gelten."
Der junge Mann errötete vor Zorn; er sah, wie Josephe ihren
Gatten starr und ängstlich ansah; er glaubte zu sehen, daß auch sie
vielleicht seinen Argwohn teile und schlecht von ihm denke; die Achtung
dieser Frau wenigstens wollte er sich durch diese gemeinen
Scherze nicht nehmen lassen. "Ich bitte, schweigen wir davon!" rief
er; "ich habe nie in meinem Leben Ursache gehabt, irgend etwas zu
bemänteln oder zu entstellen, kann es aber auch nicht dulden, wenn
andere mir dieses Geschäft abnehmen wollen. Ich sage dir zum
letztenmal, Faldner, daß sich, auf mein Wort, alles so verhält, wie ich
es erzählte."
"Nun, dann sei es Gott geklagt," erwiderte jener, indem er die
Hände zusammenschlug. "Dann hast du aus lauter übertriebenem
Edelsinn und theoretischer Zartheit ein paar hundert Franken an
ein listiges Freudenmädchen weggeworfen, das dich durch ein gewöhnliches
Histörchen von Elend und kranker Mutter köderte; hast nichts
davon gehabt als einen armseligen Kuß! Armer Teufel! In Paris
sich von einer Metze so zum Narren halten zu lassen!"
Noch mehr als die vorige Beschuldigung reizte den jungen
Mann dieses spöttische Mitleid und das Gelächter der Gesellschaft auf,
die auf seine Kosten den schlechten Witz des Barons applaudierte; er
wollte eben, aufs tiefste gekränkt, die Gesellschaft verlassen, als ein
sonderbarer, schrecklicher Anblick ihn zurückhielt. Josephe war, bleich
wie eine Leiche, langsam aufgestanden; sie schien ihrem Gatten etwas
erwidern zu wollen; aber in demselben Moment sank sie ohnmächtig
wie tot zusammen. Bestürzt sprang man auf, alles rannte durcheinander,
die Frauen richteten die Ohnmächtige auf, die Männer
fragten sich verwirrt, wie dies denn so plötzlich gekommen sei; Froben
hatte der Schrecken beinahe selbst ohnmächtig gemacht, und der Baron
murmelte Flüche über die zarten Nerven der Weiber, schalt auf die
grenzenlose Dezenz, auf die ängstliche Beobachtung des Anstandes,
Wovon man ohnmächtig werde, suchte bald die Gesellschaft zu beruhigen
, bald rannte er wieder zu seiner Frau; alles sprach, riet, schrie
zusammen, und keiner hörte, keiner verstand den andern.
Josephe kam nach einigen Minuten wieder zu sich; sie verlangte nach
ihrem Zimmer; man brachte sie dahin, und die Mädchen und Frauen
drängten sich neugierig und geschäftig nach; sie gaben hunderterlei
Mittel an, die wider die Ohnmacht zu gebrauchen, sie erzählten,
wie ihnen da und dort dasselbe begegnet, sie wurden darüber einig,
daß die große Anstrengung der Frau von Faldner, die vielen Sorgen
und Geschäfte an diesem Tage diesen Zufall notwendig haben herbeiführen
müssen, und die Sorge, der Baron möchte sich vielleicht blamieren
, da er ohnedies schon recht unanständig gewesen, habe die
Sache noch beschleunigt.
Der Baron suchte indessen unter den Männern die vorige Ordnung
wiederherzustellen. Er ließ fleißig einschenken, trank diesem
oder jenem tapfer zu und suchte sich und seine Gäste mit allerlei Trost
gründen zu beruhigen. "Es kommt von nichts," rief er, "als von dem
Unwesen der neuern Zeit; jede Frau von Stande hat heutzutage
wirklich schwache Nerven, und wenn sie die nicht hat, so gilt sie nicht
für vornehm; Ohnmächtigwerden gehört zum guten Ton; der Teufel
hat diese verrückten Einrichtungen erfunden. Und auch daher kommt
es, daß man nichts mehr beim rechten Namen nennen darf. Alles
soll so überaus zart, dezent, fein, manierlich hergehen. daß man darüber
aus der Haut fahren möchte. Da hat sie sich jetzt alteriert, daß
ich einigen Scherz riskierte, was doch die Würze der Gesellschaft ist,
daß ich über dergleichen zarte, feingefühlige Geschichten nicht außer
mir kam vor Rührung und Schmerz und mir einige praktische Konjekturen
erlaubte. Was da! Unter Freunden muß dergleichen erlaubt
sein! Und ich hätte dich für gescheiter gehalten, Freund Froben, als
daß du nur dergleichen übelnehmen könntest.
Aber der, an den der Baron den letzten Teil seiner Rede richtete,
war längst nicht mehr unter den Gästen: Froben war auf sein Zimmer
gegangen im Unmut, im Groll auf sich und die Welt. Noch konnte
er sich diesen sonderbaren Auftritt nicht ganz enträtseln; seine Seele,
halb noch aufgeregt von dem Zorn über die Roheit des Freundes,
halb ergriffen von dem Schrecken über den Unfall der Freundin, war
noch zu voll, zu stürmisch bewegt, um ruhigeren Gedanken und der
Überlegung Raum zu geben. "Wird auch sie mir nicht glauben,"
sprach er kummervoll zu sich, "wird auch sie den schnöden Worten
ihres Gatten mehr Gewicht geben als der einfachen ungeschmückten
Wahrheit, die ich erzähltes Was bedeuteten jene seltsamen Blicke, womit
sie mich während meiner Erzählung zuweilen ansah? Wie konnte
sie diese Begebenheit so tief ergreifen, daß sie erbleichte, zitterte? Sollte
es denn wirklich wahr sein, daß sie mir gut ist, daß sie innigen Anteil
an mir nimmt, daß sie verletzt wurde von dem Hohne des Freundes,
der mich so tief in ihren Augen herabsetzen mußte? Und was wollte
sie denn, als sie aufstand, als sie sprechen wollte? Wollte sie den unschicklichen
Reden Faldners Einhalt tun, oder wollte sie mich sogar
verteidigen ?"
Er war unter diesen Worten heftig im Zimmer auf und ab
gegangen; sein Blick fiel jetzt auf die Rolle, die jenes Bild enthielt;
er rollte es auf, er sah es bitter lächelnd an. "Und wie konnte ich mich
auch von einem Gefühl der Beschämung hinreißen lassen, mein Herz
Menschen aufzuschließen, die es doch nicht verstehen, von Dingen zu
reden, die solch überaus vornehmen Leuten so fremd sind; das
Schlechte, das Gemeine ist ihnen ja lieber, scheint ihnen natürlicher
als das Außerordentliche; wie konnte ich von deinen lieben Wangen,
von deinen süßen Lippen zu diesen Puppen sprechen? O du armes,
annen Kind; wie viel edler bist du in deinem Elend als diese Fuchsjäger
und ihr Gelichter, die wahren Jammer und verschämte Armut
nur vom Hörensagen kennen und jede Tugend, die sich über das Gemeine
erhebt, als Märchen verlachen! Wo du jetzt sein magst? Und
ob du des Freundes noch gedenkst und jener Abende, die ihn so glücklich
machten!"
Seine Augen gingen über, als er das Bild betrachtete, als er bedachte,
welch bitteres Unrecht die Menschen heute diesem armen
Wesen angetan. Er wollte seine Tränen unterdrücken; aber sie
strömten nur noch heftiger. Es gab eine Stelle in der Brust des
jungen Mannes, wohin, wie in ein tiefes Grab, sich alle Wehmut,
alle zurückgedrängten Tränen des Grames still und auf lange versammelten
; aber Momente wie dieser, wo die Schmerzen der Erinnerung
und seine Hoffnungslosigkeit so schwer über ihn kamen,
sprengten die Decke dieses Grabes und ließen den langverhaltenen
Kummer um so mächtiger überströmen, je mehr sein gebrochener Mut
in Wehmut überging.
28.
Froben überdachte am andern Morgen die Vorfälle des
gestrigen Tages und war mit sich uneinig, ob er nicht lieber jetzt gleich
ein Haus verlassen sollte, wo ihn ein längerer Aufenthalt vielleicht
noch öfter solchen Unannehmlichkeiten aussetzte, als die Türe aufging,
und der Baron niedergeschlagen und beschämt hereintrat. "Du bist
gestern abend nicht zu Tisch gekommen, du hast dich heute noch nicht
sehen lassen," hub er an, indem er näher kam, "du zürnst mir; aber
sei vernünftig und vergib mir! Siehe, es ging mir wunderlich; ich
hatte den Tag über zuviel Wein getrunken, war erhitzt, und — du
kennst meine schwache Seite — da kann ich das Necken nicht lassen
Ich bin gestraft genug, daß der schöne Tag so elend endete und daß
mein Haus fest vier Wochen lang das Gespräch der Umgegend sein
wird. Verbittere mir nicht vollends das Leben und sei mir wieder
freundlich wie zuvor!"
"Lasse lieber die ganze Geschichte ruhen," entgegnete Froben
finster, indem er ihm die Hand bot; "ich liebe es nicht; über dergleichen
mich noch weiter auszusprechen; aber morgen will ich fort, weiter;
hier bleibe ich nicht länger."
"Sei doch kein Narr!" rief Faldner, der dies nicht erwartet hatte
und ernstlich erschrak. "Wegen einer solchen Szene gleich aufbrechen
zu wollen! Ich sagte es ja immer, daß du ein solcher Hitzkopf bist.
Nein, daraus wird nichts; und hast du mir nicht versprochen, zu warten,
bis Briefe da sind vom Don in W .? Nein, du darfst mir nicht schon
wieder weggehen; und wegen der Gesellschaft hast du dich nicht zu
schämen; sie alle, besonders die Frauen, schalten mich tüchtig aus,
sie gaben dir völlig recht und sagten, ich sei an allem schuld."
"Wie geht es deiner Frau fragte Fröben, um diesen Erinnerungen
auszuweichen.
"Ganz hergestellt, es war nur so ein kleiner Schrecken, weil sie
fürchtete, wir werden ernstlich aneinander geraten; sie wartet mit
dem Frühstück auf dich; komm jetzt mit herunter und sei vernünftig
und nimm Räson an! Ich muß ausreiten, nimm es mir nicht übel,
die Mühle kommt heute in Gang. Du bist also wieder ganz wie
zuvor:"
"Nun ja doch!" sagte der junge Mann ärgerlich. "Laß doch einmal
die ganze Geschichte ruhen!" Er folgte mit sonderbaren Gefühlen
die er selbst nicht recht zu deuten wußte, dem Baron, der vergnügt
über die schnelle Versöhnung seines Freundes ihm voraneilte,
seiner Frau schnell berichtete, was er ausgerichtet habe, und dann
das Schloß verließ, um seine Mühle in Gang zu bringen.
Hatte sich denn heute auf einmal alles so ganz anders gestaltet,
oder war nur er selbst anders geworden? Josephens Züge, ihr ganzes
Wesen schien Froben verändert, als er bei ihr eintrat. Eine stille Wehmut
, eine weiche Trauer schien über ihr Antlitz ausgegossen, und doch
war ihr Lächeln so hold, so traulich, als sie ihn willkommen hieß. Sie
schrieb ihr gestriges Ubel allzugroßer Anstrengung zu und schien überhaupt
von dem ganzen Vorfall nicht gerne zu sprechen. Aber Froben,
dem an der guten Meinung seiner Freundin so viel lag, konnte es nicht
ertragen, daß sie beinahe geflissentlich seine Erzählung gar nicht berührte.
"Nein," rief er, "ich lasse Sie nicht so entschlüpfen, gnädige
Frau! An dem Urteil der andern über mich lag mir wenig; was
kümmert es mich, ob solche Alltagsmenschen mich nach ihrem gemeinen
Maßstab messen! Aber wahrhaftig, es würde mich unendlich
schmerzen, wenn auch Sie mich falsch beurteilten, wenn auch Sie Gedanken
Raum gäben, die mich in Ihren Augen so tief herabsetzen
müssen, wenn auch Sie die Wahrheit jener Erzählung bezweifelten,
die ich freilich solchen Ohren nie hätte preisgeben sollen. O, ich beschwöre
Sie, sagen Sie recht aufrichtig, was Sie von mir und jener
Geschichte denken!"
Sie sah ihn lange an; ihr schönes, großes Auge füllte sich mit
Tränen; sie drückte seine Hand. "O Fröben, was ich davon denke?"
sagte sie. "Und wenn die ganze Welt an der Wahrheit zweifeln würde,
ich wüßte dennoch gewiß, daß Sie wahr gesprochen! Sie wissen ja
nicht, wie gut ich Sie kenne!"
Er errötete freudig und küsste ihre Hand. "Wie gütig sind Sie,
daß Sie mich nicht verkennen! Und gewiß, ich habe alles, alles, genau
nach der Wahrheit erzählt."
"Und dieses Mädchen," fuhr sie fort, "ist wohl dieselbe, von
welcher Sie mir letzthin sagten? Erinnern Sie sich nicht, als wir von
Viktor und Klotilde sprachen, daß Sie mir gestanden, Sie lieben
hoffnungslos? Ist es dieselbe?"
"Sie ist es," erwiderte er traurig; "nein, Sie werden mich wegen
dieser Torheit nicht auslachen; Sie fühlen zu tief, als daß Sie dies
lächerlich finden könnten. Ich weiß alles, was man dagegen sagen
kann; ich schalt mich selbst oft genug einen Toren, einen Phantasten,
der einem Schatten nachjage; ich weiß ja nicht einmal, ob sie mich
liebt —"
"Sie liebt Sie!" rief Josephe unwillkürlich aus; doch über ihre
eigenen Worte errötend, setzte sie hinzu: "Sie muß Sie lieben. Glauben
Sie denn, so viel Edelmut müsse nicht tiefen Eindruck auf ein
Mädchenherz von siebzehn Jahren machen? Und in allen ihren
Äußerungen, die Sie uns erzählten, liegt, es müßte mich alles trügen,
oder es liegt gewiß ein bedeutender Grad von Liebe dann."
Der junge Mann schien mit Entzücken auf ihre Worte zu lauschen.
"Wie oft rief ich mir dies selbst zu," sprach er, " wenn ich so
ganz ohne Trost war und traurig in die Vergangenheit blickte! Abei
wozu denn? Vielleicht nur, um mich noch unglücklicher zu machen
Ich habe oft mit mir selbst gekämpft, habe im Gewühl der Menschen
Zerstreuung, im Drang der Geschäfte Betäubung gesucht — es wollte
mir nie gelingen. Immer schwebte mir jenes holde, unglückliche Wesen
vor; mein einziger Wunsch war, sie nur noch einmal zu sehen. Es ist
noch jetzt mein Wunsch, ich darf es Ihnen gestehen; denn Sie wissen
mein Gefühl zu würdigen; auch diese Reise unternahm ich nur, weil
meine Sehnsucht mich hinaustrieb, sie zu suchen, sie noch einmal zu
sehen. Und wie ich denn so recht über diesen Wunsch nachdenke, so
finde ich mich sogar oft auf dem Gedanken, sie auf immer zu besitzen!
—
Sie blicken weg, Josephe? O, ich verstehe; Sie denken, ein Geschöpf
, das so tief im Elend war, dessen Verhältnisse so zweideutig
sind, dürfte ich nie erwählen; Sie denken an das Urteil der Menschen;
an alles dies habe auch ich recht oft gedacht, aber —so wahr ich lebe!
— wenn ich sie so wiederfände, wie ich sie verlassen, ich würde niemand
als mein Herz fragen. Würden Sie mich denn so strenge beurteilen
, Josephe?"
Sie antwortete ihm nicht; noch immer abgewandt, ihre Stirne
in die Hand gestützt, bot sie ihm ein Buch hin und bat ihn, vorzulesen.
Er ergriff es zögernd, er sah sie fragend an; es war das einzige Mal,
daß er sich in ihr Betragen nicht recht zu finden wußte; aber sie winkte
ihm, zu lesen, und er folgte, wiewohl er gerne noch länger sein Herz
hätte sprechen lassen. Er las von Anfang zerstreut; aber nach und
nach zog ihn der Gegenstand an, entführte seine Gedanken mehr und
mehr dem vorigen Gespräch und riß ihn endlich hin, so daß er im Fluß
der Rede nicht bemerkte, wie die schöne Frau ihm ein Angesicht voll
Wehmut zuwandte, daß ihre Blicke voll Zärtlichkeit an ihm hingen,
daß ihr Auge sich oft mit Tränen füllen wollte, die sie nur mühsam
wieder unterdrückte. Spät erst endete er, und Josephe hatte sich soweit
gefaßt, daß sie mit Ruhe über das Gelesene sprechen konnte'
aber dennoch schien es dem jungen Mann, als ob ihre Stimme hie
und da zittere, als ob die frühere gütige Vertraulichkeit, die sie dem
Freund ihres Gatten bewiesen, gewichen sei; er hätte sich unglücklich
gefühlt, wenn nicht jener leuchtende Strahl eines wärmeren Gefühles,
der aus ihrem Auge hervorbrach, ihn an seiner Beobachtung irre gemacht
hätte.
29.
Da der Baron erst bis abend zurückkehren wollte, Josephe sich
aber nach dieser Vorlesung in ihre Zimmer zurückgezogen hatte, so
beschloß Froben, um diesen quälenden Gedanken auf einige Stunden
wenigstens zu entgehen, die heiße Mittagszeit vor der Tafel zu verschlafen
. In jener Laube, die ihm durch so manche schöne Stunde,
die er mit der liebenswürdigen Frau hier zugebracht, wert geworden
war, legte er sich auf die Moosbank und entschlief bald. Seine Sorgen
hatte er zurückgelassen, sie folgten ihm nicht durch das Tor der Träume;
nur liebliche Erinnerungen verschmolzen und mischten sich zu neuen
reizenden Bildern; das Mädchen aus der St. Severinstraße mit ihrer
schmelzenden Stimme schwebte zu ihm her und erzählte ihm von ihrer
Mutter; er schalt sie, daß sie so lange auf sich habe warten lassen, da er
doch ja den Ersten und Fünfzehnten gekommen sei; er wollte sie
küssen zur Strafe, sie sträubte sich, er hob den Schleier auf, er hob das
schöne Gesichtchen am Kinn empor, und siehe — es war Don Pedro,
der sich in des Mädchens Gewänder gesteckt hatte, und Diego, sein
Diener, wollte sich totlachen über den herrlichen Spaß. — Dann
war er wieder mit einem kühnen Sprung der träumenden Phantasie
in Stuttgart in jener Gemäldesammlung. Man hatte sie anders geordnet;
er durchsuchte vergebens alle Säle nach dem teuren Bilde;
es war nicht zu finden; er weinte, er fing an zu rufen und laut zu
klagen; da kam der Galeriediener herbei und bat ihn, stille zu sein und
die Bilder nicht zu wecken, die jetzt alle schlafen. Auf einmal sah er in
einer Ecke das Bild hängen, aber nicht als Brustbild wie früher, sondern
in Lebensgröße; es sah ihn neckend, mit schelmischen Blicken an,
es trat lebendig aus dem Rahmen und umarmte den Unglücklichen;
er fühlte einen heißen, langen Kuß auf seinen Lippen. Wie es zu
geschehen pflegt, daß man im Traum zu erwachen glaubt und träumend
sich sagt, man habe ja nur geträumt, so schien es auch jetzt dem
jungen Mann zu gehen. Er glaubte, von dem langen Kuß erweckt,
die Augen zu öffnen, und siehe, auf ihn niedergebeugt hatte sich ein
blühendes, rosiges Gesicht, das ihm bekannt schien. Vor Lust des
süßen Atems, der liebewarmen Küsse, die er einsog, schloß er wieder
die Augen; er hörte ein Geräusch, er schlug sie noch einmal auf und
sah eine Gestalt in schwarzem Mantel, schwarzem Hütchen mit grünem
Schleier entschweben; als sie eben um eine Ecke biegen wollte, kehrte
sie ihm noch einmal das Gesicht zu: es waren die Züge des geliebten
Mädchens, und neidisch wie damals hatte sie auch jetzt die Halbmaske
vorgenommen. "Ach, es ist ja doch nur ein Traum!" sagte er lächelnd
zu sich, indem er die Augen wieder schließen wollte; aber das Gefühl,
erwacht zu sein, das Säuseln des Windes in den Blättern der Laube,
das Plätschern des Springbrunnens war zu deutlich, als daß er
davon nicht völlig wach und munter geworden wäre. Das sonderbare,
lebhafte Traumbild stand noch vor seiner Seele; er blickte nach der
Ecke, wo sie verschwunden war; er sah die Stelle an, wo sie gestanden,
sich über ihn hingebeugt hatte; er glaubte die Küsse des geliebten
Mädchens noch auf den Lippen zu fühlen. "Soweit also ist es mit dir
gekommen," sprach er erschreckend zu sich, "daß du sogar im Wachen
träumst, daß du sie bei gesunden Sinnen um dich siehst! Zu welchem
Wahnwitz soll dies noch führen? Nein, daß man so deutlich träumen
könne, hätte ich nie geglaubt. Es ist eine Krankheit des Gehirns, ein
Fieber der Phantasie, ja, es fehlt nicht viel, so möchte ich sogar behaupten,
Traumbilder können Fußstapfen hinterlassen; denn diese
Tritte hier im Sande sind nicht von meinem Fuß." Sein Blick fiel auf
die Bank, wo er gelegen; er sah ein zierlich gefaltetes Papier und nahm
verwundert auf. Es war ohne Aufschrift, es hatte ganz die Form
eines Villon doux: er zauderte einen Augenblick, ob er es öffnen dürfe;
aber neugierig, wer sich hier wohl in solcher Form schreiben könnte,
entfaltete er das Papier — ein Ring fiel ihm entgegen. Erhielt ihn
in der Hand und durchflog den Brief; er las:
"Oft bin ich Dir nahe, Du mein edler Retter und Wohltäter;
ich umschwebe Dich mit jener unendlichen Liebe, die meine Dankbarkeit
anfachte, die selbst mit meinem Leben nicht verglühen
wird. Ich weiß, Dein großmütiges Herz schlägt noch immer für
mich; Du hast Länder durchstreift, um mich zu suchen, zu finden;
doch umsonst bemühst Du Dich —vergiß ein so unglückliches Geschöpf!
was wolltest Du auch mit mir? Wenn auch mein höchstes
Glück in dem Gedanken liegt, ganz Dir anzugehören, so kann es ja
doch nimmermehr sein! Auf immer! sagte ich Dir schon damals —
ja, auf immer liebe ich Dich, aber — das Schicksal will, daß wir
getrennt seien auf immer, daß nie an Deiner Seite, vielleicht nur
in Deiner gütigen Erinnerung leben darf
Die Bettlerin vom Pont des Arts."
***Der junge Mann glaubte noch immer oder aufs neue zu träumen;
er sah sich mißtrauisch um, ob seine Phantasie ihn denn so ganz verführt
habe, daß er in einer Traumwelt lebe; aber alle Gegenstände
um ihn her, die wohlbekannte Laube, die Bank, die Bäume, das
Schloß in der Ferne, alles stand noch wie zuvor, er sah, er wachte, er
träumte nicht. Und diese Zeilen waren also wirklich vorhanden,
waren nicht ein Traumbild seiner Phantasie? "Hat man vielleicht
einen Scherz mit mir machen wollen ?" fragte er sich dann; "ja gewiß;
es kommt wohl alles von Josephe; vielleicht war auch jene Erscheinung
nur eine Maske?" Indem er das Papier zusammenrollte, fühlte er
den Ring, der in dem Briefchens verborgen war, in seiner Hand.
Neugierig zog er ihn hervor, betrachtete ihn und erblaßte. Nein, das
wenigstens war keine Täuschung; es war derselbe Ring, den er dem
Mädchen in jener Nacht gegeben, als er auf immer von ihr Abschied
nahm. So sehr er im ersten Augenblick versucht war, hier an übernatürliche
Dinge zu glauben, so erfüllte ihn doch der Gedanke, daß er
ein Zeichen von dem geliebten Wesen habe, daß sie ihm nahe sei, mit
so hohem Entzücken, daß er nicht mehr an die Worte des Briefes
dachte; er zweifelte keinen Augenblick, daß er sie finden werde, er
drückte den Ring an die Lippen, er stürzte aus der Laube in den
Garten. und seine Blicke streiften auf allen Wegen, in allen Büschen
nach der teuren Gestalt. Aber er spähte vergebens; er fragte die
Arbeiter im Garten, die Diener im Schlosse, ob sie keine Fremde
gesehen haben; man hatte sie nicht bemerkt. Bestürzt, beinahe keiner
überlegung fähig, kam er zu Tische; umsonst forschte Faldner nach
dem Grund seiner verstörten Blicke, umsonst fragte ihn Josephe, ob
er denn vielleicht von gestern her noch so trübe gestimmt sei. "Es ist
mir etwas begegnet," antwortete er, "das ich ein Wunder nennen
müsste, wenn nicht meine Vernunft sich gegen den Aberglauben
sträubte."30
Dieser sonderbare Vorfall und die Worte des Briefchens, das
er wohl zehnmal des Tages überlas, hatten den jungen Mann ganz
tiefsinnig gemacht. Er fing an nachzusinnen, ob es denn möglich sei,
daß überirdische Wesen in das Leben der Sterblichen eingreifen
können. Wie oft hatte er über jene Schwärmer gelacht, die an Erscheinungen,
an Boten aus einer anderen Welt, an Schutzgeister, die
den Menschen umschweben, wie an ein Evangelium glaubten. Wie
oft hatte er ihnen sogar die physische Unmöglichkeit dargetan, daß
körperlose Wesen dennoch sichtbar erscheinen, daß sie dies oder jenes
verrichten können! Aber was ihm selbst begegnet war, wie sollte er
es deuten? Oft nahm er sich vor, alles zu vergessen, gar nicht mehr
daran zu denken, und im nächsten Augenblick quälte er sich ab, seine
Erinnerung recht lebhaft vor das Auge treten zu lassen: deutlicher als
je erschienen dann wieder ihre Züge; er hatte sie ja gesehen, als sie sich
an der Ecke noch einmal umwandte; er hatte den holden Mund, diese
rosigen Wangen, dieses Kinn, diesen schlanken Hals wiedergesehen!
Er holte jenes Bild herbei, er verglich Zug um Zug, er deckte die Hand
auf Augen und Stirne der Dame. und es war das holde Gesichtchen,
wie es unter der Halbmaske hervorschaute,
Er hatte sich, weil Josephe am nächsten Morgen im Hause allzusehr
beschäftigt war, um ihn zu unterhalten, wieder in die Laube
gesetzt. Er las, und während des Lesens beschäftigte ihn immer der Gedanke,
ob sie ihm wohl wiedererscheinen werde. Die Hitze des Mittags
wirkte betäubend auf ihn; mit Mühe suchte er sich wach zu halten, er
las eifriger und angestrengter; aber nach und nach sank sein Haupt
zurück, das Buch entfiel seinen Händen; er schlief.
Beinahe um dieselbe Zeit wie gestern erwachte er; aber keine
Gestalt mit grünem Schleier War weit und breit zu sehen; er lächelte
über sich selbst, daß er sie erwartet habe, er stand traurig und unzufrieden
auf, um ins Schloß zu gehen; da erblickte er neben sich ein
weißes Tuch, das er sich nicht erinnern konnte, hingelegt zu haben;
er sah es an, es mußte wohl dennoch sein gehören, denn in der Ecke
war sein Namenszug eingenäht. "Wie kommt dies Tuch bierherz"
rief er bewegt, als er bei genauerer Besichtigung entdeckte, daß es
eines jener Tücher sei, die ihm das Mädchen hatte fertigen müssen
und die er wie Heiligtümer sorgfältig verschloß. "Soll dies aufs neue
ein Zeichen sein?" Er entfaltete das Tuch und suchte, ob nicht vielleicht
wieder einige Zeilen eingelegt seien. Es war leer; aber in einer
anderen Ecke des Tuches entdeckte er noch einige Lettern, die wie sein
Name eingenäht waren; zierlich und nett standen dort die Worte:
Auf immer ! "Also dennoch hier gewesen!" rief der junge Mann
unmutig. "Und ich konnte ihre liebliche Erscheinung schnöderweise
verschlafen? Warum gibt sie mir wohl ein neues Zeichen? Warum
diese traurigen Worte wiederholen, die mich schon damals und erst
gestern wieder so unglücklich machten?" Auch heute befragte er nach
der Reihe die Domestiken, ob nicht eine fremde Person im Garten
gewesen sei? Sie verneinten es einstimmig, und der alte Gärtner
sagte, seit drei Stunden sei gar niemand durch den Garten gegangen
als nur die gnädige Frau. "Und wie war sie angezogen?" fragte
Fröben, auf sonderbare Weise überrascht. , Ach, Herr, da fragt Ihr
mich zu viel," antwortete der Alte; "sie ist halt angezogen gewesen
in vornehmen Kleidern, aber wie, das weiß ich nicht zu beschreiben;
als sie vor mir vorbeiging, nickte sie freundlich und sagte: ,Guten Tag,
Jakob!"'
Der junge Mann führte den Alten beiseite: "Ich beschwöre dich,"
flüsterte er, "trug sie nicht einen grünen Schleier? Hatte sie nicht
eine große schwarze Brille auf?"
Der alte Gärtner sah ihn mißtrauisch und kopfschüttelnd an.
"Eine schwarze Brille?" fragte er. "Die gnädige Frau eine große
schwarze Brillen Ei du Herrgott, wo denken Sie hin! Sie hat so
scharfe, klare Augen wie eine Gemse und soll eine Brille auf der Nase
tragen, mit Respekt zu melden, eine große, schwarze Brille, wie sie
die alten Weiber in der Kirche auf die Nase klemmen, daß es feiner
schnarrt, wenn sie singen? Nein, gnädiger Herr, solche schlechte
Gedanken müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen, das ist nichts; und
nehmen Sie es nicht ungütig, aber eine Mütze sollten Sie doch aufsetzen
bei dieser Hitze, es ist von wegen des Sonnenstichs." So sprach
der Alte und ging kopfschüttelnd weiter; den übrigen Dienstboten
aber deutete er mit sehr verdächtiger Bewegung des Zeigefingers
ans Hirn an, daß es mit dem jungen Herrn Gast hier oben nicht recht
richtig sein müsse.31.
Auch jetzt kam Froben zu keinem anderen Resultat, als daß das
Betragen jenes Mädchens, das er so innig liebte, unbegreiflich sei,
und dieses rätselhafte Spiel mit seinem Schmerz, mit seiner Sehnsucht
beschäftigte ihn so ganz auschließlich, daß ihm vieles entging,
was ihm sonst wohl hätte auffallen müssen. Josephe kam mit verweinten
Augen zu Tische; der Baron war verstimmt und einsilbig
und schien seinem inneren Unmut, der ihm um die Stirne lag und
deutlich aus den Augen sprach, hie und da durch einen Fluch über
die schlechte Küche und die noch schlechtere Haushaltung Luft machen
zu müssen. Die unglückliche Frau ließ alles still und geduldig über sich
ergehen; sie schickte zuweilen, als wolle sie Hilfe und Trost suchen,
einen flüchtigen Blick nach Fröben hinüber; ach, sie bemerkte nicht,
wie ihr Gatte diese Blicke belauerte, wie seine Stirne sich röter färbte,
wenn er ihre Augen auf diesem Wege traf.
An Fröbens, Auge und Ohr ging dies vorüber als etwas, an das
er sich schon gewöhnt hatte; er gab sich nicht einmal die Mühe, Josephe
um die Ursache dieses Aufbrausens zu befragen. Es fiel ihm
nicht auf, daß sie zurückhaltender gegen ihn war im Beisein Faldners;
er schrieb es der gewöhnlichen Geschäftigkeit seines Freundes zu, daß
ihn dieser in den nächsten Tagen nötigte, mit ihm da und dorthin auf
das Gut zu gehen und in Wald und Feld oft einen großen Teil des
Tages mit Messungen und Berechnungen hinzubringen. Als er aber
eines Morgens, als ihn Faldner schon gestiefelt und gespornt erwartete
, eine kleine Unpäßlichkeit vorschützte, um diesen unangenehmen
Feldbesuchen zu entgehen, als er arglos hinwarf, daß er doch
Josephen auch einmal wieder vorlesen müsse, da wollte es ihm doch
auffallend dünken, daß der Baron unmutig rief: "Nein, sie soll mir
nichts mehr lesen, gar nichts mehr! Es geht ohnedies seit einiger Zeit
alles konträr. Das könnte ich vollends brauchen, wenn sie den ganzen
Morgen mit Lesen zubrachte und solche Romanideen im Kopfe trüge,
wie ich schon welche habe spuken sehen. Lies dir in Gottes Namen
selbst vor, lieber Fröben, und nimm mir nicht übel, wenn ich mein
Weib anders placiere! Du gehst in den Garten nach dem Frühstück,
Josephe! Es soll heute Gemüse ausgestochen werden; nachher bist
du so gütig und gehst zu Pastors! Du bist dort seit lange einen Besuch
schuldig." Mit diesen Worten nahm er seine Reitpeitsche vom Tische
und schritt davon.
"Was soll denn das? Was hat er denn heute?" fragte Froben
staunend die junge Frau, die kaum ihre Tränen zurückzuhalten vermochte.
"O, er ist so ziemlich wie sonst," erwiderte sie, ohne aufzublicken.
"Ihre Anwesenheit hat ihn einige Zeitlang aus dem gewöhnlichen
Geleise gebracht; Sie sehen, er ist jetzt wieder wie zuvor."
"Aber, mein Gott," rief er unmutig, "so schicken Sie doch eine
Magd in den Garten!"
"Ich darf nicht," sagte sie bestimmt, "ich muß selbst zusehen; er
will es ja haben."
"Und den Besuch bei Pastors —?"
"Muß ich machen, Sie haben es ja gehört, daß ich ihn machen
m u ß ; lassen wir das, es ist einmal so. Aber Sie," fuhr Josephe fort,
"Sie, mein Freund, scheinen mir seit einigen Tagen verändert, gar
nicht mehr so munter, so zutraulich wie früher. Sollten Sie sich vielleicht
nicht mehr hier gefallen? Sollte mein Mann, sollte vielleicht
ich Ursache Ihrer Verstimmung sein?"
Fröben fühlte sich verlegen; er war auf dem Punkt, der Freundin
jene sonderbaren Vorfälle im Garten zu gestehen; aber der Gedanke,
sich vor der klugen jungen Frau eine Blöße zu geben, hielt ihn zurück.
"Sie wissen," sagte er ausweichend, "daß ich in den letzten Tagen
Briefe aus S. bekam. Und wenn ich verstimmt erscheine, so tragen
diese Briefe allein die Schuld." Sie sah ihn zweifelhaft an; eine Antwort
schien auf ihren Lippen zu schweben; aber, wie wenn sie den
Mangel an Vertrauen in dem Blicke des jungen Mannes gelesen und
sich dadurch gekränkt gefühlt hätte, zuckten ihre schönen Lippen und
drängten die Antwort zurück; sie zog schweigend die Glocke, befahl
ihrer Zofe, ihr Hut und Schirm zu bringen, und ging dann, ohne ihn
zu diesem Gang einzuladen, in den Garten an die Arbeit.
Als der junge Mann einige Stunden nachher ebenfalls in den
Garten hinabstieg und nach Josephe fragte, hieß es, sie sei zu Pastors
gegangen. Er eilte der Laube zu, er setzte sich mit pochendem Herzen
nieder. Heute hatte er sich vorgenommen, nicht einzuschlafen. "Ich
will doch sehen," sagte wr zu sich "ob dieses Wesen, das mich so geheimnisvoll
umschwebt, noch ein drittes Zeichen für mich hat? Ich will
mich wie zum Schlummer niederlegen, und —so wahr ich lebe! —
Wenn es wieder erscheint, will ich es haschen und schauen, welcher
Natur es sei." Erlas, bis der Mittag herangekommen war; dann
legte er sich nieder und schloß die Augen. Oft wollte sich der Schlummer
wirtlich über ihn herabsenken; aber Erwartung, Unruhe und sein
fester Wille, der die Mohnkörner von ihm ferne hielt, ließen ihn wach
bleiben. Er mochte wohl eine halbe Stunde so gelegen haben, als die
Zweige der Laube rauschten. Eröffnete die Augen kaum ein wenig
und sah, wie zwei weiße Hände die Zweige behutsam teilten, vermutlich
um eine Aussicht auf den Schlummernden zu öffnen. Dann
knisterten leise, leise Schritte im Sand. Erblickte verstohlen nach
dem Eingang der Laube, und sein Herz wollte zerspringen voll freudiger
Ungeduld, als er sein Mädchen sah im schwarzen Mantel und
Hut, den grünen Schleier zurückgeschlagen, die schwarzen Maskenaugen
vor den oberen Teil des schönen Gesichtes gebunden.32.
Sie nahte auf den Zehenspitzen. Ersah, wie auf ihrem Gesicht
ein höheres Not aufstieg, als sie näher trat. Sie betrachtete den
Schläfer lange; sie seufzte tief und schien Tränen abzutrocknen.
Dann trat sie nahe heran; sie beugte sich über ihn herab, ihr Atem
berührte ihn wie ein Himmelsbote, der die Nähe ihrer süßen Lippen
ansagte; sie senkte sich tiefer, und ihr Mund legte sich auf den seinigen
so sanft, wie das Morgenrot sich auf den Hügel senkt.
Da hielt er sich nicht länger; schnell schlang er seinen Arm um
ihren Leib, und mit einem kurzen Angstschrei sank sie in die Knie. Er
sprang erschrocken auf, er glaubte sie ohnmächtig; aber sie war nur
sprachlos und zitterte heftig; er hob sie auf er zog sie, erfüllt von der
Wonne des Wiedersehens, an seiner Seite auf die Bank nieder, er
bedeckte ihren Mund mit glühenden Küssen; er drückte sie fest an sich:
"O, so habe ich dich wieder, endlich, endlich wieder, du geliebtes
Wesen!" rief er; "du bist kein Trugbild, du lebst, ich halte dich in
meinen Armen wie damals und liebe dich wie damals und bin glücklich,
selig; denn du liebst ja auch mich!" Eine hohe Glut bedeckte ihre
Wangen, sie sprach nicht, sie suchte vergebens sich aus seinen Armen
zu winden. "Nein, jetzt lasse ich dich nichtmehr," sprach er, und Tränen,
Tränen des Glücks hingen an seinen impern: "jetzt halte ich dich
fest, und keine Welt darf dich von mir reißen. Und komm, hinweg mit
dieser neidischen Maske! Ganz will ich dein schönes Antlitz schauen,
ach, es lebte ja immer in meinen Träumen!" Sie schien mit der
letzten Kraft seine Hand von der Halbmaske abhalten zu wollen, sie
atmete schwer, sie rang mit ihm; aber die trunkene Lust des jungen
Mannes, nach so langer Entbehrung sich so unaussprechlich glücklich
zu wissen, gewährte ihm einen leichten Sieg. Er hielt ihre Arme mit
der einen Hand, zitternd stieß er mit der anderen den Hut zurück,
band die Maske los und erblickte — die Gattin seines Freundes.
"Josephe!" rief er, wie in einen Abgrund niedergeschmettert,
und seine Gedanken drehten sich im Ringe. "Josephe!"
Bleich, erstarrt, tränenlos saß sie neben ihm und sagte wehmütig
lächelnd: "Ja, Josephe,"
"Sie haben mich also getäuscht?" sagte er bitter, indem alle
Hoffnung, alle Seligkeit des vorigen Augenblicks an ihm vorüberflog.
"O, dieses Possenspiel konnten Sie uns ersparen! Doch," fuhr er fort,
indem ein Gedanke ihn durchblitzte, " um Gottes willen, wo haben
Sie den Ring her, woher das Tuch?"
Sie errötete von neuem, sie brach in Tränen aus, sie verbarg
ihr Haupt an seiner Brust. "Nein," rief er, "Antwort muß ich haben;
es ist mein Ring, das Tuch —ich beschwöre Sie, wie kam beides in
Ihre Hände? Woher haben Sie den Ring?"
"Von dir !" flüsterte sie, indem sie sich beschämt fester an ihn
drückte.
Da fiel ein Lichtstrahl in Fröbens Seele; noch blendete ihn dies
zu helle Licht; aber er hob sanft ihr Haupt in die Höhe und sah sie an
mit Blicken voll Verwunderung und Liebe. "Du bist es? Träume
ich denn wieder?" sprach er, nachdem er sie lange angeblickt. "Sagtest
du nicht, du seiest mein süßes Mädchen? O Gott, welcher Schleier lag
denn auf meinen Augen? Ja, das sind ja deine holden Wangen, das
ist ja dein reizender Mund, der mich heute nicht zum erstenmal küßte!"
Eine hohe Glut bedeckte ihre Wangen. Sie sah ihn voll Wonne
und Entzücken an. "Was wäre aus mir geworden ohne dich, du edler
Mann!" rief sie, indem sich in Tränen der Schimmer ihrer Augen
brach. "Ich bringe dir den Segen meiner guten Mutter; du hast ihre
letzten Tage leicht gemacht und die Decke des Elends gelüftet, die so
schwer auf ihrer kranken Brust lag. O, wie kann ich dir danken? Was
wäre ich geworden ohne dich! Doch —" fuhr sie fort, indem sie mit
ihren Händen das Gesicht bedeckte, "was bin ich denn geworden?
Das Weib eines anderen, deines Freundes Weib!"
Er sah, wie ein unendlicher Schmerz ihren Busen hob und senkte,
wie durch die zarten Finger ihre Tränen gleich Quellen herabrieselten.
Er fühlte, wie innig sie ihn liebe, und kein Gedanke an einen Vorwurf,
daß sie einem anderen als ihm gehören könnte, kam in seine Seele.
"Es ist so," sagte er traurig, indem er sie fester an sich drückte, als
könne er sie dennoch nicht verlieren. "Es ist so; wir wollen denken, es
sollte so sein, es habe so kommen müssen, weil wir vielleicht zu glücklich
gewesen wären. Doch in diesem Moment bist du mein. Wirf alles
von dir, alle Gedanken, alle Pflichten! Denke, du kommst herüber
über den Platz der Arzneischule, und ich erwarte dich; o komm, umarme
mich so wie damals. ach, nur noch ein einziges Mal!"
In Erinnerung verloren hing sie an seinem Hals; hinter ihren
düsteren Blicken schien der Gedanke an die Wirklichkeit sich zu verlieren;
heller und heller, freundlicher und immer freundlicher schien
die Erinnerung aufzutauchen; ein holdes Lächeln zog um ihren Mund
und senkte sich auf ihren Wangen in zarte Grübchen. "Und kanntest
du mich denn nicht?" fragte sie lächelnd. —
"Und du kanntest mies)
nicht?" fragte er, sie voll Zärtlichkeit betrachtend. "Ach!" antwortete
sie, "ich hatte mir damals deine Züge recht abgelauscht und tief in
mein Herz geschrieben; aber wahrlich, dich hätte ich nimmer erkannt.
Es mochte wohl auch daher kommen, daß ich dich nur immer bei Nacht
sah, in den Mantel gewickelt, den Hut tief in der Stirne, und wie konnt'
ich auch denken —freilich, als du am ersten Abend Faldner zuriefst:
Auf Wiedersehen,' da kam mir der Ton so bekannt vor, als hätte ich
ihn schon gehört; aber ich lachte mich immer selbst aus über die
törichten Vermutungen. Nachher war es mir hie und da, als müßtest
du der sein, den ich meinte; doch zweifelte ich immer wieder; aber als
du am Sonntag nur Pont des Arts genannt hattest, da ging auf
einmal eine eigene Sonne auf deinem Gesicht auf; du schienest ganz
in Erinnerung zu leben, und mit den ersten Worten war es mir klar,
daß du, du es bist ! Aber freilich, mich konntest du nicht wiedererkennen
—nicht wahr, ich bin recht bleich geworden?"
"Josephe," erwiderte er, " wo waren meine Sinne? Wo mein
Auge, mein Ohr, daß ich dich nicht erkannte? Gleich bei deinem ersten
Anblick flog ein freudiger Schreck durch meine Seele; du glichst so ganz
jenem Bilde, das ich durch einen wahrhaften Kreislauf der Dinge
als dir ähnlich gefunden und geliebt hatte; aber die Entdeckung über
das Geschlecht deiner Mutter führte mich in eine Irrbahn; ich sah in
dir nur noch die ähnliche Tochter der schönen Laura, und oft, während
ich neben dir saß, streifte mein Geist feme, weithin nach — dir!"
"O Gott!" rief Josephe, "ist es denn wahr, ist es möglich? Kannst
du mich denn noch lieben?"
"Ob ich es kann? —Aber darf ich denn? Gott im Himmel, du
heißt ja Frau von Faldner; sage mir nur um des Himmels willen,
wie fügte sich dies alles? Wie hast du auch nicht ein einziges Mal mehr
mich erwarten mögen?"
33.
Sie stillte ihre Tränen, sie faßte sich mit Mühe, um zu sprechen.
"Siehe," sagte sie, "es war, als ob ein feindliches Geschick alles nur so
geordnet hätte, um mich recht unglücklich zu machen. Als du weg warst,
hatte ich keine Freude mehr. Jene Abende mit dir waren mir so unendlich
viel gewesen. Siehe, schon von dem ersten Moment an, als
du in der lieben Muttersprache deinen Begleiter um Geld batest, von
da an schlug mein Herz für dich; und als du mit so unendlichem Edelmut,
mit soviel Zartsinn für uns sorgtest, ach, da hätte ich dich oft an
mein Herz schließen und dir gestehen mögen, daß ich dich wie ein
höheres Geschöpf anbete. Ich weiß nicht, was mir für dich zu tun zu
schwer gewesen wäre; und wie groß, wie edel hast du dich gegen mich
benommen! Du gingst, — ich weinte lange; denn ein schmerzliches
Gefühl sagte mir, daß es auf immer geschieden sei; acht Tage, nachdem
du abgereist warst, starb meine arme Mutter sehr schnell. Was
du mir damals noch gegeben, reichte hin, meine Mutter zu beerdigen
und ihr Andenken nicht in Unehre geraten zu lassen. Eine Dame, es
war die Gräfin Landskron, die in unserer Nachbarschaft wohnte und
von uns Armen hörte, ließ mich zu sich kommen. Sie prüfte mich in
allem, sie durchsehaute die Papiere meiner Mutter, die ich ihr geben
mußte, genau; sie schien zufrieden und nahm mich als Gesellschaftsfräulein
an. Wir reisten; ich will nicht beschreiben, wie mein Herz
blutete, als ich dieses Paris verlassen mußte; es fehlten nur noch vierzehn
Tage, bis die Zeit um war, die du zu deiner Rückkehr bestimmtest;
daun wäre ich am ersten auf den Platz gegangen, hätte dich noch einmal
gesprochen, noch einmal von dir Abschied genommen! Es sollte
nicht so sein, und als wir aus der St. Severinstraße über der wohlbekannten
Platz der Ecole de Médecine hinführen, da wollte mein Herz
brechen, und ich sagte zu mir: ,Auf immer!' Eduard, ich habe nie
wieder von dir gehört, dein Name war mir unbekannt, du mußtest ja
die Bettlerin längst vergessen haben; ich lebte von der Gnade fremder
Leute, ich hatte manches Bittere zu tragen; ich trug es, es war ja nicht
das Schmerzlichste. Als aber die Gräfin in dieser Gegend auf ihr Gut
zog, als Faldner sich um mich bewarb, als ich merkte, daß sie es gutmütig
für eine gute Versorgung halte, vielleicht auch meiner überdrüssig
war —nun, ich war ja nur ein einziges Mal glücklich gewesen,
konnte nimmer hoffen, es wieder zu werden; das übrige war ja so
gleichgültig — da wurde ich seine Frau.
"Armes Kind! An diesen Faldner — warum denn gerade du mit
so weicher Seele, mit so zartem Sinn, mit so viel giltigem Anspruch
auf ein zum mindesten edleres Los, warum gerade du seine Frau?
Doch es ist so; Josephe, ich kann, ich darf keinen Tag mehr hier sein;
ich habe ihn bei allem, was er Rohes haben mag, einst Freund genannt,
bin jetzt sein Gastfreund, und wenn auch alles nicht wäre, wir dürfen
ja nicht zusammen glücklich sein!" Es lag ein unendlicher Schmerz in
seinen Worten; er küßte die Augen der schönen Frau, nur um durch
den Gram, der in ihnen wohnte, nicht noch weicher zu werden.
"O, nur noch einen Tag!" flüsterte sie zärtlich; "hab' dich ja jetzt eben
erst gefunden, und du denkst schon zu entfliehen. Nur noch einen
Morgen wie dieser! Siehe, wenn du weg bist, da verschließt sich wieder
die Türe meines Glückes auf immer; ich werde Hartes ertragen müssen,
und da muß ich doch ein wenig Erinnerung mir aufsparen, von der ich
zehren kann in der endelosen Wüste."
"Höre, ich will Faldner alles gestehen," sprach nach einigem
Sinnen der junge Mann, "ich will ihm alles vormalen, daß es ihn
selbst rühren muß; er liebt dich doch nicht, du ihn nicht und bist unglücklich
; er soll dich mir abtreten. Mein Haus liegt nicht so schön wie
dieses Schloß; meine Güter kannst du vom Belvedere auf dem Dache
übersehen, du verließest hier großen Wohlstand; aber wenn du einzögest
in mein Haus, wollte ich dir meine Hände als Teppich unterlegen
, auf den Händen wollte ich dich tragen, du solltest die Königin
sein in meinem Hause, und ich dein erster, treuer Diener!"
Sie blickte schmerzlich zum Himmel auf, sie weinte heftiger. "Ach
ja, wenn ich eine Ketzerin wäre und deines Glaubens, dann ginge es
wohl; aber wir sind ja gut katholisch getraut worden, und das scheidet
nur der Tod! O, du großer Gott, wie unglücklich machen oft diese
Gesetze! Welch eine Seligkeit mit dir, bei dir zu sein, immer für dich
zu sorgen, an deinen Blicken zu hängen und alle Tage dir durch zärtliche
Liebe ein Tausendteil von dem heimzugehen, was du an meiner
lieben Mutter und an mir getan."
"Also dennoch auf immer?" erwiderte er traurig; "also nur noch
morgen, und dann für immer scheiden?"
"Für immer!" hauchte sie kaum hörbar, indem sie ihn fester an
ihre Lippen schloß.
"Hier also findet man dich, du niederträchtige Metze!" schrie in
diesem Augenblicke ein dritter, der neben dieser Gruppe stand; sie
sprangen erschreckt auf; zitternd vor Zorn, knirschend vor Wut, stand
der Baron, in der einen Hand ein Papier, in der anderen die Reitpeitsche
haltend, die er eben aufhob, um sie über den schönen Nacken
der Unglücklichen herabschwirren zu lassen. Froben fiel ihm in den
Arm, entwand ihm mit Mühe die Peitsche und warf sie weit hinweg.
"Ich bitte dich," sagte er zu dem Wütenden, "nur hier keine Szene!
Deine Leute sind im Garten, du schändest dich und dein Haus durch
einen solchen Auftritt."
"Was?" schrie jener, "ist mein Haus nicht schon genug geschändet
durch diese niederträchtige Person, durch dieses Bettlerpack, das ich
in meinem Haus hatte? Meinst du, ich kenne deine Handschrift nicht?"
fuhr er fort, indem er ihr da:, Papier hinstreckte; "das ist ja ein süsses
Briefchen an den Herm Galan hier, an den Romanhelden. Also eine
Dirne mußte ich heiraten, die du unterhieltest, und als du ihrer satt
warest, sollte der ehrliche Faldner sie zur gnädigen Frau machen;
dann kommt man nach sechs Monaten so zufällig zu Besuch, um den
Hörnern des Gemahls noch einige Enden anzusetzen. Das sollst du
mir bezahlen, Schandbube! Aber dieses Bettelweib mag immer
wieder mit Teller und Laterne sich am Pont des Arts aufstellen oder
von deinem Sündenlohn leben. Meine Knechte sollen sie mit Hetzpeitschen
vom Hof jagen!"34.
Der Mann von gediegener Bildung hat in solchen Momenten
ein entschiedenes Übergewicht über den rohen, der, von Wut zur Unbesonnenheit
hingerissen, unsicher ist, was er beginnen soll. Ein Blick
auf Josephe, die bleich, zitternd, sprachlos auf der Moosbank saß,
überzeugte Froben, was hier zu tun sein. Erbot ihr den Arm und
führte sie aus der Laube nach dem Schlosse. Wütend sah ihnen der
Baron nach; er war im Begriff, seine Knechte zusammenzurufen, um
seine Drohung zu erfüllen; aber die Furcht, seine Schande noch größer
zu machen, hielt ihn ab. Er rannte hinauf in den Saal, wo Josephe
auf dem Sofa lag, ihr weinendes Gesicht in den Kissen verbarg, wo
Fröben wie gedankenlos am Fenster stand und hinausstarrte. Scheltend
und fluchend rannte jener in dem Saal umher; er verfluchte sich, daß
er sein Leben an eine solche Dirne gehängt habe. "Es müßte keine
Gerechtigkeit mehr im Lande sein, wenn ich sie mir nicht vom Halse
schaffte!" rief er. "Sie hat Taufschein und alles fälschlich angegeben;
sie hat sich für ebenbürtig ausgegeben, die Bettlerin! Diese Ehe ist
null und nichtig!"
"Das wird allerdings das Vernünftigste sein," unterbrach ihn
Fröben; "es kommt nur darauf an, wie du es angreifst, um dich nicht
noch mehr zu blamieren —
"Ha, mein Herr!" schrie der Baron in wildem Zorn, "Sie spotten
noch über mich, nachdem Sie durch Ihre grenzenlose Frechheit all
diese Schande über mich brachten? Folgen Sie mir, zu unserer
Scheidung brauchen wir weiter keine Assisen; die kann sogleich abgemacht
werden. Folgen Sie!
Josephe, die diese Worte verstand, sprang auf; sie warf sich vor
dem Wütenden nieder, sie beschwor ihn, alles nur über sie ergehen zu
lassen; denn sein Freund sei ja ganz unschuldig; sie wies hin auf den
Zettel in seiner Hand, den sie erkannte; sie schwor, daß Fröben erst
heute erfahren, wer sie sei. Aber der junge Mann selbst unterbrach
ihre Fürbitten; er hob sie auf und führte sie zum Sofa zurück. "Ich
bin gewohnt," sagte er kaltblütig zum Baron, "bei solchen Gängen
zuerst meine Arrangements zu treffen, und du wirst wohl tun, es auch
nicht zu unterlassen. Vor allem geht deine Frau jetzt aus dem Schloß;
denn hier will ich sie nicht mehr wissen, wenn ich nicht da bin, sie
vor deinen Mißhandlungen zu schützen.
"Du handelst ja hier wie in deinem Eigentum," erwiderte der
Baron, vor Zorn lachend; "doch Madame war ja schon vorher dein
Eigentum, ich hätte es beinahe vergessen; wohin soll denn der füße
Engel gebracht werden? In ein Armenhaus, in ein Spital oder an
den nächsten besten Zaun, um ihr Gewerbe fortzusetzen?"
Fröben hörte nicht auf ihn; er wandte sich zu Josephe. "Wohnt
die Gräfin noch in der Nähe?" fragte er sie. "Glauben Sie wohl für
die nächsten Tage einen Aufenthalt dort zu finden?"
"Ich will zu ihr gehen," flüsterte sie.
"Gut! Faldner wird die Gnade haben, Sie hinfahren zu lassen;
dort erwarten Sie das Weitere, ob er einsicht, wie Unrecht er uns
beiden getan, oder ob er darauf beharrt, sich von Ihnen zu trennen."
35.
Josephe war zu der Gräfin abgefahren; der Freund hatte ihr
geraten, bei ihrer Ankunft nur einen Besuch von einigen Tagen vorzugeben;
indessen wollte er ihr über die Stimmung seines Freundes
Nachricht geben, und, wenn es möglich wäre, ihn bereden, sich mit ihr
zu versöhnen. "Nein," rief sie leidenschaftlich, indem sie von der Terrasse
an den Wagen hinabstieg, " in diese Tür kehre ich nie mehr zurück,
auf ewig wende ich diesen Mauern den Rücken. Glauben Sie, eine
Frau vermag viel zu ertragen, ich habe lange dulden müssen, und das
Herz wollte mir oft zerspringen; aber heute hat er mich zu tief beleidigt
, als daß ich ihm vergeben könnte. Und sollte ich wieder zurückkehren
müssen auf den Pont des Arts, die Menschen um ein paar
Sous anzuflehen, ich will es lieber tun, als noch länger solche niedrige
Behandlung von diesem rohen Menschen mir gefallen lassen. Mein
Vater war ein tapferer Soldat und ein geachteter Offizier Frankreichs
; seine Tochter darf sich nicht bis zur Magd eines Faldners entwürdigen."
Der junge Mann hatte nach ihrer Abreise einige Briefe geschrieben
und war gerade mit Ordnen seines kleinen Gepäcks beschäftigt,
als Faldner in das Zimmer trat. Froben sah ihn verwundert an und
erwartete neue Angriffe und Ausbrüche seines Zorns. Jener aber
sagte: "Ich glaube, je mehr ich diese unglücklichen Zeilen lese, die ich
heute mittag auf deinem Zimmer fand, immer mehr, daß du eigentlich
doch unschuldig an der miserablen Historie bist, nämlich, daß du
vorher nicht:, wußtest und die Person nicht kanntest: daß ich mein
Weib in deinen Armen traf, verzeihe ich dir; denn jene Person hatte
aufgehört, mein zu sein, als sie den törichten Brief an dich schrieb."
"Es ist mir wegen unseres alten Verhältnisses erwünscht," anwortete
Fröben, " wenn du die Sache so ansiehst, hauptsächlich auch,
weil ich dadurch Gelegenheit bekomme, vernünftig und ruhig mit dir
über Josephe zu sprechen. Fürs erste mein heiliges Wort, daß zwischen
ihr und mir bis heute mittag nie, auch früher nicht, etwas vorging,
was im geringsten ihrer Ehre nachteilig wäre; daß sie arm war, daß
sie einmal genötigt war, die Hilfe der Menschen anzurufen —"
"Nein, sag lieber, daß sie bettelte," rief Faldner hitzig, "und
nachts auf den Straßen und Brücken der liederlichen Hauptstadt
umherzog, um Geld zu verdienen; ich hätte ja schon damals das Vergnügen
ihrer näheren Bekanntschaft haben können, ich war ja bei der
rührenden Szene auf dem Pont des Arts. Nein, wenn ich dir auch
alles glaubte, ich bin dennoch beschimpft; die Familie Faldner und
eine Bettlerin!"
"Ihr Vater und ihre Mutter waren von gutem Hause —"
"Fabeln, Dichtung! Daß ich mich so fangen ließ! Ebensogut
hätte ich die Kellnerin aus der Schenke heiraten können, wenn sie
ein Bierglas im Wappen führte und ein falsches Zeugnis ihrer Geburt
brachte!"
"Das ist in meinen Augen das Geringste bei der Sache; die
Hauptsache ist, daß du sie gleich von Anfang wie eine Magd behandeltest
und nicht wie deine Frau; sie konnte dich nie lieben; ihr paßt
nicht füreinander."
"Das ist das rechte Wort," entgegnete der Baron, " wir passen
nicht zusammen; der Freiherr von Faldner und eine Bettlerin können
nie zusammenpassen. Und jetzt freut es mich erst recht, daß ich
meinem Kopf folgte und sie so behandelte; die Dirne hat es nicht
besser verdient. Ich hab' es ja gleich gesagt, sie hat so etwas Gemeines
an sich."
Diese Roheit empörte den jungen Mann; er wollte ihm etwas
Bitteres entgegnen; aber er bezwang sich, um Josephen nützlich zu
sein. Er redete mit dem Baron ab, was hierin zu tun sei, und sie
kamen dahin überein, daß sie die ganze Sache vor die bürgerlichen
Gerichte bringen und gegenseitge Abneigung als Grund zur Trennung
angeben sollten. Freilich konnte bei ihren Glaubensverhältnissen
keiner der beiden Teile hoffen, in einer neuen Verbindung
Trost zu finden; aber Josephen, wenn sie auch mit Schrecken in eine
hilflose Zukunft blickte, schien kein Los so schwer, daß es nicht gegen
die unwürdige Behandlung, die sie in Faldners Hause erduldete,
erträglich geschienen hätte, und der Baron, wenn ihn auch in
manchen einsamen Stunden Reue anwandelte, suchte Zerstreuung in
seinen Geschäften und Trost in dem Gedanken, daß ja niemand seine
Schande erfahren habe, eine Bettlerin von zweideutigem Charakter
zur Frau von Faldner gemacht zu haben.36
Einige Wochen nach diesem Vorfall ging Froben in Mainz, wohin
er sich, um doch in Josephens Nähe zu sein, zurückgezogen hatte,
auf der Rheinbrücke abends hin und wieder. Er gedachte der sonderbaren
Verkettung des Schicksals, er dachte an mancherlei Auswege,
die ihn und die geliebte Frau vielleicht noch glücklich machen könnten;
da fuhr ein Reisewagen über die Brücke her, dessen wunderlicher Bau
die Aufmerksamkeit des jungen Mannes schon von weitem auf sich
zog. Bald aber haftete sein Auge nur noch an dem Bedienten, der
auf dem Bock saß; dieses braungelbe, heitere Gesicht, das neugierig um
sich schaute, schien ihm ebenso bekannt als die grellen Farben der
Livree. Als der Wagen, der sich auf der Brücke nur im Schritt weiterbewegen
durfte, näher herankam, bemerkte auch der Diener den
jungen Mann und rief: "San Jago di Compostella! Das ist er ja
selbst!" Er riß das Wagenfenster auf, das ihn von dem Innern des
Wagens trennte, und sprach eifrig hinein. Alsobald wurde auf der
Seite des Wagens ein Fenster niedergelassen, und heraus fuhr das
wohlbekannte Gesicht Don Pedros di San Montanjo Ligez. Der
Wagen hielt; der junge Mann sprang freudig herzu, um den Schlag
zu öffnen, und der alte Herr sank in seine Arme. "Wo ist sie, wo habt
Ihr sie, die Tochter meiner Laura? O, um der heiligen Jungfrau
willen, habt Ihr sie hier? Sagt an, junger Herr! Wo ist sie?"
Der junge Mann schwieg betreten; er führte den Alten auf der
Brücke weiter und sagte ihm dann, daß sie nicht weit von dieser Stadt
sich aufhalte, und morgen wolle er ihn zu ihr führen.
Der Spanier hatte Freudentränen im Auge. "Wie danke ich
Euch für die Nachrichten, die Ihr mir gegeben!" sprach er. "Sobald
ich Urlaub bekommen hatte, setzte ich mich mit Diego in den Wagen
und ließ mich von W. bis hier täglich sechs Meilen fahren; denn länger
hielt ich es nicht aus. Und lebt sie glücklich? Sieht sie ihrer Mutter
ähnlich? Und was erzählt sie von Laura Tortosi?" Fröben versprach,
auf seinem Zimmer alle seine Fragen zu beantworten. Er ließ, nachdem
sich der Spanier ein Wenig ausgeruht und umgekleidet hatte,
Xeres bringen, schenkte ein; Diego reichte, wie damals, die Zigarren,
und als Don Pedro recht bequem saß, fing der junge Mann seine Erzählung
an. Mit steigendem Interesse hörte ihn der Spanier an; zu
großem Ärgernis Diegos ließ er seit zwanzig Jahren zum erstenmal
die Zigarre ausgehen, und als der junge Mann an jene empörende
Szene zwischen Faldner und der unglücklichen Frau kam, da konnte
er sich nicht mehr halten; sein altes, südliches Blut kochte auf; er drückte
den Hut tief in die Stirne, wickelte den linken Arm in den Mantel
und rief mit blitzenden Augen: "Meinen langen Stoßdegen her,
Diego! Den mach' ich kalt, so wahr ich ein guter Christ und spanischer
Edelmann bin! Ich stech' ihn nieder, und hätte er ein Kruzifix vor
der Brust, ich bring' ihn um, ohne Absolution und ohne alle Sakramente
schick' ich ihn zur Hölle, so tu' ich. Bring mir mein Schwert,
Diego!"
Aber Fröben zog den zitternden, von Zorn erschöpften Alten zu
sich nieder; er suchte ihm begreiflich zu machen, wie dies alles nicht
nötig sei; denn Josephe sei schon aus der Gewalt des rohen Menschen
befreit und lebe getrennt von ihm. Er holte, um ihn noch mehr zu besänftigen,
jenes Bild herbei und entfaltete es vor den staunenden
Blicken Pedros. Entzückt betrachtete es der Don. "Ja, sie ist es,"
nef er, alles übrige vergessend, " meine arme, unglückliche Laura!"
Und weinend umarmte er den jungen Mann, nannte ihn seinen lieben
Sohn und dankte ihm mit gebrochener Stimme für alles, was er an
der unglücklichen Mutter und ihrer armen Tochter getan.
Am anderen Morgen brach er mit gröben nach dem Gut der
Gräfin auf. Es war ein rührender Anblick, wie der alte Mann die
schöne jugendliche Gestalt Josephens umschlungen hielt, wie er ihre
Züge aufmerksam betrachtete, wie seine strengen Züge immer weicher
wurden, wie er sie dann gerührt auf Auge und Mund küßte. "Ja,
du bist Lauras Tochter!" rief er. "Dein Vater hat dir nichts gegeben
als sein blondes Haar; aber das sind ihre lieben Augen, das ist ihr
Mund, das sind die schönen Züge der Tortosi! Sei meine Tochter,
liebes Kind! Ich habe keine Verwandten und bin reich; durch Verwandtschaft
, mein Herz und einen zwanzigjährigen Gram gehörst
du mir näher an als irgend jemand auf der Erde!" Ihre Blicke, die
über seine Schultern weg auf Froben fielen, schienen diese letztere
Behauptung nicht gerade zu bestätigen; aber sie küßte gerührt seine
Hand und nannte ihn ihren Oheim, ihren zweiten Vater.
Die Freude des Wiedersehens dauerte übrigens nur wenige Tage.
Don Pedro erklärte sehr bestimmt, daß ihn seine Geschäfte nach Portugal
rufen, und zugleich schien er gar nicht einzusehen, was Josephen
abhalten könnte, ihm dahin zu folgen; er hegte zu strenge Grundsätze
über die Artikel seiner Kirche, als daß er den Gedanken für möglich
gehalten hätte, Froben könne Josephe, die getrennte Gattin eine;:
anderen, zur Frau begehren. Es ist uns nicht t bekannt geworden, was
die Liebenden über diesen strittigen Punkt verhandelten; nur soviel
ist gewiß, daß Fröben einigemal darauf hindeutete, sie solle zum
evangelischen Glauben zurückkehren, daß sie jedoch, zwar mit unendlichem
Schmerz, aber sehr bestimmt, diesen Vorschlag abwies. Oft
soll ihr der junge Mann in Verzweiflung über die herannahende
Trennung vorgeschlagen haben, sie solle Don Pedro ziehen lassen,
sie solle für sich leben, in Deutschland bleiben; er wolle, wenn er nicht
ihr Gatte werden könne, auf immer als Freund um sie sein. Aber
auch dies lehnte sie ab; sie gestand ihm offen, daß sie sich zu schwach
fühle, ein solches Verhältnis mit Ehren hinauszuführen, und stolzer
gemacht durch ihr Unglück, bebte sie zurück vor dem Gedanken an eine
unwürdige Verbindung mit einem Mann, den sie so hoch achtete, als
sie ihn liebte. Allein mit sich gestand sie sich wohl, daß ein noch edelmütiger
Gedanke ihre Schritte lenke. "Sollte er," sagte sie zu sich,
die Blüte des Lebens an ein unglückliches Geschöpf verlieren, das
ihm nur Freundin sein darf? Soll er den hohen Genuß häuslicher
Freuden, das Glück, Kinder und Enkel um sich zu versammeln, wegen
meiner aufgeben? Nein, er hat mich schon einmal verloren, und die
Zeit wird auch jetzt seinen Schmerz lindern; er wird ein unglückliches
Wesen vergessen, das ewig an ihn denken, ihn lieben, für ihn beten
wird."
So schienen denn jene prophetischen Worte Josephens: "Auf
immer!" in Erfüllung zu gehen. Don Pedro verließ mit seiner neuen
Verwandtin das Gut der Gräfin, um durch Holland auf die See zu
gehen. Froben, den vielleicht nur der Gedanke, Josephen bald nach
Portugal nachzufolgen und dort ihr Freund zu sein, aufrecht erhielt,
geleitete die Geliebte auf der Reise durch Deutschland und Holland;
und so oft sie ihn bat, durch längeres Begleiten die Tage der Trennung
nicht noch schwerer zu machen, bat er mit Tränen im Auge: "Nur bis
an; Meer und Daun auf immer!"
37.
Im August dieses Jahres wurde in Ostende ein englisches Schiff
klar, das nach Portugal Schiffsgut und Passagiere brachte. Es war
ein schöner Morgen; die Nebel hatten sich gesenkt, und die Tage schienen
für die Fahrt günstig werden zu wollen. Es war um neun Uhr
morgens, als ein Kanonenschuß von dem Engländer herüberschallte,
zum Zeichen, daß die Passagiere sich an die Küste begeben sollen.
Zu gleicher Zeit ruderte eine Schaluppe heran und warf ihr Brett
aus, um die Reisenden einzunehmen. Vom Land her kamen viele
Personen mit Gepäck, gingen über das Brett, und bald war die
Schaluppe voll, und die erste Ladung wurde an Bord gebracht. Ehe
noch die Schaluppe zum zweitenmal anlegte, sah man vier Personen
sich dem Strande nähern, die sich durch Gang, Haltung und Kleidung
von den übrigen ärmlich eren Passagieren unterschieden. Ein hoher,
ältlicher Mann ging stolzen Schrittes voraus; er hatte einen breitgekrämpten
Hut auf und den Mantel so kunstreich und bequem um
die Schultern geschlagen, daß ein Schiffer, der ihn kommen sah, ausrief:
"Ich laß mich fressen, wenn es kein Spanier ist!" Hinter jenem
kam ein jüngerer Herr, der eine schöne, schlankgebaute Dame führte.
Der junge Herr war sehr bleich, schien einen großen Kummer niederzukämpfen
, um durch Zureden einen noch größeren bei der Dame zu
beschwichtigen. Ihr schönes Gesicht war um Auge und Stirne von
heftigem Weinen gerötet, der Mund schmerzlich eingepreßt und die
Wangen und untern Teile des Gesichtes sehr bleich. Sie ging schwankend,
auf den Arm des jungen Mannes gestützt; ein Hütchen mit
wallenden Straußfedern, ein wallendes Kleid von schwerem schwarzem
Seidenzeug, um Hals und Busen reiche Goldketten, schienen nicht zur
Reise zu passen, und man konnte daher glauben, daß sie den jungen
Mann an Bord begleitete; hinter beiden ging ein Diener in bunten
Kleidern; er trug einen großen Sonnenschirm unter dem Arm und
hatte ein spanisches Netz über seine dunkeln Haare gezogen.
Als sie soweit herabgekommen waren, wo der Sand von der
vorigen Flut noch feucht war, an die Stelle, wo man das Brett aus
der Schaluppe anwarf, blieben sie stehen, und das schöne junge Paar
sah nach dem Schiff; dann sahen sie sich an, und die Dame legte ihr
Haupt auf die Schulter des Mannes, daß die Straußfedern um sein
Gesicht spielten und seine stillen Tränen den Augen der Neugierigen
verbargen. Der alte Herr stand nicht weit davon, wickelte sich, finster
auf die See blickend, tief in seinen Mantel, und sein Auge blinkte,
man wußte nicht, ob von einer Träne oder dem Widerschein der glänzenden
Wellen. Jetzt kam die Schaluppe plätschernd ans Ufer; das
Brett wurde ausgeworfen, und ein donnernder Schuß vom Schiffe
schreckte das Paar aus seiner Umarmung. Der alte Herr trat heran,
bot dem jungen Mann die Hand, schüttelte sie kräftig und stieg dann
schnell über das Brett; sein Diener folgte, nachdem auch er dem Jüng
ling herzlich die Hand geboten. Jetzt umarmten sich die jungen Leute
noch einmal; er wand sich zuerst los und führte die Dame nach dem
Brett. "Auf immer!" flüsterte sie mit wehmütigem Lächeln. "Auf
immer!" antwortete der junge Mann, indem er sie bebend mit Tränen
ansah. Noch einen Händedruck, und sie wandte sich, das Brett hinanzusteigen
Schon stand sie oben; der Oberbootsmann, ein breiter
Engländer, wartete am Brett, streckte seine breite Hand aus, um die
schöne Dame zu empfangen, und hatte schon einige gutgemeinte
Trostgründe in Bereitschaft. Da wandte sie von dem unendlichen Meer
ihr dunkles Auge noch einmal zurück nach dem jungen Mann. Ihre hohe,
herrliche Gestalt schwebte kühn auf dem schmalen Brett, ihr schlanker
Hals war nach dem Land zurückgebogen, die schwankenden Federn
des Hutes schienen hinüberzugrüßen. Er breitete die Arme aus; in
seinen Zügen mischte sich die Seligkeit der Liebe mit dem Schmerz
der Trennung. Da schien sie ihrer selbst nicht mehr mächtig zu sein;
sie sprang über das Brett und hinab auf das Land, und ehe der Bootsmann
seine Hände vor Verwunderung zusammenschlagen konnte,
hing sie schon an des jungen Mannes Hals, an seinen Lippen. "Nein,
ich kann nicht über das Meer," rief sie, "ich will bleiben; ich will alles
tun, was du willst, will diese Fesseln eines Glaubens von mir werfen,
der mich hindert, meinem besseren Gefühl zu folgen; du bist mein
Vaterland, meine Familie, mein alles; ich bleibe!"
"Josephe, meine Josephe!" rief der junge Mann, indem er sie
mit stürmischem Entzücken an sein Herz drückte. "Mein, mein auf
immer? Ein Gott hat dein Herz gelenkt. O, ich wäre untergegangen
unter der Qual dieser Trennung!" Sie hielten sich noch umschlungen,
als der alte Herr mit hastigen Schritten über Bord und das Brett
herabstieg und zu der Gruppe trat. "Kinder," sagte er, "einmal
Abschied zu nehmen, wäre genug gewesen; komm, Josephe, es hilft
ja doch nichts! Sie werden gleich zum drittenmal schießen."
"Laßt sie mit Stückkugeln schießen, Don Pedro!" rief der junge
Mann mit freudig verklärten Zügen. "Sie bleibt hier, sie bleibt bei
mir.
"Was höre ich?" erwiderte jener sehr ernst. "Ich will nicht
hoffen, daß dies so ist, wie der Kavalier sagt; du wirst deinem Verwandten
folgen, Josephe!"
"Nein!" rief sie mutig, "als ich dort oben auf dem Rand der
Schaluppe stand und hinaussah auf diese Fluten, die mich von ihm
trennen sollten, da stand fest in mir, was ich zu tun habe; meine
Mutter hat mir den Weg gezeigt; sie ist einst dem Mann ihres Herzens
in die weite Welt gefolgt, hat Vater und Mutter verlassen aus
Liebe; ich weiß, was auch ich zu tun habe; hier steht der, dem meine
arme Mutter ihre letzten süßen Stunden, dem ich Leben, Ehre, alles
verdanke, und ich sollte ihn verlassen? Grüßet die Gräber meiner
Ahnen in Valencia, Don Pedro, und sagt ihnen, daß es noch eine aus
dem Stamm der Tortosi gibt, der die Liebe höher gilt als das Leben!"
Don Pedro wurde weich. "So folge deinem Herzen, vielleicht
ratet es dir besser als ein alter Mann; ich weiß dich zum mindesten
glücklich in den Armen dieses edlen Mannes, und sein hoher Sinn
bürgt mir dafür, daß ihm unsere Ehre nicht minder hoch als die seine
gilt. Aber, Don Fröbenio. was werden Sie zu Ihren stolzen
Verwandten sagen, wenn Sie dieses Kind des Elends vorstellen? Gott!
Werden Sie auch den Mut haben, den Spott der Welt zu ertragen?"
"Fahret wohl, Don Pedro," sagte der junge Mann mit mutigem
Gesicht, indem er jenem die eine Hand zum Abschied bot und mit der
anderen die Geliebte umschlang; "seid getrost und verzaget nicht an
mir! Ich werde sie der Welt zeigen, und wenn man mich fragt: .Wer
war sie denn?' so werde ich nicht ohne freudigen Stolz antworten:
Es war die Bettlerin vom Pont des Arts.'"
Othello.
| Wie? Wanns und Wo? Die Götter bleiben stumm!
Du halte dich an Weil, und frage nicht Warum? |
Goethe.
1.
Das Theater war gedrängt voll; ein neu angeworbener Sänger
gab den Don Juan. Das Parterre wogte, von oben gesehen,
wie die unruhige See, und die Federn und Schleier der Damen
tauchten wie schimmernde Fische aus den dunkeln Massen. Die
Ranglogen waren reicher als je; denn mit dem Anfang der Wintersaison
war eine kleine Trauer eingefallen, und heute zum erstenmal
drangen wieder die schimmernden Farben der reichen Turbans, der
wehenden Büsche, der bunten Schals an das Licht hervor. Wie
glänzend sich aber auch der reiche Kranz von Damen um das Amphitheater
zog, das Diadem dieses Kreises schien ein herrliches, liebliches
Bild zu sein, das aus der fürstlichen Loge freundlich und
hold die Welt um und unter sich überschaute. Man war versucht
zu wünschen, dieses schöne Kind möchte nicht so hoch geboren sein;
denn diese frische Farbe, diese heitere Stirne, diese kindlich reinen,
milden Augen, dieser holde Mund war zur Liebe, nicht zur Verehrung
aus der Ferne geschaffen. Und wunderbar, wie wenn
Prinzessin Sophie diesen frevelhaften Gedanken geahnet hätte —
auch ihr Anzug entsprach diesem Bilde einfacher natürlicher Schönheit;
sie schien jeden Schmuck, den die Kunst verleiht, dem stolzen
Damenkreis überlassen zu haben.
"Sehen Sie, wie lebendig, wie heiter sie ist," sprach in einer
der ersten Ranglogen ein fremder Herr zu dem russischen Gesandten,
der neben ihm stand, und beschaute die Prinzessin durch das Opernglas
; " wenn sie lächelt, wenn sie das sprechende Auge ein klein
wenig zudrückt und dann mit unbeschreiblichem Reiz wieder aufschlägt,
wenn sie mit der kleinen niedlichen Sand dazu agiert —
man sollte glauben, aus so weiter Ferne ihre witzigen Reden, ihre
naiven Fragen vernehmen zu können."
"Es ist erstaunlich!" entgegnete der Gesandte,
"Und dennoch sollte dieser Himmel von Freudigkeit nur Maske
sein? Sie sollte fühlen, schmerzlich fühlen, sie sollte unglücklich
lieben und doch so blühend, so heiter sein? Gnädige Frau," wandte
sich der Fremde zu der Gemahlin des Gesandten, "gestehen Sie,
Sie wollen mich mystifizieren, weil ich einiges Interesse an diesem
Götterkinde genommen habe."
"Mon Sion! Baron," sagte diese, mit dem Kopfe wackelnd,
"Sie glauben noch immer nicht? Auf Ehre, es ist wahr, wie ich
Ihnen sagte; sie liebt, sie liebt unter ihrem Stande, ich weiß es
von einer Dame, der nichts dergleichen entgeht. Und wie? Meinen
Sie, eine Prinzeß, die von Jugend auf zur Repräsentation erzogen
ist, werde nicht Tournure genug haben, um ein so unschickliches
Verhältnis den Augen der Welt zu verbergen?"
"Ich kann es nicht begreifen," flüsterte der Fremde, indem er
wieder sinnend nach ihr hinsah, "ich kann es nicht fassen; diese
Heiterkeit, dieser beinahe mutwillige Scherz — und stille, unglückliche
Liebe? Gnädige Frau, ich kann es nicht begreifen!"
"Ja, warum soll sie denn nicht munter sein, Barons Sie
ahnet wohl nicht, daß jemand etwas von ihrer meschanten Aufführung
weiß; der Amoroso ist in der Nähe —"
"Ist in der Nähe? O bitte, Madame! Zeigen Sie mir den
Glücklichen! Wer ist er?"
"Was verlangen Sie! Das wäre ja gegen alle Diskretion,
die ich der Oberhofmarschallin schuldig bin; mein Freund, daraus
wird nichts. Sie können zwar in Warschau wiedererzählen, was
Sie hier gesehen und gehört haben; aber Namen? Nein, Namen
zu nennen in solchen Affären, ist sehr unschicklich; mein Mann kann
dergleichen nicht leiden."
Die Ouvertüre war ihrem Ende nahe, die Töne brausten
stärker aus dem Orchester herauf, die Blicke der Zuschauer waren
fest auf den Vorhang gerichtet, um den neuen Don Juan bald
zu sehen; doch der Fremde in der Loge der russischen Gesandtschaft
hatte kein Ohr für Mozarts Töne, kein Auge für das Stück;
er sah nur das liebliche, herrliche Kind, das ihm um so interessanter
war, als diese schönen Augen, diese süßen, freundlichen Lippen
heimliche Liebe kennen sollten. Ihre Umgebungen, einige ältere
und jüngere Damen, hatten zu sprechen aufgehört; sie lauschten auf
die Musik; Sophiens Augen gleiteten durch das gefüllte Haus;
sie schienen etwas zu vermissen, zu suchen. "Ob sie wohl nach dem
Geliebten ihre Blicke aussendet?" dachte der Fremde; "ob sie die
Reihen mustert, ihn zu sehen, ihn mit einem verstohlenen Lächeln,
mit einem leisen Beugen des Hauptes, mit einem jener tausend
Zeichen zu begrüßen, welche stille Liebe erfindet, womit sie ihre
Lieblinge beglückt, bezaubert?" Eine schnelle, leichte Röte flog
jetzt über Sophiens Züge; sie rückte den Stuhl mehr seitwärts,
sie sah einigemal nach der Türe ihrer Loge; die Türe ging auf,
ein großer, schöner junger Mann trat ein und näherte sich einer
der älteren Damen; es war die Herzogin F., die Mutter der Prinzessin
. Sophie spielte gleichgültig mit der Brille, die sie in der Hand
hielt; aber der Fremde war Kenner genug, um in ihrem Auge
zu lesen, daß dieser und kein anderer der Glückliche sei.
Noch konnte er sein Gesicht nicht sehen; aber die Gestalt, die
Bewegungen des jungen Mannes hatten etwas Bekanntes für ihn.
Die Fürstin zog ihre Tochter ins Gespräch; sie blickte freundlich
auf, sie schien etwas Pikantes erwidert zu haben; denn die Mutter
lächelte, der junge Mann wandte sich um, und —
"Mein Gott!
Graf Zronievsky!" rief der Fremde so laut, so ängstlich,
daß der Gesandte an seiner Seite heftig erschrak und seine Gemahlin
den Gast krampfhaft an der Hand faßte und neben sich
auf den Stuhl niederriß.
"Ums Himmels willen, was machen Sie für Skandal!" rief
die erzürnte Dame; "die Leute schauen rechts und links nach uns
her; wer wird denn so mörderlich schreiens Es ist nur gut, daß
sie da unten gerade ebenso mörderlich gegeigt und trompetet haben;
sonst hätte jedermann Ihren Zronievsky hören müssen. Was wollen
Sie nur von dem Grafen? Sie wissen ja doch, daß wir vermeiden,
ihn zu kennen!"
"Kein Wort weiß ich," erwiderte der Fremde; " wie kann ich
auch wissen, wen Sie kennen und wen nicht, da ich erst seit drei
Stunden hier bin? Warum vermeiden Sie es, ihn zu sehen?"
Nun, seine Verhältnisse zu unserer Regierung können Ihnen
nicht unbekannt sein," sprach der Gesandte; " er ist verwiesen, und
es ist mir höchst fatal, daß er gerade hier und immer nur hier sein
will. Er hat sich unverschämterweise bei Hofe präsentieren lassen,
und so sehe ich ihn auf jeden Schritt und Tritt; und doch wollen
es die Verhältnisse, daß ich ihn ignoriere. Überdies macht mir
der fatale Mensch sonst noch genug zu schaffen; man will höheren
Orts wissen, wovon er lebe und so glänzend lebe, da doch seine
Güter konfisziert sind, und ich weiß es nicht herauszubringen. Sie
tennen ihn, Baron?"
Der Fremde hatte diese Reden nur halb gehört; er sah unverwandt
nach der fürstlichen Loge, er sah, wie Zronievsky mit
der Fürstin und den andern Damen sprach, wie nur sein feuriges
Auge hin und wieder nach Sophien hingleitete, wie sie begierig
diesen Strahl auffing und zurückgab. Der Vorhang flog auf; der
Graf trat zurück und verschwand aus der Loge; Leporello hub
seine Klagen an.
"Sie kennen ihn, Baron?" flüsterte der Gesandte. "Wissen
Sie mir Näheres über seine Verhältnisse —"
"Ich habe mit ihm unter den polnischen Lanciers gedient."
"Ist wahr, er hat in der französischen Armee gedient; sahen
Sie sich oft? Kennen Sie seine Ressourcen?"
"Ich habe ihn nur gesehen," warf der Fremde leicht hin, " wenn
es der Dienst mit sich brachte; ich weiß nichts von ihm, als daß
er ein braver Soldat und ein sehr unterrichteter Offizier ist."
Der Gesandte schwieg; sei es, daß er diesen Worten glaubte,
sei daß er zu vorsichtig war, seinem Gast durch weitere Fragen
Mißtrauen zu zeigen. Auch der Fremde bezeigte keine Lust, das
Gespräch weiter fortzusetzen; die Oper schien ihn ganz in Anspruch
zu nehmen; und dennoch war es ein ganz anderer Gegenstand,
der seine Seele unablässig beschäftigte. "Also hieher hat dich dein
unglückliches Geschick endlich getrieben?" sagte er zu sich. "Armer
Zronievsky! Als Knabe wolltest du dem Kosciusko helfen und
dein Vaterland befreien; Freiheit und Kosciusko sind verklungen
und verschwunden! Als Jüngling warst du für den Ruhm der
Waffen, für die Ehre der Adler, denen du folgtest, begeistert; man
hat sie zerschlagen. Du hattest dein Herz so lange vor Liebe bewahrt,
sie findet dich endlich als Mann, und siehe — die Geliebte
steht so furchtbar hoch, daß du vergessen oder untergehen mußt!"
Das Geschick seines Freundes, denn dies war ihm Graf Zronievsky
gewesen, stimmte den Fremden ernst und trübe; er versank
in jenes Hinbrüten, das die Welt und alle ihre Verhältnisse vergißt,
und der Gesandte mußte ihn, als der erste Akt der Oper zu
Ende war, durch mehrere Fragen aus seinem Sinnen aufwecken,
das nicht einmal durch das Klatschen und Bravorufen des Parterres
unterbrochen worden war.
"Die Herzogin hat nach Ihnen gefragt," sagte der Gesandte;
sie behauptet, Ihre Familie zu kennen; kommen Sie, wischen Sie
diesen Ernst, diese Melancholie von Ihrer Stirne ! Ich will Sie in
die Loge führen und präsentieren.
Der Fremde errötete; sein Herz pochte, er wußte selbst nicht,
warum; erst als er den Korridor mit dem Gesandten hinging, als
er sich der fürstlichen Loge näherte, fühlte er, daß es die Freude
sei, was sein Blut in Bewegung brachte, die Freude, jenem lieblichen
Wesen nahe zu sein, dessen stille Liebe ihn so sehr anzog.
2.
Die Herzogin empfing den Fremden mit ausgezeichneter Güte.
Sie selbst präsentierte ihn der Prinzessin Sophie, und der Name
Larun schien in den Ohren des schönen Kindes bekannt zu klingen;
sie errötete flüchtig und sagte, sie glaube gehört zu haben, daß er
früher in der französischen Armee diente. Es war dem Baron
nur zu gewiß, daß ihr niemand anders als Zronievsky dies gesagt
haben konnte; es war ihm um so gewisser, als ihr Auge mit einer
gewissen Teilnahme auf ihm wie auf einem Bekannten ruhte, als
sie gerne die Rede an ihn zu richten schien.
"Sie sind fremd hier," sagte die Herzogin, "Sie sind keinen
Tag in diesen Mauern, Sie können also noch von niemand bestochen
sein. Ich fordere Sie auf, seien Sie Schiedsrichter; kann
es nicht in der Natur geheimnisvolle Kräfte geben, die — die, wie
soll ich mich nur ausdrücken, die, wenn wir sie frevelhaft hervorrufen
uns Unheil bringen können?"
"Sie sind nicht unparteiisch, Mutter!" rief die Prinzessin lebhaft,
"Sie haben schon durch Ihre Frage, wie Sie sie stellten, die
Sinne des Barons gefangen genommen. Sagen Sie einmal, wenn
zufällig im Zwischenraum von vielen Jahren von einem Hause
nach und nach sechs Dachziegel gefallen wären und einige Leute
getötet hätten, würden Sie nicht mehr an diesem Hause vorübergehen?"
"Warum nicht? Es müßten nur in diesen Ziegeln geheimnisvolle
Kräfte liegen, welche —"
Wie mutwillig!" unterbrach ihn die Herzogin. "Sie wollen
mich mit meinen geheimnisvollen Kräften nach Hause schicken;
aber nur Geduld! das Gleichnis, das Sophie vorbrachte, paßt doch
nicht ganz —"
"Nun, wir wollen gleich sehen, weni der Baron recht gibt,"
rief jene; "die Sache ist so: Wir haben hier eine sehr hübsche Oper,
mau gibt alles Mögliche, Altes und Neues durcheinander, nur
eines nicht, die schönste, herrlichste Oper, die ich kenne; auf
fremdem Boden mußte ich sie zum erstenmal hören; das erste,
was ich tat, als ich hieher kam, war, daß ich bat, man möchte sie
hier geben, und nie wird mir mein Wunsch erfüllt! Und nicht etwa,
weil sie zu schwer ist, — sie geben schwerere Stücke — nein, der
Grund ist eigentlich lächerlich."
"Und wie heißt die Oper?" fragte der Fremde.
Es ist Othello!"
"Othello? Gewiß ein herrliches Kunstwerk; auch mich spricht
selten eine Musik so an wie diese, und ich fühle mich auf lange Tage
feierlich, ich möchte sagen heilig bewegt, wenn ich Desdemonas
Schwanengesang zur Harfe singen gehört habe."
"Hören Sie es? Er kommt von Petersburg, von Warschau,
von Berlin, Gott weiß woher, — ich habe ihn nie gesehen, und
dennoch schätzt er Othello so hoch. Wir müssen ihn einmal wieder
sehen. Und warum soll er nicht wieder gegeben werden? Wegen
eines Märchens, das heutzutage niemand mehr glaubt."
"Freveln Sie nicht,' rief die Fürstin, " es sind mir Tatsachen
bekannt, die mich schaudern machen, wenn ich nur daran denke;
doch wir sprechen unserem Schiedsrichter in Rätseln; stellen Sie
sich einmal vor, ob es nicht schrecklich wäre, wenn es jedesmal, so
oft Othello gegeben würde, brennte."
"Auch wieder ein Gleichnis," fiel Sophie ein; "doch ist es noch
viel toller, das Märchen selbst."
"Nein, es soll einmal brennen," fuhr die Mutter fort. "Othello
wurde zuerst als Drama nach Shakespeare gegeben, schon vor
fünfzig Jahren; die Sage ging, man weiß nicht, woher und warum,
daß, so oft Othello gegeben wurde, ein gewisses Evenement erfolgte;
nun also unser Brennen; es brannte jedesmal nach Othello.
Man machte den Versuch, man gab lange Zeit Othello nicht; es
kam eine neue geistreiche Übersetzung auf, er wird gegeben — jener
unglückliche Fall ereignet sich wieder. Ich weiß noch wie heute,
als Othello, zur Oper verwandelt, zum erstenmal gegeben wurde;
wir lachten lange vorher, daß wir den unglücklichen Mohren um
sein Opfer gebracht haben, indem er jetzt musikalisch geworden —
Desdemona war gefallen, wenige Tage nachher hatte der Schwarze
auch sein zweites Opfer. Der Fall trat nachher noch einmal ein,
und darum hatte man Othello nie wieder gegeben; es ist töricht,
aber wahr. Was sage:; Sie dazu, Baron? aber aufrichtig, was
halten Sie von unserem Streit?"
"Durchlaucht haben vollkommen recht," antwortete Larun in
einem Ton, der zwischen Ernst und Ironie die Mitte hielt; " wenn
Sie erlauben, werde ich durch ein Beispiel aus meinem eigenen
Leben Ihre Behauptung bestätigen. Ich hatte eine unverheiratete
Tante, eine unangenehme, mystische Person; wir Kinder hießen
sie nur die Federntante, weil sie große, schwarze Federn auf dem
Hut zu tragen pflegte. Wie bei Ihrem Othello, so ging auch in
unserer Familie eine Sage, so oft die Federntante kam, mußte
nachher eines oder das andere krank werden. Es wurde darüber
gescherzt und gelacht; aber die Krankheit stellte sich immer ein,
und wir waren den Spuk schon so gewöhnt, daß, so oft die Federntante
zum Besuch in den Hof fuhr, alle Zurüstungen für die
kommende Krankheit gemacht und selbst der Doktor geholt wurde."
"Eine köstliche Figur, Ihre Federntante," rief die Prinzessin
lachend; "ich kann mir sie denken, wie sie den Kopf mit dem Federnhut
aus dem Wagen streckt, wie die Kinder laufen, als käme die
Pest, weil keines krank werden will, und wie ein Reitknecht zur
Stadt sprengen muß, um den Doktor zu holen, weil die Federntante
erschienen sei. Da hatten Sie ja wahrhaftig eine lebendige
weiße Frau in Ihrer Familie!
Still von diesen Dingen," unterbrach sie die Fürstin ernst,
beinahe unmutig; " man sollte nicht von Dingen so leichthin reden,
die man nicht leugnen kann und deren Natur dennoch nie erklärt
werden wird. So ist nun einmal auch mein Othello," setzte sie
freundlicher hinzu, "und Sie werden ihn nicht zu sehen bekommen,
Baron, und müssen Ihr Lieblingsstück schon wo anders aufsuchen."
Und Sie sollen ihn dennoch sehen," flüsterte Sophie zu ihm
hin, "ich muß mein Desdemona-Lied noch einmal hören, so recht
sehen und hören auf der Bühne, und sollte ich selbst darüber zum
Opfer werden!"
"Sie selbsts" fragte der Fremde betroffen; "ich höre ja, der
gespenstige Mohr soll nur brennen , nicht töten?"
"Ach, das war ja nur das Gleichnis der Mutter!" flüsterte
sie noch viel leiser, "die Sage ist noch viel schauriger und gefährlicher."
Der Kapellmeister pochte; die Introduktion des zweiten Aktes
begann, und der Fremde stand auf, die fürstliche Loge zu verlassen.
Die Herzogin hatte ihn gütig entlassen; aber vergebens sah er sich
nach dem Gesandten um, er war wohl längst in seine Loge zurückgekehrt
. Unschlüssig, ob er rechts oder links gehen müsse, stand er
im Korridor, als eine warme Hand sich in die seinige legte; er blickte
auf, es war der Graf Zronievsky.
3.
"So habe ich doch recht gesehen!" rief der Graf, "mein Major,
mein tapferer Major! Wie lebt alles wieder in mir auf! Ich werfe
diese unglücklichen dreizehn Jahre von mir; ich bin der frohe Lancier
wie sonst! Vive Poniatowsky, vive l'emp —"
"Um Gottes willen, Graf!" fiel ihm der Fremde ins Wort,
bedenken Sie, wo Sie sind! Und warum diese Schatten heraufbeschwören?
Sie sind hinab mit ihrer Zeit: lasset die Toten ruhen!"
"Ruhen?" entgegnete jener; "das ist ja gerade, was ich nicht
kann; o, daß ich unter jenen Toten wäre! Wie sanft, wie geduldig
wollte ich ruhen! Sie schlafen, meine tapfern Polen, und keine
Stimme, wie mächtig sie auch rufe, schreckt sie auf, Warum darf
ich allein nicht rasten?"
Ein düsteres, unstetes Feuer brannte in den Augen des schönen
Mannes; seine Lippen schlossen sich schmerzlich. Sein Freund betrachtete
ihn mit besorgter Teilnahme; er sah hier nicht mehr den
fröhlichen, heldenmütigen Jüngling, wie er ihn an der Spitze des
Regiments in den Tagen des Glücks gesehen; das zutrauliche,
gewinnende Lächeln, das ihn sonst so angezogen, war einem grämlichen
, bittern Zuge gewichen; das Auge, das sonst voll stolzer Zuversicht,
voll freudigen Mutes, frei und offen um sich blickte, schien
mißtrauisch jeden Gegenstand prüfen, durchbohren zu wollen; das
matte Rot, das seine Wangen bedeckte, war nur der Abglanz jener
Jugendblüte, die ihm in den Salons von Paris den Namen des
schönen Polen erworben hatte; und dennoch, auch nach dieser
großen Veränderung, welche Zeit und Unglück hervorgebracht hatten,
mußte man gestehen, daß Prinzessin Sophie sehr zu entschuldigen sei.
"Sie sehen mich an, Major?" sagte jener nach einigem Stillschweigen.
"Sie betrachten mich, als wollten Sie die alten Zeiten
aus meinen Zügen herausfinden? Geben Sie sich nicht vergebliche
Mühe! Es ist so manches anders geworden; sollte nicht der Mensch
mit dem Geschick sich ändern?"
Ich finde Sie nicht sehr verändert," erwiderte der Fremde,
"ich erkannte Sie bei dem ersten Anblick wieder. Aber eines finde
ich nicht mehr wie früher; aus diesen Augen ist ein gewisses Zutrauen
verschwunden, das mich sonst so oft beglückte. Alexander
Zronievsky scheint mir nicht mehr zu trauen. Und doch," setzte er
lächelnd hinzu, "und dennoch war mein Geist immer bei ihm, ich
weiß sogar die tiefsten Gedanken seines Herzens.
"Meines armen Herzens!" entgegnete der Graf wehmütig;
"ich wüßte kaum, ob ich noch ein Herz habe, wenn es nicht manchmal
vor Unmut pochte! Welche Gedanken wollen Sie aufgespürt
haben als die unwandelbare Freundschaft für Sie, Maior? Schelten
Sie nicht mein Auge, weil es nicht mehr fröhlich ist; ich habe mich
in mich selbst zurückgezogen, ich habe mein Vertrauen in meine
Rechte gelegt; ihr Druck wird Ihnen sagen, daß ich noch immer
der Alte bin."
"Ich danke; aber wie, ich sollte mich nicht auf die Gedanken
Ihres Herzens verstehen? Sie sagen, es pocht nur vor Unmut;
was hat denn ein gewisses Fürstenkind getan, daß Ihr Herz so
gar unmutig Pocht?
Der Graf erblaßte; er preßte des Fremden Hand fest in der
seinigen. "Um Gottes willen, schweigen Sie! Nie mehr eine Silbe
über diesen Punkt! Ich weiß, ich verstehe, was Sie meinen, ich
will sogar zugeben, daß Sie recht gesehen haben; der Teufel
hat Ihre Augen gemacht, Major! Doch warum bitte ich einen
Ehrenmann wie Sie, zu schweigen? Es hat noch keiner vom
achten Regiment seinen Kameraden verraten.
"Sie haben recht, und kein Wort mehr darüber! Doch nur
dies eine noch: Vom achten verratet keiner den Kameraden; ob
aber der gute Kamerad sich selber nicht verrät?
"Kommen Sie hier in diese Treppe," flüsterte der Graf; denn
es nahten sich mehrere Personen "Jesus Maria, sollte außer Ihnen
jemand etwas ahnen :
"Wenn Sie Vertrauen um Vertrauen geben werden, wohlan,
so will ich beichten.
"O, foltern Sie mich nicht, Major! Ich will nachher sagen,
was Sie haben wollen, nur geschwind, ob jemand außer Ihnen —"
Der Major von Larun erzählte, er sei heute in dieser Stadt
angekommen, seine Depeschen seien bei dem Gesandten bald in
Richtigkeit gewesen, man habe ihn in die Oper mitgenommen,
und dort, wie er entzückt die Prinzessin aus der Ferne betrachtet,
habe ihm die Gesandtin gesagt, daß Sophie in ein Verhältnis unter
ihrem Stande verwickelt sei. "Sie traten ein in die fürstliche Loge —
ein Blick überzeugte mich, daß niemand als Sie der Geliebte sein
könne."
"Und die Gesandtin?" rief der Graf mit zitternder Stimme.
Sie hat es bestätigt. Wenn ich nicht irre, sprach sie auch von
einer Oberhofmarschallin, von welcher sie die Nachricht habe."
Der Graf schwieg, einige Minuten vor sich hinstarrend; er
schien mit sich zu ringen, er blickte einigemal den Fremden scheu
von der Seite an —
"Major!" sprach er endlich mit klangloser,
matter Stimme; "können Sie mir hundert Napoleons leihen "
Der Major war überrascht von dieser Frage; er hatte erwartet,
sein Freund werde etwas weniges über sein Unglück jammern,
wie bei dergleichen Szenen gebräuchlich; er konnte sich daher nicht
gleich in diese Frage finden und sah den Grafen staunend an.
"Ich bin ein Flüchtling," fuhr dieser fort; "ich glaubte endlich
eine stille Stätte gefunden zu haben, wo ich ein klein wenig rasten
könnte; da muß ich lieben — muß geliebt werden, Major, wie
geliebt werden!" Er hatte Tränen in den Augen; doch er bezwang
siel) und fuhr mit fester Stimme fort: "Es ist eine sonderbare Bitte,
die ich hier nach so langem Wiedersehen an Sie tue; doch ich erröte
nicht, zu bitten. Kamerad, gedenken Sie des letzten ruhmvollen
Tages im Norden, gedenken Sie des Tages von Mosaist?"
"Ich gedenke!" sagte der Fremde, indem sein Auge glänzte
und seine Wangen sich höher färbten.
"Und gedenken Sie, wie die russische Batterie an der Redoute
auffuhr, wie ihre Kartätschen in unsere Reihen sausten und der
Verräter Piolzky zum Rückzug blasen ließe"
"Ha!" fiel der Fremde mit dröhnender Stimme ein, "und wie
Sie ihn herabschossen, Oberst, daß er keine Ader mehr zuckte, wie
die Husaren rechts abschwenkten, wie Sie Vorwärts! riefen, vorwärts
Lanciers vom achten! und die Kanonen in fünf Minuten
unser waren!" —
"Gedenken Sie?' flüsterte der Graf mit Wehmut; "wohlan!
ich kommandiere wieder vor der Front. Es gilt einen Kameraden
herauszuhauen, werdet Ihr ihn retten? En avant.. Major! vorwärts,
tapferer Lancier! wirst du ihn retten, Kamerad?"
"Ich will ihn retten!" rief der Freund, und der Graf Zronievsky
schlug seinen Arm um ihn, preßte ihn heftig an seine Brust
und eilte dann von ihm weg, den Korridor entlang.
4.
"Gut, daß ich Sie treffe," rief der Graf Zronievsky, als er
am nächsten Morgen dem Major auf der Straße begegnete, "ich
wollte eben zu Ihnen, und Sie um eine kleine Gefälligkeit ansprechen
—"
"Die ich Ihnen schon gestern zusagte," erwiderte jener, "wollen
Sie mich in mein Hotel begleiten? Es liegt längst für Sie bereit." —
"Um Gottes willen, jetzt nichts von Geld," fiel der Graf ein,
"Sie töten mich durch diese Prosa; ich bin göttlich gelaunt, selig,
überirdisch gestimmt. O Freund, ich habe es dem Engel gesagt,
daß man uns bemerkt; ich habe ihr gesagt, daß ich fliehen werde;
denn in ihrer Nähe zu sein, sie nicht zu sprechen, nicht anzubeten,
ist mir unmöglich."
"Und darf ich wissen, was sie sagte?"
Sie ist ruhig darüber, sie ist größer als diese schlechten Menschen.
Was ist es auch?' sagte sie, ,man kann uns gewiß nichts Böses
nachsagen, und wenn man auch unser Verhältnis entdeckte, so
will ich mir gerne einmal einen dummen Streich vergeben lassen;
wo lebt ein Mensch, der nicht einmal einen beginge?"'
"Eine gesunde Philosophie," bemerkte der Major; " man kann
nicht vernünftiger über solche Verhältnisse denken; denn gerade die
sind meist am schlechtesten beraten, die glauben, sie können alle
Menschen blenden. Doch ist mir noch eine Frage erlaubt? Wie
es scheint, so sehen Sie Ihre Dame allein? Denn was Sie
mir erzählten, wurde schwerlich gestern im Don Juan verhandelt."
"Wir sehen uns," flüsterte jener, "ja, wir sehen uns; aber
wo, darf ich nicht sagen, und so wahr ich lebe, das sollen auch jene
Menschen nicht ausspähen. Aber lange, ich sehe es selbst ein, lange
Zeit kann es nicht mehr dauern. Drum bin ich immer auf dem
Sprung, Kamerad, und Ihre Hilfe soll mich retten, wenn indes
meine Gelder nicht flüssig werden. .Doch gilt es morgen, so latz
uns heut noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit!' Ich will
noch glücklich, selig sein, weil es ja doch bald ein Ende haben muß.
"Und wozu kann ich Ihnen dienen?" fragte der Major, " wenn
ich nicht irre, wollten Sie mich aufsuchen."
"Richtig, das war warum ich kommen wollte," entgegnete
jener nach einigem Nachsinnen. "Sophie weiß, daß Sie mein
Freund sind; ich habe ihr schon früher von Ihnen erzählt, hauptsächlich
die Geschichte von der Beresinabrücke, wo Sie mich zu
sich auf den Rappen nahmen. Sie hat gestern mit Ihnen gesprochen,
und von Othello , nicht wahr? Die Fürsten will nicht zugeben,
daß er aufgeführt werde wegen irgend eines Märchens, das ich
nicht mehr weiß —"
"Sie waren sehr geheimnisvoll damit," unterbrach ihn der
Freund, "und wie mir schien, wird es die Fürstin auch nicht zugeben."
"Und doch; ich habe sie durch ein Wort dahin gebracht. Die
Prinzessin bat und flehte, und das kann ich nun einmal nicht sehen,
ohne daß ich ihr zu Hilfe komme; ich nahm also eine etwas ernste
Miene an und sagte: ,Sonderbar ist es doch, wenn so etwas ins
Publikum kommt, ist es wie der Wind in den Gesandtschaften,
und kam es einmal so weit, so darf man nicht dafür sorgen, daß
es in acht Tagen als Chronique scandaleuse an allen Höfen
erzählt wird.' Die Fürsten gab mir recht; sie sagte, wiewohl mit
sehr bekümmerter und verlegener Miene, zu, daß das Stück gegeben
werden solle; doch als sie wegging, rief sie mir noch zu, sie gebe
das Spiel dennoch nicht verloren; denn wenn auch Othello schon
auf dem Zettel stehe, lasse sie die Desdemona krank werden."
"Das haben Sie gut gemacht!" rief der Major lachend, "also
die Furcht vor der Chronique scandaleuse hat die Gespensterfurcht
und das Grauen vor den Geheimnissen der Natur überwunden?"
"Jawohl; Sophie ist außer sich vor Freuden, daß sie ihren
Willen hat. Ich bin gerade auf dem Wege zum Regisseur der Oper;
ich soll ihm vierhundert Taler bringen, daß die Aufführung auch
in pekuniärer Hinsicht keiner Schwierigkeit unterworfen sein möchte,
und Sie müssen mich zu ihm begleiten."
"Aber wird es nicht auffallen, wenn Sie im Namen der Prinzessin
diese Summe überbringen?"
"Dafür ist gesorgt; wir bringen es als Kollekte von einigen
Kunstfreunden, stellen Sie einen Dilettanten oder Enthusiasten vor,
oder was in unsern Kram paßt. Der Regisseur wohnt nicht weit
von hier und ist ein alter, ehrlicher Kauz, den wir schon gewinnen
wollen. Nur hier um die Ecke, Freund, sehen Sie dort das kleine
grüne Haus mit dem Erker' "5.
Der Regisseur der Oper war ein kleiner, hagerer Mann; er
war früher als Sänger berühmt gewesen und ruhte jetzt im Alter
auf seinen Lorbeeren. Er empfing die Freunde mit einer gewissen
künstlerischen Hoheit und Würde, welche nur durch seine sonderbare
Kleidung etwas gestört wurde; er trug nämlich eine schwarze
Florentiner Mütze, welche er nur ablegte, wenn er zum Ausgehen
die Perücke auf die Glatze setzte. Auffallend stachen gegen diese
Bequeme Hauskleidung des Alten ein moderner, enge anliegender
Frack und weite, faltenreiche Beinkleider ab; sie zeigten, daß der
Herr Regisseur trotz der sechzig Jährchen, die er haben mochte,
dennoch für die Eitelkeit der Welt nicht abgestorben sei; an den
Füßen trug er weite, ausgetretene Pelzschuhe, auf denen er künstlich
im Zimmer herumfuhr, ohne sichtbar die Beine aufzuheben; es
kam den Fremden vor, als fahre er auf Schlittschuhen.
"Ist mir bereits angezeigt worden, der allerhöchste Wunsch,"
sagte der Regisseur, als ihn der Graf mit dem Zweck ihres Besuches
bekannt machte, "weiß bereits um die Sache; an mir soll
es nicht fehlen, mein einziger Zweck ist ja, die allerhöchsten Ohren
auf ergötzliche Weise zu delektieren; aber —aber, ich werde denn doch
submissest wagen müssen, einige Gegenvorstellungen zu exhibieren."
"Wie? Sie wollen diese Oper nicht geben?" rief der Graf.
"Gott soll mich behüten, das wäre ja ein offenbares Mordattentat
auf die allerhöchste Familie! Nein! nein! Wenn mein
Wort in der Sache noch etwas gilt, wird dieses unglückliche Stück
nie gegeben."
"Hätte ich doch nie gedacht," entgegnete der Graf, "daß ein
Mann wie Sie von Pöbelwahn befangen wäre. Mit Staunen
und Bewunderung vernahm ich schon in meiner frühesten Jugend
in fernen Landen Ihren gefeierten Namen' Sie wurden die Krone
der Sänger genannt, ich brannte vor Begierde, diesen Mann einmal
zu sehen. Ich bitte, verkleinern Sie dieses ehrwürdige Bild nicht
durch solchen Aberwitz!"
Der Alte schien sich geschmeichelt zu fühlen: ein anmutiges
Lächeln zog über seine verwitterten Züge, er steckte die Hände in
die Taschen und fuhr auf seinen Pelzschuhen einigemal im Zimmer
auf und ab. "Allzugütig, allzuviel Ehre!" rief er; "ja, wir waren
unserer Zeit etwas, wir waren ein tüchtiger Tenor! Jetzt hat es
freilich ein Ende. Aberglaube , belieben Sie zu sagen; ich
würde mich schämen, irgend einem Aberglauben nachzuhängen; aber
wo Tatsachen sind, kann von Aberglauben nicht die Rede sein."
"Tatsachen?" riefen die Freunde mit einer Stimme.
"O ja, verehrte Messieurs, Tatsachen! Sie scheinen nicht aus
hiesiger Stadt und Gegend zu sein, daß Sie solche nicht wissens"
Ich habe allerdings von einem solchen Märchen gehört,"
sagte der Major; "es soll, wenn ich nicht irre, jedesmal nach Othello
brennen, und —"
"Brennen? Daß mir Gott verzeih'! Ich wollte lieber, daß es
allemal brennt; Feuer kann man doch löschen, man hat Brandassekuranzen,
man kann endlich noch solch einen Brandschaden zur
Not ertragen; aber sterben? nein, das ist ein weit gefährlicherer
"Sterben sagen Sie? Wer soll sterben?"
"Nun, das ist kein Geheimnis," erwiderte der Regisseur; "so
oft Othello gegeben wird, muß acht Tage nachher jemand aus der
fürstlichen Familie sterben."
Die Freunde fuhren erschrocken von ihren Sitzen auf; denn
der prophetische, richtende Ton, womit der Alte dies sagte, hatte
etwas Greuliches an sich; doch sogleich setzten sie sich wieder und
brachen über ihren eigenen Schrecken in ein lustiges Gelächter aus,
das übrigens den Sänger nicht aus der Fassung brachte.
"Sie lachen?" sprach er; "ich muß es mir gefallen lassen; wenn
es Sie übrigens nicht geniert, will ich Sie die Theaterchronik inspizieren
lassen, die seit hundertundzwanzig Jahren der jedesmalige
Souffleur schreibt."
"Die Theaterchronik her, Alter, lassen Sie uns inspizieren!"
rief der Graf, dem die Sache Spaß zu machen schien; und der Regisseur
rutschte mit ans Schnelligkeit in seine Kammer
und brachte einen in Leder und Messing gebundenen Folianten hervor.
Er setzte eine große, in Bein gefaßte Brille auf und blätterte
in der Chronik. "Bemerken Sie," sagte er, "wegen des Nachfolgenden,
erstlich, hier steht: ,Anno 1740 den 8. Dezember ist die
Aktrice Charlotte Fandauerin in hiesigem Theater erstickt worden.
Man führte das Trauerspiel Othello, der Mohr von Venedig, von
Shakespeare auf.
"Wie?" unterbrach ihn der Major, " anno 1740 sollte man
hier Shakespeares Othello gegeben haben? Und doch war es.
wenn ich nicht irre, Schröder, der zuerst und viel später das erste
Shakespearesche Stück in Deutschland aufführen ließ?"
"Bitte um Vergebung," erwiderte der Alte. "Der Herzog
sah auf einer Reise durch England in London diesen Othello geben,
ließ ihn, weil er ihm außerordentlich gefiel, übersetzen und nachher
hier öfter aufführen. Meine Chronik fährt aber also fort:
'Obgedachte Charlotte Fandauerin hat die Desdemona gegeben
und ist durch die Bettdecke, womit sie in dem Stücke selbst
getötet werden soll, elendiglich umgekommen. Gott sei ihrer armen
Seele gnädig!' Diesen Mord erzählt man sich hier folgendermaßen:
Die Fandauer soll sehr schön gewesen sein; bei Hof ging es damals
unter dem Herzog Nepomuk sehr lasziv zu; die Fandauer wurde
des Herzogs Geliebte. Sie aber soll sich nicht blindlings und unvorsichtig
ihm übergeben haben; sie war abgeschreckt durch das
Beispiel so vieler, die er nach einigen Monaten oder Jährchen verstieß
und elendiglich herumlaufen ließ. Sie soll also ein schreckliches
Bündnis mit ihm gemacht und erst, nachdem er es beschworen,
sich ihm ergeben haben. Aber wie bei den andern, so war es auch
bei der Fandauer. Er hatte sie bald satt und wollte sie auf gelinde
Art entfernen. Sie aber drohte ihm, das Bündnis, das er mit
ihr gemacht, drucken und in ganz Europa verbreiten zu lassen;
sie zeigte ihm auch, daß sie diese Schrift schon in vielen fremden
Städten niedergelegt habe, wo sie auf ihren ersten Wink verbreitet
würde.
"Der Herzog war ein grausamer Herr, und sein Zorn kannte
keine Grenzen. Er soll ihr auf verschiedenen Wegen durch Gift
haben beikommen wollen; aber sie ass nichts, als was sie selbst gekocht
hatte. Ergab daher einem Schauspieler eine große Summe Geld
und ließ den Othello aufführen. Sie werden sich erinnern, daß
in dem Shakespeareschen Trauerspiel die Desdemona von dem
Mohren im Bette erstickt wird. Der Akteur machte seine Sache
nur allzu natürlich; denn die Fandauerin ist nicht mehr erwacht."
Der Graf schauderte. "Und dies soll wahr sein?" rief er aus.
"Fragen Sie von älteren Personen in der Stadt, wen Sie
wollen, Sie werden es überall so erzählen hören. Es wurde nachher
von den Gerichten eine Untersuchung gegen den Mörder anhängig
gemacht; aber der Herzog schlug sie nieder, nahm den Akteur vom
Theater in seine Dienste und erklärte, die Fandauerin habe durch
Zufall der Schlag gerührt. Aber acht Tage darauf starb ihm sein
einziges Söhnlein, ein Prinz von zwölf Jahren."
"Zufall!" sagte der Maior.
"Nennen Sie es immerhin so," versetzte der Alte und blätterte
weiter; "doch hören Sie! Othello wurde zwei Jahre lang nicht
mehr gegeben; denn wegen der Erinnerung an jenen Mord mochte
der Herzog dieses Trauerspiel nicht leiden. Aber nach zwei Jahren
— in diesem Buch steht jedes Lustspiel aufgezeichnet —nach zwei
Jahren war er so ruchlos, es wieder aufführen zu lassen. Hier
steht ,Den 28. September 1742: Othello, der Mohr von Venedig';
und hier am Rande ist bemerkt: ,Sonderbarlich! am 5. Oktober
ist Prinzessin Auguste verstorben, gerade auch acht Tage nach
Othello, wie vor zwei Jahren der höchstselige Prinz Friedrich.
Zufall, meine werten Hermens"
"Allerdings Zufall!" riefen jene.
"Weiter! ,Den 6. Februar 1748, Othello, der Mohr von
Venedig.' Ob es wohl wieder eintrifft? Sehen Sie her, meine
Herren! Das hat der Souffleur hingeschrieben, bemerken Sie gefälligst
, es ist dieselbe Hand, die hier in margine bemerkt: ,Entsetzlich!
die Fandauerin spukt wieder, Prinz Alexander den 14. plötzlich
gestorben, acht Tage nach Othello."' Der Alte hielt inne und
sah seine Gäste fragend an; sie schwiegen; er blätterte weiter und
las: .Den 16. Januar 1775, zum Benefiz der Mlle. Koller: Othello,
der Mohr von Venedig. Richtig wieder! Arme Prinzessin Elisabeth,
hast du müssen so schnell versterben! † 24. Januar 1775."'
"Possen!" unterbrach ihn der Major, "ich gebe zu, es ist so;
es soll einigemal der Eigensinn des Zufalls es wirklich so gefügt
haben; geben Sie mir aber nur einen vernünftigen Grund an
zwischen Ursache und Wirkung, wenn Sie diese Höchstseligen am
Othello versterben lassen wollen!"
Herr," antwortete der alte Mann mit tiefem Ernst, "das
kann ich nicht; aber ich erinnere an die Worte jenes großen Geistes,
von dem auch dieser unglückselige Othello abstammt: Es gibt viele
Dinge zwischen Himmel und Erde, wovon sich die Philosophen
nichts träumen lassen!"
"Ich kenne das," sagte der Graf; "aber ich wette, Shakespeare
hätte nie diesen Spruch von sich gegeben, hätte er gewußt, wie
viel Lächerlichkeit sich hinter ihm verbirgt!"
"Es ist möglich," erwiderte der Sänger; "hören Sie aber
weiter! Ich komme jetzt an ein etwas neueres Beispiel, dessen ich
mich erinnern tann, an den Herzog selbst."
"Wie," unterbrach ihn der Major; "eben jener, der die
Aktrice ermorden ließ?"
"Derselbe; Othello war vielleicht zwanzig Jahre nicht mehr
gegeben worden; da kamen, ich weiß es noch wie heute, fremde
Herrschaften zum Besuch. Unser Schauspiel gefiel ihnen, und sonderbarerweise
wünschte eine der fremden fürstlichen Damen Othello
zu sehen. Der Herzog ging ungern daran, nicht aus Angst vor den
greulichen Umständen, die diesem Stück zu folgen pflegten; denn
er war ein Freigeist und glaubte an nichts dergleichen; aber er
war jetzt alt; die Sünden und Frevel seiner Jugend fielen ihm
schwer aufs Herz, und er hatte Abscheu vor diesem Trauerspiel.
Aber sei es, daß er der Dame nichts abschlagen mochte, sei es, daß
er sich vor dem Publikum schämte, das Stück mußte über Hals
und Kopf einstudiert werden, es wurde auf seinem Lustschloß gegeben
. Sehen Sie, hier steht es: ,Othello, den 16. Oktober 1793
auf dem Lustschloß H . . . aufgeführt."'
"Nun, Alter, und was folgte? Geschwind!" riefen die Freunde
ungeduldig.
"Acht Tage nachher, den 24. Oktober 1793, ist der Herzog
gestorben."
"Nicht möglich," sagte der Major nach einigem Stillschweigen;
"lassen Sie Ihre Chronik sehen; wo steht denn etwas vom Herzog?
Hier ist nichts IIL margine bemerkt,"
"Nein," sagte der Alte und brachte zwei Bücher herbei; "aber
hier seine Lebensgeschichte, hier seine Trauerrede, — wollen Sie
gefälligst nachsehen?"
Der Graf nahm ein kleines schwarzes Buch in die Hand und
las: "Beschreibung der solennen Beisetzung des am 24. Oktober
1793 höchstselig verstorbenen Herzogs und Herrn." —
"Dummes
Zeug," rief er und sprang auf; "das könnte mich um den Verstand
bringen. Zufall! Zufall, und nichts anders! Nun — und wissen
Sie noch ein solches Histörchen?"
"Ich könnte Ihnen noch einige anführen," erwiderte der Alte
mit Ruhe, "doch Sie langweilen sich bei dieser sonderbaren Unterhaltung;
nur aus der neuesten Zeit noch einen Fall. Rossini
schrieb seine herrliche Oper Othello, worin er, was man bezweifelt
hatte, zeigte, daß er es verstehe, auch die tieferen, tragischen Saiten
der menschlichen Brust anzuschlagen. Er wurde hier höheren Orts
nicht verlangt; daher wurde er auch nicht fürs Theater einstudiert
. Die Kapelle aber unternahm es, diese Oper für sich zu studieren,
es wurden einige Szenen in Konzerten ausgeführt, und
diese wenigen Proben entzündeten im Publikum einen so raschen
Eifer für die Oper, daß man allgemein in Zeitungen, an Wirtstafeln
, in Singtees und dergleichen von nichts als Othello sprach,
nichts Othello verlangte. Von den grauenvollen Begebenheiten
die das Schauspiel Othello begleitet hatten, war gar nicht
die Rede; es schien, man denke sich unter der Oper einen ganz
andern Othello. Endlich bekam der damalige Regisseur —ich war
noch auf dem Theater und sang den Othello — er bekam den Auf
trag, sage ich, die Oper in die Szene zu setzen. Das Haus war zum
Ersticken voll, Hof und Adel war da, das Orchester strengte sich
übermenschlich an, die Sängerinnen ließen nichts zu wünschen
übrig; aber ich weiß nicht — uns alle wehte ein unheimlicher Geist
an, als Desdemona ihr Lied zur Harfe spielte, als sie sich zum Schlafengehen
rüstete, als der Mörder, der abscheuliche Mohr, sich nahte.
Es war dasselbe Haus, es waren dieselben Bretter, es war dieselbe
Szene wie damals, wo ein liebliches Geschöpf in derselben
Rolle so greulich ihr Leben endete. Ich muß gestehen, trotz der
Teufelsnatur meines Othello befiel mich ein leichtes Zittern, als
der Mord geschah; ich blickte ängstlich nach der fürstlichen Loge,
wo so viele blühende, kräftige Gestalten auf unser Spiel herübersahen.
,Wirst du wohl durch die Töne, die deinen Tod begleiten,
dich besänftigen lassen, blutdürstigen Gespenst der Gemordeten?
dachte ich. Es war so; fünf, sechs Tage hörte man nichts von einer
Krankheit im Schlosse; man lachte, daß es nur der Einkleidung
in eine Oper bedurfte, um jenen Geist gleichsam irre zu machen;
der siebente Tag verging ruhig, am achten wurde Prinz Ferdinand
auf der Jagd erschossen."
"Ich habe davon gehört," sagte der Major, "aber es war Zufall;
die Büchse seines Nachbars ging los und —"
"Sage ich denn, das Gespenst bringe die Höchstseligen selbst
um, drücke ihnen eigenhändig die Kehle zu? Ich spreche ja nur
von einem unerklärlichen, geheimnisvollen Zusammenhang."
"Und haben Sie uns nicht noch zu guter Letzt ein Märchen
erzählt? Wo steht denn geschrieben, daß acht Tage vor jener Jagd
Othello gegeben wurde?"
"Hier!" erwiderte der Regisseur kaltblütig, indem er auf eine
Stelle in seiner Chronik wies; der Graf las: .Othello , Oper
von Rossini, den 12. März'; und auf dem Rande stand dreimal
unterstrichen. .Den 20 sten fiel Prinz Ferdinand auf
der Jagd.
Die Männer sahen einander schweigend einige Augenblicke an;
sie schienen lächeln zu wollen, und doch hatte sie der Ernst des alten
Mannes, das sonderbare Zusammentreffen jener furchtbaren Ereignisse
tiefer ergriffen, als sie sich selbst gestehen mochten. Der
Major blätterte in der Chronik und pfiff vor sich hin; der Graf
schien über etwas nachzusinnen, er hatte Stirne und Augen fest
in die Hand gestützt. Endlich sprang er auf. "Und dies alles kann
Ihnen dennoch nicht helfen," rief er, "die Oper muß gegeben
werden. Der Hof, die Gesandten wissen es schon; man würde sich
blamieren, wollte man durch diese Zufälle sich stören lassen, Hier
sind vierhundert Taler, mein Herr! Es sind einige Freunde und
Liebhaber der Sunst, welche sie Ihnen zustellen. um Ihren Othello
recht glänzend auftreten zu lassen. Kaufen Sie davon, was Sie
wollen," setzte er lächelnd hinzu, "lassen Sie Geisterbanner, Beschwörer
kommen, kaufen Sie einen ganzen Hexenapparat, kurz,
was nur immer nötig ist, um das Gespenst zu vertreiben — nur
geben Sie uns Othello!"
"Meine Herren," sagte der Alte, "es ist möglich, daß ich in
meiner Jugend selbst über dergleichen gelacht und gescherzt hätte;
das Alter hat mich ruhiger gemacht; ich habe gelernt, daß es Dinge
gibt, die man nicht geradehin verwerfen muß. Ich danke für Ihr
Geschenk; ich werde es auf eine würdige Weise anzuwenden wissen.
Aber nur auf den strengsten Befehl werde ich Othello geben lassen.
Ach Gott und Herr!" rief er kläglich, " wenn ja der Fall wieder
einträte, wenn das liebe, herzige Kind, Prinzessin Sophie, des
Teufels wäre!"
"Seien Sie still!" rief der Graf erblassend. "Wahrhaftig, Ihre
wahnsinnigen Geschichten sind ansteckend; man könnte sich am
hellen Tage fürchten! Adieu! Vergessen Sie nicht, daß Othello
auf jeden Fall gegeben wird; machen Sie mir keine Kunstgriffe
mit Katarrh und Fieber, mit Krankwerdenlassen und eingetretenen
Hindernissen! Beim Teufel, wenn Sie keine Desdemona hergeben,
werde ich das Gespenst der Erwürgten heraufrufen, daß es diesmal
selbst eine Gastrolle übernimmt."
Der Alte kreuzigte sich und fuhr ungeduldig auf seinen Schuhen
umher. "Welche Ruchlosigkeit!" jammerte er; " wenn sie nun erschiene
wie der steinerne Gast? Lassen Sie solche Reden, ich bitte
Sie! Wer weiß, wie nahe jedem sein eigenes Verderben ist!"
Lachend stiegen die beiden die Treppe hinab, und noch lange
diente der musikalische Prophet mit der Florentiner Mütze und
den Pelzschlittschuhen ihrem Witz zur Zielscheibe.
6.
Es gab Stunden, worin der Major sich durchaus nicht in den
Grafen, seinen alten Waffenbruder, finden konnte. War er sonst
fröhlich, lebhaft, von Witz und Laune strahlend, konnte er sonst
die Gesellschaft durch treffende Anekdoten, durch Erzählungen aus
seinem Leben unterhalten, wußte er sonst jeden, mochte er noch
so gering sein, auf eine sinnige, feine Weise zu verbinden, so daß
er. der Liebling aller, von vielen angebetet, wurde, so war er in
andern Momenten gerade das Gegenteil. Er fing an, trocken und
stumm zu werden, seine Augen senkten ich, sein Mund preßte sich
ein. Nach und nach ward er finster, Spielte mit seinen Fingern,
antwortete mürrisch und ungestüm. Der Major hatte ihm schon
abgemerkt, daß dies die Zeit war, wo er aus der Gesellschaft entfernt
werden müsse; denn jetzt fehlten noch wenige Minuten, so
zog er mit leicht aufgeregter Empfindlichkeit jedes unschuldige Wort
auf sich und fing an, zu wüten und zu rasen.
Der Major war viel um ihn; er hatte aus früherer Zeit eine
gewisse Gewalt und Herrschaft über ihn, die er jetzt geltend machte,
um ihn vor diesen Ausbrüchen der Leidenschaft in Gesellschaft zu
bewahren; desto greulicher brachen sie in seinen Zimmern aus;
er tobte, er fluchte in allen Sprachen, er klagte sich an, er weinte.
Bin ich nicht ein elender, verworfener Mensch?" sprach er einst
in einem solchen Anfall. "Meine Pflichten mit Füßen zu treten,
die treueste Liebe von mir zu stoßen, ein Herz zu martern, das
mir so innig anhängt! Leichtsinnig schweife ich in der Welt umher,
habe mein Glück verscherzt, weil ich in meinem Unsinn glaubte,
ein Kosciusko zu sein, und bin nichts als ein Schwachkopf, den
man wegwarf. Und so viele Liebe, diese Aufopferung, diese Treue
so zu vergelten!"
Der Major nahm zu allerlei Trostmitteln seine Zuflucht. "Sie
sagen ja selbst, daß die Prinzessin Sie zuerst geliebt hat; konnte
sie je eine andere Liebe, eine andere Treue von Ihnen erwarten
als die, welche die Verhältnisse erlauben?"
"Ha, woran mahnen Sie mich!" rief der Unglückliche, " wie
klagen mich Ihre Entschuldigungen selbst an! Auch sie , auch
sie betört! Wie kindlich, wie unschuldig war sie, als ich Verruchter
kam, als ich sie sah mit dem lieblichen Schmelz der Unschuld in
den Augen! Da fing mein Leichtsinn wieder an; ich vergaß alle
guten Vorsätze, ich vergaß, wem ich allein gehören dürfte; ich stürzte
mich in einen Strudel von Lust, ich begrub mein Gewissen in Vergessenheit
!" Er fing an zu weinen, die Erinnerung schien seine
Wut zu besänftigen. "Und konnte ich," flüsterte er, "konnte ich
so von ihr gehen? Ich fühlte, ich sah es an jeder ihrer Bewegungen,
ich las es in ihrem Auge, sie liebte mich; sollte ich fliehen, als ich
sah, wie diese Morgenröte der Liebe in ihren Wangen aufging,
wie der erste leuchtende Strahl des Verständnisses aus ihrem Auge
brach, auf mich niederfiel, mich aufzufordern schien, ihn zu erwidern?"
"Ich beklage Sie," sprach der Freund und drückte seine Hand;
"wo lebt ein Mann, der so süßer Versuchung widerstanden wäre?"
"Und als ich ihr sagen durfte, wie ich sie verehre, als sie mir
mit stolzer Freude gestand, wie sie mich liebte, als jenes traute,
entzückende Spiel der Liebe begann, wo ein Blick, ein flüchtiger
Druck der Hand mehr sagt, als Worte auszudrücken vermögen,
wo man tagelang nur in der freudigen Erwartung eines Abends,
einer Stunde, einer einsamen Minute lebte, wo man in der Erinnerung
dieses seligen Augenblicks schwelgte, bis der Abend wieder erschien,
bis ich aus dem Taumelkelch ihrer süßen Augen aufs neue
Vergessenheit trank, wie reich wußte sie zu geben, wie viel Liebe
wußte sie in ein Wort, in einen Blick zu legen! Und ich sollte
fliehen?"
"Und wer verlangt dies?" sagte der Freund gerührt. "Es
wäre grausam gewesen, eine so schöne Liebe, die alle Verhältnisse
zum Opfer brachte, zurückzustossen. Nur Vorsicht hätte ich gewünscht;
ich denke, noch ist nicht alles verloren!"
Er schien nicht darauf zu hören; seine Tränen strömten heftiger,
sein glänzendes Auge schien tiefer in die Vergangenheit zu tauchen.
"Und als sie mir mit holdem Erröten sagte, wie ich zu ihr gelangen
könne, als sie erlaubte, ihre fürstliche Stirne zu küssen, als der süße
Mund, dessen Wünsche einem Volk Befehle waren, mein gehörte,
und die Hoheit einer Fürstin unterging im traulichen Flüstern der
Liebe — da, da sollte ich sie lassen?"
"Wie glücklich sind Sie! Gerade in dem Geheimnis dieses
Verhältnisses muß ein eigener Reiz liegen; und warum wollen
Sie diese Liebe so tief verdammen? Fassen Sie sich! Das Urteil
der Welt kann Ihnen gleichgültig sein, wenn Sie glücklich sind;
denn im ganzen trägt ja wahrhaftig dies Verhältnis nichts so
Schwarzes, Schuldiges an sich, wie Sie es selbst sich vorstellen!"
Der Graf hatte ihm zugehört; seine Augen rollten, seine Wangen
färbten sich dunkler, er knirschte mit den Zähnen. "Nicht so mild
müssen Sie mich beurteilen," sagte er mit dumpfer Stimme, "ich
verdiene es nicht. Ich bin ein Frevler, vor dem Sie zurückschaudern
sollten. O —daß ich Vergessenheit erkaufen könnte, daß ich Jahre
auslöschen könnte aus meinem Gedächtnis! — Ich will vergessen,
ich muß vergessen, ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht vergesse;
schaffen Sie Wein, Kamerad! Ich will trinken, mich dürstet, es
wütet eine Flamme in mir, ich will mein Gedächtnis, meine Schuld
ersäufen!"
Der Major war ein besonnener Mann: er dachte ziemlich
ruhig über diese verzweiflungsvollen Ausbrüche der Reue und
Selbstanklage. "Er ist leichtsinnig, so habe ich ihn von jeher gekannt
," sagte er zu sich; "solche Menschen kommen leicht aus einem
Extrem in das andere. Er sieht jetzt große Schuld in seiner Liebe,
weil sie der Geliebten in ihren Verhältnissen schaden kann, und
im nächsten Augenblick berauscht ihn wieder die Wonne der Erinnerung
." Der Wein kam, der Major goß ein; der Graf stürzte
schnell einige Gläser hinunter' er ging mit schnellen Schritten
schweigend im Zimmer auf und nieder. blieb vor dem Freunde
stehen, trank und ging wieder. Dieser mochte seine stillen Empfindungen
nicht unterbrechen; er trank und beobachtete über das
Glas hin aufmerksam die Mienen, die Bewegungen seines Freundes.
"Major!" rief dieser endlich und warf sich auf den Stuhl nieder,
welches Gefühl halten Sie für das schrecklichste?
Dieser schlürfte bedächtig den Wein in kleinen Zügen; er schien
nachzusinnen und sagte dann: "Ohne Zweifel das, was das freudigste
Gefühl gibt, muß auch das traurigste werden —Ehre, gekränkte Ehre."
Der Graf lachte grimmig. "Lassen Sie sich die Taler wiedergeben
, Kamerad, die Sie einem schlechten Psychologen für seinen
Unterricht gaben! Gekränkte Ehre! Also tiefer steigt Ihre Kunst
nicht hinab in die Seele? Die gekränkte Ehre fühlt sich doch selbst
noch; es lebt doch ein Gefühl in des Gekränkten Brust, das ihn
hoch erhebt über die Kränkung, er kann die Scharte auswetzen
am Beleidiger; er hat noch die Möglichkeit, seine Ehre wieder
fleckenlos und rein zu waschen. Aber — tiefer, Herr Bruder,"
rief er, indem er die Hand des Majors krampfhaft faßte, "tiefer
hinab in die Seele! Welches Gefühl ist noch schrecklicher?"
"Von einem habe ich gehört," erwiderte jener, "das aber
Männer wie wir nicht kennen — es heißt Selbstverachtung."
Der Graf erbleichte und zitterte; er stand schweigend auf und
sah den Freund lange an. "Getroffen, Kamerad!" sagte er, "das
sitzt noch tiefer. Männer wie wir pflegen es nicht zu kennen,
es heißt Selbstverachtung. Aber der Teufel legt auch gar feine
Schlingen auf die Erde; ehe man sich versieht, ist man gefangen.
Kennen Sie die Qual des Wankelmutes, Maior?"
"Gottlob, ich habe sie nie erfahren; mein Weg ging immer
geradeaus aufs Ziel!"
"Geradeaus aufs Ziel? Wer auch so glücklich wäre! Erinnern
Sie sich noch des Morgens, als wir aus den Toren von Warschau
ritten? Unsere Gefühle, unsere Sinne gehörten jenem großen
Geiste, der sie gefangen hielt; aber wem gehörten die Herzen der
polnischen Lanciers? Unsere Trompeten ließen jene Arien aus
den Krakauern ertönen, jene Gesänge, die uns als Knaben
bis zur Wut für das Vaterland begeistert hatten; diese wohlbekannten
Klänge pochten wieder an die Pforte unsrer Brust; Kamerad,
wem gehörten unsere Herzen?"
"Dem Vaterland!" sagte der Major gerührt; "ja, damals,
damals war ich freilich wankelmütig!"
Wohl Ihnen, daß Sie es sonst nie waren! Der Teufel weiß
das recht hübsch zu machen; er läßt uns hier empfinden, glücklich
werden, und dort spiegelt er noch höhere Wonne, noch größeres
Glück uns vorl"
"Möglich; aber der Mann hat Kraft, dem treu zu bleiben,
was er gewählt hat."
"Das ist es," rief der Graf, wie niedergedonnert durch dies
eine Wort, "das ist es, und daraus — die Selbstverachtung;
und warum besser scheinen, als ich bin? Kamerad, Sie sind ein
Mann von Ehre —fliehen Sie mich wie die Pest, ich bin ein Ehrloser,
ein Ehrvergessener —Sie sind ein Mann von Kraft, verachten
Sie mich, ich muß mich selbst verachten, wissen Sie, ich bin —"
"Halt, ruhig!" unterbrach ihn der Freund, "es pochte an der
Türe —Herein!"
7.
"Bedaure, bedaure unendlich," sprach der Regisseur der Oper
und rutschte mit tiefen Verbeugungen ins Zimmer, "ich unterbreche
Hochdieselben?"
"Was bringen Sie uns?" erwiderte der Major, schneller gefaßt
als der unglückliche Freund. "Setzen Sie sich und verschmähen
Sie nicht unsern Wein; was führt Sie zu uns?"
"Die traurige Gewißheit, daß Othello doch gegeben wird.
Es hilft nichts; alles Bitten ist umsonst. Ich will Ihnen nur gestehen,
ich ließ die Oper einüben, hatte aber unsere Primadonna
schon dahin gebracht, daß sie mir feierlich gelobte, heiser zu werden;
da führt der Satan gestern abend die Sängerin Fanutti in die
Stadt; sie kommt vom . . . .ner Theater, bittet die allerhöchste
Theaterdirektion um Gastrollen, und — stellen Sie sich vor, man
sagt ihr auf nächsten Sonntag Othello zu. Ich habe beinahe geweint,
wie es mir angezeigt wurde; jetzt hilft kein Gott mehr dagegen,
und doch habe ich schreckliche Ahnungen!
"Alter Herr!" rief der Graf, der indessen Zeit gehabt hatte,
sich zu sammeln. "Geben Sie doch einmal Ihren Köhlerglauben
auf; ich kann Sie versichern, es soll keiner der allerhöchsten Personen
ein Haar gekrümmt werden; ich gehe hinaus auf den Kirchhof,
lasse mir das Grab der erwürgten Desdemona zeigen, mache ihr
meine Aufwartung und bitte sie, diesmal ein Auge zuzudrücken
und mich zu erwürgen. Freilich hat sie dann nur einen Grafen
und kein fürstliches Blut; doch einer meiner Vorfahren hat auch
eine Krone getragen!"
"Freveln Sie nicht so erschrecklich," entgegnete der Alte, "wie
Seicht kann Sie das Unglück mit hinabziehen! Mit solchen Dingen
ist nicht zu scherzen. überdies habe ich heute nacht im Traum einen
großen Trauerzug mit Fackeln gesehen, wie man Fürsten zu begraben
pflegt."
"Schreckliche Visionen, guter Herr!" lachte der Major. "Haben
Sie vielleicht vorher ein Gläschen zu viel gesunken? Und was ist
natürlicher, als daß Sie solches Zeug träumen, da Sie den ganzen
Tag mit Todesgedanken umgehen!"
Der Alte ließ sich nicht aus seinem Ernst herausschwatzen.
"Gerade Sie , verehrter Herr, sollten nicht Spott damit treiben,"
sagte er. "Ich habe Sie nie gesehen bis zu jener Stunde, wo Sie
mich mit dem Herrn Grafen besuchten, und doch gingen wir beide
heute nacht miteinander dem Sarge nach, Sie weinten heftig."
"Immer köstlicher! Wie lebhaft Sie träumen! Darum mußte
ich hierher kommen, um mit Ihnen, lieber Mann, im Traume
spazieren zu gehen!
"Brechen wir ab!" erwiderte jener, "was kommen muß, wird
kommen, und wir würden vielleicht viel darum geben, hätten wir
alles nur geträumt. Ich komme aber hauptsächlich zu Ihnen, um
Sie zur Probe einzuladen; Sie haben sich so generös gegen uns
bewiesen, daß ich mir ein Vergnügen daraus mache, Ihnen unser
Personal, namentlich die neue Sängerin, zu zeigen."
Die Freunde nahmen freudig den Vorschlag an. Der Graf
schien wie immer seine Heftigkeit zu bereuen, und diese Zerstreuung
kam ihm erwünscht; auf dem Major hatten jene Ausbrüche einer
Selbstanklage schwer und drückend gelegen; auch er nahm daher
mit Dank diesen Ausweg an, um einer näheren Erklärung seines
Freundes, die er eher fürchtete als wünschte, zu entfliehen.
8.
Und wirklich schien auch seit jener Stunde der Graf diese Saite
nicht mehr berühren zu wollen; er schien wohl hin und wieder
düster, ja die Augenblicke des tiefen Grames kehrten wieder, aber
nicht mit ihnen das Geständnis einer großen Schuld, das damals
schon auf seinen Lippen schwebte; er war verschlossener als sonst.
Der Major sah ihn sogar einige Tage beinahe gar nicht; die Geschäfte
, die ihn in diese Stadt gerufen hatten, ließen ihm wenige
Stunden übrig, und diese pflegte gerade der Graf dem Theater
zu widmen; denn sei es aus Lust an der Sache selbst, oder um im
Sinne der Geliebten zu handeln und ihre Lieblingsoper recht glänzend
erscheinen zu lassen, er war in jeder Probe gegenwärtig; sein richtiger
Takt, seine ausgebreiteten Reisen, sein feiner, in der Welt
gebildeter Geschmack verbesserten unmerklich manches, was dem
Auge und Ohr selbst eines so scharfen Kritikers, wie der Regisseur
war, entgangen wäre; und der alte Mann vergaß oft stundenlang
die schwarzen Ahnungen, die seine Seele quälten, so sehr wußte
Graf Zronievsky sein Interesse zu fesseln,
So war Othello zu einer Vollkommenheit fortgeschritten, die
man anfangs nicht für möglich gehalten hätte; die Oper war durch
die sonderbaren Umstände, welche ihre Aufführung bisher verhindert
hatten, nicht nur dem Publikum, sondern selbst den Sängern
neu geworden; kein Wunder, daß sie ihr möglichstes taten, um
so großen Erwartungen zu entsprechen; kein Wunder, daß man
mit freudiger Erwartung dem Tag entgegensah, der den Mohren
von Venedig auf die Bretter rufen sollte.
Es kam aber noch zweierlei hinzu, das Interesse des Publikums
zu fesseln. Der Sängerin Fanutti war ein großer Ruf vorausgegangen;
man war neugierig, wie sie sich vom Theater ausnehme,
wie sie Desdemona geben werde, eine Rolle, zu der man außer
schönem Gesang auch ein höheres tragisches Spiel verlangte. Hiezu
kam das leise Gerücht von den sonderbaren Vorfällen, die jedesmal
Othello begleitet hatten; die ältern Leute erzählten, die jüngeren
sprachen es nach, zweifelten, vergrößerten, so daß ein großer Teil
des Publikums glaubte, der Teufel selbst werde eine Gastrolle
im Othello übernehmen.
Der Major von Larun hatte Gelegenheit, an manchen Orten
über diese Dinge sprechen zu hören; am auffallendsten war ihm,
daß man bei Hof, wo er noch einige Abende zubrachte, kein Wort
mehr über Othello sprach; nur Prinzessin Sophie sagte einmal
flüchtig und lächelnd zu ihm: "Othello hätten wir denn doch herausgeschlagen
; Ihrer Krankheitstante, Baron, und der diplomatischen
Drohung des Grafen haben wir es zu danken. Wie freue ich mich
auf Sonntag, auf mein Desdemona-Liedchen; wahrlich, wenn ich
einmal sterbe, es soll mein Schwanengesang werden."
"Gibt es Ahnungen?" dachte der Major bei diesen flüchtig
hingeworfenen Worten, die ihm unwillkürlich schwer und bedeutungsvoll
klangen; "die Sage von der gespenstigen Desdemona, die
Furcht des alten Regisseurs, seine Träume vom Trauergeleite und
dieser Schwanengesang!" Er sah der holden, lieblichen Erscheinung
nach, wie sie froh und freundlich durch die Säle gleitete, wie sie,
gleich dem Mädchen aus der Fremde, jedem eine schöne Gabe,
ein Lächeln oder ein freundliches Wort darreichte, — wenn der
Zufall es wieder wollte, dachte er, wenn sie stürbe! Er verlachte
sich im nächsten Augenblicke selbst, er konnte nicht begreifen, wie
ein solcher Gedanke in seine vorurteilsfreie Seele kommen könne —
er suchte mit Gewalt dieses lächerliche Phantom aus seiner Erinnerung
zu verdrängen, — umsonst, dieser Gedanke kehrte immer
wieder, überraschte ihn mitten unter den fremdartigsten Reden und
Gegenständen, und immer noch glaubte er eine süße Stimme flüstern
zu hören: "Wenn ich sterbe, sei es mein Schwanengesang."
Der Sonntag kam, und mit ihm ein sonderbarer Vorfall.
Der Major war nachmittags mit dem Grafen und mehreren Offizieren
ausgeritten. Auf dem Heimweg überfiel sie ein Regen,
der sie bis auf die Haut durchnäßte. Die Wohnung des Grafen
lag dem Tore zunächst, er bat daher den Major, sich bei ihm umzukleiden
; einen Hut des Freundes auf dem Kopf, in einen seiner
Überröcke gehüllt, trat der Major aus dem Hause, um in seine eigene
Wohnung zu eilen. Er mochte einige Straßen gegangen sein, und
immer war es ihm, als schleiche jemand allen seinen Tritten nach.
Er blieb stehen, sah sich um, und dicht hinter ihm stand ein hagerer
großer Mann in einem abgetragenen Rock. "Dies an Sie, Herr!"
sagte er mit dumpfer Stimme und durchdringendem Blick, drückte
dem Erstaunten ein kleines Billett in die Hand und sprang um die
nächste Ecke. Der Major konnte nicht begreifen, woher ihm in der
völlig fremden Stadt solche geheimnisvolle Botschaft kommen sollte.
Er betrachtete das Billett von allen Seiten; es war feines, glänzendes
Papier, in eine Schleife künstlich zusammengeschlungen, mit einer
schönen Kamee gesiegelt. Keine Aufschrift. "Vielleicht will man
sich einen Scherz mit dir machen," dachte er und öffnete es sorglos
noch auf der Straße; er las und wurde aufmerksam, er las weiter
und erblaßte; er steckte das Papier in die Tasche und eilte seiner
Wohnung, seinem Zimmer zu.
Es war schon Dämmerung gewesen auf der Straße; er glaubte,
nicht recht gelesen zu haben, er rief nach Licht. Aber auch beim
hellen Schein der Kerzen blieben die unseligen Worte fest und
drohend stehen.
"Elender! Du kannst Dein Weib, Deine kleinen Würmer im
Elend schmachten lassen, während Du vor der Welt in Glanz und
Pracht auftrittst? Was willst Du in dieser Stadt? Willst Du ein
ehrwürdiges Fürstenhaus beschimpfen, seine Tochter so unglücklich
machen, als Du Dein Weib gemacht hast! Fliehe! In der Stunde,
wo Du dieses lies'st, weiß Pr. Sph. das schändliche Geheimnis
Deines Betrugs."
Der Maior war keinen Augenblick im Zweifel, daß diese Zeilen
an den Grafen gerichtet, daß sie durch Zufall, vielleicht, weil er
in des Freundes Kleidern über die Straße gegangen, in seine Hände
geraten seien. Jetzt wurden ihm auf einmal jene Ausbrüche der
Verzweiflung klar; es war Reue, Selbstverachtung, die in einzelnen
Momenten die glänzende Hülle durchbrochen, womit er
sein trügerisches Spiel bedeckt hatte. Laruns Blicke fielen auf die
Zeilen, die er noch immer in der Hand hielt; jene Chiffern Pr. Spb.
konnten nichts anderes bedeuten als den Namen des holden, jetzt
so unglückseligen Geschöpfes, das jener gewissenlose Verräter in
sein Netz gezogen hatte. Der Maior war ein Mann von kaltem,
berechnendem Blick, von starkem, konsequentem Geiste; er hatte
sich selten oder nie von einem Gegenstand überraschen oder außer
Fassung setzen lassen, aber in diesem Augenblick war er nicht mehr
Herr über sich; Wut, Grimm, Verachtung kämpften wechselsweise
in seiner Seele. Er suchte sich zu bezwingen, die Sache von einem
milderen Gesichtspunkt anzusehen, den Grafen durch seinen Charakter,
seinen grenzenlosen Leichtsinn zu entschuldigen; aber der Gedanke
an Sophie, der Blick auf "das Weib und die armen kleinen Würmer"
des Elenden verjagten jede mildernde Gesinnung, brausten wie ein
Sturm durch seine Seele; ja es gab Augenblicke, wo seine Hand
krampfhaft nach der Wand hinzuckte, um die Pistolen herunterzureißen
und den schlechten Mann noch in dieser Stunde zu züchtigen.
Doch die Verachtung gegen ihn bewirkte, was mildere Stimmen
in seiner Brust nicht bewirken konnten. "Er muß fort, noch
diese Stunde," rief er; "die Unglückliche, die er betörte, darf um
keinen Preis erfahren, welchem Elenden sie ihre erste Liebe schenkte.
Sie soll ihn beweinen, vergessen; ihn verachten zu müssen, könnte
sie töten." Er warf diese Gedanken schnell aufs Papier, raffte eine
große Summe, mehr als er entbehren konnte, zusammen, legte
den unglücklichen Brief bei und schickte alles durch seinen Diener
an den Grafen.
Es war die Stunde, in die Oper zu fahren; wie gerne hätte
der Major heute keinen Menschen mehr gesehen, und doch glaubte
er es der Prinzessin schuldig zu sein, sie vor der gedrohten Warnung
zu bewahren. Ersann hin und her, wie er dies möglich machen
könne; es blieb ihm nichts übrig, als sie zu beschwören, keinen Brief
von fremden Händen anzunehmen. Er warf den Mantel um und
wollte eben das Zimmer verlassen, als sein Diener zurückkam;
er hatte das Paket an den Grafen noch in der Hand. "Seine Exzellenz
sind soeben abgereist," sagte er und legte das Paket auf
den Tisch.
"Abgereist?" rief der Major. "Nicht möglich!"
"Vor der Türe ist sein Jäger, er hat einen Brief an Sie; soll
ich ihn hereinbringen?
Der Major winkte, der Diener führte den Jäger herein, der
ihm weinend einen Brief übergab. Er riß ihn auf. "Leben Sie
wohl auf ewig! Der Brief, der, wie ich soeben erfahre, vor einer
Stunde in Ihre Hände kam, wird meine Abreise sans adieu
entschuldigen. Wird mein Kamerad von sechs Feldzügen einer geliebten
Dame den Schmerz ersparen, meinen Namen in allen
Blättern aufrufen zu hören? Wird er die wenigen Posten decken,
die ich nicht mehr bezahlen kann?
"Wann ist Euer Herr abgereist?"
"Vor einer Viertelstunde. Herr Major!
"Wußtet Ihr um seine Reise?
"Nein, Herr Major! Ich glaube, Seine Exzellenz wußten es
heute nachmittag selbst noch nicht; denn Sie wollten heute abend
ins Theater fahren. Um fünf Uhr ging der Herr Graf zu Fuß aus
und ließ mich folgen. Da begegnete ihm an der reformierten Kirche
ein großer hagerer Mann, der bei seinem Anblick sehr erschrak.
Er ging auf meinen Herrn zu und fragte, ob er der Graf Zronievsky
sei. Mein Herr bejahte es; darauf fragte er, ob er vor einer Viertelstunde
ein Billett empfangen? Der Herr Graf verneinte es. Nun
sprach der fremde Mann eine Weile heimlich mit meinem Herrn;
er muß ihm keine guten Nachrichten gegeben haben; denn der Herr
Graf wurde blaß und zitterte; er kehrte um nach Hause, schickte
den Kutscher nach Postpferden, ich mußte schnell zwei Koffer packen;
der Reisewagen mußte vorfahren. Der Herr Graf verwies mich mit
den Rechnungen und allem an Sie und fuhr die Straße hinab
zum Südertor hinaus. Er nahm vorher noch Abschied von mir, ich
glaube für immer."
Der Major hatte schweigend den Bericht des Jägers angehört;
er befahl ihm, den nächsten Morgen wiederzukommen, und fuhr
ins Theater. Die Ouverture hatte schon begonnen, als er in die
Loge trat; er warf sich auf einen Stuhl nieder, von wo er die fürstliche
Loge beobachten konnte. In allem Schmuck ihrer natürlichen
Schönheit und Anmut saß Prinzessin Sophie neben ihrer Mutter.
Ihr Auge schien vor Freude zu strahlen, eine heitere Ruhe lag
auf ihrer Stirne, um den feingeschnittenen Mund wehte ein holdes
Lächeln, vielleicht der Nachklang eines heiteren Scherzes, — sie
hatte ja jetzt ihren Willen durchgesetzt, Othello war es, der den
Saal und die Logen des Hauses gefüllt hatte. Jetzt nahm sie die
Lorgnette vor das Auge, wie letzthin schien sie eifrig im Hause
nach etwas zu suchen — argloses Herz, du schlägst vergebens dem
Geliebten entgegen; deine liebevollen Blicke werden ihn nicht mehr
finden, dein Ohr lauscht vergebens, ob nicht sein Schritt im Korridor
erschallt, du hengst umsonst den schönen Nacken zurück, die Türe
will sich nicht öffnen, seine hohe, gebietende Gestalt wird sich dir
nicht mehr nahen.
Sie senkte das Glas, ein Wölkchen von getäuschter Erwartung
und Trauer lagerte sich unter den blonden Locken, die schönen
Bogen der Brauen zogen sich zusammen und ließen ein kaum merkliches
Fältchen de; Unmuts sehen. Die feinen, seidenen Wimpern
senkten sich wie eine durchsichtige Gardine herab; sie schien zu sinnen,
sie zeichnete mit der Lorgnette auf die Brüstung der Loge. — Sind
es vielleicht seine Chiffern, die sie, in Gedanken versunken, vor
sich hinschreibt? Wie bald wird sie vielleicht dem Namen fluchen,
der jetzt ihre Seele füllt!
Dem Maior traten unwillkürlich Tränen in die Augen, als
er Sophie betrachtete. "Noch ahnet sie nicht, was ihrer wartet,"
dachte er, "aber nie, nie soll sie erfahren, wie elend der war, den
sie liebte." Der Gedanke an diesen Elenden bemächtigte sich seiner
aufs neue; er drückte die Augen zu, verfluchte die menschliche Natur,
die durch Leichtsinn und Schwäche aus einem erhabenen Geist,
aus einem tapferen Mann einen ehrvergessenen, treulosen Betrüger
machen könne.
Der Major hat oft gestanden, daß einer der schrecklichsten Augenblicke
in seinem Leben der gewesen sei, wo er im ersten Zwischenakt
Othellos in die fürstliche Loge trat. Es war ihm zu Mut, als habe
er selbst an Sophien gefrevelt, als sei er es, der ihr Herz brechen
müsse. Der Gedanke war ihm unerträglich, sie arglos, glücklich,
erwartungsvoll vor sich zu sehen und doch zu wissen, welch namenloses
Unglück ihrer warte. Er trat ein; ihre Blicke begegneten ihm
sogleich; sie hatte wohl oft nach der Türe gesehen. Mit hastiger
Ungeduld übersah sie einen Prinzen und zwei Generale, die sich
ihr nahen wollten; sie winkte den Major heran. "Haben wir jetzt
unsern Othello!" sagte sie; "sind Sie nicht auch glücklich, erwartungsvoll?
—Doch einen unserer Othelloverschworenen sehe ich nicht,"
flüsterte sie leiser, indem sie leicht errötete; "der Graf ist sicherlich
hinter den Kulissen, um recht warmen Dank zu verdienen, wenn
er alles recht schön machen läßt?"
"Verzeihen Euer Hoheit," erwiderte der Major, mühsam nach
Fassung ringend; "der Graf läßt sich entschuldigen, er ist schnell
auf einige Tage verreist."
Sophie erbleichte. "Verreist, also nicht in der Oper? Wohin
riefen ihn denn so schnell seine Geschäfte? O, das ist gewiß ein
Scherz, den Sie beide zusammen machen," rief sie; "glauben Sie
denn, er werde nur so schnell weggehen, ohne sich zu beurlauben?
Nein, nein, das gibt irgend einen Spaß. Jetzt weiß ich auch, woher
mir ein gewisses Briefchen zukam.
Der Major erschrak, daß er sich an dem nächsten Stuhl halten
mußte. "Ein Briefchen?" fragte er mit bebender Stimme; eine
schreckliche Ahnung stieg in ihm auf.
"Ja, ein zierliches Billettchen," sagte sie und ließ neckend das
Ende eines Papiers unter dem breiten Bracelet hervorsehen, das
ihren schönen Arm umschloß, "Ein Briefchen, das man recht
geheimnisvoll mir zugesteckt hat. Ich sehe es Ihnen an den Augen
an, Sie sind im Komplott. Ich habe noch keine Gelegenheit gefunden,
es zu öffnen; denn einen solchen Scherz muß man nicht öffentlich
machen; aber sobald ich in mein Boudoir komme —"
"Durchlaucht, ich bitte um Gottes willen, geben Sie mir das
Billett," sagte der Major, von den schrecklichsten Qualen gefoltert, "es
ist gar nicht einmal an Sie, es ist in ganz unrechte Hände gekommen."
"So? Um so besser! Das gebe ich um keine Welt heraus, das
soll mir Aufschluß geben über die Geheimnisse gewisser Leute! An
eine Dame war es also auf jeden Fall; es ist wirklich hübsch, daß
es gerade in meine Hände kam."
Der Major wollte noch einmal bitten, beschwören; aber der
Prinz fuhr mit seinem Kopf dazwischen, die beiden Generale fielen
mit Fragen und Neuigkeiten herein; er mußte sich zurückziehen.
Verfolgt von schrecklichen Qualen, ging er zu seiner Loge zurück;
er preßte seine Augen in die Hand, um die Unglückliche nicht zu
sehen, und immer wieder mußte er von neuem hinschauen, mußte
von neuem die Qualen der Angst, die Gewißheit des nahenden
Unglücks mit seinen Blicken einsaugen.
Die Diamanten am Schlosse ihres Armbandes spielten in
tausend Lichtern, ihre Strahlen zuckten zu ihm herüber, sie drangen
wie tausend Pfeile in sein Herz. "Welchen Jammer verschließen
jene Diamanten! Wenn sie im einsamen Gemach diese Bänder
öffnet, öffnet sie nicht zugleich die Pforte eines grauenvollen Frevels?
Ihr Puls schlägt an diese unseligen Zeilen. wie ihr Herz für den
Geliebten pocht; wird es nicht stille stehen, wenn das Siegel springt
und das ahnungslose Auge auf eine furchtbare Kunde fällt?"
Desdemona stimmte ihre Harfe; ihre wehmütigen Akkorde zogen
flüsternd durch das Haus, sie erhob ihre Stimme, sie sang — ihren
Schwanengesang. Wie wunderbar, wie mächtig ergriffen diese
melancholischen Klänge jedes Herz! So einfach, so kindlich dieses
Lied, und doch von so hohem tragischem Effekt! Man fühlt sich bange
und beengt, man ahnt, welch grauenvolles Schicksal ihrer warte,
man glaubt, den Mörder in der Ferne schleichen zu hören, man
fühlt die unabwendbare Macht des Schicksals näher und näher
kommen, es umrauscht sie wie die Fittiche des Todes. Sie ahnet
es nicht; sanft, arglos wie ein süßes Kind sitzt sie an der Harfe, nur
die Schwermut zittert in weichen Klängen aus ihrer Brust hervor,
aus diesem vollen, liebewarmen Herzen, für das der Stahl schon
gezückt ist. Sie flüstert Liebesgrüße in die Ferne nach ihm, der
sie zermalmen wird; ihre Sehnsucht scheint ihn in ihre Arme zu
rufen, er wird kommen — sie zu morden; sie betet für ihn, Desdemona
segnet ihn — der ihr den Fluch gibt,
Der Major teilte seine Blicke zwischen der Sängerin und Sophien.
Sie lauschte, in Wehmut versunken, auf das Lieblingslied; eine
Träne hing in ihren Wimpern, sie Weinte unbewußt über ihr eigenes
Geschick. Die Akkorde der Harfe verschwebten, Sophie sah sinnend,
träumend vor sich hin. "Wenn ich einst sterbe, soll es mein Schwanengesang
sein," klang es in der Erinnerung des Majors. "Wahrlich,
sie hat wahr gesagt," sprach er zu sich, "es war der Schwanengesang
ihres Glückes." Othello trat auf. Sophiens Aufmerksamkeit war
jetzt nicht mehr auf die Oper gerichtet, sie sah herab auf ihr Armband
, sie spielte mit dem Schloß; ein heiteres Lächeln verdrängte
ihre Wehmut, ihre Blicke streiften nach der Loge des Majors herüber
— er strengte angstvoll seine Blicke an, — Gott im Himmel,
sie schiebt das unglückselige Papier hervor und verbirgt es in ihr
Tuch — er glaubt zu sehen, wie sie heimlich das Siegel bricht —
verzweiflungsvoll stürzt er aus seiner Loge den Korridor entlang.
Er weiß nicht warum, es treibt ihn mit unsichtbarer Gewalt der
fürstlichen Loge zu, er ist nur noch einige Schritte entfernt, — da
hört er ein Geräusch in dem Haus, man kommt aus der Loge, Bedienten
und Kammerfrauen eilen ängstlich an ihm vorüber; eine
schreckliche Ahnung sagt ihm schon vorher, was es bedeute; er fragt,
er erhält die Antwort; "Prinzessin Sophie ist plötzlich in Ohnmacht
gesunken!"
9.
Düster, zerrissen in seinem Innern, saß einige Tage nach diesem
Vorfall der Major Larun in seinem Zimmer. Seine Stirne ruhte
in der Hand, sein Gesicht war bleich, seine Augen halb geschlossen,
der sonst so starke Mann zerdrückte manche Träne, die sich über seine
Wimpern stehlen wollte. Er dachte an das schreckliche Geschick,
in dessen innerstes Gewebe ihn der Zufall geworfen; er sah all
diese feinen Fäden, die, wenigen Augen außer ihm sichtbar, so
lose sich anknüpften; er sah, wie sie weiter gesponnen, wie sie verknüpft
und gedoppelt zu einem nur zu festen Netz um ein zartes,
unglückliches Herz sich schlangen. Unbesiegbare Bitterkeit mischte
sich in diese trüben Erinnerungen; sein alter Waffenfreund, ein
so glänzendes Meteor am Horizont der Ehre, ein so braver Soldat,
und jetzt ein Elender, Ehrvergessener, der, ohne nur entfernt einen
andern Ausgang erwarten zu können, mit allen Künsten der Liebe
die unbewachten Sinne eines kaum zur Jungfrau erblühten Kindes
betörte! In diese Gedanken mischte sich das Bild dieses so unendlich
leidenden Engels, mischte sich die Angst vor einer Szene,
welcher er in der nächsten Stunde entgegengehen sollte. Eine
angesehene Dame, die Oberhofmeisterin der Prinzessin Sophie,
hatte ihn diesen Nachmittag zu sich rufen lassen. Sie entdeckte
ihm ohne Hehl, daß Sophie von einer schweren Krankheit befallen
sei, daß die Ärzte wenig Hoffnung geben; denn sie nennen ihre
Krankheit einen Nervenschlag. Sie sagte ihm weiter, die Prinzessin
habe ihr alles gesagt, sie habe ihr kein Wort dieses strafbaren
Verhältnisses verschwiegen. Sie wisse, daß in der Residenz nur
e in Mensch lebe, der jenen Grafen Zronievsky näher gekannt habe,
dies sei der Baron von Larun. Mit einer Angst, einem Verlangen,
das an Verzweiflung grenze, dringe die Unglückliche darauf, mit
ihm ohne Zeugen zu sprechen. Die Oberhofmeisterin wußte wohl,
wie sehr dies gegen die Vorschriften laufe, welche die Etikette ihr
auferlegen; aber der Anblick des jammernden Kindes, das nur
noch dies eine Geschäft auf der Erde abmachen zu wollen schien,
erhob sie über die Schranken ihrer Verhältnisse; sie wagte es, dem
Maior den Vorschlag zu machen, diesen Abend unter ihrer Begleitung
heimlich zu der Kranken zu gehen.
Der Major hatte nicht nein gesagt. Er wußte, daß er ihr nichts
Tröstliches sagen könne; er fühlte aber, wie in einem so tiefen Gram
das Verlangen nach Mitteilung unüberwindlich werden müsse.
Aber was sollte er ihr sagens Mußte er nicht befürchten, von
ihrem Anblick, von den trüben Erinnerungen der letzten Tage so
bestürmt zu werden, daß sein lauter Schmerz sie noch unglücklich)
er machte? Er war noch in diese Gedanken versunken, als ihm
gemeldet wurde, daß man ihn erwarte; die alte Oberhofmeisterin
hielt in ihrem Wagen vor dem Hause; er setzte sich schweigend neben
ihre Seite.
"Sie werden die Prinzessin sehr schlecht finden," sagte diese
Dame mit Tränen, "ich gebe alle Hoffnung auf. Ich kann mir
nicht denken, daß in der Unterredung mit Ihnen, Herr Baron,
noch etwas Rettendes liegen könne. Werden Sie ihr keinen Trost
geben können, so verlischt sie uns wie eine Lampe, die kein Öl mehr
hat, um ihre Flamme zu nähren; und wollten Sie ihr Trost, Hoffnung
geben, so sind diese Gefühle in ihren Verhältnissen von so
unnatürlicher Art, daß ich beinahe wünschen müßte, sie möge eher
sterben als ihrem Hause Schande machen."
"Also werde ich ihr den Tod bringen müssen," sagte der Major
bitter lächelnd; — —
"weiß man in der Familie um diese Geschichten?
Was denkt man von der Krankheit?"
"Wie ich Ihnen sagte, Herr Baron; die Familie, der Hof und
die Stadt weitz nicht anders, als daß sie sich erkältet haben muß;
die törichten Leute bringen ausg noch die fatale Oper ins Spiel
und lassen sie am Othello sterben. Was wir beide wissen, weiß
sonst niemand; es gibt einige Damen, die dieses Verhältnis früher
ahneten, aber nicht genau wußten."
"Und doch fürchte ich," entgegnete der Major, indem er seinen
durchdringenden Blick auf die Dame an seiner Seite heftete, "ich
fürchte, sie stirbt an einem sehr gewagten Bubenstück. Man hat
dieses Verhältnis geahnet, demselben nachgespürt, es wurde zur
Gewißheit; man suchte eine Trennung herbeizuführen, man spürte
die Verhältnisse des Grafen aus —"
"Glauben Sie?" sagte die Oberhofmeisterin blaß und mit
bebenden Lippen, indem sie umsonst versuchte, den Blick des Majors
auszuhalten.
"Man forschte diese Verhältnisse aus," fuhr der Major fort;
"man suchte ihn von hier wegzuschrecken, indem man ihm drohte,
der Prinzessin zu sagen, daß er verheiratet sei. Bis hierher war
der Plan nicht übel; es gehörte einem solchen Elenden, daß man
nicht gelinder mit ihm verfuhr. Aber man ging weiter, man wollte
auch die unglückliche Dame schnell von ihrer Liebe heilen, man
machte sie mit dem Geheimnis des Grafen bekannt, man glaubte,
sie werde alles über Nacht vergessen. Und hier war der Plan auf
die Nerven eines Dragoners berechnet, aber nicht auf das Herz
dieses zarten Kindes."
"Ich muß bitten, zu bedenken," entgegnete die Oberhofmeisterin
mit ihrer früheren Kälte, aber mit stechenden Blicken, "daß dieses
zarte Kind eine Prinzessin des fürstlichen Hauses ist, daß sie
erzogen wurde, um mit Anstand über solche Mißverhältnisse wegzusehen
. Sollte wirklich irgend ein solcher Plan vorhanden gewesen
sein, so kann ich die Handelnden nicht tadeln, sie haben wahrhaftig
geschickt operiert —
"Sie haben ihren Zweck erreicht, sie wird sterben," unterbrach
sie der Major.
"Ich hätte meinen Zweck erreicht? Mein Herr, ich muß bitten —"
"Sie? sagte Larun mit gleichgültiger Stimme; " von Ihnen,
gnädige Frau, sprach ich nicht, ich sagte: Sie, die Handelnden, die
Operierenden."
Die alte Dame biß sich in die Lippen und schwieg. Wenige
Augenblicke nachher waren sie an einer Seitenpforte de:, Palais
angelangt. Ein alter Diener führte sie durch ein Labyrinth von
Korridors und Treppen, Endlich wurden die Gänge breiter, die
Beleuchtung auf elegantere Art angebracht; der Major bemerkte,
daß sie in den bewohnteren Flügel des Schlosses gelangt seien.
Der Alte winkte in eine Seitentüre. Der Weg ging jetzt durch
mehrere Gemächer, bis in einem Salon, der wohl zu den
Appartements der Prinzessin gehören mochte, die Oberhofmeisterin
dem Major zuflüsterte, er möchte einstweilen in einem Fauteuil sich
gedulden, bis sie ihn rufen lasse.
Nach einer tödlich langen Viertelstunde erschien sie wieder.
Sie sagte ihm, daß nach dem ausdrücklichen Willen der Kranken
er allein mit ihr sein werde; sie selbst wolle sich als Saas d'honneur
an die Türe setzen, wo sie gewiß nichts hören könne, wenn man
nicht gar zu laut spreche. Übrigens dürfe er nicht länger als eine
Viertelstunde bleiben. Der Major trat ein. Das prachtvolle Gemach
mit seinen schimmernden Tapeten und goldenen Leisten,
die reiche Draperie der Gardinen, die bunten Farben des türkischen
Fußteppichs taten seinem Auge wehe; denn das Gemüt will ein
leidendes Herz, einen kranken Körper nicht mit den Flittern der
Hoheit umgeben sehen. Und wie groß war der Kontrast zwischen
diesem Glanz der Umgebung und diesem zarten, lieblichen Kind,
das in einem einfachen, weißen Gewand auf einer prachtvollen
Ottomane lag.
Der Eindruck, den ihre Züge, ihre Gestalt, ihr ganzes Wesen
zum erstenmal auf ihn gemacht hatten, kehrte auch jetzt wieder in
die Seele des Majors. Es war ihre einfache, ungeschmückte Schönheit,
ihre stille Größe, verborgen hinter dem Zauber kindlicher
Liebenswürdigkeit, was ihn angezogen hatte. Wohl blendete ihn
damals der Glanz der frischen, jugendlichen Farben, die lebhaft
strahlenden Augen, jenes gewinnende, huldvolle Lächeln, das ihre
feinen rosigen Lippen umschwebte. Ein Nachtfrost hatte diese
Blüten abgestreift; aber gab ihr nicht diese durchsichtige Blässe,
diese stille Trauer in dem sinnigen Auge, dieser wehmütige Zug
um den Mund, der nie mehr scherzte, eine noch erhabenere Schönheit
, einen noch gefährlicheren Zauber? Der Major stand einige
Schritte von ihr stille und betrachtete sie mit tiefer Rührung. Sie
winkte ihm nach einem Taburett, das zu ihren Füßen stand; sie
sprach; ihre Stimme hatte zwar jenes helle Metall verloren, das
sonst ihre heiteren Scherze, ihr fröhliches Lachen ertönen ließ;
aber diese weichen, rührenden Töne drangen tiefer. —
"Es wäre
töricht von mir, Herr Baron," sprach sie, "wollte ich Sie lange
in Ungewißheit lassen, warum ich Sie rufen ließ. Ich weiß, daß
der Graf Sie als seinen besten Freund von einem Verhältnis unterrichtet
hat, das nie hätte bestehen sollen. — Erinnern Sie sich noch
de: Abends in Othello? Ich sagte Ihnen von einem Billett, das ich
bekommen habe; ich erinnere mich, daß Sie mir es wiederholt abforderten;
warum haben Sie das getan?"
"Warum, fragen Euer Durchlaucht — weil ich den Inhalt
ahnete, zu wissen glaubte."
"Also doch!" rief sie, und eine Träne drang aus ihrem schöner
Auge. "Also doch! Ich hielt Sie seit dem ersten Augenblick, wo
ich Sie sah, für einen Mann von Ehre; wenn Sie die Verhältnisse
des Grafen wußten, warum haben Sie ihn nicht bälder entfernt
warum mir nicht den Schmerz erspart, ihn verachten zu müssen?"
"Ich kann bei allem, was mir heilig ist, bei meiner Ehre schwören,"
entgegnete der Major, "daß ich kaum eine Stunde, bevor ich zu
Euer Durchlaucht in die Loge trat, diese Verhältnisse durch ein
Papier erfahren habe, das durch Zufall, statt in des Grafen Hände,
in die meinigen kam. Als ich den Grafen darüber zur Rede stellen
wollte, hatte er schon Nachricht davon bekommen und war abgereist
. Ich ahnete aus gewissen Winken, die jenes Briefchen enthielt,
daß auch Sie nicht verschont bleiben werden; umsonst versuchte
ich das unglückliche Blättchen Euer Durchlaucht abzuschwatzen."
"Sie glauben also an diese Erfindung?" sagte Sophie, indem
ihre Tränen heftiger strömten; "ach, es ist ja nur ein Kunstgriff
gewisser Leute , die ihn von uns entfernen wollten. Lesen
Sie dieses Billett, es ist dasselbe, das ich erhielt; gestehen Sie selbst,
es ist Verleumdung!"
Der Maior las:
"Der Graf v. Z. ist verheiratet; seine Gemahlin lebt in Avignon;
drei kleine Kinder weinen um ihren Vater. —Sollte eine
erlauchte Dame so wenig Ehrgefühl, so wenig Mitleid besitzen,
ihn diesen Banden noch länger zu entziehen?"
Es war dieselbe Handschrift, dasselbe Siegel wie jenes Billett,
das er selbst bekommen hatte. Er sah noch immer in diese Zeilen;
er wagte nicht aufzuschauen, er wußte nicht zu antworten; denn
seine strengen Begriffe von Wahrheit erlaubten ihm nicht, gegen
seine Überzeugung zu sprechen; das tiefe Mitleid mit ihrem Schmerz
ließ ihn ihre Hoffnung nicht so grausam niederschlagen.
"Sehen Sie," fuhr sie fort, als er noch immer schwieg, " wie
ich dieses Briefchen arglos, neugierig erbrach, so überraschten mich
jene schrecklichen Worte Gemahlin , Vater wie eine Stimme
des Gerichtes. Die Sinne schwanden mir; ich wurde recht krank
und elend; aber so oft ich nur eine Stunde mich leichter fühle, steigt
meine Hoffnung wieder; ich glaube, Zronievsky kann doch nicht
so gar schlecht gewesen sein, er kann mich nicht so schrecklich betrogen
haben. Lächeln Sie doch, Major, seien Sie freundlich — Ich
erlaube Ihnen, Sie dürfen mich verspotten, weil ich mich durch
diese Zeilen so ganz außer Fassung bringen ließ; — aber nicht
wahr, Sie meinen selbst, es ist eine Lüge, es ist Verleumdung?"
Der Major war außer sich: was sollte er ihr sagen? Sie hing
so erwartungsvoll an seinen Lippen; es war, als sollte ein Wort
von ihm sie ins Leben rufen — ihr Auge strahlte wieder, jenes
holde Lächeln erschien wieder auf ihren lieblichen Zügen — sie
lauschte wie auf die Botschaft eines guten Engels.
Er antwortete nicht, er sah finster auf den Boden; da verschwand
allmählich die frohe Hoffnung aus ihren Zügen, das Auge
senkte sich, der kleine Mund preßte sich schmerzlich zusammen, das
zarte Rot, das noch einmal ihre Wangen gefärbt hatte, floh; sie
senkte ihre Stirne in die schöne Hand; sie verbarg ihre weinenden
Augen.
"Ich sehe," sagte sie, "Sie sind zu edel, mir mit Hoffnungen
zu schmeicheln, die nach wenigen Tagen wieder verschwinden müßten.
Ich danke Ihnen, auch für diese schreckliche Gewißheit. Sie ist
immer besser als das ungewisse Schweben zwischen Schmerz und
Freude; und nun, mein Freund, nehmen Sie dort das Kästchen,
suchen Sie es ihm zuzustellen! Es enthält manches, was mir teuer
war, — doch nein, lassen Sie es mir noch einige Tage! Ich schicke
es Ihnen, wenn ich es nicht mehr brauche."
"Es ist mir, als werde ich nicht mehr lange leben," fuhr sie
nach einigen Augenblicken fort; "ich bin gewiß nicht abergläubisch;
aber warum muß ich gerade nach diesem fatalen Othello krank
werden?"
"Ich hätte nicht gedacht, daß dieser Gedanke nur einen Augenblick
Euer Durchlaucht Sorge machen könnte!" sagte der Major,
"Sie haben recht, es ist töricht von mir; aber in der Nacht,
als man mich krank aus der Oper brachte, träumte ich, ich werde
sterben. Eine ernste, finstere, junge Dame kam mit einem Plumeau
von roter Seide auf mich zu, deckte ihn über mich her und preßte
ihn immer stärker auf mich, daß ich beinahe erstickte. Dann kam
plötzlich mein Großoheim, der Herzog Nepomuk, gerade so wie
er gemalt in der Galerie hängt, und befreite mich von dem beengenden
Druck, und das Sonderbarste ist —"
"Nun?" fragte der Baron lächelnd, "was fing denn der gemalte
Herzog mit Desdemona an?"
Die Prinzessin staunte: "Woher wissen Sie denn, daß die Dame
Desdemona ist? Ich beschwöre Sie, woher wissen Sie dies?"
Der Major schwieg einen Augenblick verlegen. "Was ist natürlicher,"
antwortete er dann, "als daß Sie von Desdemona träumten?
Sie hatten sie ja am Abende zuvor in einem roten Bette verscheiden
sehen."
"Sonderbar, daß Sie auch gleich auf den Gedanken kamen.
Das Sonderbarste aber ist, ich wachte auf, als der Herzog mich
befreite, ich wachte in der Tat auf und sah — wie jene Dame mit
dem Plumeau unter dem Arm langsam zur Türe hinausging.
Seit dieser Nacht träumte ich immer dasselbe, immer beengender
wird ihr Druck, immer später kommt mir der Herzog zu Hilfe, aber
immer sehe ich sie deutlich aus dem Zimmer schweben! Und als
ich gestern abend mir die Harfe bringen ließ und mein liebes Desdemona-
Liedchen spielte, da — spotten Sie immer über
mich ! —da ging die Türe auf, und jene Dame sah ins Zimmer
und nickte mir zu."
Sie hatte dieses halb scherzend, halb im erzählt; sie wurde
ernster. "Nicht wahr, Major," sagte sie, " wenn ich sterbe, gedenken
Sie auch meiner? Das Andenken eines solchen Mannes ist mir
wert." — "Prinzessin!" rief der Major, indem er vergebens seine
Wehmut zu bezwingen suchte, "entfernen Sie doch diese Gedanken,
die unmöglich zu Ihrer Genesung heilsam sein können!"
Die Oberhofmeisterin erschien in der Türe und gab ein Zeichen,
daß die Audienz zu Ende sein müsse. Sophie reichte dem Major
die Hand zum Kusse. Er hat nie mit tieferen Empfindungen von
Schmerz, Liebe und Ehrfurcht die Hand eines Mädchens geküsst.
Er hob sein Auge noch einmal zu ihr auf, er begegnete ihren Blicken,
die voll Wehmut auf ihm ruhten. Die Oberhofmeisterin trat mit
einer Amtsmiene näher; der Major stand auf; wie schwer wurde
es ihm, mit kalten, gesellschaftlichen Formen sich von einem Wesen
zu trennen, das ihm in wenigen Minuten so teuer geworden war!
"Ich hoffe," sagte er, "Euer Durchlaucht bei der nächsten
Cour ganz hergestellt wiederzusehen."
"Sie hoffen, Major?" entgegnete sie schmer lich lächelnd; "leben
Sie wohl, ich habe zu hoffen aufgehört."
10.
Die Residenz war einige Tage mit nichts anderem als der
Krankheit der geliebten Prinzessin beschäftigt; man sagte sie bald
sehr krank, bald gab man wieder Hoffnung; ein Schwanken, das für
alle, die sie näher kannten, schrecklich war. An einem Morgen, sehr
frühe, brachte ein Diener dem Major ein Kästchen. Ein Blick auf
dieses wohlbekannte Behältnis und auf die Trauerkleider des Dieners
überzeugten ihn, daß die Prinzessin nicht mehr sei. Es war ihm, als
sei dieses liebliche Wesen ihm, ihm allein gestorben. Er hatte
viel verloren auf der Erde, und doch hatte kein Verlust so empfindlich,
so tief seine Seele berührt als dieser. Es war ihm, als habe er nur
noch ein Geschäft auf der Erde, das Vermächmis der Verstorbenen
an seinen Ort zu befördern; er würde diese Stadt, die so drückende
Erinnerungen für ihn hatte, sogleich verlassen haben, hätte ihn nicht
das Verlangen zurückgehalten, ihre sterblichen Reste beisetzen zu sehen.
Als die feierlichen Klänge aller Glocken, als die Trauertöne der Musik
und die langen Reihen der Fackelträger verkündeten, daß Sophie
zu der Gruft ihrer Ahnen geführt werde, da verließ er zum erstenmal
wieder sein Haus und schloß sich dem Zuge an. Er hörte nicht auf
das Geflüster der Menschen, die sich über die Ursachen ihrer Krankheit,
ihres Todes besprachen; er hatte nur einen Gedanken; nur jener
Augenblick, wo ihr Auge noch einmal auf ihm geruht hatte, wo seine
Lippen ihre Hand berührten, stand vor seiner Seele. Man nahm
die Insignien ihrer hohen Geburt von der Bahre, man senkte sie
langsam hinab zum Staub ihrer Ahnen. Die Menge verlor sich, die
Begleiter löschten ihre Fackeln aus und verließen die Halle. Der
Major warf noch einen Blick nach der Stelle, wo sie verschwunden
war, und ging.
Vor ihm ging mit unsicheren, schleppenden Schritten ein alter
Mann, der heftig weinte. Als der Major an seiner Seite war, sah
jener sich um; es war der Regisseur der Oper. Der Alte trat näher
zu ihm, sah ihn lange an, schien sich auf etwas zu besinnen und sprach
dann: "Möchten Sie nicht, Herr Baron, wir hätten nur geträumt,
und jenes liebliche Kind, das man begraben hat, wäre noch am
Leben?"
"Woran mahnen Sie mich!" rief der Major mit unwillkürlichem
Grauen; "ja, bei Gott, es ist so, wie Sie träumten, sie ist
begraben, und wir beide gehen nebeneinander von ihrem Grab."
"Drum soll der Mensch nie mit dem Schicksal scherzen," sagte
der Alte mit trübem Ernst. "Ist es nicht heute elf Tage, daß wir
Othello gaben? Am achten ist sie gestorben."
"Zufall, Zufall!" rief der Major. "Wollen Sie Ihren Wahnsinn
auch jetzt noch fortsetzen? Weiß ich nicht nur zu gut, an was sie
starb? Wohl hat ein Dolch ihre Seele wie Desdemonas Brust durchstoßen;
ein Elender, schwärzer als Ihr Othello, hat ihr Herz gebrochen;
aber dennoch ist es Aberglauben, Wahnsinn, wenn Sie diesen Tod
und Ihre Oper zusammenreimen!"
"Unser Streit macht sie nicht wieder lebendig," sagte der Alte
mit Tränen. "Glauben Sie, was Sie wollen, Verehrter! Ich werde
es, wie ich es weiß, in meiner Opernchronik notieren. Es hat so
kommen müssen!"
"Nein!" erwiderte der Maior beinahe wütend, "nein, es hat
nicht so kommen müssen; ein Wort von mir hätte sie vielleicht gerettet.
Bringen Sie mir um Gottes willen Ihren Othello nicht ins
Spiel; es ist Zufall, Alter; ich will es haben, es ist Zufall!"
"Es gibt, mit Ihrer Erlaubnis, keinen Zufall; es gibt nur
Schickung. Doch ich habe die Ehre, mich zu empfehlen; denn hier
ist meine Behausung. Glauben Sie übrigens, was Sie wollen,"
setzte der Alte hinzu, indem er die kalte Hand des Majors in der
seinigen preßte, "das Faktum ist da, sie starb — acht Tage nach
Othello."
Jud Süß
| Ein ernstes Spiel wird euch vorübergehen;
Der Vorhang hebt sich über einer Welt,
Die längst hinab ist in der Zeiten Strom,
Und Kämpfe, längst schon ausgekämpfte, werden
Vor euren Augen stürmisch sich erneun. |
L. Uhland,
1.
Der Karneval war nie in Stuttgart mit so großem Glanz und
Pomp gefeiert worden als im Jahre 1737. Wenn ein Fremder in
die ungeheuren Säle trat, die zu diesem Zwecke aufgebaut und prachtvoll
dekoriert waren, wenn er die Tausende von glänzenden und
fröhlichen Masken überschaute, das Lachen und Singen der Menge
hörte, wie es die zahlreichen Fanfaren der Musikchöre übertönte,
da glaubte er wohl nicht, in Württemberg zu sein, in diesem strengen,
ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft
asketischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als überbleibsel
einer anderen Religionspartei haßte; ernst, beinahe finster
und trübe durch die bedenkliche Lage, durch Elend und Armut,
worein es die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltgen Ministers
gebracht hatten.
Der prachtvollste dieser Freudentage war wohl der zwölfte
Februar, an welchem der Stifter und Erfinder dieser Lustbarkeiten
und so vieles andern, was nicht gerade zur Lust reizte, der Jud
Süß , Kabinettsminister und Finanzdirektor, seinen Geburtstag
feierte. Der Herzog hatte ihm Geschenke aller Art am Morgen dieses
Tages zugesandt; das angenehmste aber für den Kabinettsminister
war wohl ein Edikt, welches das Datum dieses Freudentages trug,
ein Edikt, das ihn auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit
und Zukunft freisprach. Jene unzähligen Kreaturen
jeden Standes, Glaubens und Alters, die er an die Stelle besserer
Männer gepflanzt hatte, belagerten seine Treppen und Vorzimmer,
um ihm Glück zu wünschen, und manchen ehrliebenden, biedern Beamten
trieb an diesem Tage die Furcht, durch Trotz seine Familie
unglücklich zu machen, zum Handkuß in das Haus des Juden.
Dieselben Motive füllten auch abends die Karnevalssäle. Seinen
Anhängern und Freunden War es ein Freudenfest, das sie noch oft
zu begehen gedachten, Männer, die ihn im stillen haßten und öffentlich
verehren mußten, hüllten sich zähneknirschend in ihre Dominos
und zogen mit Weib und Kindern zu der prachtvollen Versammlung
der Torheit, überzeugt, daß ihre Namen gar wohl ins Register eingetragen
und die Lücken schwer geahndet würden; das Volk aber sah
diese Tage als Traumstunden an, wo es im Rausch der Sinne sein
drückendes Elend vergessen könnte; es berechnete nicht, daß die hohen
Eintrittsgelder nur eine neue indirekte Steuer waren, die es dem
Juden entrichtete.
Der Glanzpunkt dieses Abends war der Moment, als die Flügeltüren
aufflogen, eine erwartungsvolle Stille über der Versammlung
lag und endlich ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit auffallenden,
markierten Zügen, mit glänzenden, funkelnden Augen, die lebhaft
und lauernd durch die Reihen liefen, in den Saal trat. Er trug einen
weißen Domino, einen weißen Hut mit Purpurroten Federn, auf
welchen er die schwarze Maske nachlässig gesteckt hatte; es war nichts
Prachtvolles an ihm als ein ungewöhnlich großer Solitär, welcher am
Hals die purpurröte Bajute von Seidenflor, die über den Domino
hinabfiel, zusammenhielt. Er führte eine schlanke, zartgebaute Dame,
die, in ein mit Gold und Steinen überladenes orientalisches Kostüm
gekleidet, aller Augen auf sich zog.
"Der Herr Finanzdirektor, der Herr Minister," flüsterte die
Menge, als er vornehm grüßend durch die Reihen ging, die sich ihm
willig öffneten; und als er in der Mitte des Hauptsaales angekommen
war, begrüßten ihn Trompeten und Pauken, und ein nicht unbeträchtlicher
Teil der Masken klatschte ihm Beifall, während man andere
Wie von einem unzüchtigen Schauspiele sich abwenden sah. Aber
allgemein schien die Teilnahme, womit man die schöne Orientalin
betrachtete, die mit dem Minister gekommen war. Seine Lebensweise
war zu bekannt, als daß nicht die meisten unter der Larve der
reichgeschmückten Dame eine seiner Freundinnen geahnet hätten;
nur darüber schien man uneinig, welcher von diesen solche Auszeichnung
zuteil geworden sei; die eine schien zu klein für diese Figur,
die andere zu korpulent für diese zierliche Taille, die dritte zu schwerfällig,
um so leicht und beinahe schwebend über den Boden zu gleiten,
und einer vierten, bei welcher man endlich stillestehen wollte, konnte
nicht dieses glänzend schwarze Haar, das in reichen Locken um den
stolzen Nacken fiel, nicht dieses herrliche, dunkle Auge gehören, das
man aus der Maske hervorleuchten sah.
Die Menge pflegt, wenn ihre Neugier nicht sogleich befriedigt
wird, bei Gelegenheiten von so glänzender und rauschender Art,
wie dieser Karneval war, nicht lange bei e ineni Gegenstande stille
zu stehen. "Wenn sie die Maske abnimmt, wird man ja sehen,"
sprach man, ohne der Dame noch längere Aufmerksamkeit zu schenken,
als nötig war, um zu bemerken, wie sie zur Menuett antrat. Aber
drei junge Männer, die müßig hinter den Reihen der Tanzenden
standen, schienen diese Erscheinung noch immer unablässig zu verfolgen.
"Wer sie nur sein mag?" rief der eine ungeduldig. "Ich wollte
gern dem verzweifelten Juden fünfzig Eintrittskarten abkaufen,
wenn er mir sagte, woher dieses Mädchen kommt, das er wie eine
Fürstin in den Saal führte."
"Herr Bruder!" erwiderte der zweite, indem er unter dem
Sprechen kein Auge von der Orientalin abwandte, "Herr Bruder,
parole d'honneur! diese Widersprüche kann ich nicht Vereinigen,
und wenn ich bei Cartesius selbst die Logik samt dem cogito argo
sua studiert hätte; eine so ungewöhnlich feine Gestalt, diese Haltung,
diese nach den neuesten und vornehmsten Regeln abgemessene Bewegung,
diese Art, das Handgelenk rund und spielend zu bewegen,
wie ich sie nur in den bedeutendsten Zirkeln zu Wien und Paris sah,
dieser Anstand, womit sie den Nacken trägt —"
"Gott verdamm' mich, du hast recht, Herr Bruder," unterbrach
ihn der dritte. "Dieses alles und —mit Süß auf den Ball zu kommen!
Nein, ein solcher Kontrast ist mir in meinem Leben nicht vorgekommen!
Aus unserer Bekanntschaft," fuhr der erste fort, "aus unsern
Kreisen kann sie nicht sein; denn wenn es auch wahr ist, was man
flüstert, daß schon mancher elende Kerl von einem Vater seine Tochter
mit einer Bittschrift zum Juden schickte, so laut läßt keiner seine
Schande werden, daß er sein leibliches Kind mit dieser Mazette auf
den Ball schickt!"
"Bitte dich ums Himmels willen, Herr Bruder, nicht so laut!
Er hat überall seine Spione, und uns ist er ohnedies nicht grün; denk
an deine Familie, willst du dich unglücklich machen? Aber wahr ist's,
es kann kein Mädchen aus bessern Ständen sein, und doch ist ihr Wesen
für eine Bürgerstochter zu anständig. Doch halt, wer ist der Sarazene,
der dort auf uns zukommt? Die Farbe seine Turbans ist ja dieselbe,
wie ihn die Scharmante des Juden hat!"
Die jungen Männer wandten sich um und sahen einen schlanken,
schöngewachsenen Mann, der, als Sarazene gekleidet, sich durch die
einfache Pracht seines Kostüms wie durch Gang und Haltung vor
gemeineren Masken auszeichnete. Auch er schien die jungen Männer
ins Auge gefaßt zu haben; denn er ging langsam an sie heran und
zögerte, an ihnen vorüberzuschreiten,
"Was ist deine Parole?" fragte der eine der jungen Männer,
der in der Maske einen Freund zu erkennen glaubte. "Hast du nur
dein Allah zum Feldgeschrei, oder weißt du sonst noch ein Sprüchlein?"
Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus," erwiderte der
Sarazene, indem er stillestand.
"Er ist's, er ist's," riefen zwei dieser jungen Herren und schüttelten
die Hand des Sarazenen. "Gut, daß wir die Parole gaben, ich hätte
sonst kein Erkennungszeichen für dich gehabt; denn ich war meiner
Sache so gewiß, du seiest als Bauer hier, daß ich mit dem Kapitän
eine Flasche gewettet habe, du müßtest ein Bauer sein!"
"Laßt uns ans Büfett treten," sagte der zweite, "ich habe dir
hier jemand vorzustellen, Bruder Gustav, der sich auf deine Bekanntschaft
freut, und du weißt, in Larven erkennt man sich schlecht."
"Freund," erwiderte Gustav, "ich nehme die Larve nicht ab,
ich habe Gründe; so angenehm mir die Bekanntschaft dieses Herrn
wäre, so muß ich sie doch bis auf morgen versparen."
"Und wenn es nun Pinassa wäre, nach welchem du so oft gefragt?
" antwortete jener.
"Pinassa? Mit dem du dich geschlagen? Nein, das ändert die
Sache, den will ich sehen und begrüßen; aber —meine Maske nehme
ich nur auf zwei Augenblicke und im fernsten Winkel des Speisesaals
ab."
"Wir sind's zufrieden, Bruder Sarazene," antwortete der
Kapitän. "Aber laß uns nur erst an die zweite Flasche kommen, dann
sollst du auch die Gründe beichten, warum du dein Angesicht nicht
leuchten lassen willst vor den Freunden!
2.
In dem Speisesaal, welchen sie wählten, waren nur wenige
Menschen; denn man verkaufte hier nur ausgesuchte Weine, feine
Früchte und warme Getränke, während die größeren Trinkstuben,
wo Landwein, Bier und derbere Speisen zu haben waren, die größere
Menge an sich zogen. In einer Ecke des Zimmers war ein Tischchen
leer, wo der Sarazene, wenn er dem übrigen Teil des Saales den
Rücken kehrte, ohne Gefahr erkannt zu werden, die Maske abnehmen
konnte. Sie wählten diesen Platz, und als die vollen Römer vor
ihnen standen, legten die zwei jungen Krieger die Masken ab, und
der Kapitän begann: "Herr Bruder, ich habe die Ehre, dir hier den
unvergleichlichen Kavalier Pinassa vorzustellen, den berühmtesten
Fechter seiner Zeit; denn es gelang ihm, durch eine unbesiegliche
Terz-Quart Terz, mich , bedenke, mich, den Senior des Amizistenordens
, in Leipzigs unvergeßlichem Rosental hors combat zu
machen. Er hat gleich mir die Musen verlassen, hat gesungen: ,Will
mir Minerva nicht, so mag Bellona raten,' und hat den alten Hieber
und sein ungeheures Stichblatt, worauf er sein Frühstück zu verzehren
pflegte, mit dem Paradedegen eines herzoglich württembergischen
Leutnants vertauscht."
"Der Tausch ist nicht übel, Herr von Pinassa, und mein Vaterland
kann sich dazu Glück wünschen," sagte der Sarazene, indem
er sich vor dem neuen Leutnant verbeugte. "Wolltet Ihr einmal
in unsern Dienst treten, so war diese Laufbahn die angenehmste.
Der Zivilist hat zu dieser Zeit wenig Aussicht, wenn er nicht ein Amt
für fünftausend Gulden oder für sein Gewissen und ehrlichen Namen
beim Juden kaufen will. Doch diese dünnen Bretterwände haben
Ohren — stille davon, es ist doch nicht zu ändern. Wie anders sind
Eure Verhältnisse! Der Herzog ist ein tapferer Herr, dem ich einen
Staat von zweimalhunderttausend Kriegern gönnen möchte; für
uns —ist er zu groß. Der Krieg ist sein Vergnügen, ein Regiment
im Waffenglanz seine Freude; leider fällt für uns andere selten eine
müßige Stunde ab, und daher kommt es, daß diese Juden und Judenchristen
das Zepter führen. Er gilt für einen großen General, er
hat mit Prinz Eugen schöne Waffentaten verrichtet, und ein schlanker,
junger Mann mit einer Narbe auf der Stirne, Mut in den Blicken,
wie Ihr, Herr von Pinassa, ist ihm jederzeit in seinem Heere willkommen."
"Was der Sarazene altklug sprechen kann über Juden und
Christen!" sprach der Kapitän. "Doch öffne dein Visier und zeige
deine Farben! Mein Kamerad soll nun auch wissen, mit wem er
spricht: Das ist der umsichtige, rechtskundige, fürtreffliche Herr gaia
utriusque Doktor Lanbek, leiblicher Sohn des berühmten Landschaftkonsulenten
Lanbek, welchem er als Aktuaris substituiert ist;
ein trefflicher Junge, parole d'honneur! wenn er sich nicht neuerer
Zeit hin und wieder durch sonderbare Melancholei prostituierte,
noch trefflicher, wenn ihm der Herr auch einen Sinn für das schöne
Geschlecht eingepflanzt hütte."
Lanbek nahm bei diesen Worten die Maske ab und zeigte dem
neuen Bekannten ein errötendes Gesicht von hoher Schönheit.
Unter dem Turban stahlen sich gelbe Locken hervor und umwallten
kunstlos und ungepudert die Stirne. Eine kühn gebogene Nase und
dunkle, tiefblaue Augen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von
unternehmender Kraft und einen tiefen Ernst, der mit den weichen
Haaren und ihrer sanften Farbe in überraschendem Widerspruche
war. Doch das Strenge dieser Züge und dieser Augen milderte
ein angenehmer Zug um den Mund, als er antwortete: "Ich öffne
mein Visier und zeige Euch ein Gesicht, das Euch recht herzlich bei uns
willkommen heißt. Ich trinke auf Euer Wohl dieses Glas; dann aber
werdet Ihr entschuldigen, wenn ich aufbreche,"
"Pro poena trinkst du zwei," rief der Kapitän mit komischem
Pathos, indem er einen ungeheuren Hausschlüssel aus der Tasche
nahm und ihn als Zepter gegen den Sarazenen senkte. "Hast du
so wenig Ehrfurcht vor deinem Senior, daß du dich erfrechst, in loco
Gläser zu trinken, ohne daß sie dir ordentlich vom Präses diktiert
sind? 0 tempora, o mores ! Wo ist Zucht und Sitte dieser Füchse
hin? Pinassa! Zu unserer Zeit war es doch anders!"
Die jungen Männer lachten über diese klägliche Reminiszenz
des ehemaligen Amizistenseniors; der Kapitän aber faßte Lanbek
schärfer ins Auge und sagte: "Herr Bruder, nimm mir's nicht übel,
aber in dir steckte schon lange etwas wie ein Fieber, und heute abend
ist die Krisis; ich setze meine verlorene Flasche, davon geht nichts ab,
aber ich wette zehn neue; sei ehrlich, Gustav —du warst heute abend
schon als Bauer hier, und dein Alter weiß nichts vom Sarazenen."
Gustav errötete, reichte dem Freunde die Hand und winkte ihm
ein Ja zu.
"Alle Tausend!" rief der Kapitän. "Junge, was treibst du?
Wer hätte das hinter dem stillen Aktuarius gesucht? Auf dem Karneval
das Kostüm zu ändern! Und so ängstlich, so geheimnisvoll, so
abgebrochen; willst du etwa dem Juden zu Leibe gehen?"
Der Gefragte errötete noch tiefer und nahm schnell die Maske
vor; ehe er noch antworten konnte, sagte Reelzingen' "Herr Bruder,
du bringst mich auf die rechte Fährte. Wo habt Ihr beide, du und die
Orientalin, die der Finanzdirektor führte, das Zeug zu Euren Turbanen
gekauft? Gustav, Gustav!" — setzte er, mit einem Finger
drohend, hinzu —
"Du wohnst dem Juden gegenüber, ich wette, du
weißt, wer die stolze Donna ist, die er führt."
"Was weiß ich!" murmelte Lanbek unter seiner Larve.
"Nicht von der Stelle, bis du es sagst," rief der Kapitän; "und
wenn du auf deinem Trotz beharrst, so schleiche ich mich an die Orientalin
und flüstere ihr ins Ohr, der Sarazene habe mich in sein Geheimnis
eingeweiht."
"Das wirst du nicht tun, wenn ich dich ernstlich bitte, es zu unterlassen,"
erwiderte der junge Mann, wie es schien, sehr ernst; " wenn
ich übrigens Vermutungen trauen darf, so ist es Lea Oppenheimer,
des Ministers Schwester. Und nun adieu! Wenn ihr mir im Saal
begegnen solltet, kennt ihr mich nicht, und Reelzingen, wenn mein
Vater fragt —"
"So weiß ich nichts von dir, versteht sich," erwiderte dieser.
Der Sarazene erhob sich und ging. Die Freunde aber sahen einander
an, und keiner schien zu wissen, ob er recht gehört habe oder wie er
dies alles deuten solle. "Hat denn der Jude eine Schwester?" fragte
Pinassa.
"Man sprach vor einiger Zeit davon, daß er eine Schwester
zu sich genommen habe; doch hielt man sie für noch zu jung, weil
sie sich nirgends sehen läßt," erwiderte Reelzingen nachdenklich.
Und wie er errötete!" setzte er hinzu. "Herr Bruder, du wirst sehen,
da läßt auch einmal wieder der Satan einen vernünftigen Jungen
einen dummen Streich machen."
3.
Lanbek irrte, als er die Freunde verlassen hatte, in den Sälen
umher; seine Blicke gleiteten unruhig über die Menge hin, sein Gesicht
glühte unter der Larve, und mühsam mußte er oft nach Atem suchen,
so drückend war die Luft in dem Saale, und so schwer lag Erwartung,
Sehnsucht und Angst auf seinem Herzen. Dichter und stürmischer
drängte sich die Menge, als er in die Mitte des zweiten Saales kam;
mit Mühe schob er sich noch eine Zeitlang durch; aber endlich riß ihn
unwillkürlich der Strom fort, der sich nach einer Seite hindrängte,
und ehe er sich dessen versah, stand er an einem Spieltisch, wo Süß
mit einigen seiner Finanzräte Karten spielte. Große Haufen Goldes
lagen auf dem Tische, und die neugierige Menge beobachtete den
berühmtesten Mann ihres Landes und teilte sich flüsternd und murmelnd
Bemerkungen mit über die ungeheuren Summen, die er,
ohne eine Miene zu verändern, hingab oder gewann.
Gustav hatte den Gewaltigen noch nie so in der Nähe beobachtet
wie jetzt, da er, festgehalten durch die Menge, die wie eine Mauer
um ihn stand, zum unwillkürlichen Beobachter wurde. Er gestand
sich, daß das Gesicht dieses Mannes von Natur schön und edel geformt
sei, daß sogar seine Stirne, sein Auge, durch Gewohnheit zu
herrschen, etwas Imponierendes bekommen haben; aber feindliche,
abstoßende Falten lagen zwischen den Augenbrauen da, wo sich die
freie Stirne an die schön geformte Nase anschließen wollte, das
Bärtchen auf der Oberlippe konnte einen hämischen Zug um den
Mund nicht verbergen, und wahrhaft greulich schien dem jungen
Mann ein heiseres, gezwungenes Lachen, womit der jüdische Minister
Gewinn oder Verlust begleitete.
Während die Herren, von der Menge umlagert, spielten und auf
irgend etwas zu warten schienen, trat ein Mann in der Kleidung
eines Bauern aus der Steinlach aus den Reihen der Neugierigen;
ein alter Hut auf dem Kopf, eine grobe blaue Jacke, eine rote Weste
mit großen Knöpfen von Zinn, Beinkleider von gelbem Leder und
schwarze Strumpfe machten sein unscheinbares Kostüm ans; aber er
trug eine sehr feine, gut gemalte Larve. Er stützte sich nach Art der
Landleute mit der Hand auf den fünf Fuß hohen Knotenstock, legte
sein Kinn auf die Hand und sprach in gut nachgeahmtem Dialekt des
Steinlachtals'
"Viel Geld habt Ihr da liegen, Herr! Und habt alles selbst
verdient?"
Der Minister sah sich um und bemühte sich, über diese Maskenfreiheit
zu lächeln. Vielleicht mochte ihm diese Gelegenheit erwünscht
kommen, um sich ein populäres Ansehen zu geben; denn er antwortete
sehr freundlich: "Guten Abend, Landsmann."
"Euer Landsmann bin ich gerade nicht," erwiderte der Bauer
mit großer Ruhe; "so wie ich tragen sich gewöhnlich die Mausche
nicht." unterdrücktes Lachen flog durch die Reihen der Zuschauer.
Der Minister schien es aber nicht zu bemerken; denn er fuhr ganz
leutselig fort:
"Du bist witzig, mein Freund."
"Gott bewahre mich, dah ich Euer Freund sei, Herr Süß!" entgegenete
der Bauer. "Wär' ich Euer Freund, so ging ich wohl nicht
in dem schlechten Rock und durchlöcherten Hut; Ihr macht ja Eure
Freunde reich."
Nun, dann muß ganz Württemberg mein Freund sein; denn
ich mache es reich," sagte Süß und begleitete seine Rede mit heiserem,
unangenehmem Lachen.
"Ihr seid ein Allerweltsgoldmacher," entgegnete der Bauer.
"Wie schön diese Dukaten sind! Wie viel Schweißtropfen armer Leute
gehen wohl auf ein solches Goldstück:
"Du bist ein kapitaler Kerl!" rief Süss, ganz ruhig weiter spielend.
Als der Bauer zu einer neuen Rede ansetzen wollte, zog eine
neue Gestalt die Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Mann, dessen
Kostüm beinahe ebenso war wie des Bauers, nur hatte er einen
langen, spitzen Bart am Kinn und trug einen Tressenrock. Der Bauer
sah ihn eine Zeitlang verwundert an, schüttelte ihm dann die Hand
und rief: "Ei Hans! Wo kommst du her, und so schmuck und stattlich!
Gar nicht mehr wie unsereiner!
"Das macht," erwiderte Hans, indem er aus einer silbernen
Jose schnupfte, "ich bin bei einem fürnehmen Herrn in Dienst
getreten."
"Wer ist denn dein Herr: fragte der Bauer.
"Ein Schinder. aber ein fürnehmer. Meinst du, er schindet
gemeines Vieh, Pferde, Hunde und dergleichen? Nein, ein Leuteschinder
ist er, und noch überdies ein Kartenfabrikant."
Ein Kartenfabrikant:" rief der Bauer.
"Jawohl, denn alle Karten im Lande muß man von ihm kaufen;
er stempelt sie. Er ist aber auch ein Gerber."
"Wie das?"
Nun. alle Gerber im Lande müssen die Häute gegerbt von ihm
kaufen. Er ist aber auch ein Prägestock.
Wie! ein Prägestock ?
"Ja, er macht alles Geld, was im Lande ist."
"Das ist erlogen," sagte der Bauer, "Du willst sagen, er macht
alles zu Geld. was im Lande ist; aber darum ist er noch kein Prägestock.
gibt nur einen Prägestock in Württemberg, der dem Land
seinen Namenszug aufgedrückt hat.
Die Menge hatte bisher nur ihren Beifall gemurmelt; aber bei
der letzten Anspielung auf die Münze brach sie in lautes Gelächter
aus; die Stirne des Gewaltigen verfinsterte sich etwa:: ; aber noch
immer spielte er ruhig weiter.
"Aber warum hast du dir den Bart so spildig wachsen lassen?"
fragte der Bauer weiter. "Das sieht ja ganz indisch aus."
Es ist halt so Mode," erwiderte Hans, "seit die Juden Meister
im Lande sind; bald will ich vollends ganz indisch werden."
Als Hans diese lesten Worte sprach, rief eine vernehmliche
Stimme aus dem dicksten Haufen "Warte noch ein paar Wochen,
Hans, Daun kannst du gut katholisch werden."
Wem je der schreckliche Anblick wurde. wie in einer volkreichen
Straße, durch Unvorsichtigkeit oder Bedacht entzündet, eine Tonne
Pulvers aufspringt, dem bot sich kaum eine so seltsame Szene dar
als die, welche diese wenigen geheimnisvollen Worte hervorbrachten.
Der Minister, bleich wie eine Leiche, springt vom Sessel auf, er wirft
die Karten mit wütendem Blick auf den Tisch: "Wer sagt dies? Greift
ihn im Namen des Herzogs!" ruft er und stürzt, wie von einer unsichtbaren
Macht getrieben, auf die Menge; seine Genossen, nicht
weniger bestürzt, aber besonnener, ergreifen seinen Arm und ziehen
ihn zurück, suchen ihn zu beschwichtigen —sein dunkles Auge will sich
durch die Menge bohren, um den Gegenstand seiner Wut zu fassen;
die Masken murmeln unwillig und drängen sich; doch als der gefürchtete
Mann seine Hand nach dem Bauer ausstreckt und ruft: "So
sollst du mir für ihn haften!" da ist er plötzlich von einer drohenden
)Senge umringt. "Mastenfreiheit, Jude!" hört man in dumpfen, gefährlichen
Tönen; der Bauer und sein Geselle sind in einem Augenblick
von ihm getrennt, verschwunden, und so schnell, als er vorhin
umringt war, ist er wieder verlassen; denn die Menge zerstiebt, von
geheimer Furcht gejagt, nach allen Seiten.
Das Gedränge riß Gustav Lanbek mit sich hinweg; seine Gedanken
verwirrten sich; es war ihm noch nicht möglich, sich klar vorzustellen
, was diesen seltsamen Auftritt verursacht haben könnte. So
stand er einige Augenblicke in seinen Gedanken verloren, als er plötzlich
seine Hand von einer andern ergriffen fühlte; er sah sich um; die
Orientalin stand vor ihm,
4.
"Wo stammt die Rose her auf deinem Hut, Maske?" fragte die
Orientalin mit zitternder Stimme.
"Vom See Tiberias," war die Antwort des Sarazenen.
"Schnell! Folgen Sie mir!" rief die Dame und schlüpfte durchs
Gedränge. Er folgte, mit Mühe sich durch die Massen schiebend,
und nur ihr Turban zeigte ihm hin und wieder den Weg; sein Herz
pochte lauter, sein Ohr trug noch die letzten Laute dieser süßen
Stimme, und sein Auge sah keinen andern Gegenstand mehr als sie.
In einer dunkleren Ecke des zweiten Saales hielt sie an und wandte
sich um. "Gustav, ich beschwöre Sie, was ist mit meinem Bruder
vorgefallen? Die Menschen flüstern allenthalben seinen Namen; ich
weiß nicht, was sie sagen, aber ich denke, es ist nichts Gutes; hat er
Streit gehabt? Ach, ich weiß wohl, diese Menschen hassen unser Volk."
Der junge Mann war in peinlicher Verlegenheit. Sollte er
mit einem Male den arglosen Wahn dieses liebenswürdigen Geschöpfs
zerstören? Sollte er ihr sagen, daß auf ihrem Bruder der Fluch
der Württemberger ruhe, daß sie für alle Menschen beten und nur
ihn aus dem Gebet ausschließen, daß es zur Sitte geworden sei zu
bitten: Herr, erlöse uns von allem Übel und von dem Juden Süß!
Lea," antwortete er sehr befangen, "Ihr Bruder wurde von einigen
Masken im Spiel gestört und hatte einen Wortwechsel, der vielleicht
gerade an diesem Ort auffiel; ängstigen Sie sich nicht!"
"Was bin ich doch für ein törichtes Mädchen!" sagte sie, "ich
habe so schwere Träume, und dann bin ich den Tag über so traurig
und niedergeschlagen. Und so reizbar bin ich, daß mich alles erschreckt,
daß ich immer gleich an meinen Bruder denke und glaube, es könnte
ihm Unglück zugestoßen sein.
"Lea," flüsterte der junge Mann, um diese Gedanken zu zerstreuen
, "erinnerst du dich, was du versprachst, wenn wir uns auf dem
Karneval träfen? Wolltest du mir nicht einmal eine einsame Stunde
schenken, wo wir recht viel plaudern könnten?"
"Ich will," sagte sie nach einigem Zögern; "Sara, meine Amme,
steht am Ausgang und wird mich begleiten. Doch wo?"
"Dafür ist gesorgt," erwiderte er; "folge mir, verliere mich nicht
aus dem Auge; am Eingang rechts.
Der erfinderische Sinn des jüdischen Ministers hatte, als er den
Karneval in Stuttgart arrangierte und diese Säle schnell aus Holz
aufrichten ließ, dafür gesorgt, daß, wie in großen Häusern und
Schlössern, an diese Säle auch kleinere Zimmer stoßen möchten, wo
kleine Zirkel ein Abendessen verzehren konnten, ohne gerade im allgemeinen
Speisesaal ihr Inkognito abzulegen. Der Aktuarius hatte
durch eine dritte Hand und hinlängliche Bezahlung sich den Schlüssel
zu einem dieser Zimmer zu verschaffen gewußt; eine kleine Kollation
stand dort bereit, und Lea freute sich über diese Artigkeit des jungen
Christen, der sein Möglichstes getan hatte, den Sinn einer in der Küche
erfahrenen Dame zu befriedigen, obgleich das Zimmerchen, das nur
einen Tisch und wenige Stühle von leichtem Holz enthielt, wenig Bequemlichkeit
bot.
"Wie bin ich froh, endlich die lästige Larve ablegen zu können!"
sagte sie, als sie mit ihrer Amme eintrat; sie sah sich nach einem
Spiegel um, und als sie nur leere Bretterwände erblickte, setzte sie
lächelnd hinzu: "Sie müssen mir schon statt eines Spiegels dienen,
Gustav, und sagen, ob diese drängende Menge mir den Haarputz nicht
verdorben hat."
Entzückt und mit leuchtenden Blicken betrachtete der junge Mann
das schöne Mädchen. Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer
Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen
Zügen, diese wundervollen, dunkeln Augen, beschattet von langen,
seidenen Wimpern, diese kühngewölbten, glänzend schwarzen Brauen
und die dunkeln Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße
Stirne und den schönen Hals fielen und den Vereinigungspunkt dieser
lieblichen Zuge, zarte, rote Lippen und die zierlichsten, weißen Zähne,
noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken
schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende
und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame — sie wirkten,
verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge
Mann eine jener herrlichen Erscheinungen zu sehen glaubte, wie sie
Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei
ihrer Heimkehr malte.
Wahrlich," rief er, "du gleichst der Zauberin Armida, und sa
denke ich mir die Töchter deine:, Stammes, als ihr noch Kanaan
bewohntet. So war Rebekka und die Tochter Jephthas."
Wie oft schon habe ich dies gesagt," bemerkte Sara, " wenn
ich mein Kind, meine Lea, in ihrer Pracht anblickte! Die Poschen
und Reifrocke, die hohen Absatzschuhe und alle Modewaren stehen ihr
bei weitem nicht wie diese Tracht,"
"Du hast recht, gute Sara," erwiderte der junge Mann: "dock
setze dich hier an den Tisch! Du hast zu lange unter Christen gelebt
um vor diesem Punsch und diesem Backwerke zurückzuschaudern
unterhalte dich gut mit diesen Dingen!"
Sara, welche den Sinn und die Weise des Nachbars kannte,
sträubte sich nicht lange und erbarmte sich über die Kunstprodukte
der Zuckerbäcker; der junge Mann aber setzte sich einige Schritte von
ihr neben die schöne Lea. "Und nun aufrichtig, Mädchen," sagte er,
"du hast Kummer, du hast gestern kaum das Weinen unterdrückt, und
auch heute wieder ist eine Wolke auf dieser Stirne, die ich so gern
zerstreuen möchte. Oder glaubst du etwa nicht, ungläubiges Sind,
daß ich dein Freund bin und gerne alles tun möchte, um dich aufzuheitern?
"
"Ich weiß es ja, o, ich sehe es ja immer und auch heute wieder,"
sagte sie, mühsam ihre Tränen bekämpfend, "und es macht mich ja
so glücklich. Als Sie mich das erstemal an unserem Gartenzaun
grüßten, als Sie nachher, es war anfangs Oktober, mit mir über den
Zaun hinüber sprachen und nachher und immer so freundlich und
traulich waren, gar nicht wie andere Christen gegen uns, da wußte
ich ja wohl, daß Sie es gut mit mir meinen, und — es ist Ja mein
einziges, mein stilles Glück!" Sie sagte es, und einzelne Tränen
stahlen sich aus den schönen Augen, indem sie sich bemühte, ihn freundlich
und lächelnd anzusehen.
"Aber dennoch —?" fragte Gustav.
"Aber dennoch bin ich nicht glücklich, nicht ganz glücklich. In
Frankfurt hatte ich meine Gespielinnen, hatte meine eigene Welt,
wollte nichts von der übrigen. Ich dachte nicht nach über unsere Verhältnisse
; es kränkte mich nicht, daß uns die Christen nicht achteten;
ich saß in meinem Stübchen unter Freunden und wollte nichts von
allem, was draußen war. Mein Bruder ließ mich zu sich nach Stuttgart
bringen. Man sagte mir, er sei ein großer Herr geworden, er
regiere ein Land, in seinem Hause sei es herrlich und voll Freude,
und die Christen leben mit ihm wie wir unter uns; ich gestehe, es
freute mich, wenn meine Freundinnen meine Zukunft so glänzend
ausmalten; welches Mädchen hätte sich an meiner Stelle nicht gefreut?"
Tränen unterbrachen sie aufs neue, und der junge Mann, voll
Mitleid mit ihrem Kummer, fühlte, daß es besser sei, ihre Tränen
einige Augenblicke strömen zu lassen. Es gibt ein Gefühl in der
menschlichen Brust, das wehmütiger macht als jeder andere Kummer;
ich möchte es Mitleiden mit uns selbst heißen; es übermannt uns,
wenn wir am Grabe zerstörter Hoffnungen in die Tage zurückgehen,
wo diese Hoffnungen noch blühten, wenn wir die fröhlichen Gedanken
zurückrufen, mit welchen wir einer heiteren Zukunft entgegengingen
; wahrlich, dieser bittere Kontrast hat wohl schon stärkere
Herzen in Wehmut aufgelöst als das Herz der schönen Jüdin.
"Ich habe alles anders gefunden," fuhr Lea nach einer Weile
fort. "In meines Bruders Hause bin ich einsamer als in meiner
Kindheit. Ich darf nicht kommen, wenn er Bälle und große Tafeln
gibt. Die Musik tönt in mein einsames Zimmer, man schickt mir
Kuchen und süsse Weine wie einem Kinde, das noch nickst alt genug
ist, um in Gesellschaft zu gehen. Und wenn ich meinen Bruder bitte,
mich doch auch einmal, nur in seinem Hause wenigstens, teilnehmen
zu lassen, so schlägt er es entweder ganz kalt ab, oder wenn er gerade
in sonderbarer Laune war, erschreckte er mich durch seine Antwort."
"Was antwortete er denn ?" fragte der Jüngling gespannt.
"Er sieht mich dann lange und seufzend an, seine Augen werden
trüber, seine Züge düster und melancholisch, und er antwortet, ich
dürfe nicht auch verloren gehen; ich solle unablässig zu dem Gott
unserer Väter beten, daß er mich fromm und rein erhalte, auf daß
meine Seele ein reines Opfer werde für seine Seele."
"Törichter Aberglaube!" rief der junge Mann unmutig; "darum
also sollst du, armes Kind, allen Freuden des Lebens entsagen, damit
er —"
"Hat er sich denn so arg versündigt?' fragte Lea, als ihr Freund,
wie bei einer unbesonnenen Rede, schnell abbrach. "Was soll ich
denn büßen? Solche hingeworfene Worte machen mich so unglücklich;
es ist mir, als schwebe irgend ein Unglück über meinem Bruder,
als sei nicht alles recht, was er tut. Niemand steht mir darüber Rede;
auch Saras Worte kann ich nicht deuten; denn wenn ich sie darüber
befrage, weicht sie aus oder nennt ihn geheimnisvoll den Rächer
unsers Volkes."
"Sie ist nicht klug," erwiderte der junge Mann befangen; "dein
Bruder hat, wie es überall geht, eine mächtige Gegenpartei; manche
seiner Finanzoperationen werden getadelt. Aber wegen seiner darfst
du ruhig schlafen," setzte er bitter lachend hinzu, "der Herzog hat ihm
heute einen Freibrief geschenkt, der ihn vor jeder Gefahr und Verantwortung
sichert."
"O, wie danke ich dies dem guten Herzog!"sagte sie aufgeheitert,
indem sie die dunkeln Locken aus der weißen Stirn strich. "So hat
er also gar niemand zu fürchten? Die Christen können ihn nicht verfolgen?
—Sie antworten nicht? Gestehen Sie nur, Gustav, Sie sind
meinem armen Bruder grams"
"Deinem armen Bruder? — Wenn er arm wäre, könnte
ich ihn vielleicht um seines Verstandes willen ehren! Aber was geht
uns dein Bruder an?" fuhr Lanbek düster lächelnd fort; "ich liebe
dich, und hättest du alle düsen Engeln zu Brüdern; aber eines
versprich mir, Lea, die Hand darauf!
Sie sah ihn erwartungsvoll und zärtlich an, indem sie ihre Hand
in die seinige legte.
"Bitte deinen Bruder niemals wieder," fuhr er fort, "dich zu
seinen Zirkeln zuzulassen! Mag er nun Grunde haben, welche er will,
es ist gut, wenn du nicht dort bist. So viel kann ich dich versichern,"
o setzte er mit blitzenden Augen hinzu, " wenn ich wüßte, daß du ein
einzigesmal dort gewesen, kein Wort mehr würde ich mit dir sprechen!"
Befangen und mit Tränen im Auge, wollte sie eben um Aufschluß
über dieses neue Rätsel bitten, als ein lauter Zank im Nebenzimmer
die Liebenden aufstörte. Mehrere Männer schienen mit der
Polizei sich zu streiten man hatte die Türe des Kabinetts gesprengt,
und über diesen Eingriff in die Rechte des Karnevals wurde schnell
und mit Heftigkeit gestritten.
"Mein Gott, das ist meines Vaters Stimme!" rief der junge
Lanbek; "schleiche dich mit Sara in den Saal, Mädchen! Nehmet
den Schlüssel dieser Türe zu euch! Vielleicht können wir später uns
wiedersehen." Er drückte der überraschten Lea schnell einen Kuß auf
die Stirne, nahm seine Maske vor, und noch ehe sie sich über diesen
schnellen Wechsel besinnen konnte, war der Aktuarius schon aus der
Türe gestürzt. Im Korridor, den er jetzt betrat, stand schon eine
dichte Menschenmasse um die geöffnete Türe des Nebenzimmers
versammelt. Deutlicher vernahm er die gewichtige, tiefe Stimme
seines Vaters; er stieß und drängte sich wie ein Wütender durch und
kam endlich in das Gemach. Fünf alte Herren, die ihm als ehrenwerte
Männer und Freunde seines Vaters wohlbekannt waren,
standen um den alten Landschaftskonsulenten Lanbek; die einen
zankten, die andern suchten zu beruhigen. Es war damals eine gefährliche
Sache, mit der Polizei in Streit zu geraten; sie stand unter
dem besonderen Schutz des jüdischen Ministers, und man erzählte
sich mehrere Beispiele, daß biedere, ruhige Bürger und Beamte,
vielleicht nur, weil sie einem Diener dieser geheimen Polizei widersprochen
oder Gewalttätigkeit verhindert hatten, mehrere Wochen
lang ins Gefängnis geworfen und nachher mit der kahlen Entschuldigung
, es sei aus Versehen geschehen, entlassen worden waren.
Doch der alte Lanbek schien keine Furcht vor diesen Menschen zu
kennen: er bestand darauf, daß die Häscher das Zimmer sogleich verlassen
müßten, und es wäre vielleicht noch zu schlimmern Händeln
als einem Wortwechsel gekommen, wenn nicht in diesem Augenblick
ein ganz anderer Gegenstand die Aufmerksamkeit des Anführers
der Häscher auf sich gezogen hätte. Der junge Lanbek hatte sich beinahe
bis an die Seite seines Vaters vorgedrängt, bereit, wenn es
zu Tätlichkeiten kommen sollte, den alten Herrn kräftig zu unterstützen
. Er hatte eben seine Maske fester gebunden, damit sie ihm
im Handgemenge nicht verloren gehen möchte, als ihn der Polizeidiener
erblickte und mit lauter Stimme, indem er auf ihn deutete,
rief: "Im Namen des Herzogs! Diesen greift, den Türken dort, der
ist der Rechte!"
Die Überraschung und sechs Arme, die sich plötzlich um ihn
schlangen, machten ihn wehrlos. So nahe seinem Vater. der ihn
hätte retten können, wagte er doch nicht, sich auch nur durch einen
Laut zu erkennen zu geben, weil er den Zorn seines Vaters noch
mehr fürchtete als die Gewalt des Juden.
Die alten Herren waren stumm vor Staunen über diesen Vorfall;
der Anführer der Häscher wurde, als er seinen Zweck erreicht
hatte, artiger und entschuldigte sich, worauf jene kalt und abgemessen
dankten. Willenlos ließ sich der junge Mann dahinführen. Die
Menge, die sich vor der Türe versammelt hatte, teilte sich; aber
manche schauten ihm neugierig in die Augen, um zu erraten, wer es
sein möchte, den man hier mitten aus der öffentlichen Lust heran: ;:
Gustav hörte, als er weiter hingeführt wurde, einen schwachen
Schrei; er sah sich um, und beim schwachen Schein der Lampen
glaubte er, den Turban der schönen Orientalin gesehen zu haben.
Schmerzlich bewegt ging er weiter, und erst, als die kalte Winternacht
schneidend auf ihn zuwehte, erwachte er aus seiner Betäubung
und übersah nicht ohne Besorgnis die Folgen, die seine Gefangennehmung
haben könnte.
5.
Die Polizeidiener hatten den Sarazenen, wahrscheinlich aus
Rücksicht auf seine feine und reiche Kleidung, in da:. Offizierszimmer
der Hauptwache gebracht. Der wachhabende Offizier wies ihm mit
einer mürrischen Verbeugung eine Bank, die in der fernsten Ecke
des Zimmers stand, zu seiner Schlafstätte an, und ermüdet von dem
langen Umherirren auf dem Ball, fand der junge Mann dieses Lager
nicht zu hart, um nicht bald einzuschlafen.
Trommeln weckten ihn am nächsten Morgen schlaftrunken sah
er sich in dem öden Gemach um, blickte bald auf sein hartes Lager,
bald auf seine Kleidung, und nach einer geraumen Weile erst konnte
er sich besinnen, wo er sei und wie er hierher gekommen. Er trat ans
Fenster; noch war alles still auf dem Platze vor der Hauptwache, und
nur die Kompagnie, die gerade vor seinem Fenster zur Ablösung
aufzog, unterbrach die Stille des trüben Februarmorgens. Indem
die Trommeln auf der Straße schwiegen, hörte er von der Stiftskirche
acht Uhr schlagen, und der Ton dieser Glocke rief ihm alles Uns
angenehme und Besorgliche seiner Lage zurück. "Bald wird er nach
dir fragen," dachte er, "und wie unangenehm wird es ihn überraschen
, wenn er hört, ich sei in dieser Nacht nicht zu Hause gekommen!"
Im Hause des alten Landschaftskonsulenten Lanbek ging alles
einen so geordneten Gang, daß dieses Ereignis allerdings sehr
10 störend erscheinen mußte. Zu dieser Stunde pflegte der alte Herr
seit vielen Jahren sein Frühstück zu nehmen; mit dem ersten Glockenschlag
erschien dann zugleich mit dem Diener, der den Kaffee auftrug,
sein Sohn; man besprach sich über Tagesneuigkeiten, über den
Gang der Geschäfte, und zu jener Zeit ließ es der allgewaltige
15 Minister nicht an Stoff zu solchen Gesprächen fehlen. Das Gespräch
war regelmäßig mit dem Frühstück zu Ende; der Aktuarius küßte
dem Alten die Hand und ging dann, einen Tag wie den andern, ein
Viertel vor neun Uhr nach seiner Kanzlei. Diese langjährige Sitte
des Hauses rief sich Gustav in diesen Augenblicken zurück. "Jetzt
2o wird Johann die Tassen bringen," sagte er zu sich, "jetzt wird er erwartungsvoll
nach der Türe sehen, weil ich noch nicht eingetreten
bin, jetzt wird er mich rufen lassen; daß ich doch dem guten, alten Herrn
solchen Ärger bereiten mußte!" Er warf unwillig seinen Turban
weg, stützte die Stirne in die Hand und beschloß, den Offizier, sobald
25 er wiedererscheinen würde, um die Ursache seiner Verhaftung zu
fragen.
Die Trommeln ertönten wieder, die Abgelösten zogen weiter,
er hörte die Gewehre zusammenstellen, und bald darauf trat ein
Offizier in das halbdunkle Gemach. Er warf einen flüchtigen Blick
30 nach seinem Gefangenen in der Ecke, legte Hut und Degen auf den
Tisch und setzte sich nieder. Lanbek, der jenen nicht zuerst anreden
mochte, bewegte sich, um anzudeuten, daß er nicht mehr schlafe.
Bon jour, mein Herr," sagte der Offizier, als er ihn sah, "wollen
Sie vielleicht mein Dejeuner mit mir teilen?"
35
Die Stimme schien Gustav bekannt; er stand auf, trat höflich
grüssend näher, und mit einem Ausruf des Staunens standen sich
die beiden jungen Männer gegenüber. " Parole d'honneur, Herr
Bruder!" rief der Kapitän von Reelzingen, "d ich hätte ich hier nicht
gesucht! Wie kömmst du in Arrest? Weiß Gott, Blankenberg hatte
40 nicht unrecht, als er prätendierte, du werdest irgend etwas contra
rationem riskieren.
"Ich möchte dich fragen, Kapitän," entgegnete der junge Mann,
"warum ich hier sitze. Mir hat kein Mensch den Grund angegeben,
warum man mich gefangennehme; du hast die Wache, Neelzingen;
bitte dich, du mußt doch wissen —
Bion garde ! Ichs" rief der Kapitän lachend. "Meinst du,
er habe mich mit seiner besonderen Astimation beehrt und in seine
Konfidenze gezogen? Nein, Herr Bruder! Als ich ablöste, sagte mir
der Leutnant von gestern: ,Oben sitzt einer, den sie vom Karneval
auf ausdrücklichen Befehl hergebracht haben.' Er pflegt es gewöhnlich
so zu machen."
"Wer pflegt es so zu machen?" fragt Lanbek erblassend.
Wer?" erwiderte jener leise flüsternd; "dein Schwager in spe,
der Jude."
"Wie?" fuhr jener errötend fort, "du glaubst, er selbst? Ich
hoffte bisher, es sei vielleicht eine Verwechslung vorgefallen! Du hast
wohl von dem Auftritte gehört, der bald, nachdem ich euch verlassen
hatte, mit dem Juden vorfiel; man rief etwas von Katholischwerden,
und da fuhr der Finanzdirektor auf —"
"Was sagst du?" unterbrach ihn der Kapitän mit ernster Miene.
indem er näher zu dem Freunde trat und seine Hand faßte. "Das
war es also? uns hat man es anders erzählt. Wie ging es zu? Was
hat man gerufen?"
Den Aktuarius befremdete der Ernst, den er auf den Zügen
des sonst so fröhlichen und sorglosen Freundes las, nicht wenig; er
erzählte den Vorfall, wie er ihn mit angesehen hatte, und sah, wie
sich die Neugierde des Freundes mehr und mehr steigerte, wie seine
Blicke feuriger wurden; als er aber beschrieb, wie Süss nach jenem
geheimnisvollen Ausruf wütend geworden und aufgesprungen sei,
da fühlte er die Hand des Kapitäns auf sonderbare Weise in der
seinigen zucken. "Was bewegt dich so sehr?" fragte Gustav befremdet.
"Wie nimmst du nur an solchen Karnevalsscherzen, die am
Ende auf irgend eine Torheit hinauslaufen, solchen Anteils Wenn ich
nicht wüßte, daß du evangelisch bist, ich glaubte, mein Bericht
hal e dich beleidigt."
"Herr Bruder," erwiderte der Kapitän, indem er seinen Einst
hinter einem gleichgültigen Lächeln zu verbergen suchte, "du kennst
mich ja, mich interessiert alles auf der Welt, und ich bin erstaunlich
neugierig; überdies ist manches ernster, als man glaubt, und im Scherz
liegt oft Bedeutung."
"Wie verstehst du das?" fragte der Aktuarius verwundert. "Was
macht dich so nachdenklich? Hast du wieder Schulden? Kann ich dir
vielleicht mit etwas dienen?"
"Bruderherz," entgegnete der Soldat, "du mußt in den letzten
Wochen gewaltig verliebt gewesen sein, sonst wäre deinem klaren
Blick manches nicht entgangen, was selbst an meinem leichten Sinn
nicht vorüberschlüpste. Sag einmal, was spricht der Papa von diesen
Zeiten? Sprichst du den Obrist von Röder nie bei ihm ? Waren nicht
am Freitag abend die Prälaten in eurem Hauses"
"Du sprichst in Rätseln, Kapitän!" antwortete der junge Mann
staunend. "Was soll mein Vater mit einem Obrist von der Leib
schwadron und mit Prälaten?"
"Freund, mach es kurz! sagte Reelzingen. "Halte mich in
solchen Dingen nicht für leichtsinnig; ich will mich nicht in euer Vertrauen
eindrängen; aber ich kann dir sagen, daß ich dennoch schon
ziemlich viel weiß, und Parole d'honneur!" setzte er hinzu, "ich
denke darüber, wie es einem Edelmann und meinem Portepee
geziemt."
"Was geht mich dein alter Adelsbrief und dein neues Portepee
an?" erwiderte unmutig der Aktuar, "und wie kommst du dazu,
dich mit diesen Dingen gegen mich breit zu machen? Ich sage dir,
daß ich von allem, was du da so geheimnisvoll schwatzst, keine Silbe
verstehe, und kann dir mein Wort darauf geben, und damit genug,
Herr von Reelzingen!"
"O mon Dieu!" rief jener lächelnd; "Herr Bruder, wir sind
nicht mehr in Leipzig, dies Zimmer ist nicht der göttliche Ratskeller,
sondern eine Wachstube; wir sind keine Musen mehr, sondern du bist
herzoglicher Aktuar, und ich — Soldat; aber Freunde sind wir noch
in Not und Tod, und darum sei Vernünftig und brause nicht mehr
auf wie vorhin! Ich glaube dir ja aufs Wort, daß du nichts weißt;
aber gut wäre es von deinem Vater gewesen, wenn er dich präveniert
hätte. Deine Amour mit der Jüdin ist überdies jetzt ganz und gar
nicht an der Zeit; wir alle bitten dich, laß deine Scharmante, mit der
du doch niemals eine vernünftige und ehrenvolle Liaison treffen
kannst —"
"Was wißt Ihr denn von diesem Verhältnis?" unterbrach ihn
der junge Mann düster und erbittert. "Ich dächte, ehe ich Euch
hierüber um Nat gefragt, könntet Ihr billigerweise mit Eurer Mahnung
warten."
Der feurige junge Soldat, um seinem Freunde zu nützen, wollte
eben in derselben Sprache etwas erwidern, als man an der Türe
pochte. Der Kapitän schloß auf, und einer seiner Sergeanten winkte
ihm, herauszutreten. Gustav hörte sie einige Worte wechseln und
sah den Freund bald darauf mit verstörter Miene wieder zurückkehren
. "Du bekommst einen sonderbaren Besuch," flüsterte er ihm
zu, "er wird gleich selbst eintreten, und ich darf nicht zugegen sein."
"Wer doch? Mein Vater?" fragte Gustav bestürzt.
"Er kommt," sagte der Kapitän, indem er eilends Hut und
Degen vom Tische nahm, "d er Jud Süß!
6.
Vor der Türe des Offizierszimmers hatten seine Diener dem
Minister den spanischen Mantel abgenommen, und er trat jetzt ein,
stattlich geschmückt und vornehm gekleidet, wie es einem Günstling
des Glücks und eines Herzogs in damaliger Zeit zukam. Er trug
einen roten Rock, mit goldenen Trotteln und Quasten besetzt; die goldgestickten
Aufschläge seines Rocks gingen bis zum Ellbogen zurück,
und die Weste von Goldbrokat reichte herab bis an das Knie. Ein
kurzer, breiter Degen mit reich besetztem Griff hing an seiner Seite,
ein mächtiger Stock unterstützte seine Hand, und auf den reichen,
hellbraunen Locken, die bis tief in den Nacken herabfielen, saß ein
Hütchen von feinem schwarzen Wachstuch, mit Gold und weißen
Federn verbrämt. Die Züge dieses merkwürdigen Mannes waren,
in der Nähe betrachtet, zwar etwas zu kühn geschnitten, um schön
und anmutig zu heißen; aber sie waren edler als sein Gewerbe und
ungewöhnlich; sein dunkelbraunes Auge, da:; frei und stolz um sich
blickte, konnte sogar für schön gelten; die ganze Erscheinung imponierte,
und sie hätte sogar etwas Würdiges und Erhabenes gehabt,
wäre es nicht ein hämischer, feindlicher Zug um die stolz aufgeworfenen
Lippen gewesen, was diesen Eindruck störte und manchen,
der ihm begegnete, mit unheimlichem Grauen füllte.
Der Kapitän stand fest und aufgerichtet an der Türe, den Hut
in der einen, den Degengriff in der andern Hand, als der Minister
Süß eintrat. Dieser nahm sein Hütchen ab, musterte, auf seinen
Stock gestützt, den Soldaten mit scharfem Blick und sagte dann kurz
und mit leiser Stimme: "Wie ist der Namen"
"Hans von Reelzingen, Kapitän im zweiten Grenadierbataillon,
dritte Kompagnie."
Man hat studiert?" fuhr der Jude etwas artiger fort.
"Die Jurisprudenz in Leipzig," antwortete der Kapitän mit
militärischer Kürze.
"Wie lange dient der Herr Kapitän?"
"Ein Jahr und zwei Monate; zuerst bei —"
"Schon gut," unterbrach ihn der Sinister mit einer gnädigen
Bewegung der Hand; "können abtreten."
Der Kapitän Reelzingen verbarg seinen Verdruß über das stolze
Wesen de:, Emporkömmlings unter einer tiefen Verbeugung und
trat ab. Dem Aktuarius aber, obgleich er keine Menschenfurcht
kannte, pochte das Herz, als er nun mit dem Manne allein war, vor
dem ein ganzes Land mit abergläubischer Furcht zitterte. Er errötete
unwillkürlich, als jener ihn lange und prüfend ansah und ihm
Gelegenheit gab, auch seine Züge zu mustern und hin und wieder
etwas zu finden, das ihn an die schöne Lea erinnerte. Der Minister
setzte sich endlich in den Armstuhl, den die Offiziere der Garnison
zur Bequemlichkeit dieses Zimmers gestiftet hatten, und winkte dem
Sarazenen herablassend, sich auf einer Bank, die unfern stand, nieder
zulassen.
"Junger Mann," sprach er, " wenn Euch Eure eigene Ruhe und
Wohlfahrt lieb ist, so antwortet mir auf das, was ich Euch fragen
werde. offen und ehrlich; denn Ihr könnet leichtlich denken, daß es
mir nicht schwer werden kann, Euch jeder Lüge, die Ihr waget, zu
überweisen."
"Ich bin Herzoglich Württembergischer Aktuar," erwiderte der
junge Mann, "und der Eid, den ich als Christ und Bürger —"
"Luissez cela," fiel ihm der Jude ins Wort, "Ihr wäret nicht
der erste, der seinen Eid gebrochen. Wer waren gestern, frag ' ich,
die beiden Masken, die sich an meinem Tisch zur Belustigung des
Publikums unterhielten? Ihr wißt es, Ihr standet zunächst bei
mir.
"Das ist mir nicht bekannt, Ew. Exzellenz," sagte Gustav mit
fester Stimme.
"Nicht bekannte" rief der Minister. "Bedenket wohl, was Ihr
gesagt, ich stehe hier als Euer Richter; habt Ihr keinen an der Stimme
gekannt?"
"Keinen."
"Keinen ?" fuhr jener heftiger fort. "Und Euren Vater solltet
Ihr nicht an der Stimme kennens"
"Meinen Vater!" rief der junge Mann erblassend; doch
besonnen setzte er nach einer Weile hinzu: "Ihr irrt Euch, Herr
Finanzdirektor, oder vielmehr, Ihr seid schlecht berichtet; mein Vater
ist ein ruhiger, gesetzter Mann, und sein Charakter, sein Amt, seine
Jahre verbieten ihm, das Publikum auf einem Maskenball zu
amüsieren.
"Sie sollten es ihm verbieten," erwiderte jener mit blitzenden
Augen, "und ich werde Mittel finden, es ihm zu verbieten. Ich
weiß recht wohl, daß ich diesen Herren von der Landschaft ein Dorn
im Auge bin, und zwar aus dem einzigen Grund, weil die Herren
nicht rechnen können; verständen sie das Einmaleins so gut wie ich,
sie würden sehen, was dem Lande frommt. Noch ist aber nicht aller
Tage Abend, und ich will diesen Rebellen zeigen, wer sie sind, und
wer ich bin!"
"Herr Finanzdirektor!" rief der junge Mann mit der Röte des
Unmutes auf den Wangen.
"Herr Aktuarius?" erwiderte Süß mit spöttischem Lächeln.
"Mein Vater ist ein Ehrenmann," fuhr Gustav fort, ohne sich
von der stolzen Miene des Gewaltigen einschüchtern zu lassen; "Sie
sprechen von Rebellen? Wie können Sie sagen, daß mein Vater dem
Herzog nicht immer treu gedient hat? Wie können Sie wagen, ihn
einen Rebellen zu schimpfen?"
"Wagen?" lachte Süß. "Hier ist von keiner Wagnis die Rede,
Herr Aktuarius; aber Rebell ist jeder, der nur dem Land und nicht
dem Herzog dient; er ist des Herzogs Diener, aber er dient ihm
schlecht: doch das soll nicht lange mehr so bleiben. Das mögt Ihr
übrigens dem Herrn Landschaftskonsulenten, Eurem Vater, sagen,
daß ich recht wohl weiß, was die beiden Masken wollten, und daß
sie es mit dem dritten abgekartet hatten; ich konnte ihn gestern nacht
so gut wie Euch verhaften lassen, und wenn ich es nicht tat, so verdankt
er diese Schonung nur Euch.
"Mir?" antwortete der junge Mann staunend. "Mir? Und ist
dies etwa auch Schonung, daß ich, ohne ein Verbrechen begangen
zu haben, diese Nacht in diesem Zimmer zubringen durften"
Nein," fuhr jener gütig lächelnd fort, "dies war nur zur Abkühlung
auf Euer Rendezvous veranstaltet." Er weidete sich einige
Augenblicke an der Verlegenheit des Jünglings und fuhr dann fort:
"Das gute Kind, wie hat sie mich gefleht und auf den Knien gebeten,
Euch zu retten! Sie glaubte nicht anders, als Ihr seiet wegen irgend
eines Kapitalverbrechens gefangen. Wie? Und habt Ihr mir gar
nichts zu sagen, Herr Lanbek?"
"Ihr kanntet mich nicht," erwiderte Gustav, "und es ist mir
nun wohl begreiflich, warum Ihr so hart mit mir verführet; aber
Leas Charakter hätte Euch wohl dafür bürgen können, daß nichts
Strafbares in diesem Verhältnis liege."
"Wirtlich? Mort vie:" rief der Minister. "Nichts Strafbares?
Meinen Sie, wenn ich etwas Strafbares in diesem Verhältnis
ahnete, Sie hätten es mit einer Nacht auf der Wache abgebüßt? Bei
den Gebeinen meiner Väter! Wenn ich —auf Neuffen oder Asperg
gibt es Keller und Kasematten, wo kein Mond und keine Sonne
scheint, da hätte ich den Herrn Sarazenen sitzen lassen, bis er sein
Schwabenalter erreicht hätte. Oder meint Ihr etwa in Eurem christlichen
Hochmut, einem Israeliten gelte die Ehre seiner Familie nicht
ebenso hoch als einem Nazarener?"
Der junge Mann erschrak vor dieser Drohung; denn er bedachte,
daß es dem Allgewaltigen ein Leichtes gewesen wäre, ihn spurlos
von der Erde verschwinden zu lassen; aber sein mutiger Sinn lehnte
sich auf gegen den Übermut dieses Mannes, der seine Privatsache
zu einer öffentlichen machte und zur Wahrung seines Hausrechtes
mit den Festungen des Landes drohte. "Exzellenz," sagte er mit
Blicken, vor welchen der Minister die Augen niederschlug, " wie Sie
über Ihre eigene Ehre denken, weiß ich nicht; doch scheint es mir
nicht sehr ehrenvoll zu sein, solche Drohungen auszustoßen. Mein
Vater ist zwar nur ein geringer Mann im Vergleich mit einem so
gewaltigen und hohen Herrn; aber der Landschaftskonsulent Lanbek
weiß, wo man in Deutschland Gerechtigkeit findet. Wien ist nicht
so fern von Stuttgart, und Euern Gnadenbrief von gestern hat
der Kaiser nicht unterzeichnet; was aber die Ehre Eurer Schwester
betrifft, so kann ich Euch versichern, daß sie mir nicht minder teuer ist
als meine eigene."
"Ihr habt hübsche Anlagen zu einem Landschaftskonsulenten,"
sagte der Jude, ruhig lächelnd, "übrigens, im Vertrauen gesagt, auf
den Kaiser müsst Ihr nicht zu sehr pochen; wegen eines württembergischen
Schreiber:, fängt man in Wien mit uns keine Händel an.
Aber Ihr gefallt mir, mein Schatz; ich habe Eure Arbeiten loben
hören, und Köpfe wie der Eure kann man zu etwas Besserem brauchen,
als Akten zu heften und Faszikel zu binden; Ihr seid Expeditionsrat
mit sechshundert Gulden Besoldung, und es freut mich, daß ich der
erste bin, der Euch hiezu gratuliert."
Der junge Mann sprang von seiner Bank auf und wollte reden;
aber Überraschung und Schrecken schloß ihm den Mund. Hundert
Gedanken kreuzten sich in seinem Kopf. Es war nicht die Freude,
vier Stufen, durch welche man sich sonst lange und mühevoll schleppte,
nun in einem Augenblicke übersprungen zu haben, was seine Seele
füllte; es war der schreckliche Gedanke, vor der Welt für einen Günstling
dieses Mannes zu gelten, vor seinem Vater, vor allen guten
Männern gebrandmarkt dazustehen.
"Exzellenz!" sprach er befangen. "Ich darf, ich kann diese Gnade
nicht annehmen! Bedenken Sie, was wird man sagen, so viele ältere,
verdiente Männer —"
Was da! Ich habe Euch Platz gemacht," antwortete der Jude
in befehlendem Ton, "ich habe Euch zum Rat ernannt, und Ihr seid
es. Keinen Dank, keine übergroße Delikatesse! Ich liebe da:: nicht. —
Nun," fuhr er gütig, beinahe zärtlich fort, "und wie steht Ihr mit
meiner Lea? Ihr habt mir ja da:, stille, blöde Kind ganz verzaubert.
Fürchtet Euch nicht vor mir, junger Herr! Ich bin nicht der Mann,
der gerade so sehr auf Reichtum sieht; Eure Familie gehört unter
die ältesten und angesehensten Bürgerfamilien, und das gilt mir in
diesem Falle so viel oder mehr als Reichtum. Euer Vater wird Euch
zwar nicht viel mitgeben; aber mit mir sollt Ihr zufrieden sein; fürstlich
will ich meine Lea an statten.
Die Felsenkeller von Neuffen und die tiefen Kasematten von
Asperg wären in diesem Augenblick dem jungen Manne willkommener
gewesen als diese Versicherung; er dachte an seinen stolzen Vater,
an seine angesehene Familie, und so groß war die Furcht vor Schande,
so tief eingewurzelt damals noch die Vorurteile gegen jene unglücklichen
Kinder Abrahams, daß sie sogar seine zärtlichen Gefühle für
die schöne Tochter Israels in diesem schrecklichen Augenblick übermannten.
"Herr Minister!" sprach er zögernd, "Lea kann keinen
wärmeren Freund als mich haben; aber ich fürchte, daß Sie dieses
Gefühl falsch deuten, mit einem andern verwechseln, das —ich möchte
nicht, daß Sie mich falsch verstehen, und Lea wird Ihnen nie gesagt
haben, de ;g ich jemals davon gesprochen hätte —
Der stolze Mann errötete, warf seine Lippen auf, drückte die
Augen beinahe zu, und an seiner Stirn begann eine Ader hoch anzuschwellen
. "Was ist das?" sagte er streng. "Wie soll ich diese
Redensart deuten?"
Herr Minister," erwiderte Gustav gefaßter, "bedenken Sie doch
den Unterschied der Religion!"
Habt Ihr diesen bedacht, Herr, als Ihr meiner Schwester diese
Liebeleien in den Kopf setztet? Aber ich kann Euch darüber trösten,
Lea wird Euch in dieser Hinsicht kein Hindernis geben. Ihr schweigt?"
fuhr er heftiger fort, "soll ich mit Eurem Vater darüber reden, junger
Mensch? War etwa meine Schwester gut genug dazu, Eure müßigen
Stunden auszufüllen, zur Gattin aber wollt Ihr sie nicht Wehe
Euch, wenn Ihr so dächtet! Dich und deinen ganzen Stamm würde
ich verderben! Euer Vater ist gestern eines schweren Verbrechens
schuldig worden, es steht in meiner Hand, ihn zur Verantwortung
zu ziehen; in Eure Hand lege ich nun das Schicksal Eures Vaters;
entweder —Ihr macht Eure Unvorsichtigkeit gegen mein Haus gut
und heiratet meine Schwester, oder ich erkläre Euch öffentlich für
einen Schurken und lasse den Herrn Konsulenten in Ketten legen.
Vier Wochen gebe ich Emh Bedenkzeit; mein Haus steht Euch offen,
Ihr könnt Eure Braut besuchen, so oft Ihr wollt; vier Wochen, versteht
Ihr mich? Jetzt seid Ihr frei, und morgen, Herr Expeditionsrat,
werdet Ihr Euer Amt antreten."
Nach diesen Worten verbeugte er sich kurz und verließ stolzen
Schrittes das Zimmer; dem Kapitän, den er im Vorzimmer traf,
befahl er, Kleider für den Herrn Expeditionsrat herbeischaffen zu
lassen und ihm seine Freiheit anzukündigen.
Staunend über diesen ganzen Vorfall, besonders über die letzten
Worte des Ministers, trat Reelzingen in sein Zimmer. Er fand den
Freund bleich und verstört, die Arme über die Brust gekreuzt, das
Haupt kraftlos auf die Brust herabgesunken. "Nun, sag mir ums
Himmels willen," fing der Kapitän an, indem er vor Gustav
stehen blieb, "was wollte er bei dir? Warum ließ er dich verhaften?
Was hat sein Besuch zu bedeuten?"
"Er kam, um mir zu gratulieren," antwortete er mit sonderbarem
Lächeln.
"Zu gratulieren? Wozu? Daß du eine Nacht auf der Wache zubrachtest?
"
"Nein, weil ich in dieser Nacht Expeditionsrat geworden bin."
"Du?" rief der Kapitän lachend. "Gottlob, daß du so heiter
bist und scherzen kannst; als ich hereintrat und dich sah, glaubte ich
dich nicht so spaßhaft zu finden; aber im Ernst, Freund, was wollte
der Indes"
"Ich sagte es ja, und es ist Ernst; zum Rat hat er mich gemacht.
Ist das nicht ein schönes Avancement?"
Der Kapitän sah ihn mit zweifelhaften Blicken lange an; endlich
sagte er gerührt: "Nein, du kannst nicht auch zum Schurken
werden, Gustav; Gott weiß, wie dies zusammenhängen mag! Aber
siehe, wenn ich dich nicht so lange und so genau kennte —glaube mir,
die Welt wird dich hart beurteilen; doch nein, du lächelst, gestehe, es
ist alles Scherz. Expeditonsrat! Ebensogut könntest du seine Schwester
heiraten."
"Ei, das wird ja auch geschehen," sagte Lanbek düster lächelnd;
"in vier Wochen, meint mein Schwager, soll die Hochzeit sein."
"Tod und Hölle!" fuhr der Kapitän auf, "mach mich nicht
rasend mit diesen Antworten! Wahrhaftig, mit solchen Dingen ist
nicht zu spaßen."
"Wer sagt dir denn, daß ich spaße?" erwiderte Lanbek, indem
er langsam aufstand. "Es ist alles so, wie ich sagte, auf Ehre!"
Dem Kapitän schwamm eine Träne im Auge, als er den Freund,
den er geliebt hatte, also sprechen hörte; doch nur einen Augenblick
gab er diesen weichern Empfindungen nach, dann trat er heftig auf
den Boden, setzte seinen Hut auf und rief: "So sei der Tag verflucht,
an welchem ich dich zum erstenmal sah und Bruder nannte! Geh,
hilf deinem Juden, dem armen Land das Fell vollends vom Leib
ziehen, schinde dir auch ein Stück herunter und mach dich reich!
O Lanbek, Lanbek! Aber mein Portepee, ja ein Jahr meines
Lebens wollte ich verhandeln, um einem meiner Kameraden die
Wache abzukaufen; ich selbst will die Exekution kommandieren, wenn
man dich und den Juden zum Galgen führt."
"So hoch werd ich mich wohl nicht poussieren," erwiderte Gustav
ruhig und ernst; "aber meiner Leiche kannst du folgen, wenn sie mich
morgen um Mitternacht neben der Kirchhofsmauer einscharren."
Der Kapitän sah ihn erschrocken an; er mochte tiefen Ernst auf
der Stirne des jungen Mannes lesen; denn er wiederholte diesen
Blick und begegnete Gustavs Auge. "Willst du mich fünf Minuten
lang anhören, Reelzingen?" fragte er. "Du wirst dann über die
Uneigennützigkeit dieses Ministers staunen. Sonst war doch der Preis
einer Amtei zweitausend, und ein Expeditionsrat galt seine dreitausend
Gulden unter Brüdern; aber ich Glückskind bekomme ihn
umsonst, rein pour rien! Denn das Glück meines Lebens, die Ruhe
meiner Familie, der heitere Frieden meines Vaters —daß diese bei
dem Handel verloren gehen, ist ja gering zu achten. Doch höre!"
Staunend vernahm der Kapitän diese Worte; aufmerksam setzte
er sich neben Gustav nieder. Je höher der Glaube an seinen Freund
während seiner Erzählung stieg, desto ängstlicher wurde er für ihn
und seine Familie besorgt. Er schloß ihn in seine Arme, er versuchte
es, ihm Trost einzusprechen, obgleich er selbst an diese Trostgründe
nicht glaubte. "Der Jude ist ein feiner Spieler," sagte er, "deine
besten Tarocks hat er dir abgejagt, und da:, Spiel scheint in seiner
Hand zu liegen; aber — er könnte sich verrechnet haben. Wir wollen
sehen, wie er beschlagen ist, wenn wir — Spadi anspielen."
7.
Wir führen unsere Leser aus dem Offizierszimmer der Hauptwache
in Stuttgart nach dem Hause des Landschaftskonsulenten
Lanbek. In einem weiten, geräumigen Zimmer, dessen Hausrat
nicht überladen und prächtig, aber solid und stattlich ist, finden wir
einen ältlichen Mann von mehr als mittlerer Größe. Sein Gesieht
und seine Gestalt beweisen, daß er, als er in den Fünfzigen stand,
wohlbeleibt gewesen sein mochte; jetzt, zehn Jahre später, hatten
sich Falten um Mund und Stirne gelegt, und der weite Schlafrock
von feinem grünen Tuch, mit Pelz verbrämt, war für eine reichliche
Fülle gefertigt und schlug jetzt weite Falten um den Leib; aber die
rötlichen Wangen, die klaren, grauen Augen, der feste Schritt, womit
er im Zimmer auf- und abging, ließen, noch ehe man seine volle,
sonore Stimme vernahm, ahnen, daß der alte Konsulent an Geist
und Körper noch frisch und rüstig sei.
In der Vertiefung des breiten Fensters saßen zwei schöne Mädchen
von achtzehn bis zwanzig Jahren, die dem Alten, so oft er ihnen
den Rücken wandte, besorglich und ängstlich nachschauten, wohl auch
untereinander flüsterten, so lange sie von ihm nicht gesehen wurden.
Die eine war bemüht, des Vaters ungeheure Allongeperrücke in
Ordnung zu bringen, und trotz dem Kummer, der an: ihren Blicken
sprach, schien sie doch Freude an dem schönen Kontrast zu finden,
welchen die schwarzen Locken dieses Haargebäudes mit ihren zarten,
weissen Händchen bildeten. Die dunkelblauen Augen der andern
jungen Dame schienen mehr mit der Straße als mit der feinen Arbeit.
an welcher sie nähte, beschäftigt; doch waren ihre Züge zu ernst, als
daß man es müßiger Neugier hätte zuschreiben dürfen.
Sie hatten mehrere Minuten lang geschwiegen; denn die Mädchen
Waren viel zu streng erzogen, als daß sie den Vater, der seinen
Gedanken nachhing, mit Fragen belästigt hätten; plötzlich sprang
die junge Nähterin auf, ließ ihre schöne Arbeit zu Boden fallen,
beugte den schlanken Hals näher ans Fenster und sah gespannt nach
der Straße. Der Vater sah diese Bewegungen, hielt seine Schritte
an, blickte aufmerksam nach seiner Tochter und fragte nur mit Blicken;
Käthchen, die jüngere Schwester, vollendete schnell noch eine Stirnlocke
der Perrücke, setzte dann das Prachtwerk behutsam auf eine
Kommode und kam eben noch zeitig an, um mit Hedwig zu rufen:
"Er ist's, er hat heraufgesehen, Vater; er geht sehr schnell; sieh doch,
was er für einen sonderbaren Rock anhat:"
"Das ist Blankenbergs Jagdkleid!" sagte Hedwig leise zu ihrer
Schwester.
"Geh doch, was weißt du von Blankenbergs Garderoben" erwiderte
die jüngere, bedeutungsvoll lächelnd.
"Er hat Gustav schon oft in diesem Kleid besucht," antwortete
sie, indem eine dunkle Röte über ihre Wangen flog.
Die Ankunft Gustavs verhinderte seine jüngere Schwester,
Hedwig nach ihrer Gewohnheit noch länger zu quälen. Der Vater
sah noch ernster aus als vorhin; er hatte sich in seinen Lehnstuhl
gesetzt und die strengen Augen auf die Türe geheftet; bang und
ängstlich pochte den Schwestern das Herz, als jetzt die Türe aufging
und ihr Bruder hereintrat. — Nach dem ersten "guten Morgen"
trat für alle drei Parteien eine peinliche Pause ein; endlich trat der
Sohn bescheiden zum Vater. "Sie haben mich wohl diesen Morgen
vermißt, Vaters" fragte er. "Es ist allerdings ein seltener Fall in
unserem Hause, und Sie wurden vielleicht besorgt um mich."
"Das nicht," antwortete der Alte sehr ernst; "du bist alt genug,
um nicht verloren zu gehen; aber zweierlei ist mir aufgefallen, nämlich,
daß man dich nur eine Stunde auf dem Karneval sah und daß
du diese Nacht und ihre Lustbarkeiten so unregelmäßig lang bis
morgens neun Uhr ausdehust; du solltest schon seit einer halben
Stunde in deiner Kanzlei sein.
"Ich bin heute dort entschuldigt," sagte Gustav lächelnd; "ich
habe auch seit heute früh ein Uhr so schrecklich geschwärmt und so
unordentlich gelebt, daß es kein Wunder ist, wenn man so spät zu
Hause kommt; ratet einmal, ihr Mädchen, wo ich gewesen bin."
Die Schwestern sahen ihn unwillig an; denn sie befürchteten
mit Recht, dieser leichtfertige Ton möchte dem alten Herrn mißfallen.
"Wie können wir dies wissen?" erwiderte Hedwig. "Ich
habe nie darnach gefragt, wo du dich mit deinen Kameraden umtreibst;
; doch heute, Bruder, bist du mir ein Rätsel."
"Und in einem Lustschloß bin ich gewesen," fuhr der junge
Mann fort, " wo weder ihr beide, noch Papa jemals Waren; ihr
erratet es doch nie, auf der Wache."
"Auf der Wache!" riefen die Schwestern entsetzt.
"Das ist mir sehr unangenehm, Gustav," setzte der Landschaftskonsulent
hinzu; "meines Wissens bist du der erste Lanbek, den man
auf die Wache setzte."
"Mir ist es doppelt unangenehm," antwortete sein Sohn, indem
er den Vater fest anblickte, "weil es im Grunde eine Namensverwechslung
zu sein scheint; denn meines Wissen:, bin nicht ich jener
Lanbek, der die Szene an dem Tisch des Juden aufführte."
Der Alte sah ihn bleich und betroffen an. "Gehet ins Nebenzimmer
, Mädchen!" rief er, und als sich die Schwestern staunend,
aber schnell und gehorsam zurückgezogen hatten, faßte er die Hand
seines Sohnes, zog ihn auf einen Stuhl neben sich nieder und fragte
hastig, aber mit leiser Stimme: "Was ist das? Woher weißt du?
Wer sagte dir davon?"
"Er selbst, antwortete der Sohn. "Der Jude?" fragte der Alte;
"wie ist dies möglich "
"Er war bei mir auf der Wache; ich sehe, wie Sie staunen,
Vater; aber bereiten Sie sich auf noch wunderlichere Dinge vor."
Der junge Mann hielt für das beste, seinem Vater so viel als möglich
zu entdecken; er erzählte ihm also, wie aufgebracht der Minister
auf den Konsulenten und seine Partei sei, wie der Sohn ihm widersprochen
wie der Minister, statt in heftigeren Zorn zu geraten, ihn
plötzlich ; um Expeditionsrat ernannt habe. Nur Leas erwähnte er
mit keiner Silbe; der Kapitän hatte ihm dies geraten, und er beschloß,
davon zu schweigen, bis er seine Maßregeln getroffen hätte oder die
Entdeckung des unglücklichen Verhältnisses unvermeidlich wäre.
"Ich sehe, was ich sehe," sprach der Konsulent nach einigem
Nachdenken. "Meinst du, wenn er uns nicht gefürchtet hätte, er winde
mich geschont und dich dafür ergriffen haben, um mich gleichsam
durch seine Gnade zu beschämen? Er hat mich gefürchtet, und er hat
alle Ursache dazu. Ich bin ihm zu populär, und auch du wirst ihm
nach und nach zu bekannt mit den hiesigen Bürgern, weil du jetzt
statt meiner die Armenprozesse führst. Der Expeditionsrat ist —
eine Falle , die er uns beiden legen wollte. der kluge Fuchs.
"Wie verstehen Sie dies, Papa?" fragte Gustav, dem es leichter
ums Herz wurde, seit er ahnete, wie sein Vater die Sache aufnehme.
"Sieh, Freund," sprach der Alte zutraulicher, als er je getan,
"du wirst das Opfer dieser Kabale; aber, so wahr ich dein Vater
bin! — du sollst es nicht lange sein. Dieser Jude denkt aber also:
Verwehre ich dir, diese Stelle anzunehmen, weil du dadurch in übeln
Geruch kommen könntest, so macht er es zu seiner Ehrensache, beklagt
sich beim Herrn und ergreift die einzige Gelegenheit, die sich bot,
mich zu zwingen, auch mein Amt aufzugeben. Er kennt mich, er
weiß, daß er so wenig als der Herzog mich absetzen kann; er weiß
auch, wer der alte Lanbek ist, nämlich — sein Feind. Nehmen wir
die Stelle an, kalkuliert er weiter, so werden wir verdächtig bei allen,
die das Bessere wollen. Der Vater Konsulent der Landschaft, würde
man denken, der Sohn —Expeditionsrat; gekauft hat ihm der Alte
die Stelle nicht, und der Süß gibt bekanntlich nichts ohne großen
Gewinn an Geld oder geheimem Einfluß; folglich —sind wir übergetreten
zu dem Gewaltigen. So, glaubt er, werden die Leute urteilen,
und er hat es recht klug gemacht; aber er kennt mich nicht ganz;
noch weiß ich, gottlob, ein Mittel, uns das Vertrauen der Besseren
zu erhalten, und du — wirst und bleibst Expedition: ändern sich
die Verhältnisse, so wirst du wieder Aktuarius, und die Menschen
erkennen dann deine Unschuld.
"Aber Vater!" sagte der junge Mann zaudernd, "Ihr Ruf
ist felsenfest — aber der meinigen Wie lange wird es noch anstehen
, bis die Verhältnisse sieh ändern!
"Sohn," erwiderte der Alte nicht ohne Rührung, "du siehst,
wie dieses schöne Land bis in sein innerstes Mark zerrüttet ist; meinst
du, es könne immer so fortgehen? — Glaube mir, ehe der Frühling
ins Land kommt, muß es anders werden; schlechter kann es nimmer
werden, aber besser. Darum glaube mir und vertraue auf Gott!"
8.
Während der alte Lanbek noch so sprach und seinem Sohn Mut
einzureden suchte, wurde die Hausglocke heftig angezogen, und bald
darauf trat ein Offizier in das Zimmer, dem der Konsulent freundlich
entgegeneilte. Wenn man das dunkelrote Gesicht, die freien,
mutigen Züge und das kleine, aber scharfblickende Auge dieses
Mannes sah, so konnte man die Sage von kühner Entschlossenheit
und beinahe fabelhafter Tapferkeit, die er unter dem Herzog Alexander
und dem Prinzen Eugenius bewiesen haben sollte, glaublich finden.
"Mein Sohn, der vormalige Aktuarius Lanbek," sprach der
Alte, "der Obrist von Röder, den du wenigstens dem Namen nach
kennen wirst."
"Wie sollte ich nicht?" erwiderte Gustav, indem er sich verbeugte.
"Wenn unsere Truppen von Malplaquet und Peterwardein
erzählen, so hört man diesen Namen immer unter die ersten und
glänzendsten zählen.
"Zu viel Ehre fur einen alten Mann, der nur seine Schuldigkeit
getan," antwortete der Obrist. "Aber, Konsulent, was sagt Ihr
dazu, daß der Inde jetzt auch uns ins Handwerk greift ? Ich komme
zu Euch eigentlich nur, um zu fragen: Soll ich, oder soll ich nicht?"
"Wie soll ich da:, verstehen?" fragte der Konsulent staunend;
Röder, nur jetzt keinen übereilten Streich!"
"Das ist es eben!" rief jener, auf den Boden stampfend, "meine
Ehre und die Ehre des ganzen Korps ist gekränkt! Einen meiner
talentvollsten Offiziere sollte ich nach Fug und Recht kassieren lassen
um dieses Hundes willen, und tu' ich's, so bin ich morgen selbst außer
Dienst."
"Aber so sprecht doch, Obrist!" sagte der Alte, indem er seinem
Sohn winkte, Stühle zu setzen, "seht Euch, Ihr seid noah in der
ersten Hitze.
"Mein Regiment hat gestern und heute den Dienst," fuhr jener
eifrig fort; "da bringt man nun gestern nacht von der Redoute weg
einen Menschen auf unsere Wache mit dem ausdrücklichen Befehl
vom Juden, ihn wohl zu bewachen, aber keinen weiteren Rapport
abzustatten; heute früh zieht der Kapitän Reelzingen auf, findet
einen Gefangenen im Offizierszimmer, von welchem nichts im
Rapport steht, und — denkt Euch — nach einer halben Stunde
kommt der Minister selbst, schickt den Kapitän au:, dem Zimmer,
verhört auf unserer Wache den Gefangenen insgeheim, entläßt ihn
dann und befiehlt dem Kapitän noch einmal, keinen Rapport
abzustatten, und — nimmt ihm das Ehrenwort ab — er einem
Offizier auf der Wache —nimmt ihm das Wort ab, den Namen des
Gefangenen nicht zu nennen; dahin also ist es gekommen, daß jeder
Schreiber oder gar ein hergelaufener Jude uns kommandierte Nach
Kriegsrecht muß ich den Kapitän kassieren lassen; meine Ehre fordert,
daß ich es nicht dulde; denn ich hatte den Dienst, und ich muss mich
rühren, sollte es mich auch meine Stelle kosten."
Die beiden Lanbek hatten sich während der heftigen Rede des
Obristen bedeutungsvolle Blicke zugeworfen. "Der Jude ist listiger,
als wir dachten," sagte, als jener geendet hatte, der Vater; "also auch
auf den Obrist war es abgesehen, auch für ihn war die Falle aufgestellt!
Wer meint Ihr wohl, daß der Gefangene wars Da seht ihn,
mein leiblicher Sohn saß heute nacht auf Eurer Wache!"
Der Obrist fuhr staunend zurück, und so groß war der Unmut
über den Eingriff in seine militärischen Rechte, daß er sich nicht enthalten
konnte, einen unwilligen, finstern Blick auf den jungen Mann
zu werfen. Als aber der alte Lanbek fortfuhr und ihm erzählte, wie
er selbst eigentlich die Ursache dieses Vorfalls gewesen und wie alles
andere so sonderbar gekommen sei, als er ihm den arglistigen Plan
des Ministers näher auseinandersetzte, da sprang Herr von Röder
von seinem Stuhl auf. "Wohlan, Alter!" sagte er mit bewegter
Stimme zu dem Konsulenten, "daß er mich verfolgt und haßt, hat
am Ende nichts zu bedeuten, und daran ist nur der General Römchingen
schuld, der mich nie leiden konnte; aber über dir soll er den
Hals brechen, oder ich will nicht selig werden! Herr Aktuarius ! Die
Stelle musst Ihr annehmen, das ist jetzt keine Frage mehr! Denn
Euer Vater darf jetzt nicht von seinem Amt kommen, oder Verfassung
und Religion stehen auf dem Spiel. Aber zum Herzog will ich gehen,
will sprechen, und sollt' es mich mein Leben kosten."
"Das werdet Ihr nicht tun, Obrist!" sagte der Alte mit Nachdruck
und Ernst. "Leset diesen Brief, den man uns aus Würzburg
schickt, und sagt mir dann, ob Ihr noch waget, zum Herzog zu gehen
und zu sprechen." Der Obrist nahm aus seiner Hand ein Schreiben
und fing an zu lesen; doch je weiter er las, desto bestürzter wurden
seine Züge, bis er staunend, aber mit zornsprühenden Augen den
Alten anblickte und die Arme sinken ließ.
"Vater!" sprach der junge Mann, der betroffen bald den Alten,
bald den Obristen betrachtete, "Vater, Sie machen mich hier zum
Zeugen eine: Auftrittes, bei welchem ich vielleicht besser nicht zugegen
gewesen wäre. Ich soll aber gezwungenerweise eine Rolle
übernehmen, die mir nicht zusagt. Ich bin zum Expeditionsrat ernannt
und weih nicht warum ich darf die Stelle nicht ablehnen,
obgleich sie mich vor der Welt zum Schurken macht, und weiß nicht
warum; es gehen Dinge vor im Staat und in meines Vaters Hause,
man verhehlt sie mir, und ich weiß wieder nicht warum. Herr Obrist
von Röder, Sie überreden mich, eine Stelle nicht auszuschlagen,
die meines Vaters Namen beschimpft; von Ihnen glaube ich Gründe
verlangen zu können, warum ich es nicht tun soll?"
"Gott weih, er hat recht!" rief Röder, indem er den jungen Mann
nachdenkend betrachtete. "Ich weiß auch nicht, Alter, warum Ihr
ihm nicht längst den Schlüssel gegeben habt. Wenn Ihr ihm übrigens
die Augen nicht öffnen wollt, so will ich ihm diesen Dienst tun, weil
ich weiß, wie druckend es ist, ein wichtiges Geheimnis halb zu erraten
und halb zu ahnen."
Es sei," sagte der Vater, "sehet Euch wieder! Wenn ich dich,
mein Sohn, bis jetzt nicht mit Dingen dieser Art vertraut gemacht
habe, so geschah es nur aus Furcht, für einen allzu stolzen Vater
zu gelten; denn wir hatten uns das Wort gegeben, nur erprobten
und ausgezeichneten Männern uns anzuvertrauen. Ich darf dir
nicht erst sagen, was in den drei Jahren, seit Alexander regiert, aus
Württemberg geworden ist. Man soll von einem Lanbek nicht sagen
können, daß er gegen seinen Herrn gemurrt hätte; er ist ein tapferer
Mann und nach Prinz Eugenius vielleicht der erste Feldherr seiner
Zeit; aber das Feldregiment taugt wohl im Lager und vor dem
Feind, nicht so in der Kanzlei. Er sieht die Regierung des Ländchens
, wie er sagt, etwas zu heldenmäßig an, das heißt, er sieht
darüber hinweg und läßt andere dafür sorgen."
"Dieses Ländchen!" rief der Obrist bitter. "Diese:. schöne
Württemberg! Es heißt wohl ein alter Syrus), daß, wenn man auch
sich alle Mühe gäbe, dieses Land doch nicht könne zugrunde gerichtet
werden; aber nous verrons Wenn es so fortgeht, wenn man
es durch den Verkauf der Ämter, durch Verhöhnung der Besseren,
durch Erhebung der niederträchtigsten Bursche geflissentlich verderbt,
wenn man seine Kräfte bis aufs Mark aussaugt —"
"Kurz, mein Freund," fuhr der Alte fort, "es kann nicht so
fortgeben. Nach und nach kann es nicht besser werden; denn schon
jetzt sitzen bei uns in der Landschaft fünf Schurken, die nicht einmal
der Gottseibeiuns für sich repräsentieren ließe; alle Ämter sind verkauft
oder für Süßsche Kreaturen käuflich; also kann es nur schlechter
werden! Aber es sind zwei Parteien; die da sagen: Es muß anders
werden! Die eine Partei ist Süss, der schnöde Jude, der General
Römchingen, der feinste von diesen Burschen, Hallwachs, dein neuer
Kollege, Metz und noch einige von der Landschaft. Wir wissen, was
sie wollen, und es ist nichts Geringeres, als die Stände und den
Landtag völlig aufzuheben."
"Und, Gott sei's geklagt," sagte Herr von Röder, "den Herzog
haben sie von seiner edelmütigen Seite gepackt, er ist alles zufrieden.
Das Land sei aufgebracht über die Stände, sagen sie ihm, man murre
über die Landschaft, und nun hat er sich entschlossen, das Institut
wie ein Korps Invaliden aufzulösen, dem Lande die jährlichen Kosten
der Stände edelmütig zu schenken und allein zu regieren."
"Wie? Verstehe ich recht?" rief der junge Lanbek. "Also unsern
letzten Schutz gegen den übeln Willen oder gegen die unrichtige Ansicht
eines Herrn will man uns rauben? Auf die Verfassung ist es
abgesehen? Doch das ist nicht möglich; Alexander hat sie ja beschworen!
Und mit welchen Mitteln will er dies wagen? Meinen Sie wirklich,
Herr Obrist, der württembergische Soldat werde seine eigenen Rechte
unterdrücken?"
"Hier sind die Hunde," erwiderte der Obrist, indem er auf den
Brief zeigte, "die man bei diesem Treibjagen hetzen will."
"Nur ruhig," sprach der Landschaftskonsulent, "höre mich ganz !
Der Herzog ist aufs abscheulichste getäuscht; er glaubt fest, daß es ihm
nur ein Wort koste, so werden die Stände nicht mehr sein. und alle
herzen werden ihm zufliegen. So haben es der Jude und Römchingen
ihm vorgeschwatzt: aber sie kennen uns besser und wissen, daß Gewalt
zu einem solchen Schritt gehört. Hier ist ein Brief an den Erzbischof
von Würzburg, den der General Römchingen geschrieben: Man wolle
zum Besten des Landes einige Änderungen vornehmen man könne
sich aber auf die Truppen im Lande nicht verlassen, daher solle der
Bischof bewirken, daß die Truppen des fränkischen Kreises an einem
bestimmten Tag an unserer Grenze seien. Auch an einige Reichsstände
in Oberschwaben hat er ähnliche Schreiben erlassen."
"Und im Namen des Herzogs?" fragte der junge Mann.
"Nein, sie lassen ihn nur so durchblicken; aber eine andere Lockspeise
haben sie dem Bischof hingeworfen; man sagt nicht umsonst,
dah unser alter Reformator Brenz seit einigen Nächten aus seinem
Grab aufstehe und die Kanzel besteige — katholisch wollen sie uns
machen. Du Staunst: Du willst nicht glauben? Auch ich glaube, daß
sie es nicht aus Religiosität tun wollen, sondern entweder soll es den
Bischof und die Oberschwaben enger für die Sache verbinden, oder
meinen sie, dem Herzog gefällig zu sein, wenn sie in vierundzwanzig
Stunden den Glauben reformieren, wie sie das alte Recht reformieren
wollen."
"Es kann, es darf nicht sein!" rief der junge Mann. "Die Grundpfeiler
unseres Glückes und unserer Zufriedenheit mit einem
Schlag umstürzen? Es ist nicht möglich, der Herzog kann es nicht
dulden."
"Er weiß und denkt nicht, daß sie dies alles vorhaben," sagte
der Obrist; "sein Ruhm ist ihm zu teuer, als daß er ihn auf diese Weise
beflecken möchte; aber wenn es geschehen ist, ohne daß die Schuld
auf ihn fällt, dann, fürchte ich, wird er das Alte nicht wiederherstellen.
Zu welchem Zweck, glaubt Ihr denn, habe der Jude dem Herzog das
Edikt von gestern abgeschwatzt, worin er für Vergangenheit und
Zukunft von aller Verantwortlichkeit freigesprochen wird ? Das soll
ihn schützen in dem kaum denkbaren Fall, wenn der Herzog über die
treuen und ergebenen Herren Räte erbost würde, die ihm die unumschränkte
Macht zu Füssen legen und in der Stiftskirche einen
Krummstab aufpflanzen."
"Und gegen diese wollt ihr kämpfen?" fragte Gustav besorgt
und zweifelhaft.
"Kämpfen oder zusammen untergehen," sprach der Alte. "Wer
mit uns verbunden ist, musst du jetzt nicht wissen, es genügt dir, zu
erfahren, daß es die Trefflichsten des Adels und die Wackersten der
Bürger sind. Wir wollten den Kaiser um Schutz anflehen; aber die
Umstände sind ungünstig, die Zeit ist zu kurz, um durch alle Umwege
zu ihm zu gelangen, und überdies hat der Herzog einen gewaltigen
Stein im Brett seit den letzten Kriegen; man würde uns abweisen.
Uns bleibt nichts übrig als —"
"Wir müssen," rief der Obrist Muti und entschlossen, "das
Prävenire müssen wir spielen; Sankt Joseph, den neunzehnten ?mir z,
haben sie sich zum Sial gesteckt; aber einige Tage zuvor müssen wir
die Feinde de:, Landes gefangen nehmen, die treuen Truppen nach
Stuttgart ziehen, das Landvolk zu unserer Hilfe aufrufen und, wenn
es gelungen ist, dem Herzog von neuem huldigen und ihm zeigen,
an welchem furchtbaren Abgrund er und wir gestanden. Und dann —
er ist ein tapferer Soldat und ein Mann von Ehre, Daun wird er
erröten vor der Schande, zu welcher ihn jene Elenden verführen
wollten."
"Aber der Herzog," fragte der junge Mann, " wo soll er sein und
bleiben, während ihr diese furchtbare Gegenmine auffliegen lasset "
Das ist es ja gerade, was uns zur Eile zwingt," erwiderte der
Obrist; "sie haben ihn überredet, im nächsten Monate die Festungen
Kehl und Philippsburg zu bereisen, und hinter seinem Rucken wollen
sie reformieren. Den eliten will er abreisen; schon sind die Adjutanten
ernannt, die ihn begleiten sollen, und, wenn ich es (gan darf,
mit solchem Gepränge und so viel und laut wird von dieser Reise gesprochen,
daß ich fürchte, die ganze Fahrt ist nur Maske, und der
Herzog wird nicht über die Grenze gehen."
"Du kennst jetzt unsere Pläne," sprach der alte Herr zu seinem
Sohn, "sei klug und vorsichtig! Ein Wort zuviel kann alle:. verraten
Darum. wie unter uns gebräuchlich ist, lege deine Sand
in die deines Vater; und dieses tapfern Mannes und schwöre uns,
zu schweigen!"
"Ich schwöre," sagte Lanbek mit fester Stimme, aber bleich und
mit starrem Auge; und sein Vater und der Obrist zogen ihn an ihre
Brust und begrüssten ihn als einen der Ihrigen,
9.
Ein drückender, trüber Nebel lag über Stuttgart und gab den
Bergen umher und der Stadt ein trauriges, ödes Ansehen; geradeso
lag auch ein trüber, ängstlicher Ernst auf den Gesichtern. die man
auf den Straßen sah, und es war, als hätte ein Unglück, das man
nicht vergessen konnte, oder ein neuer Schlag, den man fürchtete,
alle Herzen wie die sonst so lieblichen Berge umflort und in Trauer
gehüllt. Am Abend eines solchen Tages schlich der junge Lanbek
durch die feuchten Gänge des Gartens. Sein Gesicht war bleich,
sein Auge trübe, sein Mund heftig zusammengepreßt, seine hohe
Gestalt trug er nicht mehr so leicht und aufgerichtet wie zuvor, und
es schien, als sei er in den letzten acht Tagen um ebenso viele Jahre
älter geworden. Was, er vorausgesehen hatte, war eingetroffen;
niemand, der die Lanbeks auch nur dem Rufe nach kannte, konnte
die schnelle Erhebung de:, jungen Mannes begreifen oder rechtfertigen.
Die Günstlinge und Kreaturen des mächtigen Juden traten
ihm mit jener lästigen Traulichkeit, mit jener rohen Freude entgegen,
wie etwa Diebe und falsche Spieler einem neuen Genossen ihrer
Schlechtigkeit beweisen, und des jungen Lanbeks Gefühl bei solchen
neuen werten Bekanntschaften läßt sich am besten mit den unangenehmen
und wehmütigen Empfindungen eines Mannes vergleichen,
den das Unglück in einen Kerker mit dein Auswurf der
Menschen warf und der sich von Räubern und gemeinen Weibern
als ihresgleichen begrüßen lassen muss. Die gnädigen Blicke, die ihm
der Minister hin und wieder öffentlich, beinahe zum Hohn, zuwarf,
bezeichneten ihn als einen neuen Günstling. Jetzt erst sah er, wie
viele gute Menschen ihm sonst wohlgewollt hatten; denn so manches
bekannte Gesicht, das sonst dein Sohne des alten Lanbek einen
guten Tag" zugelächelt hatte, erschien jetzt finster, und selbst wackere
Bürgersleute und jene biederen, ehrlichen Weingartner, die sich bei
ihm und dem Alten so oft Nat:, erholt hatten, wandten jetzt die Augen
ab und gingen vorüber, ohne den Hut zu rücken.
Der Gedanke an Lea erhöhte noch sein Unglück. Er wußte genau,
wie unglücklich sein alter Vater, er selbst und die Seinigen werden
könnten, wenn der verzweifelte Schlag, den sie führen wollten, mißlang;
und doch, so groß der Frevel war, den jener fürchterliche Mann
auf sich geladen hatte, dennoch graute ihm, wenn er sich die Folgen
überlegte, die sein Sturz nach sich ziehen würde. Was sollte an: der
armen Lea werden, wenn der Bruder vielleicht Monate lang gefangen
saß? Konnte der Herzog, ein so strenger Herr, Vergehungen
und Pläne, wie die des Juden, vergeben, selbst wenn er ihm durch
jenes Edikt Straflosigkeit zugesichert hatte?
Und dann durchzuckte ihn wieder die Erinnerung an jene schreckliche
Drohung, die Süss gegen ihn ausgestoßen, als er das Verhältnis
des jungen Mannes zu seiner Schwester berührte. Alle Angst vor
seinem alten Vater, vor der Schande, die eine solche Verbindung,
wenn sie auch nur besprochen würde, brächte, kam über ihn. Es gab
Augenblicke, wo er seine Torheit, mit der schönen Jüdin auch nur ein
Wort gewechselt zu haben, verwünschte, wo er entschlossen war, den
Garten zu verlassen, sie nie wiederzusehen, seinem Vater alles zu
sagen, ehe es zu spät wäre; aber wenn er sich dann das schöne Oval
ihres Hauptes, die reinen, unschuldigen und doch so interessanten
Züge und jenes Auge dachte, das so gerne und mit so unnennbarem
Ausdruck auf seinen eigenen Zügen ruhte, da war es, ich weiß nicht,
ob Eitelkeit, Torheit, Liebe oder gar der Einfluß jenes wunderbaren
Zaubers, der sich aus Rahel: Tagen unter den Töchter Israels
erhalten haben soll — es zog ihn ein unwiderstehliches Etwas nach
jener Seite hin, wo ihn, seit die Dämmerung des ersten Märzabends
finsterer geworden war, die schöne Lea erwartete.
"Endlich, endlich!" sagte Lea mit Tränen, indem sie ihre weiße
Hand durch die Staketen bot, welche die beiden Gärten trennten.
Wenn nicht der Frühling indes hätte kommen müssen, wahrhaftig,
ich hätte gedacht, es sei schon ein Vierteljahr vorüber. Ich bin recht
ungehalten; wozu denn auch in den Garten gehen bei dieser schlimmen
Jahreszeit, wenn Ihr frei und offen durch die Haustüre kommen
dürfte Wisset nur, Herr Nachbar, ich bin sehr unzufrieden."
"Lea," erwiderte er, indem er die schöne Hand an seine Lippen
zog, "verkenne mich nicht, Mädchen! Ich konnte wahrhaftig nicht
kommen, Kind! Zu dir durfte ich nicht kommen, und in die Zirkel
deines Bruders gehe ich nicht; und wenn ich wüßte, daß du ein einziges
Mal da warst, würde ich dich nicht mehr sprechen." Trotz der Dunkelheit
glaubte der junge Mann dennoch eine hohe Nöte auf Seas
Wangen aufsteigen zu sehen. Er sah sie zweifelhaft an; sie sil) lug
die Augen nieder und antwortete: "Du hast recht, ich darf nicht in
die Zirkel meines Bruder:, gehen."
"So bist du da gewesen? Ja, du bist dort gewesen!" rief Lanbek
unmutig. "Gestehe nur, ich kann jetzt doch schon alles in deinen Augen
lesen."
"Höre mich an," erwiderte sie, indem sie bewegt seine Hand
drückte, "die Amme hat dir gesagt, was nach dem Karneval vorging,
und wie ich ihn bat und flehte, dich frei zu lassen. Seit jener Zeit
hat sich sein Betragen ganz geändert; er ist freundlicher, behandelt
mich, wie wenn ich auf einmal um fünf Jahre älter geworden wäre,
und läßt mich zuweilen sogar mit sich ausfahren. Vor einigen Tagen
befahl er mir, mich so schön als möglich anzukleiden, legte mir ein
schönes Halsband in die Hand, und abends führte er mich die Treppe
herab in seine eigenen Zimmer. Da waren nur wenige, die ich kannte;
die meisten Herren und Damen waren mir fremd. Man spielte und
tanzte, und von Anfang gefiel es mir sehr wohl, nachher freilich nicht,
denn —
"Denn?" fragte Lanbek gespannt.
"Kurz, es gefiel mir nicht, und ich werde nicht mehr hingehen."
"Ich wollte, du wärest nie dort gewesen," sagte der junge Mann.
"Ach, konnte ich denn wissen, daß die Gesellschaft nicht für mich
passen würde?" erwiderte Lea traurig. "Und überdies sagte mein
Bruder ausdrücklich, es werde meinen Herrn Bräutigam freuen,
wenn ich auch unter die Leute komme."
"Wen hat er gesagt, w en werde es freuen?" rief Lanbek.
"Nun dich," antwortete Lea "überhaupt, Lanbek, ich weiß
gar nicht, wie ich dich verstehen soll; du bist so kalt, so gespannt;
gerade jetzt, da wir offen und ohne Hindernis reden können, bist du
so ängstlich, beinahe stumm; statt ins Haus zu uns zu kommen, bestellst
du mich heimlich in den Garten, ich weiß doch nicht, vor wem
man sich so sehr zu fürchten hat, wenn man einmal in einem solchen
Verhältnis stehts"
"In welchem Verhältnis?" fragte Lanbek.
"Nun, wie fragst du doch wieder so sonderbar! Du hast bei
meinem Bruder um mich angehalten, und er sagte dir zu, im Fall
ich wollte und der Herzog durch ein Reskript das Hindernis wegen
der Religion zwischen uns aufhöbe. Ich bin nur froh, daß du nicht
Katholik bist, da wäre es nicht möglich; aber ihr Protestanten habt
ja kein kirchliches Oberhaupt und seid doch eigentlich so gut Ketzer
wie wir Juden."
"Lea! Um Gottes willen, frevle nicht!" rief der junge Mann
mit Entsetzen. "Wer hat dir diese Dinge gesagte O Gott, wie soll ich
dir diesen furchtbaren Irrtum benehmens"
"Ach, geh doch!" erwiderte Lea. "Daß ich es wagte, mein verhaßtes
Volk neben euch zu stellen, bringt dich auf. Aber sei nicht
bange; mein Bruder, sagen die Leute, kann alles, er wird uns gewiß
helfen; denn was er sagt, ist dem Herzog recht. Doch eine Bitte habe
ich, Gustav: Willst du mich nicht bei den Deinigen einführen? Du hast
zwei liebenswürdige Schwestern, ich habe sie schon einigemal vom
Fenster aus gesehen; wie freut es mich, einst so nahe mit ihnen verbunden
zu sein! Bitte, laß mich sie kennen lernen."
Der unglückliche junge Mann war unfähig, auch nur ein Wort
zu erwidern; seine Gedanken, sein Herz wollten stille stehen. Er
blickte wie einer, der durch einen plötzlichen Schrecken aller Sinne beraubt
ist, mit weiten, trockenen Augen nach dem Mädchen hin, das,
wenn auch nicht in diesem Augenblick, doch bald vielleicht noch unglücklicher
werden mußte als er und das jetzt lächelnd, träumend,
sorglos wie ein Kind an einem furchtbaren Abgrund sich Blumen
zu seinem Kranze pflückte.
"Was fehlt dir, Gustav?" sprach sie ängstlich, als er noch immer
schwieg. "Deine Hand zittert in der meinigen; bist du krank? Du bist
so verändert." Doch — noch ehe er antworten konnte, sprach eine
tiefe Stimme neben Lea: "Sou soir, Herr Expeditionsrat; Sie unterhalten
sich hier im Dunkeln mit Dero Braut? Es ist ein kühler Abend;
warum spazieren Sie nicht lieber herauf ins warme Zimmer? Sie
wissen ja, daß mein Haus Ihnen jederzeit offen steht."
"Mit wem sprichst du hier, Gustav?" sagte der alte Lanbek,
der beinahe in demselben Augenblick herantrat. "Deine Schwestern
behaupten, du unterhaltest dich hier unten mit einem Frauenzimmer.
Es ist der Minister," antwortete Gustav beinahe atemlos.
Gehorsamer Diener," sprach der Alte trocken; "ich habe zwar
nicht da:, Vergnügen, Ew. Exzellenz zu sehen in dieser Dunkelheit;
aber ich nehme Gelegenheit, meinen gehorsamsten Dank von wegen
der Erhebung meines Sohnes abzustatten; bin auch sehr scharmiert,
daß Sie so treue Nachbarschaft mit meinem Gustav halten."
"Man irrt sich," erwiderte Süß, heiser lachend, " wenn man
glaubt, ich bemühe mich, mit dem Herrn Sohn im Dunkeln über
den Zaun herüber zu parlieren ich kam nur, um meine Schwester
abzuholen, weil es etwas kühles Wetter ist und die Nachtluft ihr
schaden könnte."
"Mit Ihrer Schwestern" sagte der Alte streng. "Bursche, wie
soll ich das verstehens Sprich"
"Echauffieren sich doch der Herr Landschaftskonsulent nicht so
sehr!" erwiderte der Jude. "Jugend hat nicht Tugend, und er macht
ja nur meiner Lea in allen Ehren die Cour."
Schandbube!" rief der alte Mann, indem er seine Hand um
den !Lun seine:, Sohnes schlang und ihn hinwegzog. "Geh auf dein
Simmer, ich will ein Wort mit dir sprechen; und Sie , Jungfer
Süßin, daß Sie sich nimmer einfallen läßt, mit dem Sohn eines
ehrlichen Christen, mit in einem Sohn, ein Wort zu sprechen!
Und wäre Ihr Bruder König von Jerusalem, es würde meinem
Hause dennoch keine Ehre sein." Mit schwankenden, unsichern
Schritten führte er seinen Sohn hinweg. Lea weinte laut; aber der
Minister lachte höhnisch. ".l ( d'honneur!" rief er, "das war eine
schöne Szene; vergessen Sie übrigens nicht, Herr Expeditionsrat.
daß Sie nur noch vierzehn Tage Frist zu Ihrer Werbung haben!
Bis dahin und von dort an werde ich mein Wort halten."
10.
Die an Furcht grenzende Achtung des jungen Lanbek hieß ihn
geduldig und ohne Murren dem Vater folgen, und langjährige Erfahrungen
über den Charakter des Alten verboten ihm in diesen
Augenblick, wo der Schein so auffallend gegen ihn war, sich zu entschuldigen
Der Landschaftskonsulent warf sich in seinem Zimmer
in einen Armsessel und verhüllte sein Gesicht. Besorgt und ängstlich
stand Gustav neben ihm und wagte nicht zu reden; aber die beiden
schönen Schwestern des jungen Mannes flogen herbei, als sie die
Schwäche des Vaters sahen, fragten zärtlich, was ihm fehle, suchten
seine Hände vom Gesicht herabzuziehen und benetzten sie mit ihren
Tränen. —
"Das ist der Bube," rief er nach einiger Zeit, indem sein
Zorn über seine körperliche Schwäche siegte; "der ist es, der das Haus
eures Vaters, unsern alten guten Namen, euch, ihr unschuldigen
Kinder, mit Elend, Schmach und Schande bedeckte; der Judas, der
Vatermörder — denn heute hat er den Nagel in meinen Sarg geschlagen
."
"Vater! Um Gottes willen! Gustav! riefen die Mädchen
bebend, indem sie ihren bleichen Bruder scheu anblickten und sich an
den alten Lanbek schmiegten,
"Ich weiß, sagte der unglückliche junge Mann, "ich weiß, daß
der Schein gegen mich —"
"Willst du schweigen!" fuhr der Konsulent mit glühenden Augen
und einer drohenden Geberde auf. "Schein? Meinst du, du könntest
meine alten Augen auch wieder blenden wie damals nach dem
Karneval? Nicht wahr, es wäre weit bequemer, wenn sich diese beiden
Augen schon ganz geschlossen, wenn sie den alten Lanbek so tief
verscharrt hätten, daß keine Kunde von der Schande seines Namens
mehr zu ihm dringt. Aber verrechnet hast du dich, Elender! Enterben
will ich dich; hier stehen meine lieben Kinder, du aber sollst
ausgestoßen sein, meines ehrlichen Namens beraubt, verflucht —"
"Vater!" riefen seine drei Kinder mit einer Stimme; die
Töchter stürzten sich auf ihn, und zum erstenmal wagte es Hedwig,
ihre Lippen auf die geheiligten Lippen des Vaters zu legen, indem
sie ihm den zum Fluch geöffneten Mund mit Kissen verschloß. Die
jüngere hatte sich unwillkürlich vor Gustav gestellt, seine Hand ergriffen
, als wolle sie ihn verteidigen; der junge Mann aber riß sich
kräftig los; nie so als in diesem Augenblick glich sein Gesicht, sein
drohendes Auge den Zügen seines Vaters, und die beengte Brust
Weit vorwerfend, sprach er: "Ich habe alles ertragen, was möglicherweise
ein Sohn von seinem Vater ertragen darf; ich habe aber noch
andere Pflichten. Meine eigene Ehre muß ich wahren, und wäre
es mein eigener Vater, der sie antastet. Es hätte Ihnen genügen
können, wenn ich bei allem, was mir heilig ist, versichere, daß ich nicht
das bin, wofür Sie mis) halten. Wenn Sie keinen Glauben mehr
an mich haben, wenn Sie mich aufgeben, dann bleibt nichts mehr
übrig. Lebet wohl —ich will euch nur noch eine Schande machen."
"Du bleibst!" rief ihm der Alte mehr ängstlich und bebend als
befehlend nach. "Meinst du, die:. sei der Weg, einen getränkten Vater
zu versöhnen? Hast du so sehr Eile, mir voranzugehen und einen
Weg einzuschlagen, wo ich dich nie mehr träfe? Denn ich habe redlich
und nach meinem Gewissen gelebt; dich aber und deine Absicht verstand
ich wohl!"
"Aber Vater!" sprach seine jüngste Tochter mit sanfter Stimme,
wir hatten ja alle Gustav immer so lieb, und Sie selbst sagten so
oft, wie tüchtig er sei; was kann er denn so Schreckliches verbrochen
haben, daß Sie so hart mit ihm verfahrens"
"Das verstehst du nicht, oder ja, du kannst es verstehen, des
Juden Schwester liebt er, und mit ihr und seinem Herrn Schwager
Süß hat er sich am Gartenzaun unterhalten. Jetzt sprich! Kannst du
dich entschuldigend O ich Tor, der ich mir einbildete, man habe ihn,
um mir eine Falle zu legen, erhoben und angestellt! Seine jüdische
Scharmante hat ihn zum Expeditionsrat gemacht!"
"Der Vater will mich nicht verstehen," sprach der junge Mann
mit Tränen in den Augen, "darum will ich zu euch sprechen. Euch
lieben Schwestern will ich redlich erzählen, wie die Umstände sich
verhalten, und ich glaube nicht, daß ihr mich verdammen werdet."
Die Mädchen setzten sich traurig nieder, der Alte stützte seine gefurchte
Stirne auf die Hand und horchte aufmerksam zu. Gustav erzählte,
anfangs errötend und dann oft von Wehmut unterbrochen, wie er
Lea kennen gelernt habe, wie gut und kindlich sie gewesen sei, wie
gerne sie mit ihm gesprochen habe, weil sie sonst niemand hatte, mit
dem sie sprechen konnte. Er wiederholte dann das Gespräch mit dem
jüdischen Minister und dessen arglistige Anträge; er versicherte, daß
er nie dem Gedanken an eine Verbindung mit Lea Raum gegeben
habe und daß er diesen Abend dem Minister es selbst gesagt haben
würde, wäre nicht der Vater so plötzlich dazwischen gekommen.
"Du hast sehr gefehlt, Gustav," sagte Hedwig, seine ältere
Schwester, ein ruhiges und vernünftiges Mädchen. "Da du nie,
auch nur entfernt, an eine Verbindung mit diesem Mädchen denken
konntest, so war es deine Pflicht redlicher Mann, dich gar nicht
mit ihr einzulassen. Auch darin hast du sehr gefehlt, daß du nicht gleich
damals schon deinem Vater alles anvertraut hast; aber so hast du
jetzt deine ganze Familie unglücklich und zum Gespött der Leute gemacht;
denn meinst du, der Süß werde nicht halten, was er gedroht?
Ach, er wird sich an Papa, an dir, an uns allen rächen."
"Geh, bitte den Vater um Verzeihung!" sprach das schöne
Käthchen weinend. "Du mußt ihm nicht noch Vorwürfe machen,
Hedwig: er ist unglücklich genug. Komm, Gustav," fuhr sie fort,
indem sie seine Hand ergriff und ihn zu dem Vater führte, "bitte,
daß er dir vergibt; ja, wir werden recht unglücklich werden. der böse
Mann wird uns verderben, wie er das Land verdorben hat; aber
dann lasset doch wenigstens Frieden unter uns sein. Wenn wir uns
nur noch haben, so haben wir viel, wenn er uns alles übrige nimmt."
Der Alte blickte seinen Sohn lange, doch nicht unwillig an.
"Du hast gehandelt wie ein eitler junger Mensch, und die Aufmerksamkeit,
die dir diese Jüdin schenkte, hat dich verblendet. Du hast,
ich fühle es für dich, vielleicht schon seit geraumer Zeit, gewiß aber
diesen Abend dafür gebüßt. Katharine hat recht; ich will dir nicht
länger grollen; wir müssen uns jetzt gegen einen furchtbaren Feind
waffnen. Glaubst du, daß er Wort hatten wird mit den vierzehn
Tagen Frist, die er dir nachrief?"
"Ich glaube und hoffe es," antwortete der junge Mann.
"Um jene Zeit muß sich mehr entscheiden als nur das Schicksal
unseres Hauses," fuhr der Alte fort; "Römchingen und Süß —
oder wir; wer verliert, bezahlt die Zeche. Jetzt gelobe mir aber,
Gustav, die Jüdin nie mehr, weder im Garten, noch sonstwo, aufzusuchen
, und unter dieser Bedingung will ich deine Torheit verzeihen."
Gustav versprach es mit bebenden Lippen und verließ dann
das Zimmer, um seine Bewegung zu verbergen. Noch lange und mit
unendlicher Wehmut dachte er dort über das unglückliche Geschöpf
nach, dessen Herz ihm gehörte und das er nicht lieben durfte. Er
teilte zwar alle strengen religiösen Ansichten seiner Zeit; aber er
schauderte über dem Fluch, der einen heimatlosen Menschenstamm
bis ins tausendste Glied verfolgte und jeden mit ins Verderben zu
ziehen schien, der sich auch den Edelsten unter ihnen auf die natürlichste
Weise näherte. Erfand zwar keine Entschuldigung für sich
und seine verbotene Neigung zu einem Mädchen, das nicht auch
seinen Glauben teilte; aber er gewann einigen Trost, indem er sein
eigenes Schicksal einer höheren Fügung unterordnete.
Sein Vater und die Schwestern unterhielten sich noch lange
über ihn und diese Vorfälle, und die Erinnerung an so manche
schöne Tugend des jungen Mannes versöhnte nach und nach den
Alten, so daß er selbst das Geheimhalten jener Vorschläge des Ministers
einigermaßen entschuldigte. Als aber spät abends die beiden
Schwestern allein waren, sagte Käthchen: "Wahr ist es doch, Gustav
hat zwar gefehlt; aber an seiner Stelle hätte jeder andere auch gefehlt.
Ich habe sie einmal am Fenster und einmal im Garten gesehen;
so schön und anmutig sah ich in meinem ganzen Leben nichts. Was
sind alle Gesichter in Stuttgart, was ist selbst die schöne Marie, von
der man so viel Wunder macht, gegen dieses herrliche Gesicht! Nein,
hedwig, ich hätte mich ganz in sie verlieben können."
"Wie magst du nur so töricht schwatzen!" erwiderte Hedwig
unwillig. "Mag sie sein, wie sie will, sie ist und bleibt doch nur eins
Jüdin."
11.
Nicht die unglückliche Liebe ihres Bruders allein war es, was
in den folgenden Tagen die schönen Töchter des Landschaftskonsulenten
Lanbek ängstigte; nein, es war das sonderbare und drückende
Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn zu herrschen schien, was die
vier schönen blauen Augen im stillen so manche Träne kostete. Man
konnte nicht sagen, daß sie sich finster angeblickt, mürrisch gefragt oder
kalt geantwortet hätten; aber dennoch sah man ihnen beiden an, daß
Gram und Sorgen sie beschäftigten, und die Mädchen wurden immer
wieder in ihren Vermutungen über den Grund dieses Grämens irregeleitet
, wenn sie zuweilen den alten Mann und seinen Sohn in einer
Fensternische beisammen stehen und zutraulicher, aber auch ernster
als je zusammen flüstern sahen. Endlich wurden sie sogar für drei
Abende in der Woche förmlich aus dem großen Familienzimmer,
das winters allen zum Aufenthalt diente, verwiesen, und, was ihres
Wissens nie geschehen war, Papas kleines Bibliothekzimmer wurde
ihnen für solche Abende besonders geheizt und ihnen die Erlaubnis
gegeben, sich an den trefflichen Juristen und Philosophen zu amüsieren
.
Freilich bedachten bei solchem Exil weder Vater noch Sohn,
daß man von der Bibliothek im obern Stock in das Studierzimmer,
von diesem in das Gastzimmer und von dem Gastzimmer in die
sogenannte Rumpelkammer kommen könne, von welcher eine viereckige
Öffnung, mit einem kleinen Deckel versehen, in das Wohnzimmer
hinabging, um Luft und Wärme in dieses Gemach zu leiten:
sie bedachten auch nicht, daß weibliche Neugierde wohl noch stärkere
Schranken durchbrochen haben würde als diese, die zwischen jener
Kammer und der Bibliothek lagen. Einige Abende hatte übrigens
doch ein noch mächtigeres Gefühl als Neugierde die Mädchen in der
Bibliothek zurückgehalten, nämlich Furcht. Hedwig behauptete,
schon öfters oben in jener Kammer Fußtritte und ein schreckliches
Stöhnen gehört zu haben, und dem schönen Käthchen graute, dort
hinzugehen, weil jenes Gemach nur eine dünne Wand aus Holz und
Backsteinen von den Zimmern des gefürchteten Juden Süß trennte.
Eines Abends jedoch, als man die Mädchen schon längst weggeschickt
hatte, sah Käthchen, die sich bis auf die Mitte der Treppe
hinabgeschlichen hatte, drei Männer bei ihrem Vater eintreten, die
ihre Neugierde aufs höchste trieben. Der erste, der sich langsam und
schnaubend die untere Treppe heraufschob und auf dem Hausflur
einige Minuten stehen blieb, um Atem zu sammeln, war niemand
geringeres als der lutherische Prälat Klinger. Seine schneeweiße
Perücke, seine Prälatenkette, die gerade auf dem Magen ruhte,
und seine alten, verwitterten Züge flößten dem Mädchen ungemeine
Ehrfurcht ein; ihm folgte hastigen Schrittes der Obrist und Stallmeister
von Röder, ein Mann, den man für sehr klug und tapfer,
aber zugleich auch in seinen Sitten für sehr unheilig hielt, und über
den dritten hätte sie beinahe laut aufgelacht; war der fröhliche
Kapitän Reelzingen, der so drollige Geschichten und Schnurren zu
erzählen wußte und sie schon auf manchem Ball beinahe zum Lachen
gebracht hatte. Heute hatte er sein Gesicht in ganz ehrbare Falten
gelegt und sah gerade aus wie damals, als er ihr auf Parole d'honneur
schwur, daß er sie vraiment liebe. Sie sah ihm lächelnd nach, bis sein
ungeheurer Degen in der Türe verschwunden war, und eilte dann
in das Bibliothekzimmer, wo sie die blonde Hedwig traf, welche die
Augen fest zugeschlossen hatte, um nicht über ein Gespenst zu erschrecken
, wenn etwa zufällig eines in der Bibliothek auf und ab
wandelte. "Heute müssenwir hinuntergucken!" erklärte Käthchen.
"Und komm nur jetzt gleich mit; denke dir, die Leute kommen hier
zusammen wie beim Karneval. Hast du je sonst den Prälaten Klinger
und den Kapitän Reelzingen in einem Zimmer gesehen? Und dazu
den Obrist Röder und —" setzte sie hinzu, als die Schwester zauderte
— "ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht, als die Türe einmal
aufging, auch Blankenberg gesehen hätte."
Dieser letzte Name entschied; Käthchen nahm das Licht und
ging mit pochendem Herzen voran; Hedwig folgte ihr, so nahe als
möglich an die mutigere Schwester gedrängt, und als jene die verhängnisvolle
Kammertüre aufschloß, hielt sie sich fest an ihrem Kleide.
Die Öffnung war gerade über dem Ofen des Wohnzimmers, das
einen Stock tiefer lag, angebracht, und Käthchen konnte, als sie die
Klappe aufzog, selbst wenn sie sich auf die Knie legte und den Kopf
tief herabbeugte, doch nicht mehr als vier oder fünf der versammelten
Männer sehen; auch Hedwig beugte sich jetzt herab und versuchte es,
noch tiefer zu blicken als ihre Schwester; aber verdrießlich stand sie
wieder auf und sagte: "Nichts als den breiten Rücken des Prälaten,
einige Perücken und die Uniform des Obristen kann ich sehen; weißt
du denn gewiß, daß Blankenberg zugegen ist?"
"Sicher!" erwiderte Käthchen, schalkhaft lächelnd. "Doch laß
uns horchen, was sie sprechen! Vielleicht kennst du deinen Liebhaber
an der Stimme."
Sie setzten sich auf den Fußboden neben der Öffnung und
lauschten; die angenehme Wärme, die von dem Ofen heraufdrang,
und ihre Neugierde ließen sie eine Zeitlang die empfindliche Kälte der
Märznacht vergessen; endlich richtete sich Hedwig unmutig auf,
Meinst du, wir werden klug werden aus diesem Geplauder, wovon
man nur die Hälfte versteht? Sie schwatzen wieder, wie immer,
vom Wohl des Landes, vom Herzog, von Süß, von allem; was geht
das uns an! Komm! Es ist gar schaurig hier und kalt. Mädchen,
so steh doch auf!"
Aber Käthchen winkte ihr zu schweigen; man hörte jetzt eben
den Obrist Röder mit bestimmter und vernehmlicher Stimme etwas
vorlesen; die tiefe Stille umher unterbrach nur zuweilen ein schnell
verrauschendes Murmeln des Unwillens. Jetzt sprach der alte Lanbek;
Käthchens fröhliche Züge gingen nach und nach in Staunen und Angst
über; endlich, als die Männer unten wieder laut, aber beifällig zusammen
sprachen und die Gläser anstießen, flog eine hohe Röte über
das schöne Gesicht des Mädchens, ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig
die Klappe schloß, die Lampe ergriff und mit ihrer Schwester
den Rückweg einschlug.
"Hast du was verstanden?" fragte Hedwig. "Du schienst auf
einmal so aufmerksam; was haben sie denn Besonderes gesprochen?"
Ich weiß nicht alles, ich kann nicht alles sagen," erwiderte
Käthchen nachdenkend; " mir ist's, als hätte mir alles geträumt.
Höre — aber schweig! Es könnte uns alle unglücklich machen. Das
sind gefährliche Menschen in Vaters Zimmer unten. Mir graut,
wenn ich daran denke, was daraus entstehen kann."
"So sprich doch, einfältiges Kind! Ich bin zwei Jahre älter als
du, und du sollst keine Geheimnisse vor mir haben.
Denke dir," fuhr Käthchen mit leiser Stimme fort, "der Süß
will uns katholisch machen und die Landschaft umstürzen; da verlöre
der Vater, und alle anderen verlören ihre Stellen!
"Katholisch!" rief Hedwig mit Entsetzen. "Da müßten wir
ja Nonnen werden, wenn wir ledig blieben. Nein, das ist abscheulich!
"Ach, warum nicht gar," erwiderte Käthchen lächelnd über den
Jammer ihrer Schwester, "da müßte es viele Nonnen geben, wenn
alle, die keine Männer bekommen, ins Kloster gingen; aber sei ruhig,
es kommt nicht so weit. In drei Tagen, sagte Röder, werde der Herzog
verreisen, und während er in Philippsburg ist, wollen die Männer
da unten den Juden und alle seine Gehilfen im Namen der Landschaft
gefangen nehmen und dann dem Herzog beweisen, wie schlecht
seine Minister waren."
"Ach Gott, ach Gott! Das geht nicht gut," sagte Hedwig weinend.
"Alles werden sie verlieren; denn der Herzog traut allen eher als
denen von der Landschaft; ich weiß ja, was mir einmal die
Obristjägermeistenn über den Vater sagte. Du wirst sehen, es geht unglücklich!"
"Und wenn auch, antwortete Käthchen, "so sind wir die Töchter
eines Mannes, der, was er tut, zum Besten seines Vaterlandes tut.
Das kann uns trösten." Das mutige Mädchen holte aus dem Schranke
eine mit vielen schönen Kupfern geschmückte Bibel. Sie gab der
weinenden Schwester das Neue Testament, um sich an den Kupfern
und Reimsprüchen zu zerstreuen. Sie selbst schlug sich das Alte Testament
auf. Sie verbarg ihre eigene Besorgnis um ihren Vater unter
einem Liedchen, das sie leise vor sich hinsang, während ihre schönen
Finger emsig die vergilbten Blätter von einem Bilde zum andern
durcheilten.
12.
Es gibt im Leben einzelner Staaten Momente, wo der aufmerksame
Beschauer noch nach einem Jahrhundert sagen wird: Hier,
gerade hier mußte eine Krise eintreten; ein oder zwei Jahre nachher
wären dieselben Umstände nicht mehr von derselben Wirkung gewesen.
Es ist dann dem endlichen Geist nicht mehr möglich, eine
solche Fügung der Dinge sich hinwegzudenken und aus der unendlichen
Reihe von möglichen Folgen diejenigen aneinander zu
knüpfen. die ein ebenso notwendig verkettetes Ganze bilden als ein
verflossenes Jahrhundert mit allen seinen historischen Wahrheiten.
Hier zeigte sich der Finger Gottes, pflegt man zu sagen, wenn
man auf solche wichtige Augenblicke im Leben eines Staates stößt.
Es hat aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die, mochte ihr eigener
Genius, mochte das Studium der Geschichte sie leiten, solche Momente
geahnet, berechnet haben, und sie wirkten dann am überraschendsten,
wenn sie sich nicht begnügten, solche Krisen vorhergesehen zu haben,
sondern wenn sie Mut genug besaßen, zu rechter Zeit selbst einzuschreiten
, Kraft genug, um eine Rolle durchzuführen. Die Geschichte
hat längst über die kurze Regierung der Minister Karl Alexanders
entschieden. Sie flucht keinem Sterblichen, sonst müßte sie die Tränen
und Seufzer Württembergs in schwere Worte gegen die Urheber
seines Unglücks im Jahr 1737 verwandeln; aber sie gedenkt mit
Liebe einiger Männer, die sich nicht von dem Strome der allgemeinen
Verderbnis hinreißen ließen, die ahnten, es müsse anders kommen,
die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Änderung der Dinge
herbeizuführen, und die auch dann mit Ruhe und Gelassenheit die
Sache ihres Landes führten, als ein Höherer es übernommen
hatte, einen unerwartet schnellen Wechsel der Dinge herbeizuführen,
indem er zwei feurige Augen schloß und ein tapferes Herz stille
stehen hieß.
Wer sollte es diesem heiteren Stuttgart und seinen friedlichen
Straßen ansehen, daß es einst der Schauplatz so drückender Besorgnisse
war? Wie beruhigt über den Gang der Dinge sind die Enkel
derer, die in jenem verhängnisvollen März jede Stunde für das
Schicksal ihrer Familien, für die alten Rechte ihres Landes, selbst für
ihren Glauben zittern mußten!
Wer den übermütigen Süß in seiner Karosse, mit sechs Pferden
bespannt, durch die "reiche Vorstadt" fahren sah, wie er stolz lächelnd
auf die bleichen, feindlichen Gesichter herabblickte, die ihm überall
begegneten, wer den schrecklichen Hallwachs, seinen innigen
Freund und Ratgeber, neben ihm sah und bedachte, wie viele verderbliche
Pläne dieser Mann ersonnen, wie viele unerhörte Monopole
er eingeführt habe und wie er immer neue zu erfinden trachte, wer
das unbegrenzte Vertrauen kannte, das der Herzog in diese Menschen
setzte, der mußte wohl an der Möglichkeit der Rettung verzweifeln.
Dazu kamen noch die sonderbaren und widersprechenden Gerüchte,
die im Umlauf waren. Die einen sagten, der Herzog sei nach
Philippsburg und Kehl gereist, habe aber das Regiment nicht an
den Geheimen Rat, sondern das Siegel dem Juden Süß gegeben;
andere widersprachen und behaupteten, man habe den Herzog an
einem Fenster des Ludwigsburger Schlosses gesehen, auch seien seine
Pferde noch dort, und er sei nicht abgereist. In einem Dorf an der
österreichischen Grenze im Oberland sollen die Katholiken plötzlich
über die protestantischen Einwohner hergefallen sein, und als letztere
den Kampfplatz behaupteten, sei eine Kompagnie Kreistruppen
über die Grenze herein ins Dorf gerückt. Am sonderbarsten klang das
Gerücht, das sich überdies noch bestätigte, der Oberfinanzrat Hallwachs
habe ein kostbares Meßgewand beim Hofsticker bestellt und ihm
befohlen, es bis zum achtzehnten März fertig zu machen, und wenn
er mit fünfzig Gesellen arbeiten müßte; bring' er es nicht fertig, so
werde er eingesetzt. Ein lutherischer Geistlicher, den man mit Namen
nannte, soll den Kindern in der Schule Kreuzchen, aus Holz geschnitzt,
geschenkt haben mit den Worten: "Nur wenn ihr diese in Händen
haltet, könnet ihr recht beten." Endlich erzählte man sich als etwas
Verbürgtes, der Jude habe zum Herzog über der Tafel gesagt:
"Ihre Stände, Durchlaucht, sind eigentliche Widerstände; aber sie
stehen schon so lange, daß sie müde und matt sind." Karl Alexander
habe ihm lächelnd zur Antwort gegeben: " C'est vrai ; allons Sone
leur donner des chaises, une fois assis. 113 rio leveront gma."
Such jene Männer, die entschlossen waren, dem drohenden Verderben
zuvorzukommen, hörten diese Gerüchte. Aber sie waren dabei kalt
und ruhig; wußten sie ja doch, Württemberg stehe eine solche Veränderung
bevor, daß es entweder erleichtert oder so tief ins Unglück
gestürzt werden würde, daß der Jammer des einzelnen davor verstummen
müßte. Man erzählt sich, sie haben alles, was dazu gehört,
einem mächtigen und bösartigen Feind mit Hilfe des Landvolks
zu begegnen, vorbereitet gehabt, und wenn ihr Unternehmen gelingen
sollte, so verdankten sie es nur den wenigen hellstrahlenden
Namen einiger Männer aus der Landschaft; denn an diese war man
in Württemberg gewöhnt, das Interesse des Landes zu ketten.
Es war spät abends den elften März, als der Landschaftskonsulent
Lanbek mit seinem Sohne und dem Kapitän Reelzingen
in seiner Wohnstube beim Wein saß. Die beiden Lanbek waren ernst
und düster; der Kapitän aber konnte auch jetzt seinen fröhlichen Lebensmut
nicht verbergen; denn er teilte seine Aufmerksamkeit und sein
Gespräch zwischen der Fensternische, wo die beiden Schwestern
Gustavs saßen, und zwischen den beiden Männern an seiner Seite.
Hedwig sah bleich und still vor sich hin auf ihre Nadeln; aber auf
Käthchens Gesichtchen lag eine höhere Röte als gewöhnlich, und alle
Augenblicke zeigte sie die weißen Zähne und die schönen Grübchen
in ihren Wangen; denn der Kapitän wußte wieder wunderschöne
Späße und Geschichten.
"Wie ist Euer Pferd, Kapitän?" fragte der alte Lanbek.
"Mein Fuchs ist ein besserer Infanterist als ich selbst," erwiderte
er. "Wenn ich die sechs ersten Stunden Trab und bergauf Schritt
reite, so kann ich die nächsten sechs bequem Galopp reiten. Er hat
nur einen Fehler, den, daß er noch nicht bezahlt ist, und macht mir
durch diese Untugend oft großen Jammer.
"Ihr könnt," fuhr der Alte fort, " wenn ihr von der Galgensteige
an scharf Trab reitet, zwischen elf und zwölf Ludwigsburg
passieren; um vier Uhr müßt ihr in Heilbronn sein, und dort laßt
ihr die Pferde ruhen; zwischen acht und zehn Uhr seid ihr morgen
in Oehringen."
"Aber, Vater," fiel Gustav ein, " wäre es nicht ratsamer, gegen
Heidelberg zu reiten? Ich wollte darauf wetten, wir sind gegen
Oehringen hin nicht mehr sicher. Bedenken Sie, daß der Deutschorden
dort tief herein sich erstreckt, daß sie in Mergentheim gewiß von
dem Bischof in Würzburg unterrichtet sind, daß —
"Daß," fuhr der Vater fort, "ihr auf der Straße nach Heidelberg
viel mehr auffallet, und daß ihr, wenn ihr etwa die Gegend
nicht mehr rein fändet, eine letzte Zuflucht bei meinem alten Herrn
und Gönner, dem Herzog in Neustadt, habt, der euch gewiß in den
ersten Tagen nicht herausgibt, Ist dann Karl Alexander zufrieden
mit dem, was wir hier getan, so könnet ihr immer zurückkehren:
wo nicht, so gehet ihr, wie schon gesagt, weiter nach Frankfurt."
"Gott, daß ich euch in einer solchen Krisis zurücklassen soll!"
rief Gustav mit Tränen. "Daß ich vielleicht an eurem Unglück schuld
bin; daß alles schlecht gehen kann, wenn Süß meine Flucht erfährt
und sich an Ihnen, Vater, rächt! Nein, ich kann, ich darf nicht gehen!"
"Nein, Vater," fiel Hedwig ein, indem sie noch bleicher als
zuvor herbeieilte und ihres Vaters Hand ergriff, " er darf uns nicht
verlassen; o, ihr habt schreckliche Dinge vor, ich weiß es wohl, ihr
wollt eine Verschwörung gegen die mächtigen Menschen machen.
Lassen Sie ab davon, Vater! Süß und die andern werden Ihnen
verzeihen; ach, mich tötet die Angst!
"Geh, Mädchen," sprach Käthchen, die auch herangetreten war;
"was Männer tun und was unser Vater tut, geht uns nicht an. Aber
warum soll denn gerade jetzt Gustav so schnell hinweg? Er könnte
uns allen so nützlich sein."
"Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag," sagte der Alte streng,
"darum soll er fort. Weil ich ein Briefchen seiner Scharmanten aufgefangen
und mit Protest an den Juden geschickt habe, und weil
dieser jetzt wütet und euren Bruder mit Gewalt zum Schwager
haben oder auf Neuffen setzen will, darum soll und muß er ihm jetzt
aus dem Wege gehen. Doch ich wollte dir in dieser Stunde nicht
wehe tun, Gustav; wir scheiden als Freunde, und alles andere soll
vergessen sein; wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen!"
Indem der Alte die letzten Worte sprach und seinem Sohn die
Hand reichte, wurde schnell und heftig an die Türe gepocht, und ehe
noch jemand antwortete, trat plötzlich eine Gestalt, in einen Mantel
gehüllt, ein. "Was soll dies?" fuhr der alte Lanbek auf. "Wer drängt
sich so bei Nacht in mein Haus? Wer sind Sie?"
"Blankenberg!" rief Hedwig, als jener den Mantel abwarf, und
trat schnell und errötend einige Schritte vor.
"Verzeihung, Herr Konsulent," sprach der junge Mann eilend,
die Not muss mich entschuldigen. Gustav, du mußt im Augenblick
fort; der Leutnant Pinassa schrieb mir soeben, daß er dich auf Befehl
des Generals Römchingen heute nacht zwischen elf und zwölf Uhr
aufheben müsse. Der ehrliche Junge möchte dich nicht gern im Nest
treffen."
"Dank, Dank," erwiderte der Alte, indem er Blankenberg die
Hand drückte. "Trinket aus, Kinder, und macht den Abschied schnell;
hier, mein lieber Reelzingen," fuhr er fort und drückte dem überraschten
Kapitän einen großen Beutel in die Hand; " man kann nicht
wissen, ob sich euer Weg nicht teilt. Sie sind so edelmütig, meinen
Sohn zu begleiten."
"Und mit Geld wollen Sie dies lohnen?" unterbrach ihn der
Kapitän unmutig. "Parole d'honneur, Herr! ich begleite meinen
Bruder, weil wir alte Amizisten sind, und nicht wegen Ihrer Spießen.
Da soll mich doch —"
"Reelzingen," sagte Käthchen mit ihrer süßen atimme, "Ihr
versteht doch gar keinen Scherz; es sind lauter Kupfermünzen, und
ich habe dem Vater den Beutel gegeben, Euch in April zu schicken."
"Ich verstehe," flüsterte der Kapitän, indem er errötend dem
schönen Mädchen die Hand küßte. "Ich will Euch dafür etwas Schönes
von Frankfurt mitbringen."
"Bringet mir," antwortete sie, indem sie die Tränen nicht mehr
zurückhalten konnte, " nur unsern Gustav wohlbehalten zurück!
Und," setzte sie, durch Tränen lächelnd, hinzu, "machet mir keine
tollen Streiche, die Euch verraten könnten!"
"Die Pferde sind vor dem Seetor," sprach der Alte zu Reelzingen
und seinem Sohn. "Ihr dürft nicht das Tor selbst passieren,
denn die erste Runde ist schon vorüber. Begleiten Sie meinen Sohn,
Herr von Blankenberg, durch die Gärten und bringen Sie mir Nachricht,
wie sie fortgekommen sind."
Der junge Lanbek umarmte Vater und Geschwister, die Schwestern
folgten ihm und seinen Freunden weinend bis unter die Gartentüre,
und als nachher Hedwig ihre jüngere Schwester bitter tadelte, weil
sie erlaubt habe, daß der Kapitän sie auf den Mund küsse, antwortete
jene: "Du hast gefehlt, nicht ich, daß du es unterlassen hast; solche
Höflichkeit waren wir einem Manne schuldig, der für unsern Bruder
so viel tut."
"Ei," erwiderte Hedwig errötend, "Blankenberg hat ihn eigentlich
doch auch gerettet."
13.
Die beiden jungen Männer ritten schweigend durch die finstere
Nacht hin. Kein Stern war am Himmel, und der Wind heulte um
die Berge. "Hu! Siehst du dort?" flüsterte Reelzingen, als sie an
dem eisernen Galgen vorbeiritten, den einst (1597) Herzog Friedrich
dem Alchimisten Honauer aus dem Metall errichten ließ, das er
in Gold zu verwandeln versprochen hatte. "Schau diese ungeheure
Menge Raben! Es ist, als witterten sie eine neue Beute."
Sein Freund blickte schweigend hinauf, schlug aber plötzlich
wieder die Augen nieder; denn ihm war, als sähe er Leas feine,
liebliche Gestalt nagend unter dem Galgen sitzen. "Fest genug ist
diese Schandsäule aus Eisen," fuhr der Kapitän fort, " um alle
Schurken im Lande zu tragen; aber wollte man da:. Gold mit aufhängen
, das sie eingesackt haben, würde selbst dieser Galgen wie ein
morscher Stab zusammenbrechen! Wie diese Raben schaurige Melodien
singen! Doch wie? —Dieu nous garde, camarade! Gib deinem
Roß die Sporen! Wahrhaftig, dort sitzt ein Gespenst am Galgen!"
Es war, als ob die Pferde selbst diesen Ort des Schreckens
fürchteten; denn auf diesen Ruf jagten sie mit Sturmeseile den Berg
hinan und waren nicht mehr ruhig, bis man das Gekreisch der Raben
nicht mehr hörte.
Es liegt eine kleine Brücke zwischen Stuttgart und Ludwigsburg,
von welcher das Volk viel Schauerliches zu erzählen weiß; so
viel ist gewiß, daß schon Unerklärliches dort vorgefallen ist und daß
mancher Mann sein Gebet spricht, wenn er nachts allein über diese
Stelle reitet. Die Sage sagt, daß der Sohn des Konsulenten und
sein Freund, der muntere Kapitän, glücklich und in kurzer Zeit bis
an jene Brücke gekommen seien; dort aber seien ihre Pferde nicht
mehr von der Stelle gegangen und haben geschnaubt und gezittert.
Die jungen Leute spornten und gebrauchten ihre Peitschen, als eine
alte, zitternde Stimme rief: "Gebt einem alten Mann doch ein Almosen
:
"Wer wird bei Nacht und Nebel den Beutel ziehens Zurück,
Alter, von der Brücke weg! Unsere Pferde scheuen vor Euch; zurück,
sag' ich, oder Ihr sollt meine Peitsche fühlen!"
"Nicht so rasch, junges Blut! Nicht so rasch!" sagte der Alte,
dessen dunkle Gestalt sie jetzt auf dem Brückengeländer sitzen sahen.
"Eile mit Weile! Kommet noch früh genug; gebt einem alten Mann
ein Almosen"
Jetzt ist meine Geduld zu Ende!" rief der Kapitän und schwang
seine Peitsche in der Luft. "Ich zähle drei; wenn du nicht weg bist,
hau' ich zu."
Der Alte hüstelte und kicherte; Gustav kam es vor, als wachse
seine dunkle Gestalt ins Unendliche, und — ein langer Arm streckte
einen großen Hut heran, und zum drittenmal, aber drohend und mit
furchtbarer Stimme, krächzte der Mann von der Brücke: "Einem
alten Mann gib ein Almosen! Es wird dir Glück bringen; und reite
nicht so schnell! Vor zwölf Uhr darfst du nicht dort sein."
Neelzingen ließ kraftlos und zitternd seinen Arm sinken er gestand
nachher, daß ihn eine kalte Hand angefaßt habe. Gustav aber
zog mit pochendem Herzen die Börse und warf ein Silberstück in
den großen Hut. "Wie viel Uhr ist's, Alter ?" fragte er.
"Weiß keine Stund' als zwölf Uhr, sprach die Gestalt, die
wieder auf dem Geländer zusammenkauerte, mit dumpfer Stimme.
"Dank dir, sollst Glück haben; reit zu!" Er sagte es und stürzte
rücklings mit einem dumpfen Fall in den Sumpf, über den die Brücke
führte. Entsetzt gab Reelzingen seinem Pferde die Sporen, daß es
sich hoch aufbäumte und Daun in zwei Sprüngen über die Brücke
setzte. Gustav aber hielt erschrocken sein Pferd an, stieg ab und
blickte über das Geländer der Brücke. Es rührte sich nichts. "Alter"
rief er hinab, "hast du Schaden genommen? Kann ich dir helfen?" —
Keine Antwort, und alles war still unten wie im Grabe. Jetzt faßte
auch den jungen Laubek eine unerklärliche Angst; er fühlte, als er
aufstieg, wie sein Pferd zitterte; er wagte es nicht, sich noch einmal
nach dem grauenvollen Ort umzusehen, als er seinem Freund
nachjagte.
"Das ist da:, zweite Mal, daß er mir begegnet ist," flüsterte Reelzingen
tief aufatmend, als Lanbek wieder an seiner Seite war.
"Wers" fragte dieser betroffen.
"Der Teufel," antwortete der Kapitän.
Lanbek gab ihm keine Antwort auf die sonderbare Rede, und
sie jagten weiter durch die Nacht hin. In Zuffenhausen schlug es
Viertel vor zwölf Uhr, als sie durchritten; in den meisten Häusern
brannten noch die Kerzen, und da und dort hörte man geistliche
Lieder aus den Stuben. Der Nachtwächter stieß eben ins Horn
und rief die Stunde; der Kapitän hielt an und fragte ihn, was diese
späten Gesänge und Gebete zu bedeuten haben.
"Ach Herr! Das ist eine arge Nacht," antwortete dieser, "es hat
ein Mann an vielen Häusern gepocht und befohlen, die Leute sollen
die ganze Nacht bis zwölf Uhr beten.
"Wer ist der Mann?" fragte Lanbek staunend.
Alte Leute, Herr, die ihn gesehen haben, versichern, es sei unser
alter Pfarrer gewesen; Gott hab' ihn selig, er ist seit zwanzig Jahren
tot; aber es war ja nichts Unchristliches, was er verlangte, drum
beten und singen sie in den Lichtkarzstuben und spinnen dazu."
"Diese Nacht kann mich noch wahnsinnig machen," rief der
Kapitän, indem sie wegritten. "Gustav, ich glaube, heute nacht geht
er leibhaftig auf der Erde um; ich denke, es wäre jetzt gerade die beste
Zeit, den alten Burschen zu zitieren, wenn man etwa schnell Obrist
werden oder zweimalhunderttausend spanische Quadrupel haben
möchte."
"Tor!" antwortete der Freund. "Der, den du meinst, hat mit
dem Gebet nichts gemein.
Es war, als ob ihre Pferde nur zum Schein die Beine aufhoben;
denn jede Viertelstunde, die sie zurücklegten, schien zu einer neuen
anzuwachsen. Noch immer wollte Ludwigsburg nicht erscheinen,
und die Nacht war so finster, daß sie auch an der Gegend nicht erkennen
konnten, ob sie fehlritten oder ob sie der Stadt schon nahe
seien. Endlich, nachdem sie etwa wieder eine halbe Stunde geritten
sein mochten, sahen sie in der Entfernung von etwa tausend Schritten
Lichter schimmern, fanden aber auch zugleich ihren Weg durch vier
Pferde versperrt, die, an einen Reisewagen gespannt, quer über die
Landstraße standen.
"Führ deine Pferde hinweg, Fuhrmann!" rief der Kapitän,
"oder meine Peitsche wird sie bald weggetrieben haben; warum versperrst
du den Wegs"
"Gemach, ihr Herren, soll gleich geschehen," antwortete ein
Mann, der von dem Wagen stieg. Aber die Zeit, die er dazu brauchte,
die herabgefallenen Zügel aufzunehmen und zu ordnen, dauerte
dem raschen Soldaten zu lange; er versuchte, über die schlaff liegenden
Stränge des vordersten Gespanns wegzusetzen, und forderte seinen
Freund auf, ein Gleiches zu tun; doch wie es in solchen Fällen blinder
Eile zu geschehen pflegt, in demselben Augenblick zog der Mann am
Wagen die Zügel an, und das Pferd des Kapitäns blieb mit einem
Fuß in den straff aufgerichteten Strängen hängen.
Lanbek sprang ab, um dem Freund zu helfen, der Kutscher lief
bedauernd herzu, und eben war der Fuß des unbezahlten Rosses
frei, als man einige Reiter in aller Eile von der Stadt herbeijagen
hörte. Der erste mochte einen Vorsprung von fünfhundert Schritten,
aber kein gutes Pferd haben; denn der Kapitän unterschied deutlich,
daß es kurzen Paradegalopp ging; die Tritte der nachfolgenden
Pferde schlugen zwar minder kräftig auf, waren aber flüchtiger.
"Platze — allons! —Platz!" rief der erste Reiter; aber in demselben
Augenblick hörten auch die beiden jungen Männer eine bekannte
Stimme, die mit dem wildesten Ausdruck rief: "Halt, Jude! oder ich
schieß' dich mitten durch den Leib."
Unter dem Volke in Württemberg hört man zuweilen noch
einen Reim, der diesen merkwürdigen Moment bezeichnet; er heißt:
| "Da sprach der Herr von Röder:
Halt oder stirb entweder!" |
Und der alte Obrist war auch, der in diesem Augenblick, seinen Begleitern
weit voran, eine Pistole in der Hand, ansprengte, den ersten
Reiter wütend am Arm packte und schrie: "Wo hinaus, Jude? Warum
so schnell zu Roß, als ich dir nachrief zu warten?"
"Mäßigt Euch, Herr Obrist," erwiderte der erste mit stolzem
Ton, in welchem aber doch einige Angst durchzitterte; "ich gehe nach
Stuttgart, der Frau Herzogin Durchlaucht zu sagen, was in diesem
Augenblick für Maßregeln —"
"Das ist auch mein Weg, Herr! erwiderte der Obrist mit furchtbarer
Stimme; "und keinen Augenblick geht Ihr von meiner Seite,
sonst werde ich mit meiner Pistole Beschlag auf Euch legen. Platz da!
Wer steht hier im Weg?"
"Der Kapitän von Reelzingen von der ersten Kompagnie und
der Expeditionsrat Lanbek."
"Guten Abend, meine Herren!" fuhr Röder fort. "Habt Ihr
geladene Pistolen, Kapitän?"
"Ja, mein Herr Obrist," war die Antwort des Soldaten, indem
er sie aus den Halftern losmachte,
"Ich kommandiere Euch, in welchem Auftrag Ihr jetzt auch
sein möget, auf der linken Seite des Herrn Ministers Süß zu reiten
Bei Eurem Dienst und Eurer Ehre als Edelmann, sobald er Miene
macht zu entfliehen, jagt ihm eine Kugel nach! Die Verantwortung
nehme ich auf mich."
"Herr Expeditionsrat," rief Süß, "ich nehme Euch zum Zeugen,
daß mir hier schändliche Gewalt geschieht. Obrist Röder, ich warne
Sie noch einmal; dieser Auftritt soll gerochen werden!"
"Aber, Herr von Röder," flüsterte Gustav, "ums Himmels
willen, übereilen Sie nichts, bedenken Sie, was daraus entstehen
kann! Bedenken Sie," setzte er lauter hinzu, "den furchtbaren Zorn
des Herzogs!"
"Der Herzog ist tot," sagte Röder laut genug, daß es alle hören
konnten.
"Karl Alexander tot?" rief der Kapitän, auf den alle Begebenheiten
dieser Nacht mit einemmal in schrecklichen Erinnerungen
hereinstürzten.
"Hat man sichere Nachricht? Gott! Welch ein Fall!" sagte Gustav
besorgt. "War er in Kehl?"
Er ist in Ludwigsburg vor einer Viertelstunde schnell und
plötzlich gestorben. Drum ist es unsere Pflicht, diesen Herrn da, der
sich mit der Regierung sehr stark beschäftigte, schnell an das verwaiste
Staatsruder zu bringen."
"Wie, in Ludwigsburg, sagt Ihr," rief Lanbek, "und schnell
gestorben? O, ewige Vorsicht!
"In diesem Ludwigsburg hier," sagte Röder wehmütig, "und
im Bett am Schlag gestorben. Friede mit seiner Asche! Er war ein
tapferer Herr. Aber jetzt weiter, ihr Freunde, daß die Nachricht
nicht vor uns nach Stuttgart kömmt!
"Meine Herren," rief Süß mit einer Stimme, die Zorn und
Angst beinahe erstickte, "noch bin ich Minister und erinnere Sie an
das Edikt des Herzogs, das mich von aller Verantwortung freispricht;
ich sage Ihnen, es kann Ihnen allen schlimm gehen, wenn Sie sich
mit Herrn von Röder verbinden. Im Namen des Herzogs und seines
Erben befehle ich Ihnen, von mir abzulassen."
"Jetzt hat dein Reich ein Ende, Jude!" rief der Kapitän, lachte
wild, riß ihm den Zaum aus der Hand und schlug sein Pferd mit der
langen Peitsche auf den Rücken; der Obrist ritt an der rechten Seite,
seine Pistole in der Hand; der Zug setzte sich in Galopp, und Gustav
folgte halb träumend durch das singende Dorf, an dem alten Mann,
der heiser lachend wieder auf der Brücke saß, und an dem Galgen
vorüber, wo die Raben krächzten und mit den Flügeln schlugen.
Erst hier, als er einen scheuen Blick nach der Richtstätte warf, fiel
ihm mit ängstlicher Ahnung Lea und ihr unglückliches Schicksal bei.
14.
Als die Stuttgarter am Morgen nach dieser verhängnisvollen
Nacht erwachten, wurden sie von zwei beinahe ganz unglaublichen
Nachrichten überrascht. Der Herzog sei, statt außer Landes verreist
zu sein, in dieser Nacht zu Ludwigsburg schnell gestorben. Er war
ein gesunder, kräftiger Mann gewesen, dem mancher, der ihn gesehen,
wohl noch zwanzig bis dreißig Jahre gegeben hätte. Die Klagen um
seinen Tod verstummten beinahe vor der Freude über eine andere
Nachricht, der Jude Süß sei mit mehreren der höchsten Hofherren
im Ludwigsburger Schloß gewesen, als der Herzog so plötzlich starb;
er habe sich alsobald, nachdem er die Leiche gesehen, aufs Pferd
geschwungen und sei halb wahnsinnig Stuttgart zugeritten; Hera
von Röder aber, ein Mann, mit dem sich nicht spaßen lasse, habe ihn
eingeholt und bewacht nach Stuttgart geführt. Man lachte über
die sonderbare Täuschung des Juden; als er nämlich von der Frau
Herzogin, welcher er noch in der Nacht aufgewartet hatte, um zu
kondolieren, heraustrat und eine Eskorte nach Haus verlangte, weil
er wichtige Akten holen müsse, schloß sich ein Leutnant mit sechs
Mann an ibn an. Am Ende de:, Korridors machte ihm ein Hauptmann
das Kompliment und folgte mit zwölf Mann; jener meinte
zwar lächelnd, "es sei zu viel Ehre" ; als er aber an Lanbeks Haus um
die Ecke bog und vier Schildwachen vor seinem Palais bemerkte,
als er oben an der Treppe Baionette blitzen sah und Lea bleich,
verstört und weinend ihm entgegenstürzte, da merkte er, welche
Stunde geschlagen habe, und rief: "Siel, Suis perdu ! "
Obgleich das Testament des verstorbenen Herzogs im Fall
seines Todes eine Administration bestellt hatte, welche seinen Ministern
angenehmer gewesen wäre, so übernahm doch Herzog Rudolph
von Neustadt trat) seines hohen Alters als der nächste Agnat die Administration,
und das Land fühlte sich erleichtert und zufrieden dabei.
Er ließ, außer anerkannt schlechten Menschen, jeden in der Würde,
in der er unter der vorigen Regierung stand, und es war dies wirklich
eine Art von Gnadenakt, wenn man bedenkt, daß früher zwei Drittteile
aller Ämter im Lande gekauft worden waren. Nur einer
war nicht zufrieden mit dein Amt, das ihm der Herzog-Administrator
mit den huldreichsten Ausdrücken bestätigt hatte; es war der junge
Lanbek. Er wurde nicht nur als Expeditionsrat aufs neue ernannt,
sondern als der alte Röder im Feuer der Freundschaft für den Landschaftskonsulenten
dessen Sohn als einen klugen Kopf und trefflichen
Juristen schilderte, wählte ihn der Herzog sogar in die Kommission,
die den Prozeß gegen den Juden Süß zu führen hatte. Der alte
Lanbek fühlte sich dadurch nicht wenig geehrt und nannte seinen Sohn
mehrere Male den Stolz und die Stütze seines Alters; aber Gustav
machte diese Wahl unaussprechlich unglücklich. Nicht als ob er nicht,
wie jeder andere Bürger, den Mann verdammt hätte, der das Land
in so tiefes Elend gestürzt; nicht als ob es gegen sein Gewissen gewesen
wäre, Verbrechen ans Licht zu ziehen, die man so künstlich
verborgen hatte; aber Lea — es war ja ihr Bruder, den er richten
sollte, und dieser Gedanke war es, der ihm dieses Geschäft zum
Abscheu machte. Kleine Seelen sättigen sich gerne an Rache, und
manchem wäre es eine innige Freude gewesen, einen Mann, der noch
vor kurzem so hoch stand, jetzt in der tiefsten Kasematte der Festung
zu besuchen, mit herrischer Stimme ihn von seinem Lager aufzusagen
und ihn zu martern und zu peinigen. Dieser Mann hatte sich noch
überdies gegen Gustav persönlich verfehlt, er hatte ihn mit dem
empörendsten Übermut behandelt, ihm sogar mit demselben Gefängnis
gedroht, in welchem er jetzt selbst, bange um künftige Freiheit,
vielleicht selbst um sein Leben, schmachtete. Aber das Herz des jungen
Mannes war zu groß, als daß es hätte freudig pochen sollen, als er
zum erstenmal als Richter in den Kerker des Mannes trat, der, jetzt
entblößt von aller irdischen Herrlichkeit, angetan mit zerlumpten
Kleidern, bleich, verwildert, sich langsam aus seinen rasselnden Ketten
aufrichtete. Erinnerte ihn doch jetzt noch dieses Gesicht an die Züge
eines unglücklichen, geliebten Wesens; und er konnte sich kaum der
Tränen enthalten, als nach dem Schlusse des Verhörs der Gefangene
sprach: "Herr Lanbek, es gibt ein unglücklichen, unschuldiges Mädchen,
das wir beide kennen; als man in meinem Hause versiegelte, haben
sie die rohen Menschen auf die Straße gestoßen — sie war ja eine
Jüdin und verdiente also kein Mitleid. —Mir, Herr, ist kein Pfennig
geblieben, womit ich ihr Leben fristen könnte; ich weiß nicht, wo sie
ist — wenn Sie etwas von ihr hören sollten —sie hat nichts als da:
Kleid, das sie trug, als man sie von der Schwelle stieß —geben Sie
ihr aus Barmherzigkeit ein Almosen!
Der junge Mann ließ seinen Tränen freien Lauf, als er allein
den Berg von Hohen-Neuffen herabstieg; er erfuhr zwar nachher,
daß ihn der Jude belogen habe, daß er, obgleich man über 500 000
Gulden in Gold und Juwelen in seinem Hause fand, doch beinahe
100000 in Frankfurt in sichern Händen habe, und Gustav konnte
leicht einsehen, daß ihn Süß durch diese Vorstellungen von Elend
nur habe weich stimmen wollen; aber dennoch konnte er den Gedanken
nicht entfernen, daß Lea verlassen und unglücklich sei, und dieser
Gedanke wurde immer peinlicher, als er trotz seiner Nachforschungen
keine Spur von ihr entdecken konnte.
Der Frühling, Sommer und Herbst waren vorübergegangen,
und noch immer dauerte der Prozeß. Es waren Dinge zur Sprache
gekommen, wovor selbst den kältesten Richtern graute; aber obgleich
der junge Lanbek der Kommission mit edlem Unwillen vorstellte,
daß noch vier andere Männer nicht minder schuldig seien als Süß,
so schien man doch nur gegen diesen ernstlich verfahren zu wollen,
weil ihn der allgemeine Haß als den schuldigsten bezeichnete.
Es war an einem trüben Oktoberabend; der alte Konsulent
war seit einigen Tagen verreist, und sein Sohn arbeitete im Bibliothekzimmer
an einem neuen Verhör, als seine jüngere Schwester,
jetzt die glückliche Braut des Kapitäns Reelzingen, ernster als gewöhnlich
zu ihm eintrat. Sie sprach anfangs Gleichgültiges, schien aber
nur mit Mühe eine Träne unterdrücken zu können, die endlich wirklich
in dem sanften Auge glänzte, als sie fragte, ob er ihr nicht zürnen
werde, wenn sie eine bekannte Person zu ihm führe? Er sah sie staunend
und verwundert an; doch noch ehe er eine Antwort zu geben
vermochte, eilte Käthchen weinend aus dem Zimmer und trat bald
darauf mit einem verschleierten Mädchen wieder ein. Noch ehe die
trübe Kerze ihre Umrisse deutlich zeigte, noch ehe sie den Schleier
zurückschlug, sagte ihm sein ahnendes Herz, wen er vor sich habe.
Errötend sprang er auf; aber schon hatte die Unglückliche sich vor ihm
niedergeworfen, den Schleier zurückgeschlagen, und Lea war es,
welche die einst so geliebten Augen düster und bittend zu ihm aufschlug
und die bleichen, magern Hände ineinander gerungen flehend
nach ihm hinstreckte. "Barmherzigkeit!" rief sie. "Nur nicht sterben
lassen Sie ihn! Man sagt, er müsse sterben; seine einzige Hoffnung
ruht noch auf Ihnen. Wo soll ich Worte nehmen, Ihr großmütiges
Herz zu erweichen? Welche Sprache soll ich erdenken, an ein Ohr
zu sprechen, das mich einst so wohl verstand?" — Tränen ließen sie
nicht weiter reden, und auch Käthchen weinte bitterlich. Voll von
Schmerz und Überraschung, faßte Gustav ihre kalten Hände und
richtete sie auf; er sah sie an — wie schmerzlich war ihm ihr Anblick!
Ihre Wangen waren bleich und eingefallen; die schönen Augen
lagen tief, und der Mund, der sonst nur zum Lächeln geschaffen
schien, zeigte, daß er jenes süße Lächeln längst nicht mehr kenne.
Das schwarze Haar, das um die weiße Stirne hing, und das bleiche
Gesicht vollendeten das Gespenstige ihres Anblicks.
"Lea! Unglückliche Lea!" rief der junge Mann. "Wie lange
haben Sie sich verborgen gehalten und Ihren Freunden den letzten
Trost geraubt, zu wissen, ob es Ihnen an nichts gebricht, ob die
Freunde etwas für Sie tun können!"
"Ach, das ist es nicht, um was ich Ihre edelmütige Schwester
gebeten habe, mich hierher zu führen," sagte sie schmerzlich lächelnd.
"Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Ich habe alle meine
Hoffnungen und Träume längst begraben, ich pflanzte die Erinnerungen
als Blumen auf das Grab und begieße diese Blumen mit
meinen Tränen. Nein! Sie waren immer so großmütig gegen Unglückliche
— geben Sie mir nur den Trost, daß mein Bruder nicht
sterben muß. Ach, es ist so bitter zu sterben, und was nützt sein Tod
diesem Lande?"
"Lea," antwortete der junge Mann verlegen, "gewiß, es ist
bis jetzt noch nicht davon die Rede gewesen, und ich glaube auch
nicht — Sie dürfen sich trösten — es wird nicht so weit kommen."
"Es wird, und in Ihrer Hand liegt sein Schicksal," flüsterte sie;
"er hat es mir gesagt, ich habe ihn gesprochen. .Wenn nur der Brief
nicht wäre, der Brief kann mich verderben.' O Gustav! Halten Sie
ihn jahrelang, auf immer im Gefängnis! Was liegt an ihm, wenn
er in Ketten sitzt? Nur nicht sterben; Gustav, seien Sie edelmütig —
vergessen Sie den Brief, um den niemand weiß als Sie —mit jener
schwachen Kerze dort können Sie das Leben eines Menschen retten."
"Bruder," sagte Katharine näher tretend, indem sie seine Hand
faßte, "tu es! Dein Gewissen kann nicht gefährdet werden; denn er
ist ja auf immer unschädlich gemacht; verbrenne den Brief! Er kann
sich ja verloren haben."
Der junge Mann sah die weinenden Mädchen an; ein unabweisbares
Gefühl kämpfte in ihm, er schwankte einen Augenblick,
und Lea, die diesen Kampf in seinen Mienen las, faßte seine Hand,
drückte sie stürmisch an ihr Herz, zog sie zärtlich an ihre Lippen. "Er
will!" rief sie entzückt. "O! ich wußte es wohl, er ist edel; er will sich
nicht wie die andern an dem Unglücklichen rächen, der ihn einst beleidigt
hat, er läßt ihn nicht sterben, belastet mit Sünden, er läßt ihn
leben und fromm und weise werden. Wie gütig bist du, o Gott, daß
du noch deiner Engel einen gesendet hast auf diese öde Erde, der mit
der offenen Hand der Barmherzigkeit segnet und nicht mit dem
flammenden Schwert der Rache den Verbrecher zerschmettert!"
"Nein — nein — es ist nicht möglich!" sprach Lanbek mit tiefem
Schmerz. "Sieh, Lea, mein Leben möchte ich hingeben, um deine
Ruhe zu erkaufen; aber meine Ehre! Gott! Meinen guten Namen!
Es ist nicht möglich! Sie wissen um den Brief, einige haben ihn gelesen,
und — morgen soll ich ihn vortragen. Käthchen! Sprich, ich
beschwöre dich, kann, darf ich es tuns
Käthchen weinte, und eine leise Bewegung ihres Hauptes schien
anzudeuten, daß es auch ihr unmöglich scheine. Lea aber hatte ihm
mit starren Blicken zugehört; über die bleichen Wangen ergoß sich
die Röte der Angst; sie beugte sich vor, als könne sie die schreckliche
Verneinung nicht recht vernehmen; sie sah, als sich Gustav auf seine
Schwester berief, mit einem Blick voll schmerzlicher Zuversicht nach
dieser hin, sie streckte die Hand krampfhaft aus wie ein Ertrinkender,
der nach dem schwachen Zweig am Ufer die Hand ausstreckt — vergebens
"So muß er sterben," sagte sie nach einer Weile leise, "und du —
du brichst ihm den Stab? Das war es also, warum ich lebte — und
liebte? Es ist ein sonderbares Rätsel, das Leben! Hätte ich dies gedacht
, als ich noch ein fröhliches Kind war! Hätte ich gedacht, daß
wir so untergehen müßten?"
"Armes, unglückliches Mädchen!" sprach Käthchen und schloß
sie in ihre Arme. "Ach, gewiß, er kann nicht anders handeln, ich sehe
es selbst ein; und wenn es dich trösten kann, komm zu mir, so oft du
willst, du sollst gewiß treue Teilnahme finden —"
"Lea," unterbrach sie ihr Bruder, " wenn wir etwas für Sie
tun können — Sie sind an Wohlstand gewöhnt —dieses Kleid hier
sagt mir, daß Sie in Not sind."
"Komm, Lea," fuhr Käthchen fort, "wir sind beinahe von derselben
Größe, nimm von meinen Tüchern, von meinen Kleidern!
Du machst mir Freude, wenn du es tun willst."
"Das Vermögen Ihres Bruders, das er außer Landes besitzt,
sagte Gustav, "soll und muß für Sie gerettet werden; Sie haben
die nächsten Ansprüche, und ich will gewiß das meinige tun."
"Guter Gustav," unterbrach sie ihn, indem sie sich zu einem
Lächeln zwang, "lassen wir das; die Leute sagen, daß er sein Vermögen
den Armen dieses Landes entzogen habe. Da hatte er unrecht,
und es wäre besser, er hätte dieses Land nie gesehen; aber ebenso
unrecht wäre es von mir, von diesem Golde Gebrauch zu machen,
das ihm den Tod bringen wird. Aber von dir, liebes, schönes Mädchen,
nehme ich ein Tuch an, weil es jetzt so kalt wird. Ich höre, du
bist Braut; sei doch recht glücklich! Möchten dies die letzten Tränen
sein, die jetzt in deinen Wimpern hängen; und wenn du weinen
mußt, so sei es nur fremdes Unglück, um das dein schönes Herz
trauert!"
"Lea," sagte der junge Mann mit tiefem Schmerz, "ich kann
dich nicht so hinweg lassen; es ist die trügerische Ruhe der Verzweiflung,
die aus dir spricht. Besuche doch meine Schwester, sage, wo
du wohnst ! —Ach, wenn du Mangel littest! —Scheide nicht im Groll
von mir, Lea! Gott weiß, daß ich nicht anders konnte!"
"Und auch ich weiß es, Gustav, und war ein törichtes Mädchen,
dich auf diese gefährliche Probe zu stellen; unser Unglück ist so groß,
daß eine kleine Hilfe mit deiner Ehre, mit deiner Ruhe zu teuer
erkauft wäre. Lebet wohl! Ich brauche wenig, vielleicht bald gar
nichts mehr, und sollte ich etwas nötig haben, so bin ich nicht zu stolz,
zu dieser Freundin zu kommen, der einzigen, die mir das Unglück
erworben hat."
"Und vergibst du?" sagte Gustav mit Tränen.
"Ich habe nichts zu vergeben," erwiderte sie, indem sie ihm
mit mehr Fassung, als die beiden Geschwister erhalten hatten, die
Hand bot. "Lebe wohl, Freund! Ich gehe, meine Blumen zu begießen.
Möge der Gott meiner Väter dich so glücklich machen, als
es dein reiches Herz verdient!" Sie sagte es, warf noch einen Blick
voll Liebe auf ihn und ging, von Käthchen begleitet.
Der junge Mann blickte ihr wehmütig nach; es war ihm, als
hätte diese Stunde einen mächtigen Einfluß auf sein Leben; aber
er ahnete auch, daß er das unglückliche Mädchen zum letztenmal gesehen
habe.
15.
Es würde unsere Leser ermüden, wollten wir sie von dem Prozeß
des Juden Süß noch länger unterhalten. Es ging damals wie ein
Lauffeuer durch alle Länder und wird da und dort noch heute erwähnt,
daß am 4ten Februar 1738 die Württemberger ihren Finanzminister
wegen allzu gewagter Finanzoperationen aufgehängt haben.
Sie hingen ihn an einen ungeheuren Galgen von Eisen in einem
eisernen Käfig auf. Im Dekret des Herzog-Administrators heißt es:
"Ihme zu wohlverdienter Straff, jedermänniglich aber zum abscheulichen
Exempel." Beides, die Art, wie dieser unglückliche Mann
mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe sind gleich auffallend
und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge
der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, wo die
Blüte der französischen Literatur mit unwiderstehlicher Gewalt den
gebildeteren Teil Europas auswärts riß.
Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten
Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, den
Männer, die zu jener Zeit gelebt haben, oft wiederholen, und der,
wenn er auch nicht die Tat entschuldigt, doch ihre Notwendigkeit darzutun
scheint. "Er mußte," sagen sie, "nicht sowohl für seine eigenen
schweren Verbrechen, als für die Schandtaten und Pläne mächtiger
Männer am Galgen sterben." Verwandtschaften, Ansehen, heimliche
Besprechungen retteten die andern, den Juden — konnte und
mochte niemand retten, und "so schrieb man," wie sich der alte Landschaftskonsulent
Lanbek ausdrückte, "was die übrigen verzehrt hatten,
auf seine Zeche." Es sind seitdem neunzig Jahre verflossen, und
wir wissen nicht, ob damals der schmähliche Tod dieses Mannes die
Gemüter über alles Frühere beruhigte und befriedigte. Ein Edikt
des Administrators wenigstens scheint es nicht ganz zu beweisen;
denn er sah sich genötigt, zu verordnen: "daß die Untertanen
alle widrigen Nachreden und ungleichen Urteile über den hochseligen
Herrn bei Strafe und Ahndung vermeiden und denselben im schuldigst-respektueusesten
Andenken halten sollten."
Der alte Lanbek tat das letztere auch ohne dies Edikt; denn so
oft der Name Karl Alexanders genannt wurde, lüftete er mit besorgter
Miene sein Mützchen und sagte: "Gott habe ihn selig!" Er
folgte auch dem hochseligen Herrn noch unter der Vormundschaft
Rudolphs von Neustadt. Man sagt, sein Sohn habe nie wieder gelächelt
, und selbst Schwager Reelzingen konnte ihm mit den herrlichsten
Späßen keine heitere Miene abgewinnen. Noch anno 93
sah man ihn als einen hohen, magern Greis an einem Stock über die
Straße schreiten; seine Miene war ernst und düster; aber sein Auge
konnte zuweilen weich und teilnehmend sein. Er hat nie geheiratet,
und die Sage ging damals, daß er nur einmal und ein unglückliches
Mädchen geliebt habe, das ihren Tod im Neckar freiwillig fand.
Männer, die ihn gekannt haben, versichern, daß er gewöhnlich kalt
und verschlossen, dennoch sehr interessant in der Unterhaltung gewesen
sei, wenn man ihn auf gewisse metaphysische Untersuchungen
brachte, mit welchen er sich in seinem hohen Alter hauptsächlich beschäftigte
Er starb, betrauert von vielen, die ihn und sein Schicksal
kannten, und beweint von den Armen und Unglücklichen. Mein
Großvater pflegte von ihm zu sagen: "Es war einer von jenen
Menschen, die, wenn sie einmal recht unglücklich gewesen sind, sich
nicht mehr an das Glück gewöhnen mögen,"
Die Sängerin.
1.
"Das ist ein sonderbarer Vorfall," sagte der Kommerzienrat
Bolnau zu einem Bekannten, den er auf der Breiten Straße in B.
traf; "gesteht selbst, wir leben in einer argen Zeit."
"Ihr meint die Geschichte im Norden?" entgegnete der Bekannte.
"Habt Ihr Handelsnachrichten, Kommerzienrat? Hat Euch
der Minister des Auswärtigen aus alter Freundschaft etwas Näheres
gesagt?"
"Ach, geht mir mit Politik und Staatspapieren! Meinetwegen
mag geschehen, was da will. Nein, ich meine die Geschichte mit der
Fiametti."
"Mit der Sängerin? Wie? Ist sie noch einmal engagiert? Man
sagte ja, der Kapellmeister habe sich mit ihr überworfen —"
"Aber um Gottes willen!" rief der Kommerzienrat und blieb
staunend stehen; " in welchen Spelunken treibet Ihr Euch umher,
daß Ihr nicht wisset, was sich in der Stadt zuträgt? So wisset Ihr
nicht, was der Fiametti arrivierte?"
"Kein Wort, auf Ehre! Was ist es denn mit ihr:"
"Nun, es ist weiter nichts mit ihr, als daß sie heute nacht totgestochen
worden ist."
Der Kommerzienrat galt unter seinen Bekannten für einen
Spaßvogel, der, wenn er morgens von elf bis mittag seine Promenaden
in der Breiten Straße machte, die Leute gerne aufhielt
und ihnen irgend etwas aus dem Stegreife aufband. Der Bekannte
war daher nicht sehr gerührt von dieser Schreckensnachricht, sondern
antwortete: "Weiter wisset Ihr also heute nichts, Bolnau? Ihr
müht doch nachgerade mit Eurem Witz zu Rande sein, weil Ihr die
Farben so stark auftraget. Wenn Ihr mich übrigens ein andermal
wieder stellet in der Breiten Straße, so besinnt Euch auf etwas Vernünftigeres
, sonst bin ich genötigt, einen Umweg zu machen, wenn
ich von der Kanzlei nach Hause gehe.
"Er glaubt's wieder nicht!" rief der Spaziergänger. "Seht
nur, er glaubt's wieder nicht! Wenn ich gesagt hätte, der Kaiser von
Marokko sei erstochen worden, so hättet Ihr die Nachricht mit Dank
eingesteckt und weitergetragen, weil sich dort schon ähnliches zugetragen
hat. Aber wenn eine Sängerin hier in B. totgestochen wird,
da will keiner glauben, bis man den Leichenzug sieht. Aber, Freundchen,
diesmal ist's wahr, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin!"
"Mensch! Bedenket, was Ihr sagt!" rief der Freund mit Entsetzen.
"Die Sängerin erstochen? Tot saget Ihr? Die Fiametti
totgestochen?"
"Tot war sie vor einer Stunde noch nicht; aber sie liegt in den
letzten Zügen, so viel ist gewiß."
"Aber sprechet doch ums Himmels willen! Wie kann man denn
eine Sängerin totstechen? Leben wir denn in Italien? Für was
ist denn eine wohllöbliche Polizei da? Wie ging es denn zu? Totgestochen
!"
"Schreiet doch nicht so mörderlich," erwiderte Bolnau besänftigend
; "die Leute fahren schon mit den Köpfen aus allen Fenstern
und schauen nach dem Straßenlärm. Ihr könnet ja sotta voco
jammern, so viel Ihr wollt. Wie es zuging? Ja sehet, da liegt es
eben; das weiß bis jetzt kein Mensch. Gestern nacht war das schöne
Kind noch auf der Redoute, so liebenswürdig, so bezaubernd wie
immer, und heute nacht um zwölf Uhr wird der Medizinalrat Lange
aus dem Bette geholt, Signora Fiametti liege im Sterben; sie habe
eine Stichwunde im Herzen. Die ganze Stadt spricht schon davon,
aber natürlich das tollste Zeug. Es sind allerdings fatale Umstände
dabei, daß man nicht ins reine kommen kann; so darf z. B. niemand
ins Haus als der Arzt und die Leute, die sie bedienen. Auch bei Hof
weiß man es schon, und es kam ein Befehl, daß die Wache nicht am
Haus vorbeiziehen dürfe; das ganze Bataillon mußte den Umweg
über den Markt nehmen."
"Was Ihr sagt! Aber weiß man denn gar nicht, wie es zuginge
Hat man denn gar keine Spur?"
"Es ist schwer, sich aus den verschiedenen Gerüchten auf das
Wahre durchzuarbeiten. Die Fiametti, das muß man ihr lassen, ist
eine sehr anständige Person, der man auch nicht das geringste nachsagen
kann. Nun, wie aber die Leute sind, besonders die Frauen,
wenn man da von dem ordentlichen Lebenswandel des annen
Mädchens spricht, zuckt man die Achsel und will von ihrem früheren
Leben allerlei wissen. Von ihrem frühern Leben! Sie hat kaum
siebzehn Jahre und ist schon anderthalb Jahre hier! Was ist das für
ein früheres Leben?"
"Haltet Euch nicht so lange beim Eingang auf," unterbrach ihn
der Bekannte, "sondern kommt auf das Thema! Weiß man nicht, wer
sie erstochen hats"
"Nun, das sage ich ja eben; da soll es nun wieder ein abgewiesener,
aber eifersüchtiger Liebhaber sein, der sie umbrachte. Sonderbar
sind allerdings die Umstände. Sie soll gestern auf der Redoute mit
einer Maske, die niemand kannte, ziemlich lange allein gesprochen
haben. Sie ging bald nachher weg, und einige Leute wollen gesehen
haben, daß dieselbe Maske zu ihr in den Wagen stieg. Weiter weiß
niemand etwas Gewisse:,; aber ich werde bald erfahren, was an der
Sache ist."
"Ich weiß, Ihr habt so Eure eigenen Kanäle, und gewiß habt
Ihr auch bei der Fiametti einen dienstbaren Geist. Es gibt Leute,
die Euch die Stadtchronik nennen."
"Zu viel Ehre, zu viel Ehre," lachte der Kommerzienrat und
schien sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen. "Diesmal habe ich aber
keinen andern Spion als den Medizinalrat selbst. Ihr müßt bemerkt
haben, daß ich, ganz gegen meine Gewohnheit, nicht die ganze Straße
hinauf und hinab wandle, sondern mich immer zwischen der Karls-
und der Friedrichsstraße halte."
"Wohl habe ich dies bemerkt; aber ich dachte, Ihr machtet
Fensterparade vor der Staatsräson Baruch."
"Geht mir mit der Baruch! Wir haben seit drei Tagen gebrochen
; meine Frau sah das Verhältnis nicht gerne, weil jene so
hoch spielt. Nein, der Medizinalrat Lange kommt alle Tage um
zwölf Uhr durch die Breite Straße, um ins Schloß zu gehen, und ich
stehe hier auf dem Anstand, um ihn sogleich aufs Korn zu nehmen,
wenn er um die Ecke kommt.
"Da bleibe ich bei Euch," sprach der Freund; "die Geschichte der
Fiametti muß ich genauer hören. Ihr erlaubt es doch, Bolnau?"
"Wertester, geniert Euch ganz und gar nicht," entgegnete jener;
ich weiß, Ihr speiset um zwölf Uhr —lasset doch die Suppe nicht
kalt werden! Ueberdies könnte Lange vor Euch nicht recht mit der
Sprache heraus wollen; kommt lieber nach Tisch ins Kaffeehaus,
dort sollt Ihr alles hören. —Machet übrigens, daß Ihr fortkommt!
Dort biegt er schon um die Ecke
2.
"Ich halte die Wunde nicht für absolut tödlich," sprach der
Medizinalrat Lange nach den ersten Begrüßungen; "der Stoß scheun
nicht sicher geführt worden zu sein. Sie ist schon wieder ganz bei Besinnung,
und die Schwäche abgerechnet, die der große Blutverlust
verursachte, ist in diesem Augenblick wenigstens keine Spur von
"Das freut mich," erwiderte der Kommerzienrat und schob
vertraulich seinen Arm in den des Doktors; "ich begleite Ihn noch
die paar Straßen bis ans Schloß; aber sag Er mir doch ums Himmels
willen etwas Näheres über diese Geschichte; man kann ja gar nicht
ins klare kommen, wie sich das alles zugetragen.
"Ich kann Ihm schwören," antwortete jener, "es liegt ein
furchtbares Dunkel über der Sache. Ich war kaum eingeschlafen,
so weckt mich mein Johann mit der Nachricht, man verlange mich
zu einem sehr gefährlichen Kranken. Ich werfe mich in die Kleider,
renne hinaus. im Vorsaal steht ein Mädchen, bleich und zitternd,
und flüstert so leise, daß ich es kaum hörte, ich solle mein Verbandzeug
zu mir stecken. Schon das fällt mir auf; ich werfe mich in den
Wagen, lasse die bleiche Mamsell auf den Bock zu Johann sitzen,
daß sie den Weg zeige, und fort geht es bis in den Lindenhof. Ich
steige vor einem kleinen Hause ab und frage die Mamsell, wer denn
der Kranke sei?"
"Ich kann mir denken, wie Er staunte —"
"Wie ich staunte, als ich höre, es ist Signora Fiametti! Ich
kannte sie zwar nur vom Theater, hatte sie sonst kaum zwei, dreimal
gesehen; aber die geheimnisvolle Art, wie ich zu ihr gerufen
wurde, das Verbandzeug, das ich zu mir stecken sollte —ich gestehe,
ich war sehr gespannt, was der Sängerin zugestoßen sein sollte.
Es ging eine kurze Treppe hinan, einen schmalen Hausflur entlang.
Das Mädchen ging voran, ließ mich einige Augenblicke im Dunkeln
warten und kam mir dann schluchzend und noch bleicher als zuvor
entgegen. ,Treten Sie ein, Herr Doktor,' sagte sie, .ach! Sie werden
zu spät kommen, sie wird's nicht überleben.' Ich trat ein, es war
ein schrecklicher Anblick."
Der Medizinalrat schwieg sinnend und düster; es schien sich ein
Bild vor seine Seele zu drängen, das er umsonst abzuwehren suchte.
"Nun, was sah Er?" rief sein Begleiter, ungeduldig über diese Unterbrechung.
"Er wird mich doch nicht so zwischen Tür und Angel stehen
lassen wollen?"
"Es ist mir manches in meinem Leben begegnet," fuhr der Doktor
fort, nachdem er sich gesammelt hatte, "manches, wovor mir graute,
manches, das mich erschreckte, aber nichts, was mir das Herz so in
der Brust umdrehte wie dieser Anblick. In einem matt erleuchteten
Zimmer lag ein bleiches, junges Weib auf dem Sofa; vor ihr kniete
eine alte Magd und preßte ihr ein Tuch auf das Herz. Ich trat näher;
weiß und starr wie eine Büste lag der Kopf der Sterbenden zurück;
die schwarzen, herabfallenden Haare, die dunkeln Brauen und
Wimpern der geschlossenen Augen bildeten einen schrecklichen Kon
trast gegen die glänzende Blässe der Stirn, des Gesichts, des schönen
Halses. Die weißen, faltenreichen Gewänder, die wohl zu ihrer Maske
gehört hatten, waren von Blut überströmt, Blut auf dem Fußboden
und von dem Herzen schien der rote Strom auszugehen, —dies allee
stellte sich mir in einem Augenblick dar — es war Fiametti, die
Sängerin."
"O Gott, wie mich das rührt!" sprach der Kommerzienrat bewegt
und zog ein langes seidenes Tuch hervor, um sich die Augen
zu wischen. "Geradeso lag sie noch letzten Sonntag vor acht Tagen
in der Oper Othello da, als sie die Desdemona spielte. Schon damals
war der Effekt so grausam wahr und wahrhaftig greulich, daß
man meinte, der Mohr habe sie in der Tat erdolcht; und jetzt ist es
wirklich so mit ihr gekommen! Was mich das rührt!"
"Habe ich Ihm nicht jede übermäßige Rührung verbotene"
unterbrach ihn der Arzt. "Will Er mit Gewalt wieder Seine Zufälle
bekommen?"
"Er hat recht," sagte der Kommerzienrat Bolnau und fuhr
schnell mit dem Tuch in die Tasche; " hat recht; meine Konstitution
ist nicht für den Affekt. Erzähl Er nur weiter! Ich werde die Tafelscheiben
am Kriegsministerio im Vorbeigehen zählen; das hilft gegen
solche Anfälle."
"Zähl Er nur, und wenn es nicht hilft, so kann Er auch noch den
obern Stock des Palais mitnehmen. — Die alte Magd nahm das
Tuch weg, und mit Erstaunen erblickte ich eine Wunde wie von einem
Messerstich, die dem Herzen sehr nahe war. Es war nicht Zeit, mich
mit Fragen aufzuhalten, so viele derselben mir auch auf der Zunge
schwebten; ich untersuchte die Wunde und legte den Verband um.
Die Verwundete hatte während der ganzen Operation kein Zeichen
von Leben gezeigt; nur als ich die Wunde sondierte, war sie schmerzlich
zusammengezuckt. Ich ließ sie ruhen und bewachte ihren Schlummer.
"Aber das Mädchen und die alte Magd, — hat Er denn diese
nicht gefragt, woher die Wunde rühre?"
"Ich will es Ihm nur gestehen, Kommerzienrat, weil Er mein
alter Freund ist; ja, als für die Kranke im Augenblick nichts mehr
zu tun war, habe ich ihnen rund genug erklärt, daß ich weiter keine
Hand mehr an die Dame legen werde, wenn sie mir nicht alles
beichten."
"Und was sagten sie? So sprech Er doch!"
"Nach elf Uhr war die Sängerin zu Hause gekommen, und zwar
oon einer großen männlichen Maske begleitet. — Ich mochte bei
dieser Nachricht die beiden Weiber etwas sehr zweideutig angesehen
haben; denn sie fingen aufs neue an zu weinen und beteuerten mir
mit den außerordentlichsten Schwüren, ich solle doch nichts Schlechtes
von ihrer Herrschaft denken; es sei die lange Zeit, seit sie ihr dienen,
nie nach vier Uhr abends ein Mann über ihre Schwelle gekommen:
das kleine Mädchen, das wohl Romane gelesen haben musste, wollte
sogar behaupten, Signora sei ein Engel an Reinheit."
"Das behaupte ich auch," sagte der Kommerzienrat, indem er
gerührt die Scheiben des Palais, dem sie sich näherten, zu zählen
anfing; "das sage ich auch; der Fiametti kann man nichts Böses
nachsagen; sie ist ein liebes, frommes Kind, und was kann sie denn
dafür, daß sie schön ist und ihr Leben durch Gesang fristen muß?"
"Glaub Er mir," entgegnete Lange, " ein Arzt hat hierin einen
untrüglichen psychologischen Maßstab. Ein Blick auf die engelreinen
Züge de: unglücklichen Mädchens überzeugte mich mehr von ihrer
Tugend als die Schwüre ihrer Zofen. Doch höre Er weiter: Die
Sängerin trat mit dem Fremden in dieses Zimmer und hieß ihr
Mädchen hinausgehen. Diese war vielleicht aus Neugierde, was
wohl dieser nächtliche Besuch zu bedeuten habe, der Türe nahe geblieben;
sie hörte einen heftigen Wortwechsel, der zwischen ihrer
Dame und einer tiefen, hohlen Männerstimme in französischer
Sprache geführt wurde; Signora sei endlich in heftiges Weinen ausgebrochen,
der Mann habe schrecklich geflucht; plötzlich hörte sie ihre
Dame einen gellenden Schrei ausstoßen, sie kann sich vor Angst nicht
mehr zurückhalten, reißt die Türe auf, und in demselben Augenblicke
fährt die Maske an ihr vorbei und durch den Gang an die Treppe.
Sie folgt ihr einige Schritte, von der Treppe hört sie ein schreckliches
Gepolter; sie musste hinuntergestürzt sein. Von unten dringt ein
Ächzen und Stöhnen herauf wie das eines Sterbenden; aber es
graut ihr, sie wagt keinen Schritt weiter vorzugehen. Sie geht
zurück in die Türe — die Sängerin liegt in ihrem Blute und schließt
nach wenigen Momenten die Augen. Das Mädchen weiß sich nicht zu
raten; sie weckt die alte Magd, ihrer Herrschaft einstweilen beizustehen,
und springt zu mir, um vielleicht ihre Signora noch zu retten."
"Und die Fiametti hat noch nichts geäußert? Hat Er sie nicht
befragt?"
"Ich ging sogleich auf die Polizei und weckte den Direktor; er
ließ noch um Mitternacht alle Gasthöfe, alle Gassenkneipen, alle
Winkel der Stadt durchsuchen; aus dem Tore ist in jener Stunde
niemand passiert, und von jetzt an wird jedermann strenge untersucht
. Die Hausleute, die im obern Stock wohnen, erfuhren die ganze
Sache erst, als die Polizei das Haus durchsuchte; unbegreiflich war
es, wie der Mörder entspringen konnte, da er durch seinen Fall
hart beschädigt sein mußte; man fand viel Blut unten an der Treppe.
und es ist mir nicht unwahrscheinlich, daß er sich im Fallen durch seinen
eigenen Dolch verwundet hat. Es ist um so unbegreiflicher, wie er
entkam, da die Haustüre verschlossen war. Die Fiametti selbst erwachte
um zehn Uhr und gab dem Polizeidirektor zu Protokoll,
daß sie im strengsten Sinne nicht wisse, auch nicht einmal ahne ,
wer die Maske sein könne. Alle Ärzte und Chirurgen sind verpflichtet
worden, wenn sie zu einem Patienten, der durch einen Fall oder durch
eine Messerwunde lädiert ist, gerufen würden, solches anzuzeigen,
weil man vielleicht auf diesem Wege dem Mörder auf die Spur
kommen könnte. So stehen die Sachen. Ich bin aber überzeugt wie
von meinem Leben, daß ein tiefe: Geheimnis zum Grunde liegt,
das die Sängerin nicht entdecken will; denn die Fiametti ist nicht die
Person, die sich von einem ihr völlig unbekannten Mann nach Hause
begleiten läßt. Das scheint auch ihr Mädchen, das beim Verhör
zugegen war, zu ahnen. Denn als sie sah, dah Signora nichts wissen
wolle, gab sie nichts von dem Wortwechsel an, den sie gehört hatte;
mir aber warf sie einen bittenden Blick zu, sie nicht zu verraten. ,Es
ist eine entsetzliche Geschichte,' sagte sie, als sie mich nachher zur
Treppe begleitete, .aber keine Welt brächte mich dazu, etwas zu
verraten, was Signora nicht bekannt werden lassen will.' Sie gestand
mir noch etwas, das auf die ganze Sache vielleicht Licht verbreiten
würde."
"Nun, und darf ich diesen Umstand nicht auch wissen?" fragte
der Kommerzienrat. "Er sieht, wie ich gespannt bin; spann Er ab,
spann Er ab, um Gottes willen, ich könnte sonst leicht meine Zufälle
bekommen!"
"Höre Er, Bolnau, besinn Er sich, lebt noch ein Bolnau außer
in dieser Stadt? Existiert noch irgend ein anderer in der Welt,
und wo, sag Er, wo?"
"Außer mir keine Seele in dieser Stadt," antwortete Bolnau:
"als ich vor acht Jahren hieher zog, freute es mich, daß ich nicht
Schwarz, Weiß oder Braun, nicht Meier, Miller oder Bauer heiße,
weil damit allerlei unangenehme Verwechslungen geschehen. In
Kassel war ich der einzige Mann in meiner Familie, und sonst gibt
es auf Gottes Erdboden keinen Bolnau mehr als meinen Sohn, den
unglücklichen Musiknarren; der ist verschollen, seit er nach Amerika
segelte. Aber warum fragt Er nach meinem Namen, Doktor?"
"Nun, Er kann es nicht sein, Kommerzienrat, und Sein Sohn
ist in Amerika. Aber es ist schon ein Viertel über zwölf Uhr, Prinzeß
Sophie ist krank, ich habe mich nur zu lang' mit Euch verschwatzt;
lebt wohl; à rovoir!
"Nicht von der Stelle," rief Bolnau und hielt ihn fest am Arm,
"saget mir zuvor, was das Mädchen noch gesagt hat!"
"Nun ja, aber reinen Mund gehalten, Freund! Ihr letztes Wort,
ehe sie in jene tiefe Ohnmacht sank, war Bolnau."
3.
Man hatte den Kommerzienrat Bolnau noch nie so ernst und
düster durch die Straßen schleichen sehen wie damals, als ihn der
Doktor Lange vor dem Palais verließ. Sonst war er munter und
rüstig einhergeschritten, und wenn er mit dem freundlichsten Lächeln
alle Mädchen und Frauen grüßte, mit den Männern viel lachte und
ihnen allerlei Neues erzählte, so hätte man ihm noch keine sechzig
Jahre zugetraut. Er schien auch alle Ursache zu haben, fröhlich und
guter Dinge zu sein; er hatte sich ein hübsches Vermögen zusammenspetuliert
, hatte sich, als es genug schien, mit seiner Frau in B. zur
Ruhe gesetzt und lebte nun in Freude und Jubel jahraus, jahrein.
Er hatte einen einzigen Sohn gehabt; dieser sollte die Laufbahn des
alten Herrn auch durchlaufen und handeln und sich umtun im Kommerz
; so wollte er es haben.
Der Sohn aber lebte und webte nur im Reich der Töne; die
Musik war ihm alles, der Handel und Kommerz de: Vaters war
ihm zu gemein und niedrig. Der Vater hatte einen harten Sinn,
der Sohn auch; der Vater brauste leicht auf, der Sohn auch; der
Vater stellte gleich alles auf die Spitze, der Sohn auch; kein Wunder,
daß sie nicht miteinander leben konnten. Und als der Sohn sein
zwanzigstes Jahr zurückgelegt hatte, war der Vater fünfzig; da brach
er ab, sich zur Ruhe zu setzen und wollte dem Sohn den Handel geben.
Es war auch bald alles in Richtigkeit und Ruhe; denn in einer schonen
Sommernacht war der Sohn nebst einigen Klavierauszügen verschwunden
, kam auch richtig nach England und schrieb ganz freundschaftlich,
daß er nach Amerika gehen werde. Der Kommerzienrat
wünschte ihm Glück auf den Weg und begab sich nach B.
Der Gedanke an den Musiknarren, wie er seinen Sohn nannte,
trübte ihm zwar manche Stunde; denn er hatte ihn ersucht, sich nie
mehr vor ihm sehen zu lassen, und es stand nicht zu erwarten, daß
jener ungerufen wiederkehre; es wollte ihn zuweilen bedünken, als
habe er doch töricht getan, als er ihn durchaus im Kommerz haben
wollte; aber die Zeit, Gesellschaft und seine heitere Laune ließen
diese trüben Gedanken nicht lange aufkommen; er lebte in Jubel und
Freude, und wer ihn recht heiter sehen wollte, durfte nur zwischen
elf Uhr und mittag durch die Breite Straße wandeln. Sah er dort
einen langen, hagern Mann, dessen sehr moderne Kleidung, dessen
Lorgnette und Reitpeitsche, dessen bewegliche Manieren nicht mehr
recht zu seinen grauen Haaren passen wollten, sah er diesen Mann
nach allen Seiten grüßen, alle Augenblicke bei diesem oder jenem
stillstehen und schwatzen und mit den Armen fechten, so konnte er sich
darauf verlassen, es war der Kommerzienrat Bolnau.
Aber heute war dies alles ganz anders. Hatte ihn schon zuvor
die Erdungsgeschichte der Sängerin fast zu sehr affiziert, so war
ihm das letzte Wort des Doktors in alle Glieder geschlagen. "Bolnau"
hatte die Fiametti noch gesagt, ehe sie vom Bewußtsein kam. Seinen
eigenen ehrlichen Namen hatte sie unter so verfänglichen Umständen
ausgesprochen! Seine Knie zitterten und wollten ihm die Dienste
versagen, sein Haupt senkte sich auf die Brust sorgenvoll und gedankenschwer
. "Bolnau!' dachte er, "Königlicher Kommerzienrat!
Wenn sie jetzt stürbe, die Sängerin, wenn das Mädchen dann ihr
Geheimnis von sich gäbe und den Polizeidirektor mit den näheren
Umständen des Mordes und mit dem verhängnisvollen Worte bekannt
machte! Was kann nicht ein geschickter Jurist aus einem einzigen
Wort argumentieren, besonders wenn ihn die Eitelkeit anfeuert,
in einer solchen Cause célèbre seinen Scharfsinn zu zeigen."
Er lorgnettierte mit verzweiflungsvollen Mienen das Zuchthaus,
dessen Giebel aus der Ferne ragte. "Dorthin, Bolnau, aus ganz
besonderer Gnade und Rücksicht auf mehrjährige Dienste!"
Er atmete schwerer, er lüftete die Halsbinde; aber erschreckt
fuhr er zurück. War dies nicht der Ort, wo man das hanfene Halsband
umknüpfte? War nicht dies die Stelle, wo das kalte Schwert
durchging ?
Begegnete ihm ein Bekannter und nickte ihm zu, so dachte er:
"Holla. der weiß schon um die Sache und will mir zu verstehen
geben, daß er wohl unterrichtet sei." Ging ein anderer vorüber,
ohne zu grüßen, so schien ihm nichts gewisser, als daß man ihn nicht
kennen, sich nicht mit dem Umgang eines Mörders beflecken wolle.
Es fehlte wenig, so glaubte er selbst, er sei schuldig am Mord, und
es war kein Wunder, daß er einen großen Bogen machte, um das
Polizeibureau zu vermeiden; denn konnte nicht der Direktor am
Fenster stehen, ihn erblicken und herausrufen: "Wertester, beliebt
es nicht, ein wenig heraufzuspazieren? Ich habe ein Wort mit Ihnen
zu sprechen!" Verspürte er nicht schon jetzt ein gewisses Zittern,
fühlte er nicht jetzt schon seine Züge sich zu einem Armensündergesicht
verziehen, nur weil man glauben könnte, er sei der, den die
Sängerin mit ihrem letzten Worte angeklagt?
Und dann fiel ihm wieder ein, wie schädlich eine solche Gemütsbewegung
für seine Konstitution sei; ängstlich suchte er nach Fensterscheiben,
um sich ruhig zu zählen; aber die Häuser und Straßen
tanzten um ihn her, der Glockenturm schien sich höhnisch vor ihm zu
neigen, ein wahnsinniges Grauen erfaßte ihn, er rannte durch die
Straßen, bis er erschöpft in seiner Behausung niedersank, und seine
erste Frage war, als er wieder ein wenig zu sich gekommen, ob nicht
ein Polizeidiener nach ihm gefragt habe.4.
Als gegen Abend der Medizinalrat Lange zu seiner Kranken
kam, fand er sie um vieles besser, als er sich gedacht hatte. Ersetzte
sich an ihrem Bette nieder und besprach sich mit ihr über diesen unglücklichen
Vorfall. Sie hatte ihren Arm auf die Kissen gestützt, in
der zartgeformten Hand lag ihr schöner Kopf. Ihr Gesicht war noch
sehr bleich; aber selbst die Erschöpfung ihrer Kräfte schien ihr einen
eigentümlichen Reiz zu geben. Ihr dunkles Auge hatte nichts von
jenem Feuer, jenem Ausdruck verloren, der den Doktor, obgleich er
ein bedächtiger Mann und nicht mehr in den Jahren war, wo Phantasie
der Schönheit zu Hilfe kommt, schon früher von der Bühne aus
angezogen hatte. Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so
schönen Kopf, ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge
waren nichts weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch
ihre Verbindung und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er
lange keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des
Medizinalrates blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene Reinheit
der Seele, jener Adel der Natur, was diese jungfräulichen Züge
mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß. "Es
scheint, Sie studieren meine Züge, Doktor," sprach die Sängerin
lächelnd; "Sie sitzen so stumm und sinnend da, starren mich an und
scheinen ganz zu vergessen, was ich fragte. Oder ist es zu schrecklich,
als daß ich es hören sollte? Darf ich nicht erfahren, was die Stadt
über mein Unglück sagt?"
"Was wollen Sie alle die törichten Vermutungen hören, die
müßige Menschen erfinden und weitersagen? Ich habe eben darüber
nachgedacht, wie rein sich Ihre Seele auf Ihren Zügen spiegle; Sie
haben ,maden in sich — was kümmert Sie das Urteil der Menschen?"
"Sie weichen mir aus," entgegnete sie, "Sie wollen mir entschlüpfen,
indem Sie mir schöne Dinge sagen. Und mich sollte das
Urteil der Menschen nicht kümmern? Welches rechtliche Mädchen
darf sich so über die Gesellschaft, in welcher sie lebt, hinwegsetzen,
daß es ihr gleich gilt, was man von ihr spricht? Oder glauben Sie
etwa," setzte sie ernster hinzu, "ich werde nichts darnach fragen, weil
ich einem Stand angehöre, dem man nicht viel Gutes zutraut? Gestehen
Sie nur, Sie halten mich für recht leichtsinnig."
"Nein, gewiß nicht; ich habe immer nur Schönes von Ihnen
gehört, Mademoiselle Fiametti, von Ihrem stillen, eingezogenen
Leben, und daß Sie mit so sicherer Haltung in der Welt stehen, obgleich
Sie so einsam und mancher Kabale ausgesetzt sind. Aber warum
wollen Sie gerade wissen, was die Menschen sagen? Wenn ich nun
als Arzt solche Neuigkeiten nicht für zuträglich hielt?"
"Bitte, Doktor, bitte, foltern Sie mich nicht so lange," rief sie:
"sehen Sie, ich lese in Ihren Augen, daß man nicht gut von mir
spricht. Warum mich in Ungewißheit lassen, die gefährlicher für die
Ruhe ist als die Wahrheit selbst?"
Diesen letzten Grund fand der Medizinalrat sehr richtig; und
konnte in seiner Abwesenheit nicht irgend eine geschwätzige Frau sich
eindrängen und noch ärgeres berichten, als er sagen konnte? "Sie
kennen die hiesigen Leute," antwortete er; "B. ist zwar ziemlich groß,
aber, du lieber Gott, bei einer Neuigkeit der Art zeigt es sich, wie
kleinstädtisch man ist. Es ist wahr, Sie sind das Gespräch der Stadt,
dies kann Sie nicht wundern, und weil man nichts Bestimmtes weiß,
so — nun, so macht man sich allerhand seltsame Geschichten. So soll
z. B. die männliche Maske, die man auf der Redoute mit Ihnen
sprechen sah und die ohne Zweifel dieselbe ist, welche diese Tat beging
, ein —
"Nun, so reden Sie doch aus," bat die Sängerin in großer
Spannung, "vollenden Sie!"
"ES soll ein früherer Liebhaber gewesen sein, der Sie in — in
einer andern Stadt geliebt hat und aus Eifersucht Sie umbringen
wollte."
"Von mir das! O, ich Unglückliche!" rief sie schmerzlich bewegt
, und Tränen glänzten in ihren schönen Augen; "wie hart sind
doch die Menschen gegen ein so armes, armes Mädchen, das ohne
Schutz und Hilfe ist! Aber reden Sie aus, Doktor, ich beschwöre Sie!
Es ist noch etwas anderes zurück, das Sie mir nicht sagten. In
welcher Stadt, sagen die Leute, soll ich —
"Signora, ich hätte Ihnen mehr Kraft zugetraut," sprach Lange,
besorgt über die Bewegung seiner Kranken. "Wahrlich, ich bereue
es, nur so viel gesagt zu haben; ich hätte es nie getan, wenn ich nicht
fürchtete, daß andere mir unberufen zuvorkämen."
Die Sängerin trocknete schnell ihre Tränen. "Ich will ruhig
sein," sagte sie wehmütig lächelnd, "ruhig will ich sein wie ein Kind:
ich will fröhlich sein, als hätten mir diese Menschen, die mich jetzt
verdammen, ein tausendstimmiges Bravo zugerufen. Nur erzählen
Sie weiter, lieber, guter Doktor!
"Nun, die Leute schwatzen dummes Zeug," fuhr jener ärgerlich
fort. "So soll, als Sie letzthin im Othello auftraten, in einer
der ersten Ranglogen ein fremder Graf gewesen sein; dieser will
Sie erkannt und vor zwei Jahren in Paris in einem schlechten Hause
gesehen haben. —Aber, mein Gott, Sie werden immer blasser —"
"Es ist nichts, der Schein der Lampe fiel nur etwas matter
herüber; weiter, weiter!"
"Nun, dieses Gerede blieb von Anfang nur in den ersten Zirkeln:
nach und nach kam es aber ins Publikum, und da dieser Vorfall hinzukommt
, verbindet man beides und versetzt das frühere Verhältnis
zu Ihrem Mörder in jenes berüchtigte Haus in Paris."
Auf den ausdrucksvollen Zügen der Kranken hatte während
dieser Rede die tiefste Blässe mit flammender Röte gewechselt. Sie
hatte sich höher aufgerichtet, als solle ihr kein Wort dieser schrecklichen
Kunde entgehen; ihr Auge haftete starr und brennend auf dem Mund
des Arztes, sie atmete kaum, ihr Herz schien stillzustehen. "Jetzt ist's
aus," rief sie mit einem schmerzlichen Blick zum Himmel, indem
Tränen ihrem Auge entstürzten, "jetzt ist es aus; wenn er dies hörte,
so war es zu viel für seine Eifersucht. Warum bin ich nicht gestern
gestorben! Ach, da hätte ich meinen guten Vater gehabt, und meine
füße Mutter hätte mich getröstet über den Hohn dieser grausamen
Menschen!"
Der Doktor staunte über diese rätselhaften Worte; er wollte
eben ein tröstendes, besänftigendes Wort zu ihr sprechen, als die
Türe mit Geräusch aufflog und ein großer junger Mann hereinfuhr.
Sein Gesicht war auffallend schön, aber ein wilder Trotz verfinsterte
seine Züge, sein Auge rollte, sein Haar hing verwildert um die Stirne.
Er hatte ein großes, zusammengerolltes Notenblatt in der Faust, mit
welchem er in der Luft herumfuhr und gleichsam agierte, ehe er Atem
zum Sprechen fand. Bei seinem Anblick schrie die Sängerin laut auf,
der Doktor glaubte anfangs, aus Angst, aber es war Freude; denn
ein holdes Lächeln zog um ihren Mund, ihr Auge glänzte ihm durch
Tränen entgegen. "Carlo!" rief sie, "Carlo! Endlich kommst du,
nach mir zu sehen!"
"Elende!" rief der junge Mann, indem er majestätisch den Arm
mit der langen Notenrolle nach ihr ausstreckte. "Laß ab von deinem
Sirenengesang, ich komme — dich zu richten!"
"O Carlo! Wie kannst du so zu deiner Giuseppa sprechen!" unterbrach
ihn die Sängerin, und ihre Töne klangen schmelzend und süß
wie die Klänge der Flöte.
Der junge Mann wollte mit tragischem Pathos antworten;
aber der Doktor, dem dieser Auftritt für seine Kranke zu angreifend
schien, warf sich dazwischen. "Wertester Herr Carlo," sagte er, indem
er ihm eine Prise bot, "belieben Sie zu bedenken, daß Mademoiselle
in einem Zustand ist, wo solche Szenen allzusehr ihre schwachen
Nerven affizieren!"
Jener schaute ihn groß an und wandte die Rotenrolle gegen
ihn: "Wer bist du, Erdenwurm?" rief er mit tiefer, dröhnender
Stimme. "Wer bist du, daß du dich zwischen mich stellst und meinen
Zorn?"
"Ich bin der Medizinalrat Lange," entgegnete dieser und
schlug die Dose zu, "und in meinen Titeln befindet sich nichts von
einem Erdenwurme. Ich bin hier Herr und Meister, so lange Signora
krank ist, und ich sage Ihnen im guten, packen Sie sich hinaus, oder
modulieren Sie Ihr Presto assai zu einem anständigen Larghetto !"
"O, lassen Sie ihn doch, Doktor," rief die Kranke ängstlich,
"lassen Sie ihn doch, bringen Sie ihn nicht auf! Er ist mein Freund;
Carlo wird mir nichts Böse:, tun, was ihm auch die schlechten Menschen
wieder von mir gesagt haben."
"Ha! Du wagst es noch zu spotten! Aber wisse, ein Blitzstrahl
hat die Tore deines Geheimnisses gesprengt und hat die Nacht erhellt
, in welcher ich wandelte. Also darum sollte ich nicht wissen,
was du warst, woher du kamst? Darum verschlossest du mir den
Mund mit deinen Küssen, wenn ich nach deinem Leben fragte? Ich
Tor! Daß ich von einer Weiberstimme mich bezaubern ließ und nicht
bedachte, daß sie nur Trug und Lug ist! Nur im Gesang des Mannes
wohnt Kraft und Wahrheit. Siel! Wie konnte ich mich von den
Rouladen einer Dirne betören lassen!"
"O Carlo," flüsterte die Kranke, " wenn du wüßtest, wie deine
Worte mein Herz verwunden, wie dein schrecklicher Verdacht noch
tiefer dringt als der Stahl des Mörders!"
"Nicht wahr, Täubchen," schrie jener mit schrecklichem Lachen,
deine Amorosi sollten blind sein, da wäre gut mit ihnen spielen?
Der Pariser muß doch ein wackerer Kerl sein, daß er endlich doch noch
das fromme Täubchen fand!
"Jetzt aber wird es mir doch zu bunt, Herr," rief der Doktor
und packte den Rasenden am Rock; "auf der Stelle marschier' Er
sich zu dem Zimmer hinaus, sonst werde ich die Hausleute rufen,
daß sie Ihn expedieren!
"Ich gehe schon, Erdenwurm, ich gehe," schrie jener und stieß
den Medizinalrat zurück, daß er ganz bequem in einen Fauteuil
niedersaß; "ja, ich gehe, Giuseppa, um nimmer wiederzukehren.
Lebe wohl oder stirb lieber, Unglückliche, verbirg deine Schmach
unter der Erde! Aber jenseits verbirg deine Seele an einen Ort,
wo ich dir nie begegnen möge: ich würde der Seligkeit fluchen,
wenn ich sie mit dir teilte, weil du mich hier so schändlich um meine
Liebe, um mein Leben betrogen." Er rief es, indem er noch etwas
weniges mit den Noten agierte; aber sein wildes, rollendes Auge
schmolz in Tränen, als er den letzten Blick auf die Geliebte warf, und
schluchzend rannte er aus dem Zimmer.
"Ihm nach, halten Sie ihn auf," rief die Sängerin, "führen Sie
ihn zurück, es gilt meine Seligkeit!
"Mitnichten, Wertgeschätzte," entgegnete Doktor Lange, indem
er sich aus seinem Lehnstuhl aufrichtete; "diese Szene darf nicht
fortgespielt werden. Ich will Ihnen etwas Niederschlagendes aufschreiben,
das Sie, alle Stunden zwei Eßlöffel voll, einnehmen
werden."
Die Unglückliche war in ihre Kissen zurückgesunken, ihre Kräfte
waren erschöpft; sie verlor das Bewußtsein von neuem.
Der Doktor rief das Mädchen und suchte mit ihrer Hilfe die
Kranke wieder ins Leben zurückzubringen, doch konnte er sich nicht
enthalten, während er die Essenzen einflößte, das Mädchen tüchtig
auszuschmälen. "Habe ich nicht befohlen, man solle niemand, gar
niemand hereinlassen, und jetzt läßt man diesen Wahnsinnigen zu,
der Ihr armes Fräulein beinahe zum zweitenmal ums Leben brachte!"
"Ich habe gewiß sonst niemand hereingelassen," sprach die Zofe
weinend: "aber ihn konnte ich doch nicht abweisen; sie schickte mich
ja schon heute dreimal in sein Haus, um ihn zu beschwören, nur auf
einen kleinen Augenblick zu kommen; ich mußte ja sogar sagen, sie
sterbe und wolle ihn vor ihrem Tode nur noch ein einziges Mal
sehen!"
"So? Und wer ist denn dieser —"
Die Kranke schlug die Augen auf. Sie sah bald den Doktor,
bald das Mädchen an; ihre Blicke irrten suchend durchs Zimmer.
Er ist fort, er ist auf ewig hin," flüsterte sie; "ach, lieber Doktor,
gehen Sie zu Bolnau!"
"Aber, mein Gott, was wollen Sie nur von meinem unglücklichen
Kommerzienrat? Er hat sich über Ihre Geschichte schon genug
alteriert, daß er zu Bette liegen muß; was kann denn er Ihnen
helfen?"
"Ach, ich habe mich versprochen," erwiderte sie, "zu dem fremden
Kapellmeister sollen Sie gehen; er heißt Bolani und logiert im Hotel
de Portugal."
"Ich erinnere mich, von ihm gehört zu haben," sprach der Doktor,
aber was soll ich bei diesem tun?"
"Sagen Sie ihm, ich wolle ihm alles sagen, er soll nur noch
einmal kommen —doch nein. ich kann es ihm nicht selbst sagen; Doktor,
wenn Sie ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen, ich will Ihnen alles
sagen, uns Daun sagen Sie es wieder dem Unglücklichen, nicht wahr?"
"Ich stehe zu Befehl: was ich zu Ihrer Beruhigung tun kann,
werde ich mit Freuden tun."
"Nun, so kommen Sie morgen früh; ich kann heute nicht mehr
so viel sprechen. Adieu, Herr Medizinalrat; doch noch ein Wort;
Babette, gib dem Herrn Doktor sein Tuch!"
Das Mädchen schloß einen Schrank auf und reichte dem Doktor
ein Tuch von gelber Seide, das einen starken, angenehmen Geruch
im Zimmer verbreitete,
"Das Tuch gehört nicht mir," sprach jener, "Sie irren sich, ich
führe nur Schnupftücher von Leinwand."
"Unmöglich!' entgegnete das Mädchen; " wir fanden es heute
nacht am Boden, ins Haus gehört es nicht, und sonst war noch niemand
da als Sie."
Der Doktor begegnete den Blicken der Sängerin, die erwartungsvoll
auf ihm ruhten. "Könnte nicht dieses Tuch jemand anderem
entfallen sein?" fragte er mit einem festen Blick auf sie.
"Zeigen Sie her," erwiderte sie ängstlich; "daran hatte ich noch
nicht gedacht." Sie untersuchte das Tuch und fand in der Ecke einen
verschlungenen Namenszug; sie erbleichte, sie fing an zu zittern.
"Es scheint, Sie kennen dieses Tuch und die Person, die es verloren
hat," fragte Lange weiter; "es könnte zu etwas führen; darf
ich es nicht mit mir nehmen? Darf ich Gebrauch davon machens"
Giuseppa schien mit sich zu kämpfen; bald reichte sie ihm da;
Tuch, bald zog sie es ängstlich und krampfhaft zurück. "Es sei," sagte
sie endlich; "und sollte der Schreckliche noch einmal kommen und
mein wundes Herz diesmal besser treffen, ich wage es; nehmen Sie
Doktor. Ich will Ihnen morgen Erläuterungen zu diesem Tuche
geben."
5.
Man kann sich denken, wie ausschließlich diese Vorfälle die Seele
des Medizinalrats Lange beschäftigten. Seine ausgebreitete Praxis
war ihm jetzt ebensosehr zur Last, als sie ihm vorher Freude gemacht
hatte; denn verhinderten ihn nicht die vielen Krankenbesuche, die
er vorher zu machen hatte, die Sängerin am andern Morgen recht
bald zu besuchen und jene Aufschlüsse und Erläuterungen zu vernehmen.
denen sein Herz ungeduldig entgegenpochte? Doch zu etwas
waren diese Besuche in dreißig bis vierzig Häusern gut; er konnte,
wie er zu sagen pflegte, hinhorchen, was man über die Fiametti sage,
vielleicht konnte er auch über ihren sonderbaren Liebhaber, den Kapellmeister
Bolani, eines oder das andere erfahren.
Über die Sängerin zuckte man die Achseln. Man urteilte um
so unfreundlicher über sie, je ärgerlicher man darüber war, daß so
lange nichts Offizielles und Sicheres über ihre Geschichte ins Publikum
kam. Ihre Neider — und welche ausgezeichnete Sängerin,
wenn sie dazu schön und achtzehn Jahre alt ist, hat deren nicht genug?
—ihre Neider gönnten ihr alles und machten hämische Bemerkungen;
die Gemäßigten sagten: "So ist es mit solchem Volke; einer Deutschen
wäre dies auch nicht passiert." Ihre Freunde beklagten sie und fürchteten
für ihren Ruf beinahe noch mehr als für ihre Gesundheit. Das
arme Mädchen! dachte Lange und beschloß, um so eifriger ihr zu
dienen.
Vom Kapellmeister wußte man wenig, weder Schlechtes, noch
Gutes. Er war vor etwa drei Vierteljahren nach B. gekommen,
hatte sich im Hotel de Portugal ein Dachstübchen gemietet und lebte
sehr eingezogen und mäßig. Erschien sich von Gesangstunden und
musikalischen Kompositionen zu nähren. Alle wollten übrigens etwas
überspanntem, Hochfahrendes an ihm bemerkt haben; die, welche
ihn näher kennen gelernt hatten, fanden ihn sehr interessant, und
schon mancher Musikfreund soll sich ein Kuvert an der Abendtafel
im Hotel de Portugal bestellt haben, nur um seine herrliche Unterhaltung
über die Musik zu genießen. Aber auch diese kamen dann
überein, daß es mit Bolani nicht ganz richtig sei; denn er vernachlässige
, verachte sogar den weiblichen Gesang, während er mit Entzücken
von Männerstimmen. besonders von Männerchören spreche.
Er hatte übrigens keinen näheren Bekannten, keinen Freund; von
seinem Verhältnis zur Sängerin Fiametti schien niemand etwas
zu wissen.
Den Kommerzienrat Bolnau fand er noch immer unwohl und
im Bette; er schien sehr niedergeschlagen und sprach mit unsicherer,
heiserer Stimme allerlei Unsinn über Dinge, die sonst gänzlich außer
seinem Gesichtskreise lagen. Er hatte eine Sammlung berühmter
Rechtsfälle um sich her, in welchen er eifrig studierte; die Frau
Kommerzienrätin behauptete, er habe die ganze Nacht dann gelesen
und hie und da schrecklich gewinselt und gejammert. Seine Lektüre
betraf besonders die unschuldig Hingerichteten, und er äußerte gegen
den Medizinalrat, es liege eigentlich für den Menschenfreund ein
großer Trost in der Langsamkeit der deutschen Justiz; denn es lasse
sich erwarten, daß, wenn ein Prozeß zehn oder mehrere Jahre daure,
die Unschuld doch leichter an den Tag komme, als wenn man heute
gefangen und morgen gehangen werde,
Die Sängerin Fiametti, für welche der Doktor endlich ein
Stündchen erübrigt hatte, war düster und niedergeschlagen, als sei
keine Hoffnung mehr für sie auf Erden. Ihr Auge war trübe, sie
mußte geweint haben. Die Wunde war über alle Erwartung gut,
aber mit ihrem zunehmenden körperlichen Wohlbefinden schien die
Ruhe und Gesundheit ihrer Seele zu schwinden. "Ich habe lange
darüber nachgedacht," sagte sie, "und fand, daß Sie, lieber Doktor.
doch auf höchst sonderbare Weise in mein Schicksal verwebt werden.
Ich kannte Sie vorher nicht; ich gestehe, ich wußte kaum, daß ein
Medizinalrat Lange in B. existiere. Und jetzt, da ich mit einem
Schlage so unglücklich geworden bin, sendet mir Gott einen so teilnehmenden,
väterlichen Freund."
"Mademoiselle Fiametti," erwiderte Lange, "der Arzt hat an
manchem Bette mehr zu tun, als nur den Puls an der Linken zu
fühlen, Wunden zu verbinden und Mixturen zu verschreiben. Glauben
Sie mir, wenn man so allein bei einem Kranken sitzt, wenn man den
innern Puls der Seele unruhig pochen hört, wenn man Wunden
verbinden möchte, die niemand sieht, da wird auf wunderbare Weise
der Arzt zum Freunde, und der geheimnisvolle Zusammenhang
zwischen Körper und Seele scheint auch in diesem Verhältnisse auffallend
zu wirken."
"So ist es," sprach Giuseppa, indem sie zutraulich seine Hand
faßte; "so ist es, und auch meine Seele hat einen Arzt gefunden. Sie
werden vielleicht viel für mich tun müssen. Es möchte sein, daß Sie
sogar vor den Gerichten in meinem Namen handeln müssen. Wenn
Sie einem armen Mädchen, das sonst gar keine Stütze hat, dieses
große Opfer bringen wollen, so will ich mich Ihnen entdecken."
"Ich will es tun," sprach der freundliche Alte, indem er ihre
Hand drückte.
"Aber bedenken Sie es wohl; die Welt hat meinen Ruf angegriffen
, sie klagt mich an, sie verdammt mich. Wenn nun die
Menschen auch auf Sie höhnisch mit den Fingern deuten, daß Sie
der verrufenen Sängerin, der schlechten Italienerin, ach! meiner
sich angenommen haben, werden Sie das ertragen können?"
"Ich will es," rief der Doktor mit Ernst. "Erzählen Sie!"
6.
"Mein Vater," erzählte die Sängerin, " war Antonio Fiametti,
ein berühmter Violinspieler, der Ihnen aus jüngeren Jahren nicht
unbekannt sein kann; denn sein Ruf hatte sich durch Konzerte, die
die er an Höfen und in großen Städten gab, überall verbreitet. Ich
kann mir ihn nur noch aus meiner frühesten Kindheit denken, wie er
mir die Skala vorgeigte, die ich schon im dritten Jahre sehr richtig
nachfang. Meine Mutter war zu ihrer Zeit eine vorzügliche Sängerin
gewesen und pflegte in den Konzerten meines Vaters einige Arien
und Kanzonetten vorzutragen. Ich war vier Jahre alt, als mein
Vater auf der Reise starb und uns in Armut zurückließ. Meine Mutter
mußte sich entschließen, durch Singen uns fortzubringen. Sie
heiratete nach einem Jahre einen Musiker, der ihr von Anfang sehr
geschmeichelt haben soll; nachher aber zeigte es sieh, daß er sie nur
geheiratet, um ihre Stimme zu benützen. Er wurde Musikdirektor
in W —b —g, einer kleinen deutschen Stadt in Frankreich, und da fing
erst unser Leiden recht an.
"Meine Mutter bekam noch drei Kinder und verlor ihre Stimme
so sehr, daß sie beinahe keinen Ton mehr singen konnte. Dadurch
war die größte Geldquelle meines Stiefvaters versiegt; denn seine
Konzerte waren nur durch meine Mutter glänzend und zahlreich
gewesen. Er plagte sie von jetzt an schrecklich; mir wollte er gar nicht
mehr zu essen geben, bis er endlich auf ein Mittel verfiel, mich brauchbar
zu machen. Er marterte mich ganze Tage lang und geigte mir
die schwersten Sachen von Mozart, Gluck, Rossini und Spontini ein,
die ich dann Sonntag abends mit großem Applaus absang; das arme
Schepperl, so hatte man meinen Namen Giuseppa verketzert, wurde
eines jener unglücklichen Wunderkinder, denen die Natur ein schönes
Talent zu ihrem größten Unglück gegeben hat; der Grausame ließ
mich alle Tage singen, er peitschte mich, er gab mir tagelang nichts
zu essen, wenn ich nicht richtig intoniert hatte; die Mutter aber konnte
meine Qualen nicht mehr lange sehen; es war, als ob ihr Leben in
ihren stillen Tränen dahinfließe; an einem schönen Frühlingsmorgen
fanden wir sie tot. Was soll ich Sie von meinen Marterjahren unterhalten
, die jetzt anfingen? Ich war elf Jahre alt und sollte die Haushaltung
führen, die kleinen Geschwister erziehen und dabei noch singen
lernen für die Konzerte! O, es war eine Qual der Hölle!
"Um diese Zeit kam oft ein Herr zu uns, der dem Vater immer
einen Sack voll Fünffrankenstücke mitbrachte. Ich kann nicht
ohne Grauen an ihn denken. Er war ein großer, hagerer Mann von
mittlerem Alter; er hatte kleine, blitzende, graue Augen, die ihn durch
ihren unangenehmen, stechenden Ausdruck vor allen Menschen, die
ich je gesehen, auszeichneten. Mich schien er besonders liebgewonnen
zu haben. Er lobte, wenn er kain, meine Größe, meinen Anstand,
mein Gesicht, meinen Gesang. Er setzte mich auf seine Knie, obgleich
mich ein unwillkürliches Grauen von ihm wegdrängte; er küßte mich
trotz meines Schreiens, er sagte wohlgefällig: ,Noch zwei — drei
Jahre, dann bist du fertig, Schepperl!' Und er und mein Stiefvater
brachen in ein wildes Lachen bei dieser Prophezeiung aus. An
meinem funfzehnten Geburtstag sagte mein Stiefvater zu mir
Höre, Schepperl, du hast nichts, du bist nichts, ich gebe dir nichts,
ich will nichts von dir, habe auch hinlänglich genug an meinen drei
übrigen Rangen; die Christel (meine Schwester) wird jetzt statt deiner
das Wunderkind. Was du hast, dein bißchen Gesang, hast du von mir,
damit wirst du dich fortbringen. Der Onkel in Paris will dich übrigens
aus Gnade in sein Haus aufnehmen.' — ,Der Onkel in Paris?
rief ich staunend; denn bisher wußte ich nichts von einem solchen.
Ja, der Onkel in Paris,' gab er zur Antwort, ,er kann alle Tage
kommen.
"Sie können sich denken, wie ich mich freute; es ist jetzt drei
Jahre her, aber noch heute ist die Erinnerung an jene Stunden so
lebhaft in mir, als wäre es gestern gewesen. Das Glück, aus dem
Hause meines Vaters zu kommen, das Glück, einen Onkel zu haben,
der sich meiner erbarme, das Glück, nach Paris zu kommen, wo ich
mir den Sitz des Putzes und der Seligkeit dachte, —ich war berauscht
von so vielem Glück; so oft ein Wagen fuhr, sah ich hinaus, ob nicht
der Onkel komme, mich in sein Reich abzuholen. Endlich fuhr eines
Abends ein Wagen vor unserem Hause vor. ,Das ist dein Onkel!'
rief der Vater; ich flog hinab, ich breitete meine Arme aus nach meinem
Erretter —grausame Täuschung! Es war der Mann mit den Fünffrankenstücken.
"Ich war beinahe bewußtlos in jenen Augenblicken; aber dennoch
vergesse ich die teuflische Freude nie, die aus seinen grauen
Augen blitzte, als er mich hoch aufgewachsen fand; noch immer klingt
mir seine krächzende Stimme in den Ohren: ,Jetzt bist du recht, mein
Täubchen; jetzt will ich dich einführen in die große Welt.' Er faßte
mich mit der einen Hand, mit der andern warf er einen großen Geldsack
auf den Tisch; der Sack fuhr auf, ein glänzender Regen von
Silber- und Goldstücken rollte auf den Boden; meine drei kleinen
Geschwister und der Vater jubelten, rutschten auf dem Boden umher
und lasen die Stücke auf, — es war — mein Kaufpreis.
"Schon den folgenden Tag ging es nach Paris. Der hagere
Mann —ich vermochte es nicht, ihn Onkel zu nennen — predigte
mir beständig vor, welch glänzende Rolle ich in seinen Salons spielen
werde. Ich konnte mich nicht freuen; eine Angst, eine unerklärliche
Bangigkeit waren an die Stelle meiner Freude, meines Glückes
getreten. Vor einem großen, erleuchteten Hause hielt der Wagen;
wir waren in Paris. Zehn bis zwölf schöne, allerliebste Mädchen
hüpften die breiten Treppen herab uns entgegen. Sie hetzten und
küßten mich und nannten mich Schwester Giuseppa; ich fragte den
Hagern: .Sind dies Ihre Töchter, mein Herr?' — ,Gui, es äons des
filles!' rief er lachend, und die Mädchen und die zahlreiche Dienerschaft
stimmten ein mit einem rohen, schallenden Gelächter.
"Schöne Kleider, prachtvolle Zimmer zerstreuten mich. Ich
wurde am folgenden Abend herrlich angekleidet; man führte mich
in den Salon. Die zwölf Mädchen saßen im schönsten Putz an
Spieltischen, auf Kanapees, am Flügel. Sie unterhielten sich mit
jungen und älteren Herren sehr lebhaft. Als ich eintrat, brachen alle
auf, gingen mir entgegen und betrachteten mich. Der Herr des Hauses
führte mich zum Flügel, ich mußte singen; allgemeiner Beifall wurde
mir zuteil. Man zog mich ins Gespräch, meine ungebildeten, halb
italienischen Ausdrücke galten für Naivität; man bewunderte mich,
ich erröte heute noch, mit welchen Worten mir man dieses sagte. So
ging es mehrere Tage herrlich und in Freuden. Ich lebte ungeniert,
ich hätte zufrieden leben können, wenn ich mich nicht höchst unbehaglich,
beinahe bänglich in diesem Hause, in dieser Gesellschaft
gefühlt hätte; in meiner naiven Unschuld glaubte ich, so sei nun einmal
die grobe Welt, und man müsse sich in ihre Sitten fügen. Eines
fiel mir jedoch auf. Als ich an einem Abend zufällig an der Treppe
vorbeiging, sah ich, daß die Herren, die uns besuchten, dem Portier
Geld gaben, dafür blaue oder rote Karten bekamen und solche einem
Bedienten vor dem Salon wieder übergaben. Ein junger Stutzer,
der an mir vorüberkam, wies mir mit zärtlichen Blicken eine dieser
roten Karten; ich weiß heute noch nicht, warum ich darüber errötete.
Aber hören Sie weiter, was sich bald zutrug!
"Sehen Sie, lieber Doktor, hier habe ich ein kleines unscheinbares
Papier. Diesem bin ich meine Rettung schuldig. Ich fand
es eines Morgens unter den Brötchen meines Frühstücks. Ich weiß
nicht, von welcher gütigen Hand es kam; aber möge der Himmel das
Herz belohnen, das sich meiner erbarmte. Es lautet:
'Das Haus, welches Sie bewohnen, ist ein Freudenhaus; die
Damen, die Sie um sich sehen, sind Freudenmädchen; sollten wir
uns in Giuseppa geirrt haben? Wird sie einen kurzen Schimmer Von
Glück mit langer Reue erkaufen wollen?'
"Es war ein schreckliches Licht, es drohte, mich völlig zu erblinden;
denn es zerriß beinahe zu plötzlich meinen unschuldigen
Kindersinn und den Traum Von einer unbesorgten, glücklichen Lage.
Was war zu tun? Ich hatte in meinem Leben noch nicht gelernt,
Entschlüsse zu fassen. Der Mann, dem dieses Haus gehörte, war mir
wie ein fürchterlicher Zauberer, der jeden meiner Gedanken lesen
könne, der jetzt schon darum wissen müsse, was ich erfahren. Und
dennoch wollte ich lieber sterben, als noch einen Augenblick hier verweilen
. —Ich hatte ein Mädchen geradeüber von unserer Wohnung
zuweilen Italienisch sprechen hören; ich kannte sie nicht, — aber
kannte ich denn sonst jemand in dieser ungeheuren Stadt? Diese
vaterländischen Klänge erweckten Zutrauen in mir; zu ihr wollte
ich flüchten, ich wollte sie auf den Knien anflehen, mich zu retten.
"Es war sieben Uhr frühe' ich war meiner ländlichen Gewohnheit
treu geblieben, stand immer frühe auf und pflegte gleich nachher
zu frühstücken, und dies rettete mich. Um diese Zeit schliefen noch
alle, sogar ein großer Teil der Domestiken. Nur der Portier war
zu fürchten. Doch — konnte er denken, daß jemand aus diesem
Tempel der Herrlichkeit entfliehen werde? Ich wagte es; ich warf
mein schwarzes, unscheinbares Mäntelchen um, ich eilte die Treppe
hinab; meine Knie schwankten, als ich an der Loge des Portiers
vorbeiging; er bemerkte mich nicht; drei Schritte, und ich war frei.
"Rechts über die Straße hinüber wohnte das italienische Mädchen.
Ich sprang über die breite Straße; ich pochte am Haus, ein
Diener öffnete. Ich fragte nach der Signora mit dem schwarzen
Lockenköpfchen, die Italienisch spreche. Der Diener lachte und sagte,
ich meine wohl die kleine Exzellenza Seraphine. ,Dieselbe, dieselbe,
antwortete ich, ,führen Sie mich geschwind zu ihr!' Er schien anfangs
Bedenken zu tragen, weil es noch so früh am Tag sei, doch meine
Bitten überredeten ihn. Er führte mich in dem zweiten Stock in ein
Zimmer, hieß mich warten und rief dann eine Zofe, der Exzellenza
mich zu melden. Ich hatte mir gedacht, das hübsche italienische
Mädchen werde meines Standes sein; ich schämte mich, einer Höheren
mich zu entdecken; aber man ließ mir keine Zeit, mich zu besinnen;
die Zofe erschien, mich vor das Bett ihrer Gebieterin zu führen. Ja,
sie war es, es war die schöne junge Dame, die ich hatte Italienisch
sprechen hören. Ich stürzte vor ihr nieder und flehte sie um ihren
Schutz an; ich mußte ihr meine ganze Geschichte erzählen. Sie schien
gerührt und versprach, mich zu retten. Sie ließ den Diener, der mich
heraufgeführt hatte, kommen und legte ihm das strengste Stillschweigen
auf; dann wies sie mir ein kleines Stübchen an, dessen
Fenster in den Hof gingen, gab mir zu arbeiten und zu lesen, und so
lebte ich mehrere Tage in Freude über meine Rettung, in Angst über
meine Zukunft.
"Es war da: Haus des Gesandten eines kleinen deutschen Hofes,
in welches ich aufgenommen war. Die Exzellenza war seine Nichte,
eine geborene Italienerin, die bei ihm in Paris erzogen worden war.
Sie war ein gütiges, liebenswürdiges Geschöpf, dessen Wohltaten
ich nie vergessen werde. Sie kam alle Tage zu mir und tröstete mich;
sie sagte mir, daß der Gesandte durch seine Bedienten in dem Hause
des argen Mannes nachgeforscht habe. Man sei sehr in Bestürzung,
suche es aber zu verbergen. Die Diener drüben flüstern geheimnisvoll
, es habe sich eine Mamsell aus einem Fenster des zweiten Stocks
in den Kanal der Seine gestürzt. Sonderbare Fügung! Mein Zimmer
war ein Eckzimmer und sah mit der einen Seite nach der Straße, die
andere ging schroff hinab in einen Kanal. Ich erinnerte mich, an
jenem Morgen ein Fenster dieser Seite geöffnet zu haben; wahrscheinlich
war es offen geblieben, und so mochte man sich mein
Verschwinden erklären. Signora Seraphina sollte um diese Zeit
nach Italien zurückkehren, sie war so gütig, mich mitzunehmen. Ja,
sie tat noch mehr für mich; sie bewog ihre Eltern in Piacenza, daß
sie mich wie ihr Kind in ihr Haus aufnahmen; sie ließ mein Talent
ausbilden, ihr habe ich Freiheit, Leben, Kunst, o! vielleicht mehr,
als ich weiß, zu danken. In Piacenza lernte ich den Kapellmeister
Bolani, der übrigens kein Italiener ist, kennen; er schien mich zu
lieben, aber er sagte es mir nicht. Ich nahm bald nachher den Ruf
an das hiesige Theater an. Man schätzte mich hier, man hat mir sonst
wohlgewollt, mein Leben und mein Ruf waren unsträflich, ach, ich
habe in dieser langen Zeit nie einen Mann bei mir gesehen, als —
ich kann Ihnen dieses schöne Verhältnis ohne Erröten gestehen —als
Bolani, der mir bald hieher nachgereist war. Sie haben mein Leben
jetzt gehört; sagen Sie mir, habe ich etwas getan, um so bittere Strafe
zu verdienen? Habe ich so Entsetzliches verschuldet?"7.
Als die Sängerin geendet hatte, ergriff der Medizinalrat Lange
ihre Hand. "Ich wünsche mir Glück," sagte er, "den wenigen guten
Menschen, die Sie auf Ihrem Lebenswege gefunden haben, beitreten
zu können. Meine Kräfte sind zwar zu schwach, um für Sie
tun zu können, was die treffliche kleine Exzellenza für Sie tat; aber
ich will suchen, Ihr trauriges Geschick entwirren zu helfen; ich will
den Brausewind, Ihren Freund, zu versöhnen suchen. Aber sagen
Sie mir nur, was ist denn Herr Bolani eigentlich für ein Landsmann "
—
"Da fragen Sie mich zu viel," erwiderte sie ausweichend; "ich
weiß nur, daß er ein Deutscher von Geburt ist und, wenn ich nicht
irre, wegen Familienverhältnissen vor mehreren Jahren sein Vaterland
verließ. Erhielt sich in England und Italien auf und kam vor
etwa drei Vierteljahren hieher."
"So, so? Aber warum haben Sie ihm das, was Sie mir erzählten
, nicht schon früher selbst gesagt?"
Giuseppa errötete bei dieser Frage; sie schlug die Augen nieder
und antwortete: "Sie sind mein Arzt, mein väterlicher Freund, es
ist mir, wenn ich zu Ihnen spreche, als spräche ein Kind zu seinem
Vater. — Aber konnte ich denn dem jungen Manne von diesen
Dingen erzählen? Und ich kenne ja seine schreckliche Eifersucht, seinen
leicht gereizten Argwohn; ich konnte es nie über mich vermögen, ihm
zu sagen, welchen Schlingen ich entflohen war,"
"Ich ehre, ich bewundere Ihr Gefühl; Sie sind ein gutes Kind;
glauben Sie mir, es tut einem alten Manne wohl, auf solche dezente
Gefühle aus der alten Zeit zu stoßen; denn heutzutage gilt es für
guten Ton, sich über dergleichen wegzusetzen. Aber noch haben Sie
mir nicht alles erzählt; der Abend auf der Redoute, jene schreckliche
"ES ist wahr, ich muß Ihnen noch weiter sagen. Ich habe, so
oft ich im stillen über meine Rettung nachdachte, die Vorsehung gepriesen
, daß man in jenem Hause glaubte, ich habe mich selbst getötet;
denn es war mir nur zu gewiß, daß, wenn jener Schreckliche
nur die entfernte Ahnung von meinem Leben habe, er kommen
würde, sein Opfer zurückzuholen oder es zu verderben; denn er
mochte manches Fünffrankenstück für mich bezahlt haben. Deswegen
habe ich, solange ich in Piacenza war, manches schöne Anerbieten
zu Theatern abgelehnt, weil ich mich scheute, öffentlich aufzutreten.
Als ich aber etwa anderthalb Jahre dort war, brachte mir
eines Morgens Seraphina ein Pariser Zeitungsblatt, wonn der Tod
des Chevalier de Planto angezeigt war."
"Chevalier de Plantae unterbrach sie der Arzt; "hieß so jener
Mann, der Sie an:, dem Hause Ihres Stiefvaters führte?"
"So hieß er. Ich war voll Freude, meine letzte Furcht war verschwunden
, und es stand nichts mehr im Wege, meiner Wohltäterin
nicht mehr beschwerlich zu fallen. Schon einige Wochen nachher
kam ich nach B. Ich ging vorgestern abend auf die Redoute; ich will
Ihnen nur gestehen, daß ich recht freudig gestimmt war. Bolani
durfte nicht wissen, in welchem Kostüm ich erscheinen würde; ich
wollte ihn necken und dann überraschen. Auf einmal, wie ich allein
durch den Saal gehe, flüsterte eine Stimme in mein Ohr: .Schepperl!
was macht dein Onkel?' Ich war wie niedergedonnert; diesen Namen
hatte ich nicht mehr gehört, seit ich den Händen jenes Fürchterlichen
entgangen war. Mein Onkel! Ich hatte ja keinen, und nur einer
hatte gelebt, der sich vor der Welt dafür ausgab, der Chevalier de
Planto. Ich hatte kaum so viel Fassung, zu erwidern: ,Du irrst dich,
Maske!' Ich wollte hinwegeilen, mich unter das Gewühl der Menge
verbergen; aber die Maske schob ihren Arm in den meinigen und hielt
mich fest. ,Schepperl!' sprach der Unbekannte, ,ich rate dir, ruhig
neben mir herzugehen, sonst werde ich den Leuten erzählen, in welcher
Gesellschaft du dich früher umhergetrieben.' Ich war vernichtet, es
wurde Nacht in meiner Seele; nur ein Gedanke war in mir lebhaft,
die Furcht vor der Schande. Was konnte ich armes, hilfloses Mädchen
machen, wenn dieser Mensch, wer er auch sein mochte, solche Dinge
von mir aussagte? Die Welt würde ihm geglaubt haben, und Carlo!
ach, Carlo wäre nicht der letzte gewesen, der mich verdammt hätte.
Ich folgte dem Mann an meiner Seite willenlos. Er flüsterte mir
die schrecklichsten Dinge zu; meinen Onkel, wie er den Chavalier
nannte, habe ich unglücklich gemacht, meinen Vater, meine Familie
ins Verderben gestürzt. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich riß
mich los und rief nach meinem Wagen. Als ich mich aber auf der
Treppe umsah, war diese schreckliche Gestalt mir gefolgt. .Ich fahre
mit dir nach Hause, Schepperl', sprach er mit schrecklichem Lacken;
ich habe noch ein paar Worte mit dir zu reden.' Die Sinne vergingen
mir, ich fühlte, daß ich ohnmächtig wurde, ich erwachte erst wieder
im Wagen, die Maske saß neben mir. Ich stieg aus und ging auf
mein Zimmer, er folgte; er fing sogleich wieder an zu reden; in der
Todesangst, ich möchte verraten werden, schickte ich Babette hinaus.
'Was willst du hier, Elender?' rief ich, voll Wut, mich so beleidigt
zu sehen. .Was kannst du von mir Schlechtes sagen? Ohne
meinen Willen kam ich in jenes Haus; ich verließ es, als ich sah, was
dort meiner warte.
'Schepperl, mache keine Umstände! Es gibt nur zwei Wege,
dich zu retten. Entweder zahlst du auf der Stelle zehntausend Franken,
sei es in Juwelen oder Gold, oder du folgst mir nach Paris; sonst
weiß morgen die ganze Stadt mehr von dir, als dir lieb ist.' Ich
war außer mir. ,Wer gibt dir dieses Recht, mir solche Zumutungen
zu machen?' rief ich. ,Wohlan! sage der Stadt, was du willst; aber
auf der Stelle verlasse dieses Haus! Ich rufe die Nachbarn.
"Ich hatte einige Schritte gegen das Fenster getan; er lief mir
nach, packte meinen Arm. .Wer mir das Recht gibt?' sprach er. .Dein
Vater, Täubchen, dein Vater.' Ein teuflisches Lachen tönte aus
seinem Mund, der Schein der Kerze fiel auf ein Paar graue, stechende
Augen, die mir nur zu bekannt waren. In demselben Moment war
mir klar, wen ich vor mir hatte; ich wußte jetzt, daß sein Tod nur ein
Blendwerk war, das er zu irgendeinem Zweck erfunden hatte; die
Verzweiflung gab mir übernatürliche Kraft; ich rang mich los, ich
wollte ihm seine Maske abreißen. ,Ich kenne Euch, Chevalier de
Planto,' rief ich, .aber Ihr sollt den Gerichten Rechenschaft über mich
geben müssen.' — ,Soweit sind wir noch nicht, Täubchen,' sagte er,
und in demselben Augenblick fühlte ich sein Eisen in meiner Brust; ich
glaubte zu sterben —
Der Doktor schauderte; es war heller Tag, und doch graute ihm,
wie wenn man im Dunkeln von Gespenstern spricht. Er glaubte, das
heisere Lachen dieses Teufels zu hören; er glaubte, hinter den Gardinen
des Bettes die grauen, stechenden Augen dieses Ungeheuers
glänzen zu sehen. "Sie glauben also," sagte er nach einer Weile, "daß
der Chevalier nicht tot ist, daß es derselbe ist, der Sie ermorden wollte?"
"Seine Stimme, sein Auge überzeugten mich; das Tuch, das ich
Ihnen gestern gab, machte es mir zur Gewißheit. Die Anfangslettern
seines Namens sind dort eingezeichnet."
"Und geben Sie mir Vollmacht, für Sie zu handeln? Darf ich
alles, was Sie mir sagten, selbst vor Gericht angeben?"
"Ich habe keine Wahl, alles! Aber nicht wahr, Doktor, Sie
gehen zu Bolani und sagen ihm, was ich Ihnen sagte? Er wird Ihnen
glauben, er kannte auch ja Seraphine."
"Und darf ich nicht auch wissen," fuhr der Medizinalrat fort,
"wie der Gesandte hieß, in dessen Haus Sie sich verbargen?"
"Warum nicht? Es war ein Baron Martenow."
"Wie?" rief Lange in freudiger Bewegung. "Der Baron Martenow?
Ist er nicht in . . . . sahen Diensten?"
"Ja, kennen Sie ihn? Er war Gesandter des . . . scheu Hofes
in Pans und nachher in Petersburg."
"O, dann ist es gut, sehr gut," sagte der Medizinalrat und rieb
sich freudig die Hände. "Ich kenne ihn, er ist seit gestern hier; er hat
mich rufen lassen; er wohnt im Hotel de Portugal."
Eine Träne blinkte in dem Auge der Sängerin, und von frommen
Empfindungen schien ihr Herz bewegt. "So mußte ein Mann,"
sagte sie, "den ich viele hundert Meilen entfernt glaubte, hierher
kommen, um die Wahrheit meiner Erzählung zu bekräftigen! Gehen
Sie zu ihm; ach, daß auch Carlo zuhören könnte, wenn er Ihnen versichert
, daß ich die Wahrheit sprach!"
"Er soll es, er soll mit mir, ich will es schon machen. Adieu,
gutes Kind; seien Sie recht ruhig, es muß Ihnen noch gut gehen auf
Erden, und nehmen Sie doch die Mixtur recht fleißig, alle Stunden
zwei Löffel voll!" So sprach der Doktor und ging. Die Sängerin
aber dankte ihm durch ihre freundschaftlichsten Blicke. Sie war ruhiger
und heiter; es war, als habe sie eine große Last mit ihrem Geheimnis
hinweggewälzt. Sie sah vertrauensvoller in die Zukunft; denn ein
gütiges Geschick schien sich des armen Mädchens zu erbarmen.
8.
Der Baron Martenow, dem Lange früher einmal einen wichtigen
Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte, nahm ihn freundlich
auf und gab ihm über die Sängerin Fiametti die genügendsten Aufschlüsse
. Er bestätigte nicht nur beinahe wörtlich ihre Erzählung, sondern
er brach auch in die lauteste Lobeserhebung ihres Charakters
aus; ja, er versprach, wohin er in dieser Stadt kommen würde, überall
zu ihren Gunsten zu sprechen und die Gerüchte zu widerlegen,
die über sie im Umlauf waren. Er hat auch Wort gehalten; denn
hauptsächlich seinem Ansehen und der edelmütigen Art, womit er
sich der Italienerin annahm, schrieben es ihre Freunde zu, daß die
Gesinnungen des Publikums über sie in wenigen Tagen wie durch
einen Zauberschlag sich änderten. Der Medizinalrat Lange aber stieg
an jenem Tage, als er vom Gesandten kam, aus der Beletage des
Hotels de Portugal noch einige Treppen höher, in die Mansarden;
in Nr. 54 sollte der Kapellmeister wohnen. Erstand vor der Türe
still, um Atem zu schöpfen; denn die steilen Treppen hatten ihn angegriffen
. Sonderbare Töne drangen aus dieser Türe in sein Ohr.
Es schien ein Schwerkranker dann zu sein; denn er vernahm ein
tiefes Stöhnen und Seufzen, das aus hohler Brust aufzusteigen schien.
Dann klangen wieder schreckliche französische und italienische Flüche
dazwischen, wie wenn Ungeduld dem Jammer Luft machen will,
und ein heiseres Lachen der Verzweiflung bildete wieder den Übergang
zu jenen tiefen Seufzern. Der Medizinalrat schauderte. "Habe
ich doch schon neulich etwas weniges Wahnsinn an dem Maestro verspürt
," dachte er, "sollte er vollends übergeschnappt sein, oder ist er
krank geworden aus Schmerz?" Er hatte schon den Finger gekrümmt,
um anzuklopfen, als sein Blick noch einmal auf die Nummer der Türe
fiel; es war Nr. 53. Wie hatte er sich doch täuschen können; fast wäre
er zu einem ganz fremden Menschen eingetreten. Unwillig über sich
selbst ging er eine Türe weiter; hier war erst 54; hier lautete es auch
ganz anders. Eine tiefe, schöne Männerstimme sang ein Lied, begleitet
von dem Pianoforte; der Medizinalrat trat ein; es war jener
junge Mann, den er gestern bei der Sängerin gesehen.
Im Zimmer lagen Notenblätter, Gitarren, Violinen, Saiten
und anderer Musikbedarf umher, und mitten unter diesen Trümmern
stand der Kapellmeister in einem weiten, schwarzen Schlafrock, eine
rote Mütze auf dem Kopf und eine Notenrolle in der Hand; der Doktor
hat nachher gestanden, es sei ihm bei seinem Anblick Marius auf den
Trümmern Von Karthago eingefallen.
Der junge Mann schien sich seiner von gestern zu erinnern und
empfing ihn beinahe finster; doch war er so artig, einen Stoß Notenblätter
mit einem Ruck von einem Sessel auf den Boden zu werfen,
um seinem Besuche Platz anzubieten; er selbst stieg mit großen Schritten
im Zimmer umher, und sein fliegender Schlafrock nahm geschickt
den Staub von Tischen und Büchern.
Er ließ den Medizinalrat nicht zum Wort gelangen, er überschrie
ihn. "Sie kommen von ihr?" rief er. "Schämen sich Ihre grauen
Haare nicht, der Kuppler eines solchen Weibes zu werden? Ich will
nichts mehr hören; ich habe mein Glück zu Grabe getragen; Sie sehen,
ich traure um meine Seligkeit; ich habe einen schwarzen Schlafrock
an —schon dies sollte Ihnen, wenn Sie sich entfernt auf Psychologie
verstehen, ein Zeichen sein, daß ich jene Person für mich als gestorben
ansehe. O Giuseppa, Giuseppa!"
"Wertester Herr Kapellmeister," unterbrach ihn der Doktor, "so
hören Sie mich nur an —"
Hören? Was wissen Sie von Hören? Lauschen Sie, wenn Sie
von Hören sprechen ich will prüfen, ob du Gehör hast, Alter! Siehe,
das ist das Weib," fuhr er fort, indem er den Flügel aufriß und einiges
spielte, das übrigens dem Doktor, der kein großer Musikkenner war,
vorkam wie andere Musik auch. "Hören Sie dieses Weiche, Schmelzende,
Anschmiegende? Aber bemerken Sie nicht in diesen Übergängen
das unzuverlässige, flüchtige, charakterlose Wesen dieser Geschöpfe?
Aber hören Sie weiter," sprach er mit erhobener Stimme
und glänzendem Auge, indem er die weiten Ärmel des Trauerschlafrockes
zurückschüttelte; " wo Männer wirken, ist Kraft und Wahrheit;
hier kann nichts Unreines aufkommen, sind heilige, göttliche Laute!"
Er hämmerte mit großer Macht auf den Tasten umher; aber dem
Doktor wollte es wieder bedünken, als sei dies nur ganz gewöhnliche
Musik.
"Sie haben da eine sonderbare Charakteristik der Menschen,"
sagte er; "da wir doch einmal so weit sind, dürfte ich Sie nicht bitten,
Verehrter, daß Sie mir auch einmal einen Medizinalrat auf dem
Klavier vorstellten?"
Der Musiker sah ihn verächtlich an. "Wie magst du nur mit
einem schlechten, quiekenden Fis hereinfahren, Erdenwurm, wenn
ich den herrlichen, strahlenwerfenden C-Akkord anschlage!"
Die Antwort des Doktors wurde durch ein Klopfen an der Türe
unterbrochen; eine kleine, verwachsene Figur trat herein, machte eine
Reverenz und sprach: "Der kranke Herr auf Nr. 53 läßt den Herrn
Kapellmeister höflichst ersuchen, doch nicht so gar erschrecklich zu hantieren
und zu haselieren, wasmaßen derselbe von gar schwacher Konstitution
und dem zeitlichen Hinscheiden nahe ist."
"Ich lasse dem Herrn meinen gehorsamsten Respekt vermelden,"
erwiderte der junge Mann, "und meinetwegen könne er abfahren.
wenn es ihm gefällig. Es graut mir ohnedies alle Nacht vor seinem
Jammern und Stöhnen, und das Greulichste sind mir seine gottlosen
Flüche und sein tolles Lachen. Meint vielleicht der Franzose, er sei
allein Herr im Hotel de Portugal? Geniert er mich, so geniere ich
ihn wieder."
"Aber verzeihen Euer Hochedelgeboren," sagte der verwachsene
Mensch, " er treibt's nicht mehr lange; wollen Sie ihm nicht die letzten
Augenblicke —"
"Ist er so gar krank, der Herr?" fragte der Medizinalrat teilnehmend.
"Was fehlt ihm ? Wer behandelt ihn ? Wer ist er
"Wer er ist, weiß ich gerade nicht; ich bin der Lohnlakai; ich
denke, er nennt sich Lorier und ist aus Frankreich; vorgestern war
er noch wohlauf, aber etwas melancholisch; denn er ging gar nicht
aus, hatte auch keine Lust, die Merkwürdigkeiten hiesiger Stadt zu
inspizieren; aber am andern Morgen fand ich ihn schwer krank im
Bette. Es scheint, er hat in der Nacht einen Schlaganfall bekommen.
Aber um alle Welt will er keinen Arzt. Er flucht gräßlich, wenn ich
frage, ob ich nicht einen zu ihm führen solle. Er pflegt und verbindet
sich selbst; ich glaube, er hat auch eine alte Schußwunde aus dem
Kriege, die jetzt wieder aufgegangen ist."
Man hörte in diesem Augenblicke den Kranken nebenan mit
heiserer Stimme rufen und einige Verwünschungen ausstoßen. Der
Lohnlakai schlug drei Kreuze und flog hinüber.
Der Doktor versuchte noch einmal, ob seine Reden bei dem verstockten
Liebhaber keinen Eingang fänden, und wirtlich schien es diesmal
zu gelingen. Jener hatte eine Partitur in die Hand genommen,
aus welcher er mit leiser Stimme vor sich hinsang; der Doktor benutzte
diese ruhigere Stimmung und fing an, ihm das Leben der
Sängerin zu erzählen. Anfangs schien der Kapellmeister nicht darauf
zu achten; er las emsig in seiner Partitur und tat, als sei außer ihm
niemand im Zimmer; nach und nach aber wurde er aufmerksamer.
Er hörte auf zu singen; bald hob sich zuweilen sein Auge über die Partitur
und streifte prüfend über des Doktors Gesicht, dann ließ er das
Notenheft sinken und sah den Erzähler fest an; sein Interesse schien
mehr und mehr zu wachsen, seine Augen glänzten, er rückte näher, er
faßte den Arm des Mediziners, und als dieser seine Erzählung schloß,
sprang er in großer Bewegung auf und rannte im Zimmer auf und
nieder. "Ja," rief er, "es liegt Wahrheit Darin, ein Schein von Wahrheit
, eine Wahrscheinlichkeit; es ist möglich, es könnte etwa so gewesen
sein; Teufel! könnte es nicht auch eine Lüge sein?"
"Das heißt man, glaube ich, decrescendo in Ihrer werten Kunst,
Herr Kapellmeister; aber warum denn bei dieser Sache so von der
Wahrheit bis zur Lüge herabsteigen? Wenn ich Ihnen nun einen
Bürgen für die Wahrheit stellte, Maestro, wie dann?"
Bolani blieb sinnend vor ihm stehen: "Ha, wer dieses könnte,
Medizinalrat! In Gold wollte ich dich fassen. Schon der Gedanke
verdient, groß und königlich belohnt zu werden! Ja, wer mir Bürge
wäre ! — Es ist alles so finster — verworrene Labyrinthe — kein
leitendes Gestirn!"
"Wertgeschätzter Freund," unterbrach ihn der Doktor; "ich ertappe
Sie hier auf einer Reminiszenz aus Schillers Räubern, so in
der Cottaschen Taschenausgabe pagina 175 stehet, wenn ich mich
recht erinnere. Demungeachtet weiß ich einen solchen Bürgen, ein
solches leitendes Gestirn."
"Ha, wer mir einen solchen gäbe!" rief jener. "Er sei mein
Freund, mein Engel, mein Gott — ich will ihn anbeten!"
"Es ist zwar in der angeführten Stelle von einem Schwert die
Rede, womit man der Otternbrut eine brennende Wunde versetzen
will; nichtsdestoweniger aber will ich Sie überzeugen; jener Gesandte,
der die arme Giuseppa in seinem Hause aufnahm, logiert zufällig
hier im Hause auf Nr. 6; belieben Sie einen Frack anzuziehen und
ein Halstuch umzuknüpfen, so werde ich Sie zu ihm führen; er hat
mir versprochen, Sie zu überzeugen."
Der junge Mann drückte gerührt die Hand des Arztes; doch
auch jetzt konnte er ein gewisses erhabenes Pathos nicht verbergen.
"Ihr wart mein guter Engel," sagte er; "wie vielen Dank bin ich für
diesen Wink Euch schuldig! Ich fahre nur geschwind in meinen Frack,
und sogleich folg' ich Euch zu dem Gesandten.
9.
Die Aussöhnung mit dem Geliebten schien beinahe noch von
größerer Wirkung auf die Sängerin zu sein als die kunstreichsten
Tränklein ihres Arztes. Ihre Gesundheit besserte sich in den nächsten
Tagen zusehends, und bald war sie so weit hergestellt, daß sie die Besuche
ihrer teilnehmenden Freunde außer dem Bette empfangen
konnte. Diese Wendung ihres Zustandes mochte der Direktor der
Polizei abgewartet haben, um die Sache weiter zu verfolgen. Er
war ein umsichtiger Mann, und der Ruf sagte von ihm, daß ihm nicht
leicht einer entgangen, auf den er einmal sein Auge geworfen, sollte
er auch hundert und mehrere Meilen von ihm entfernt sein. Von
dem Medizinalrat war ihm die Geschichte der Sängerin mitgeteilt
worden; er hatte sodann mit dem Baron Martenow noch weitere
Rücksprache genommen und einiges erfahren, was ihm von großem
Interesse schien. Der Gesandte hatte ihm nämlich gestanden, daß er
damals von dem Vorfall mit der jungen Fiametti Gelegenheit
nommen, das ruchlose Leben des Chevalier de Planto höheren Ortes
zu berühren. Er hatte nicht versäumt, hauptsächlich den Umstand,
daß jenes arme Sind eigentlich verkauft wurde, ins rechte Licht zu
setzen. Jenes berüchtigte Haus wurde kurze Zeit darauf von der Polizei
aufgehoben, und der Baron schien dies hauptsächlich den Schritten
, die er in der Sache getan, zuzuschreiben. Auch hatte er von dem
Tode des Chevaliers gehört, glaubte aber mit dem Polizeidirektor,
daß dies nur ein kunstgriff gewesen sei, um sein Gewerbe sicherer
fortzusetzen; denn beide hegten keinen Zweifel, jener Mordversuch
an der Sängerin könne nur von diesem schrecklichen Menschen herrühren.
Wie schwer war es aber, der Spur dieses Mörders zu folgen;
die Fremden, die sich damals in B. aufhielten, waren, wie der Direktor
versicherte, alle unverdächtig; nur zwei Umstände konnten zu Gewisserem
führen; das Schnupftuch, welches sich im Zimmer der
Fiametti gefunden hatte, konnte, wenn man irgendwo ein ähnliches
sah, zur Entdeckung leiten; es war daher die genaueste Beschreibung
davon in den Händen aller jener Näherinnen und Waschfrauen,
welche die Garderobe der Fremden in B. zu besorgen pflegten. Sodann
glaubte der Direktor aus psychologischen Gründen annehmen
zu können, daß ein zweiter Versuch auf das Leben der Sängerin bald
folgen würde, im Falle sich der Mörder noch in der Nähe aufhalte.
Sobald daher die Sängerin wieder bei Kräften war, begleitete
der Direktor der Polizei den Doktor Lange, so oft er sie besuchte;
wurden dort manche Maßregeln besprochen; manche schien gut, aber
nicht wohl auszuführen, manche wurde geradehin verworfen. Giuseppa
selbst kam endlich auf einen Gedanken, der den beiden Männern
sehr einleuchtete. "Der Doktor," sagte sie, "hat mir erlaubt, in der
nächsten Woche wieder auszugehen; wenn er nichts dagegen hat,
würde ich auf der letzten Redoute des Karnevals zuerst wieder unter
den Leuten erscheinen; es hat etwas Anziehendes für mich, mich dort,
wo mein Unglück eigentlich anfing, zum erstenmal zu zeigen. Wenn
wir dafür sorgen, daß dies in B. hinlänglich bekannt wird, und wenn
der Chevalier noch hier ist, so bin ich wie von meinem Leben überzeugt,
daß er unter irgendeiner Maske sich wieder in meine Nähe drängt.
Er wird sich zwar hüten zu sprechen, er wird durch nichts sich verraten,
, aber seine Anschläge auf mein Leben wird er nicht ruhen lassen,
und ich will ihn aus Tausenden erkennen. Seine Größe, seine Gestalt
, vor allem seine Augen werden mir ihn kenntlich machen. Was
meinen Sie, meine Herren?"
Der Plan schien nicht übel. "Ich wollte wetten," sagte der Direktor,
" wenn er erfährt, Sie kommen auf diesen Ball, so bleibt er
nicht aus; sei es auch nur, um den Gegenstand seiner Rache wiederzusehen
und seiner Wut neue Nahrung zu geben. Ich denke übrigens,
Sie sollten keine Larve vors Gesicht nehmen; er wird Sie dann um
so leichter erkennen, um so eher in Ihre Nähe, in seine Falle gehen;
ich werde ein paar tüchtige Bursche in Dominos stecken und sie
Ihnen zur Eskorte geben; auf ein Zeichen von Ihnen soll der alte
Fuchs gefangen sein.
Babette, das Kammermädchen der Sängerin, war während
dieses Gespräches ab- und zugegangen; sie hatte gehört, wie ihre
Dame entschlossen sei, den Mörder oder seine Gehilfen ausfindig zu
machen; sie glaubte, es sich selbst schuldig zu sein, nach Kräften zu
dieser Entdeckung beizutragen. Sie paßte daher den Direktor ab,
faßte sich ein Herz und sagte, sie habe schon neulich den Doktor auf
einen Umstand aufmerksam gemacht, der zur Entdeckung führen
könnte, er scheine aber nicht darauf zu achten,
"Kein Umstand ist bei solchen Vorfällen gering, meine liebe
Kleine," antwortete ihr der Mann der Polizei; " wenn Sie irgend
etwas wissen —"
"Ich glaube fast, Signora ist zu diskret oder will nicht recht mit
der Sprache heraus; als sie den Stich bekam und in meinen Armen
ohnmächtig wurde, war ihr letzter Seufzer — Bolnau."
"Wie?" rief der Direktor entrüstet, "und das verschwieg man
mir bis jetzt? Einen so wichtigen Umstand! Haben Sie auch recht
gehört? Bolnau?"
"Auf meine Ehre," sagte die Kleine und legte die Hand beteuernd
auf das Herz. "Bolnau sagte sie, und so schmerzlich, daß ich
nicht anders glaube, als so heißt der Mörder; aber bitte, verraten Sie
mich nicht!"
Der Direktor hatte den Grundsatz, daß kein Mensch, er sehe so
ehrlich aus, als er wolle, zu gut zu einem Verbrechen sei. Der Kommerzienrat
Bolnau, und einen anderen wußte er nicht in dieser Stadt,
war ihm zwar als ein geordneter Mann bekannt, aber —hatte man
nicht Beispiele, daß gerade solche Leute, denen man vor der Welt
nichts nachsagen konnte, der Justiz am meisten zu schaffen machten?
Konnte er nicht mit diesem Chevalier de Planto unter einer Decke
spielen? Ersetzte unter diesen Betrachtungen seinen Weg weiter fort,
er näherte sich der Breiten Straße, es fiel ihm bei, daß um diese Zeit
der Kommerzienrat sich dort zu ergehen pflegte; er beschloß, ihm ein
wenig scharf auf den Zahn zu fühlen. Richtig, dort kam er die Straße
herab; er grüsste rechts, er grüsste links, er sprach alle Augenblicke mit
einem Bekannten, er lächelte, wenn er weiterging, vor sich hin, er
schien munter und guter Dinge zu sein. Er mochte etwa noch fünfzig
Schritte vom Direktor entfernt sein, als er diesen ansichtig wurde;
er erbleichte, er wandte um und wollte in eine Seitenstraße einbiegen.
"Ein verdächtiger, sehr verdächtiger Umstand!" dachte der Direktor,
lief ihm nach, rief seinen Namen und brachte ihn zum Stehen. Der
Kommerzienrat war ein Bild des Jammers; er brachte in hohlen
Tönen ein " Sori jour, Sori jour!" hervor, er schien lächeln zu wollen,
aber die Augen gingen ihm über, und sein Gesicht verzog sich krampfhaft;
seine Knie zitterten, seine Zähne schlugen hörbar aneinander.
"Ei, ei, Sie machen sich recht rar. Habe Sie schon ein paar Tage
nicht an meinem Fenster vorbeigehen sehen Sie scheinen nicht ganz
wohl zu sein" , setzte der Direktor mit einem stechenden Blicke hinzu,
"Sie sind so blaß; fehlt Ihnen etwas :
"Nein — es ist nur so ein kleines Frösteln — ich war wirklich
einige Tage nicht wohl, aber gottlob, es geht besser."
"So? Sie waren nicht wohl?" fragte jener weiter. "Das hätte
ich kaum gedacht; ich glaubte Sie doch noch vor wenigen Tagen aus
der Redoute recht munter zu sehen.
"Ja freilich; aber gleich den folgenden Tag mußte ich mich legen;
ich bekam meine Zufälle wieder; aber ich bin jetzt ganz wiederhergestellt
"Nun, da werden Sie nicht versäumen, die nächste Redoute zu
besuchen; es ist die letzte und soll sehr brillant werden; ich hoffe, Sie
dort zu sehen; bis dahin adieu, Herr Kommerzienrat!"
10.
"Werde nicht manquieren!" rief ihm der Kommerzienrat Bolnau
mit jammervoller Miene nach. "Der hat Verdacht!" sprach er zu sich.
"Der weiß etwas von dem Worte der Sängerin. Zwar soll sie wiederhergestellt
sein; aber kann nicht der Verdacht im Herzen dieses Polizisten
um sich fressen? Kann er mich nicht aus Argwohn beobachten
lassen? Die geheime Polizei wird mich verfolgen; auf allen meinen
Schritten und Tritten sehe ich schlaue, fremde Gesichter. Ich darf
nichts mehr reden, so wird es rapportiert, gedeutet; ich werde, o Gott
im Himmel, ich werde ein unruhiger Kopf, ein gefährliches Individuum
; und doch lebte ich still und harmlos wie Wilhelm Tell im
vierten Akt!"
So sprach der unglückliche Bolnau bei sich; seine Angst vermehrte
sich, als er über die verfängliche Frage wegen der nächsten Redoute
nachdachte. "Er meint gewiß, ich werde mich nicht in die Nähe der
Sängerin wagen, aus bösem Gewissen; aber ich muß hin, ich muß
ihm diesen Verdacht benehmen! Und doch —wird mich nicht in ihrer
Nähe ein Zittern und Beben überfallen, gerade weil er glauben kann,
ich werde aus Gewissensbissen und Angst zittern!" Er quälte sich ab
mit diesen Vorstellungen, sie beschäftigten ihn tagelang, er erinnerte
sich, daß ein berühmter Schriftsteller in einer eigenen Schrift bewiesen
habe, daß man Angst vor der Angst haben könne, und dies schien ihm
ganz sein Fall zu sein. Aber er fühlte, daß er sich ein Herz fassen und
der Gefahr entgegengehen müsse. Erließ sich vom Maskenverleiher
den prachtvollen Anzug des Pascha von Janina holen; er zog ihn alle
Tage an und übte sich vor einem großen Spiegel, recht unbefangen
aus seiner Maske hervorzuschauen. Er machte sich aus seinem Schlafrock
eine Puppe und setzte sie auf einen Sessel; sie stellte die Sängerin
Fiametti vor. Er ging als Pascha um sie her und sprach: "Es freut
mich unendlich, Sie in so erwünschtem Wohlbefinden zu sehen." Am
dritten Tage konnte er seine Lektion schon ganz ohne Zittern sagen;
daher legte er sich noch Schwereres auf. Er wollte recht artig und unbefangen
sein und ihr einen Teller mit Bonbons und Punsch offerieren.
Er übte sich mit einem Glas Wasser, das er auf einen Teller setzte.
Im Anfang klirrte es schrecklich in seiner zitternden Hand; aber auch
diese Schwierigkeit überwand er, ja, er konnte ganz lusti (g dazu sagen:
"Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwas weniges Punsch und etzliche
Bonbons?" Es ging trefflich; kein Sterblicher sollte ihn beben sehen.
Ali Pascha von Janina fühlte Mut in sich, trotz seiner Angst vor der
Angst, auf die Redoute zu gehen.
Der Medizinalrat Lange hatte es sich nicht nehmen lassen, die
Genesene zum erstenmal wieder unter die Leute zu führen. Sie
hatte es ihm gerne zugesagt; hatte er doch durch seine treue Pflege,
durch die väterliche Sorgfalt, womit er sich ihrer angenommen, ein
Recht auf ihre wärmste Dankbarkeit gewonnen. So kam er mit ihr
auf die Redoute, und er schien sich nicht wenig auf den Platz an der
Seite des schönen, interessanten Mädchens zugute zu tun. Die Leute
in B. sind ein sonderbares Volk. In den ersten Tagen hatte man von
den nobelsten Salons bis hinab in die Bierschenken von der Sängerin
Übles gesprochen; als aber Männer von Gewicht sich ihrer annahmen,
als angesehene Damen sich öffentlich für sie erklärten, drehte sich die
Fahne nach dem Winde, und die B . . .er liefen, gerührt über das
Schicksal des armen Kindes, in den Straßen umher und starben bald
vor Entzücken, daß sie genesen. Als sie in den Saal der Redoute trat,
schien alles nur auf sie, als die Königin des Festes, gewartet zu haben;
man jubelte und jauchzte, man klatschte in die Hände und rief bravo,
als hätte sie eben die schwersten Rouladen zustande gebracht. Auch
dem Medizinalrat fiel sein Anteil am Beifall zu. "Sehet, der ist's,"
riefen sie, "das ist ein geschickter Mann, der hat sie gerettet!"
Die Sängerin fühlte sich freudig bewegt von diesem Beifall der
Menge; ja, sie hätte, berauscht von dem Gemurmel der Glückwünschenden,
beinahe vergessen, daß sie noch ein ernsterer Zweck in diesen
Saal geführt habe; aber die vier handfesten Dominos, die ihren
Schritten folgten, die Fragen des Doktors, ob sie die grauen Augen
des Chevalier' noch nicht ansichtig geworden, erinnerten sie immer
wieder an ihr Vorhaben. Ihr selbst und dem Doktor war es nicht entgangen,
daß ein langer, hagerer Türke (man hieß in B. sein Kostüm
den Ali Pascha) sich immer in ihre Nähe dränge; und so oft der Strom
der Masken ihn wegriß, immer war er ihnen wieder zur Seite. Die
Sängerin stieß den Doktor an und winkte mit den Augen nach dem
Pascha hin. Er erwiderte ihren Blick und sagte: "Ich habe ihn schon
lange bemerkt." Der Pascha näherte sich mit ungewissen Schritten;
die Sängerin klammerte sich fester an Langes Arm; er war jetzt ganz
nahe; starre, graue Äuglein guckten aus der Maske, und eine hohle
Stimme sprach zu ihr: "Es freut mich unendlich, wertgeschätzte
Mamsell, Sie in so erwünschtem Wohlsein zu sehen." Die Sängerin
wandte sich erschreckt ab und schien zu zittern; auch die Maske fuhr bei
diesem Anblick bebend zurück und verschwand unter der Menge. "Ist
er es?" rief der Medizinalrat. "Fassen Sie sich doch; es gilt hier, ruhig
und mit Umsicht zu handeln; glauben Sie, er ist es?" "Noch weiß ich
es nicht gewiß," entgegnete sie; "aber ich glaube, seine Augen zu erkennen
."
Der Medizinalrat gab den vier Dominos die Weisung, recht
genau auf diesen Pascha acht zu geben, und ging mit der Dame weiter.
Aber kaum hatte er einige Gänge durch den Saal gemacht, so erschien
der Türke wieder; doch hielt er sich mehr in der Entfernung,
als beobachte er die Sängerin.
Der Doktor trat mit seiner Dame an ein Büfett, um ihr auf den
gehabten Schrecken eine Tasse Tee zu verordnen; er sah sich um —
auch hier wieder der Türke. Und siehe da, jetzt hatte er auf einem
Tellerlein ein Glas Punsch und einige Bonbons; er nähert sich der
Sängerin, seine Augen funkeln, das Glas hüpft und klappert in seltsamen
Klängen auf dem zitternden Teller; er ist an ihrer Seite, er
bietet ihr den Teller und sagt: "Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwa:
weniges Punsch und etzliche Bonbons ?" Die Sängerin sah ihn starr
an; sie erbleichte, sie stieß den Teller zurück und rief: "Ha, der Schreckliche
! Er ist's, er ist's, er will mich vergiften!"
Der Pascha von Janina stand stumm und regungslos; er schien
jeden Gedanken an Verteidigung aufzugeben; willenlos ließ er sich
von den vier handfesten Dominos hinwegführen.
Beinahe in demselben Augenblicke wurde der Doktor heftig an
seinem schwarzen Mantel gezogen; er sah sich um; jener kleine, verwachsene
Lohnlakai aus dem Hotel de Portugal stand vor ihm, bleich
und von Schrecken entstellt. "Um Gottes Barmherzigkeit willen,
Herr Medizinalrat, kommen Sie doch gefälligst mit mir auf Nr. 53!
Eben will der Teufel den französischen Herrn holen."
"Was schwatzt Er da?" sagte der Doktor unwillig und wollte ihn
auf die Seite schieben, um dem Gefangenen auf die Polizeidirektion
zu folgen. "Was geht es mich an, wenn ihn der Satan zu sich nimmt?
"Aber ich bitte Sie," rief der Kleine beinahe heulend, " er kann
vielleicht doch noch gerettet werden; Hochdieselben sind ja Stadtphysikus
allhier und verpflichtet, zu den Fremden in den Hotels zu
kommen."
Der Medizinalrat unterdrückte einen Fluch, der ihm auf der
Zunge schwebte; er sah, daß er diesem unangenehmen Gange nicht
ausweichen konnte; er winkte den Kapellmeister Bolani herbei, übergab
ihm die Sängerin und eilte mit dem kleinen Menschen nach dem
Hotel de Portugal.
11.
Es war still und öde in diesem großen Gasthofe; Mitternacht
war beinahe schon vorüber, die Lampen in den Gängen und Treppen
brannten düster und trübe; es war dem Medizinalrat unheimlich
zu Mute, als er zu dem einsamen Kranken hinanstieg. Der Lakai schloß
die Türe auf, der Doktor trat ein, wäre aber beinahe wieder zurückgesunken.
Denn ein Wesen, das seit einigen Tagen unablässig seine
Phantasie im Wachen und im Schlafe beschäftigt hatte, saß hier wirklich
und verkörpert im Bette. Es war ein großer, hagerer, ältlicher
Mann; er hatte eine spitzig aufstehende, wollene Schlafmütze tief in
die Stirne gezogen, seine enge Brust, seine langen, dünnen Arme
waren mit Flanell überkleidet, unter der Mütze ragte eine große,
spitzige Nase aus einem mageren, braungelben Gesichte hervor, das
man schon tot und erstorben geglaubt hätte, wären es nicht ein Paar
graue, stechende Augen gewesen, die ihm noch etwas Leben und einen
schrecklichen, grauenerregenden Ausdruck gaben. Seine langen,
dünnen Finger, die mit den hageren Gelenken weit aus den Ärmeln
hervorragten, hatte er zusammengekrümmt; er kratzte mit heiserem,
wahnsinnigem Lachen auf der Bettdecke.
"Schaut, er kratzt sich schon sein Grab!" flüsterte der kleine Mensch
und weckte damit den Doktor aus seinem Hinstarren auf den Kranken.
So, gerade so hatte sich dieser den Chevalier de Planta gedacht; dieses
tückische, graue Auge, diese unheilverkündenden Züge, diese dürre,
gespensterhafte Figur — es war hier alles, was die Sängerin von
jenem schrecklichen Manne gesagt hatte. Doch er besann sich. Kam
er denn nicht jetzt eben von der Verhaftung jenes Chevaliers? Konnte
nicht ein anderer Mann auch graue Augen haben? War es zu verwundern,
, daß ein Kranker abgefallen und bleich war? Der Doktor
lachte sich selbst aus, fuhr mit der Hand über die Stirne, als wolle er
diese Gedanken hinwegwischen, und trat an das Bett. Doch —selten
noch hatte er in so langen Jahren am Bette eines Kranken Grauen
und Furcht gefühlt — hier, es war ihm unerklärlich, hier befiel ihn
eine Beengung, ein Schauer, die er umsonst abzuschütteln suchte, und
er fuhr unwillkürlich zurück, als er die feuchte, kalte Hand in der seinigen
fühlte, als er lange umsonst nach einem Puls suchte.
"Der dumme Kerl," rief der Kranke mit heiserer Stimme, indem
er bald Französisch, bald schlechtes Italienisch und gebrochenes
Deutsch untereinander warf, "der dumme Kerl hat mir, glaube ich,
einen Doktor gebracht. Sie werden mir verzeihen, ich habe nie viel
von Ihrer Kunst gehalten. Das einzige, was mich heilen kann, sind
die Bäder von Genua; ich habe der Bete schon befohlen, daß er mir
Postpferde bestellt; ich werde heute nacht noch abfahren."
"Freilich wird er abfahren," murmelte der kleine Mensch; "aber
mit sechs kohlschwarzen Rappen, und nicht nach Genua, wo der
selige Fiesko ertrunken, sondern dahin, wo Heulen und Zähnklappem."
Der Doktor sah, daß hier wenig mehr zu machen sei; er glaubte
die Vorzeichen des nahen Todes in den Augen, in den unruhigen Bewegungen
des Kranken zu lesen, selbst jene Sehnsucht, zu reisen und
hinaus ins weite zu kommen, war schon oft der Vorbote eines schnellen
Endes gewesen. Erriet ihm daher, sich ruhig niederzulegen, und versprach,
ihm einen kühlen Trank zu bereiten.
Der Kranke lachte grimmig. "Liegen, ruhig liegen?" antwortete
er. "Wann ich liege, höre ich auf zu atmen ich muß sitzen,
im Wagen muß ich sitzen, fort, weit fort! —Was sagt der kleine Menschl
Hat er die Pferde bestellt? Kleiner Hund, hast du mein Gepäck in
Ordnung ?"
"Ach, Herr und Vater!" krächzte der Kleine; "jetzt denkt er an
sein Gepäck; ja, einen schweren Pack Sünden nimmt er mit, der Unmensch
. Es ist nicht an den Himmel zu malen, was er geflucht und
gotteslästerliche Reden geführt hat."
Der Medizinalrat faßte noch einmal die Hand des Kranken.
Fassen Sie Vertrauen zu mir," sagte er; "vielleicht kann Ihnen die
Kunst doch auch nützen; Ihr Diener sagte mir, es sei Ihnen eine
Schußwunde wieder aufgegangen; lassen Sie mich untersuchen!"
Murrend bequemte sich der Kranke dazu, er deutete auf seine Brust.
Der Arzt nahm einen schlechtgemachten Verband weg; er fand —
eine Stichwunde nahe am Herzen. — Sonderbar! es war dieselbe
Größe, derselbe Ort, wie die Wunde der Sängerin.
"Das ist eine frische Wunde, ein Stick)! rief der Doktor und sah
den Kranken mißtrauisch an. "Woher haben Sie diese Wunde?"
"Sie glauben wohl, ich habe mich geschlagen? Nein, beim
Teufel! Ich hatte ein Messer in der Brusttasche, fiel eine Treppe
herab und habe mich ein wenig geritzt,"
"Ein wenig geritzt!" dachte Lange. "Und doch wird er an dieser
Wunde sterben.
Er hatte indessen Limonade bereitet und bot sie dem Kranken.
Dieser führte sie mit unsicherer Hand zum Munde, sie schien ihn zu
erquicken; er war einige Momente still und ruhig; doch als er sah, daß
er einige Tropfen auf die Decke gegossen hatte, fing er an zu flucher
und verlangte ein Schnupftuch. Der Lakai flog zu einem Koffer.
schloß auf und brachte ein Tuch heraus — der Doktor sah hin, eine
schreckliche Ahnung stieg in ihm auf — er sah wieder hin, es war dieselbe
Farbe, derselbe Stoff, es war das Tuch, das man bei der Sänge-
rin gefunden. Der kleine Mensch wollte es dem Kranken überreichen
er Weß es zurück. "Gehe zu allen Teufeln, du Tier! Wie oft muß
ich es sagen, Eau d'Héliotrope darauf!" Der Diener holte eine kleine
Flasche hervor und besprengte das Tuch; ein angenehmer Geruch
verbreitete sich im Zimmer - es war dasselbe Parfüm, das jenes
gefundene Tuch an sich getragen,
Der Medizinalrat bebte an allen Gliedern; es war kein Zweifel
mehr, er hatte hier den Mörder der Sängerin Fiametti, er hatte den
Chevalier de Planto vor sich; es war ein Hilfloser, ein Kranker, ein
Sterbender, der hier im Bette saß; aber dem Doktor war es, als
könne er alle Augenblicke aus dem Bette fahren und nach seiner Kehle
greifen; er ergriff seinen Hut; es trieb ihn fort aus der Nähe des
Schrecklichen.
Der kleine Lakai packte ihn am Rocke, als er ihn gehen sah. "Ach,
Wohledler!" stöhnte er. "Sie werden mich doch nicht bei ihm allein
lassen wollen? Ich halte es nicht aus, wenn er jetzt stürbe und dann
sogleich als flanellenes Gespenst mit der Zipfelmütze auf dem Schädel
im Zimmer auf und ab spazierte! Um Gottes Barmherzigkeit willen,
verlassen Sie mich nicht!"
Der Kranke grinste fürchterlich und lachte und fluchte untereinander;
er schien dein Kleinen zu Hilfe kommen zu wollen, er
streckte ein langes, dürres Bein aus dem Bette, er krallte die dünnen
Finger nach dem Doktor. Doch dieser hielt es nicht mehr aus. Er
warf den Kleinen zurück und floh aus dem Zimmer; noch auf den
untersten Treppen hörte er das gräßliche Lachen des Mörders.
12.
Am Morgen nach dieser Nacht fuhr ein hübscher Stadtwagen
vor dem Hotel de Portugal vor; es stiegen drei Personen, eine verschleierte
Dame und zwei ältliche Herren, heraus und stiegen die
Treppe hinan. "Ist der Herr Oberjustizreferendarius Pfälle schon
oben?" fragte der eine dieser Herren den Kellner, der sie hinaufführte.
Dieser bejahte, und der Herr fuhr fort, indem er sich zu seinem Begleiter
wandte: "Und doch ist es eine sonderbare Fügung des Schicksals
, daß er die Treppe hinabstürzt und sich selbst den Dolch in die
Brust stößt, daß er sich selbst verhindert zu entfliehen, daß gerade Sie,
Lange, zu ihm beschieden werden!"
"Gewiß," sagte die verschleierte Dame; "finden Sie aber nicht
auch ein eigentümliches Verhängnis in diesen Schnupftüchern? Das
eine mußte er bei mir liegen lassen, welcher Zufall! das andere muß er
gerade in dem Augenblick verlangen, wo der Doktor noch bei ihm ist."
"Es mußte so gehen," erwiderte der zweite Herr, " man kann
nichts sagen als. es mußte so kommen. Aber in diesem Strudel hätte
ich beinahe etwas vergessen; sagen Sie, was ist es mit dem Pascha
von Janina? Signora mußte sich offenbar getäuscht haben. Sie
haben ihn wieder auf freien Fuß gesetzt? Wer war denn der arme
Teufel?"
"Mitnichten und im Gegenteil," sprach der erstere, "ich habe
mich überzeugt, daß es ein Mitschuldiger des Chevaliers ist, dem ich
schon lange auf der Spur bin. Ich habe ihn hierher bringen lassen,
er wird mit dem Mörder konfrontiert werden."
"Nicht möglich!" rief die Dame. "Ein Mitschuldiger?"
"Ja ja!" sagte der Herr mit schlauem Lächeln, "ich weiß allerlei,
wenn man mir es auch nicht angibt. Aber, gottlob, wir sind oben,
hier ist ja gleich Nr. 53. Mademoiselle, haben Sie die Güte, einstweilen
hier auf 54 einzutreten; der Kapellmeister hat es erlaubt und
wird Sie nicht hinauswerfen; dafür wollte ich stehen. Wann das
Verhör an Sie kommt, werde ich Sie rufen."
Wir brauchen nicht erst zu sagen, daß diese drei Personen die
Sängerin, der Doktor und der Direktor waren; sie kamen, um den
Chevalier de Planto eines Mordversuchs anzuklagen. Der Direktor
und der Medizinalrat traten ein; der Kranke saß noch ebenso im Bette,
wie ihn der Doktor in der Nacht gesehen; nur schienen beim Tageslicht
seine Züge noch grasser, der Ausdruck seiner Augen, die schon zu erstarren
anfingen, noch schauerlicher. Ersah bald den Doktor, bald
den Direktor mit seelenlosen Blicken an; dann schien er nachzusinnen,
was hier in seinem Zimmer vorgehe; denn der Referendarius Pfälle,
ein kurzer, junger Mann mit roten Wangen und kleinen Äuglein,
hatte sich einen Tisch zurechtgestellt, einen Stoß Papier vor sich hingelegt
und hielt eine lange Schwanenfeder in der Rechten, um zu
protokollieren.
"Bête, was wollen diese Herren?" rief der Kranke mit schwacher
Stimme dem Lakaien zu. "Du weißt ja, ich nehme keine Besuche an."
Der Direktor trat dicht vor ihn hin, sah ihn fest an und sagte mit
Nachdruck: "Chevalier de Planto!"
"Qui vive ?" schrie der Kranke und fuhr mit der Rechten an die
Schlafmütze, als wolle er militärisch salutieren,
"Mein Herr, Sie sind der Chevalier de Planto?" fuhr jener fort.
Die grauen Augen fingen an zu glänzen; er warf stechende Blicke
auf den Direktor und den Referendar, schüttelte mit höhnischer Miene
den Kopf und antwortete: "Der Chevalier ist längst tot."
"So? Wer sind Sie denn? Antworten Sie! Ich frage im Namen
des Königs."
Der Kranke lachte: "Ich nenne mich Lorier; Bete, gib dem
Herrn meine Pässe!"
"Ist nicht nötig; kennen Sie dies Tuch, mein Herr?"
"Was werde ich es nicht kennen, Sie haben es da von meinem
Stuhl weggenommen; wozu diese Fragen, wozu diese Szenen? Sie
genieren mich, mein Herr!"
"Belieben Sie auf Ihre linke Hand zu schauen," sagte der Direktor;
"dort halten Sie ja Ihr Tuch; dieses hier fand sich im Hause
einer gewissen Giuseppa Fiametti,"
Der Kranke warf einen wütenden Blick auf die Männer; er ballte
seine Faust und knirschte mit den Zähnen; er schwieg hartnäckig, obgleich
der Direktor seine Fragen wiederholte. Dieser gab jetzt dem
Doktor einen Wink; er ging hinaus und erschien bald darauf mit der
Sängerin, dem Kapellmeister Bolani und dem . . . schen Gesandten
in dem Zimmer.
"Herr Baron von Martenow," wandte sich der Direktor zu
diesem, "erkennen Sie diesen Mann für denselben, den Sie in Paris
als Chevalier de Planto kannten?"
"Ich erkenne ihn für denselben," antwortete der Baron, "und
wiederhole meine Aussagen über ihn, die ich früher zu Protokoll gab."
"Giuseppa Fiametti, erkennen Sie ihn für denselben, der Sie
aus dem Hause Ihres Stiefvaters führte, in sein Haus nach Paris
brachte, für denselben, den Sie eines Mordversuches beschuldigen?"
Die Sängerin bebte bei dem Anblicke des fürchterlichen Mannes;
sie wollte antworten, aber er selbst ersparte ihr jedes Geständnis. Er
richtete sich höher auf, seine wollene Mütze schien spitziger aufzustehen,
seine Arme waren steif, er schien sie mit Mühe zu bewegen, aber seine
Finger krallten sich krampfhaft auf und zu; seine Stimme schlich sich
nur noch leise und heiser aus der Brust herauf, selbst sein Lachen und
seine Flüche wurden beinahe zum Geflüster. "Kommst du, mich zu
besuchen, Schepperl?" sagte er. "Das ist schön von dir. Nicht wahr,
du weidest dich recht an meinem Anblick? Es ist mir wahrhaftig leid,
daß ich dich nicht besser getroffen; ich hätte dir dadurch den Schmerz
erspart, deinen Oheim vor seiner Abreise von diesen deutschen Tieren
verhöhnt zu sehen."
"Was brauchen wir weiter Zeugnis?" unterbrach ihn der Direktor
, "Herr Referendarius Pfälle, schreiben Sie einen Verhaftungsbefehl
gegen —"
"Was tun Sie?" rief der Doktor, "sehen Sie denn nicht, daß
ihm der Tod schon am Herzen ist? Er treibt es keine Viertelstunde
mehr. Eilen Sie, wenn Sie noch etwas zu fragen haben."
Der Direktor befahl dem Lakai, die Gerichtsdiener zu rufen:
sie sollen den Gefangenen heraufbringen. Der Kranke sank mehr
und mehr zusammen, sein Auge schien still zu stehen, es hatte nur
noch eine Richtung, nach der Sängerin; aber auch jetzt noch schien
Wut und Ingrimm daraus hervorzublitzen. "Schepperl," sprach er
wieder, "du hast mich unglücklich gemacht, zugrunde gerichtet, darum
verdientest du den Tod; du hast deinen Vater zugrunde gerichtet:
sie haben ihn auf die Galeere geschickt, weil er dich mir um Geld
verkauft hat; er hat mich beschworen, dich umzubringen; es tut mir
leid, daß ich gezittert habe. Verflucht seien diese Hände, die nicht
einmal mehr sicher stoßen konnten!" Seine greulichen Verwünschungen,
die er über sich und Giuseppa ausstieß, wurden durch
eine neue Erscheinung unterbrochen. Zwei Gerichtsdiener brachten
einen Mann in türkischer Kleidung; es war der unglückliche Ali
Pascha von Janina — der Turban bedeckte das jammervolle Haupt
des Kommerzienrats Bolnau. Alle erstaunten über diesen Anblick;
besonders schien der Kapellmeister sehr betreten; er erblaßte und
errötete und wandte sein Gesicht ab. "Monsieur de Planta," sprach
der Direktor, "kennen Sie diesen Mann?" Der Kranke hatte die
Augen geschlossen; er riß sie mühsam auf und sagte: "Gehet zu
allen Teufeln, ich kenne ihn nicht."
Der Türke sah die Umstehenden mit kummervoller Miene an.
Ich wußte wohl, daß es so kommen werde, sprach er mit weinerlichem
Tone, "es hat mir schon lange geahnet. Aber, Mademoiselle
Fiametti, wie konnten Sie doch einen unschuldigen Mann so ins
Unglück bringen?"
"Was ist es denn mit diesem Herrn ? fragte die Sängerin.
"Ich kenne ihn nicht, Herr Direktor; was hat Daun dieser getane"
"Signora," sprach der Direktor mit tiefem Ernst, " vor den
Gerichten gilt keine Nachsicht oder irgend eine Schonung. Sie müssen
diesen Herrn kennen; es ist der Kommerzienrat Bolnau. Ihr eigenes
Kammermädchen hat eingestanden, daß Sie bei dem Mord seinen
Namen ausgerufen haben."
"Freilich," nagte der Pascha, " meinen Namen genannt unter
so verfänglichen Umständen!"
Die Sängerin erstaunte; eine tiefe Nöte flog über ihr schönes
Gesicht; sie ergriff in großer Bewegung den Kapellmeister bei der
Hand. "Carlo," rief sie. "jetzt gilt es zu sprechen, ich kann es nicht
verschweigen; ja, Herr Direktor, ich werde diesen teuren Namen
genannt haben; aber ich meinte nicht jenen Herrn, sondern —
"Mich!" rief der Kapellmeister und trat hervor. "Ich heiße,
wenn es mein lieber Vater dort erlaubt, Karl Bolnau!"
"Karl! Musikant! Amerikaner!" rief der Türke und umarmte
ihn. "Das ist das erste gescheite Wort in deinem Leben, du hast
mich aus einem großen Jammer befreit."
"Wenn sich die Sache so verhält," sagte der Direktor, "so sind
Sie frei, und wir haben in dieser Sache nur mit gegenwärtigem
Herrn Chevalier de Planta zu tun." Er wandte sich um zu dem Bette;
dort stand der Arzt und hielt die Hand des Mörders in der seinigen;
er legte sie ernst und ruhig auf die Decke und drückte ihm die starren
Augen zu. "Direktor," sagte er, "der macht es jetzt mit einem höheren
Richter aus."
Man verstand ihn; sie gingen aus dem Gemach des furchtbaren
Toten und traten drüben bei dem Kapellmeister, dem glücklichen,
wiedergefundenen Sohne des Pascha, ein; die Sängerin verbarg
ihr Gesicht an der Brust des Geliebten; ihre Tränen strömten heftig,
aber es waren die letzten, die sie ihrem unglücklichen Schicksal weinte;
denn der Pascha ging lächelnd um das schöne Paar, er schien an
einem großen Entschluß zu arbeiten; er besprach sich heimlich mit
dem Medizinalrat und trat von diesem zu seinem Sohn und der
Sängerin. "Liebste Mademoiselle," sprach er, "ich habe Ihretwegen
vieles ausgestanden; Sie haben meinen Namen so verfänglich genannt,
daß ich Sie bitte. ihn mit dem Ihrigen zu vertauschen. Sie
haben gestern meinen Teller mit Punsch verschmäht; werden Sie
mich wieder zurückstoßen, wenn ich Ihnen gegenwärtigen Herrn
Karl Bolnau, meinen musikalischen Sohn, präsentiere mit der Bitte,
ihn zu ehelichen?
Sie sagte nicht nein; sie küßte mit Freudentränen seine Hand;
der Kapellmeister schloß sie mit Entzücken in seine Arme und schien
diesmal sein erhabenes Pathos ganz Vergessen zu haben. Der Kommerzienrat
aber faßte des Doktors Hand: "Lange, sage Er, hätte
ich denken können, daß es so kommen würde. als Er mir den Schrecken
in alle Glieder jagte, als ich die Scheiben des Palais zählte und
Er mir sagte: .Ihr letztes Wort war Bolnau!
"Nun, was will Er weiter!" antwortete der Medizinalrat
lächelnd. "Es war doch gut, daß ich es Ihm damals sagte; wer weiß,
ob alles so gekommen Wäre ohne das letzte Wort der Sängerin."
Die letzten Ritter von Marienburg.
1. Ein Poet.
"Guten Morgen, Neffe der Musen!" rief mit munterem Ton
der junge Rempen einem Bekannten zu, dem er am Markt begegnete.
"Ihre Augen leuchten, Ihre Mienen drücken eine gewisse Behaglichkeit
aus, und ich wollte wetten, Sie haben heute schon gedichtet."
"Wie man will, bester Stallmeister," entgegnete jener, "in
Reimen zwar nicht; aber an meinem neuen Roman habe ich ein
paar Kapitel geschrieben.
"Wie, an einem neuen Roman? Das ist göttlich, auf Ehre!
Aber ich bitte Sie, warum so geheim mit solchen Dingen, so verschlossen
gegen die nächsten Bekannten und Freunde? Sonst ließen
Sie doch hin und wieder ein Wörtchen fallen über Anordnung und
Charaktere, lasen mir und anderen einige Strophen; wie kommt
es denn, daß dies alles nun vorüber ist?"
"War es Euch denn wirklich interessant?" fragte der Dichter
nicht ohne wohlgefälliges Lächeln. "Ich muss gestehen, mir selbst
kommt, wenn ich etwas niedergeschrieben habe, alles so leer, so gemein,
so langweilig vor, daß ich mich ennuyierte, wenn ich es nur
in den Revisionsbogen wieder durchlas; da dachte ich denn, es
möchte Euch auch so gehen —"
"Uns? Gewiß. es machte uns immer Vergnügen!"
"Gut, lassen Sie uns dort bei dem Italiener eintreten und
etwas trinken! Dabei will ich Ihnen den Plan meines neuen —"
"Wie!" rief der Freund des Dichters lachend. "So frühe am
Tage schon in die Restauration? Sind wir denn Leute aus einer
neumodischen Novelle, daß wir gleich anfangs, des Tages nämlich,
in einem Wirtshaus sitzen müssen, als ob es außer der Kirche und
der Weinstube kein öffentliches Leben mehr geben könnte!"
"Wie kommen Sie nur auf diese Vergleichung!" entgegnete
jener. "Wie oft waren wir morgens bei Primavesi!"
"Es ging mir nur so durch den Kopf," sprach der Stallmeister;
"gestehen Sie selbst, seit Tieck mit Marlow und Green im Wirtshaus
zusammenkam, glauben sie alle, es könne keinen schicklicheren
Ort geben, um eine Novelle anzufangen; erinnern Sie sich nur
an die Almanache des letzten Jahres; doch Sie selbst sind ja solch
ein Stück von einem Poeten, und wenn Sie durchaus heute mit
dem Italiener anfangen wollen, so mögen Sie Ihren Willen haben."
"Sie werden erwartet, Herr Doktor Zündler," sagte der Italiener,
als die beiden Männer in den Keller traten; "der Buchhändler Kaper
sitzt schon seit einer Viertelstunde im Eckstübchen und fragte oft nach
Ihnen."
Der Stallmeister machte Miene, sich entfernen zu wollen;
Doktor Zündler aber faßte hastig seine Hand. "Bleiben Sie immer,"
rief er, "kommen Sie mit zu dem Buchhändler; er wird wohl von
meinem neuen Roman gehört haben und mir Verlag anbieten; da
können Sie einmal sehen, wie unsereiner Geschäfte macht; habe
ich ja selbst schon oft Ihren Pferdeeinkäufen beigewohnt."
Der Stallmeister folgte; in einer Ecke sah er einen kleinen,
bleichen Mann, der hastig an einem Rippchen zehrte und, so oft
er einen Biß getan, Lippen und Finger ableckte; er erinnerte sich,
diese Figur hier und da durch die Straßen schleichen gesehen zu haben,
und hatte den Mann immer für einen Krämer gehalten; jetzt wurde
ihm dieser als Buchhändler Kaper vorgestellt. Zur Verwunderung
des Stallmeisters sprach er nicht zuerst den Dichter, sondern ihn
selbst an. "Herr Stallmeister," sagte er, "schon lange habe ich mich
gesehnt, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Wenn Sie oft an
meinem Gewölbe vorbeiritten, ritten, ich darf sagen, wie ein Gott,
da sagte ich immer zu meinem Buchhalter, und auf Ehre, es ist wahr,
'Winkelmann,' sagte ich — Sie kennen ihn ja, Herr Doktor, —
Winkelmann, es fehlt uns schon lange an einem tüchtigen Pferde- und
Bereiterbuch. Der Pferdealmanach erscheint schon lange nicht mehr,
und was letzthin der Herr Baptist bei den Kunstreitern geschrieben,
ist auch mehr für Dilettanten, obgleich die Vignette schön ist' —
Sie haben ja den Menschen persönlich gesehen, Herr Doktor; nun,
ein solches Buch zu schreiben, wäre der Herr Stallmeister von Rempen
ganz der Mann. Etwa fürs erste achtzehn bis zwanzig Bogen, statt
der Kupfer nehmen wir Lithographien —
"Bemühen Sie sich nicht," erwiderte der junge Rempen, mit
Mühe das Lachen unterdrückend. "Ich bin zum Büchermachen verdorben
; es geht mir nicht von der Hand, und überdies, Herr Kaper,
bei unserem Metier, gerade bei unserem, muß der Jüngere sich
bescheiden. Da kommt es auf Erfahrung an."
"Und ich dächte, Sie hätten Verlag genug," sagte der Doktor,
wie es schien, etwas ärgerlich, von dem Buchhändler nicht gleich
beachtet worden zu sein.
"O ja, Herr Doktor, Verlag genug, was man so verlegene
Bücher nennt; ich könnte Deutschland in allen Monaten, die ein
R haben, mit Krebsen versehen' Sie wissen ja selbst.
"Ich will nicht hoffen," rief der Doktor hocherrötend, "daß
Sie damit etwa mein griechisches Epos meinen —
"Mitnichten, gewiß nicht, wir haben doch hundert etwa abgesetzt
und die Kosten so ziemlich gedeckt, und der Herr Doktor werden
mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, es war eine frühe Arbeit,
eine Jugendarbeit; hat doch auch Schiller nicht gleich mit dem Tell
angefangen, sondern zuerst die Räuber geschrieben. und überdies
noch die erste Ausgabe bei Schwan und Götz, wo Franz Moor
noch in den Turm kommt, die gar nicht so gut ist als die zweite;
aber seit man Ihre vortreffliche Novelle in der Amathusia für 1827,
seit man Ihre Rezensionen und Kritiken und die Sonette vor vier
Wochen gelesen hat, läßt sich Großes erwarten.
Der Dichter schien beruhigt. "Ich habe Sie immer für einen
Mann von gesundem Urteil gehalten, Herr Kaper," sprach er mit
gütigem Lächeln; "haben Sie vielleicht schon von meinem neuen
Roman gehört?"
"Ich habe, ich habe," erwiderte der Buchhändler mit schlauer
Miene; "und wo, raten Sie, wo ich davon gehört habe? Sie erraten
nicht? Warum kommen denn der Herr Doktor so gerne in
mein Gewölbe? Etwa wegen meiner Leihbibliothek, auf welche
Sie immer zu schimpfen belieben, oder wegen des Vis à via?"
"Wie!" rief der junge Mann und drückte die Hand des Buchhändlers
. "Hätte etwa Elise —"
"Elise Wilkow, meinen Sie?" fragte der Stallmeister, etwas
näher rückend.
"Ja, meine Herren, Fräulein Wilkow," fuhr Herr Sayer vertraulich
flüsternd fort; "doch nicht zu laut, wenn ich bitten darf;
denn soeben hat sich der Oberjustizreferendar Palvi dorthin gepflanzt
in seine tägliche Ecke —"
"Welcher ist es?" fragte der Stallmeister, sich umsehend. "Ich
hörte mancherlei von diesem Menschen, sonderbares Gerede von
den einen und hohes Lob von anderen; der junge Mann, der so
düster in sein Glas sieht, ist Palvi?"
"Es ist nicht viel an ihm," bemerkte der Dichter. "Auf der
Universität —ich war noch ein Jahr mit ihm in Göttingen — war
er so eine Art von Poetaster; einmal las, ich ein paar gute Gedanken
von ihm, die er zu einem Fest gemacht hatte; hier treibt er ein elendes,
wüstes Leben und kommt selten in gute Gesellschaft."
"Aber gerade wegen Fräulein Wilkow dürfen wir vor ihm
nicht zu laut werden," flüsterte der Buchhändler. "Ich weiß. er
kam, als er noch auf Schulen war, zuweilen hinüber ins Haus, und,
wie mir meine Tochter sagte, soll einmal ein Verhältnis zwischen
den beiden Leutchen —"
"Wie?" rief der Stallmeister gespannt.
"Possen!" entgegnete der Dichter, indem er auf seinen eleganten
Anzug einen Blick herabwarf. "Er sieht aus wie ein Landstreicher
; bringen Sie mir Elise auch nicht in Gedanken mit diesem
Menschen zusammen! Ich weiß, sie liebt die Poesie; alles Erhabene,
Schöne gefällt ihr, und sagen Sie aufrichtig, hat sie von meinem
Roman gesprochen?"
"Sie hat, und wie! Sie ist ein belesenes Frauenzimmer, das
muß man ihr lassen; keine in der ganzen Stadt ist so delikat in der
Auswahl ihrer Lektüre. So kommt es, daß sie immer in einer Art
von Verbindung mit mir steht, und wenn ich etwas Neues habe,
bringe ich es gleich hinüber; denn ich selbst habe es in meinen alten
Tagen gerne, wenn ein so schönes Kind, ,lieber Herr Kaper' zu
mir sagt und gütig und freundlich ist. Es war letzten Sonntag, als
ich ihr den Roman .Die letzten Ritter von Marienburg,' brachte,
noch unaufgeschnitten, ich hatte ihn selbst noch nicht gelesen. Sie
hatte eine kindische Freude und sprach recht freundlich und viel.
Und wie wir so plaudern, komme ich auch auf Ihre Novelle, welche
sie ungemein lobte und Stil und Erfindung pries. Und so sagte
sie denn, ob ich auch schon gehört, daß Sie einen neuen Roman
schreiben."
"Ja," fiel der Dichter feurig ein, "und einen Roman schreibe,
Kaper, wie Deutschland, Europa noch keinen besitzt!"
"Historisch doch?" fragte der Buchhändler zweifelhaft.
"Historisch, rein geschichtlich; aber dies unter uns!"
"Historisch! Das möchte ich auch raten," sprach der Verleger,
eine große Prise nehmend. "Das ist gegenwärtig die Hauptsache.
Wenn man es so bedenkt, es ist doch eine sonderbare Sache um den
deutschen Buchhandel. Ich war Kommis in Leipzig, als Wilhelm
Meister zuerst erschien. Werther und Siegwart waren Mode gewesen
, hatten Nachahmung gefunden lange Zeit. Aber mein Prinzipal
sagte: ,Er wird sehen, Kaper,' — damals sprach man noch
per Er mit den Subjekten — ,Er wird sehen, über kurz oder lang
geschieht eine Veränderung.' So war's auch; wir hielten anfänglich
nicht viel auf den Wilhelm Meister, es schien uns ein gar konfuses
Buch; aber siehe da, man schrieb überall nach diesem Muster, und
mancher hat sich ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wieder
eine Weile — ich hatte meine eigene Handlung etabliert — lag
mir oft das Wort meines alten Prinzipals im Sinn: .Alle im
Buchhandel ist nur Mode. Wer eine neue angibt, ist Meister.' Wie
ich mich noch auf etwas Neues besinne und einen Menschen suche,
der etwas Tüchtiges schreiben täte, —da haben wir's, kommt Fouqué
mit den Helden und Altdeutschen, und alles macht's nach. Und
jetzt hat Walter Scott wieder eine neue Mode gemacht. Ich möchte
mir die Haare ausraufen, daß ich keine Taschenausgabe machte,
und nichts bleibt übrig als etwa deutsche historische Romane; die
gehen noch."
"Fürwahr," bemerkte der Stallmeister lächelnd, "so habe ich
bisher ohne Brille gelesen, und der deutsche Parnaß ist in ganz
andern Händen, als ich dachte. Nicht um das Interesse der Literatur
scheint es sich zu handeln, sondern um das Interesse der Verkäufer?"
"Ist alles so ganz genau verknüpft," antwortete Herr Kaper
mit großer Ruhe, "hängt alles so sehr zusammen, daß es sich um
den Namen nicht handelt! Deutsche Literatur! Was ist sie denn
anders, was man alljährlich zweimal in Leipzig kauft und verkauft?
Je weniger Krebse, desto besser das Buch, pflegen wir zu
sagen im Buchhandel.
"Aber der Ruhm?" fragte der junge Rempen.
"Der Ruhm? Herr, was nützt mich der Ruhm ohne Geld? Gebe
ich eine Sammlung gelehrter Reisen mit Kupfern heraus, die mich
schweres Geld kosteten, so hat zwar meine Firma den Ruhm, das
Buch verlegt zu haben; aber wer kauft's, wer nimmt's, wer liest das
Ding? Sechs Bibliotheken und ein paar Büchersammler, da: ist
alles, und wer geprellt ist, bin ich. Nein, Herr von Rempen! Eine
vergriffene Auflage von einem Roman, eine Messe von höchstens
dreißig Krebsen, das ist Ruhm, der echte ,nämlich Ruhm mit Geld."
"Das ist also ungefähr wie Tee mit Rum, es schmeckt besser,"
erwiderte der Stallmeister; "aber ich meinte den schriftstellerischen
"I nun, das ist etwas anderes," antwortete er, "den haben
die Herren neben dem Honorar umsonst. Und den weiß man sich
zu machen, sehen Sie —"
2. Die Kritiker.
Doch die Forschungen des Herrn Kaper wurden hier auf eine
unangenehme Weise durch einen Lärm unterbrochen, der im Laden
des Italieners entstand. Neugierig sah man nach der Türe, welche
durch ein Glasfenster einen Uberblick über den unteren Teil des
Gewölbes gewährte. Ein ältlicher und zwei jüngere Herren schienen
in heftigem Streit begriffen; jeder sprach, jeder focht mit den Händen :
der eine stürzte endlich mit hochgeröteten Wangen aus dem Laden,
die beiden andern, noch keuchend vom Wortkampf, traten in das
Gewölbe. wo die Freunde saßen,
"Herr Rat! Was ist mit Ihnen vorgefallen!" rief Dr. Zündler
beim Anblick des älteren Mannes, der, ein gedrucktes Blatt in der
Hand zerknitternd, atemlos auf einen Stuhl sank. "Haben Sie denn
nicht gelesen, . Zündler?" antwortete für den älteren der jüngere
Mann. der unmutig und dröhnenden Schrittes im Zimmer auf
und ab ging, "nicht gelesen, wie wir blamiert sind, nicht gelesen,
daß man uns alle zusammen hier eine poetische Badegesellschaft,
eine Bänkelsängerbande nennt?"
"Tod und Teufel!" fuhr der Doktor auf. "Wer wagt es, diese
Sprache zu führen? Wer wagt die ersten Geister der Nation auf
diese Art zu benennen? Ich will nicht von mir sagen; was habe
ich viel getan, um auf einigen Ruhm Anspruch machen zu können?
Aber was fin andere Männer finden sich hier? Sind es nicht — die
schönsten Zierden der Nation? So jung Sie sind, Professor, sind
denn nicht alle Blätter voll Ihres Lobes wegen Ihrer Trauerspiele,
und unser Rat —"
"Aber büßen sollen sie es mir, büßen," rief der letztere, "so
wahr ich lebe, und, Zündler, Sie müssen mithelfen und alle, die ins
Freitagskränzchen kommen. Hab' ich es mir darum sauer werden
lassen zwanzig Jahre lang, daß man jetzt über mich herfällt, und
wegen nichts als wegen der Rezension über den dummen Roman
Die letzten Ritter von Marienburg', sonst wegen nichts!"
"'Die letzten Ritter von Marienburg,"' fragte der Buchhändler,
der als Mann vom Fache mitsprechen zu müssen glaubte; "mich
gehorsamst zu empfehlen, Herr Rat; aber ist es nicht bei Wenz in
Leipzig erschienen, Z Bände Oktav, Preis 4 Taler netto?"
"Und ich will nun einmal diese Schule nicht aufkommen lassen,"
fuhr der Erboste fort, ohne auf Herrn Kaper zu hören; "woher
kommt es, daß man keine Verse mehr lesen will, daß man die Lyrik
verachtet, sei sie auch noch so duftig und gefeilt, daß man über die
tiefsinnigsten Sonette weggeht wie über Lückenbüßer, woher als
von diesen Neuerungen?
"Aber so zeigen Sie doch, ich bitte," flüsterte der Doktor, das zerknitterte
Papier fassend; "ist es denn wirklich so arg, so niederschlagend?
"Lesen Sie immer," erwiderte der Rat gefaßter, "lesen Sie
meinetwegen laut, es ist doch in jedermanns Händen; die Herren
sind ja ohnedies Zeugen meines Schmerzes gewesen und mögen
auch Zeugen sein, wie man Redakteur und Mitarbeiter eines der
gelesensten Blätter behandelte
Der junge Mann entrollte das Blatt. "Wie In den . Blättern
für literarische Unterhaltung'? Nein, das hätte ich mir nicht träumen
lassen; die waren ja sonst immer so nachbarlich, so freundlich mit
uns! Ist es die Kritik, die anfängt: ,Ehe wir noch dieses Buch —'
"Eben diese, nur zu!"
'Die letzten Ritter von Marienburg, historischer Roman von
Hüon. Z Bände. Leipzig. Fr. Wenz.
Ehe wir noch dieses Buch in die Hände bekamen, lasen wir
in den ,Blättern für belletristisches Vergnügen' eine Kritik, welche
uns beinahe den Mut benahm, diesen dreibändigen historischen
Roman nur zu durchblättern. Man kann zwar gewöhnlich auf das
Urteil dieser Blätter nicht viel halten. Es sind so wenige Männer
von Gehalt damit beschäftigt, daß der wissenschaftlich Gebildete
von diesen Urteilen sich nie bestimmen lassen kann; doch machte
diese Kritik eine Ausnahme. Es ist nämlich eine Seltenheit, daß
die .Blätter für belletristisches Vergnügen' etwas durchaus tadeln;
selten ist ihnen etwas schlecht genug; aber diesmal hieben sie so
unbarmherzig und greulich hinein, daß wir im ersten Augenblick,
auf die kritische Ehrlichkeit solcher Leute trauend, glaubten, dieser
Roman müsse die tiefste Saite der Schlechtigkeit berührt haben.
Doch zu einer guten Stunde entschlossen wir uns, nachzusehen,
wie tief man es in der deutschen Literatur dermalen gebracht habe.
Wir lasen. Aber welch ein Geist wehte uns aus diesen Blättern
an! Welch mächtiges, erhabenes Gebäude stieg vor unseren Blicken
auf, ein Gebäude in so hohem, erhabenem Stil wie die Marienburg
selbst; wir fühlten uns fortgerissen, versetzt in ihre Hallen; der
letzte Großkomtur und seine Ritter traten uns lebend entgegen,
und noch einmal ertönte jene alte Feste vom Waffenspiel und den
kräftigen Stimmen ihrer tapferen Bewohner. Wir wollen den Dichter
nicht tadeln, daß ein Hauch von Melancholie über seinem Gemälde
schwebt, der trim laute Freude, kein behagliches Vergnügen
zuläßt. Wo ein so großartiges Schicksal waltet, wo ein ganzes,
großes Geschlecht untergeht, da muß ja wohl auch die zarte Liebe,
die nur einen Frühling blühte, mit zu Grabe gehen. In diesem
außerordentlichen Buche ist ein Geist unter uns getreten, so originell
, so groß, so frei, daß er keine Vergleichung gestattet. Ernennt
sich Hüon, zwar ein angenommener Name, aber gut gewählt; denn
der Verfasser scheint uns nicht minder würdig, von Oberon mit
Horn und Becher beschenkt zu werden als jener tapfere Paladin
Karls des Großen. Mit Vergnügen müssen einen solchen Jünger
Meister wie Goethe und Tieck willkommen heißen, und unsere Zeit
darf sich glücklich preisen, einen Mann wie diesen geboren zu haben.
'Aber mit tiefer Indignation müssen wir hierbei einer Clique
von Menschen gedenken, die diese edle Blume schon in ihrem Keim
in den Staub drücken wollten. Freilich ist er euch zu groß, zu erhaben
, ihr kleinen belletristischen Seelen; möge immer diese poetische
Badegesellschaft in ihrem lauen Versewasser auf- und niedertauchen,
nur bespritze sie nicht mit ihrem Schlammwasser den Wanderer
, der am Ufer geht und sich verachtend abwendet! Ein Glück
ist es übrigens, daß man anfängt, in der guten Gesellschaft auf
reinere Melodien zu horchen und daß man diese Bänkelsänger dem
Straßenpöbel überläßt. 190,'
Für den Stallmeister war es ein interessantes Schauspiel, die
Gesichter der Zuhörer zu mustern, während der Dichter mit schnarrendem
Tone diese Kritik ablas. Der Buchhändler, der ihm zunächst
saß, versteckte schlecht seine Neugierde und eine gewisse Behaglichkeit
hinter einer unmutigen Miene. Vielleicht hatte ihm der Hofrat
einmal ein Verlagswerk schlecht rezensiert, oder der Theaterdichter
hatte ihm nichts zu verlegen gegeben, oder irgend einer der " Badegesellschaft
" hatte ihn beleidigt. Erdachte wie so viele kleine Seelen
im ähnlichen Falle: "Gottlob, es ist dafür gesorgt, daß die Rezensenten
sich immer selbst wieder rezensieren." Der Rat hatte den Mund auf
den Stockknopf gepreßt, und seine Augen irrten auf dem Boden;
der Theaterdichter zwang sich zu einer Art von vornehmer Ruhe,
die ihm vorhin völlig gefehlt hatte. Sein "O!" oder "Ei!" , das
er hin und wieder mit einem kurzen Lachen herauspreßte, klang
unnatürlich. Am merkwürdigsten war dem jungen Rempen ein
stiller Zuhörer, der scheinbar ohne Teilnahme in der Ecke saß, der
Referendar Palvi. Als der Doktor zu lesen anhub, lauschte er mit
niedergeschlagenen Augen; dann ergoß sich plötzlich eine brennende
Röte über seine Stirne und Wangen. Sie verschwand ebenso schnell
als der glänzende Blick seiner großen Augen, den er auf den Lesenden
warf, und wer diesen Blick, dieses flüchtige Erröten nicht gesehen,
konnte vor- und nachher glauben, er schenke weder diesen
Literatoren, noch der Ursache ihres Aufbrausens einige Aufmerksamkeit.
"Nun, was sagen Sie dazu?" fragte der Theaterdichter, nachdem
Dr. Zündler geendet hatte. "Sie sind ja auch mit gemeint;
denn zahlreiche Stanzen, Sonette, Triolette und Kritiken finden
sich hon Ihrer Arbeit in den ,Blättern fürs belletristische Vergnügen."'
"Schweigen kann man nicht!" rief der Doktor entrüstet. "Ja,
wir stehen alle für einen, und alle, die ins Freitagskränzchen kommen,
müssen beleidigt sein, müssen sich rächen. Ich habe in Berlin einen
Bekannten; in den ,Gesellschafter' lass' ich es rücken durch die dritte
Hand, oder vielleicht nimmt es Dr. Saphir in die 'Schnellpost' auf;
ich kenn' ihn noch von Wien.
"In meinen Theaterkritiken mache ich Ausfälle," fuhr der
Theaterdichter fort. "Ach! wenn nur Marienburg nicht preußisch
wäre, ich wollte mich rächen, wollte, o! aber so könnte man alles
für Anzüglichkeit nehmen. Und gegen diese .Blätter für literarische
Unterhaltung' kann ich nicht offen schimpfen; ich habe noch drei
Trauerspiele dort liegen, die noch nicht rezensiert sind. Aber wo
nur ein Loch offen ist, will ich einen Ausfall machen!"
"Ich will untergehen," sagte der Rat pathetisch, indem er seinen
Wein bezahlte und den Hut ergriff, "fallen will ich, ader siegreich
hervorschreiten aus diesem Kampf. Die ganze Lyrik ist in mir beleidigt
, auch alle Romantiker; denn wir haben auch Romanzen gemacht
und diese Hermaphroditen von Geschichte und Dichtung,
diese Novellenprosaiker, diese Scott-Tieckianer, diese — genug, ich
werde sie sturzen; und damit guten Morgen!"
Als dieser Rat nach seinem dixi mit vorgeschobenen Knien
aus dem Zimmer ging, war er zwar nicht anzusehen wie ein Ritter,
der zum Turnier schreitet; der Professor aber und der Doktor Zündler
folgten ihm in schweigender Majestät; sie schienen, als seine Knappen
oder Pagen Schild und Lanze dem neuen Orlando furioso nachzutragen.
3 Ein prosaisches Herz.
Bei dein Stallmeister hatte diese Szene, nachdem das Komische,
was sie enthielt, bald verflogen war, einen störenden, unangenehmen
Eindruck hinterlassen. Er hatte sich mit der schönen Literatur von
jeher gerade nur so viel befaßt, als ihm nötig schien, um nicht für
ungebildet zu gelten, und auch hier war er mehr seiner Neigung
als dem herrschenden Geschmacke gefolgt. Er wußte wohl, daß man
ihn bemitleiden würde, wollte er öffentlich gestehen, daß er Smollets
Peregrine Pickle für den besten Roman und einige sangbare Lieder
von Kleist für die angenehmsten Gedichte halte; er behielt dieses
Geheimnis für sich, brummte, wenn er morgens ausritt, sein Liedchen,
ohne zu wissen, welcher Klasse der Lyrik es angehöre, und las',
wenn er siel) einmal ein literarisches Fest bereiten wollte, ausgesuchte
Szenen im Peregrine Bickle. Ein paar Almanache, ein paar
schöngeistige Zeitschriften durchflog er, um, wenn er darüber gefragt
wurde, nicht erröten zu müssen. So kam es, daß er vor Schriftstellern
oder "Leuten, die etwas drucken ließen," große Ehrfurcht
hatte; denn seine Seele war zu ehrlich, um ohne Grund von Menschen
schlecht zu denken, deren Beschäftigung ihm so fremd war als der
Hippogryph seinen Ställen. Um so verletzender wirkte auf ihn der
Anblick dieser erbosten Literatoren. "Man tadelt es an Schauspielern,"
sprach er zu sich, "daß sie außerhalb des Theaters oft roh
und ungebildet sich zeigen, daß sie Tadel, auch den gerechten, nicht
ertragen wollen und öffentlich darüber schimpfen und schelten.
Aber zeigten sich denn diese Leute besser? Ist es nicht an sich
schon fatal, seinen Unmut über eine Beschimpfung zu äußern? Muß
inan das Wirtshaus zum Schauplatz seiner Wut machen und sich
so weit vergessen, daß man wie ein Betrunkener sich gebärdet? Und
wie schön ließen diese Leute siel) in die Karten sehen! Also weil sie
beleidigt sind —vielleicht mit Recht, — wollen sie wieder beleidigen,
wollen ihre Privatsache zu einer öffentlichen machen? Das also
sind die Leiter der Bildung, das die feinfühlenden Dichter, die, wie
Freund Zündler sagt, Instrumente sind, die nie einen Mißton von
sich geben?"
Kummervoll dachte er dabei an ein Wesen, das ihm vor allen
teuer war. Der Buchhändler hatte nicht mit Unrecht geäußert,
daß Elise Wilkow ein sehr belesenes Frauenzimmer sei. Nach Remp ens
Ansichten über die Stellung und den Wert der Frauen schien sie
ihm beinahe zu gelehrt, in Stunden des Unmuts nannte er es wohl
gar überbildet. Er hatte es niemand, kaum sich selbst gestanden,
daß sie seine stillen Huldigungen nicht unbemerkt ließ, daß sie ihm
manchen gütigen Blick schenkte, aus dem er vieles deuten konnte.
Er war zu bescheiden, um zu glauben, daß dieses liebenswürdige
Geschöpf ihn lieben könnte, und dennoch verletzte ihn ihr ungleiches,
zweifelhaftes Benehmen. Es war eine gewisse Koketterie des Geistes,
die das liebenswürdige Mädchen in seinen Augen entstellte. Wenn
er zuweilen in freundlichem Geplauder mit ihr war, wenn sie so
traulich, so natürlich ihm von ihrem Hauswesen, ihren Blumen,
ihren Vergnügungen erzählte, wenn er sich ganz selig fühlte, daß sie
so lange, so gerne mit ihm spreche, so führte gewiß ein feindlicher
Dämon einen jener Literatoren oder Dichter herbei, deren diese
gute Stadt zwei Dutzende zählte, und Elise war wie ausgetauscht.
Ihre schönen Augen schimmerten dann vor Vergnügen, ihr schlanker
Hals bog sich vor, und ohne auf eine Frage des guten Stallmeisters
zu achten, ohne seine Antworten abzuwarten, befand man sich mit
Blitzesschnelle in einem kritischen oder literarischen Geplänkel, wo
Rempen zwar die ungemeine Belesenheit, das schnelle Urteil, den
glänzenden Witz seiner Dame bewundern, sie selbst aber bedauern
musste, daß sie dieser Art von Gespräch, diesem gesuchten Vergnügen
sichtbarer entgegenkam, als es sich für ein Mädchen von siebzehn
Jahren schickte.
"Und an dieses Volk, an diesen literarischen Pöbel, wirft sie
ihre glänzenden Gedanken, ihre zartesten Empfindungen, wirft sir
Blicke und Worte weg, die einen andern als diese gedruckten Seelen
überglücklich machen würden. Und fühlen sie es denn? Sind sie
dadurch geehrt, entzückt? Nur mit ihnen spricht sie über das, was
sie gelesen, als ob sonst niemand lesen könnte, nur ihnen zeigt sie,
was sie gefühlt, als ob gerade diese Versmacher und Rezensenten
die gefühlvollsten Leute wären und ein so schönes, liebenswürdiges
Wesen zu würdigen verständen. Nein, diese Toren sehen es überdies
noch als einen schuldigen Tribut, als eine geringe Anerkennung
ihrer eminenten Verdienste an, wenn die Krone aller Mädchen mit
ihnen schwatzt wie mit ihresgleichen, während andere wackere Leute
in der Ferne stehen. Und diese Menschen, die sich heute so niedrig
gebärdeten, bilden ihren Hofstaat, dies sind die genialen Männer,
mit welchen sie so gerne spricht!
Diese Gedanken beschäftigten ihn den ganzen Tag. Sein Stallpersonal
konnte sich heute gar nicht in ihn finden. Der gutmütige,
milde Herr war zu einem rauhen, mürrischen Gebieter geworden.
Die Stallknechte klagten es sich beim Füttern; acht Pferde hatte er
hinausgejagt durch dick und dünn, und jedes hatte einen andern
Fehler gehabt. Die Bereiter hatte er zum ersten Male streng getadelt,
und als es Abend wurde, war man im Stall darüber einig,
dem Stallmeister von Rempen müsse etwas Außerordentliches begegnet
sein, vielleicht sei er sogar in Ungnade gefallen. Man bedauerte
ihn; denn sein leutseliges Wesen hatte ihn zum Liebling
seiner Untergebenen gemacht.
Und wahrlich, der Abend dieses Tages war nicht dazu gemacht,
diese düsteren Gedanken zu zerstreuen. Der Geheimrat von Remyen,
sein Oheim, gab alle vierzehn Tage einen großen Klub, in welchem
er, das Unmögliche möglich zu machen, die getrenntesten Extreme
zu vereinigen suchte. Dieser Klub hatte sich früher in drei verschiedene
Abteilungen getrennt. Es war in jener Stadt eine literarische
Sozietät, deren Mitglied der alte Rempen war; sie versammelte
sich, um zu lesen, zu rezensieren, gelehrt zu sprechen; an einem andern
Tage war großer, umwechselnder Singtee, an einem dritten Abend
Tanzunterhaltung. "Tria juncta in uno, drei Köpfe unter einem
Hut," sagte der alte Rempen und lud sie alle zusammen ein. Der
bunteste Wechsel schien ihm die interessanteste Unterhaltung, und
darum preßte er wie ein Seelenverkäufer Literatoren, Soldaten,
Justizleute, lese , gesang- und tanzlustige Damen und packte sie in
seinen Salon zusammen zu Tee und Butterbrot. in der festen
Überzeugung, die wahre Springwurzel der Unterhaltung gefunden
zu haben. Für seinen Neffen aber vereinigten sich Himmel und
Fegfeuer in diesem Klub. Erhörte Elisen singen; seine nahe Verwandtschaft
zu dem alten Rempen, der keinen Sohn hatte, machte
es ihm möglich, wie ein Kind des Hauses, nicht wie ein Gast aufzutreten
und mit Elisen ungestört zu tanzen und zu plaudern. Aber
seine Höllenqualen begannen, wenn er den Oheim, umgeben von
einem Kreise älterer und jüngerer Herren, mit wichtiger Miene
etwas erklären sah; wenn er endlich ein Buch aus der Tasche zog
durchblätterte, es im Kreise umherzeigte und die Herren vor Freude
stöhnten: — "Ah — etwas Neues, schon gelesen? Göttlich — vorlesen
bitte vorlesen, — Professor am besten lesen, — in den Saal
und lesen." —
"Lesen, vorlesen!" tönte es dann von dem Munde
älterer Damen und jener Herren, die nicht tanzen wollten, und Elise
— nahm mit einer kurzen Verbeugung Abschied, drängte sich in
den literarischen Kreis, wurde als Königin des guten Geschmacks begrüsst,
hatte gewöhnlich das Buch schon gelesen, stimmte für die
Vorlesung und war für den armen Stallmeister auf den ganzen
Abend verloren.
Mit diesen trüben Erinnerungen gelangte er an das Haus seines
Oheims. Er war eben im Begriff, einzutreten, als das Gespräch
zweier Männer, die sich diesem Hause näherten, seine Aufmerksamkeit
auf sich zog. Soviel der matte Schein einer fernen Laterne
erraten ließ, war der eine ein ältlicher, dürftig gekleideter Mann.
der andere jünger, höher und festlich gekleidet.
"Brüderchen!" sprach der ältere mit einem Akzent, der nicht
dieser Gegend angehörte. "Brüderchen, bleib mir aus dem fatalen
Haus! So oft Ihr wieder herauskommt, seid Ihr zwei, drei Tage
ein geschlagener Mann. Laß die Bursche dort oben in Gott's Namen
auf Stelzen gehen und Unsinn schwatzen, bleibet aber nur Ihr
hinweg, 's ist noch Euer Tod!
"Ich muß sie sehen, Alter!" sprach der jüngere, "ich muß sie
hören. Es gehört zu meinem Glück, sie gesehen zu haben."
"Ihr seid ein Narr!" erwiderte der andere, "sie mag Euch nicht,
sie will Euch nicht. Ihr seid ein armer Teufel und gehört nicht in
diese Sozietät. Aber fassen kann ich Euch nicht! 'S gehört ein Wort
dazu, nur ein Wörtchen, ein bißchen von einem Geständnis, und
Ihr könnt vielleicht glücklich sein. Geh fort, geh fort; scherwenze in
der noblen Welt, werde ein Schuft wie alle und vergiß den alten,
armen Bunker! Leb wohl! Will nichts mehr von dir!"
Er wollte unmutig weggehen; aber der junge Mann hielt ihn
auf. "Sei vernünftig," bat er; "willst auch du mich noch elend
machen? Tu es immer, laß mich liegen wie einen Hund, wenn
du es über dein Herz vermagst! Ich bin ja ohnedies unglücklich
genug." "Jammere nur nicht so!" sprach der Alte gerührt. "Geh
hinauf, wenn du es nicht lassen kannst. Aber bleibe nicht da, wenn
sie vorlesen! Du ärgerst dich. Komm zu mir!"
"Ich komme," erwiderte der jüngere nach einigem Nachsinnen.
"Um zehn Uhr will ich kommen. Wohin?
Heute in den Entenzapfen! Im Rosmarin ist heilloses Volk,
Schneider und Schuster und die Affen und Bären aus den Druckereien
— es ist heute Montag. Aber, Brüderchen, im Entenzapfen ist
Cerevis, man trinkt es in Augsburg nicht besser."
Ein Wagen mit hellglänzenden Laternen rollte in diesem Augenblick
auf das Haus zu; der junge Mann sagte eilig zu, und der alte
lich langsam die Straße hin. Der Stallmeister konnte sich kaum
von seinem Erstaunen erholen. Wer konnte aus so sonderbarer
Gesellschaft in den Tanzsaal seines Oheims kommen? Noch sonderbarer
schien es ihm, daß man diesen glänzenden Klub, der alle geistreiche
und noble Welt der Stadt vereinigte, verlassen wollte, um
in dem Entenzapfen Bier zu trinken. in einer Winkelkneipe, die er
kaum dreimal von seinen Stallknechten hatte rühmen gehört. Er
setzte dem sonderbaren Gast, der flüchtig die Treppe hinaneilte, nach,
er holte ihn im hellerleuchteten Korridor ein, ging an ihm vorüber,
sah sich um und erblickte da:, düstere Auge und die markierten Züge
des Referendars Palvi.
Verworrene Gedanken flogen vor seiner Seele vorüber, als er
ihn erkannte; seine Worte "Ich muß sie sehen," der Wink des Buchthändlers
Palvi sei früher in einem Verhältnis zu Elisen gestanden,
Staunen über die sonderbaren Reden mit dem Alten, wunderliche
Sagen, die er früher über diesen Palvi vernommen, alle diese Gedanken
wollten auf einmal zur Klarheit dringen und machten, daß
er sich vornahm, über eines wenigstens sich diesen Abend Gewißheit
zu verschaffen, über sein Verhältnis zu Elisen.
4. Ein Singtee.
Der größte Teil der Gesellschaft hatte sich schon versammelt,
als die jungen Männer eintraten. Des Stallmeisters scharfes Auge
durchirrte den Damenkreis, der an den Wänden hin sich ausbreitete;
er fand endlich Elisen an einem fernen Fenster im Gespräch mit
seiner Tante; aber ihr schönes Gesicht hatte nicht den Ausdruck
von Heiterkeit und Laune, die er sonst so gern sah; sie lächelte nicht,
sie schien verstimmt. Es kostete ihn einige künstlich angeknüpfte
Gespräche, einige Neuigkeiten vom Hufe, im Vorübergehen erzählt,
um sich bis an jenes Fenster durchzuwinden,
Die Tante sprach so eifrig, Elise hörte so aufmerksam zu, daß
er endlich die herabhängende Hand der Tante erfassen und ehr
erbietig küssen musste, uni sich bemerklich zu machen. Elisens Wangen
glühten, als sie ihn erblickte, und die Tante rief staunend: "Wie
gerufen, Julius! Ich sprach soeben mit dem Fräulein von dir,
du wirst dir etwas darauf einbilden so gut wird es dir nicht alle
Tage."
"Und was war der Inhalt Ihres Gespräches, wenn man fragen
darf?"
"Deine Klagen von letzthin," erwiderte die Tante lachend,
"dein Kummer, daß dich das Fräulein mitten in der Rede stehen
gelassen habe, um mit irgend einem eminenten Dichter zu verkehren
. Doch am besten machst du dies mit Fräulein Elise selbst
aus," setzte sie hinzu und ging weiter,
Elise schien sich wirklich einer kleinen Schuld bewußt; denn sie
schlug die Augen nieder und zögerte zu sprechen; als aber Rempen
bei seinem unmutigen Schweigen verharrte, sagte sie, halb lächelnd,
halb verlegen: "Ich gestehe, es war nicht artig, und sicher würde
ich es mir gegen einen Fremden nicht erlaubt haben; aber daß Sie
mir dergleichen übelnehmen, da Sie meine Weise doch kennen" —
"So stände ich Ihnen denn näher als jene gelehrten und berühmten
Herren?" erwiderte er freudig bewegt, "darf es sogar
als ein Zeichen Ihres Zutrauens nehmen, wenn Sie mich so plötzlich
verlassen, um zu jenen zu sprechens"
"Sie sind zu schnell, Herr Stallmeister!" sagte sie. "Ich meinte
nur, weil Sie meine Eltern kennen und ich viel zu Ihrer Tante
komme, müsse man die Konvenienz nicht so genau berechnen. Und
muß man denn im Leben alles so ängstlich berechnen?"
Sie bemerkte dies halb zerstreut, und es entging Rempen nicht,
daß ihr Auge eine andere Richtung genommen habe, als zu ihrer
Rede paßte; er verfolgte diesen Blick und traf auf Palvi, der mit
einem ältlichen Herrn sprach und zugleich seine Blicke brennend und
düster auf Elisen heftete. Ein tiefer Atemzug stahl sich aus ihrer
Brust, als sie ihre Augen, die weder zärtlich, noch freudig glänzten,
von ihm abwandte. Sie errötete, als sie bemerkte, wie ihr Nachbar
die Richtung ihrer Blicke bemerkt habe; verlegen und zerstreut
flüsterte sie: "Wie kommt doch er hierher zu Ihrem Onkel?"
Der Stallmeister war so boshaft, sie zu fragen, wen sie denn
meine.
"Den Referendar Palvi," antwortete sie leichthin, als wollte
sie ihre vorige Frage verbessern, " er ist vielleicht mit Ihrem Hause
bekannt?"
"Ich kenn' ihn nicht," erwiderte der Stallmeister etwas ernst;
"doch warum sollte er nicht hier sein? Kennen Sie ihn vielleicht?
Man sagt, es sei ein Mann von schönen Talenten, der —"
"Wie freut es mich, dich wieder gesund zu sehen, Klotilde!"
rief seine Nachbarin und hüpfte auf ein Mädchen zu, das sechs Schritte
von ihr entfernt stand; verblüfft, als hätte er einen dummen Streich
begangen, stand der Stallmeister und sah ihr nach.
Man hatte indessen um Ruhe und Stille gebeten, ein Fräulein
von kleiner Gestalt, aber gewaltiger Stimme wollte sich hören lassen
und stellte sich zu diesem Zwecke auf ein gepolstertes Fußbänkchen
hinter ein elegantes Notenpult. Die Männer setzten sich Stühle
hinter die Frauen, die Frauen machten erwartungsvolle Mienen,
und es war so tiefe atille in dem großen Zimmer, daß man nur
die Bedienten hin und wieder "ist's gefällig?" brummen hörte, wenn
sie Tee anboten. Beim ersten Takt, den man zur Begleitung des
kleinen Fräuleins auf dem Flügel anschlug, entwich der junge
Rempen in ein Nebenzimmer, um ungestört seinen Gedanken nachzuhängen
; er zog weiter, wandelte ein paarmal im Salon auf
und ab und bog dann in die nächste Türe, dem Ende der Enfilade
zu. Im letzten Zimmer saß ein Mann in einem Sofa, der die
Stirne in die Hand gelegt hatte. Bei Rempens Nähertreten wendete
er den Kopf, und den Stallmeister hatte seine schnelle Ahnung nicht
betrogen. es war Palvi.
"Auch Sie scheinen die Musik nicht in der Nähe zu lieben,"
sagte Julius, indem er sich zu ihm auf das Ruhebett setzte; "kaum
bis hierher dringen die zarteren Töne."
"Es geht mir damit wie mit dem Geruch starkduftender Blumen,"
erwiderte Palvi mit angenehmer Stimme. "Mit diesen Düften
in einem verschlossenen Zimmer zu sein, macht mich krank und traurig;
aber im Freien, so aus der Ferne atme ich ihren Balsam mit Wollust
ein, ich unterscheide und errate dann jede einzelne Nuance, ich
möchte sagen, jede Schattierung, jeden Ton, jeden Übergang des
Geruches."
"Sie haben recht, jede Musik gewinnt durch Entfernung," bemerkte
Rempen; "aber das Jammervollste ist mir, jemand singen
sehen zu müssen. Besonders ängstigt mich die kleine Person, die
jetzt eben etwas vorträgt. Sie ist nett, beinahe zierlich gebaut,
aber alle Gliederchen en miniature Nun stellt man sie immer auf
ein Fußbänkchen, damit sie gesehen wird. Hinter ihr steht der Musikdirektor
mit der Violine. Von Anfang macht es sich ganz gut. Der
Direktor spielt piano und verzieht höchstens den Mund links und
rechts nach dem Strich seines Fiedelbogens, nach und nach kommt
er ins Feuer; ,Forte, più forte', flüstert er und wackelt mit dem
Kopf; jetzt fängt auch die Kleine an, sich zu heben; anfänglich wiegt
sie sich auf den Zehen und bewegt die Ellenbogen, als nähme sie
einen kleinen Ansatz zum Fliegen; doch crescendo mit des Musikers
Perpendikularbewegungen schreiten ihre Gebärden vor, sie weht und
rudert mit den Armen; sie hebt und senkt sich, bis sie im höchsten
Ton auf den Zehenspitzen aushält und — wie leicht kann da die
Fußbank umschlagen !
Der Referendar lächelte flüchtig. "Beinahe noch verschiedener
als beim Lachen gebärden sich die Menschen, wenn sie singen," sagte
er; "haben Sie nie in einer evangelischen Kirche die Mienen der
Weiber unter dem Gesang betrachtet: Betrachten Sie ein zartes,
schwärmerisches Kind von sechzehn Jahren, das mit rundgewölbten
Lippen, Frieden und Andacht in den Zügen, die zarten Wimpern
über die feuchten Augen herabgesenkt, ihren Schöpfer lobt. Sie
können aus den vielen Hunderten ihre Stimme nicht herausfinden,
und doch sind Sie überzeugt, sie müsse weich, leise, melodisch sein.
Setzen Sie neben das Kind zwei ältliche Frauen, die eine wohlbeleibt
, mit gutgenährten Wangen und Doppelkinn, die Augen
gerade vor sich hinstarrend, die andere etwas vergilbt, mit runzlichen,
dürren Zügen und spitzem Kinn, auf die gebogene Nase eine Brille
geklemmt — und Sie werden erraten können, daß die Dicke einen
hübschen Bariton murmelnd singt, die andere in die höchsten Nasentöne
und Triller hinaufsteigt."
"Sie scheinen genau zu beobachten." antwortete lachend der
Stallmeister. "Es fehlt nur noch, daß Sie die dicke Frau mit dem
murmelnden Bariton für die Mutter der Kleinen, die spitzige aber
für ihre ledige Tante ausgeben, eine alte Jungfer, die nicht sowohl
von unserem Herrgott als von den Nachbarinnen umher gehört sein
will. Was sagen Sie aber zu der sonderbaren Gewohnheit der
Primadonna unserer Oper? In den tiefen Tönen ist ihr hübsches
Gesicht ernsthaft, beinahe melancholisch; wenn sie aber aufsteigt,
klärt es sich auf, und hat sie nur erst die oberen Doppeltgestrichenen
hinter sich, so schließt sie die Augen wie zu einem seligen Traum,
sie lächelt freundlich und hold und lächelt, bis sie wieder abwärts
geht. Gleichgültig ist ihr dabei, was für Worte sie singt. Sie
könnte in den tiefsten Tönen ,Ich liebe dich, meines Herzens
Wonne,' singen und ungemein ernsthaft dabei aussehen, und könnte
ebenso leicht .Ich sterbe, Verräter!' in den höchsten Rouladen
schreien und ganz hold und anmutig dazu lächeln. Wie erklären
Sie dies?"
"Es ist nicht schwer zu erklären," entgegnete palvi nach einigem
Nachsinnen; "die tiefen Töne fallen ihr etwas schwer; sie muß noch
drücken, etwa wie man einen großen Bissen hinabwürgt, und unmöglich
kann sie das mit heiterem Gesicht mit den hohen Tönen
aber geht es wohl folgendermaßen zu; Als sie noch jung war und die
höheren Töne in ihrer echten Kraft sich erst bildeten, mochte sie
einen Lehrmeister gehabt haben, der ihr unerbittlich alle Tage die
Skala bis oben hinauf vorgeigte. Für einen klaren höchsten Ton
bekam sie wohl ein Stück Kuchen, ein Tuch oder sonst dergleichen
etwas; je höher sie es nun brachte, desto freudiger strahlte ihr Gesicht
vor Vergnügen über ihre eigenen Töne, und so mochte sie sich angewöhnt
haben, mit der freundlichsten Miene zu singen .Ich verzweifle!"'
In diesem Augenblicke ertönte eine reine, volle Frauenstimme
in so schmelzenden, süßen Tönen, daß die beiden Männer unwillkürlich
ihre Rede unterbrachen und lauschten. Eine leichte Röte
flog über Remp ens Gesicht; denn er erkannte diese Stimme. Sein
Auge begegnete dem dunkeln Auge Palvis, das wohl eine Weile
prüfend auf seinen Zügen verweilt haben mochte.
"Kennen Sie die Stimme?" fragte Rempen etwas befangen.
"Ich kenne sie," erwiderte jener und stand auf.
"Und wollen Sie sich den Genuß vermindern und näher tretend"
"Ich möchte wohl auch die Worte des Textes hören," entschuldigte
sich jener nicht ohne Verlegenheit.
Der Stallmeister folgte ihm; Palvi schwebte schnellen, aber
leisen Schrittes über den Boden hin und setzte sich unweit des Zimmers,
wo Elise sang, auf ein Bankett, indem er Rempen durch einen
stummen Wink einlud, sich neben ihn zu setzen. Sie lauschten; es
war die bekannte Melodie einer jener alten französischen Romanzen,
die, indem sie durch ihren ungekünstelten Wohllaut dem Ohre schmeicheln,
in mutigen Tönen das Herz erheben; aber ein deutscher Text
war untergelegt, Worte, von welchen die Sängerin selbst wunderbar
ergriffen schien; denn sie trug sie mit einem Feuer vor, das ihre
Zuhörer mit erfaßte.
Der junge Rempen fühlte sein Herz von Liebe zu der Sängerin
wie von dem hohen Schwung ihres Gesanges mächtiger gehoben;
aber mit Verwunderung und Neugierde sah er die tiefe Bewegung,
die sich auf den Zügen seines Nachbars ausdrückte. Seine Augen
strahlten, sein Haupt hatte sich mutig und stolz aufgerichtet, und
um Wangen und Stirne wogte eine dunkle Röte auf und ab, jene
Röte, die ein erfülltes, von irgend einer mächtigen Freude überraschtes
Herz verrät.
Mit gekrümmtem Rücken, auf den Zehenspitzen schlich jetzt der
Oheim Rempen heran. Schon von weitem drückte er seinem Neffen
durch beredtes Mienenspiel seinen Beifall über den herrlichen Gesang
aus, und als er nahe genug war, flüsterte er: "Heute singt
sie wieder wie die Pasta, voll Glut, voll Glut; und der schöne Text,
den sie untergelegt hat! —er ist aus einem neuen Roman, "Die
letten Ritter von Marienburg."'
Der junge Mann winkte seinem Oheim ungeduldig, stille zu
sein der Alte schlich weiter zu einer andern Gruppe, und die beiden
lauschten wieder ungestört, bis der Gesang geendet war.
5. Die letzten Ritter von Marienburg.
Rauschender Beifall füllte dann das Gemach; man drängte sich
uni die Sängerin, und auch Remyen folgte seinem Herzen, das ihn
zu Elisen zog. Aber schon war sie von einem halben Dutzend jener
Literatoren umlagert, die ihn immer verdrängten. "Welch herrliches
Lied!" hörte er den Doktor Zündler sagen, "welche Kraft,
welche Fülle von Mut, und wie zart gehalten!" Doch dem Stallmeister
entging nicht, daß der Rat, der ebenfalls bei der Gruppe
stand, den jungen Doktor durch einen freundschaftlichen Rippenstoß
aufmerksam darauf zu machen schien, daß er etwas Ungeschicktes
gesagt habe. Er erschrak, errötete und fragte in befangener Verlegenheit
, woher das Fräulein das schöne Lied habe.
"Es ist aus den ,Letzten Rittern von Marienburg', von Hüon."
Gemurmel des Staunens und Beifalls lief durch die dichten
Massen, als man diesen Titel hörte. "Wie, ein neuer Roman? —
Ah, derselbe, welchen die ,Blätter fürs belletristische Vergnügen' so
tüchtig ausg — Sie sind ja da, leise, leise — — Wo kann man den
Roman sehen?" — So wogte das Gespräch und Geflüster auf und
ab, bis der Wirt des Hauses mit triumphierendem Lächeln ein Damenkörbchen
an seidenen Bändern in die Höhe hielt, es öffnete und ein
Buch hervorzog. Er schlug den Titel auf, er zeigte ihn der gespannten
Gesellschaft, und mit freudigem Staunen las man in großen gotischen
Lettern: "Die letzten Ritter von Marienburg." —
"Vorlesen,
bitte, vorlesen," tönte es jetzt von dreißig, vierzig schönen Lippen,
und selbst die jungen Männer, die sonst diese Unterhaltung weniger
liebten, stimmten für die Vorlesung. Aber eine nicht geringe Schwierigkeit
fand sich jetzt in der Wahl des Vorlesers; denn jene Literatoren,
die sonst in diesem Zirkel dieses Amt bekleidet hatten, stemmten
sich heute bestimmt dagegen; der eine war erhitzt, der andere hatte
Katarrh, der dritte war heiser, und allen war die Unlust anzusehen,
daß nicht ihre eigenen Produkte, sondern fremde Geschichten vorgelesen
werden sollten.
"Ich wüßte keinen besseren vorzuschlagen," sagte endlich ein
Kriminalpräsident von großem Gewicht, "als dort meinen Referendar
Palvi; wenigstens zeugen seine Referate von sehr guter
Lunge und geschmeidiger Kehle." Indem der Kriminalpräsident
seinen eigenen Witz belachte und im Chorus sechs Juristen
pflichtgemäß mit einstimmten, verbeugte sich der junge Mann, anchelchen
die Rede ging, während eine flüchtige Röte über sein Gesicht
zog, und zur Verwunderung der Gesellschaft, die ihn sehr wenig
kannte, ergriff er das Buch und die Tasche und fragte bescheiden,
welcher von den Damen beides gehöre.
Dem Stallmeister, der hinter ihm stand, hatte dies längst sein
scharfes Auge gesagt. Elise war flüchtig errötet, als der Onkel den
Beutel emporgehoben und das Buch daraus hervorgeholt hatte.
Als aber Palvi anfragte, als er mit seinem dunkeln Auge den Kreis
der Damen überstreifte und bei ihr stillestand, da goß sich ein dunkler
Karmin über Stirne, Wangen und den schönen Hals des Fräuleins;
sie schien überrascht, verlegen, und als jene Röte ebenso schnell verflog,
schien sie sogar ängstlich zu sein. "Das Buch gehört mir, Herr
von Palvi," sagte sie schnell und mit einem kurzen Blick auf ihn. —
"Und werden Sie erlauben, daß daraus vorgelesen wird? Daß
ich daraus vorlese?" fragte er weiter.
"Ich habe hier nichts zu bestimmen," erwiderte sie, ohne aufzusehen
; "doch das Buch steht zu Diensten."
"Nun, dann nicht gesäumt!" rief der Oheim. "Stühle in den
Kreis und ruhig sich gesetzt und andächtig zugehört; denn ich denke,
wir werden einen ganz angenehmen Genuß haben."
Man tat nach seinem Vorschlag; in bunten Kreis setzte sich die
zahlreiche Gesellschaft, und sei es, daß man auch hier Fräulein Elise
als literarische Königin ansah, oder war es eine sonderbare Fügung
des Zufalls, der Vorleser kam so gerade ihr gegenüber zu sitzen,
daß, so oft sie die Augen aufhob, diese schönen Augen auf ihn fallen
mußten.
"Aber, Freunde," bemerkte die Dame vom Hause, "dieser
Roman hat, soviel ich weiß, drei Bände; wollen wir sie alle anhören,
so kommt unsere junge Welt heute nicht mehr zum Tanzen und
wir anderen nicht zum Spiel; ich denke, man wählt die schönsten
Stellen aus."
"Wer aber soll sie wählen? fiel ihr Gatte ein. "Das Dina
ist nagelneu, niemand hat es gelesen; doch Fräulein Wilkow wird
uns helfen können. Können Sie nicht schöne Stellen andeuten und
uns den Faden des übrigen geben?"
Man bat so allgemein, so dringend, daß Elise nach einigem
Z gern nachgab. "Der Roman," sagte sie, "spielt, wenn ich mir
die Jahreszahl richtig gemerkt habe, in den Jahren 1455 und 1456
in und uni Marienburg in Ostpreußen. Der deutsche Orden ist von
seinen früheren, einfachen und reinen Sitten abgekommen; dies und
innerer Zwiespalt, wie Neid und Anfeindungen von allen Seiten
her, drohen, einen baldigen Umsturz der Dinge herbeizuführen, wie
dann auch durch den Verrat böhmischer Ordenssoldaten, gegen
Ende des dritten Teils, Marienburg für den Orden auf immer verloren
geht. Auf diesen geschichtlichen Hintergrund ist aber die
interessante Geschichte eines Verhältnisses zwischen einem jungen
deutschen Ritter und einem Edelfräulein aufgetragen. Sie ist die
Tochter des Kastellans von Marienburg, eines geheimen und furcht
baren Feindes des Ordens, der, anscheinend dem Deutschmeister
befreundet, nur dazu in Marienburg lebt, um jede Blöße des Ordens
den Polen zu Verraten. Der Roman beginnt in der Ordenskirche,
wo die Ritter und viele Bewohner von Marienburg und der Umgegend
bei einem feierlichen Hochamte versammelt sind, um den
Tag zu feiern, an welchem vor vielen Jahren der erste Komtur
mit seinem Konvent in dieser Burg einzog. Der letzte Meister, Ulerich
von Elrichshausen, ein Mann, der sich dem nahenden Verderben
noch entgegenstemmen will, hält eine eindringliche Rede an die
Ordensglieder. Der Gottesdienst endet mit einer feierlichen, lateinischen
Hymne. Indem zwei der jüngsten Ritter, nach der Sitte bei
solchen Gelegenheiten, den vornehmsten fremden Besuchern das
Geleite bis in den Vorhof geben, bemerkt der eine von ihnen, daß
der andere im Vorbeistreifen ein kleines Päckchen in die Hand einer
verschleierten Dame gedrückt habe. Die Kirche ist leer, und im
zweiten Kapitel fragt nun der erstere den zweiten um die Bedeutung
dessen, was er gesehen. Er ist sein Waffenbruder, ein Bündnis,
das nach der Sitte der Zeit fester als irgend ein Freundschaftsband
galt, und Kuno von Elrichshausen, der Neffe des Meisters, der Held
des Romans, gesteht ihm endlich sein Verhältnis zu der Dame,
erzählt ihm von seinem Leben, seiner Liebe, seinen trostlosen Aussichten
.
"Der Freund ratet ab, Kuno aber verschmäht jede Warnung
und bittet jenen, er möchte ihn an diesem Abend zu einer Zusammenkunft
mit der Geliebten begleiten. Diese Zusammenkunft in einem
verfallenen Teil des älteren Schlosses ist so schauerlich schön, daß
ich möchte, sie würde ganz gelesen.
Palvi las. Wer je ein Buch, das er sonst nicht kannte, in Gesellschaft
vorgelesen, der weiß, daß etwas Beunruhigendes in dem
Gedanken liegt, daß man mit gehaltener Sicherheit auf einem Felsenpfade
gehen soll, den man noch nie betreten. Dieses beängstigende
Gefühl wächst, wenn es ein Gespräch ist, das man vorträgt. Man
kann den Atem, den Rhythmus, den Ausdruck der Empfindung nicht
richtig abmessen und verteilen. man weiß nicht, ob jetzt die höchste
höhe der Lust ausgedrückt ist, ob jetzt der Dichter die tiefste Saite
der Wehmut berührt habe, ob er nicht noch tiefere Akkorde anschlagen
werde, und der Zuhörer pflegt diese Unsicherheit störend
mitzuempfinden. Aber wunderbar las dieser junge Mann, den ein
zufälliger Scherz seines Vorgesetzten zum Vorleser gestempelt hatte.
Es war, als lese er nicht mit den Augen, sondern mit der Seele ohne
dieses Organ, als spreche er etwas längst Gedachtes, eine Erinnerung
aus. als kenne er den Inhalt, den Geist dieser Blätter, und sein
Gedächtnis habe das Buch nur wegen der zufälligen Wortstellung
vonnöten. Wenn das. was er la: nicht durch Inhalt und Form
so großartig, dieses Gespräch zweier Liebenden so neu, so bedeutungsvoll
gewesen wäre, diese Art, etwas vorzutragen, hätte zur Bewunderung
hinreißen müssen.
Wir fürchten zu ermüden, wollten wir den Gang der Gefühle
im Gespräch dieser Liebenden verfolgen. Wir bemerken nur, daß
der jüngere Teil dieser Gesellschaft mächtig davon ergriffen wurde,
daß Fräulein Elise, die anfangs den Vorleser mit scheuen, staunenden
Blicken angesehen hatte, in tiefer Rührung die Augen senkte und
kaum so viel Fassung fand, ihre Erzählung weiter fortzusetzen.
"Die Liebenden," sagte sie, "so wenig Trost im Schluß dieser
Szene lag, sind zufrieden in dem Gedanken an die Gegenwart.
Je dunkler aber die Zukunft vor ihnen liegt, desto angenehmer dünkt
es ihnen, die Gegenwart mit schönen Träumen auszufüllen. Der
Deutschmeister bekommt die Nachricht, daß der Kaiser, von den Einflüsterungen
Polens halb besiegt, dem Orden zürne, ihm namentlich
innere Zügellosigkeit vorwerfe. Der Meister versammelt daher im
großen Rempter ein Kapitel, wo er die Ritter anredet. Diese Stelle
ist eine der trefflichsten im Buche; denn der Verfasser befriedigt
hier auf wunderbare Weise zwei Interessen. Indem der Meister
die Verhältnisse des Ordens bis auf die zartesten Nuancen aufdeckt
und berechnet, bekommt der Leser nicht nur ein schönes Bild von
dem einsichtsvollen, umsichtigen Ulerich von Erichshausen, von der
erhabenen Würde eines Nachfolgers so großer Meister, von der gebietenden
Stellung eines Herrschers auf Marienburg, sondern er
bekommt auch auf ungezwungene und natürliche Weise eine übersicht
über die historische Grundlage des Romans. Der Meister schärft
die Haus- und Sittengesetze und schließt mit einer furchtbaren
Drohung für den Übertreter.
"Der Held des Romans, voll schönen Glaubens an alles Edle
und Reine, sieht in seiner Freundschaft für Wanda, so heißt das
Fräulein, kein Unrecht. Er seht, begleitet von seinem Freunde,
die nächtlichen Zusammenkünfte fort. In einer derselben ist ein
wunderschönes Märchen eingewoben, eine Sage, die man auch mir
in meiner Kindheit oft erzählt haben muß; denn sie klang mir wie alte
Erinnerungen."
Sie hielt inne; mit einem Blick voll Liebe und Wehmut fragte
Palvi, ob er das Märchen lesen solle. Sie nickte ein kurzes Ja,
und er las. Der junge Rempen hatte während des Märchens sein
Auge fest auf Elisen gerichtet. Er bemerkte, daß sie anfangs heiter
zuhörte, mit einem Gesicht, wie man eine bekannte Lieblingsmelodie
hört und die kommenden Wendungen zum Voraus erratet; nach
und nach wurde sie aufmerksam; es kamen einige sonderbare Reime
vor, die Palvi so rasch und mit so eigenem singenden Tone vortrug,
daß sie dadurch tief ergriffen schien; Erinnerungen schienen in ihr
auf- und niederzutauchen, sie preßte die Lippen zusammen, als
unterdrücke sie einen inneren Schmerz; er sah, wie sie bleich und
immer blasser wurde, er sah sie endlich ihrer Nachbarin etwas zuflüstern
; sie standen beide auf, aber ebenso schnell sank Elise wieder
kraftlos auf ihren Stuhl zurück.
Die Bestürzung der Gesellschaft war allgemein. Die Damen
sprangen herzu, um zu helfen; aber sei daß, wie es oft zu geschehen
pflegt, gerade das unangenehme Gefühl dieser störenden,
geräuschvollen Hilfe sie wieder emporraffte, oder war es wirklich
nur etwas Vorübergehendes, ein kleiner Schwindel, was sie befiel
sie stand beinahe in demselben Moment wieder aufrecht, bleich,
aber lächelnd, und konnte sich bei der Gesellschaft entschuldigen, diese
Störung veranlaßt zu haben.
An Erzählen und Vorlesen war übrigens nach diesem Vorfall
diesen Abend nicht wohl wieder zu denken, und man nahm mit
Vergnügen den Vorschlag an, sich am übernächsten Nachmittage in
einem öffentlichen Gartensalon zu versammeln und die "Ritter von
Marienburg" gemeinschaftlich zu genießen.
Der Stallmeister fühlte sich von dieser Szene auf mehr als
eine Weise ergriffen; er konnte zwar Palvi nichts vorwerfen, er
hatte zwei Worte mit Elisen und diese öffentlich gesprochen; es war,
wenn er selbst auch wirkliche Rechte auf das Fräulein gehabt hätte,
kein Grund zur Eifersucht da; denn sie schien jenen sogar zu scheuen,
zu fliehen; aber dennoch lag etwas so Rätselhaftes in Palvis Besagen
, etwas so schmerzlich Rührendes in seinen Mienen, und
doch wieder in seinem ganzen Wesen eine so gehaltene Würde, daß
Rempen sich vornahm, was es ihn auch kosten möge, Aufschluß über
ihn zu suchen. Der Oheim war bemüht, die frühere Ordnung und
Freude herzustellen. Spieltische wurden aufgestellt, und aus dem
Salon lud eine Violine und die lockenden Akkorde einer Harfe die
junge Welt zum Tanzen ein.
6. Der Eremit.
Mit bewachenden Blicken folgte der Stallmeister Palvi, der,
noch immer das Buch in der Hand haltend, gedankenvoll umherging.
In einer Vertiefung des Fensters saß Elise. Eben ging eine
Freundin von ihr weg, und Rempen nahm wahr, wie sich Palvi
ihr zögernd nahte, wie er ihr mit einer tiefen Verbeugung das
Buch überreichte. Schnell trat auch er hinzu, und nur die breite,
dunkelrote Gardine trennte ihn von den beiden.
"Elise," hörte er den jungen Mann sagen, "seit zehn Monaten
zum ersten Male wird es mir möglich, so nahe zu stehen; nur eine
Bitte habe ich —"
"Schweigen Sie," sagte sie in leisen, aber leidenschaftlichen
Tönen, "ich will nichts hören, nichts sprechen! Ich habe Ihnen
schon einmal gesagt, ich verachte Sie.
"Nur das Warum möchte ich wissen," bat er, beinahe weinend,
nur ein Wörtchen! Vielleicht können Sie mich doch verkennen!"
"Ich kenne Sie zu gut," erwiderte sie unmutig, " einen so niedrigen
, gemeinen Menschen kann ich nur verabscheuen."
"Gemein, niedrige" rief er bitter. "Und dennoch schwöre ich,
daß ich Ihnen Achtung abzwingen will; diesen gemeinen, niedrigen
Mann sollen Sie schätzen müssen! Wissen Sie, ich bin —"
"Daß Sie ein recht elender Mensch sind, weiß ich lange; darum
bitte ich, entfernen Sie sich; diesen Zirkel werde ich aber nie mehr
besuchen, wenn Ihnen noch einmal einfallen sollte, mich anzureden."
Bei diesen Worten stand sie rasch auf und entfernte sich mit
einer kurzen Verbeugung gegen den unglücklichen jungen Mann.
So gewichtig diese Worte, so bedeutungsvoll diese Szene war,
konnte sie doch dem Stallmeister kein deutlicheres Licht geben. Palvi
durfte wagen, sie mit "Elise" anzureden; sie behauptete, ihn ganz
zu kennen, sie sprach so heftig ihre Gefühle aus, daß ihren Haß
notwendig Liebe geboren haben mußte. — Er sah Palvi, nachdem
er noch eine Weile in der Vertiefung des Fensters verweilt hatte,
nach der Tür des Vorsaale gehen. Er folgte ihm dahin, und wie
zufällig nahm er zugleich mit jenem seinen Mantel um.
"Auch Sie scheinen kein Freund des Tanzes zu sein," redete
er den Referendar an.
"Ich habe es längst aufgegeben," antwortete er, "aber Sie, Sie --
ein Glücklicher, und nicht tanzen?"
"Ein Glücklicher?" erwiderte der Stallmeister freundlich. "Davon
möchte ich mir doch noch eine nähere Definition erbitten. Überhaupt,
hier wird mir so langweilig zu Mute, und zu Hause geht
mir die Tanzmusik im Kopf herum; gehen wir, wenn Sie nichts
Besseres vorhaben, nicht irgend wohin zusammens"
Palvi schien in einiger Verlegenheit zu sein. "Ich weiß nicht,
was mir Ihre Gesellschaft so wünschenswert macht," antwortete er;
"ich möchte die Hälfte der Nacht mit Ihnen verplaudern, und dennoch)
werden Sie es glauben? — ich rechnete darauf, früh diese Gesellschaft
zu verlassen, und habe einem Freunde den übrigen Teil
des Abends zugesagt."
"Wohlan!" fuhr der Stallmeister scherzend fort. "Wenn Sie
nichts gar zu Wichtiges zu besprechen haben, so folge ich Ihnen dahin."
Der junge Mann errötete. "Das Haus ist abgelegen," sagte er,
"und für solche Gäste vielleicht nicht ganz passend."
"Und wenn es der Entenzapfen wäre," rief Rampen; "es soll
ja vortreffliches Cerevis dort geben."
Mit einer Mischung von Staunen und Freude blickte ihn der
Referendar an; doch ehe er noch fragen konnte, sprach Rampen
weiter: "Verzeihen Sie meiner Neugierde, die diesmal die Diskretion
überwog! Der Zufall machte mich zum Zeugen, als der wunderliche
alte Herr Sie diesen Abend einlud, und schon damals wünschte
ich, mit von der Partie zu sein, um so mehr," setzte er verbindlich
hinzu, "da ich diesen Abend so manchen poins reunion zwischen
uns fand."
"Gut, so folgen Sie mir — Sie werden ein Original kennen
lernen, das gewiß mehr unsere Aufmerksamkeit verdient, als die
schwachen Kopien dort oben, die doch immer für Originale gelten
möchten, ja, sich selbst dafür halten. Ich meine jene Poeten und
Literatoren. die uns heute morgen ein so wunderbares Schauspiel
gegeben haben."
"In seiner Art diesen Abend ein nicht minder sonderbares,"
entgegnete Rempen; " oder sollte Ihnen entgangen sein, wie ungezogen
sie sich benahmen, als man verlangte, dieser Roman solle
vorgelesen werden? Schien es nicht, als wollten sie durch stilles,
höhnisches Lächeln, durch ihre kalte Entschuldigung, zum Vorlesen
nicht bei Stimme zu sein, durch so manche Zeichen ihres Mißfallens
der Gesellschaft die Ueberzeugung aufdringen, als sei das Buch schlecht
und unwürdige Man kann nicht verlangen, daß sie sich — wollen
sie einmal ungesittet sein — im Keller eines Italieners Fesseln
anlegen; sie bezahlen dort, und ihre Rede ist frei; aber in einer
Gesellschaft wie diese mußten sie sich den Gesetzen des Anstandes
fügen."
"Ich wollte vieles wetten," bemerkte Palvi, "der Mann, zu
dem ich Sie jetzt führe, ab er gleich in seinen Gewohnheiten und
Sitten wenig gesellschaftliche Bildung verrät, würde sich weniger
unschicklich benommen haben."
"Und wer ist er denn?" fragte der Stallmeister.
"Er gehört einem Schlag von Leuten an, die man in unseren
Ländern jetzt weniger oder nicht so auffallend und originell sieht
als früher, ein sogenannter württembergischer Magister. Bitte
übrigens, glauben Sie nicht, daß in diesem Begriffe etwas Lächerliches
liege; denn eine nicht geringe Zahl würdiger, gelehrter Männer
unserer Zeit gehören diesem Stande an. Es gab in früherer Zeit —
ob jetzt noch, weiß ich nicht — in jenem Lande eine Pflanzschule
für tiefe Gelehrsamkeit. Es gingen Philologen, Philosophen, Astronomen
, Mathematiker in Menge daran:, hervor, zum Beispiel auch
ein Kepler, ein Schelling, Hegel und dergleichen. Vor zwanzig
Jahren soll man allenthalben in Deutschland Leute aus dieser
Schule gesehen haben; den Titel Magister bekamen sie als Geleitsbrief
mit. Sie waren gewöhnlich mit tiefen Kenntnissen ausgerüstet,
aber vernachlässigt in äußeren Formen, in Sprache und Ausdruck
sonderbar, und spielten eine um so auffallendere Figur, als
sie gewöhnlich ihrer Stellung nach, als Lehrer an Universitäten,
als Erzieher in brillanten Häusern, in der Gesellschaft durch ihr
Äußeres den Rang nicht ausfüllten, den ihnen ihre Gelehrsamkeit
gab. Eine solche Figur aus alter Zeit ist mein Freund. Er ging
schon vor dreißig Jahren aus seinem Vaterlande, hat aber weder
in Kurland, noch in Sachsen seine Eigenheiten abgelegt. Er lebt
hier, abgeschieden von der Welt, in einem Dachstübchen; ich halte
ihn für einen der tiefsten Denker des Zeitalter:, dabei ist er ein
liebenswürdiger Dichter, und dennoch ist sein Name gänzlich unbekannt.
Die gelehrtesten Rezensionen in den Leipziger und Haller
Blättern sind von seiner Hand; manche Entdeckung, mancher tiefgedachte
Satz, womit jetzt die neuen Philosophen ihre Werke anfputzen,
sind von ihm; er hat sie spielend hingeworfen."
"Also ein literarischer Eremit!" rief Rempen aus indem er,
nicht ohne kleinen Schauder, an der Seite des Referendars durch
enge, schmutzige Gäßchen ging. "Eine Nachteule der Minerva in
bester Forme"
"Wenn es heutzutage wieder einen Diogenes geben könnte,
erwiderte jener, "ich glaube, er müßte im Kostüm meines Magisters erscheinen.
Dieses ehrliche, kluge, ein wenig ernste Gesicht, die kunst
los um den Kopf hängenden Haare, da:: verstossene Hütchen, der
abgetragene Rock, den er mit keinem anderen vertauschen mag, die
sonderbare, beinahe zärtliche Neigung zu einer alten, schwarzgerauchten
Pfeife, dazu ein dunkelbraunes Meerrohr mit silbernem Knopfe, und
diese ganze Gestalt in der düsteren, schwärzlichen Spelunke,
in welche wir eben treten wollen —nehmen Sie dies alles zusammen,
und Sie werden finden, das Urbild eines modernen zynischen Philosophen
ist fertig, nur würde er einen Alexander nicht um ein wenig
Sonne, sondern um ein klein bißchen Feuer für seine Pfeife bitten."
Durch einen Vorplatz, wo das trübe Licht einer schmutzigen
Laterne einen zweifelhaften Schein auf Kornsäcke und umgestülpte
Bierfäßchen warf, traten jetzt die beiden jungen Männer in das größere
Schenkzimmer des Entenzapfen. Der Wirt, dick und angeschwollen
von von dem Kosten seines eigenen Getränkes, schlief in einem Lehnsessel
hinter dem Ofen; einige abgerissene Gestalten spielten bei
einem Stümpfchen Licht mit schmierigen Karten und sahen die
Vorübergehenden mit matten, schläfrigen Augen an.
Palvi ging vorüber in ein zweites, kleineres Gemach, das für
bessere Gäste eingerichtet schien. Derselbe Alte, den Rempen diesen
Abend flüchtig gesehen, saß dort allein hinter einer Kanne Bier.
Auf den Tisch hatte er mit Kreide einen mathematischen Satz gemalt.
Er schaute, die Stirne in die Hand gestützt, aufmerksam auf seine
Berechnung nieder, und nur große Tabakswolken, die er hin und
wieder ausstieß, zeigten, daß er lebe und atme. Erst nach dem Abend
gruß seines Freundes richtete er sich auf und zeigte ein ernstes
gleichgültiges Gesicht, dem nur das glänzende, ungemein interessant
Auge einiges Leben verlieh.
Die Gegenwart eines Fremden schien ihm unangenehm aufzufallen.
Kurz abgebrochen, indem er hastig mit dem Rockärmel di
Figuren von dem Tisch abwischte, sagte er: "Seid lange ausgeblieben."
"Dafür bringe ich aber einen seltenen Gast mit," erwidert
der junge Mann, "der das Entenbier versuchen will."
"Literatoren" fragte der Uta etwas mürrisch.
"Wo denkst du hin, Magister? Ein hiesiger Literator und der
Entenzapfen! Nein, er ist nicht von diesen, sondern heißt Herr von
Rempen und ist Stallmeister.
"Da haben der Herr die echte Quelle gefunden," sprach der
Alte freundlich und mit einer Herzlichkeit, die ihn sogar angenehm
machte. "Der Entenzapfen hat solid Getränke. Setzet euch, da
bringt die Kellnerin schon die Kannen."
Der Stallmeister erschrak vor der großen Kanne, die ihm das
niedliche Kellermädchen mit den roten Lippen kredenzte; aber die
Neugierde nach dem Magister, der Drang, von Palvi nähere Aufschlüsse
über Elisens Betragen zu erhalten, milderten seinen Schauder
vor dem Entenzapfen.
"Es hat einen eigenen Reiz für mich," sagte er, um die Anrede
des Alten zu erwidern, "so aus einer glänzenden Gesellschaft, wo
alles voll Glanz und Putz, voll Berechnung und eitlen Bemühens
ist, mich in die Einsamkeit einer solchen Schenke zu begeben. Man
wird so leicht verführt, jenes schimmernde Wesen für wahres Leben,
für ein Ideal der Gesellschaft zu nehmen, und nur ein plötzlicher,
recht greller Tausch kann von diesem Wahne retten, besonders wenn
man das Glück hat, Männer zu finden, die zu vernünftigem Gespräch
bereitwillig sind.
"Ich kann mir's denken aus früherer Zeit," entgegnete der Alte
mit ironischem Lächeln. "Nun hat man wieder anständig geschnattert
und gezwitschert, Tee getrunken und göttlichem Gesange gelauscht
, und als man gar ästhetisch zu werden, vorzulesen anfing,
seid ihr aus Angst davongelaufen
"Nein," antwortete Rempen, "solange gelesen wurde, blieben
wir.
Wies" rief der Magister. "Und Ihr habt es über Euch vermocht
, Herr Referendar, allerlei rosenfarbene Poesie anzuhören."
"Man las .Die letzten Ritter von Marienburg'," belehrte ihn
der Stallmeister.
Ei, der Tausend!" sagte der Alte, mit einem sonderbaren
Seitenblick auf Palvi, "könnte man doch solche Speise vertragen,
ohne den ästhetischen Gaumen und Magen zu verderbens Hat sich
denn die Welt gedreht, oder waren unsere hiesigen Schöngeister
nicht zugegen?
"Doch, sie waren dabei," erwiderte Rempen, "sie wagten es
nicht, sich dagegen zu setzen, obgleich der Zorn aus ihren Augen
sprühte; denn noch diesen Morgen hatten sie sich bündig und deutlich
erklärt." Und nun erzählte er den Auftritt im Keller des Italieners
mit einer Geläufigkeit, über welche er sich selbst wundern mußte.
Mehrmals wurde er von einem schnellen, kurzen Lachen des Alten
unterbrochen; als er aber mit dem furchtbaren Bündnisse der literarischen
Trias endete, brach der alte Mann in so herzliches Gelächter
aus, daß der Wirt zum Entenzapfen mit einem tiefen Gestöhne
erwachte und sich im Sessel umwälzte.
"Der Herr Stallmeister erzählen gut," sprach dann der Magister,
indem er Tränen, die das Lachen hervorgelockt hatte, verwischte.
Ich kenne sie, diese Bursche, diesen Chorus von Halbwissern. Sie
sind geachteter beim Stadtpublikum und auf dem Landsitze als der
wahre Gelehrte, sie sind die Vornehmern unter den Musensöhnen
und machen ungebeten die Honneurs auf dem Parnaß, als wären
sie Prinzen des Hauses oder zum mindesten Kammerjunker; um
so weniger können sie es verschmerzen, wenn ihre Blöße aufgedeckt
und ihre Schande ans Licht gestellt wird. Sie fühlen ihr Nichts,
sie sehen einander ab; aber sie wollen es sich nicht merken lassen."
"Am sonderbarsten und unerklärlichsten scheint mir ihre Wut
gegen das, was man salat historischen Roman nennt," bemerkte
der Stallmeister. "Ich bin zu wenig im Gebiete der Literatur bewandert,
um es mir erklären zu können."
"Danken Sie Gott,' erwiderte der Alte, "daß Sie ein heitere:,
rüstiges Handwerk erwählt haben und von diesem unseligen, feindlichen
Treiben nichts wissen. Kommt mir doch diese schöne Literatur
jetzt vor wie scharfer Essig. Mit gehöriger Zutat vom Öl des Lebens.
Philosophie, ist sie die Würze Eurer Tage; aber kostet sie gesondert,
so ist sie scharf, abstoßend. Betrachtet sie genau, etwa durch ein
tüchtiges Glas, so sehet Ihr das Azidum, aufgelöst in eine Welt
von kleinen Würmern, die sich wälzen und einander anfallen, über
andere wegkriechen."
"Pfui! Aber ihr Verhältnis zum historischen Roman?"
"Sie geberden sich," antwortete Bunker, "als ab sie gegen
irgend eine Erscheinung des Zeitgeistes ankämpfen könnten. wie
Pygmäen gegen einen Riesen. Als ob nicht schon die ,Ilias so gut
historisch gewesen wäre als irgend ein Roman des Verfassers von
Waverley'. Und ist nicht ,Don Quichotte' der erste aller historischen
Romanes Doch nehmen Sie nähere Beispiele bei uns ! Spricht
sich nicht in .Wilhelm Meister' das Element eines historischen Romans
geheimnisvoll auss Müssen wir nicht den Begebenheiten, in die
der Held verwickelt ist, eine gewisse Zeitgeschichte unwillkürlich unterlegen?
Müssen wir nicht das Lager des Prinzen als eine notwendige
historische Dekoration damaliger Zeit ansehen? Und die ,Unterhaltungen
deutscher Ausgewanderten', sind sie nicht eine historische
Novelle? Wir betraten also zum mindesten keinen neuen Boden.
kein neues, zweifelhaftes Gebiet." —
"Und welch kleiner Schritt,"
bemerkte Palvi, "welch natürlicher Übergang ist vom historischen
Drama, wie wir es bei Goethe finden, zum modernen geschichtlichen
Roman. Diese Dramen liegen durch ihr eigentümliches,
natürliches Leben dem Romane schon um vieles näher als die historischen
Schauspiele Shakespeare:,. Wie im Romane sprechen dort
die Helden nicht großartige Gefühle au:.; sie halten nicht gedehnte
Reden, sondern ihre Reden erzählen von den schlummernden Entschlüssen
ihrer Seele, und wir erblicken in einer einzelnen Wendung
Motive, ahnen Handlungen. die sich nachher verwirklichen.
"Die Völker scheinen sich in unseren Tagen zu scheiden und
scharf abzugrenzen. Doch diese Scheidung ist nur scheinbar; denn
die Menschheit ist durch so viele Erfindungen sich näher gerückt worden.
Wir gehören mehr und mehr der Welt an. Wir sprechen von entfernten
Polarländern oder von Amerika mit einer Bestimmtheit,
einem Gefühle der Nähe, wie unsere Großväter von Frankreich
sprachen. Wir sind jetzt erst Europäer geworden. Darum ist uns
nichts mehr fremd, was in diesem alten Weltteile geschieht. Der
Unterschied der Sprache hat aufgehört; denn, Dank sei es unseren
gewandten Übersetzern, es ist, als ob Scott und Irving in Frankfurt
oder Leipzig lebten.
"Gewiß!" fiel Rampen ein, "auch in der Gesellschaft sind sich
die verschiedenartigsten Elemente näher getreten. Unsere jungen
Männer erzählen jetzt von einer Reise nach London oder Rom mit
mehr Bescheidenheit oder Gleichgültigkeit, als sonst einer von einer
Reise an einen zwanzig Meilen entfernten Hof erzählte. Aber ist
uns durch alles dies, daß wir in einer so breiten Gegenwart leben,
die Geschichte nicht viel mehr fern, als nahe gerückt?"
"Ich gebe zu," sagte der Alte, "das ernste Studium der Historie,
aber nicht das rein menschliche Interesse daran. Die Geschichte
war sonst die Geschichte der Könige, und an ihre oft unbedeutende
Person knüpfte sich das Leben unsterblicher Männer. Die neuere
Zeit, so große Veränderungen um uns her, haben uns anders denken
gelehrt. Es ist die Geschichte der Meinungen, es sind die Schicksale
gewisser Prinzipien, die wir kennen lernen möchten. Ihr Kampf
erscheint in jedem Zeitalter mehr oder minder und unter der verschiedensten
Gestalt, und dieser Kampf der Meinung ist es, was
jeder Periode ihr Interesse gibt, er ist es, der, dem Romane zum
Grunde gelegt, unsere Teilnahme auf unbeschreibliche Weise anzieht."
"Ich ahne, daß Sie recht haben," erwiderte der Stallmeister.
Gleichwohl kann ich diese Idee meinen bisherigen Ansichten noch
nicht recht anpassen. Denn wie vertragen sich zum Beispiel mit
dieser welthistorischen Ansicht jene sonderbaren Figuren Walter
Scotts, die bald als rohe Hochländer, bald als Räuber, als Fischer
in die Geschichte unmittelbar eingreifen und so anziehend erscheinen:"
"Das ist es ja gerade, was ich sagte," antwortete der Magister.
Wir ahnen in der Geschichte des Landes und des Volkes, die uns
Professoren auf Kathedern vortragen, daß es nicht immer die Könige
und ihre Minister waren, die Großes, Wunderbares, Unerwartetes
herbeiführten. Da oder dort hat die Tradition den Schatten, den
Namen eines Mannes aufbehalten, von dem die Sage geht, er habe
großen und geheimnisvollen Anteil an wichtigen Ereignissen gehabt.
Solche Schatten, solche fabelhafte Wesen schaffte die Phantasie des
Dichters zu etwas Wirklichem um. In seinen Mund, in sein und
seiner Verbündeten geheimnisvolles Treiben legt er die Idee,
legt er den Keim zu Taten und Geschichten, die man im Handbuch
nur als geschehen nachliest, vergebens nach ihren Ursachen forschend.
Indem solche Figuren die Ideen persönlich vorstellen, bereiten sie
dem Leser hohen Genuß und oft ein um so romantischeres Interesse,
unscheinbarer sie durch Bildung und die Stellung in der bürgerlichen
Gesellschaft anfänglich erscheinen."
"Und so hielten Sie es für möglich, daß auch die deutsche Geschichte
interessante Stoffe für historische Romane bieten könnte?"
fragte Rempen. "Mir schien sie immer zu zerrissen, zu flach, zu
wenig romantisch und großartig."
"Das letztere glaube ich nicht," erwiderte Palvi. "Und muß
denn gerade der Hintergrund, das historische Faktum das Erhabene
sein? Ist es nicht der Zweck des Romans, Charaktere in ihren verschiedenen
Nuancen, Menschen in ihren wechselseitigen Beziehungen
zu schildern? Und kann sich nicht ein großartiger Charakter an einer
Tat, einem Zwecke erproben, der für die allgemeine Geschichte von
geringerer Bedeutung ist? Oder glauben Sie, weil Tieck in die
Sevennen flüchtete, um auf einem historischen Hintergrunde zu
ruhen, er habe damit sagen wollen, unsere Geschichte biete keinen
Stoff, der seines hohen Genius würdig wäre?"
"Diese ,Ritter von Marienburg'," nahm der Alte das Wort.
"beschäftigen sich mit keinem großartigen historischen Ereignisse.
Schon fünfzig Jahre, ehe das Unglück des Ordens in Ostpreußen
wirklich hereinbricht, gewahrt man, daß er sich nie mehr zu seinem
alten Glanze erheben könne, daß früher oder später die Elemente
selbst, die seine Größe beförderten, seinen Sturz bereiten werden.
Er fällt; denn er hat seinen Beruf erfüllt. Aber an die geschichtliche
Figur des Großmeisters, an die Täler der Nogat, an die Mauern
der erhabenen Burg weiß jener Hüon Fäden anzuknüpfen, woraus
er ein erhabenes Gewebe schafft. Ich möchte sagen, er baut aus
den Trümmern jenes gestrandeten Schiffes eine Hütte, worin sich
bequem wohnen läßt.
"Nun verstehe ich Sie," rief der Stallmeister; "und weil sie
diesen Standpunkt nicht erreichten, weil sie diese höhere Ansicht
nicht erfassen mögen, kämpfen jene Leutchen gegen diesen historischen
Roman. Es ist Brotneid; sie wollen ihn nicht aufkommen lassen,
weil er die Kunden an sich ziehen könnte.
"Hat er nicht recht, der Herr Stallmeister?" wandte sich der
Magister lächelnd an seinen Nachbar. "Sie schimpfen alle aufeinander
und zusammen auf jedes Größere, diese Kleinmeister. Mich
freut es nur, daß mein Doktor Zündler auch bei der furchtbaren
Freitags-Trias ist.
7. Der Dichter.
"Ihr Doktor Zündler ?" fragte Rempen befremdet. ",Kennen
Sie ihn?
Ob ich ihn kenne!" erwiderte der Alte lachend
"Der Herr Stallmeister macht keinen schlimmen Gebrauch davon,"
sagte Palvi zu dem Magister, "und zu größerem Verständnis
der Poesie ist es ihm nützlich, wenn er es weiß. Bist du es zufrieden,
Alter?"
"Es sei! Aber der Herr Stallmeister wird diskret sein," antwortete
der Alte.
Was werde ich erfahren?" fragte Rempen. "Wie geheimnisvoll
werden Sie auf einmal :
"Sie kennen den Doktor Zündler, einen der ersten Lyriker
dieser Stadt," sprach Palvi "sein Ruhm war früher gerade nicht
sehr groß, doch etwa seit einem halben Jahre regt er die Flügel
mächtig. Hier sitzt der Dädalus, der sie ihm gemacht hat."
"Wie soll ich dies verstehen?" erwiderte der Stallmeister.
Unser Magister hier ist ein sonderbarer Kauz," fuhr jener fort;
einer seiner bedeutendsten Fehler ist Ängstlichkeit, sonderbar verschwistert
mit Gleichgültigkeit. Er hätte es weit bringen können
auf dem deutschen Parnaß; aber er war zu ängstlich, um etwas
drucken zu lassen. Doch, wie vermöchte ein dichterischer Genius von
diesem Hindernisse sich besiegen zu lassen! Erdichtete fort, für sich."
"Ich machte Verse," fiel der Alte gleichgültig ein.
"Du hast gedichtet!" sagte Palvi. "Aber seine besten Arbeiten,
seine gründlichsten Forschungen hat er um acht Groschen den Bogen
in Journale zersplittert, weil er sich scheute, seinen Namen auf ein
Titelblatt zu setzen, und von den glühendsten Poesien seiner Jugend
fand ich die einzigen Spuren in halbverbrannten Fidibus. In meinen
Augen bist du entschuldigt, guter Magister, durch deine Erziehung
und die Art und Weise deines Vaterlandes. Wer hat sich dort zu
deiner Zeit um einen Geist, wie der deine war, bekümmert? Was
hat man für einen Mann getan, der nicht in die vier Kardinaltugenden
. in die vier Himmelsgegenden der Brotwissenschaft, in die vier
Fakultäten paßte? Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster
zu streichen, und Wieland floh das Land der Abderiten, weil es dort
keinen Raum für ihn gab als den Posten eines Stadtschreibers,
den er freilich so schlecht als möglich ausgefüllt haben mochte."
"Mensch, nichts Bitteres gegen mein schönes Vaterland," sagte
der Alte mit sehr ernstem Blick. , .Es war die Wiege großer Männer.
"Du sagst es," erwiderte Palvi, "die Wiege, aber nicht das
Grab. Und dieser Umstand mag seine eigenen Ursachen haben.
Zum mindesten findet man in Odessa wie am Mississippi, in Polen
und in Rio Janeiro und überdies noch auf den Kathedern aller
bekannten Universitäten deine Landsleute. Doktor Zündler nun,
um von diesem zu reden, hatte das Glück, eines Tages eine Wohnung
zu beziehen, in deren Giebel unser Magister ein Freilogis bewohnt,
weil er den Knaben des Hausherrn zum Gelehrten bilden soll.
Doktor Zündler hat, um sich zum Dichter zu bilden, viel gelesen
und hat den großen Menschenkennern bald abgemerkt, daß sie auf
Originale Jagd machen. Erstellt sich daher alle Tage zwei Stunden
mit seinem Glas unter da Fenster und stellt Betrachtungen über
die Menschen an, wie der selige Hoffmann in .Vetters Eckfenster', nur,
behauptet man, mit verschiedenem Erfolg. Denn der selige Kammergerichtsrat
guckte durch das Kaleidoskop, das ihm eine Fee geschenkt,
der Doktor Zündler aber durch ein ganz gewöhnliches Opernglas.
Da sah er einigemal den Magister und — nun, Bunkerchen, erzähle!"
Ein behagliches Lächeln verbreitete sich über das Gesicht des
Alten; er trank in längeren Zügen aus seinem Glas und erzählte
dann: "Eine- Tages sagte mir meine Aufwärterin, daß sich der
wunderschöne reiche Herr in der Beletage erkundigt habe, wer ich
wäre, was ich treibe und dergleichen. Bald darauf kam ein schön
geputzter Herr in mein Stübchen, beguckte mich von allen Seiten,
fragte mich allerlei und wunderte sich ungemein, daß ich ein Gelehrter
sei. Er hatte mich meiner Physiognomie nach für einen unglücklichen
Musiker gehalten. Sein Staunen wuchs, als er einige
poetische Versuche, die am Boden lagen, aufnahm und las. Er
wollte nicht glauben, daß sie von mir herrühren, und nahm sie endlich
aus reinem Interesse', wie er sagte, mit. Den folgenden Tag
schickte er mir ein paar Flaschen Wein. Es freute mich, ich hatte gehört,
daß er reich sei; ich bin arm und trank den Wein. Nachdem
ich die erste Flasche hinunter hatte und warm war, ging die Tür
auf, und mein Doktorchen kam herein. Ein Wort gab das andere;
man kam auf meine Poesien, ich machte wenig daraus, er viel;
er schwatzte mir etwas vor von einer Erbschaft, die er gewinnen
könne von seinem Oheim, einem portierten Verehrer der Musen;
seine bisherigen Versuche haben aber nur den Unwillen des Erblassers
erregt. So machte es sich von selbst, daß ich ihm meinen ganzen
Kram von Poesie anbot; mich selbst amüsierten diese Verse nur, solange
ich sie entwarf und ausarbeitete; ob sie da;: Publikum lese,
ob es mich dabei nenne. war ja so gleichgültig! Im Scherz ging
ich einen Akkord ein, daß ich ihm auch eine Novelle und später einen
Roman schriebe. Ergibt mir dafür Wein, Knaster, zuweilen Geld,
und ich habe da: Bequeme, daß niemand, weder in Lob noch Tadel,
meinen Namen nennt, was mir unausstehlich ist, und daß ich mich
mit keinem Journalredakteur, mit keinem Buchhändler, keinem
Rezensenten herumbeißen muß.
"Ist dies nicht köstlich, Stallmeister?" fragte Palvi lachend.
Was halten Sie von diesem trefflichen Lyriker, von diesem Zunder,
der ohne fremden Stahl und Stein kein Feuer gibt?"
"Ist es möglich!" rief der junge Rempen staunend aus. "Ist
eine solche lächerliche Niederträchtigkeit jemals erhört worden! Und
diesen Menschen konnte auch ich für einen Dichter halten, konnte
den Genius bewundern, der auf einmal über ihn gekommen? Und
auch sie , auch sie ," fuhr er in Gedanken versunken fort, "auch
sie ehrt und achtet ihn um dieser Gaben willen, zeichnet ihn aus,
spricht mit ihm über seine neuesten Werke. Es ist, um rasend zu
werden!"
Palvi sah den jungen Mann bei diesen Worten teilnehmend,
beinahe gerührt an; er schien mit Mühe eine tiefe Wehmut zu bekämpfen;
aber der Alte fuhr fort: "Solch belletristisches Ungeziefer,
das sich vom Marke anderer mästet, hätte ich schon längst gern in
der Nähe geschaut, und so studierte ich diesen Hohlkopf. Wenn allerlei
Mittel von außen her einen Dichter machen könnten, er müßte es
längst sein. Denken Sie sich, er trägt, wenn er sich zum Dichten
niedersetzt, einen Schlafrock, dessen Unterfutter aus einem Schlafrock
gefertigt ist, den einst Wieland trug. Hoffmanns Tintengefäß
hat er in Berlin erstanden, von einem Sattler in Weimar aber den
ledernen überzug eines Fauteuils, in welchem Goethe oft gesessen.
Mit diesem hat er seinen Stuhl beschlagen lassen, und so will er seine
Phantasie gleichsam u posteriori erwärmen. Auch liegt auf seinem
Tisch eine heilige Feder, Schiller soll damit geschrieben haben. Er
hat gehört, daß große Dichter gern trinken; darum geht er morgens
ins Weinhaus und zwingt sich zu einer Flasche Rheinwein; abends
aber, wenn er schon ganz dumm und schläfrig ist, trinkt er schwarzen
Kaffee mit Rum und liegt dann in schrecklichen Geburtsschmerzen
und ist gewärtig, irgend eine neue Maria Stuart oder Jungfrau
von Orleans hervorzubringen."
Indem der Magister Bunker also sprach, schlug es elf Uhr, und
nicht sobald hatte er den ersten dumpfen Ton der Glocke vernommen,
als er hastig sein Glas austrank, einige Groschen auf den Tisch legte,
dem erstaunten Stallmeister mit einer gewissen freundlichen Rührung
die Hand bot und sie ihm und Palvi herzlich drückte. Dann
aber rannte er so eilends aus dem Entenzapfen, daß Rempen nicht
einmal sein freundliches "Gute Nacht" erwidern konnte.
"Sie staunen," sprach der Referendar, "daß uns der sonderbare
Mensch so plötzlich und verwirrt verläßt. Er wohnt bei einem strengen
Mann, der immer fünf Minuten nach elf Uhr die Haustür schließt.
Weil nun der arme Magister eigentlich als Almosen sein Freilogis
genießt, darf er keinen Hausschlüssel führen, wie Leute, die ordentlich
bezahlen, und so jagt er, sobald die Glocke elf Uhr schlägt, so schnell
davon wie ein Gespenst, das mit dem ersten Hahnenschrei in sein
Grab entweicht."
"Ist dieser Mensch glücklich oder unglücklich zu nennen?" fragte
Rempen nachdenkend.
"Ich denke, glücklich," erwiderte Palvi sehr ernst; " wer wenig
hofft, hat nickst:, zu fürchten; er ist ruhig. Die Zeit mildert ja alles,
und für die Erinnerung ist er kalt geworden."
"Hat er je geliebt ?"
Er hat geliebt, die Tochter jenes Hauses in Kurland. wo er
Erzieher war. Er muß sehr liebenswürdig gewesen sein; denn die
junge Gräfin starb nachher aus Kummer. Er selbst aber brachte
zwei Jahre tiefer Schwermut in einem Irrenhause zu."
"Gott, welch ein Schicksal!" rief der junge Mann gerührt.
"Wer hätte dies ahnen können? Er hat uns eine so heitere Außenseite
gezeigt."
"Wozu soll er seinen Schmerz zur Schau tragen?" entgegnete
Palvi. "Er gehört nur sein, und er verschließt ihn mit den Trümmern
besserer Tage in seiner Brust. Ich denke, es ist dies die einzige
Art, wie Männer leiden müssen."
"Es müßte mich alles täuschen," sagte Rempen nach einer Pause,
"oder auch Sie lieben nicht glücklich. Nennen Sie mich nicht unbescheiden.
Sie haben mir zu viel Interesse eingeflößt, und auch
die Dame, die ich meine, steht mir nicht so fern, als daß nicht meine
wärmste Teilnahme bei dieser Frage wäre."
Der Referendar sah ihn überrascht, doch nicht gerade verwundert
an; sein ernstes, dunkles Auge schien die Züge des Fragenden noch
einmal zu prüfen. "Es gibt wenige Menschen," antwortete er, "die
diese Frage an mich gerichtet hätten. Doch an Ihnen freut mich
gerade diese Offenheit. Ich weiß, Sie meinen Elise Wilkow; ich
liebe sie."
"Und werden wieder geliebt?" fragte Rempen errötend.
"Ich zweifle; doch möchte ich von Ihnen nicht verkannt werden,
darum will ich Ihnen die kurze Geschichte dieser Liebe geben. Meine
Eltern, sie sind beide tot, lebten in dieser Stadt, unser Haus war
mit den Wilkows sehr befreundet; denn mein und Elisens Großvater
sind aus demselben Lande hier eingewandert. Ich bin um
so viel älter denn Elise, daß uns unsere Kinderspiele nicht zusammenführten
. Wohl aber durfte ich, als auch meine Mutter starb, das
Haus hin und wieder besuchen, und ich faßte in einem noch sehr
jungen Herzen eine glühende Neigung für das schöne Kind. Nach
den ersten Jahren meines Universitätslebens kam ich hierher. Sie
war herrlich herangeblüht und gestand mir, daß sie mir recht gut
sei. Elise war damals fünfzehn Jahre alt. Ich kam in rohe Gesellschaften.
Mein Vermögen und mein Stipendium reichten nur
das erste Mal hin, meine Schulden zu decken. Das zweite Mal
drückte mich eine bei weitem geringere Verlegenheit unangenehmer,
weil ich keinen Rat wußte. Sie hatte es erfahren, und durch fremde
Hand wurden meine Schulden getilgt. Mädchen in guten Ständen,
in einem soliden Hause aufgewachsen, wissen nicht, wie leicht ein
armer Teufel in solche Verlegenheit kommt. Sie schmälte mich in
den Ferien und hielt mich für einen schlechten Menschen. Ich versprach
Fleiß und solides Leben. Das Unglück eines meiner Freunde,
der einen anderen erschoß, ritz mich mit fort und wieder ins Elend.
Auch da hat sie mir wieder geholfen und mich zu Ehren gebracht, t.
Bei so vielen Wohltaten konnte mich vor mir selbst nur der Gedanke
entschuldigen, daß es die Hand der Geliebten sei, die mich
gerettet, daß ich diese Hand einst auf immer in die meinige legen
werde.
"Ich raffte mich zusammen, und bald darauf gelang es mir
durch Fleiß und Eifer, hier angestellt zu werden. Meine Stellung
zu Elisen war aber eine ganz andere geworden. Der alte Wilkow
hatte erfahren, wie mich seine Tochter unterstützt hatte, und verbot
mir schon beim ersten Besuch sein Haus, aus dem einfachen Grunde,
weil ich arm und leichtsinnig sei.
"Elise selbst lebte in großen, glänzenden Zirkeln, wohin ich
keinen Zutritt hatte, verkehrte mit allerlei schönen Geistern und galt
für die Krone der jungen Damen. Ich konnte sie höchstens in öffentlichen
Gärten, auf Bällen und Konzerten, im Theater sehen. Und
nur ihr freundlicher Blick konnte mich für so viel Entsagung trösten,
konnte mich von dem beinahe Unbegreiflichen versichern, daß dieses
allgemein angebetete Geschöpf — mich liebe."
Der Stallmeister suchte vergebens seine Bewegung zu verbergen.
Eine hohe Röte lag auf seinem Gesicht, und sein Auge hing
voll Erwartung an den Lippen Valvis,
"Beruhigen Sie sich," sagte dieser, als er den unangenehmen
Eindruck bemerkte, den seine Erzählung auf den jungen Mann
machte. "Fürchten Sie nichts, ich werde bald zu Ende sein. Ich
war glücklich und zufrieden; ich kannte ihre Vorliebe für Poesie,
und die Liebe ermutigte mich, einen Versuch zu wagen, der mich
ihr noch werter machen sollte. Ich strengte alle meine Kräfte an,
um sie mit etwas Gelungenem zu überraschen. Da brachte man
mir eines Tages einen Brief. Ich erkannte ihre Züge, ich riß ihn
auf und — sie schrieb mir mit kurzen, aber heftigen Worten, daß
sie sich auf ewig von mir lossage, daß sie mich in tiefster Seele verachte;
warum, werde mir mein eigenes Gewissen sagen. Ich versuchte
mancherlei Wege, um mich ihr zu nahen; mein Gewissen sprach
mich von irgend einem Fehler gegen die Geliebte frei; darum wollte
ich mir Gewißheit über das Warum verschaffen. Doch sie wich
überall aus, und noch heute —heute abend in jenem Zirkel hat sie
alle meine Hoffnungen zertrümmert,"
In dem edelmütigen Herzen des jungen Remyen siegte jetzt
Mitleiden über jedes andere Gefühl. Er faßte die Hand des unglücklichen,
ihm so interessanten Mannes; er gelobte ihm, bei Elisen
für ihn zu sprechen, sie um die Ursachen ihres Betragens zu befragen.
Aber jener erwiderte mit dem Stolze, den unverdiente Kränkung
gibt: "Vertrauen ist die erste Bedingung der Liebe. Wo
Vertrauen fehlt, da war nie Liebe, oder sie ist jedem Zufall ausgesetzt
. Ich habe Elisen auf immer verloren, selbst wenn sie mich
wieder lieben würde."
"Und in diesem Zustand wollen Sie hier fortleben?" fragte
Rempen, seine Hand ergreifend. "Wollen Elisen sehen und dabei
fühlen, daß Sie verachtet sind)"
"Nein, gewiß nicht," sprach jener mit düsterem Lächeln; "mein
Geschäft in dieser Stadt ist zu Ende. Es bleibt mir nur noch übrig,
die Geliebte vor Menschen zu warnen, die ihrer nicht wert sind.
Diesen literarischen Pöbel, der ihr so unendlich wert scheint, will
ich noch vor ihren Augen entlarven; und ich glaube ihr damit nützlich
zu sein; denn die Stellung, die Elise jetzt eingenommen, würde sie
später nimmer glücklich machen. Sie selbst werden mir dazu helfen,
mein Freund; schlagen Sie ein ! Wir wollen unsere Penelope von
diesen Freiern retten."
"Wohlan!" rief der Stallmeister, indem er aufbrach, "vielleicht
findet sich morgen schon Gelegenheit, wenn uns die letzten .Ritter
von Marienburg' versammeln; aber dann," setzte er entschlossen
hinzu, "noch einen Versuch, um auch Sie glücklich zu machen!"
8 Die Krähen unter den Pfauen.
Der schöne Frühlingstag und die Furcht, für ungebildet zu
gelten, wenigstens durch ihr Nichterscheinen geringes Interesse an
der schönen Literatur zu verraten, vereinigte den größten Teil des
Rempenschen klubs in dem Gartensaal, den man zum Sammelplatz
bestimmt hatte. Der junge Rempen war zu Pferd herausgekommen,
geraume Zeit vor den übrigen Gästen; gedankenvoll
setzte er sich auf den Altan des Hauses und schaute in den Fluß
hinab. Wie so gern hätte er sich schon heute am frühen Morgen
Gewißheit verschafft, warum Elise so plötzlich mit Palvi gebrochen,
auf eine Weise gebrochen, die notwendig, er gestand es sich mit
Schmerz, auf den Charakter des jungen Mannes einen düsteren
Schatten werfen mußte. Oft verwünschte er den gestrigen Tag und
daß er diesen Menschen kennen gelernt habe, nur um ihn heute unaussprechlich
zu achten und vielleicht morgen zu verlieren, zu —
bedauern; denn verachten? Nein, es konnte keinen Fall geben, der
ihn diesen Mann hätte verächtlich machen können. War es denn
möglich, daß eine so großartige Seele etwas Gemeinem, Niedrigem
sich hingeben könnte? "Er ist arm," sagte der gutmütige Rempen
zu sich, " er muß dürftig sein; denn seine Stelle kann ihn nicht ernähren
; vielleicht hat er wieder Schulden gemacht, sie hat es erfahren
und deutet als Leichtsinn, was vielleicht Not ist? Aber kann,
wenn selbst Leichtsinn wäre, dieser den Geliebten in ihren Augen
verächtlich, elend machen?" Wie ergrimmte er in seiner Gedankenfolge
über jene Schranken, welche das Herkommen und die "gute
Sitte" um vornehme Häuser und ihre Töchter gezogen, wie unnatürlich
erschien es ihm, daß der Geliebte die Zürnende nicht in
ihrem Hause, auf dem Wege, überall befragen, vielleicht versöhnen
könnte, daß vielleicht ein kleines, aber sichtbares Ausweichen, eine
scharfe und laut ausgesprochene Rede dazu gehörte, ihn, nach den
Sitten der Gesellschaft, auf immer zu entfernen! "Oder wie?
Sollte sie ihn vielleicht nie geliebt haben?" setzte er getrösteter
hinzu. —
"Es wäre möglich, daß ihm diese Gewißheit weniger
schmerzlich wäre als ihr Haß, aber —darf sie ihn deswegen hassen?"
Ein großer Zug von Damen und Herren hatte während dieser
Gedanken des jungen Rempen den Berg erstiegen und war jetzt
in den Gartensaal getreten.
Noch fehlte Elise; aber man konnte nun um so ungezwungener
ihren Geschmack und ihre Belesenheit bewundern. Auch Palvi wurde
gebührendes Lob gespendet; man hatte selten mit dieser Gewandtheit
, mit diesem Ausdruck etwas vorlesen gehört, und die Bewunderung
stieg, als man sich sagte, daß er wahrscheinlich diesen Roman
nicht zuvor gelesen habe. Elise kam mit Onkel und Tante Rempen
angefahren, und Julius vergaß so ganz seine vorigen Gedanken, seine
Vorsätze, daß er vor Freude errötend herbeisprang, sie aus dem
Wagen zu heben, daß er halb unbewußt ihre Hand drückte und dies erst
erkannte, als er diesen Druck erwidert fühlte. Alle jene düsteren
Bilder, die auf dem Altan vor seiner Seele vorübergezogen. verschwanden
vor dem Glanz ihrer Schönheit. Er hatte sie nie so reizend,
so wundervoll gesehen, wenigstens so huldreich war sie nie gegen
ihn gewesen. Den Grund davon gestand ihm in einer Ecke des Saals
die Tante. Er hatte den Zirkel gestern abend so bald verlassen,
daß Elise glaubte, sie habe ihn gekränkt. Dieser Gedanke erfüllte
ihn jetzt so ganz, daß er in ihre Nähe eilte, daß er mit ihr sprach
und scherzte und erst durch die wiederholte Mahnung seines Onkels
darauf aufmerksam gemacht werden konnte, daß die Gesellschaft sich
bereits im Kreise gesetzt habe und die Erzählung des Fräuleins
Wilkow erwarte.
"Mein Unfall," sprach sie mit leichtem Erröten, "hat mich
gestern, wenn ich nicht irre, gerade bei der Zusammenkunft der
Ritter mit dem Fräulein getroffen. Wandas Vater, der nicht nur
von außen, sondern auch im Innern dem Orden durch Zwischenträgerei
und Uneinigkeit zu schaden sucht, hat überall Spione. Erwünscht
ist ihm, daß ihm einer die Anzeige von jener nächtlichen
Zusammenkunft macht. Er denkt keinen Augenblick daran, daß es
seine Tochter sein könnte, sondern schleicht sich mit Knechten in jene
Ruinen und überfällt zuerst den Freund; die Dame und ihre Amme,
die immer zugegen war, entfliehen; es kommt zum Gefecht, die
Knechte werden in die Flucht geschlagen und auch der Alte zieht
sich zurück, doch nicht, ohne sich vorher mit einem Zeichen von seinem
Gegner versehen zu haben.
"Den anderen Tag versammelt der Großmeister ein Kapitel.
Er entdeckt den Rittern diesen Vorfall und beschwört die Schuldigen,
sich zu nennen. Sie schweigen. Noch einmal fordert er sie vergebens
auf und zeigt dann der Versammlung eine goldene Kette, woran
ein Siegelring befestigt ist. Das Wappen wird erkannt, und der
Freund sieht sich genötigt zu gestehen. Er übersieht mit klarem Blick
seine Lage; die geschärften Gesetze müssen ihn schuldig sprechen,
darum ist für ihn keine Rettung. Doch glaubt er, da er selbst verloren
ist, seinen Freund retten zu können. Er gesteht, in den Ruinen
mit einer Dame gesprochen zu haben. Der Meister ist tief ergriffen
von diesem Geständnis; es ist ein tapferer junger Mann, den da:
Urteil trifft, er wurde von vielen geliebt. Peinlich ist die Lage de:
Helden selbst und treffend die Beschreibung, wie die Furcht vor
Entehrung, die Hoffnung, der Freund könne gerettet werden, ihn
bald zur Entdeckung antreiben, bald davon zurückhalten. Das Urteil
der Ritter wird gesammelt. Es lautet: ,Entehrender Ausschluß
aus dem Orden.' Jetzt aber erzählt der Meister, daß noch ein zweiter
Johanniter diesen Fehltritt geteilt habe; er verspricht, die Strafe
in Entlassung zu mildern, wenn der Schuldige den Mitschuldigen
entdeckt. Jener schweigt und verratet ihn nicht. Da stürzt der Neffe
des Meisters hervor und bekennt seine ganze Schuld. Diese Szene,
der Schmerz des alten Ulerich von Elrichshausen und der Wettstreit
der Freunde, von welchen jeder der Schuldige sein will. ist
so treffend, daß man sie hören muß.
Jetzt erst sah man sich nach dem Vorleser um. Doktor Zündler
sprang nach dem Buch, das auf dem Tische lag, um zu lesen, und
hatte sich schon mit freundlichem, zuversichtlichem Lächeln Elisen
genähert, als der alte Rempen plötzlich aus den dichten Reihen
der Männer Palvi herbeiführte. "Nein, nein," sagte er, "hier steht
der Mann, der uns gestern gezeigt hat, wie gut er einen Roman
vorlese; ich denke, bester Doktor, Ihre Stimme paßt mehr zum
Leichten, Lyrischen." Mit spöttischem, halb verlegenem Lächeln
reichte der Doktor das Buch hin, und Palvi las, wenn es möglich
war, noch schöner als am gestrigen Abend. Diese erhabene und so
unglückliche Freundschaft, die Zeremonien ihrer Ausstoßung aus
dem Orden, ihre letzten Worte, als sie das Schloß verlassen, lockten
in manches Auge Tränen der Wehmut, und Elise selbst schien so
gerührt, daß Palvi mehrere Kapitel weiter las, um ihr Fassung
zu geben. Unsern Lesern ist dieser Roman zu bekannt, als daß wir
nicht besorgen müßten, sie durch längere Auseinandersetzung zu
ermüden. Jene interessanten Abteilungen, wo die beiden verstoßenen
Ritter an den romantischen Ufern der Nogat umherstreifen,
jene glücklichen Schilderungen eines schönen Landes, die
Nachrichten über die alten Preußen, in deren Mitte der Orden
zwei Jahrhunderte zuvor den Samen der Kultur getragen hatte,
ihre altertümlichen Gebräuche, die unverkennbaren Spuren heidnischer
Sitten und Gebräuche, auf sonderbare Weise mit christlichem
Ritus vermischt, dies alles, getragen und veredelt von der tiefen
Melancholie Kunos, von seines Freundes Seelenstärke und heiterem,
unverzagtem Mut, spannte die Zuhörer und riß sie hin.
Elise hatte sich bald wieder so weit gefaßt, daß sie mit Ruhe
weiter erzählen konnte. Sie erzählte, wie die beiden Vertriebenen
die Verräterei des Ordenskastellans entdecken, der die Polen heimlich
nach Marienburg rief; wie sie unter Gefahr und Beschwerden
sich durch die aufrührerischen Preußen nach Marienburg durchschlagen
, den Meister warnen und verborgen auf Gelegenheit harren,
dem Orden zu nützen. Mit großer Begeisterung las Palvi jene
Schlachtszenen, worin der Meister bei einem Ausfall auf die Polen
von seinem Neffen gerettet wird, wo der Freund die heilige Fahne
des Ordens, der ihn verstoßen, aus dem dichtesten Haufen der Feinde
zurückbringt und diese erhabene Tat mit einer tödlichen Wunde
zahlt. Tiefe Rührung brachten jene Stellen hervor, wo der Sterbende
seinem Freund so manches Rätselhafte in seinem Betragen
auflöst und ihm gesteht, daß auch er selbst Wanda auf; innigste
geliebt habe. Der Schmerz um den Sterbenden bewegt Kuno
zu dem romantischen Entschluß, seiner Liebe auf immer zu entsagen,
besonders da ein Verdacht in ihm keimt, daß sie ihn weniger geliebt
als den Freund. Die nächtliche Bestattung dieses edeln Menschen,
die Wiederaufnahme Kunos in den Orden Waren von ergreifender
Wirkung, nicht minder rührend Wandas Versuche, den Geliebten
noch einmal zu sprechen, und als sie sich vergessen glaubt, ihr schnelles
Hinwelken.
Der Kastellan ist von dem Czirwenka, dem Hauptmann der
böhmischen Besatzung, der dessen Geständnis fürchtet, selbst getötet
worden; verlassen, verwaist, auch von der Liebe verlassen, will sie
nur so lange noch in der Nähe des Geliebten weilen, bis der Frühling
heraufkommt; doch nicht nur diese zarte Blume, auch der Orden
trägt den Tod im Herzen, und beide sollten den letzten Frühling
in Marienburg sehen.
Der Großmeister Ulerich von Elrichshausen kann sich mit seinen
Rittern nicht mehr gegen den Aufstand der Preußen und gegen
seine eigenen Söldner halten. Er will den Orden nach Deutschland
führen und bedingt sich von den Verrätern freien Abzug.
Schon sind die Pferde gerüstet, der Zug will aufbrechen, und die
Ritter nehmen mit blutenden Herzen von den Hallen dieser Burg
Abschied, und als alle noch einmal ihr Teuerstes mustern, was sie
verlassen sollen, kann Kuno dem letzten Ruf der Geliebten nicht
widerstehen; er will zu ihr und — findet sie sterbend. Sie schien
nur noch so viel Leben in sich zu tragen, um ihn von ihrer Treue,
ihrer Liebe zu versichern. Indessen hat Czirwenka die Tore geöffnet.
Sechshundert Polen ziehen ein, und, statt dem Orden freien abzug zu
gönnen, wird der Großmeister vom Pferde gerissen, verspottet
und verhöhnt. Kuno verläßt die sterbende Geliebte, um
ihm beizuspringen; ein heftiges Gefecht entspinnt sich in den Höfen,
einem großen Teil der Ritter, den Meister in der Mitte, gelingt es,
zu entkommen; aber Kuno mit sechs anderen tapferen Ordensbrüdern
, welche die Fahnenwache bildeten, werden von den übrigen
abgeschnitten; kämpfend ziehen sie sich über die breiten Stufen bis
in den großen Rempter zurück, wo sonst die Ordensfahne stand.
Der Entschluß, sie lebend nicht zu übergeben, beseelt sie; sie pflanzen
da:, Panier an seinem alten Standpunkt auf und umgeben es.
Lange gelingt ihnen, das Siegeszeichen so vieler Schlachten zu
verteidigen. Aber die Polen dringen immer heftiger ein; Über
macht und Verrat siegen, und über ihre Fahne gebreitet, sterben
die letzten Ritter von Marienburg.
Es entstand eine Pause, als Palvi geendet hatte; es schien
niemand jene Stille stören zu wollen, die unter zwei oder drei
heilig und rührend, in größeren Gesellschaften peinigend ist. Doch
je erhabener da:: Gefühl ist, welches zu einer solchen Ruhe zwingt,
desto ängstlicher sind die Menschen, mit etwas Gemeinem diese
Nachklänge tieferer Empfindungen zu unterbrechen. Sie rennen
dann auf allen Vieren durch die Speisekammer ihrer Erinnerung,
um etwas Feines, Eingemachtes, Kandierten vorzusetzen, statt ihre
frischen. natürlichen Gefühle sprechen zu lassen.
"Dieser ganze Roman," lispelte endlich eine Dame, deren
Blässe und feuchte Augen auf zarte Nerven schließen ließen, "kommt
mir Vor wie jener Ausspruch Jean Pauls; .Wie manche stille Brust
ist nichts als der gesunkene Sarg eines erblaßten, geliebten Bildes.'
Dieser Hüon liebt gewiß unglücklich, und darum gefällt er sich in
diesem tragischen Geschick."
"Gerade dies kommt mir überaus komisch vor," bemerkte der
Rat, dem Reid und Verdruß um die Nasenflügel spielten; "dieser
Mensch hat zu wenig Tiefe, zu wenig Empfindung, um die Wehmut,
das Unglück zu zeichnen; doch ich habe mich an einem anderen
Ort hinlänglich darüber ausgesprochen. Gewiß, es ist so, wie ich
sage. Es steht ja gedruckt, mein Urteil," setzte er hinzu, indem er sich
vornehm in den Stuhl zurücklehnte.
"Doch glaube ich, auch gegen ein gedrucktes Urteil findet noch
Appellation statt." sagte der junge Remyen mit gleichgültiger Miene.
"Wieso?" rief der Rat errötend.
Rempen war etwas betroffen; aber die munteren Augen seines
Oheims, der hinter dem Stuhl des Rats stand, winkten ihm, fortzufahren.
"Ich meine, ich habe so etwas gelesen, das Ihr Urteil,
bester Herr Rat, völlig umstiess," entgegnete er; "übrigens ist ein
gedrucktes Urteil immer nur das Urteil eines einzelnen, und dem
einzelnen muß erlaubt sein, dagegen zu streiten. Ich zum Beispiel
finde diesen Roman besser, als Sie ihn gemacht haben. Auch glaube
ich, Tiefe des Gefühls müsse dem abgehen, der dies in den .Letzten
Rittern von Marienburg' nicht findet."
Der Oheim hatte solche: wohl nicht geahnt: denn er und die
ganze Gesellschaft schienen erstaunt über die Kühnheit des Stallmeister:
"Solche historische Romane," nahm der Professor das Wort,
"sind nur Fabrikarbeiten. Die Form ist gegeben, und wie leicht,
wie sicher läßt sich diese Form von jedem handhaben! Nehmen Sie
irgend einen Lappen der Welthistorie, zerreißen ihn in kleine Fetzen
und neiden die hergebrachten Personen von A bis Z darein, so
haben Sie einen historischen Roman. Die weitere Entwicklung ist
leicht, besonders wenn man es sich so leicht macht wie dieser Hüon,
und nur genugsam Floskeln eingestreut sind; wenn das Tränentuch
häufig als Panier aufgepflanzt wird, so kann der Eindruck nicht
verfehlt werden.
"Und doch däucht mir," erwiderte Palvi, "es ist bei weitem
schwerer, einen Roman zu dichten, der den Forderungen einer
wahren, vernünftigen und billigen Kritik entspricht, als ein Drama
zu schreiben."
"Und was nennen Sie denn eine vernünftige und billige Kritik,
Herr Referendarius?" fragte Doktor Zündler mit ungemein klugem
und spöttischem Gesicht.
"Man muß ein Buch," erwiderte Palvi mit großer Ruhe, " man
muß insbesondere ein Gedicht zuerst nach den Empfindungen beurteilen,
die es in uns hervorruft, denn auf Gefühl ist ja ein solches
Werk berechnet; es soll angenehm unterhalten, durch den Wechsel
freudiger und wehmütiger Szenen befriedigen. Und dann erst,
wenn unser Herz darüber entschieden hat, daß das Buch ein solches
sei, das unsere Gefühle erhoben, befriedigt hat, dann erst erlaube
man dem Verstand, sein Urteil darüber zu fällen, und ihm bleibt
es übrig, nachzuweisen, was in Anordnung oder Stil gefehlt ist."
"Da müsste man am Ende alle Herzen abstimmen lassen," sagte
der Rat, mitleidig lächelnd, "müßte umherfragen, hat's gefallen oder
nicht? ehe man ein öffentliches Urteil fällt. Aber dem ist nicht so;
unsere Journale waren es von jeher, denen zu loben oder zu verdammen
zustand, und der gebildete, geläuterte Geschmack ist es,
der dort richtet."
"Überhaupt dächte ich," setzte Doktor Zündler mit zärtlichem
Seitenblick auf Elisen hinzu, " man kann über Dinge dieser Art in
Gesellschaft eine gebildete Dame mit Vergnügen hören, wie schon
Goethe im 'Tasso' sagt; aber ein öffentliches Urteil müssen nur
Leute vom Fach fällen, und nur Leute vom Fach können dagegen
opponieren .
"Und halten Sie sich etwa für einen Mann vom Fach?" fragte
Palvi mit großem Nachdruck.
Der Doktor verbarg seinen Unmut über diese Frage nur mühsam
hinter einem lächelnden Gesicht. "Ich denke, die Welt zählt
mich zu Deutschlands Dichtern," sagte er.
"Die Welt," antwortete der Referendar, "die betrogene Welt,
aber nicht ich —so wenig als ich meinen Dekopisten für ein Genie
halte."
Die Gesellschaft fiel aus ihrer Spannung in eine sonderbare
Bewegung. Die Damen sahen unmutig auf Palvi, ein Teil der
Männer lachte über des Doktors auffallenden Mangel an Fassung,
ein anderer Teil mißbilligte laut solche Reden in einer guten Gesellschaft
.
"Herr von Palvi," rief endlich Zündler bebend, — man wußte
nicht, ob vor Wut oder Schrecken, —
" wie soll ich Ihre sonderbaren
Reden verstehen?"
"Ja, ja, Doktor," sagte der Stallmeister laut lachend, "auch
mit meiner Bewunderung hat es ein Ende; man sagt, Sie haben
sich Ihre Gedichte und sonstigen schönen Sachen machen lassen."
"Machen lassen?" fragte der Chorus der Literatoren mit Bestürzung.
"Hat sie machen lassen:" rief die Gesellschaft.
"Wer wagt dies zu sagen?" schrie der Doktor, indem er bleich
und atemlos aufsprang.
"Nun, leider derjenige selbst, der sie Ihnen verfertigt hat,"
antwortete Rempen mit großer Ruhe, "der Magister Bunker; er
logiert oben in Ihrem Hause.
Der entlarvte Dichter versuchte noch einige Worte zu sprechen;
er war anzusehen wie der Kopf eines Enthaupteten; die Augen
drehen sich noch, die Lippen scheinen Worte zu sprechen; aber der
Geist ist entflohen, der diesen Organen Leben gab. Eilig drängte
er sich dann durch den Kreis, stürzte nach seinem Hut und verließ
den Saal und die vor Verwunderung verstummte Gesellschaft.
"Ist es denn wahr?" sprach endlich die von Angst und Sorge
erbleichte Elise, indem sie den Stallmeister sehr ernst ansah.
"Gewiß, mein Fräulein!" erwiderte dieser lächelnd. "Ich würde
der Gesellschaft diese Szene erspart haben; aber ich war zu tief über
die freche Stirn erbittert, womit dieser Mensch mich und Sie alle
hinterging. Doch hören Sie von dem wunderlichen Mann, der ihm
alles dichtet!"
Man setzte sich schweigend, und Rempen erzählte; während
seiner Erzählung schlich sich der Redakteur der "Blätter für belletristisches
Vergnügen" au:, dem Saal, ihm folgten seine Genossen.
beschämt und ergrimmt über sich, den Doktor und die ganze Welt.
Der Gesellschaft aber gereichte die Erzählung des Stallmeisters zu
nicht geringem Vergnügen. Die gute Stimmung war wieder her
gestellt, der Punsch, den der alte Rempen als Nachsatz von gestern
gab, löste die Zungen, man fühlte sich weniger beengt, seit die öffentlichen
Schiedsrichter hinweggegangen waren, man sprach allgemein
das Lob des vorgelesenen Romans aus. Auch die Toasts wurden
nicht vergessen, und als Julius von Rempen die Gesundheit aller
wahrhaften Dichter und ihrer gründlichen kritiker ausgebracht hatte,
wagte es Elise mit glänzenden Augen, aber tief errötenden Wangen,
die Gesellschaft aufzufordern, auf das Wohl des neuen Hüon und
"er letzten Ritter von Marienburg" zu trinken.
9. Das Geheimnis.
Elise hatte dem Stallmeister. als er beim Nachhausefahren
neben dem Wagen ritt, erlaubt, sie den anderen Tag zu besuchen;
er kain, er fand sie allein und gütiger gegen ihn gesinnt als je. Sie
neckte ihn über seine Eingriffe in die literarische Welt und riet ihm,
nie etwas drucken zu lassen; denn er habe alle Rezensenten gegen
sich aufgebracht.
"Und sind denn nicht Sie mir einige Minuten gram gewesen,"
fragte er lächelnd, "weil es einer Ihrer Freier war, den ich entlarvte?"
"Einer meiner Freier?" fragte sie hocherrötend. "Zündler? Sie
irren
"O, Sie schenkten ihm oft ein geneigtes Ohr," fuhr er fort,
"verabschiedeten mich oft mitten im Gespräch, um auf die Worte
dieses großen Dichters zu lauschen."
"Gewiß nicht, Rempen!" antwortete sie verlegen. "Und einer
meiner Freier, sagten Sie, als ob ich deren viele hätte!"
Ich kenne wenigstens einige," erwiderte er mit lauerndem Blick.
"Und wen ?"
"Zum Beispiel Palvi."
"Palvi!" rief sie erbleichend. "Was wollen Sie mit Palvi?
Ich kenne ihn nicht."
"Elise," erwiderte der Stallmeister sehr ernst, "Sie kennen ihn.
Der Zufall ließ mich vorgestern hören, daß Sie ihm selbst sagten,
wie gut Sie ihn kennen. Sie liebten ihn."
"Nimmermehr!" rief sie mit glühendem Gesicht. "Er ist ein
Abscheulicher! Glauben Sie, ich werde einen Elenden lieben, der
— mein Kammermädchen anbetet?"
"Elise! Valve"
Ja, ich gestehe es," flüsterte sie, in Tränen ausbrechend.
Ihnen gestehe ich es: Es gab eine Zeit, wo ich für diesen Menschen
alles hätte tun können. Ich kannte ihn noch aus meiner Kindheit
und auch später; er war mir wert. Aber hören Sie: Schon oft hatte
mir mein eingebildetes Kammermädchen von einem schönen Herrn
erzählt, der sie immer anrede, ihr von Liebe vorschwatze und dem
sie recht herzlich zugetan sei. Eines Tages stand sie dort am Fenster;
auf einmal schlägt sie die Hände zusammen vor Freude, bittet mich,
ans Fenster zu treten und ruft: "Sehen Sie, der dort in der Türe
des Buchladens steht, der ist der schöne Herr!" Sie macht mir Platz.
ich trete arglos hin, und aus dem Laden tritt in diesem Augenblick —"
"Wie, doch nicht Palvi ? rief der Stallmeister, ergrimmt über
das schlechte Betragen eines Mannes, den er geachtet hatte.
"Er selbst," flüsterte Elise und drückte ihre weinenden Augen
in ihr Tuch.
Der Stallmeister überließ das unglückliche Mädchen einige
Minuten der Erinnerung an einen tiefen Kummer; hatte er ja doch
selbst diese Pause nötig, um sich zu sammeln. Liebe, Mitleiden,
so viele andere Empfindungen stürmten auf ihn ein, rissen ihn hin,
Elisens Hand zu ergreifen und sie an seine brennenden Lippen zu
ziehen. Erschreckt, überrascht blickte sie ihn an; doch schien ein günstiges
Gefühl für ihn ihren strafenden Blick zu mildern.
"Und darf ein Mann," sprach er bewegt, "zu Ihnen von Liebe
reden, nachdem Sie so Bitteres von uns erfahren? Darf er sagen,
er würde treu sein bis in den Tod, wenn Sie ihm nur einen Teil
jener Liebe schenken könnten, die jener ganz besaß?"
"Julius, was fällt Ihnen ein?" rief sie mit bebenden Lippen,
doch ohne ihm ihre Hand zu entziehen. "Wozu —"
"Elise," fuhr er fort, "ich kann einem so großen und schönen
Herzen, wie da:: Ihrige ist, wenig Trost geben; aber die Zeit mildert;
und kann nicht treue und aufmerksame Liebe selbst schönere Vorzüge
ersehen?"
Sie wollte antworten, sie errötete und schwieg; aber ihren Blick
voll Liebe und Wehmut durfte er günstig für sich deuten; er schloß
sie in seine Arme und küsste ihren schönen Mund.
"Aber mein Gott, Rempen," sagte sie, indem sie sich sanft von
ihm loszumachen suchte, " was machen Sie doch?"
"Ich habe dich ja längst geliebt," fuhr er fort, "hatte nur einen
Wunsch; ich glaubte dein Herz nicht mehr frei und zögerte; jetzt,
da ich weiß, daß nur Gram, aber keine fremde Liebe in diesem
Herzen wohnt, jetzt mußte ich dieses lästige Geheimnis von mir
werfen. Aber wie? — zürnen Sie mir vielleicht über alles dieses?"
"Julius!" rief sie, erschreckt von dem wehmütigen Ton, womit
er die letzten Worte sagte. Dieser Name, so sanft und wohlwollend
ausgesprochen, ihr ängstlicher, zärtlicher Blick sagten ihm mehr als
alle Worte. "Und darf ich mit dem Vater reden, Elise? Darf ich?"
setzte er hinzu.
Sie errötete und erbleichte ebenso schnell wieder, sie sah ihn
eine kleine Weile prüfend an, eine Träne trat in ihre schönen Augen;
aber um ihren Mund zog ein flüchtiges, feines Lächeln; sie drückte
seine Hand; eine kleine Bewegung des Hauptes und die hohe Röte,
die wieder über ihre Wangen ging, sagten ja, und schnell, wie vom
Winde hinweggetragen, war sie in ein anderes Zimmer entschlüpft.
Der Stallmeister war in jeder Hinsicht eine so gute und anständige
Partie, daß der alte Wilkow, als der Geheimrat von Rempen
für seinen Neffen warb, keinen Anstand nahm, seine Zusage zu
geben. Der junge Mann selbst war so von seinem süßen Glück erfüllt,
daß er lange nicht an die Begebenheiten dachte, die diesem wichtigen
Schritt vorangegangen waren. Endlich erinnerte ihn ein Zufall
an Palvi; so unangenehm diese Erinnerung war, so fühlte er doch
als Mann und als künftiger Gatte Elisens, daß er diesem Menschen,
mochte er sich auch wirklich schlecht gezeigt haben, Erklärung schuldig
sei. Und wie bebte seine Hand, als er ihm in wenigen Zeilen sagte,
daß Elisens Widerwille unüberwindlich sei, daß er ihn versichern
könne, daß sie niemals einen Mann mehr lieben werde, welchen
sie aufzugeben nicht unrecht gehabt, dah er selbst versuchen wolle,
Palvis Stelle bei ihr zu ersetzen. Ja, seine Hand, sein Herz bebte,
als er diese Buchstaben niederschrieb; konnte ihn nicht beruhigen,
daß er sich ins Gedächtnis recht lebhaft zurückrief, wie niedrig und
elend dieser Mensch an einer so zarten, heiligen Liebe, wie sie Elise
gab, gefrevelt habe. Die edeln Züge, das Auge dieses Mannes
standen vor ihm; ein so hoher und liebenswürdiger Geist, so fein
in Urteil und Benehmen, und dennoch so wenig sittliche Würden
Die Erinnerung an jenen Abend, wo sich ihm Palvi so ernst und
doch so herzlich genähert hatte, wo er ihm sein inneres Leben aufschloß
und ein verarmtes Herz bei solchem Reichtum der Gedanken,
eine tief verwundete Seele bei solcher Gesundheit des Geistes zeigte,
machte ihn so wehmütig, daß er nahe daran war, die kaum geschriebenen
Zeilen zu zerreißen; aber der Gedanke an Elise, die Vermutung
, daß dieser Palvi jene schönen Empfindungen, so tiefe
Rührung nur geheuchelt haben müsse, erkalteten schnell seine warme
Teilnahme. Entschlossen schickte er den Brief ab, und doch deuchte
es ihm, als er seinen Boten verschwinden sah, er habe einen Todespfeil
auf ein edles Herz entsendet.10. Zweifel.
Der alte Herr von Rempen erinnerte sich mehrerer Fälle, wo
die feierliche Verlobung gräflicher, sogar fürstlicher Paare gleich
den andern oder dritten Tag, nachdem die Werbung angenommen
worden, vor sich gegangen war. Er stand daher um so weniger an,
seinen Neffen und Elisens Vater zu gleicher Eilfertigkeit zu treiben,
als er selbst gleich nach dieser Szene, wobei seiner Meinung nach
sein Segen notwendig sei, mehrere Wochen auf dem Lande verweilen
wollte. So kam es, daß sich der Stallmeister durch den verhängnisvollen
Zug der Umstände auf einmal in die ruhige Bucht
eines schönen, häuslichen Glückes versetzt sah, als er sich kaum noch
auf hoher See glaubte oder wenigstens von Klippen träumte, an
welchen seine Hoffnung auf immer scheitern könnte. Am Morgen
jenes festlichen Tages, der zu seiner Verlobung angesetzt war, brachte
ihm ein Knabe einen Brief. Die Hand, die ihn überschrieben, war
ihm unbekannt. Eröffnete und fand den Namen des Magisters
Bunker unterzeichnet. So unangenehm auch die Erinnerungen
sein mochten, mit welchen dieser Name in Verbindung stand, so
machte doch das Andenken an diesen alten Mann und die wenigen
rührenden Worte des Briefes tiefen Eindruck auf ihn. Erbat den
Stallmeister, dem Knaben zu ihm zu folgen; er habe ihm notwendig
etwas zu eröffnen und sei selbst zu schwach und angegriffen, als
daß er über die Straße gehen könne. Rempen fürchtete anfangs
ein Zusammentreffen mit Palvi. Als aber der Knabe auf seine
Frage, ob Herr von Palvi bei dem Alten sei, antwortete: "Ach nein!
der ist schnell ganz weggereist und kommt nimmer wieder, und der
alte Herr Magister hat geweint wie ein Kind," so nahm er eilends
seinen Hut und folgte.
Der Knabe führte ihn durch mehrere Seitenstraßen in einen
abgelegenen Teil der Stadt, wo nur arme Leute und Handwerker
wohnten. bis vor ein kleines, aber reinliches Haus. Dort stieg er
eine Treppe hinan und öffnete dem Stallmeister eine Tür. Es war
ein Zimmer voll Verwirrung und Unordnung, in das sie traten.
Papiere und Bücher lagen am Boden zerstreut, und die Trümmer
einer Gitarre mischten sich mit ausgeleerten Flaschen und alten
Schuhen. Auf den Stühlen lagen Kleidungsstücke, auf dem schlechten
Kanapee aber saß, den Kopf in die Hand gestützt, ein Mann, in
welchem Rempen den Alten erkannte. Beim Geräusch, das ihr
Eintreten verursachte, wandte er den Kopf um und hatte Tränen
in den alten Augen.
"Vergeben Sie mir!" sagte er, indem er mit Mühe sich aufraffte
. "Meine Beine tragen mich nicht mehr zu Ihnen, und meine
Hand zittert — ich musste meine Botschaft mündlich geben."
"Was ist vorgegangene" rief der junge Mann bestürzt. "Sie
sind krank. Sie weinen um wen? Und von wem eine so feierliche
Botschaft
Der Alte trocknete sich die Augen. "Er hat viel auf Sie
halten," sprach er, "noch gestern und vorgestern hat er immer von
Ihnen gesprochen und innig bedauert, daß er Sie so spät erst kennen
gelernt habe. Sie hätten können herzliche Freunde werden; denn
Sie sind keiner von den schuftigen Gesellen, die er verabscheute."
"Mein Gott, Sie sprechen von Palvi? Wo ist er?"
"Möge ihn ein gütiger Arm vor den Wellen des flusses bewahrt
haben!" erwiderte der Alte sehr ernst; "doch, nicht wahr,
junger Mann, es gehört größere Kraft dazu, einen Kummer zu
tragen, als sich von ihm zerbrechen zu lassen? Nicht wahr? Ich
glaube es wenigsten', und er ist eine kräftige Seele, er kann nicht
zum Selbstmörder werden."
Rempen verhüllte sein Gesicht, er konnte den tiefen Gram des
Alten nicht länger sehen. Aber dieser zog ihm ängstlich die Hand
von den Augen. "O, lesen Sie doch," sagte er, indem er ihm einen
Brief darbot; "lesen Sie genau, prüfen Sie jedes Wort; nicht wahr,
es steht nichts dann, daß er sich töten wolle?"
Rempen nahm das Blatt; es war in wenigen Worten ein
kurzer, aber ergreifender Abschied an den Alten. Er müsse ihn und
diese Stadt verlassen, schrieb er. Als Grund gab er nur flüchtig sein
unglückliches Verhältnis zu Elisen an, von welchem der Alte völlig
unterrichtet schien.
Rempen suchte den Alten zu trösten; sei so natürlich, sagte
er, daß Palvi sich zerstreuen wolle, daß er vielleicht nur eine kleine
Reise mache.
Aber der Alte schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. "Er
kommt nicht wieder, und ach, ich habe keine Freude und keinen
Freund mehr! bat alle seine kleinen Rechnungen bezahlt, und
mir," setzte er weinend hinzu, " mir hat er seine Bücher und alles
hinterlassen. —Doch zu meinem Auftrag! Sie sehen, wie sehr er Sie
schätzte, hier ist ein Paket mit Büchern an Sie, die Adresse schrieb
er noch heute morgen, und in einem kleinen Zettelchen, das er
darauf gelegt hat, bittet er mich, Sie bei allem, was heilig ist, zu
versichern, daß er kein schlechter Mensch gewesen sei, daß er Sie
liebe und in Ihrem Glück sein eigene:, finde."
Indem der Magister noch diese Worte sprach, hörte man ein
Geräusch auf der Treppe, eilende Schritte nahten dem Zimmer, die
Tür ging auf, und, ein Zeitungsblatt in der Hand, stürzte der
Buchhändler Kaper in das Zimmer. "Wo ist er?" rief er erhitzt
und atemlos. "Wo ist der große und unvergleichliche Hüon, unser
Scott, unser letzter Ritter? Wo ist die Blüte und der Kern unserer
Literatur? Ich meine den Herrn Referendar von Palvi, der hier
logiert, wenn ich nicht irre," setzte er hinzu, als er den Gesuchten
nicht im Zimmer fand.
"Er ist verreist, antwortete der Alte.
"Himmel! komme ich zu spät?" fuhr Sayer fort; "wissen Sie
nicht, hat Hüon schon einen Verleger zum nächsten Historischen?
Daß wir es erst heute erfahren müssen! — Ei! ei! gratuliere, Herr
Stallmeister, zu meiner schönen Nachbarin. — Aber wer hätte das
gedacht, daß wir den göttlichen Hüon in den eigenen Mauern hätten,
daß es dieser Herr von Palvi wäre!
"Wie?" rief der Stallmeister, indem er den Alten staunend
anblickte, " er wäre Hüon?"
"Da steht's, da steht's gedruckt im Konversationsblatt," schrie
der Buchhändler, indem er seine Zeitung dem jungen Rempen überreichte
.
"Hüon," sagte der Alte, " er war Hüon. Wohl hat er den Ungläubigen
die Backenzähne ausgezogen, und vergebens kämpften sie
gegen meinen edlen, jugendlichen Paladin; aber sein Geschick wollte,
er sollte Hüon ohne Rezia sein."
Noch einmal öffnete sich die Tür und spie, wie das Tor im
Löwengarten des Königs Franz, zwei Leoparden auf einmal au:
Es waren der Rat und der dramatische Professor, die hereinstürzten.
Wo ist er?" riefen sie. "Vergessen sei alle Fehde! Wir hatten
ja einen ganz andern im Verdacht, der Autor dieses Romans zu
sein; darum, gewiß nur darum haben wir ihn gehauen. Ins Freitagskränzchen
soll er kommen, Mitarbeiter soll er werden am ,Belletristischen
Vergnügen Den Zündler soll er uns ersetzen, der treffliche
Hüon!" So schrien sie durcheinander; aber mit Hohn und Verachtung
blickte sie der Alte an. "Ihr findet ihn nicht mehr," sagte er.
"Er ist hinweg für immer."
"Hat er etwa einen Ruf bekommen?" rief der Professor.
Ha!" rief ihm der Rat nach, "das ist ja wohl Zündlers rätsel
hafter Magister. Herrlicher Fund! Wir zahlen zehn Taler pro
Bogen, Wertgeschätzter. Arbeiten Sie mit an unserm Blatte, was
Sie wollen, Gedichte, Novellen, Rezensionen, Kunstgefühle, wir
nehmen alles auf!"
Zurück!" entgegnete der alte Mann mit mehr Hoheit, als
ihm Remyen zugetraut hatte. "Ich habe einen Freund verloren,
eine große, schöne Seele, und bin nicht gesonnen, ihn mit euch und
euren Talern zu ersetzen. Dort am Boden liegen Palvis Papiere —
teilet euch in seinen poetischen Nachlaß!"
Er sprach nahm den Stallmeister unter den Arm und verließ
mit ihm langsam das Zimmer. Kaper, der Rat und der Professor
stürzten wie Drachen auf den Boden und über die Papiere her, und
mitten in seinem Kummer mußte der Stallmeister lächeln, als ihm
der Alte auf der Treppe entdeckte, jene werden nur Fragmente von
juridischen Relationen und unbedeutende Kriminalakten finden. Als
aber der Alte an der Tür des Hauses mühsam und auf seinen Stab
gestützt, an den Häusern hinschleichen wollte, ergriff Remyen seinen
Arm von neuem und führte ihn trotz seiner Widerrede bis zu seiner
Wohnung. Dort setzte sich der Magister auf einen Stein, um Kräfte
zu gewinnen; denn sein Stübchen lag fünf Stockwerke hoch.
11. Gagné? — Perdu!
Elise saß zu derselben Stunde vor der Toilette. Gedankenvoll
sah sie vor sich hin, indem das Kammermädchen ihre Haare ordnete.
Vielleicht hatte der tägliche Anblick dieser Zofe den Stachel entheiligter
Liebe nur immer noch tiefer in das Herz gedrückt; und
dennoch vermochte sie nicht über sich, das Mädchen wegzuschicken.
Es war der Stolz einer erhabenen Seele, was sie von diesem Schritt
abhielt, der vielleicht auch von ihren Eltern getadelt worden wäre;
denn das Mädchen diente treu und geschickt. Doch so tief diese Wunde
sein mochte, Elise suchte in diesem Augenblick ihren Schmerz zu übertäuben
. Wenn nach den Gesetzen der Natur das Wesen in uns zu
derselben Zeit verschiedentlich beschäftigt sein könnte, wenn es möglich
wäre, in dem nämlichen Moment in dem Herzen so ganz anders zu
fühlen, als man oben hinter den Augen denkt, so müßte Elisens
Seele in dieser Stunde nach verschiedenen Richtungen sich geteilt
haben. Im Hintergrunde ihres Herzens flüsterten tiefe, wehmütige
Töne die Erinnerung einer schönen Zeit, sie sangen in klagenden
Weisen jene Tage, wo Elise auf der ersten Stufe der Jugend das
Auge de:, Geliebten verstand. In volleren Akkorden rauschten diese
Erinnerungen, als sie von Stunden seliger Liebe, von Trennung
und der Wonne des Wiedersehens sprachen. "Verloren, verloren
durch seine eigene Schuld!" weinte dann ihre Seele. "Untergegangen
ein so großer, schöner Geist in Leichtsinn und Niedrigkeit!" Doch
diese Gefühle schlichen nur gleich Schatten vorbei. Sie suchte mit
aller Gewalt des Geistes den Blick von diesen Erscheinungen abzuwenden,
sie dachte sich das ruhige, klare Wesen ihres zukünftigen
Gatten, sein bescheidenes und doch so würdiges Betragen, seine reine
Herzensgüte — sie rief sich alles dies hervor, ja, sie versuchte zu
lächeln und freundlichere Gefühle dadurch zu erringen, aber — es
gelang ihr, ruhig, doch nicht heiter zu werden.
Der Putz war vollendet, sie richtete sich vor dem hohen Spiegel
auf, und die ire ude an ihrer eigenen hübschen Gestalt verdrängte
auf Augenblicke jene düsteren, wehmütigen Bilder.
"Nein, und wenn er noch so Proper angetan wäre," sagte in
diesem Augenblick da:, Kammermädchen am Fenster, "mich soll er
nicht mehr anreden dürfen!"
"Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mehr von solchen Dingen
reden," rief Elise mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.
"Ach Gott! Gnädiges Fräulein, ich will ja auch gar nichts mehr
von dem schlechten Menschen wissen aber ich sagte nur so, weil er
wieder in Herrn Kapers Laden steht.
Elise zitterte, sie wollte von dem Spiegel hinwegeilen; aber
unwiderstehlich zog es sie an das Fenster. Sie warf einen Blick
hinüber, und unter jener Tür stand — Doktor Zündler.
"Wie!" rief sie, kaum ihrer Worte mächtig, der Zofe zu, "ist
es denn dieser?"
J, freilich! Swer werden Sie mir nur nicht böse!"
"Und dieser ist derselbe, den du damals meintest ?" fuhr sie
mit bebenden Lippen fort.
"Wer denn anders?" entgegnete jene ruhig; "aber ich weiß
jetzt, er ist ein schlechter Mensch, und jetzt weiß ich auch, wie er heißt:
Doktor Zündler."
"Geh, geh, bringe die Kleider weg," flüsterte Elise, indem sie
ihr glühendes Gesicht halb bewußtlos in die Kissen des Sofas
drückte; das Mädchen eilte erschrocken hinweg, und die unglückliche
Braut war mit ihrem Gram allein. Welche Gefühle stimmten auf
sie ein! Beschämung, Liebe, Unmut über sich selbst. Sie sprang
auf; ein Gang durch das Zimmer machte sie mutiger. Sie wollte
Rempen alles gestehen; sie war einen Augenblick überzeugt, er
werde so edel sein, zurückzutreten, Palvi werde leicht zu versöhnen
sein. Aber die Stadt wußte, daß heute ihre Verlobung sei. Ihr
Vater hat dem Geliebten sogar das Haus verboten; wurde er jemals
einwilligen, sie glücklich zu machen? Nein! —Scham vor der Welt,
Reue, Angst warfen sie nieder. Bleich, erschöpft und zitternd fand
sie der Stallmeister, als er bald darauf ernster, als zu diesem fröhlichen
Tag sich schickte, in Elisens Zimmer trat.
"Ich muß Ihnen eine sonderbare Nachricht geben," sagte er
bewegt, indem er sich zu ihr setzte und, beschäftigt mit seinen Gedanken
, ihre Verwirrung nicht bemerkte. "Palvi ist weggereist,
und zwar auf immer."
"Er ist tot!" rief sie. "Gewiß, schnell, sagen Sie es nur heraus,
er hat sich getötet!"
Nein," erwiderte Rempen, " er hat mir einen Brief zurückgelassen,
worin er Sie und mich zum letztenmal begrüßt. Er ist
nach Frankreich gegangen. Dorthin lautet auch sein Paß, wie mir
soeben mein Onkel erzählte."
Elise schwieg. Sie fühlte, daß sie ihn erst in diesem Augenblick
ganz verloren habe; aber sie hatte Kraft genug, jeden Laut des Kummers
zu unterdrücken.
"Doch, was Sie noch mehr befremden wird," fuhr er fort,
"jenen Roman, den Sie uns letzthin erzählt haben, hat uns der
Autor selbst vorgelesen."
"Palvi!" rief sie in so eigenem Ton, daß der Stallmeister erschrak
"Er wäre —"
"Hüon, der Autor der .Letzten Ritter von Marienburg'. Es steht
schon in öffentlichen Blättern, und hier schickt er mir und Ihnen
dieses Werk." Der Stallmeister öffnete ein Paket und gab Elisen
die Bücher. Sie öffnete eines derselben. Ihr Blick fiel auf das
Märchen, woraus Palvi mit so sonderbarem Akzent einige Reime
gelesen, und jetzt erst stieg eine längst erbleichte Erinnerung in ihr auf.
Es war ja ein Märchen, das Palvis Vater den Kindern oft erzählt
hatte.
Eine große Träne schwamm in ihrem schönen Auge und fiel
herab auf diese Zeilen.
In diesem Augenblick öffneten sich die Flügeltüren. Mit feierlichem
Gesicht und überladen mit seinen Orden, trat der Geheime
Rat von Rempen herein. Mit Anstand trat er vor da: Fräulein
ihr den Arm zu bieten. "Die Familien sind im Salon versammelt,"
sprach er. "Ist es gefällig, jetzt die Ringe zu wechselns Doch wie?
Sind Sie so sehr in unsere Literatur verliebt, daß Sie sogar gerade
vor der Verlobung Lesestunden mit meinem Neffen halten? Was
lesen Sie denn, wenn man fragen darfs"
Mit einem schmerzlichen Lächeln stand Elise auf und nahm
seinen Arm. "Etwas Altes in neuer Form," erwiderte sie, "ein
Märchen von unteraegangener Liebe!"
"Ei, ei," setzte der Oheim lächelnd und mit dem Finger drohend
hinzu, "etwa: Solches vor der Verlobung? Und wie heißt denn
der Titel?" fragte er, indem er sie in den Saal führte.
"Er heißt; ,Die letzten Ritter von Marienburg."'
Das Bild des Kaisers.
| Ne crains pas cependant ombre encore inquiète,
(Sue vienne outrager ta majesté muette!
Non — la lyre aux tombeaux n'a jamais insulté |
A. de Lamartine.
1.
In dem Kabriolett des Eilwagens, der zweimal in der Woche
von Frankfurt nach Stuttgart geht, reisten vor einigen Jahren
an einem der schönsten aage des September zwei junge Männer.
Der eine von ihnen war erst eine Station hinter Darmstadt eingestiegen
und hatte dem früheren Passagier schon beim ersten Anblick
durch sein schmuckes Äußere und den freundlichen Gruß, womit
er sich neben ihn setzte, die Furcht, der Zufall möchte ihm eine
unangenehme Nachbarschaft geben, völlig benommen. Der Fortgang
der Reise bewies, daß er nicht unrichtig geurteilt hatte, wenn
er seinen Reisegefährten für einen wohlerzogenen, anständigen
Mann hielt. Was er sprach, war, wenn nicht gerade heiter. doch
offen und verständig; nicht selten sogar überraschten den Reisenden
leicht hingeworfene Äußerungen, Gedanken seines Nachbars, die
von feiner Bildung, gesellschaftlicher Erfahrung und einer Belesenheit
zeugten, die er denn doch hinter dem etwas groben Jagdrock
und der unscheinbaren Ledermütze nicht gesucht hätte. Überhaupt
deuchte diesem Reisenden, er müsse, je weiter er im Süden vor
drang, desto öfter und nicht ohne Beschämung dem Lande und den
Bewohnern Vorurteile abbitten, die man in der Ferne vom Hörensagen,
besonders in einem Alter von vierundzwanzig Jahren, so
leicht annimmt.
Wie anders war ihm dieses Land im Brandenburgischen geschildert
worden! Manche Reisende hatten zwar diese Bergstraße,
dieses Neckartal gelobt; doch erschien dann ihre Beschreibung matt
und klein gegen die Wunder der Schweiz, zu welchen sie auf dieser
Straße geeilt waren. Über die Bewohner war aber in seiner Heimat
nur eine Stimme. Hier, bald hinter Darmstadt, fangen die
Schwaben an, erzählte man dem jungen Reisenden in Berlin mit
einem mitleidigen Blick auf die Karte, mit einem noch mitleidigeren
auf ihn, der diese Länder besuchen wolle. Da geht alles gesellschaftliche
Leben, alle Bildung aus; ein rohes, ungesittetes Volk, das
nicht einmal gutes Deutsch sprechen kann. Und leider nicht nur
die untersten Klassen leiden an diesem Manget, auch die besseren
Stände haben einen Anstrich von eingeschränktem, ungalantem
Wesen und reden so elendes Deutsch, daß sie vor Fremden, um nicht
erröten zu müssen, Französisch sprechen. Das war der Reisepfennig,
den man ihm nach Schwaben mitgab, und in dem jungen und
romantischen Kopf des jungen Brandenburgers hatten diese Sagen
sich endlich während der schönen Musse, die ihm die Sandkunst
Saßen und die schnapsenden Postillons seines Vaterlandes gönnten,
so sonderbar gestaltet, daß er sich selbst wie einer jener wohlerzogenen
jungen Herren in einem Scottischen Roman erschien, die, von den
wehmütigen Erinnerungen an die feinsten Zirkel, an Theater und
alle Genüsse der großen Welt erfüllt, von London aus reisen, um
das Hochland und seine barbarischen Bewohner
zu besuchen.
Doch als die herrliche Welt jener Berge voll Obst und Wein
und jene gesegneten Täler sich vor seinen Blicken auftaten, als die
schönen Dörfer mit ihren roten Dächern, mit ihren reinlichen, fröhlichen
Menschen seinem erstaunten Auge sich zeigten, als da und dort
zwischen prachtvollen Buchenwäldern eine alte Burg und ein Schloß
mit schimmernden ,unstern auftauchte, da fiel er beinahe in das
andere Extrem; er strömte über von Lob und Bewunderung und
bemitleidete die arme, flache Mark, ihren kahlen Sandboden, ihre
mageren Tannen und ihre bleichen Bewohner, von welchen vielleicht
Tausende aus dem Leben gingen, ohne nur eine jener üppigen
Trauben gesehen zu haben, die hier in unendlicher Fülle durch das
grüne Laub schimmerten, und ein schwacher Trost für seinen Patriotismus
war, daß die Natur seine Landsleute durch höhere Einsicht,
eine wohllautandere Sprache und feinere Bildung in etwas wenigstens
entschädigt habe.
Der junge Mann an seiner Seite schien übrigens, obgleich
man seiner Sprache den südlichen Akzent anfühlte, die Gesetze des
Anstandes nicht minder gut zu verstehen als der Brandenburger;
zum mindesten verriet keine seiner Fragen Neugierde, über dessen
Stand, Vaterland und Reisezweck etwas zu erfahren; er benahm
sich zuvorkommend. aber würdig, schien geneigter zu antworten als
zu fragen, und übernahm es, ohne sich dadurch belästigt zu fühlen.
den Fremden über Namen und Geschichte der Burgen und Städte.
die ihm auffielen, zu unterrichten.
So ruhig und kalt übrigens der junge Mann im Jagdkleid
über diese Dinge Aufschluß gab, so waren es doch wei Punkte,
über welche er wärmer und länger sprach. Einmal, als sein Nebensitzer
über die gute Gesellschaft in Schwaben einige seiner sonderbaren
Begriffe preisgab, sah ihn der Grune mit Verwunderung
an, fragte ihn auch, ob er vielleicht auf einem andern Wege schon
früher in Schwaben gewesen sei, und als jener es verneinte. erwiderte
er:
Ich weiß, man macht sich hin und wieder, besonders in Norddeutschland
, sonderbare Begriffe von uns. Ob mit Recht, mögen
Sie selbst entscheiden, wenn Sie einige Zeit in unserer Mitte verweilt
haben. Doch möchte ich Ihnen raten, zuvor etwas unbefangener
die mögliche Quelle solcher Urteile zu betrachten. Ich gebe zu, daß
eine gewisse nachteilige Ansicht über mein Vaterland seit Jahrhunderten
besteht; zum mindesten sind die Schwabenstreiche nicht
erst in unsern Tagen bekannt geworden. Doch scheint ein großer
Teil dieser aberwitzigen Dinge aus einer gewissen Eifersucht der
Volksstämme hervorzugehen und aus der Kleinstädterei, die von
jeher in unserem lieben Deutschland herrschte. In Schwaben zum
Beispiel erzählt man alle jene Sonderbarkeiten, die andere uns
aufbürden, von den Östreichern; daß aber dieses Vorurteil selbst in
neueren Zeiten, selbst durch die Fortschritte der Kultur und das
regere gesellige Leben nicht geschwächt wurde, hat zwei wichtige
Gründe; die größere Schuld aber liegt nicht auf der Seite von
Süddeutschland."
"Bitte!" rief der brandenburgische Reisende etwas ungläubig,
ich sollte doch nicht denken —"
"Man beurteilt unsere Sitten nach meinen Landsleuten, die
man in Norddeutschland sieht. Wenn nun diese auch die vernünftigsten
Menschen wären, es würden ihnen doch zwei Mängel anhängen, die
sie in Ihren Augen in Nachteil setzen. Einmal die Sprache —"
"Bitte! erwiderte sein Gefährte verbindlich. "Nicht alle!
Sie zum Beispiel drücken sich allerliebst aus."
"Ich drücke mich aus, wie ich denke, und so macht es ein guter
Teil meiner Landsleute auch; weil wir aber die Diphthongen anders
aussprechen als ihr, die Endsilben entweder nach unserer altertümlichen
Form ändern, oder im Sprechen übereilen, klingt euch
unsere Sprache auffallend, hart, beinahe gemein. Die meisten
Schwaben, die Sie bei sich sehen, sind junge Männer, die von der
Universität kommen und die Anstalten in Norddeutschland besuchen.
oder Kaufleute, die ihr Handelsweg dahin führt. Diesen Menschen
legen nun Ihre Landsleute durchaus ihren eigenen Masstab an und
tun sehr unrecht daran. In Ihrem Lande wird den äußeren Formen
und dem Benehmen des Knaben und des Jünglings einige Aufmerksamkeit
geschenkt, er wird sehr bald in die geselligen Kreise
gezogen; bei uns findet dies vielleicht erst um acht oder zehn Jahre
später statt."
"Nun, das ist es ja gerade, was ich sagte," entgegnete jener;
"diese Formen gewinnt keiner durch sich selbst, und dies ist also ein
Fehler Ihrer Erziehung —"
"Vorausgesetzt, dah jene Formen wirtlich so trefflich, daß sie
das sind, was dem zukünftigen Bürger eines Staates vor allem
als nützlich und notwendig einzuimpfen ist."
"Das soll es ja nicht; aber so auf dem Wege mitnehmen kann
er sie doch wohl," meinte der Fremde.
"Wenn er sie nur so mitnimmt, verliert er sie auch gelegentlich,"
erwiderte der Schwabe. "Doch das ist nicht der Punkt, wovon
wir sprechen. Ich behaupte nur, man hat in Norddeutschland unrecht,
unsere Sitten und unsere Gesellschaft nach Leuten zu beurteilen,
die der Gesellschaft eigentlich noch nicht angehört hatten, die vielleicht
in die Welt geschickt wurden, um ihre Sitten abzuschleifen.
Oder wollten Sie nach einigen jungen Gelehrten, die gerade aus
der Studierstube zu Ihnen kamen und sich vielleicht ungeschickt in
Sprache und Manieren zeigten, die Landsleute dieser Menschen
beurteilens"
"Gewiß nicht; aber gestehen Sie selbst, man hört doch selbst
von der guten Gesellschaft in Schwaben so sonderbare Gerüchte, von
ihren Sitten und Gebräuchen, von ihren Frauen und Mädchen."
"Vielleicht kaum so sonderbar," versetzte der Jäger lächelnd,
"als man bei uns von den Sitten Ihrer Damen hört; denn unsere
Mädchen stellen sich die norddeutschen Damen gewiß immer
mit irgend einem gelehrten Buch in der Hand vor. Die zweite Quelle
des Irrtums über mein Vaterland sind aber Ihre reisenden Landsleute
und die eigentümlichen Verhältnisse unseres Familienlebens.
In Norddeutschland fällt es nicht schwer, in Famitienkreisen Zutritt
zu bekommen, durch einen Bekannten zehn zu erwerben. In
Schwaben ist es anders; man ist heiter, gesellig unter sich, —
der Fremde wird als etwas Fremdes angestaunt, aber eher vermieden
als eingeladen; doch werden Sie für diese scheinbare Kälte
immer eine Entschädigung finden. Ihre Landsleute öffnen die Tür.
aber selten das Herz; meine Schwaben sind vorsichtiger, aber sie
schließen sich an den, welchen sie liebgewonnen, mit einer Herzlichkeit
an, die sie bei künstlichen und verfeinerten Sitten umsonst suchen."
"Und also liegt eine zweite Quelle unserer Vorurteile," fragte
der Fremde, "darin, daß meine Landsleute eigentlich gar nicht in
Ihren besseren Kreisen einheimisch wurden?
"Gewiß!" sagte der Nachbar. "Lernen Sie, wenn Ihnen das
Glück wohlwill, in die Kreise unserer bessern Stände zu kommen,
lernen Sie uns näher kennen, lassen Sie sich nicht durch Ihre eigenen
Ansichten über Leben und Sitte durchaus leiten, und Sie werden
ein gutes, herzliches Völkchen finden, gebildet genug, um, wenn
man nur die rechte Saite anschlägt, sich mit den gebildetsten zu
messen, vernünftig genug, um die Grenzen guter Sitten festzuhalten
und das Lächerliche der unsitte zu belächeln.
Der Fremde aus der Mark lächelte. "Er liebt sein Land,"
dachte er, "und er verteidigt es mit Wärme, weil er es nicht sinken
lassen will oder Besseres nie gesehen hat." Er entschuldigte bei sich
die warme Verteidigung des Schwaben; aber dennoch konnte er
es sich nicht versagen, einen kleinen Triumph über jenen zu feiern.
Er machte ihn mit der Geläufigkeit der Zunge und jener Ubung,
über ein Nichts schnell und vieles zu sprechen — die man im
Norden unseres Vaterlandes häufiger als im Süden treffen soll —,
auf andere große Vorzüge aufmerksam, welche die nördlichen Provinzen
Deutschlands vor den südlichen voraushaben. Erzählte
immer zwanzig Schriftsteller und Dichter seiner Heimat gegen
e inen im Süden, und der Schwabe konnte endlich dem Schwall
seiner Beredsamkeit nur dadurch Einhalt tun, daß er, als sie um
eine Ecke der Landstrasse bogen, auf die erhabenen Ruinen von
Heidelberg hinwies; der Fremde betrachtete sie staunend und mit
Entzücken. Ihre rötlichen Steinmassen waren von der sinkenden
Herbstsonne noch höher gerötet, und der Abend ließ die Bäume
und Gesträuche, die in den verfallenen Mauern wachsen, im dunkelsten,
wundervollsten Grün erscheinen. Durch die hohen, offenen Fensterbogen
blickte der schwärzliche Wald hervor; den Gipfel des Berges
umzog jener duftige Schleier, welcher allen Gegenständen so eigenen
geheinmisvollen Reiz verleiht, und von oben herab spiegelten sich
die rötlichen Abendwölkchen und der dunkelblaue Himmel in den
Fluten de:. Neckars.
"Und haben Sie solche Poesie in der Marks" fragte der Jäger
mit gutmütigem Lächeln.
Der Fremde schien es nicht zu hören; unverwandt hingen
seine Blicke an diesem reizenden Schauspiel; er mochte fühlen, daß
es sich an solchen Stellen über Poesie nicht gut streiten lasse.
Nach diesem Vorfall kehrte übrigens auf dem Gesicht des
Jägers die vorige Ruhe und Unbefangenheit zurück; er stritt über
keinen Gegenstand, schien sogar über manche Dinge sich behutsam
auszudrücken.
Als aber das Gespräch unter den beiden Reisenden, da die
hereinbrechende Nacht ihre Aufmerksamkeit auf die Gegend hemmte,
auf einige neuere Ereignisse und auf Politik kam, schien es dem
jungen Mann aus der Mark, obgleich er die Züge seines Nachbars
nicht mehr gut unterscheiden konnte, sein Atem gehe schneller, seine
Rede werde wärmer, kurz, man habe einen Punkt der Unterredung
getroffen, welcher für den Schwaben von hohem Interesse sei.
Man sprach von der Gestalt und der innern Kraft Deutschlands.
Mit einer gewissen Erbitterung zog jener eine Parallele zwischen
jetzt und sonst, die nicht gerade zum Vorteil der neueren Zeit ausfiel.
Der Fremde, dessen Grundsätze im ganzen nicht mit diesen Ansichten
übereinstimmen mochten, gab ihm dennoch, nicht ohne einiges
Selbstgefühl, die letzten Sätze zu. Unglücklicherweise fing er seinen
Satz Ich bin ein Preuße" an und reizte dadurch unwillkürlich
den Unmut des jungen Mannes noch mehr auf. Denn dieser
vergaß nun jede Rücksicht der Klugheit; mit einer Beredsamkeit,
die an jedem andern Orte dienlich gewesen wäre, suchte er seine
Meinung durchzuführen, und nichts war ibm zu hoch, das er nicht
mit seinem eigenen Maßstab gemessen hätte. Der Preuße, der
solche Leute nur vom Hörensagen und unter dem gefährlichen Namen
"Köpenicker" kannte, erschrak über diese Äußerungen. Konnte nicht
der Postillon, konnte nicht ein Passagier im Bauch des Wagens
diese Reden vernommen haben! Spandau, Köpenick, Jülich und
alle möglichen festen Plätze schwebten vor seiner aufgeregten
Phantasie, und das beste Mittel, seinen Nachbar zum Stillschweigen
zu bringen, schien ihm, wenn er sich in die Ecke drückte und sich
schlafend stellte.2.
Als die beiden Reisenden am Morgen nach dieser gefährlichen
Nacht erwachten, sahen sie in geringer Entfernung die Türme von
Heilbronn aus dem Nebel tauchen. "Hier endet meine Fahrt,"
sagte der Herr im grünen Rock, indem er auf die Stadt deutete,
"und Ihnen danke ich es," setzte er mit einem freundlichen Blick
auf seinen Nachbar hinzu, "daß ich diesmal diesen Wagen ungern
verlasse. Wie angenehm wäre mir noch ein Tag in Ihrer Gesellschaft
vergangen!
"Es ist mein Los schon seit vierzehn Tagen gewesen," erwiderte
der Brandenburger. "Der enge Raum macht nachbarlich; Menschen,
welche vielleicht in einer größeren Stadt, selbst wenn sie Zimmernachbarn
gewesen wären, jahrelang unter sich kein Wort gewechselt
hätten, treten sich nahe durch den so natürlichen Drang nach Mitteilung.
. Der Platz an meiner Seite wechselte öfter als in einer
Schlacht, doch darf ich mir Glück wünschen, Sie wenigstens so lange
zu meinem Nachbar gehabt zu haben; denn so bin ich auf die angenehmste
Weise in Ihr Vaterland eingeführt worden.
"Werden Sie länger in Württemberg verweilen?"
Ich besuche Verwandte meiner Mutter," erwiderte der Fremde;
"je nachdem sie und die Residenz mir gefallen, werde ich länger
oder kürzer verweilen."
Wir werden uns schwerlich wiedersehen," sagte der Grüne,
"ich wüsste wenigstens nicht, was mich nach Stuttgart treiben sollte.
Vergessen Sie aber nie, was ich Ihnen über den Charakter meiner
Landsleute sagte. Können Sie nach ihrer Denkungsart, nach ihren
Sitten sich ein wenig richten, so werden Sie überall gesucht und
willkommen sein. Unsern Damen sind Sie dann als Fremder nur
um so interessanter, und unsern Männern — nun, da kommt es
immer auf den Zirkel an, in welchem Sie leben; nur müssen Sie,"
setzte er mit einem Lächeln hinzu, das zwischen Ironie und gutmütiger
Freundlichkeit schwebte, "nie zu deutlich und fühlbar
machen — —
"Nun?" rief der Fremde erwartungsvoll, als jener innehielt.
"Daß Sie kein Deutscher, sondern ein Preuße sind."
Das schmetternde Horn des Postillons und das Rasseln des
schweren Wagens auf dem Steinweg übertönte die Antwort des
Fremden. Den Passagieren ward in dieser Stadt eine kleine Rast
vergönnt, und der Fremde wollte seinen Nachbar vom Eilwagen
noch einmal zum Frühstück einladen. Doch schon unter der Türe
des Posthause:: überreichte diesem ein alter Reitknecht mehrere
Briefe; er riß den einen hastig, errötend auf, und sein Reisegefährte
bemerkte im Vorübergehen, daß es die Handschrift einer Dame sei.
Der Fremde trat etwas verstimmt in dein Wirtshaus ans Fenster;
er sah den Jäger angelegentlich mit seinem Diener sprechen , und
bald darauf führte man zwei schöne Pferde vor. In demselben
Augenblick trat der grüne Herr eilends in den Saal, seine Augen
suchten und fanden den Reisegefährten; er trat zu ihm, doch nur,
um schnell, aber herzlich von ihm Abschied zu nehmen, und so konnte
ihn der Brandenburger zu seinem großen Verdruß nicht einmal
nach dem Haus und der Familie Käthchens von Heilbronn
fragen, eine Frage, die er sich unter seinen Reisenotizen aufgezeichnet
und doppelt unterstrichen hatte. Doch der Anblick des Jägers, wie
er sich so leicht in den Sattel des schönen, stolzen Pferdes schwang,
wie er so majestätisch über den Markt hinsprengte, söhnte ihn mit
der beinahe unhöflichen Hast aus womit jener von ihm Abschied
genommen hatte. Er gestand sich, selten eine so wohlgebaute Gestalt
mit einem so schönen, ausdrucksvollen Gesicht vereint gesehen zu
haben.
"Wer war dieser Herr im Grunen Kleids" fragte er den Kellner,
der am andern Fenster dem Reiter nachblickte.
"Mit dem Namen kann ich nicht dienen," antwortete jener;
"ich weiß nur, daß man ihn ,Herr Baron' nennt, daß sein Vater
einige Stunden von hier am Neckar Guter hat und daß sie sehr
reich sein sollen; in die Stadt kommt er selten."
Nicht ganz zufrieden mit dieser Erklärung, setzte sich der junge
Mann wieder in den Wagen. Sein Vater, der früher einmal in
diesem Lande gewesen war, hatte ihm so viel Sonderbares von
schwäbischen Baronen' erzählt, daß er in seinem liebenswürdigen
und gewandten Reisegefährten keinen solchen vermutet hätte. Sein
neuer Nachbar, der ihm gleich in der ersten Viertelstunde vertraute,
daß er ein Hopfenhändler aus Bayern sei, machte ihm den Verlust,
den er erlitten, nur um so fühlbarer, und da er am Hopfenbau
wenig Unterhaltung fand, beschäftigte er sich damit, über den
Charakter des jungen Mannes, der ihn verlassen hatte, nachzudeuten
und dann noch einmal alle Erwartungen und Hoffnungen zu durchlaufen,
die er sich von seinen Verwandten, zu welchen er reiste,
gemacht hatte. Von dem Oheim versprach er sich für seine unterhaltung
wenig; er mußte nach seiner Berechnung ein vorgerückter
Sechziger sein: mürrisch, ungesellig und eigensinnig hatte ihn sein
Vater schon vor fünfundzwanzig Jahren gekannt, und solche Eigenschaften
pflegen sich im Alter nicht zu verbessern. Desto mehr versprach
sich der junge Mann von Fräulein Anna, seiner Cousine
Von einem seiner Freunde, der längere Zeit in Schwaben gelebt
hatte, war sie ihm als eine Zierde dieses Landes genannt worden.
Ein angenehmes, trauliches Verhältnis von fünf bis sechs Wochen
schien ihm ganz wünschenswert, und so eifrig war seine Berechnung
der Mittel, die ihm zu Gebot standen, sich liebenswürdig zu zeigen,
so gewiß war er sich des Eindrucks bewußt, den seine Person, sein
Wesen unfehlbar machen müsse, für so leicht zu erobern hielt er das
Herz eines ,Fräuleins in Schwaben', daß ihm nicht einmal der
Gedanke kam, die schöne Cousine Anna könne sich vielleicht schon
versehen haben.
Er ließ sich, in der Residenz angekommen, sogleich nach dem
Hause führen, wo sein Oheim sonst gewohnt hatte;
| Aber mit dem Donnerworte
Ward ihm aufgetan.
Die du suchest — |
wohnen schon seit langer Zeit auf einem Landgut. sie werden auch
im nächsten Winter nicht zurückkehren, und selbst dies Hans gehört
ihnen nicht mehr eigen.
Der Reisende aus Brandenburg war schnell entschlossen. Er
benützte diesen Tag, um sich die freundliche Stadt zu betrachten,
und eilte dann denselben Weg, welchen er hergekommen war, zurück
nach dem unteren Neckartal, wo der Landsitz seines Oheims lag.
Je näher er dieser reizenden Gegend kam, desto angenehmer
war es ihm, daß er einige Wochen auf dem Lande zubringen sollte.
Er wußte aus eigener Erfahrung, daß man auf dem Lande, abgeschnitten
von den Zerstreuungen der Stadt und jener Formen
enthoben, die man dort für schön und notwendig, hier für überflüssig
und lästig hält, schnell bekannt und befreundet wird, daß man sich,
auf eine kleine Gesellschaft beschränkt, schneller naherückt. — Etwa
eine Stunde von dem Gut bog der Weg von der Hauptstraße ab.
Der Kutscher, den er gemietet hatte, deutete auf einen Fußpfad,
der in den Wald lief; der Fahrweg winde sich um den ganzen Berg
her, sagte er, doch auf diesem Pfad könne man zu Fuß in bei weitem
kürzerer Zeit zum Schloß Thierberg hinaufgelangen. Der junge
Mann stieg aus; er war bisher auf einem Bergrücken gefahren,
sah nun eine mäßige, mit Wald bewachsene Anhöhe vor sich und
schloß, weil er gehört hatte, das Schloß seines Oheims liege im
Neckartal. man müsse von dieser Höhe eine weite Aussicht in da::
Tal genießen. Er ließ den Wagen weiterfahren und stieg den
Seitenpfad hinan. Ein Wald von prachtvollen Buchen nahm ihn auf.
Nie hatte er diesen Baum so kräftig, so majestätisch gesehen; zwischendurch
erblickte er hie und da Eichen und schöne Eschen, und zu seiner
nicht geringen Verwunderung Waldkirschbäume von ungewöhnlicher
Höhe. Nach und nach wurde ihm das Steigen schwerer; der Berg
schien sich auf einmal steiler zu erheben, und er war oft versucht,
die unbequeme Eleganz zu verwünschen, in welche ihn sein Berliner
Schneider gekleidet hatte. Endlich hatte er den Gipfel erreicht;
aber noch öffnete sich keine Aussicht. Die Bäume schienen dichter
zu werden, je mehr sich der Pfad wieder senkte, und als sich, um
seine Ungeduld zu vermehren, der kleine Pfad in zwei noch kleinere
teilte, die nach verschiedenen Richtungen liefen, schmälte er auf den
Kutscher und auf seine eigene Torheit, die ihn verleitet hatten, in
einem fremden Wald sich zu verirren. Erschlug endlich den Weg
rechts ein und sah, nachdem er einige hundert Schritte gegangen
war, zu seiner großen Freude ein buntes Kleid durch das Laub
schimmern.
Er verdoppelte seine Schritte und war nicht wenig betroffen,
als er plötzlich vor einer jungen Dame stand, die im Schatten einer
alten Eiche auf einer Bank saß. Sie hatte ein Buch in der Hand,
von welchem sie, als sein Schritt in den abgefallenen Blättern
rauschte, langsam und ruhig ihre schönen Augen erhob; doch auch
sie schien betroffen, als es ein junger, städtisch gekleideter Herr war,
den sie in dieser Einsamkeit vor sich sah; sie errötete flüchtig, aber
sie senkte ihren Blick nicht, der fragend an dem unerwarteten Besuch
hing. Der junge Mann verbeugte sich einigemal, ehe er recht wußte,
was er sagen wollte. "Ist wohl das schöne Mädchen Cousine Anna?"
war alles, was er in diesem Augenblicke zu denken und sich zu fragen
vermochte, und erst als er sich diese Frage schnell bejaht hatte, trat
er näher zu der jungen Dame, die indessen ihr Buch schloß und von
ihrem Bänkchen aufstand. "Bitte um Vergebung," sagte er, " wenn
ich Sie gestört haben sollte; ich fürchte, von dem Wege abgekommen
zu sein. Kann ich hier nach dem Schloß des Herrn von Thierberg
kommen?"
"Auf diesem Fußpfad nicht wohl, wenn Sie hier nicht bekannt
sind," erwiderte sie mit einer tiefen, aber klangvollen Stimme;
Sie haben oben einen Fußpfad links gelassen, der nach dem Schloß
führt." Sie verbeugte sich nach diesen Worten, und der junge Mann
ging seinen Weg zurück; doch kaum hatte er einige Schritte gemacht,
so zog ihn ein unwiderstehliches Gefühl zurück. Das schöne Mädchen
stand noch einmal von ihrem Sitz auf, als sie ihn zurückkehren sah;
doch diesmal schien Bestürzung ihre Wangen zu färben, und eine
gewisse Ängstlichkeit blickte aus ihren großen Augen. Auf die Gefahr
hin, für unbescheiden zu gelten, fragte der Reisende, ob er vielleicht
die Ehre gehabt habe, mit Fräulein von Thierberg zu sprechen.
"Ich heiße so," antwortete sie etwas befangen.
"Eh Sion, nau chère cousine ! sagte er lächelnd, indem er
sich artig verbeugte; "so habe ich das Vergnügen, Ihnen Ihren
Vetter Rantow vorzustellen."
"Wie, Vetter Albert!" rief sie freudig. "So haben Sie endlich
doch Wort gehalten? Wie wird sich der Vater freuen! Und was
macht Onkel und die liebe Tante, und wie sind Sie (gereist: So
drängte sich eine Frage nach der andern über die schönen Lippen,
und Vetter Rantow fand, verloren in sein Glück, eine schöne Muhme
zu besitzen, keine Worte, alle nach der Reihe zu beantworten. Wie
reizend, wie naiv klang ihm die Sprache! Er konnte nicht sagen,
daß sie gegen irgend eine Regel des Stils gesündigt hätte, und doch
deuchte es ihm, es seien ganz andere Worte, ganz andere Töne,
als die er in seinem Vaterland gehört hatte. Erfühlte, er sei zu
schnell gereist, als daß er allmählich auf diesen Kontrast vorbereitet
worden wäre.
"Dies ist mein Lieblingsspaziergang," sagte sie, indem sie langsam
neben ihm herging. "Zwar ist der Weg im Tal noch angenehmer,
der Neckar macht schöne Windungen, alte Burgen schmücken die
Höhen — und die unsrige spielt dabei nicht die schlechteste Rolle,
wenigstens was das Altertum betrifft —, Dörfer und sogar ein
Städtchen sieht man Tal auf und ab; aber der Rückweg ins Schloß
hinauf ist dann so steil und mühsam, und auf der Straße gehen mir
zu viele Leute. Der Wald hier liegt nicht höher als das Schloß,
in einem halben Stündchen geht man herüber und ist dann so köstlich
einsam, als sätze man in seinem Boudoir bei verschlossenen Türen."
"Bis dann der Zufall einen Vetter aus Preußen hereinwehen
muß, der die köstliche Einsamkeit stört." unterbrach sie Rantow.
"Im ganzen genommen," fuhr sie fort, "ist es im Schloß gerade
auch nicht geräuschvoll. Es ist so einsam als irgend ein bezaubertes
Schloß in ,Tausend und eine Nacht'. Außer der Dienerschaft und jni
hintern Flügel dem Amtmann, den man nie zu sehen bekommt,
sind wir, der Vater und ich, die einzigen Bewohner; ja, die Einsamkeit
im Schloß ist oft so schrecklich und traurig, daß ich mich lieber
in die Waldeinsamkeit flüchte, wo das Rauschen der Bäume und der
Gesang der Vögel doch noch einiges Leben verkünden."
3.
Überrascht stand der junge Mann stille, als sie aus dem dichten
Holz durch eine Wendung des Weges auf einmal dem Schloß gegenüberstanden
. Die Bewohner des südlichen Deutschlands sind von
Jugend auf an Anblicke dieser Art gewöhnt. Man trifft in Franken
und Schwaben selten ein Tal von der Länge einiger Stunden, in
welches nicht eine Burg oder zum mindesten ein gebrochener Turm
und ein halbes Tor herabschauten. Die natürliche Beschaffenheit
des Landes. die vielen Berge und kleinen Flüsse, überdies die eigentümliche
Verfassung des zahlreichen Landadels begünstigten oder
nötigten in früherer Zeit zu diesen befestigten Wohnungen. Aber
der Norden unseres Vaterlandes trägt weniger Spuren dieser alten
Zeit; die weiten Ebenen boten keine so natürliche Befestigung wie
die Felsen und Gebirgsausläufer des Südens, und hatte auch hier
und dort eine solche Feste im platten Land gestanden, so war sie
nur desto schneller dem Verfall und der Zerstörung Preisgegeben.
Die Nachbarn teilten sich brüderlich in die teuren Steine, und ihr
Gedächtnis verwehte der Wind, der über die Ebene hinstrich. Darum
war es dem jungen Mann aus der Mark ein so überraschender Anblick,
sich in solcher Nähe einer dieser altertümlichen Burgen gegenüber
zu sehen, um so überraschender, da er durch diese düsteren, tiefen
Tore als Gast einziehen, in jenem altertümlichen Gemäuer wohnen
sollte. Doch bald erfüllte kein anderer Gedanke mehr als der malerische
Anblick. der sich ihm darbot, seine Seele. Der alte, schwärzlichgraue
Wartturm war auf der Mittagsseite von oben bis in den Graben
hinab mit einem Mantel von Efeu umhängt. Nus den Ritzen der
Mauer sproßten Zweige und grüne Ranken, und um das Tor zog
sich ein breites Rebengeländer, dessen zarte Blätter und Fasern sich
mit sanfter Gewalt um die rostigen Angeln und Ketten der Zugbrücke
geschlungen hatten. Zur rechten Seite des Schlosses hinderte
der dunkle Wald die Aussicht aber links, an den hohen Mauern
vorüber, tauchte das Auge hinab in die Tiefe de:, schönen, fruchtbaren
Neckartales, schweifte hinauf, den Fluß entlang, zu Dörfern
und Weilern und weit über die Weinberge hin nach fernen blauen
Gebirgen.
"Das ist unser Thierberg," sagte da:: Fräulein; " es scheint,
die Gegend habe einigen Reiz für Sie, Vetter, und ich möchte Ihnen
wahrlich raten, recht oft aus dem Fenster zu sehen, um vor unserer
Einsamkeit und diesem häßlichen, alten Gemäuer nicht zu erschrecken!"
"Ein häßliches Gemäuer nennen Sie diese alte Burg?" rief
der Gast. "Kann man etwas Romantischeres sehen als diese Türme,
mit Efeu bewachsen, diesen Torweg mit den alten Wappen, diese
Zugbrücke, diese Wälle und Gräben? Glaubt man nicht, das Schloß
von Bradwardine oder irgend ein andere aus Scottischen Romanen
zu sehen? Erwartet man nicht, ein Sickingen, ein Götz werde uns
jetzt eben aus dem Tore entgegentreten —"
"Für diesmal höchstens ein Thierberg," erwiderte das Fräulein
lachend, "und auch von diesen spukt nur noch einer in den fatalen
Mauern. Dergleichen Türme und Zinnen liebe ich ungemein in
einem Roman oder in Kupfer gestochen; aber zwischen diesen Mauern
zu wohnen, so einsam, und winters, wenn der Wind um diese
Türme heult und das Auge nichts Grünem mehr sieht als jenen
Eppich dort am Turm — Vetter! mich friert schon jetzt wieder,
wenn ich nur daran denke. Doch kommt, Herr Ritter, das Burgfräulein
will Euch selbst einführen."
Der düstere, schattenreiche Hof, in welchen sie traten, kühlte
etwas die warme Begeisterung de: Gastes. Ersah sich flüchtig um,
als sie hindurchgingen, und bemerkte, daß der Platz für ein Turnier
denn doch nicht groß genug gewesen sein müsse, erschrak vor einem
halb zerstörten Turm, dessen Rudera drohend über die Mauer herein
hingen, erstaunte über den scharfen Zahn der Zeit, der in die dicke
Mauer mächtige Risse genagt und dem Auge eine freie Aussicht in
da: Tal hinab geöffnet hatte, und gab in seinem Herzen schon auf
den ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe, wo ein heftiger Zugwind
durch schlecht verwahrte Fenster blies, der Bemerkung seiner
Cousine über die Wohnlichkeit des Hauses vollkommen Beifall.
Sechs bis acht Hunde begrüssten in einer großen, mit Backsteinen
gepflasterten Halle das Fräulein mit freundlichem Klaffen und
Wedeln, und ein gefesselter Raubvogel, der in einer Ecke auf der
Stange satz, stieß ein unangenehmes Geschrei aus und schwenkte
die Flügel. "Das ist nun unsere Antichambre, unser Hofgesinde,"
sagte Anna, indem sie lächelnd auf die Tiere zeigte; "verwünschte
Prinzen und Prinzessinnen, die Sie entzaubern können. — Doch
lassen Sie uns jetzt eintreten," setzte sie nach einer Weile ernster
hinzu; " in diesem Zimmer ist der Vater.
Sie öffnete eine hohe, schwere Flügeltüre, und durch das altfränkisch
ausstaffierte Gemach fiel der Blick des Jünglings auf einen
alten Mann, der in einer tiefen Fensterwölbung saß, wie es schien,
in ein Zeitungsblatt vertieft. Bei dem Gruß seiner Tochter sah er
sich um, und als er den Fremden erblickte und Anna seinen Namen
nannte, stand er auf und ging ihm langsam, aber festen Schrittes
entgegen. Mit Bewunderung sah sein Neffe die hohe, gebietende
Gestalt, die ihn unwillkürlich an jenen Wartturm dieser Burg erinnerte
, den so viele Jahre nicht einzustürzen vermochten und
dessen Alter nur der Efeu anzeigte, der sich an ihm emporgeschlungen
hatte. Zwar hatte die Zeit in diese fünfundsechzigjährige Stirne
Furchen gegraben, um die Schläfe fielen dünne, graue Haare, und
der Bart und die Augenbrauen waren silberweiß geworden; aber
das Auge leuchtete noch ungetrübt, und der Nacken trug den Kopf
noch so aufrecht wie in jugendlicher Kraft, und die Hand gab einen
beinahe kräftigeren Druck, als der Neffe zu erwidern vermochte.
"Bist willkommen in Schwaben," sagte er mit tiefer, kräftiger
Stimme; "'s war ein vernünftiger Einfall meiner Frau Schwester,
daß sie dich herausschickte. Mach dir's bequem; setz dich zu mir
ans Fenster, und du, Anna, bringe Wein!"
So war der Empfang auf Thierberg. So herzlich und offen
er aber auch sein mochte, so konnte doch der junge Mann mehrere
Stunden lang ein gewisses unbehagliches Gefühl nicht verdrängen.
Er hatte sich den Oheim ganz anders gedacht. Er glaubte nach
der Beschreibung. die ihm sein Vater gemacht hatte, einen rauhen,
aber fröhlichen alten Landjunker zu finden, der seine Hasen hetzt,
mit Laune die Händel seiner Bauern schlichtet, von seinen Kleppern
gerne erzählt und zuweilen mit seinen Freunden und Nachbarn
ein Glas über Durst trinkt. Er bedachte nicht, wie fünfundzwanzig
Jahre und eine so verhängnisvolle Zeit, wie die, welche dazwischen
lag, auf diesen Mann gewirkt haben konnten, Das ruhige, ernste
Auge des Oheims, das prüfend auf seinen Zügen zu ruhen schien,
die ungesuchten, aber gründlichen Fragen, Womit er den Neffen über
sein bisheriges Leben und Treiben ins Gebet nahm. das ironische
Lächeln, das hie und da bei einer Äußerung des jungen Mannes
um seinen Mund blitzte, dies alles und das ganze gewichtige Wesen
des Alten imponierten ihm auf eine Weise, die ihm höchst unbequem
war. Er konnte sich kein Herz fassen, den Oheim ebenso traulich zu
behandeln, wie jener ihn; er kam sich vor wie ein angehender Staatsdiener,
dem ein Minister Audienz gibt, und es war dies zu seinem
nicht geringen Verdruß da:, zweite Mal, daß er sich über die ,Landjunker
in Schwaben' getäuscht sah.
Auch seine Base erschien ihm ganz anders, als er sie gedacht
hatte. Erfand zwar alle jene liebenswürdige Natürlichkeit, jenes
unbefangene, ungesuchte Wesen, was man ihm an den Töchtern
dieses Landes gerühmt hatte; aber diese Unbefangenheit schien nicht
aus Unwissenheit, sondern aus einem feinen, sichern Takt hervorzugehen,
und was sie sprach, zeugte von einem so vortrefflich gebildeten
Geist, daß ihre Natürlichkeit nur darin zu bestehen schien, daß sie alles
Geistreiche, sei es witzig oder erhaben, wie etwas Natürliches, Angebornes
vorbrachte, daß es nie als etwas Erlerntes, als etwas
Gesuchtes erschien. Am ärgerlichsten war es ihm, daß sie ihn schon
nach den ersten Stunden zu durchschauen schien. Die ausgesuchten
Artigkeiten, die er ihr sagte, zog sie ins Komische, den feineren
Komplimenten wich sie auf unbegreifliche Art aus; wollte er ihr
nur den zarten, in Berlin gebildeten jungen Mann zeigen, so nannte
sie ihn gewiß immer " Herrn von Nantow" . Und dennoch mußte er
sich gestehen, daß er nie so viel Harmonie der Bewegung, der Miene,
der Gestalt und der Stimme gesehen habe. Ihr ganzes Wesen erschien
ihm wie da:, Hauskleid, das sie jetzt eben trug. Es war einfach
und von bescheidenen Farben, und dennoch kleidete es ihre feine,
schlanke Gestalt mit jener geschmackvollen Eleganz, die auch dem
anspruchslosesten Gewand einen geheimnisvollen Zauber verleiht,
ein Toilettengeheimnis, worüber, so viel der junge Mann sich erinnerte,
noch nie ein Modejournal Aufschluß gab und das ihm
mehr das Zeichen und Symbol einer harmonischen Seele als die
Folge einer sorgfältigen Erziehung zu sein schien.
Dieselbe Übereinstimmung glaubte er zwischen dem alten Herrn
und dem Gemach zu finden, in welches er zuerst geführt worden war.
Es war der verblichene Glanz eines früheren Jahrhunderts, was
ibm von den Winden und Hausgeräten entgegenblickte, die schweren,
gewirkten Tapeten, mit Leisten befestigt, die einst vergoldet waren
und deren Farbe jetzt ins Dunkelbraune spielte, die breiten Armstuhle
mit ausgeschweiften, zierlich geschnitzten Beinen, die Polster,
mit grellen Farben künstlich ausgenäht, mit Papageien, Blumentöpfen
und den Bildern längst begrabener Schoßhündchen geziert.
Wie manchen Wintertag mochten seine Ahnfrauen über dieser mühsamen
Arbeit gesessen sein, die ihnen vielleicht einst für das
Vollendetste galt, was der menschliche Geschmack je ersonnen, und die
jetzt ihrem Urenkel geschmacklos, schwerfällig und, hätten sich nicht
so ehrwürdige Erinnerungen daran geknüpft, beinahe lächerlich
erschien! Und doch kam ihm dies alles, der ehrwürdigen Gestalt
seines Oheims gegenüber, wie durch Altertum und langjährige
Gewohnheit geheiligt vor. Ersah, man sei in Thierberg erhaben
über den Wechsel der Mode, und wenn er hinzufügte, was ihm sein
Vater über die mancherlei Unglücksfälle und die mißlichen Umstände,
worin sich der Oheim befand, gesagt hatte, so fühlte er sich
beschämt, daß er diese Umgebungen nur einen Augenblick habe
grotesk und sonderbar finden können. Er fühlte, daß er unverschuldeter
Armut, wenn sie sich in so ernstem und würdigem Gewande
zeige, seine Achtung nicht versagen könne. Ja, vor diesen Wänden,
diesem Geräte und vor dem unscheinbaren, groben Hausrock des
Oheims erschien er sich selbst, wenn er einen Blick auf seine modische
und höchst unbequeme Tracht warf, wie ein Tor, beherrscht von
einem Phantom, das ein Weiser lächelnd an sich vorübergleiten läßt.
Dies waren die Eindrucke, welche der erste Abend in Thierberg
auf die Seele des jungen Rantow machte. So ernst sie aber
am Ende auch sein mochten, so konnte er doch ein Lächeln nicht
unterdrücken, als mit dem Schlage acht Uhr, den die alte Schloßuhr
zögernd und zitternd angab, eine Flügeltüre am Ende des
Zimmers aufsprang, ein kleiner Kerl in einem verschossenen, bordierten
Rock, der ihm weit um den Leib hing, hereintrat, sich dreimal
verbeugte und dann feierlich sprach: "Le souper est servi."
o
"S'il vous plaît," sagte der Alte mit ernsthaftem Gesicht und
einer Verbeugung zu seinem Neffen, reichte seinen Arm der schönen
Anna und ging langsamen Schrittes dem Speisezimmer il.
4.
Mit den Flügeltüren des Speisesaales und dem ersten Blick,
den er hineinwarf, hatte sich übrigens dem Gast aus Brandenburg
ein weites Feld der Erinnerung geöffnet. Von diesem gemalten
Plafond, der die Erschaffung der Welt vorstellte, von dem schweren
Kronleuchter, den der Engel Gabriel als Sonne aus den Wolken
herabhängen ließ, von den gelben Gardinen von schwerer Seide
batte ihm seine Mutter oft gesprochen, wenn sie von ihrem väterlichen
Schloß in Schwaben und von dem ungemeinen Glanz erzählte,
welcher einst durch ihre hochselige Frau Großmutter, die
Tochter eines reichen Ministers, in die Familie und in die schöneren
Appartements zu Thierberg gekommen sei, Schon seine Mutter
hatte in ihrer Kindheit diese Prachtstücke mit großer Ehrfurcht vor
ihrem Altertum betrachtet, und seit dieser Zeit hatten sie zum mindesten
dreißig bis vierzig Jahre gesehen.
"Das ist der Familiensaal," sagte während der Tafel der alte
Thierberg, als er die neugierigen Blicke sah, womit sein Neffe dieses
Gemach musterte. "Vor Zeiten soll man es die Laube genannt
haben, und meine Ahnherren pflegten hier zu trinken. Mein Großvater
selig ließ es aber also einrichten und schmücken. Er war ein
Mann von vielem Geschmack und hatte in seiner Jugend mehrere
Jahre am Hof Ludwigs Xlv, zugebracht. Auch meine Frau Großmutter
war eine prächtige Dame, und sie beide haben das Innere
des Schlosses auf diese Art eingeteilt und dekoriert."
"Am Hofe Ludwigs Xlv. !" rief der junge Mann mit Staunen.
Da:, ist eine schöne Zeit her; wie mancherlei Gäste mag dieser Saal
seit jener Zeit gesehen haben!"
"Viele Menschen und wunderbare Zeiten," erwiderte der alte
Herr. "Ja, es ging einst glänzend zu auf Thierberg, und unsere
Gäste befanden sich bei uns nicht schlimmer als bei jedem Fürsten
des Reichs. Miau komite kein fröhlicheres Leben finden als das
auf diesen Schlössern, so lange unsere Ritterschaft noch blühte. Da
galt noch unser Ansehen, unsere Stimme. Man war ein Edelmann
so gut als der König von Frankreich, und ein Freiherr war ein freier
Mann, der nichts über sich kannte als seinen gnädigen Herrn, den
Kaiser. und Gott; jetzt —
"Vater!" unterbrach ihn Anna, als sie sah, wie die Ader auf
seiner Stirn anschwoll und wie eine dunkle Röte, ein Vorbote
nahenden Sturmes, auf seinen Wangen aufzog. "Vater!" rief sie
mit zärtlichen Tönen, indem sie seine Hand ergriff. "Nichts mehr
über dies Thema! Sie wissen, wie es Sie immer angreift."
"Törichtes Mädchen!" erwiderte der alte Herr, halb unwillig,
halb gerührt von der bittenden Stimme seiner schönen Tochter.
Warum sollte ein Mann nicht stark genug sein, nach Jahren von
d e m zu sprechen, was er zu dulden und zu tragen stark genug war
Der Vetter kennt nur unsere Verhältnisse, wie sie jetzt sind. Er ist
geboren zu einer Zeit, wo diese Stürme gerade am heftigsten wüteten,
und aufgewachsen in einem Lande, wo die Ordnung der Dinge
längst schon anders war. Er kann sich also nicht so recht denken,
was die Vorfahren seiner Mutter waren, und deshalb will ich ihn
belehren."
Der Freiherr nahm nach diesen Worten sein großes Glas auf
dessen Deckel die sechzehn Wappenschilde seines Hauses, aus Silber
getrieben, angebracht waren, und trank, um Kraft zu seiner Belehrung
zu sammeln. einen langen, tüchtigen Zug. Doch Fräulein
Anna sah an ihm vorüber den Gast mit besorglichen. bittenden
Blicken an. Er verstand diesen Wint und suchte den Oheim von
dieser Materie abzubringen.
"Es ist wahr," fiel er ein, noch ehe jener da:: Glas wieder auf
den Tisch gesetzt hatte, "in Preußen sind die Verhältnisse anders
und sind seit langer Zeit anders gewesen. Aber sagen Sie selbst,
kann man ein Land in Europa finden, das, meinem Vaterland
gliche? Ich gebe zu, daß andere Länder an Flächeninhalt. an Seelenzahl
uns bei weitem überwiegen; aber nirgends trifft man auf so
kleinem Raum eine so kräftige, durch innere Tugend imponierende
Macht; es ist das Sparta der neuen Zeit. Und nicht ein glücklicher
Boden oder ein milder Himmel bewirkten so Großes, sondern der
Genius großer Männer hat ein Preußen geschaffen, weil sie es verstanden,
die schlummernden Kräfte zu wecken, dem Volke selbst
zeigten, welche Stellung es einnehmen müsse; weil sie Preußen
geworden sind, ist auch ein Preußen erstanden."
Der alte Herr hatte seinem Neffen ruhig zugehört; bei den
letzten Worten aber zog sich sein Gesicht zu solcher Ironie zusammen,
daß der Brandenburger errötete. "Der Sohn meines Nachbars,
des Generals von Willi, würde sagen, wenn er dich hörte: ,O Deutschland
, Deutschland, da sieht man, wie dein Elend aus deiner eigenen
Zersplitterung hervorgeht! Sie wollen nicht mehr Griechen, sondern
Platäer, Korinther, Athener, Thebaner und gar — Spartaner
heißen!' Ich wünsche nur," setzte er lächelnd hinzu, "daß die Spartaner
nicht zum zweitenmal einen Epaminondas im Felde finden
mögen. Die Schlacht bei Leuktra war kein Meisterstück der Kriegskunst
unserer modernen Spartaner."
"Unser Unglück bei Jena," sagte der junge Mann verdrießlich,
kann man weder dem Volt, noch dem König zuschreiben, und ich
glaube, wir haben uns an Napoleon hinlänglich gerächt; wir haben
nicht nur Deutschland wieder frei gemacht, sondern ihn selbst entthront
."
"So? Das seid ihr gewesen?" fragte der Oheim. "Gott
weiß, ich tat bis jetzt sehr Unrecht, daß ich dieses Ereignis der halben
Million Soldaten zuschrieb, die man aus ganz Europa gegen ihn
zusammenhetzte. Warst du vielleicht selbst mit dabei, Neffe? Du
kannst wahrscheinlich als Augenzeuge reden ?
Der Neffe errötete und schickte einen ängstlichen Blick nach
Anna, die ihr Lächeln kaum unterdrücken konnte. "Ich war damals noch
auf der Schule," antwortete er, "und es hat mich nachher
oft geärgert, daß ich nicht mit dabei war. Ich gebe zu, daß die andern
auch mitgeholfen haben; aber in allen Schlachten waren es nur die
Preußen, die entschieden haben; denken Sie nur an Waterloo!
"Seid überzeugt, ich denke daran," erwiderte der alte Herr
mit großem Ernst, "und denke mit Vergnügen daran. Wenn einer
ein Feind jenes Mannes ist, so bin ich es; denn er hat uns und
alles unglücklich gemacht und das alte schöne Reich umgekehrt wie
einen Handschuh. Aber das mit deinen Landsleuten weißt du denn
doch nicht recht. Ich glaube schwerlich, daß eure jungen Soldaten,
wenn sie auch wirklich so begeistert waren, wie man sagte, so viele
Stöße auf ihr Zentrum ausgehalten hätten, als am achtzehnten Juni
jene Engländer, die schon in allen Weltteilen gedient hatten."
"Nicht die Jahre sind es," sagte jener, "die in solchen Augenblicken
Kraft geben, sondern das Selbstbewußtsein, der Stolz einer
Nation und die Begeisterung des Soldaten für seine Sache, und die
hat der Preuße vollauf."
Ich habe in meiner Jugend auch ein paar Jahre gedient,"
entgegnete der Oheim, " anno 85 bei den Kreistruppen. Damals
waren die Soldaten noch nicht begeistert; darum kenne ich da: Dina
nicht. Nächstens wird mich aber mein Nachbar, der General, besuchen;
mit diesem mußt du darüber sprechen."
"Wie dem auch sei," fuhr der Gast fort, "es freut mich innig,
daß Sie über den Hauptpunkt, über den Unwillen gegen die Franzosen
und im Haß gegen diesen Korsen, mit mir übereinstimmen.
Bei uns zu Hause behauptet man, daß er in Süddeutschland leider
noch immer als eine Art Heros angesehen und, es ist lächerlich zu
sagen, von vielen sogar als ein Beglücker der Menschheit verehrt
werde."
"Sprich nicht zu laut, Freund," erwiderte der alte Herr, " wenn
du es nicht mit dieser jungen Dame hier gänzlich verderben willst.
Sie ist gewaltig napoleonisch gesinnt."
Sie werden darum nicht schlechter von mir denken," sagte
Anna, hocherrötend,"weil ich einen Mann nicht geradehin verdammen
mag, dessen unverzeihlicher Fehler der ist, daß er ein großer Mensch
"
"Großer Mensch!" rief der Alte mit blitzenden Augen, "den
Teufel auch, großer Mensch! Was heißt das Daß er den rechten
Augenblick erspähte, um wie ein Dieb eine Krone zu stehlen? Daß
er mit seinen Bajonetten ein treffliches Reich über den Haufen warf,
seine herrliche natürliche Form zertrümmerte, ohne etwas Besseres
an die Stelle zu setzen! Großer Mensch!"
"Sie sprechen so, weil —"
"Anna, Anna!" fiel er seiner Tochter in die Rede. "Meinst
du, ich spreche nur darum so, weil er uns elend machte? Weil er
diese- Tal und diesen Wald mir entriß, weil er diese Menschen,
die mir und meinen Ahnen als ihren Herren dienten. an einen
andern verschenkte? Weil die ungebetenen Gäste, die er uns schickte,
das Bißchen aufzehrten oder einsteckten, was mir noch geblieben war?
Es ist wahr, an jenem Tage, wo man ein fremdes Siegel über das
alte Wappen der Thierberge klebte, wo man mein Vieh zählte und
schätzte, meine Weinberge nach dem Schuh ausmaß, meine Wälder
lichtete und die erste Steuer von mir eintrieb, an jenem Tage sah
ich nur mich und den Fall meines Hauses; aber ging es der ganzen
Reichsritterschaft besser? Mussten wir nicht sogar erleben, daß ein
Mann von der Insel Korsika erklärte, es gebe keinen deutschen
Kaiser und kein Deutschland mehr
"Gott sei es geklagt!" sagte der junge Rantow, "und uns wahrhaftig
hat er es nicht besser gemacht.
"Ihr, gerade ihr seid selbst schuld daran," fuhr der alte Herr
immer heftiger fort. "Ihr hattet euch längst losgesagt vom Reich,
hattet kein Herz mehr für das Allgemeine, wolltet einen eigenen
Namen haben und tatet euch viel darauf zu gut. Ihr sahet es vielleicht
sogar gern, daß man uns Schaft fur Schaft entzweibrach,
weil man uns fürchtete, so lange die übrigen Speere ein Band
umschlang. Habt ihr nicht gesehen, wie weit es tam, als man in
Sparta jeden Griechen einen Fremden nannten Verdammt sei
dieses Jahrhundert der Selbstsucht und Zwietracht, verdammt diese
Welt von Toren, welche Eigenliebe und Herrschsucht Größe nennt!"
"Aber, lieber Vater —" wollte das Fräulein besänftigend
einfallen; doch der alte Herr war bei seinen letzten Worten schnell
aufgestanden, und der kleine Mensch in der Thierbergischen Livree
eilte auf seinen Wink mit zwei Kerzen herbei.
"Gute Nacht," wandte er sich noch einmal zu seinem Neffen;
stoße dich nicht daran, wenn du mich zuweilen heftig siehst; 's ist
so meine Natur. Schlafet wohl, Kinder!" setzte er ruhiger hinzu,
"wenn die Gegenwart schlecht ist, muß man von besseren Zeiten
träumen." Anna küsste ihm gerührt die Hand, und die erhabene
Gestalt de:, alten Herrn schritt langsam der Türe zu. Rantow war
so betroffen von allem, was er gehört und gesehen, daß es ihm
sogar entging, welche komische Figur der Diener machte, der seinem
irm zu Bette leuchtete. Die weite Staatslivree, die er trug,
hing beinahe bis zum Boden herab, und die langen, bordierten Aufschläge
bedeckten völlig die Hände, welche die silbernen Leuchter
trugen. war anzusehen wie ein großer Pilgrim, der einen Kalvarienberg
hinan auf den Knien rutscht. Um so erhabener war der
Kontrast des Mannes, der ihm folgte; er erschien, als er durch den
altfränkischen Saal unter den Familiengemälden seiner Ahnen vorbei
schritt, wie ein wandelndes Bild der guten alten Zeit.
Als der alte Herr das Gemach verlassen hatte, stand das Fräulein
mit einer Verbeugung gegen ihren Gast auf und trat in ein Fenster.
Der junge Mann fühlte an ihrem Schweigen, daß er diesen Abend
Saiten berührt haben müsse, die man anzutasten sonst vielleicht
sorgfältig vermied. Sie blickte hinaus in die Nacht, und Rantow
trat an ihre Seite; er hatte oft erprobt, wie sich Mißverständnisse
leichter lösen, wenn man sie in einen Scherz kehrt, als wenn man
mit Ernst oder Wehmut darüber spricht. Mit solch einem Scherz
wollte er Anna versöhnen; doch als er zu ihr ans Fenster trat, war
der Anblick, der sich ihm darbot, so überraschend, daß kein heiteres
Wort über seine Lippen schlüpfen konnte. Das tiefe, schwärzliche
und doch so reine Blau, das nur ein südlicher Himmel im Mondlicht
zeigt, hatte er noch nie gesehen. Über Wald und Weinberge herab
goß der Mond seltsame Streiflichter, und im Tal schimmerten seinen
Glanz nur die zitternden Wellen des Neckars und die Spitze des
dunkeln Kirchturms zurück. Der salbe Schein dieses Lichtes der Nacht
hatte Annas Züge gebleicht, und in ihren schönen Augen schwamm
eine Träne. Jetzt erst, als alles so still und lautlos war, vernahm
man aus der Ferne die gehaltenen Töne einer Flöte, und diese
Klänge verbanden sich so sanft mit dem milden Schimmer des
Mondes, daß man zu glauben versucht war, es seien seine Strahlen,
die so melodisch sich auf die Erde niedersenkten. Ein seliges Lächeln
zog über Annas Gesicht, ihr glänzender Blick hing an einer Waldspitze
, die weit in das Tal vorsprang, und ihre tieferen Atemzüge
schienen der Flöte zu antworten.
"Wie prachtvoll ist selbst die Nacht in Ihrem Tal!" sprach
nach einer Weile der Gast. "Wie schön wölbt sich der Himmel darüber
hin, und der Mond scheint nur für diesen stillen Winkel der Erde
geschaffen zu sein."
Anna öffnete das hohe Bogenfenster. "Wie warm und mild
es noch draußen ist!" sagte sie, indem sie freundlich in das Tal hinabschaute.
"Kein Lüftchen weht.
"Aber die Bäume neigen sich doch her und hin," erwiderte er,
"sie rauschen, gewiß vom Wind bewegt.
"Kein Lüftchen weht!" wiederholte sie und hielt ihr weißes
Tuch hinaus. "Sehen Sie, nicht einmal dieses leichte Tuch bewegt
sich. Und kennen Sie denn nicht die alte Sage von den Bäumen?
Nicht der Nachtwind ist es, der ihre Blätter bewegt, sie flüstern
jetzt und erzählen sich, und wer nur ihre Sprache verstünde, könnte
manches Geheimnis erfahren.
"Vielleicht könnte man dann auch erfahren, wer der Flötenspieler
ist," sagte der Vetter, indem er Anna schärfer ansah; denn
schon war er so eifersüchtig auf seine schöne Base geworden. daß
ihm die süßen Töne vom Wald her und ihr Tuch, das sie noch immer
aus dem Fenster hielt, in Wechselwirkung zu stehen schienen.
"Das kann ich Ihnen auch ohne die Bäume verraten," erwiderte
sie lächelnd, indem sie das Tuch zurücknahm. "Das ist ein munterer
Jägerbursche, der seinem Mädchen einen guten Abend spielt."
"Dazu ist aber die Entfernung doch beinahe zu groß," fuhr
er fort, "manche Töne werden nicht ganz deutlich."
Im Dorf unten hört man es besser als hier oben," sagte sie
gleichgültig und schloß das Fenster; "überdies sagt ja das Sprichwort:
.Das Ohr der Liebe hört noch weiter als das des Argwohns."'
"Schön gesagt," rief der junge Mann; "doch das Auge des
Argwohns sieht weiter als das der Liebe."
"Sie haben recht," entgegnete sie; "aber nur bei Tag, nicht
bei Nacht."
Diese, wie es schien, ganz absichtslos gesagten Worte überraschten
den jungen Mann so sehr, daß er beschämt die Augen niederschlug.
Er warf sich seine Torheit vor, daß er nur einen Augenblick
glauben konnte, es sei ein Liebhaber dieses arglosen Kindes, der dort
im Walde musiziere.
"Und nun gute Nacht, Vetter," fuhr Anna fort, indem sie eine
Kerze ergriff. "Träumen Sie etwas recht Schönes! Man sagt ja,
der erste Traum in einem Hause werde wahr. Hans, leuchte dem
Herrn Baron ins rechte Turmzimmer! Und dies noch," setzte sie
auf französisch hinzu, als der Diener näher trat, "vermeiden Sie,
mit meinem Vater über Dinge zu sprechen, die ihn so tief berühren.
Er ist sehr heftig; doch gilt sein Zorn nie der Person, sondern der
Meinung. Es war meine Schuld, daß ich Sie nicht zuvor unterrichtet
habe; morgen will ich nähere Instruktionen erteilen. —
Gute Nacht!"
Sinnend über dieses sonderbare und doch so liebenswürdige
Wesen, folgte der Gast dem Diener, und die dumpfhallenden Gänge
und Wendeltreppen, das vieleckige, in wunderlichen Spitzbogen
gewölbte Gemach, das altertümliche Gardinenbett, so manche Gegenstände
, die er sonst so aufmerksam betrachtet hätte, blieben diesmal
ohne Eindruck auf seine Seele, die nur eifrig beschäftigt war, den
Charakter und das Benehmen Annas zu prüfen und zu mustern.
5.
Als der Gast am folgenden Morgen nach einer sorgfältigen
Toilette hinabging, um mit seinen Verwandten zu frühstücken,
konnte er sich anfänglich in dem alten Gemäuer nicht zurechtfinden.
Ein Diener, auf welchen er stieß, führte ihn dem Saale zu, und an
den Gängen und Treppen, die er durchwandern mußte, bemerkte
er erst, was ihm gestern nicht aufgefallen war, daß er im entlegensten
Teil dieser Burg geschlafen habe. Auf sein Befragen gestand ihm
der Diener, daß sein Gemach das einzige sei, das man auf jener
Seite noch bewohnen könne, und außer dem Wohnzimmer mit den
gewirkten Tapeten, dem Schlafzimmer des alten Herrn, dem Saal,
dem kleinen Zimmerchen in einem andern Turm, wo Fräulein
Anna wohne, sei nur noch das ungeheure Bedientenzimmer, das
früher zu einer Küche gedient habe, und die Wohnung des Amtmanns
einigermassen bewohnbar; die übrigen Gemächer seien entweder
schon halb eingestürzt, oder werden zu Fruchtböden und dergleichen
benutzt. Der stolze Sinn des Oheims und die fröhliche Anmut seiner
Tochter standen in sonderbarem Widerspruch mit diesen öden Mauern
und verfallenen Treppen, mit diesen sprechenden Bildern einer
vornehmen Dürftigkeit. Der junge Mann war, wenn nicht an Pracht,
doch an eine gewisse reinliche Eleganz in seiner Umgebung selbst
an den Treppen und Wänden gewöhnt, und er konnte daher nicht
umhin, seine Verwandten, die in so großer, augenscheinlicher Entbehrung
lebten, für sehr unglücklich zu halten. Das romantische
Interesse, das der erste Anblick dieser Burg für ihn gehabt hatte,
verschwand vor dieser traurigen Wirklichkeit, und wenn er sich dachte,
wie die Mauerrisse und Spalten, durch welche jetzt nur die warme
Morgensonne hereinfiel, den Stürmen des Winters freien Durchgang
lassen mussten, war ihm Annas Furcht vor dieser Jahreszeit wohl
erklärlich.
"Und ein so zartes Wesen diesen rauhen Stürmen ausgesetzt!"
sagte er zu sich, " ein so reicher und gebildeter Geist ohne Umgang,
vielleicht ohne Lektüre, einen ganzen Winter lang in diesen Mauern
von Schnee und Wetter gefangengehalten, einsam bei dem ernsten,
feierlichen, alten Mann! Und dieser ehrwürdige Alte, der einst bessere
Tage gesehen, durch die Ungunst der Zeit in unverschuldete Dürftigkeit
und Entbehrung versetzt!" Von so gutmütiger Natur war das
Herz des jungen Mannes, daß er vor der Tür des Saales halb und
halb den Entschluß faßte, um die schöne Anna zu freien, sie in die
Mark zu führen oder, wenn ihm das Leben in Schwaben besser
gefallen sollte, mit ihr in die Residenz zu ziehen und für den Sommer
Thierberg wieder instand setzen zu lassen.
Der Alte empfing ihn mit einem herzlichen Morgengruß und
derben Händedruck, und Anna erschien ihm heute noch freund
licher und zutraulicher als gestern. Das Tagewerk der Knechte
wurde in seiner Gegenwart angeordnet, und mit Wonne sah er
Anna eine Geschäftigkeit im Hauswesen entfalten, die er der feingebildeten
jungen Dame nicht zugetraut hätte. Auch über ihre
eigenen Geschäfte sprachen die Bewohner des Schlosses. er Alte
wollte vormittags mit seinem Verwalter rechnen, Anna den Gast
unterhalten und einen Spaziergang mit ihm ins Tal hinab machen.
Nach Tisch wollte sie bei einigen Damen in der Nachbarschaft Besuche
abstatten, der Alte das Stück Wald, das ihm noch eigen gehörte,
mustern, und Albert sollte ihn begleiten. Der Abend sollte sie alle
zum Spiel vereinigen. So angenehm dem jungen Mann die Aussicht
war, einen ganzen Vormittag mit der schönen Cousine zu verleben.
so erschreckte ihn doch ein so langer Waldspaziergang mit dem ernsten
Onkel, der alle Augenblicke die sonderbarsten, vielseitigsten Kentnisse
verriet und in so hohem Alter noch ein Wortgedächtnis hatte, vor
welchem jenem graute. "Wie, wenn er dich den ganzen Nachmittag
ausfragte, was du gelernt hast!" sagte er zu sich. "Wie schnöde
wird es dann an den Tag kommen, welche Lehrstühle und -säle in
Berlin du nicht besucht, und wie schnell wird er ahnen, welche
du besucht hast." Einiger Trost für ihn war seine geläufige Zunge
und ein wenig Disputierkunst, das einzige, was ihm von seinem
Hofmeister übrig geblieben war. Doch wie einen zum Galgen
Verdammten das Henkermahl noch erfreut, da: ihm der Nachrichter
zu- und anrichten muß, so richtete sich seine geängstigte Seele an der
schönen Gegenwart auf. Und welcher Himmel ging ihm erst auf.
als der Onkel, nachdem er schon Hut und Stock ergriffen hatte, sich
noch einmal zu seinem Neffen wandte. "Noch etwas!" sagte er zu
ihm. "So lange Thierberg steht, ist es Sitte, daß die nächsten Verwandten
gleicher Linie mit du unter sich reden; ich denke. du wirst
mit Anna keine Ausnahme machen, weil du hundert Meilen nördlicher
geboren bist."
Anna lächelte und schien es ganz in der Ordnung zu finden;
aber mit freudeglühenden Wangen sagte der junge Mann zu; dankbar
blickte er dem alten Oheim nach, der ihm in diesem Augenblick wie
ein Bote der Liebe erschien. Leider vergaß er dabei, daß dieses Du
nicht das süsse, heimliche Du der Liebe sei und daß ein so nahes
Verhältnis zwar der Freundschaft förderlich, für die entstehende
Liebe aber ein Hindernis sein könnte,
"Und du wolltest mir gestern abend noch Instruktionen geben."
sagte er, indem er sich in das Fenster zu dem Fräulein setzte. "Es
ist mir angenehm, wenn du mir recht viel vom Onkel sagst; ich habe
ihn mir durchaus anders gedacht, und daher kam nun wohl gestern
abend mein Mißgriff."
"Wie hast du dir ihn denn gedacht?" fragte Anna.
"Nun, ich setzte mir aus dem, was Mutter und Vater erzählten,
ein Bild zusammen, das nun freilich nicht paßt. Seit mein Vater
Kammerjunker an eurem hose war und nachher die Mutter nach
Preußen heimführte, mögen es doch etwa dreißig Jahr sein. Damals
war wohl Onkel etwa fünf- bis sechsunddreißig Jahre alt,
und man nannte ihn noch immer den Junker; denn der Großvater
Thierberg lebte noch. Mein Vater beschreibt ihn nun gar komisch,
wenn er auf ihn zu sprechen kommt. Er war hier im Schloß aufgewachsen
unter der Aufsicht seines Herrn Papa und seiner Frau
Mama. Die guten Großeltern könnte ich malen. Sie müßten in
den geblümten und ausgenähten Fauteuils sitzen, aufrecht und anständig
frisiert; die Großmama in einem blauseidenen Reifrock,
der Großpapa in einem verschossenen Hofkleid. Sie sind die regierende
Familie in ihrem Lande, der Amtmann und der Pastor ihr Hofstaat.
Der Erbprinz lernte hier nicht viel mehr, als sich anständig verbeugen,
die Hand küssen, reiten und jagen, und die Prinzessinnen sollen ihn
an Bildung weit übertroffen haben. Die zwei Jahre Garnisonsleben
bei den Reichstruppen hatten ihn nicht gerade verfeinert,
und so soll er immer zur größten Lust der Verwandten gedient haben,
wenn er um die Zeit, da man alljährlich die Remontepferde von
Leipzig brachte, in die Residenz kam. Meine Mutter wurde damal::
bei Onkel Wernau erzogen, und mein Vater kam täglich in das Haus.
Wenn dann dein Vater im Herbst zum Besuch kam, verhehlte er
nicht, daß er nur gekommen sei, um die schönen Remontepferde
zu betrachten, zog den ganzen Tag bei Bereitern und in den Stillen
umher, freute sich, mit seiner großen Pferdekenntnis glänzen zu
können, und unterhielt abends die glänzende Gesellschaft bei Wernaus
durch sein sonderbares Wesen, das zwar nie linkisch oder unanständig,
aber im höchsten Grade naiv, ungezwungen und komisch war. Mein
Vater sagte oft: ,Er war ein Bild der guten alten Zeit, nicht jener
steifen Zeit, wo man den Hofton und die Reifrocke in jedem Winkel
des Landes affektierte, sondern einer viel früheren. Er war da:.
Muster eines schwäbischen Landjunkers."
Der junge Mann hielt inne in seiner Beschreibung, als er sah,
daß seine Zuhörerin lächelte. "Du findest vielleicht diese Züge unwahr
," sagte er, "weil sie auf heute nicht mehr passen, und doch
versichere ich —"
"Mir fiel nur," erwiderte sie, "als du dies das Bild eine::
schwäbischen Landjunker:. nanntest, jenes Buch ein, das beinahe mit
denselben Zügen einen Landjunker in — Pommern schildert. Du
versetzest nun dieses Bild in mein Vaterland, in dieses Schloß sogar;
sonderbar ist es übrigens, daß beinahe kein Zug mehr zutrifft. In
dem gutgemalten Bild eines Jünglings muss man sogar die Züge
des Greises wieder erkennen: doch hier
"Das wollte ich ja eben sagen; ich fand den Onkel so ganz
und durchaus anders, daß ich selbst nicht begreifen konnte, wie er
einst jener muntere, naive Junge habe sein können.
"Ich spreche ungern mit Männern über Männer; ich meine,
es passe nicht für Mädchen," nahm Anna das Wort; "über meinen
Vater vollends habe ich nie — beinahe nie gesprochen," setzte
sie errötend hinzu; "doch mit dir will ich eine Ausnahme machen.
Ich zwar kenne den Vater nicht anders, als wie er jetzt ist; es ist
möglich, daß er vor dreißig Jahren etwas anders war; aber bedenke,
Vetter Albert, durch welche Schule er ging! Alles, alles, was ihm
einst lieb und wert war, hat diese furchtbare Zeit niedergewühlt.
Oder meinst du, jene Verhältnisse, so sonderbar und unnatürlich
sie vielleicht erscheinen, seien ihm nicht teuer gewesen? Wie oft,
wenn die alten Herren von der vormaligen Reichsritterschaft im
Saal waren und sich besprachen über die gute alte Zeit, wie oft
hätte ich da weinen mögen aus Mitleid mit den Greisen, die sich
nun so schwer in diese neuen Gestaltungen finden!"
"Aber ging es ganz Europa besser? Denke an Spanien, Frankreich,
Italien, Polen und das ganze Deutschland!" erwiderte der Gast.
"Ich weiß, was du sagen willst," fuhr sie eifrig fort; " man
soll über dem Unglück und der Umwühlung eines Weltteils so kleine
Schmerzen vergessen; aber wahrlich, so weit sind wir Menschen
noch nicht. Auf diesen Standpunkt erhebe sich, wer kann, und ich
meine, er wird auch in seiner Großherzigkeit wenig Trost, weder
für sich, noch für das Allgemeine finden. Und ich möchte überdies
noch behaupten, daß unter allen, die überall gelitten haben, vielleicht
gerade diese Ritterschaft nicht am wenigsten litt. Andere Wunden,
die man nur dem Vermögen schlägt, heilen mit der Zeit; doch wo,
nicht durch Revolution, sondern im Namen gesetzlicher Gewalt, so
alte, lang gewöhnte Bande zersprengt und Formen, die auf ewig
gegründet schienen, zertrümmert werden, das eine Stück hierhin,
das andere dorthin gerissen — da werden die teuersten Interessen
in innerster Seele verwundet. Wenn so die alten Hauptleute und
Räte der Ritterschaft, einige Komture und deutsche Ritter um die
Tafel sitzen, so glaubt man oft, Gespenster, Schatten aus einer andern
Welt zu sehen. Doch wenn man dann bedenkt, daß dies alles, was
sie einst erfreute, so lange vor ihnen zu Grabe ging und diese Titel
von der jungen Welt nicht mehr verstanden werden, so kann man
mit ihnen recht traurig werden."
"Es ist wahr," bemerkte der Gast, "und man muh gerecht sein;
sie wurden von früher Jugend in der Achtung und im ritterlichen
Eifer für jene alten Formen erzogen, glänzten vielleicht eben im
ersten Schimmer einer neuen Amtswürde, als das Unglück hereinbrach
und alles auflöste; und wie schwer ist es, alten Gewohnheiten
zu entsagen, alte Vorurteile abzulegen!
"Um so schwerer," setzte Anna hinzu, " Wenn man ein Recht
und gesetzliche Ansprüche darauf zu haben glaubt. Hätte man jene
Bande sanft gelöst, man würde sich nach und nach gewöhnt haben;
so aber war es das Werk eines Augenblicks. Vermögen, Ansehen
und Würden gingen zugleich verloren, und mancher wurde geflissentlich
gekränkt. So wurde der Unmut über die Veränderungen
zur Erbitterung. Der Vater hat oft erzählt, wie sie ihm an einem
Tage alle Familienwappen von den Wänden gerissen, das Vieh
geschätzt, Pferde weggeführt, die Braupfannen versiegelt und für
Staatseigentum erklärt haben; die Mutter war trank, der Vater
außer sich gebracht durch höhnische Behandlung der neuen Beamten,
und um das Unglück vollkommen zu machen, legten sie fünfundsiebzig
Franzosen in dieses Schloß, die nicht plündern, aber ungestraft
stehlen durften und, wenn sie weiter zogen, nur ebensoviel neuen
Gästen Platz machten."
"Wahrhaftig," rief Albert, "ein solches Schicksal hätte wohl
auch den fröhlichsten Junker ernst machen müssen!"
Wie es ging, weiß ich nicht, nur so viel nahm ich mir aus
Gesprächen ab, daß er seit jener Zeit ganz verändert sei. Er hielt
sich meistens zu Hause, la: viel und studierte manches. Er gilt jetzt
in der Gegend für einen Maun, der viel weiß, und muß in manchen
Fällen Rat geben. Doch um auf die Instruktionen zu kommen,
die ich dir erteilen wollte, so kannst du sie aus dem, was ich dir erzählte
, selbst abnehmen. Berühre nie die früheren politischen Verhältnisse,
wenn du ihn nicht wehmütig machen willst, sprich nie
von dem Kaiser —"
"Von welchem Kaiser?" unterbrach sie der Vetter.
"Nun, von Napoleon, wollte ich sagen; er sieht ihn als den
Urheber aller seiner Leiden an, und wenn etwa der General in
diesen Tagen kommen sollte, latz dich in keinen politischen Diskurs
ein; sie sind schon so heftig aneinander geraten."
"Wer ist denn der General?" fragte Albert. "Hat nicht dein
Vater mich gestern aufgefordert, mit ihm über die neuere Kriegszucht
zu sprechen?"
"Der General Willi ist unser Nachbar," erwiderte Anna, "und
wohnt eine halbe Stunde von hier, den Neckar abwärts. Er gehört
so sehr der neueren Zeit an, als der Vater der alten, und ich kann
ihm seine Art, zu denken, ebensowenig verargen als meinem Vater.
Er machte in den früheren Feldzügen eine sehr schnelle Karriere,
und der Kaiser selbst soll ihn im Feldzuge von 1809 beredet haben,
unsem Dienst zu verlassen und in die Garde zu treten. Er war
mit in Rußland, wurde bei Chalons gefangen und zog sich nachher
gänzlich zurück. Hier hat er nun ein Gut gekauft, ist ein sehr vermöglicher
Mann und lebt im stillen seinen Erinnerungen. Du kannst
dir denken, daß ein Mann, der in solchen Verhältnissen seine schönsten
Jahre lebte, wohl auch noch heute von der Sache, für welche er
einst focht, eingenommen ist er ist, was man so nennt, ein eigensinniger
Napoleonist und hat wenigstens so gut als irgend einer
Grund dazu."
"Wenn er ein Franzose wäre," entgegnete Albert, "dann
möchte es ihm hingehen. Aber für einen Deutschen schickt es sich
doch wahrhaftig nicht. Es war keine Sache , für welche er focht,
sondern ein Phantom.
"Streiten wir nicht darüber," fiel ihm Anna ins Wort. "Ich
bin überzeugt, wenn du diesen liebenswürdigen, edeln Mann kennen
lernst, wirst du ihm seinen Enthusiasmus vergeben.
"Wie alt ist er denn?" fragte jener befangen.
"Ein guter Fünfziger," erwiderte Anna lächelnd. "Mir aber
scheint er, wie gesagt, für seine Gesinnungen ein so gutes Recht zu
haben als der Vater. Wurde ja doch auch, was ihm groß und
erhaben deuchte, zerstört und verhöhnt, und du weißt, daß dies
nicht der Weg ist, die Menschen mit dem Neueren auszusöhnen.
Die beiden Herren haben große Zuneigung zueinander gefaßt, obgleich
sie in ihren Meinungen so schroff einander gegenüberstehen.
Oft kommt es unter ihnen zu so heftigem Streit, daß ich immer
einmal einen wirklichen Bruch der nachbarlichen Verhältnisse voraussehe.
Ich glaube, wenn mehr Damen zugegen wären, würde es
nie so weit kommen; aber leider hat auch der General vor einigen
Jahren seine Frau verloren. Sie war eine treffliche Frau, und
meine Mutter schätzte sie sehr; der Vater konnte es ihr aber nie
vergeben, daß sie eine Bürgerliche war, und seine Schwester, die
jetzt eben bei ihm ist, pflegt immer nur auf kurze Zeit einzukehren."
Der alte Thierberg, der in diesem Augenblicke von seinem
Amtmann zurückkam, unterbrach dieses Gespräch, das der junge
Mann noch lange hätte fortsetzen mögen; denn Base Anna erschien
ihm, wenn sie lebhaft sprach, wenn ihre Augen während ihrer Rede
immer heller glänzten und ihre zarten Züge jede ihrer Empfindungen
abspiegelten, immer reizender, liebenswürdiger zu werden, und er
glaubte aus dem Vergnügen, das ihr die Unterhaltung mit ihm
zu gewähren schien, nicht mit Unrecht einen günstigen Schluß fin
sich ziehen zu dürfen.
6.
Von allen seinen früheren reichsfreiherrlichen Rechten war
dem alten Thierberg nur die Ernennung oder, wie man es dort
nannte, die Präsentation des Schulmeisters übriggeblieben, und
er verwünschte auch diesen letzten Rest ehemaliger Größe und Gewalt,
als er nachmittags zwei Schulamtskandidaten mit dem Thierberger
Prediger ins Schloß treten sah. Er hieß seinen Neffen allein in den
Wald vorausgehen und versprach, bald zu folgen. Der junge Mann
wanderte langsam jenen Weg hinan, welchen ihn Anna zuerst
geführt hatte. Oft stand er stille und sah zurück auf diese altertümliche
Burg, und gerne verweilte sein Auge auf jenem Turm, in dessen
Zimmerchen Anna wohnte. Wie liebte er dieses klare, ruhige,
natürliche Wesen, gepaart mit so viel Anstand und mit so feiner
Bildung! Er konnte sich auf nichts Ähnliches besinnen. Oft wollten
war in seiner Erinnerung die Damen der Mark diesem Schwabenland
den Vorrang streitig machen. Es deuchte dem jungen Mann,
er habe elegantere Formen gesehen, gewandter, zierlicher sprechen
gehört; er rief sich jede einzelne Schönheit, die ihn sonst bezauberte,
zurück; aber er bekannte, daß es gerade diese unbefangenheit, diese
Ruhe sei, was ihm so überraschend, so neu, so liebenswürdig erschien.
Sie ist zu verständig, zu ruhig, zu klar, um jemals recht lieben zu
können," fuhr er in seinen Gedanken fort; "aber schätzen wird sie
mich, sie wird Interesse an mir finden. Und gerade diese Klarheit,
diese Art, über das Leben zu denken, muh ihr andere, bessere Verhältnisse
längst wünschenswert gemacht haben. Bequeme, elegante
Wohnung, eine geschmackvolle Garderobe, Wagen, Pferde, Bediente,
eine ausgesuchte Bibliothek, das sind die Dinge, welche in einem
solchen kalten Herzen die Liebe ersetzen; so unbefangen sie ist, so
weiß sie doch in ihrer Unbefangenheit die Dame recht wohl zu spielen,
und wirklich — es muss ihr als Frau von Rantow allerliebst stehen!"
Der junge Mann war unter diesen Träumen einer schönen
Zukunft auf einer Höhe angelangt, wo er einen Teil de:, reizenden
Neckartales überschauen konnte. Vorwärts zu seiner Linken gewahrte
er eine Waldspitze, die weit vorsprang und ihm die Ausicht auf den
andern Teil des Tales verdeckte. Er verglich sie mit der Lage des
Schlosses und fand, es müsse dieselbe Bergspitze sein, von welcher
gestern jene füßen Flötentöne herübertönten. Von dort aus, hatte
ihm Anna gesagt, könne man einen weiten, freien Blick über das
ganze Tal genießen, und rasch beschloß er, nicht erst den Oheim
abzuwarten, sondern im Genuß einer herrlichen Aussicht auf jener
Waldecke seinen Gedanken nachzuhängen. Er hatte sich die Richtung
gut gemerkt, und nicht lange, so trat er auf diesen reizenden Platz
heraus. . Das Tal schwenkte sich in einem schönen Bogen an Thierberg
vorüber um diese Bergecke. Rechts und bei weitem näher, als Albert
gedacht hatte, lag die Burg, durch eine breite Waldschlucht von dieser
Stelle getrennt. Man konnte mit einem guten Fernglas deutlich
in die Fenster von Thierberg sehen, und der junge Mann ergötzte
sich eine Zeitlang an den Zügen des Pastors und seines Oheims,
die in eifrigem Gespräch an der Fensterbrüstung standen. Auch Annas
Turmfenster war geöffnet; aber statt ihrer holden Züge sah man
nur einen kleinen Orangenbaum, den sie an die Sonne gestellt hatte.
In der Mitte des Tales zog in kleineren Bogen der Neckar hin, viele
freundliche Halbinseln bildend, und in kleiner Entfernung entdeckte
das Auge des jungen Mannes ein neues Schloß, in dessen Fenstern
sich die Mittagssonne spiegelte. Es war in gefälligem, italienischem
Stil aufgebaut, die Säulen und der Balkon, schlank und zierlich,
machten einen sonderbaren Kontrast mit den dunkeln, schweren
Mauern des Thierbergs zu seiner Rechten, und wie diese Burg auf
der Nordseite des Gebirges auf einem steilen Waldberg hing, so
ruhte jenes schöne Lustschloß auf der Südseite gegenüber an einem
sanften Rebhügel, dessen reinlich und nett angelegte Geländer und
Spaliere sich bis an den Fluß herabzogen. Albert war in diesen
reizenden Anblick versunken und dochte nach über diesen Gegensatz,
welchen die beiden Schlösser, wie Bilder der alten und neuen Zeit,
hervorbrachten, als feste Männertritte hinter ihm durch das Gebüsch
rauschten und ihn aus seinen Betrachtungen weckten. Er wandte
sich um und war vielleicht nicht weniger erstaunt als der Mann.
der jetzt durch die letzten Büsche brach und vor ihm stand. — Es
war sein Gefährte vom Eilwagen. Er hatte eine Jagdtasche übergeworfen,
trug eine Büchse unter dem Arm, und zwei große Windhunde
stürzten hinter ihm aus dem Gebüsch.
Wie, ist es möglich!" rief der Jäger und blieb verwunderungsvoll
stehen. "Ich hätte mir noch eher einfallen lassen, hier auf einen
Adler denn auf Sie zu stoßen!"
Sie sehen, ich benütze Ihren Rat," erwiderte der junge Mann,
"ich durchspüre jeden Winkel Ihres Landes nach schönen Aussichten —"
"Aber wie kommen Sie hierher?" fuhr jener fort, indem er
ihn aufmerksamer betrachtete. "Und Sie sind auch nicht auf der
Reise, wie ich sehe. Haben Sie sich in der Nähe eingemietet?"
Albert deutete lächelnd auf die alte Burg hinüber. "Dort
und gestehen Sie," sagte er, "ich hätte keinen schöneren Punkt
wählen können."
"In Thierberg ?" rief der Jäger mit steigendem Erstaunen,
indem er auf einen Augenblick leicht errötete. "Wie ist es möglich,
in Thierberg? Oder sind vielleicht gar Thierbergs die Verwandten,
"Die ich in der Stadt besuchen wollte und hier auf ihrem Landsitz
traf. Ich segne übrigens diesen Geschmack meines Oheims,"
setzte Albert mit einer Verbeugung hinzu, "da er mich aufs neue
in die Nähe meines angenehmen Reisegesellschafters führte."
"So wären Sie vielleicht ein Nantow aus Preußen?" fragte
der Jäger aufs neue,
Allerdings," antwortete der Gefragte. "Aber wie folgern
Sie dies? Sind Sie vielleicht mit meinem Oheim bekannt?"
"Ich besuche ihn zuweilen," sagte jener mit einem langen
Seitenblick auf das alte Schloß. "Ich bin gerne dort; doch beinahe
hätte ich das Glück gehabt, Ihre Bekanntschaft noch früher zu machen.
Ich reiste vor einem Jahre in Ihre Heimat, und auf den Fall, daß
mich meine Straße über Fehrbellin geführt hätte, war ich mit einem
Brief an Ihre Eltern versehen, mit einem Brief von Ihrem Oheim
selbst. — Aber habe ich zu viel gesagt, wenn ich von den Reizen
unseres Neckartales sprach? Finden Sie nicht alles hier vereinigt,
was man immer für das Auge wünschen kanut"
"Ich dachte schon vorhin darüber nach," versetzte Rantow.
"Wie verschieden ist der Charakter dieser beiden Berge nr Seite
des Tales! Hier dieser dunkle Wald mit Schluchten und Felsenrissen,
durch welche sich Bäche herabgießen, die alte Burg, halb Ruine,
auf diese jäh abbrennende Wand hinausgerückt. Jenseits die sanften,
wellenförmigen Rebhügel mit bläulichroter Erde und dem sanften
Grin des Weins. Und diese Kontraste durch das lieblichste Tal,
durch den Fluß vereinigt, der bald hierhin, bald dorthin zu den
Bergen sich wendet! Wahrhaftig, es müßte nichts Angenehmeres
sein, als auf einer dieser grünen Halbinseln ein einsames Idyllenleben
zu führen!"
"Ja," entgegnete der Jäger lächelnd. "Wenn der Fluß nicht
in jedem Frühjahre austräte und Damon, die Hätte und — seine
Daphne zu entführen drohte! Aber, waren Sie schon unten im Tal?"
"Noch nicht, und wenn etwa Ihr Weg hinabführt, werde ich
Sie gerne begleiten."
Der Jäger lockte seine Hunde und schlug dann einen Seitenpfad
ein, der in die Tiefe führte. Rantow, der hinter ihm ging,
bewunderte den schlanken Bau, den kräftigen Schritt und die gewandten
Bewegungen des jungen Mannes. Er war einigemal
versucht, zu fragen, wer er sei, wo er wohne. Aber es lag etwas
so Bestimmtes, Überwiegendes in seinem ganzen Wesen, daß er
diese Frage immer wieder auf eine bequemere Zeit verschob. Im
Tal wandte sich der Jäger stromabwärts. Kinder und Alte, die ihnen
begegneten, grüssten ihn überall freundlich und zutraulich. Manche
blieben wohl auch stehen und schauten ihm nach. Oft stand er stille
und machte den Fremden auf jeden schönen Punkt aufmerksam,
erzählte ihm von der Lebensart der Leute, von ihren Sitten und
ländlichen festen. esten.
Der Weg bog jetzt um den Berg, und plötzlich standen sie dem
neuen Schloß gegenüber, das Albert von der Höhe herab gesehen
hatte. "Welch herrliches Gebäude!" rief er, "wie malerisch liegt es
in diesen Weinbergen! Wem gehört dieses Schloß
"Meinem Vater," erwiderte der Jäger freundlich. "Ich denke,
Sie setzen mit mir über und versuchen den Wein, der auf diesen
Hügeln wächst."
Gerne folgte der junge Mann dieser einfachen Einladung.
Sie gingen ans Ufer, wo der Jäger einen Kahn losband. Erließ
seinen Gast einsteigen und ruderte ihn leicht und kräftig über den
Fluß. Auf reinlichen, mit feinem Kies bestreuten Wegen, durch
hohe Spaliere von Wein gingen sie dem Schloß zu, dessen einfach
schöne Formen in der Nähe noch deutlicher und angenehmer hervortraten,
als ans der Ferne betrachtet. Unter dem schattigen Portal,
das vier Säulen bildeten, saß ein Mann, der aufmerksam in einem
Buche las. Als die jungen Männer näherkamen, stand er auf und
ging ihnen einige Schritte entgegen. Er war groß, aufrecht und hager
und etwa zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt Ein schwarzes,
blitzendes Auge, eine kühn gebogene Nase, die dunkelbraune Gesichtfarbe
und eine hohe, gebietende Stirne, wie seine ganze Haltung
gaben ihm etwas Auffallendes, Überraschendes. Er trug einen einfachen
militärischen Oberrock, ein rotes Band im Knopfloch, und
noch ehe er ihm vorgestellt wurde, wußte der junge Nantow aus
diesem allem, daß es der General Willi sei, vor welchem er stand.
Ihn selbst stellte der junge Willi als Vetter der Thierbergs und als
seinen Reisegefährten vor.
Der General hatte eine tiefe, aber angenehme Stimme; er
antwortete: "Mein Sohn hat mir von Ihnen gesagt. Ihre Mutter
kenne ich wohl, habe sie früher in der Residenz gesehen. Als wir
nach Schlesien marschierten, wurde ich nach Berlin geschickt. Ich
blieb vier Wochen bei der Feldpost dort und ritt während dieser
Zeit mehreremal nach Fehrbellin hinüber, Ihre Eltern zu besuchen."
"Wahrhaftig!" rief der junge Mann, "ich erinnere mich, mehrere
französische und deutsche Offiziere damals in unserem Hause gesehen
zu haben. Es müsste mich alles täuschen, Herr General. oder ich kann
mich noch Ihrer erinnern. Ihre Uniform war grün und schwarz,
und einen großen grünen Busch trugen Sie auf dem Hut. Sie ritten
einen großen Rappen."
"Ach ja, die alte Leda!' sagte der General. "Sie hat treu
ausgehalten bis an die Beresina. Dort liegt sie zwanzig Schritte
.
.
von der Brücke im Sumpf. Es War ein gutes Tier, und in der Garde
nannte man sie le diable noir, — Grüne Büsche, sagen Sie? —
Richtig, ich diente damals unter den schwarzen Jägern von Württemberg
. Ein braves Korps, bei Gott! Wie haben sich diese Leute bei
Linz geschlagen!"
"War es damals," bemerkte Rantow, "als Marschall Vandamme,
den Gott verdamme, äußerte: ,Ses bougres battent
comme nous!'?"
"Sie haben da eine sonderbare Übersetzung des Namens Vandamme,
doch ach! Sie sind ein Preuße, — gut, ich gebe zu,
der General Vandamme war verhaßt, besonders in der süddeutschen
Armee. Er wußte es auch recht gut. Aber seine Bewunderung über
die Bravour jener Soldaten hätte er vielleicht artiger, aber nie mit
mehr Wahrheit ausdrücken können."
Sie Waren unter diesen Worten bis unter das Portal des
Hauses getreten. Ein Buch lag dort aufgeschlagen, der junge Willi
sah es lächelnd an und sagte: "Zum sechstenmal, mein Vater?"
"Zum sechstenmal," erwiderte jener, indem auch durch seine
ernsten Züge ein leichtes Lächeln ging. "Sie sehen, Herr von Rantow,
inan zieht oft die Kinder nur dazu auf, daß sie ihre Eltern nachher
wieder aufziehen. So kann er es nicht recht leiden, daß ich gewisse
Bücher oft lese. Und doch ist es ein guter Grundsatz, nicht vielerlei
Bücher, aber wenige gute öfter zu lesen."
"Sie haben recht," erwiderte Rantow. "Und darf ich wissen,
welches Buch Sie zum sechstenmal lesen?" Der General bot
es ihm schweigend.
"Ah! die schöne Fabel von 1812," rief Albert, "der Feldzug
des Grafen Segur! Nun, ein Gedicht wie dieses darf man immer
wieder lesen, besonders wenn man, wie Sie, den Gegenstand kennen
gelernt hat."
"Sie nennen es Gedicht?" fragte der General. "Da Sie nicht
aus Erfahrung sprechen können, ist wohl General Gourgaud Ihr
Gewährsmann. Aber ich kann Sie versichern, in diesem Buche ist
so furchtbare Wahrheit, so traurige Gewißheit, daß man das Wenige,
was Dichtung ist, darüber vergessen kann. Die Figuren in diesem
Gemälde leben; man sieht ihren schwankenden Marsch über die
Eisfelder, man sieht brave Kameraden im Schnee verscheiden, man
sieht ein Riesenwerk, jene große, kampfgeübte Armee. durch die
Ungunst des Schicksals in viele Tausend traurige Trümmer zerschlagen
. Aber ich liebe es, unter diesen Trümmern zu wandeln,
ich liebe es, an jene traurigen, über das Eis hinschwankenden
Männer mis) an; denn ich habe ihr Glück und — ihr
Unglück geteilt."
"Ich bewundere nur deine Geduld, Vater," erwiderte der
Sohn; "du kannst diese französischen Tiraden, die, wenn man sie
in nüchternes Deutsch auflöst, beinahe lächerlich erscheinen, lesen
und immer wieder lesen! Ich erinnere mich aus diesem berühmten
Buche einer solchen Stelle, die im Augenblicke da: Gefühl besticht,
nachher, mich wenigstens, lächeln machte. Die Armee hat sich in
größter Unordnung hinter Wilna zurückgezogen. Die Russen sind
auf den Fersen. Eine Zeitlang imponiert ihnen noch die Nachhut
des Heeres; aber bald löst sich auch diese auf, und die ersten der
Russen, indem sie einen Hohlweg heraufdringen, mischen sich schon
mit den letzten der Franzosen. Segur schließt seine Periode mit
den Worten: .Ach! Es gibt keine französische Armee mehr!' —
Doch es gibt noch eine,' fährt er fort; ,Ney lebt noch; er reißt dem
Nächsten das Gewehr aus der Hand,' usw. Kurz, der edle Marschall
tut in übertriebenem Eifer noch einige Schüsse auf den Feind und
repräsentiert gleichsam in sich selbst die halbe Million Soldaten, die
Napoleon gegen Rußland ins Feld führte. Ist dies nicht mehr als
dichterisch ist dies nicht lächerlich überstiegen?"
"Ich erinnere mich noch recht wohl jenes Moments, und so
grausam unser Schicksal, so gedrängt unser Rückzug war, so ließ
er uns doch einige Augenblicke frei, diesem Krieger und seiner wahrhaft
antiken Größe unsere Bewunderung zu zollen. Wenn du
denkst, wie es von großer Wichtigkeit war, daß er mit wenigen Tapfern
jenes Defilee eine Zeitlang gegen den Feind behauptete, daß er
und die Seinigen allerdings in diesem Augenblick noch die einzigen
wirklichen Kombattanten waren, die den Russen die Spitze boten,
so wird dich jener Ausdruck weniger befremden; ich wenigstens danke
es Segur, daß er auch jenem erhabenen Moment einen Denkstein
setzte."
"Also ist jene Szene wahr?"
"Gewiß! Und eine schöne, großartige Idee liegt dann, daß
man weiß, wer von der großen Armee zuletzt gegen die Russen
schlug, daß es Ney war, welchen jener hohe Ruhm, der ihm sogar
aus diesem Rückzug sproßte, die Handgriffe des gemeinen Soldaten
nicht vergessen lieh. Er war, wie Hannibal, der letzte beim Rückzug.
"Was sagen Sie aber über jenen, welcher der erste in der Armee
und der erste beim Rückzug war?" bemerkte Rantow. "Ich glaube,
zwanzig Jahre früher hätte er jeden Schritt mit seinen Garden
verteidigt —"
"Und zwanzig Jahre später vielleicht auch," fiel ihm der General
ins Wort, "und wäre vielleicht als Greis eines schönen Todes mit
seinen Garden gestorben. Anno 13, werden Sie aber wohl wissen,
war er Kaiser eines Landes, von welchem er ohne Nachricht, ohne
Hilfe, auf so viele hundert Meilen getrennt war. Was hielt ihn bei
der Armee, nachdem unser Unglück entschieden war? Glauben Sie
nicht, daß er etwas Ähnliches wie den Abfall Ihres York geahnt hat!
Mußte er nicht in Frankreich frische Mannschaft holen?"
"Warum zog er gegen Asien zu Feld, der neue Alexander,"
sagte Rantow spöttisch lächelnd, " wenn er ahnte, daß das Preußenvolk
in seinem Nücken nur darauf laure, ihm den Todesstreich zu
geben? War dies die gerühmte Klugheit des ersten Mannes des
Jahrhunderts?"
"Glauben Sie, junger Mann," erwiderte der General, "der
Kaiser war erhaben über einen solchen Verdacht. Er wußte, daß
Ihr Künig ein Mann von Ehre sei, der ihn im Rücken nicht überfallen
werde; er wußte auch, daß Preußen zu klug sei, um à la Don
Quichotte die große Armee allein anzugreifen."
"Preußen war ihm nichts schuldig rief der junge Mann errötend.
"Man weiß, wie Bonaparte selbst seine Friedensbündnisse
gehalten hat; man war nicht schuldig, zu warten, bis es dem großen
Manne gefällig sei, die Kriegserklärung anzunehmen. Der Gefesselte
hat das Recht, in jedem günstigen Angenblicke seine Fesseln zu zerreißen,
und sollte er auch den damit zertrümmern müssen, der sie
ihm anlegte."
"Nun, Vater," setzte der junge Willi hinzu, "das ist es ja, was
ich schon lange sagte, wenn ich den Aufstand de:, ganzen Deutschlands
in Schutz nahm. Wer gab den Franzosen das Recht, uns in Ketten
und Bande zu schlagen? unsere Torheit und ihre Macht! Wer gab
uns das Recht, ihnen das Schwert zu entwinden und die Spitze gegen
sie selbst zu wenden? Ihre Torheit und unsere Macht!"
"Ich gebe zu," antwortete der General mit Ruhe, "daß man
im Volk, vielleicht auch unter Politikern, also spricht und sprechen
darf. Niemals aber darf der Soldat diese Sprache führen, um
eine schlechte Tat zu beschönigen. Es gibt manche glänzende Verrätereien
in der Geschichte; die Seiten, wo sie begangen wurden,
waren vielleicht mit der Gegenwart so sehr beschäftigt, daß man die
Verräter gepriesen hat; aber die Nachwelt, welche die Gegenstände
in hellerem Lichte sieht, hat immer gerecht gerichtet und manchen
glänzenden Namen ins schwarze Register geschrieben. Auch die
Sache des Kaisers wird die Nachwelt führen. So viel ist aber gewiß,
daß zu allen Zeiten, wo es Soldaten gibt, einer, der seine Fahne
verläßt, immer für einen Schurken gelten wird."
"Ich gebe dies zu," erwiderte Rantow, " nur sehe ich nicht ein,
wie dies den übereilten Zug nach Rußland entschuldigen könnte."
"Meinen Sie denn, der Zustand Preußens sei uns so unbekannt
gewesene" fragte der General. "Man wußte so ziemlich, wie es dort
aussah. Ich war von Mainz bis Smolensk im Gefolge des Kaisers
und namentlich in deutschen Provinzen oft an seiner Seite, weil
ich die Gegenden kannte und manchmal in seinem Namen Fragen
an die Einwohner tun mußte. In den preußischen Stammprovinzen
fiel ihm und uns allen die Haltung und das Ansehen der jungen
Leute auf. Das ganze Land schien von Beurlaubten angefüllt,
und doch waren es immer nur die jungen Männer, die hier geboren
und erzogen waren. Die Haare waren ihnen militärisch verschnitten,
ihre Haltung war aufgerichtet, geregelt; sie standen selten wie faule,
müßige Gaffer da, wenn der Kaiser und sein Gefolge vorüberzog.
Nein, sie machten Front, wenn sie ihn sahen, die Füße standen
eingewurzelt, der linke Arm straff angezogen und an die Seite
gedrückt, das Auge hatte die regelrechte Richtung, und die rechte
Hand machte ihren Soldatengruß. Es waren dies keine Bauerbursche
mehr, sondern Soldaten, und der Kaiser wußte wenigstens,
daß nicht die ganze preußische Armee mit ihm ziehe."
"Er ließ einen gefährlichen, beleidigten Feind in seinem Rücken,"
bemerkte Rantow.
"Ein gefährlicher Feind, Herr von Rantow, ist etwa eine beleidigte
Schlange, aber nicht eine Armee, nicht Männer von Ehrgefühl.
Das preußische Heer hatte sich mit der großen Armee vereinigt
, und sobald dies geschehen war, stand sie unter dem Oberbefehl
des ersten Kriegers dieser Armee; in dieser Eigenschaft hatten
wir weder von ihnen, noch von den Zurückgebliebenen etwas zu
fürchten; die Untergebenen band ihr Eid an ihre Fahnen, und die
Generale, die Repräsentanten dieser Fahnen, band ihre Ehre.
Wenn Sie die Sache aus diesem natürlichen Gesichtspunkte betrachten
wollen, so werden Sie am Betragen des Kaisers bei Beginn jenes
unglücklichen Feldzuges nichts übereiltes oder Unkluges finden."
"Das preußische Heer, das gezwungen mit ausrückte," erwiderte
der junge Mann, "gehörte nicht diesem Kaiser der Franzosen,
sondern seinem rechtmäßigen König, und in demselben Augenblicke.
als dieser sie ihrer Pflichten gegen jenen ersten Krieger entband —
"Konnten sie gegen uns selbst die Waffen richten," fiel der
General ein, "da haben Sie vollkommen recht; sie konnten ihre
Karrees bilden, uns den Gehorsam weigern und im Fall des Zwanges
Feuer auf unsere Kolonnen geben, sie konnten sich im Angesichte
der Armee mit den Russen vereinigen, sie durften dies alles tun —"
"Nun ja — das war es ja eben, was ich meinte —"
"Nein, Herr! Das war es nicht fuhr jener eifrig fort.
Nur erst, verstehen Sie wohl, nur dann erst, wann ihr König
sie ihres Eides entband, konnten sie den Gehorsam verweigern,
sie mußten es sogar, auch auf die Gefahr hin, zugrunde zu gehen.
So lange dies nicht der Fall war, handelten sie, wenn sie feindlich
auftraten, als Verräter an ihrer Ehre und sogar an ihrem König;
denn die Ehre des Königs. der die Befehlshaber gewählt hatte.
bürgte gleichsam für ihr Betragen."
"Nun wenn ich auch dies von den Befehlshabern zugebe,"
erwiderte Rantow, "so hat wenigstens die Armee immerhin ihre
Pflicht getan."
"In diesem Falle nimmermehr!" rief der General. "Wenn
der Chef keinen Befehl seines Herrn vorweisen kann, um seine
Schritte zu entschuldigen, und den noch seine Schuldigkeit nicht tut
oder sogar zum Verräter wird, — und zum Verräter nicht für sich
allein, sondern mit einem ganzen Korps, — so hat jeder Offizier,
jeder Soldat hat das Recht, ihn vor der Front vom Pferde zu
schießen."
"Ei, Vater!" rief der junge Willi.
"Mein Gott, dies denn doch nicht," rief zugleich der Fremde;
"einen General esot vom Pferde zu schießen!"
"Und wenn man es unterlassen hat," fuhr jener mit blitzenden
Augen fort, "so hat man seine Pflicht versäumt. Aber ich tenne
noch recht wohl jene schändliche Zeit und die Motive, die damals
die Handlungen der Menschen lenkten; Wölfe und Tiger waren sie
geworden, die menschliche Natur hatte man ausgezogen, Treue,
Ehre, Glauben, alles verloren, und für Heroismus galt damals,
was sonst für eine Schandtat gegolten hätte!"
"Nun, etwa:, Herrliches und Erhabenes, was sich damals
offenbarte, werden Sie doch nicht leugnen können," sprach der
Marker; "der allgemeine Enthusiasmus, womit das ganze Volk
aufstand, war doch wirklich erhaben, ergreifend!"
"Das ganze Volks —aufstand?" rief der General, bitter lachend.
"Da müßte Deutschland erst auferstehen, ehe die Deutschen aufstünden.
Es war bei manchem ein schöner, aber unkluger Eifer.
bei einigen Haß, bei vielen Übermut, bei den meisten war es Sache
der Mode, und Sie vergessen, daß Osterreise), Bayern, Württemberg,
daß Schwaben und Franken nicht, was Sie sagen, aufstanden und
denn doch auch zu Deutschland gehörten. Und Ihre Enthusiasten
selbst! Vor diesen wären wir gewiß nie aus Sachsen gewichen!"
"Wenn es ihnen auch an jenen gerühmten Eigenschaften eines
alten, gedienten Soldaten gebrach, wahrhaftig, ihr Wille war schon,
ihre Taten groß, und ihre Einheit, ihre Aufopferung ersetzte vieles —"
"Einheit? Aufopferung? Wir nahmen, es war schon auf
französischem Boden, einmal ein solches Individuum gefangen.
Es war ein junger. schön geputzter Mann. Der Kaiser hatte von
diesen Volontärs sprechen gehört, man hatte ihm ihre kleidung.
ihre Haltung überaus kamisch beschrieben, er ließ daher den Gefangenen
vortreten. Als dieser den Kaiser erblickte, geriet er in
augenscheinliche Verwirrung, dachte nicht mehr daran, daß er selbst
Soldat geworden sei und gegen den größten Krieger zu Felde ziehe,
sondern er nahm seinen Tschako am Schild, riß ihn nach gewöhnlicher
bürgerlicher Weise vom Kopf, daß der schöne Federbusch
elendiglich in den Kot hing, und kratzte mit dem Fuße hinten aus.
Der Kaiser ließ ihn durch mich fragen, ob er unter den deutschen
Freiwilligen diene. Jener aber verbeugte sich noch einmal und
sagte: .Ich bin vom Frankfurter Korps der Rache.' Der Kaiser
konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und als er weiter ritt, wandte
er sich noch einmal um. Der Sohn der Rache stand noch immer
ganz verblüfft unter einem Haufen von Franzosen, und setat erst
schien er aus dem Traum zu erwachen; er mochte sich auf die schöne
Z eile zurückwünschen. Der arme Teufel sah aus , als wäre er ein
jui, als hätte er nur seinem Schatz zu Gefallen
sich in dem Korps der Rache einschreiben lassen. Und dieser Rächer
kehrte nicht mehr hinter den Ladentisch seines Vaters heim. Ich sah
ihn sechs Tage nachher, ohne Beine, sterbend wieder; seine eigenen
Landsleute hatten ihn in unsern Reihen getötet. Und von solchen
Menschen verlangen Sie Einheit, Aufopferung?"
Der Preuße hatte dem General unmutig zugehört; es kam
ihm vor, als liege in den Zügen dieses Mannes Spott und Verachtung
einer Sache, die er immer als etwas Ungeheures, Welthistorisches,
Großartiges zu betrachten gewöhnt gewesen war. Der
junge Willi sah diese unangenehmen Gefühle, die mit der Ehrfurcht
vor dem General in Kantons Brust zu kämpfen schienen. Er nahm
daher schnell da: Wort und sagte: "Du warst damals auf feindlicher
Partei, lieber Vater, du sahst alles in einem andern Lichte, und
ich zweifle, ob nicht eure jungen sich auf ähnliche
Weise benommen hätten. Aber wahr bleibt es immer und jedem
unbefangenen Auge noch jetzt sichtbar, daß damals ein erhabener,
ungewöhnlicher Geist unter dem Volke, hauptsächlich im Norden,
wehte; die Mittelstände vorzüglich haben gezeigt, daß sie einer
bewunderungswürdigen Kraftäußerung fähig seien, und darauf, so
schlecht auch die Zeiten sind, kann man noch immer einige Hoffnung
gründen."
sah den jungen Mann bei den letzten Worten befremdet
an, als wüßte er sich diesen Sah nicht zu erklären; doch
erfreut, seine eigenen Gesinnungen wiederholt zu hören, wandte er
sich wieder an den General. "Er hat recht," sagte er, "auf feindlicher
Seite konnten Sie das rührende Bild dieser Aufopferung
nicht so genau kennen lernen. Aber die großen Worte unserer Redner.
volontaire malgré
Konskribierten
Kautow
die feurigen, aufrufenden Lieder unserer Sänger, die begeisternde
Aufopferung unserer Frauen, sie gaben, verbunden mit dem Mut,
der frommen Kraft und der gottgeweihten Hingebung unserer Jünglinge
und Männer, Szenen, die ebenso erhaben als unvergeßlich sind."
"Und wofür denn dieses alles?" fragte der alte Soldat, "wozu
so große Aufopferungen, was hat man damit erreicht und errungen?
Ließ sich dies alles nicht voraussehen?"
"Und was haben denn Sie, Herr General, auf jener Seite
erreicht und errungen? Das ist einmal das Schicksal alles menschlichen
Lebens und Treibens, daß man kämpft, sich hingibt, aufopfert
, um am Ende nichts oder wenig zu erreichen. Zwanzig
Jahre haben Sie jenem Mann geweiht, jenem Eigensüchtigen,
der nur sich und immer nur sich bedachte. Jetzt liegt er auf einem
öden Felsen, seine Genossen sind zerstreut, aufgerieben — was,
was haben denn Sie gewonnen?"
"Ein Endchen rotes Band und die Erinnerung," antwortete
er lächelnd, indem er mit einer Träne im Auge auf seine Brust
herabsah. Es lag etwas so Ergreifendes, Erhabenes in dem Wesen
des Mannes, als er diese Worte sprach, daß Rantow, errötend,
als hätte er eine Torheit gesagt, seine Augen von ihm abwandte
und betreten den Sohn ansah. Doch dieser schien nicht auf das
Gespräch zu merken; er blickte unverwandt und eifrig auf ein kleines
Gebüsch am Fluß, von welchem man eben das Plätschern eines
Ruders vernahm; jetzt teilten sich die Zweige der Weiden, und ein
schöner Mädchenkopf bog sich lächelnd daraus hervor.
7.
"Unsere schöne Nachbarin!" rief der General freundlich und
eilte auf sie zu, ihr die Hand zu bieten; die jungen Männer folgten,
und mittels seiner trefflichen Lorgnette entdeckte Rantow zu seinem
nicht geringen Vergnügen, daß es Anna sei, die hier so plötzlich,
gleich einer Najade, aus dem Fluß auftauchte. Der General küßte
sie auf die Stirne und bot ihr dann den Arm; sie grüßte seinen Sohn
kurz und freundlich fragte flüchtig nach des Generals Schwester
und verweilte dann mit einem Ausdruck der Verwunderung auf
ihrem Gast. "Du hier, Vetter Albert?" rief sie, indem sie ihm die
Hand bot. "Nun, das muß ich gestehen, für so flug hätte ich dich
nicht gehalten, — deinen schönen Verstand in Ehren, — daß du
sogleich die angenehmste Gesellschaft in der ganzen Gegend auffinden
würdest; welcher Zauberer hat dich denn hierher gebracht?"
"Mein Sohn," sagte der General, "hatte das Glück, Ihren
Vetter auf seiner kleinen Reise kennen zu lernen, und fand ihn
jenseits in Ihrem Forst —"
"Und lud mich ein, ihn hierher zu begleiten," fuhr Rantow
fort, " wo ich schon wieder wie gestern das Unglück hatte, zu streiten
und immer heftiger zu widersprechen. Du lächelst, Annas Aber
es ist, als brächte es hier das Klima so mit sich; zu Hause bin ich
der friedfertigste Kerl von der Welt, habe vielleicht in zwei Jahren
nicht so viel disputiert, als hier in zwei Tagen, und wie käme ich
vollends mit Herren wie der Herr General oder mein Onkel in
Streits"
"Ist es möglich?" fragte der General, "mit Herrn von Thierberg,
mit Ihrem Vater, Ännchen, kommt er in Streit? Ich dachte
doch, da Sie mit mir in politischen Ansichten so gar nicht übereinstimmen,
Sie müßten von Ihres Oheims Grundsätzen eingenommen
sein."
"Nun, so ganz unmöglich ist eine dritte oder vierte Meinung
doch nicht, bemerkte der junge Willi lächelnd; "ich bin gewiß nicht
von Ihrem politischen Glaubensbekenntnis und glaube, daß sich
mit der Welt jetzt etwas machen ließe, wenn ihr nicht fünfzehn
Jahre früher mit Feuer und Schwert reformiert und die Menschen
eingeschüchtert hättet; aber mit Herrn von Thierberg lebe ich deswegen
doch in ewigem Kampf, und wir beide haben unsere gegenseitige
Bekehrung längst aufgegeben."
"Demagogen streiten gegen alle Welt," erwiderte ihm Anna
lächelnd und doch, wie es schien, ein Wenig unmutig. "Sie sind ein
Inkurable in diesem Spital der Menschheit; haben Sie je gehört,
daß ein solcher politischer Ritter von la Mancha, solch ein irrender
Weltverbesserer von Grund aus kuriert worden wäre?"
"Ich sehe, Sie wollen den Krieg auf mein Land spielen,"
sagte Robert, "Sie wollen, wie immer, meine Ansichten zur Zielscheibe
Ihres liebenswürdigen Witzes machen, und doch soll es
Ihnen nicht gelingen, mich aus der Fassung zu bringen, heute
wenigstens gewiß nicht. Sie kennen wohl die schönen Eigenschaften
brei Fräulein Cousine noch nicht ganz, Rantow? Nehmen Sie
sich um Gottes willen in acht, ihr trauen!"
"Freund," entgegnete Rantow, " in diesem Süddeutschland
finde ich mich selbst nicht mehr; es ist alles ganz anders, man denkt,
man spricht anders, als ich gewöhnt bin, und so mag ich mir selbst
kein Urteil mehr zutrauen, am wenigsten über Anna."
"General!" rief Anna, "Sie führen nachher hoffentlich meine
Verteidigung gegen Ihren Herrn Sohn?'
"Nun merken Sie auf, Rantow!' sprach der junge Willi. "Dah
dieses Fräulein die Schönste im ganzen Neckartal von Heidelberg
bis Tübingen ist, behaupten nicht nur alle reisenden Studenten,
sondern auch sie selbst weiß es nur allzu gut und hat sich ganz darnach
eingerichtet; sie ist aber dabei so spröde wie Leandra im eben angeführten
Don Quichotte. Nach ihren politischen Ansichten, —denn
sie ist gewaltig politisch, — ist sie ein Amphibion. Sie hält es bald
mit dem Alten, bald mit der neuen Zeit. Sie ist gewaltig stolz,
daß sie vierundsechzig Ahnen hat, auf ihrem Stammschloß lebt,
und daß schon anno 950 ein Thierberg einen Acker gekauft hat.
Auf der andern Seite ist sie durch und durch napoleonisch. Sie hat
den ersten Lügner seiner Zeit, den Moniteur, öfter gelesen als die
Bibel, trägt ein Stückchen Zeug. da: Montholon meinem Vater
schickte und das angeblich von Napoleons letztem Lager stammt,
in einem Ring, singt nichts als kaiserliche Lieder von Beranger und
Delavigne, und kurz —sie liebt eben jenen Mann mit Enthusiasmus,
der den Glanz ihrer vierundsechzig Ahnen in den Staub geworfen
hat."
"Sind Sie nun zu Ende?" fragte Anna ruhig lächelnd, indem
sie ihren Ring an die Lippen zog. "Weißt du aber auch, Vetter,
daß er den ärgsten Anklagepunkt, das schwärzeste Verbrechen in
seinen Augen, aus Edelmut verschwiegen hat? Nämlich da:., daß
ich kein sogenannten deutsches Mädchen bin, daß ich nicht jetzt schon
in meinem kämmerlein mich im Spinnen übe, wie es einer deutschen
Maid frommt, und keine Lorbeerkranze für die Stirne der künftigen
Sieger flechte. Weißt du denn auch, wer dieser Herr ist? Das ist
ein Glied eines ungeheuern, unsichtbaren Bundes, der nächstens
das Oberste zu unterst kehren wird; nun, bei euch soll es ja noch
mehrere solcher Staatsmänner geben. Aber, Herr von Willi, wie
ist mir doch, ist es denn wahr, was man mir letzthin erzählte, daß
unter euern geheimen Gesetzen eines ausdrüklich gegen junge
Damen von Adel gerichtet sei und also lautete: .Wenn ein biderber
deutscher Ritter um eine Jungfrau freit, die ehemals der adeligen
Kaste angehörte, und solche an;, törichtem Hochmut ihre Hand
versagt, soll ihr Name öffentlich bekannt gemacht und sie selbst für
wahnsinnig erklärt werden.
Das Pathos, womit Anna diese Worte vorbrachte, war so
komisch, daß der General und Rantow unwillkürlich in Lachen
ausbrachen; der junge Willi aber errötete, und unmutig entgegnete
er: "Wie mögen Sie sich nur immer über Dinge lustig machen, die
Ihnen so ferne liegen, daß Sie auch nicht das Geringste davon
fühlen können? Ich gebe zu, daß es Ihnen in Ihrem Stande, in
Ihren Verhältnissen recht angenehm und behaglich scheinen mag,
weil Sie freiere Formen und natürlichere Sitten nicht kennen.
keine Ahnung davon haben. Warum aber mit Spott Gefühle
verfolgen, die wenigstens in Männerbrust mächtig und erhaben
wirken und zu allein Schönen und Guten begeistern?"
"Wie ungezogen!" erwiderte Anna. "Sie haben mit Spott
begonnen und meine Ahnen und den Kaiser der Franzosen schlecht
behandelt und nehmen es nun empfindlich auf, wenn man über
die Herren Demagogen und ihre Träume scherzt! Wahrlich, wenn
nicht Ihr Vater ein so braver Mann und mein getreuester Anhänger
wäre, Sie sollten es entgelten müssen. Doch zur Strafe will ich
Sie über das Gedicht examinieren, das Sie mir für meinen Vater
versprochen haben." Sie nahm bei diesen Worten Roberts Arm
und ging mit ihm den Baumgang hin, und Ubert Rantow hätte
in diesem Augenblicke viel darum gegeben, an der Stelle des jungen
Willi neben ihr gehen zu dürfen; denn nie hatte ihm ihr Auge so
schön, ihre Stimme so klangvoll und rührend gedeucht, als in diesem
Augenblick.
"Sie ist ein sonderbares, aber treffliches Kind," sagte der
General, indem er ihr lächelnd nachblickte. "Wenn sie ihm doch
alle seine Schwärmereien aus dem Kopfe reden könnte! Aber so
wird er nie glücklich werden; denken Sie, Nantow, er hat oft Stunden,
wo es ihm lächerlich, ja töricht erscheint, daß er in meinem bequemen
Schloß wohnt und Nachbar Görge und Michel, die doch auch ,deutsche
Männer' sind, nur mit einer schlechten Hütte sich begnügen müssen.
Das ist eine sonderbare Jugend, das nennen sie jetzt Freiheitssinn!
Und doch ist er sonst ein so wackerer und vernünftiger Junge."
"Ein liebenswürdiger, trefflicher Mensch," bemerkte Albert,
indem er oft unruhige Blicke nach jenen Bäumen streifen ließ,
unter welchen Willi und Anna wandelten. "Ich darf Ihnen sagen,
daß ich über seine Gewandtheit, über die feinen gesellschaftlichen
Formen staunte, die er so unbefangen entwickelt; er muß viel und
lange in guten Zirkeln gelebt haben; und dennoch so sonderbare,
spießbürgerliche Pläne!"
"Er war in London, Paris und Rom," sagte der General
gleichgültig, "und er lebte dort unter meinen Freunden. Ich glaube,
Lafayette und Foy haben mir ihn verzogen."
"Wie! Lafayette, Foy, hat er diese gesehen?" fragte Rantow
staunend.
"Er war täglich in der Umgebung beider Männer, und sie
fanden an dem Jungen mehr, als ich erwarten konnte. Da hörte
er nun die Amerikaner und die Herren von der linken Seite; und
weil er manche der exaltiertesten Schreier als meine alten Freunde
kannte, glaubte er in seinem jugendlichen Eifer, es müsse alles wahr
sein, was sie schwatzten, und fand sich am Ende geschickt, selbst mit
zu reformieren. Da ist er nun mit allen unruhigen Köpfen in diesem
ruhigen Deutschland bekannt. Keine Woche vergeht, ohne daß sie
einen jener deutschen Radikalreformer, mit langen Haaren, Stutzbärtchen,
Beilstöcken und sonderbaren Röcken in meinen Hof bringt;
sie nennen ihn ,Bruder' und sind so wunderliche Leute, daß sie
alle Briefe an meinen Robert mit einem ,deutschen Gruß zuvor
anfangen."
"Ich kenne diese Leute, bemerkte 'Abert mit wegwerfender
Miene, "sie zeigen sich auch bei uns zu Hause. Aber wie kann nur
ein Mann von so glänzenden Anlagen für ein anständigeres Leben
und für die gute Gesellschaft, wie Robert, mit so gemeinen Menschen
umgehen, die im Bier ihr höchstes Glück finden, rauchend durch die
Straßen gehen, in gemeinen Schenken umherliegen und alles
Noble, Feine gering achtens"
"Gemein , lieber Herr von Rantow, habe ich sie noch nie
gefunden," erwiderte der General lächelnd, "was ich unter .gemein
verstehe; daß sie rauchen, macht sie höchstens für einen Nichtraucher
unangenehm, daß sie Bier trinken, geschieht wohl aus Armut; denn
meinen Wein haben sie nicht verachtet, und von der bonne société
denken sie gerade wie ich; sie langweilen sich dort und finden das
Steife gezwungen und das Gezierte lächerlich. Sonst fand ich sie
unterrichtet, vernünftig, und nur in ihrer Kleidung und in ihren
Träumereien dachte ich mit Anna an Don Quichotte und fand
komisch, daß sie sich berufen glauben, die Welt zu erlösen von allem
Ubel."
Der junge Mann verbeugte sich stillschweigend gegen den
General, als wolle er ihm dadurch seinen Beifall zu erkennen geben;
bei sich selbst aber dachte er: Ich lasse mich aufknüpfen, wenn er
nicht selbst raucht und lieber Stettiner und Josty als Franzwein
trinkt; doch einem alten Soldaten kann man es verzeihen, wenn
er roh und unhöflich ist. Ersah sich zugleich wieder nach Anna um;
das Gespräch schien von beiden Seiten mit großem Interesse geführt
zu werden die Gegenwart de:, Generals verhinderte ihn, von seiner
Lorgnette Gebrauch zu machen, und doch war sie ihm nie so nötig
gewesen als in diesem Augenblick; denn er glaubte gesehen zu haben,
wie der junge Willi Annas Hand ergriff und — an seine Lippen
führte. Der General mochte die Unruhe und Zerstreuung des jungen
Mannes bemerken; er ging mit Rantow dem Baumgang zu, und
als Anna sie herankommen sah, ging sie ihnen mit Willi entgegen.
Des Generals Schwester, eine würdige Dame, welcher Annas
Besuch galt, kam in diesem Augenblick herzu, und da in ihrer Gegenwart
nichts Politisches, das zum Streit führen konnte, abgehandelt
werden durfte, so zog es die Gesellschaft vor, ihrer Einladung zu
folgen und unter der Halle des Schlosses den Wein des Generals
und die schönen Früchte seiner Gärten zu kosten. Man beschloß,
daß der General und sein Sohn morgen den Besuch auf Thierberg
erwidern sollten, und so schieden die beiden Willi, als ihre Gäste
in den Kahn stiegen, mit Ehrfurcht von ?luna, mit der Herzlichkeit
alter Freunde von Rantow.8.
Der Gast aus der Mark, obgleich er in jedem Damenkreis
seiner Heimat mit jener Sicherheit aufgetreten war, welche man
sich durch Erziehung und gehöriges Selbstvertrauen erwirbt, obgleich
er sich in Berlin manches schwierigen Sieges hatte rühmen
können, fühlte sich doch nie in seinem Leben so befangen als an
jenem Abend, wo er mit Anna am Neckar hin nach Thierberg zurückkehrte.
Tausend Zweifel plagten und quälten ihn, und jetzt erst,
als ihm der letzte Blick, den Anna dem jungen Willi zugeworfen
hatte, zu feurig für bloße Achtung, zu zögernd für gute Nachbarschaft
geschienen hatte, jetzt erst fühlte er, wie mächtig schon in ihm die
Neigung zu seiner schönen Base geworden sei. Zwar, wenn er seine
eigene Gestalt, sein ausdrucksvolles Gesicht, sein sprechendes Auge,
seine gewählte und reiche Sprache, seine eleganten Formen, die
Sicherheit und Gewandtheit seines Geistes, kurz, wenn er alle seine
Vorzüge mit Robert Willis Eigenschaften maß, so glaubte er, sich
doch ohne Anmaßung trösten zu können; fehlte doch jenem, wenn
er sich auch gut auszudrücken vermochte, jener unnachahmliche Tonfall
der Sprache, fehlte ihm, wenn man ihm auch Anstand und Würde
nicht streitig machen konnte, jene letzte Vollendung und Feinheit
eines modischen Wundervogels (Incroyabilis, Sann.), jenes unnachahmliche
Genie des Geschmackes, das angeboren sein muß; es fehlt
ihm, so schloß der Berliner mit heimlichem Lächeln bei sich selbst,
jenes anis quoi. das den Geschöpfen Gottes das Siegel der
Veredlung und Vollendung aufdrückt und auch den gewöhnlichsten
Menschen zu einem homme comme il Taut macht! Aber Anna ist
hier auf dem Lande, ist in Schwaben aufgewachsen, fuhr er fort,
sie könnte, ehe sie mich sah, mit Robert Willi —
"Anna, eine Frage,"
sprach er ängstlich zu ihr, nachdem sie eine geraume Weile still fortgewandelt
waren, "und nimm doch diese Frage nicht übel auf!
Liebst du diesen jungen Willi? Stehst du mit ihm in einem Verhältniss
Das Fräulein von Thierberg errötete leicht über diese Frage,
und diese Röte konnte ebensogut der Frage als dem Gegenstand
gelten, den sie berührte. "Wie kömmst du auf diesen Einfall, Vetter?"
erwiderte sie. "Und meinst du denn, wenn ich auch das Unglück
haben sollte, diesen Willi zu lieben, was mir übrigens noch nie in
den Sinn kam, ich würde etwa dich zum Vertrauten in meinen
Herzensangelegenheiten wählen, weil ich dich schon seit zwei Tagen
kenne? Mein Gott, Vetter," setzte sie schalkhaft lächelnd hinzu,
"was seid ihr doch für närrische Leute in Preußen!"
"Ich will mich ja durchaus nicht in dein Geheimnis drängen,
hochedle und gestrenge Dame," sagte er, "aber meinst du denn,
dein langes und, wie es schien, interessantes Gespräch mit ihm
sollte mir nicht aufgefallen seine Meinst du, ich glaube, ihr habt
nur von Versen gesprochen?"
"Wenn ich nun sagte, wir haben nur von Versen gesprochen,"
entgegnete sie eifrig, "so müßest du es doch glauben. Leuten,
die gerne Arges denken, fällt alles auf. Diesmal übrigens hat sich
dein Scharfsinn nicht betrogen; das übrige Gespräch drehte sich
auch noch um etwas anderes als Verse, um ein Geheimnis, ein gar
wichtiges Geheimnis."
"Also doch?" — rief der junge Mann mit ungläubiger Miene.
Siehst du, also doch!"
Doch," antwortete sie lächelnd, "und weil du so artig bist,
will ich dich auch mit ins Geheimnis ziehen, vielleicht kannst du
behilflich sein; er riet mir selbst, es dir zu entdecken."
"Wie?" entgegnete er bitter. "Meinst du, ich sei nur deshalb
nach Schwaben gekommen, um Herrn von Willi:, Liebesboten an
meine Base zu machen? Da kennst du mich wahrhaftig schlecht;
eher sage ich deinem Vater die ganze Geschichte, und ich glaube nicht,
daß er sich einen solchen Tugendbünder, einen solchen Weltverbesserer
und Demagogen zum Schwiegersohn wählen wird."
Anna war verwundert stehen geblieben, als sie diesen heftigen
Ausbruch seiner Leidenschaft vernahm. "Habe die Gnade und höre
zuvor, um was man dich bitten wird," sagte sie, und, wie es schien,
nicht ohne Empfindlichkeit; "so viel weiß ich aber, daß, wäre ich ein
junger Saur und überdies ein Berliner, ich mich gegen Damen ganz
anders betragen würde." Bestürzt wollte Ubert etwas zur Entschuldigung
erwidern; aber mit freundlicherer Miene und gütigeren
Blicken fuhr sie fort: "Du weißt und hast es heute selbst gehört, wie
sehr der General seinen Napoleon liebt und verehrt. Nun ist nächstens
sein Geburtstag, der zufällig auf einen berühmten Schlachttag des
Kaisers füllt, und da will ihn sein Sohn mit etwas Napoleonischem
erfreuen. Er hat sich durch einen Bekannten in Berlin eine Kopie
jenes berühmten Bildes von David verschafft, das Bonaparte zu
Pferd noch als Konsul vorstellt. Es ist kein übler Gedanke; denn
so nimmt er sich am besten aus, er ist noch jung, mager, und da;,
interessante, feurige Gesicht unter dem Hut mit der dreifarbigen
Jeder ist malerischer, eignet sich mehr fur die Darstellung eines
Helden, als wie er nachher abgebildet wird. Und dieses Bild des
Kaisers ist unser Geheimnis."
"Aber was soll ich hiebei tun?" fragte 'Albert, der wieder
freier atmete, da kein anderes, gefürchtetes Geständnis ihn bedrohte,
"Höre weiter! Diese;, Bud wird in diesen Tagen ankommen,
und zwar nicht bei Generals, sondern bei uns. In meinem eigenen
Zimmer wird es bis am Vorabend des Geburtstages bleiben, und
dann müssen wir beide dafür sorgen, dah der General, während
das Bild hinübergeschafft wird, nicht zu Hanse oder wenigstens so
beschäftigt sei, dah er nichts bemerkt. Während der Nacht wird
dann das Bild im Salon aufgehängt und bekränzt, und wenn Daun
morgens der gute Willi zum frühstück in den Salon tritt, ist es sein
Held, der ihn an diesem feierlichen Tage zuerst begreifft!"
"Gut ausgedacht, erwiderte Nantow lächelnd, " und wenn es
nur nicht dieser Held wäre, wollte ich noch so grille meine Hilfe
anbieten, doch —auch so werde ich mitspielen; hast ja du mich darum
gebeten!" Sein Ton war so zärtlich, als er dies sagte, daß ihn luna
überrascht ansah. Er bemerkte es und fuhr, indem er ihren Arm
näher an seine Brust zog, fort: "Du kannst ja ganz über mich gebieten
Anna; ach, daß du immer über mich gebieten möchtest!
Lie freut es mich, daß du nicht schon liebst, nicht schon versagt bist!
Darf ich bei dem Onkel um diel) werben?"
In Anna schien zu kämpfen, ob sie bei diesen Worten wie
über eine Torheit lächeln oder erzürnt weinen solle; wenigstens
wechselte auf sonderbare Weise die Farbe ihres schonen Gesichtes
mit Röte und Blässe. Sie zog ihren Arm schnell an:, seiner Hand
und sagte: "So viel kann ich dir sagen, Vetter, dah uns hier in
Schwaben nichts unerträglicher ist als Empfindsamkeit und Koketterie
und dah wir diejenigen für Toren halten, die nach zwei Tagen
schon Bündnisse für die Ewigkeit sel) ließen wollen."
"Anna!" fiel ihr der junge Maun mit bittender Gebärde ins
Wort. "Glaubst du nicht an die Allgewalt der Liebe? Wann aml
ihre Dauer unsterblich ist, so ist doch ihr Anfang das Werk eine:
Augenblicks, und ich —"
"Kein Wort mehr, Albert," rief sie unmutig, " wenn ich nicht
alles dem Vater sagen und ihn um Schutz gegen deine Torheit an
rufen soll! Das wäre dir wohl bequem," fuhr sie gefaßter und
lächelnd fort, " um deine Langeweile in Thierberg zu vertreiben,
einen kleinen Roman zu spielen? Spiele ihn in Gottes 'Naman
wenn du nichts Besseres zu tun weißt, — mich wirst du vielleich
trefflich damit unterhalten, nur verlange nicht, daß ich die zweite
Nolle Darin übernehme."
"O Anna ! spross) er seufzend. "Verdiene ich diesen Spott?
Ich meine es so redlich, so treu Das Los, das ick) dir bieten kann,
ist nicht glänzend; aber es ist doch so, dah du vielleicht zufrieden,
glücklich sein könntest."
"Werde nur nicht tragisch," erwiderte sie. "Alles höre ich lieber
als solches Pathos. Spott verdienst du auf jeden Fall, und zum
mindesten kann er dich heilen. Komm, sei vernünftig, begleite mich
recht artig und wie es sich ziemt nails Hause. Aber sei überzeugt,
wenn noch ein einziges Wort dieser Art übet deine Lippen kömmt,
so beschäme ich dich vor dem nächsten besten Bauer und rufe ihn
heran, und wenn du im Schloß oben diese Torheiten fortsetzest, so
werde ich nie mehr mit dir allein sein." Der Ton, womit sie dies
aussprach, klang zwar bestimmt, mutig und befehlend; doch schien
ihr schalkhaftes Auge und ihr lächelnder Mund dem strengen Befehl
zu widersprechen, und Nantow, den diese widersprechenden zeichen
verwirrten, begnügte sich zu schweigen, zu seufzen, mit Blicken zu
sprechen und einen erneuerten Kampf auf einen glücklicheren Moment
zu verschieben. Mit großer Besonnenheit und Ruhe knüpfte sie ein
Gespräch über den General an, und so gelangten sie, weniger ver
stimmt, als man hütte denken sollen, nails Thierberg. Der Alte lies
siel) ihre Ausflüge erzählen und schien nicht unzufrieden, daß Albert
diese neue Bekanntschaft gemacht habe. "Es sind wackere Leute,
diese Willis, und das ganze Tal hat ihnen Wohltaten zu danken.
Es soll wenige hohe Offiziere von der Bildung und den ausgezeichneten
Kenntnissen des Generals geben, und den jungen habe ich
selbst schon auf dem Sum gehabt und gefunden, daß er tiefe, gründliche
Kenntnisse hat und mit Eifer Studien treibt, die man heutzutage
unter der jüngeren Generation selten findet. Ein kluges,
gewandtes, feuriges Bürschchen; aber, aber —diese verschrobenen,
überspannten Ansichten. Ich glaube, er würde mich in meinem
eigenen Hanse anfallen, wollte ich sagen, daß das Bauernpack immer
Bauernpack bleibe, und si )um man sie aml) noch so frei von Lasten,
nails so gelahrt machte, daß die Bürgerlichen bei ihrem Leist bleiben
und nieset an der erhabenen Figur de: Staates künsteln und pinseln
und meisseln sollen. Aber das kommt um daher. weil der alte Tor
unter seinem Stand geheiratet hat; da will unu der junge den galilei
gut machen, indem er die Vettern und Basen und das ganze Verwandtschaftsgefindel
seiner hochseligen Frau Mutter, spießbürgerlichen
Angedenkens, recht och stellt
"Aber, Vater." bemerkte Anna, "daß er aus diesem Grunde
tut, kannst du doch nicht behaupten. Ich gebe zu, er stellt uns alle
insgesamt etwas tief und die andern an unsere Seite; aber er ist
ein Enthusiast und hat von Freiheit und Volksleben Begriffe, die
sich nie ausführen lassen.
"Lehre mich die Menschen nicht kennen, Kind!" sagte der
Alte lächelnd. "Eitelkeit ist der Grundtext in jedem, die Variationen
mögen heißen, wie sie wollen; aber was sagst du zu dem Vater,
Neffen"
"Bei uns würde man ihn steinigen, wollte er öffentlich aussprechen
, was ich heute habe hören müssen. Ja, in einer Gesellschaft
von Preußen sollte er einmal solch Wort sagen! Ich glaube, man
würde weder sein Alter, noch seinen Stand berücksichtigen. Sein
ganzes Gespräch ist ein Triumphgesang der Vergangenheit und ein
Fluch der Gegenwart. Ich glaube, er hält es für die größte Sünde,
daß wir das schmähliche Joch abgeschüttelt und die übrigen, vielleicht
gegen ihren Willen, mitbefreit haben. Eine Schande, daß ein
deutscher Mann etwas Solches nur denken tann. Aber bei nächster
Gelegenheit will ich ihm sagen, wie sehr ich vom Grund des Herzens
seinen Kaiser und alle Franzosen hasse.
"Das hat er von mir schon oft gehört," erwiderte Herr von
Thierberg, "mehr denn zwanzigmal; ich hasse sie alle, allesamt
wie die Hölle!"
"Alle, Vater, alle:" fragte Anna mit Bedeutung.
"Nein, du dast recht, Kind! Einen nehme ich aus, den ich täglich
loben und preisen möchte. Hätte er nicht so verzweifelt gut Französisch
gesprochen, ich hätte geglaubt, es sei ein Engel vom Himmel. Leider
war und blieb er nur ein Franzose."
"Und wer ist denn dieser Eine, den Sie so feierlich ausnehmen?"
fragte Albert.
"Siehe, das ist eine wunderliche Geschichte," fuhr der Oheim
fort. "Doch ich will sie dir erzählen, es ist ein schönes Stück. Ich
machte im Jahre 1800 eine Reise nach Italien mit meiner seligen
Frau. Ehe wir uns dessen versahen, brach der Krieg aus, und da wir
vernahmen, daß Moreau gegen Deutschland ziehe, beschloß ich,
meine Frau bei einer befreundeten Familie in Rom zurückzulassen
und allein, um desto schneller reisen zu können, nach Schwaben heimzukehren
. Ich wählte, teils weil ich dort am wenigsten auf Franzosen
zu stoßen hoffte, teils weil einer meiner Vettern die Besatzung in
der kleinen Festung Bard kommandierte, teils der Neuheit der
Gegend wegen die Straße über den Großen Bernhard, der bald
nachher durch den Übergang des Konsuls Bonaparte so berühmt
wurde. Dort am Fuß des Berges, auf der Schweizerseite, überfielen
mich fünf zerlumpte Kerls von der französischen Armee. die
ich hier freilich nicht vermuten konnte. Ich zeige ihnen meinen Paß.
aber es half nichts, sie rissen mich und meinen Reitknecht, den alten
Hans, den du noch hier siehst, vom Pferd, zogen uns Rock und Stiefeln
aus, nahmen mir Uhr und Börse, und eben wollten sie auch meinen
Mantelsack untersuchen, als eine schreckliche Stimme hinter uns
Halt gebot.
"Die Räuber sahen sich um und ließen, wie vom Donner gerührt,
die Arme sinken; denn es war ein französischer Offizier, der
hinter uns zu Pferd hielt, und sie hielten, man muß selbst dem
Teufel Gerechtigkeit widerfahren lassen, strenge Mannszucht. ,Wer
sind Sie, mein Herr?' fragte er, nachdem er abgestiegen war. Ich
erzählte ihm kurz meine Verhältnisse und den Zweck meiner Reise.
Er nahm meinen Paß, sah ihn durch und fragte mich, ob ich solchen
den Soldaten gezeigt habe. Als ich es bejahte, wandte er sich an
die Bursche, die noch immer kerzengerade und verlegen dastanden:
Seid ihr Soldaten? Seid ihr Franzosen?' rief er zürnend und
sah, troia seinem schlechten Oberrock, sehr vornehm aus. .Auf der
Stelle kleidet ihr diesen Herrn und seinen Diener an, ordnet sein
Gepäck und geht dann, wohin ihr beordert seid.' Noch nie bin ich
so schnell bedient worden. Ein junger Kerl wollte mir gegen meinen
Willen die Stiefeln anziehen und bat mich mit Tränen im Auge,
es zu erlauben. Solchen Gehorsam habe ich nie in der Reichsarmee
gesehen. Ich sagte es auch dem Offizier, der sich, nachdem wir fertig
waren, zu mir ins Gras setzte und für seine Landsleute Vergebung
und Entschuldigung erbat. Ich sagte ihm, daß dieser ganze Vorfall
durch jenen schönen Anblick von Disziplin aufgewogen werde. Ehe
ich mich dessen versah, waren wir in ein tiefe:, Gespräch über die
Zeitereignisse und namentlich über das Schicksal des Adels verwickelt.
Ich stritt lebhaft für unsern alten Reichsadel; aber kurz und bestimmt
und so artig als möglich wußte er meine besten Gründe zu widerlegen.
Ich merkte wohl aus allem, und er gestand es auch offen, daß er ein
Ci-devant sei. Er gestand auch zu, daß eine Republik in neueren
Zeiten etwas Schwieriges, beinahe Unnatürliches sei, daß Institute
wie der Adel nützlich, ja gewissermaßen notwendig seien, behauptete
aber, daß der Adel überall von neuem geboren werden und nur
aus kriegerischem Verdienst und Ruhm hervorgehen müsse."
"Wie?" fiel ihm Rantow ins Wort, "so allgemein dachte man
schon damals in jener Armee an das, was nachher jener sogenannte
Kaiser wirklich ausführte? Das ist wunderbar!" —
"Auch mir sind
nachmals," erzählte der alte Thierberg, "da Napoleon die Ehrenlegion
und Dotationen schöpfte, oft die Worte meines guten Kapitäns
eingefallen. Diesen gewann ich in einer Stunde, die wir zusammen
sprachen, so lieb, als wäre er kein Franzose, als wären wir langiährige
Freunde. Endlich mahnte ihn die Feldmusik eines ferne
heranziehenden Regiments zum Aufbruch. Ich schenkte ihm meine
silberne Feldflasche, die er erst nach langem Streit und endlich
lachend annahm; mir gab er dafür eine kleine Ausgabe des Tacitus
und eine von den bunten Federn auf seinem Hut, womit sich damals
die republikanischen Offiziere schmückten. Die Bajonette des Regiments
blitzten über den nächsten Hügel herab, und die Musiker
begannen eben ihr ,Siona enfants', als er aufs Pferd stieg; er gab
mir noch einige Verhaltungsmaßregeln, drückte mir lächelnd die
Hand, und unter dem Marchons, ça ira!' setzte er den Berg hinan.
Noch heute steht dieser liebenswürdige, interessante junge Mann
vor meinen Augen, wie er den Fuß der Alpe hinanritt, der Wind in
seinem Mantel, in seinen Federn wehte und er grüßend noch einmal
sein geistreiches Gesicht nach mir umwandte. Damals, aber nur
einen Augenblick lang, und ich weiß heute noch nicht warum, schlug
mein Herz für diese Franzosen, und solange ich die Musik hören
konnte, sang ich das Allons enfants und das Marchons, ?u ira mit,
Nachher freilich schämte ich mich meiner Schwäche, haßte dieses
Volk nach-wie vorher, und nur mein Retter in der Not, mein Kapitän,
steht in meinem dankbaren Gedächtnis."
"Allerdings ein wunderbarer Fall," sagte Rantow, als der
Alte nicht ohne tiefe Rührung geendet hatte; "artige und honette
Leute gab es zwar immer unter diesen Truppen; aber die gute
Disziplin war ungleich seltener. Ich hätte mögen den Schrecken
jener fünf Soldaten sehen."
"Nun, Hans," sagte Anna zu dem Diener, der aufmerksam und
gespannt zuhorchte, "du hast sie ja gesehen."
"Ich sag' Ihnen, gnädiges Fräulein, wie aus Stein gemeißelt
standen sie vor dem Kapitän und schämten sich, und Augen hat er
auf sie dargemacht wie der Lindwurm auf den Ritter Sankt Georg.
Als die Franzosen nachher zu uns herauskamen, bin ich oft halbe
Tage lang an der Landstraße von Heidelberg gestanden und habe
sie Regiment für Regiment defilieren lassen; aber der Kapitän war
nie dabei, der ist wohl schon lange tot,"
"Ehre und Segen mit seinem Andenken, wo er auch sein möge,"
sprach der alte Thierberg. "Ist er gestorben, so hat er doch alles,
was nachher in der Welt Ungerechtes und Frevelhaftes geschah,
nicht mehr mitmachen müssen. Vielleicht hat er sich auch vom Dienst
zurückgezogen, als der Diktator sich zum Kaiser machte; denn mein
braver Kapitän, der so nobel dachte, kann kein Freund des übermütigen
Korsen gewesen sein,"
Anna lächelte, aber sie mochte das Lieblingsthema ihres alten
Vaters, die Geschichte "vom besten Franzosen", nicht durch eine
Apologie jenes großen Sohnes einer kleinen Insel stören.
9.
Man hatte sich heute früher getrennt als sonst, und Albert,
den der Schlaf noch nicht besuchen wollte, stand unter dem Bogenfenster
seines altertümlichen Zimmers und schaute in das Tal hinab.
Er dachte nach über alle Worte seiner schönen Cousine, er fand so
viel Stoff, sie anzuklagen und sich zu bedauern, daß er das erste Mal
in seinem Leben im Ernste sich selbst sehr schwermütig erschien.
Dieses eine Mal nach so vielen flatterhaften und flüchtigen
Geschichten war er sich recht klar und deutlich bewußt, ernstlich
zu lieben; niemals zuvor hatte er einem Gedanken an ein häusliches
Verhältnis, an das Glück der Ehe, Raum gegeben, und nur erst
diesem fröhlichen, unbefangenen Geschöpf war es gelungen, seine
Ansichten über seine Zukunft ernster, seine Gefühle würdiger zu
machen. Er wunderte sich, gerade da zurückgewiesen zu werden,
Wo er es wirklich redlich meinte; es befremdete ihn, gerade in jenen
Augen als flüchtig und kokett zu erscheinen, die ihn so unwiderstehlich
angezogen, gefesselt hatten; er schämte sich, daß bei diesem
natürlichen Kinde seine sonst überall anerkannten Vorzüge ohne
Wirkung bleiben sollten; er sah darin ein böses Vorzeichen; denn
seine bisherige Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß die Überraschung,
daß der erste Eindruck entscheiden müsse.
Aus diesen Gedanken weckte ihn eine Flöte, die wie am gestrigen
Abend süße Töne vom Wald herüberhauchte. Aufs neue erwachte
in ihm der Gedanke, daß diese Serenade wohl Anna gelten könnte.
Er sah schärfer nach dem Wald hinüber, und — er irrte sich nicht —
es war jene Waldecke, die er heute besucht hatte, woher die Töne
kamen. Schnell warf er seinen Mantel über, eilte hinab und bat
den alten Hans, ihm das Tor zu öffnen; er gab vor, auf einem
Platz im Wald unweit des Schlosses ein Taschenbuch zurückgelassen
zu haben, dem der Nachttau schaden könnte. Die Flötenklänge,
die immer weicher und schmelzender wurden, dienten ihm zu Führern
nach jener Waldecke; immer eifriger drang er durch das Gebüsch;
denn er hatte einen Blick nach der Burg hinüber geworfen und
gesehen, daß ein weißes Tuch von Annas Fenster wehte. Schon sah
er die Umrisse des Flötenspielers, schon rief er: "Halt, Freund
Musikus, ich werde die zweite Stimme spielen!" da schlug dicht neben
ihm ein Hund an, und als er erschreckt auf die Seite sprang, stürzte
er über die Wurzeln einer alten Eiche unsanft zur Erde.
Als er sich nach einer Weile wieder aufgerichtet hatte und
auf den Platz zutrat, wo der Mann mit der Flöte gesessen hatte,
fand er weder von ihm noel) von dem Hund eine Spur, wohl aber
hörte er tief unten am Berg die Büsche rauschen und das Gesträuch
knacken. Beschämt wandte er sich ab und sah nach dem Schloß hinüber.
Ein heller Schein war an Annas Fenster; aber es war kein Tuch,
wie er geglaubt hatte, sondern der Mond, der in den Gläsern sich
spiegelte. Er warf sich seine Unbesonnenheit, seine Hast und Eile,
sein Mißtrauen, seine Eifersucht vor. Er suchte für das Entweichen
des Flötenspielers die gewöhnlichen und prosaischen Gründe auf;
er wollte Anna unschuldig finden, und dennoch wurde er nicht
ruhig.
So stand er in dem Anblick der vom Mondlicht übergossenen
Burg da, als er plötzlich mit einem Schrei des Schreckens auffuhr;
denn eine kalte Hand rührte an die seinige; er sah sich um, und eine
dunkle Gestalt stand vor ihm. Ehe er noch fragen, sich nur fassen
konnte, fühlte er, daß man ein Papier in seine Hand gedrückt habe,
und zugleich stürzte sich dieses geheimnisvolle Wesen in den Wald;
doch war es nicht so ätherischer Natur, daß es nicht im Forteilen
das Gesträuch zerknickt und Zweige abgestoßen hätte. Albert wurde
es ganz unheimlich an diesem Ort. Sein aufgeregtes Blut, die tiefe
Stille der Nacht, das schaurige Dunkel der Buchen und gegenüber
die altergraue Burg, ihre Fenster vom Monde so sonderbar beleuchtet
, daß er geheimnisvolle Schatten in den hohen Gemächern
hin und her schleichen sah — es war ihm so bange, daß er schnell
seinen Weg zurückeilte, daß er im Wald laut auftrat, nur um sich
selbst in dieser unheimlichen Stille zu hören.
Die Laterne des alten Hans warf ihm ein tröstliches Licht aus
dem Tor entgegen. Eilends ließ er den Alten mit der Lampe voran
nach seinem Zimmer gehen; er entrollte das Papier und erschrak
vor einem fremden Unglück; denn die wenigen Zeilen lauteten:
"Dein Brief traf mich erst heute. Die Antwort ein andermal.
S. Z. N. und noch drei andere wurden heute frühe verhaftet und
nach der Festung geführt. Ich weiß nicht, ob Du Dich schuldig
fühlst; aber vernünftig wäre es, wenn Du Dich auf die Beine
machtest. In Deiner Lage kann es nicht schaden. Ich schickte diese
Zeilen an den gewöhnlichen Platz' Gott gebe, daß sie Dich treffens
Was Du auch tun wirst, Robert, sei diskret und nenne mich nie!"
Wer der unglückliche Flötenspieler gewesen sei, sah jetzt Albert
deutlich; doch zu großmütig, um aus dieser Verwechselung einen
Vorteil ziehen zu wollen, faßte er rasch den Entschluß, den jungen
Willi zu retten. Aber fremd und unbekannt in dieser Gegend,
deuchte es ihm unmöglich, dies allein auszuführen. Er schickte schnell
den alten Hans nach dem Turm, wo Anna wohnte; er ließ sie dringend
bitten, ihm nur auf zwei Minuten in einer sehr wichtigen Sache
Gehör zu geben. Erfolgte dem Alten bis an die Türe des Saales,
und dort blieb er in dem großen, weiten Gemach allein, um seine
Cousine zu erwarten. Zu jeder andern Zeit hätte der Anblick, der
sich ihm hier darbot, mächtig auf seine Seele wirken müssen. Ein
ungewisses Licht schimmerte durch die Fenster und fiel auf die Gemälde
seiner Ahnen. Ihre Gestalten schienen lebendiger hervorzutreten
, ihre Gesichter waren bleicher als sonst, und die ausgestreckte
Hand einer längst verstorbenen Frau von Thierberg schien sich zu
bewegen. Dazu rauschten die Bäume und murmelte der Fluß
auf so eigene Weise, daß man glauben konnte, dieses Geräusch gehe
von den Gewändern der Verstorbenen aus.
In diesen Augenblicken aber hatte er nur ein Ohr für die immer
leiser schallenden Tritte des alten Dieners; sein Auge hing erwartungsvoll
an der Türe, sein Herz pochte unruhig einer Gewißheit
entgegen, die keine erfreuliche sein konnte.
Bald tönten die Schritte wieder den Korridor herauf; er strengte
sein Ohr an, ob er nicht auch den leichten Tritt seiner Base vernehme;
die Tür öffnete sich, und sie erschien mit Hans und ihrem Mädchen;
er sah ihrer Kleidung und ihren Augen an, daß sie noch nicht geschlummert
hatte. Noch ehe sie fragen konnte, reichte er ihr schnell
das Billett und sagte französisch in wenigen Worten, wie er es erhalten
habe. Eine hohe Röte flammte über das schöne Gesicht,
solange er sprach; sie wagte es nicht, die zarten Augenlider aufzuschlagen;
doch kaum hatte sie einen Blick auf die Zeilen geworfen,
so erbleichte sie, sah ihn mit großen Augen erschrocken an und zitterte
so heftig, daß sie sich an dem Tisch halten mußte.
"Ich muß sogleich hinübereilen," sagte er nähertretend, "und
nur darum habe ich dich rufen lassen, daß du mir ein Mittel angebest,
wie ich durch den Fluß komme. Ich möchte bei den Domestiken
nicht gerne Aufsehen erregen."
"Zu Pferd, schnell zu Pferd," rief sie hastig, indem sie bebend
seine Hand ergriff; "schwimm hinüber und dann schnell nach
Neckareck."
"Aber bei Nacht?" erwiderte er zaudernd. "Ich kenne die
Stellen nicht, wo man durchkommen kann, der Fluß ist tief und
reißend."
"Führe mir des Vaters Pferd heran:" Hans!" wandte sie
sich an den erschrockenen Diener. "Schnell, du begleitest mich, ich
will selbst hinüber!
"Fähre es heraus, Alter, aber für mich!" fiel Rantow unmutig
ein. "Wie magst du mich so verkennen, Anna? Du wirst mir
den Weg zu einer Stelle zeigen, wo ich durch den Neckar kommen
kann."
"Nein, so geht es nicht!" sagte sie, beinahe weinend und sank
auf einen Stuhl nieder. "Du wirst .nicht hinüberkommen. Führe
ihn durchs Dorf hinab, Hans, mach unsern Kahn los und schiffe
den Vetter hinüber! Du mußt zu Fuß hinüber, Albert; in einer
halben Stunde kannst du dort sein. O Gott, ich habe es ja schon
lange geahnt, daß es so kommen würde! Sag ihm , er soll nicht
zögern, ich wolle ihn überall lieber wissen als in einem Kerker!"
Der junge Mann drückte ihr schweigend die Hand und winkte
dem Alten, zu gehen. Nie zuvor hätte er sich für fähig gehalten,
so schönen Hoffnungen so schnell zu entsagen; aber der Gedanke
an die schöne, kummervolle Anna, die er bis jetzt nur lächelnd gesehen
hatte, spornte ihn zu immer schnelleren Schritten, und so
mächtig ist in einem Herzen, das die Selbstsucht noch nicht ganz
umsponnen hat, das Gefühl, in einem entscheidenden Moment
Hilfe oder Rettung zu geben, daß er in diesem Augenblick in dem
jungen Willi nur einen Unglücklichen und nicht Annas Geliebten sah.
Am Ufer schloß der Alte schnell den Kahn los und bat den
Gast, sich ruhig niederzusetzen; aber dennoch konnte Albert diesem
Gebot nicht völlig Folge leisten; denn als sie ungefähr die Mitte
des Neckars erreicht hatten, hörte man deutlich den Hufschlag von
Pferden und das Rollen eines Wagens von der Landstraße her;
die sich jenseits dem Ufer näherte. Er richtete sich auf trotz dem
Schelten des Alten und dem unruhigen Schaukeln des Kahns
und sah im Schein einiger Laternen einen Wagen mit vier Pferden,
von einigen, wie es schien, bewaffneten Reitern begleitet, vorüberfahren
. "Ist dies eine Hauptstraße?" fragte er den alten Hans.
"Kann dies vielleicht ein Postwagen sein, der dort fährt?"
"Hab' hier noch nie einen gesehen," erwiderte jener mürrisch,
"und um einen Postwagen zu sehen, möchte ich kein kaltes Bad im
Neckar wagen."
"Schnell! Wo geht man nach Neckareck, nach dem Gut des
Generals?" fragte Albert, welcher besorgte, er möchte zu spät gekommen
sein. "Spute dich, Alter!"
"So lassen Sie mich doch den Kahn erst wieder anschließen!"
sagte Hans. "Doch, wenn Sie Eile haben, nur hier links immer
die Straße fort ! Sie führt gerade auf das Schloß zu; ici) will schon
nachkommen."
Der junge Rantow lief mehr, als er ging; der Alte keuchte mühsam
hinter ihm her; aber so oft er ihn erreicht hatte, lief jener wieder
schneller, als würde er verfolgt. Endlich sah er das Schloß mit seinen
weißen Säulen durch die Nacht schimmern; es fiel ihm ängstlich auf,
daß viele Fenster erleuchtet waren. und als er näher kam. sah er
deutlich Menschen an den Fenstern hin- und herlaufen. Der Schrecken
dieser Nacht und die ungewöhnlich schnelle Bewegung hatten seine
Kräfte beinahe erschöpft, aber dieser beunruhigende Anblick trieb
ihn zu noch rascherem Laufen; in wenigen Minuten langte er an
dem Schloß an; aber er mußte sich an die Pforte lehnen und nach
Atem suchen, ehe er eintrat,
Der erste, dem er an der erleuchteten Treppe begegnete, war
der Gardist, ein alter französischer Kriegsgefährte des Generals,
der jetzt mehr den Haushofmeister als den Diener spielte. Erschien
bleicher als sonst und schlich trübselig die Treppe herab. "Wo ist
Euer junger Herr?" rief Albert hastig. "Führt mich schnell zu ihm!"
"Sacre bleu!" antwortete der Gardist erstaunt, als er den
jungen Mann erkannte. "Weiß es Fräulein Anna schon? 0 la
pauvre enfant!"
"Wo ist Robert?" rief Rantow drängender.
"ll est prisonnier ! erwiderte er traurig. "Auf die Festung
gebracht comme ennemi de la patrie, comme démocrate, vier
dragons la gensdarmerie haben ihn eskortiert. O, mein armer
Monsieur Robert!"
"Führet mich zum General!" sagte Rantow, als er diese Nachricht
hörte.
Monsieur General est sorti."
"Wohin?" rief der junge Mann, unwillig darüber, daß er jedes
Wort dem alten Soldaten abfragen mußte.
"Mit seinem Sohn à la capitale, zu fragen, was Monsieur
Willi verschuldet,"
Als Rantow sah, daß hier nichts mehr zu tun sei, suchte er
einen anderen Bedienten auf und ließ sich die näheren Umstände
der Verhaftung erzählen. Er hörte, daß spät abends, in Roberts
Abwesenheit, ein Kommissär angekommen sei, der nach einer kurzen
Rücksprache mit dem General die Papiere des jungen Willi untersucht
und teilweise versiegelt habe. Darauf sei Robert nach Hause
gekommen und habe sich gutwillig darein ergeben, dem Kommissär
zu folgen; er habe seinem Vater das Wort darauf gegeben, daß
man ihn unschuldig finden werde; das letztere habe der General
einem Bedienten befohlen, am nächsten Morgen dem Herrn von
Thierberg und seiner Familie zu sagen; er habe sich dann zu Pferd
gesetzt und sei, nur von einem Bedienten begleitet, vom Schloß
weggeritten. Der junge Willi selbst hatte weder nach Thierberg,
noch sonst wohin Aufträge zurückgelassen.
So viel erfuhr Albert, und diese Nachrichten waren nicht dazu
geeignet, ihn auf dem Rückweg freudiger zu stimmen. Er konnte auf
den Trost, welchen Robert seinem Vater gegeben, keine große Hoffnung
bauen, und vor allem war ihm vor dem Augenblick bange, wo er
die schmerzliche Kunde der trauernden Anna bringen sollte.
10.
Es waren seit jener traurigen Nacht mehrere Wochen verstrichen:
sie deuchten der armen Anna ebensoviele Monate. Das Laub der
Bäume fing schon an, sich zu bräunen, der Herbst mit seinem fröhlichen
Gefolge war in das Tal eingezogen, Gesang und Jubel schallte
von den Rebhügeln, schallte antwortend aus dem Fluß herauf,
welcher Kähne, mit Trauben schwer belastet, abwärts trug. Als
würde einem verwegenen, in diesen Bergen eingedrungenen Feind
ein Gefecht geliefert, so krachte Büchsen- und Pistolenfeuer aus den
Weinbergen; doch nicht das Wutgeschrei zurückgeworfener Kolonnen,
sondern das Jauchzen einer freudeberauschten Menge stieg auf,
wenn die Gewehre recht laut knallten oder wenn die vorspringenden
Ecken der Bergreihen die tiefere Stimme eines Pfundböllers zehnfach
nachriefen.
Mit verschiedenen Empfindungen sahen die Bewohner des
Schlosses Thierberg diesem fröhlichen Treiben von einer altertümlichen
Terrasse des Schlosses zu. Der junge Rantow blickte unverwandt
und mit glänzenden Augen auf dieses Schauspiel, das ihm
ebenso neu als anziehend erschien. Er hatte in seiner Heimat, im
Kreise vertrauter Freunde, oft bemerkt, wie der Wein, diese Himmelsgabe,
die Wangen freundlicher färbte, die Zungen löste und zu
traulichem Gespräch, wohl auch zum Gesang, selbst die ernsteren
fortriß; doch nie hatte er gedacht, daß eine noch rauschendere Freude,
ein höherer Jubel mit der Bereitung des fröhlichen Trankes sich verbinden
könnte. Wie poetisch deuchte ihm dieses lebhafte Gemälde!
Welch frische, natürliche Bilder zeigte ihm sein Opernglas! Diese
Gruppen hatte der Zufall geordnet, und doch schienen sie ihm reizender,
als was die Kunst je erfunden. "Siehe," sagte er zu Anna,
die, den schönen Kopf auf den Arm gestützt, ihm gegenübersaß und
zuweilen einen ernsten Blick über das Tal hingleiten ließ, "siehe,
dort gegenüber jenen Alten mit den silbergrauen Haaren! Wie
viele solche Herbste mag er schon gesehen haben! Wahrlich, ich könnte
an der Gruppe um ihn her seine Lebensgeschichte studieren. Der
blonde Knabe, der ihm eben die große Traube brachte, ist wohl
sein Enkel; den jungen Burschen, der mit der Pritsche die Mädchen
neckt und durch seine Scherze von der Arbeit abhält, indem er sie
anzutreiben scheint, halte ich für seinen jüngeren Sohn; siehe, jenes
Mädchen hat seinen Schlag derb erwidert; sie ist wohl das Liebchen
des muntern Burschen denn sie lachen alle und verspotten ihn.
Dieser gebräunte, breite Mann von vierzig, der soeben den ungeheuern
, mit Trauben gefüllten Korb auf seine Schultern hob, ist
wohl der ältere Sohn und des blonden Knaben Vater. So hast
du die vier Altersstufen, die sie wohl alle ohne viele Aenderung durchlaufen
mögen."
"Gewiß, ohne viele Aenderung und ohne viel Vergnügen," bemerkte
der alte Herr von Thierberg, der gleichgültig hinabblickte;
"da:. ewige Einerlei seit vielen hundert Jahren. Der Kleine dort
wird jetzt bald in die Schule getrieben und von seinem Schulmeister
täglich geprügelt, gerade wie vorzeiten sein Großvater. Der junge
Bursche wird bald Soldat oder auf ein paar Jahre Knecht in der
Stadt. Kömmt er dann nach Hause und der Vater ist tot, so bekommt
er sein kleines Stückchen Erbe und glaubt, heiraten zu missen;
und hat er vier Kinder, so werden sie, wenn auch er einst stirbt,
das armselige Erbe unter sich teilen und gerade viermal ärmer sein
als er. So treibt es sich herauf und herab; zu dem Pulver, das sie
heute verschießen, haben sie ein ganzes Jahr gespart, um doch auch
e inen Tag zu haben, an welchem sie sich betäuben können; und
das nennen sie lustig sein! Das nennen die Städter ein Fest, ein
malerisches Volksvergnügen!"
"Nein! Sie sehen es zu düster an, Oheim!" entgegnete der
Gast. "Mir scheint, ich gestehe es, eine wundervolle Poesie in diesem
Treiben zu liegen. Diese Menschen sind so behende, so lebendig,
so regsam. Stellen Sie einmal meine Marker hierher. wie unbeholfen
und ungeschickt sie sich benehmen würden! Ich schäme mich heute
noch der Unerfahrenheit, die ich letzthin zeigte; ich nahm in einem
Ihrer Weinberge einem hübschen Mädchen das gebogene Messer
ab und versprach, sie zu unterstützen; als ich die erste Traube abgeschnitten
hatte und sie in das Körbchen legte, betrachtete das
Mädchen nur den Stiel der Traube und sagte lächelnd: ,Er hat wohl
noch nicht oft Trauben geschnitten?' und siehe, ich hatte, statt schief
zu schneiden, gerade geschnitten. Nein! mir scheint diese Weinlese
ein fortdauernder Festtag der Natur, eine liebliche, verkörperte
Poesie."
"Poesie?" erwiderte Anna, indem sie einen trüben, wehmütigen
Blick auf die Berge gegenüber warf. "Eine Poesie, die mir das
Herz durchschneidet. Mir erscheint dieses fröhliche Treiben wie ein
Bild des Lebens. Unter langem Jammer und Ungemach ein Tag
der Freude, der durch seine hellen, freundlichen Strahlen das öde
Dunkel umher nur noch deutlicher zeigt, aber nicht aufhellt! O,
kenntest du erst das Leben dieser Armen näher! Wenn du sie beim
ersten Erwachen des Frühlings sehen könntest! Jeder Winter verwüstet
ihre steilen Gärten; der Schnee löst sie auf und reißt ihre beste,
fruchtbarste Erde mit sich hinab. Aber rastlos zieht jung und alt
heraus. Die Erde. die ihnen das Wasser nahm, tragen sie wieder
hinauf und legen sie sorglich um die Reben her. Vom frühesten
Morgen, in der Glut des Mittags, bis am späten Abend steigen sie,
schwer beladen, die steilen, engen Treppen hinan. Welche Freude,
wenn dann der Weinstock schön steht und nach den Blüten treibt;
aber wie bitter ist zugleich ihre Sorge; denn der kleinste Frost kann
ihre zarte Pflanze vernichten. Und fällt nun der böse Tau oder eine
kalte Nacht, wie schauerlich ist dann ihr Geschäft anzusehen! Alle,
selbst die kleinsten Kinder, strömen noch vor Tag in den Weinberg.
Dort legen sie alte Stücke von Kleidern und Tüchern neben die
Rebstöcke und brennen sie an, daß der qualmende Rauch die zarte
Pflanze schützen möchte. Wie arme Seelen, ins Fegfeuer verbannt,
schleichen sie um die kleinen, zuckenden Feuer und durch die Schleier,
die der Ranch um sie zieht. Die Kleinen rennen umher, sie können
noch nicht berechnen, welches Unglück sie sehen, aber die Männer
und Weiber wissen es wohl; es ist eine kühle Morgenstunde, die das
Werk langer, mühsamer Wochen zerstört und sie ohne Rettung noch
tiefer in die Armut senkt."
"Wahrhaftig! Du bist Sank, Annal" sagte der alte Herr, indem
er lächelnd zu ihr trat und doch nicht ohne leise Besorglichkeit seine
Hand auf ihre schöne Stirne legte. "Du warst ja doch sonst so fröhlich
im Herbst, gabst solchen bösen Gedanken niemals Raum und
freutest dich mit den Fröhlichen. Bist du krank?"
Anna errötete und suchte fröhlicher zu scheinen, als sie es war.
"Krank bin ich nicht, lieber Vater," erwiderte sie; "aber ich bin doch
alt genug, um sogenannte Herbstgedanken haben zu dürfen. Man
kann doch nicht immer fröhlich sein, und — mein Gott!" rief sie, indem
sie errötend aufsprang —
"ist er es nicht? — Seht dort! —"
"Willi?" rief Rantow verwundert und wandte sich nach der
Seite, wohin Anna deutete.
"Wer denn?" sagte der Alte, indem er bald seine zitternde
und verwirrte Tochter, bald seinen Gast ansah. "Wie kommst du nur
auf Willi? Wer soll denn kommen? So sprechet doch!"
Aber in diesem Augenblicke trat auch schon der, dem Annas
Ausruf gegolten hatte, herein; es war der alte Gardist. Er war noch
nicht ganz auf die Terrasse getreten, als schon Anna, jede andere
Rücksicht vergessend, zu ihm hinflog, seine Hand ergriff und eine
Frage aussprechen wollte, zu welcher ihr der Atem fehlte. Der alte
Soldat zog lächelnd seine Hand zurück, grüßte mit militärischem Anstand
und berichtete in Form eines militärischen Rapportes, daß
der General noch diesen Abend zu Hause eintreffen und —
"Ist er frei?" unterbrach ihn Anna,
und seinen Sohn mitbringen werde, der auf sein Ehrenwort
und die Sanson, die der Herr General gestellt habe, aus der
Haft entlassen worden sei.
In Annas Augen drängten sich Tränen; sie zitterte heftig und
setzte sich nieder; der alte Thierberg, durch diesen Anblick überrascht,
preßte die Lippen zusammen und blickte seine Tochter unwillig an,
und Albert, der in den Zügen seines Oheims las, daß jener ein Geheimnis
ahne, dessen Teilnehmer er bis jetzt allein gewesen war,
fühlte sich befangen; er fürchtete für Anna, und erst in diesem Augenblick
wurde es ihm deutlich, daß es fur ihn selbst besser gewesen wäre,
sich nie in diese Angelegenheit zu mischen. "Ich lasse dem Herrn
General danken und Glück wünschen," sagte nach einer peinlichen
Pause Herr von Thierberg zu dem Grenadier und winkte ihm, zu
gehen. "Wünsche nur," fuhr er fort, indem er auf der Terrasse
mit heftigen Schritten auf und ab ging, "wünsche nur, daß die paar
Wochen Gefängnis eine gute Wirkung auf den Herrn Weltstürmer
gehabt haben mögen! Ein paar Monate hätten nicht schaden können,
wäre es auch nur gewesen, um das heiße Blut abzukühlen und die
vorschnelle Zunge zu fesseln. Aber das alles ist das Erbteil seiner
hochweisen Frau Mama! Ein junger Mann von unbeflecktem Adel
hätte sich so weit nicht verirrt; aber das, gewinnt man bei solchen Heiraten
; weil sie sah, daß man in unserem Zirkel ihre Abkunft nicht
vergessen habe, hat sie ihrem Sohn solche republikanische Ideen eingeprägt
und ihn zu einem Toren, wo nicht zu einem verderblichen
menschen gemacht." Diese und andere Worte stieß er schnell und
heftig aus, und plötzlich blieb er vor seiner Tochter stehen, sah sie
mit grimmigen Blicken an und sagte Daun: "Ich glaube jetzt in der
Tat, daß du kränker bist, als ich dachte; geh auf dein Zimmer! —
Ich werde mit dem Vetter diesen Abend allein speisen; geh!"
Das arme Kind ging hinweg, ohne ein Wort zu sagen; sie
mochte die Natur ihres Vaters kennen und wissen, daß jeder Widerspruch
seinen Zorn steigere; sie mochte auch fühlen, was in diesem
Augenblick in seiner Seele vorgehe, wo sie zu wenig Macht über sich
besaß, um ihr Geheimnis zu verbergen.
Als sie weggegangen war, schritt der Alte wieder eine Zeitlang
schweigend hin und her; dann trat er zu seinem Neffen und fragte
mit bewegter Stimme: "Was sagst du zu dem Auftritt, den wir da
gesehen haben? Meinst du wirklich, es wäre möglich?"
"Ich kann Sie nicht verstehen, lieber Oheim."
"Nicht verstehen, Junge? So soll ich es denn selbst in den Mund
nehmen? Wisse —ich habe entdeckt, daß Anna den —den von Driben
nun, daß sie den Sohn des Generals liebt. — Zum Teufel,
Junge! Du erwiderst nichts? Wie magst du so — so gleichgültig
aussehen, wenn von der Ehre deiner Familie die Rede ist? Rede!"
"Ich tang hierin nichts sehen," entgegnete der junge Mann
trotzig, "was etwa der Thierbergschen Ehre zu nahe treten könnte.
Der alte Willi ist von Adel, ist ein berühmter General, ist reich —"
"Also abkaufen sollen wir uns unsere Ehre lassen, abhandeln? —
Bursche, wenn du nicht mein Neffe wärst — Gott strafe mich, aber
ich kenne mich selbst nicht, wenn ich in Wut bin. —Reich: Siehe,
für so schlecht und niederträchtig halte ich mein Kind selbst nicht, daß
es daran gedacht haben sollte. Sieh dich um — so weit du sehen
kannst, war einst alles — alles mein; ich habe nichts mehr als diese
verfallenen Türme und eine Hufe Landes, wie der gemeinste Bauer;
aber auch dieses soll diese Nacht noch hinfahren, in den Schuldturm
soll man mich werfen, mich auspfänden, mein altes Wappen entzwei
schlagen, wenn ich je zugebe —"
"Oheim!" fiel ihm der Neffe erbleichend ins Wort, "bedenken
Sie sich zuvor, ehe sie einen solchen Frevel aussprechen! Was kann
dieser junge Mann dafür, daß sein Vater reich ists Beträgt er sich
denn aufgeblasen? Macht er Anspruche auf seinen Reichtums Ich
sagte es ja vorhin nur so in der Übereilung.
"Nein, das tun sie nicht, die Willim," antwortete nach einer
Pause der Alte; "das ist noch ihre gute Seite. Aber das macht ihn
nicht besser. Seine Grundsätze sind es, die ich hasse; er ist mein
bitterster Feind!"
"Wie wäre dies möglich?" erwiderte Rantow beruhigend. "Wie
könnte er Ihr persönlicher Feind sein!"
Was persönlicher Feind!" rief Thierberg heftiger. "Solche
Feindschaft kenne ich nicht, und mein Feind musste ein anderer sein
als dieser Knabe; aber ein Todfeind bin ich all diesem Wesen, diesen
Neuerungen, diesem Deutschtum, Bürgertum, Kosmopolitismus, und
welche Namen sie dem Unsinn geben mögen, und dessen treuester
Anhänger eben dieser junge Mensch da ist. Das ganze erste Viertel
des neunzehnten Jahrhunderts hatte den verdammten Geschmack
dieses Unwesens, und man wird sehen, wohin es im jetzigen kommt,
wenn diese Menschen und ihre Gesinnungen um sich greifen; aber,
so wahr Gott lebt, man soll von dem letzten Thierberg nicht sagen
können, daß er in seinen alten Tagen einem dieser Weltverbesserer
die Hand zur Unterstützung gereicht hätte!"
"Aber, Oheim!" fiel Albert ein, dem es in diesem entscheidenden
Augenblicke keine Sünde deuchte, gegen seine eigene Überzeugung
zu sprechen, "gibt es denn in diesem Jahrhundert auch nur
eine Familie, die nicht, wenn man sie einzeln durchginge, die verschiedensten
Gesinnungen in sich schlösse? Wird denn der einzelne
Mann dadurch schlechter, daß er eine andere Meinung hat als wir?
Ist nicht Protestant und Katholik in den Augen des Vernünftigen
gleich viel wert? Denkt nicht der General selbst ganz verschieden
von seinem Sohn?"
"Laß mir den Glauben aus dem Spiel, Neffe!" entgegnete
jener. "Darüber zu richten, geht weder dich, noch mich an. Aber
dieser General vollends, der meinen Todfeind als Schutzpatron anbetet
und diesen Bonaparte für den heiligen Georg hält, der den
Lindwurm des veralteten Jahrhunderts tötete — diesen in
m ein e r Familie! Es würde mich töten!"
"Aber wissen Sie denn, ob auch der junge Willi Ihre Tochter
liebt? Hat denn Anna irgend etwas gestanden?"
Der Alte sah seinen Neffen bei dieser Frage lange und erschrocken
an; Daun fuhr er nach einigem Nachsinnen gefaßter fort: "Nein,
einer solchen Schmach halte ich sie nicht fähig; meinst du, meine
Tochter werde sich in einen solchen — Menschen verlieben, ohne
daß er sie zuvor mit tausend Künsten dazu verlockte? Nein, dazu
ist sie mir noch immer zu gut! Aber —ich will mir Gewißheit verschaffen
!"
Er sprach es, und noch ehe ihn Rantow aufhalten konnte, eilte
der alte Mann hinweg, um seine Tochter zur Rede zu stellen. Düster
schaute ihm der Gast aus der Mark nach. "Wahrlich, wenn die
Aktien so stehen, werde ich weder Brautführer, noch Hochzeitsgast
in Thierberg sein," sprach er; "der Alte müßte sich denn durch ein
Wunder in einen Demagogen oder der Demagoge in einen rechtgläubigen
Verehrer der alten Reichsritterschaft verwandeln."
11.
Es hatte dem General Willi nicht geringe Mühe gekostet, von
seinem Sohn das Unglück einer längeren Gefangenschaft abzuwenden
. Sein Ansehen war zwar in der Hauptstadt jenes Landes,
welchem sein Gut angehörte, durch den Wechsel der Verhältnisse
und Meinungen nicht gesunken; man verehrte in ihm einen Mann
von hohem Verdienst, militärischer Umsicht und Tapferkeit, und es
gab manche, die ihn wegen seiner treuen und ausdauernden Anhänglichkeit
an jenen Mann, der einst das, Schicksal Europas in der
Rechten getragen, bewunderten; es gab viele, die ihm, wenn sie auch
diese Bewunderung nicht teilten, doch wegen der Beharrlichkeit und
Charakterstärke, die er in den Tagen des Unglücke entfaltet hatte,
wohlwollten. Dennoch mußte er sein ganzes Ansehen aufbieten,
manche Türe öffnen, um seinem Sohn, auf dem der Verdacht ,
mit Verdächtigen in Verbindung zu stehen ,lastete,
nützen zu können.
Der General war ein Mann von zu großem Rechtsgefühl, als
daß er, wenn er seinen Sohn schuldig glaubte, diese Schritte für
ihn getan hätte. Aber es genügte ihm an der einfachen Versicherung
seines Sohnes. "Ich teile," hatte er ihm gesagt, als er verhaftet
wurde, "ich teile im allgemeinen die Gesinnungen jener Männer,
die man jetzt zur Untersuchung zieht; aber — ich teile weder ihre
Pläne, noch ihre Ansichten, die sie über die Mittel zum Zweck haben.
Ich habe nur gedacht , nie gehandelt , habe mir selbst gelebt,
nicht mit andern, und Beschuldigungen, welche andere treffen mögen,
werden nie auf mich kommen." So war es denn gelungen, den
jungen Willi auf so lange frei zu machen, als nicht stärkere Beweise,
die gegen ihn vorgebracht würden, seine Anwesenheit vor den Gerichten
notwendig machten, eine Schonung, die er nur der Fürsprache
seines Vater:. und dem Vertrauen verdankte, das man in
die Bürgschaft des Generals Willi setzte.
Sie konnten sich beide wohl denken, welches Aufsehen dieser
Vorfall in der Umgegend von Neckareck gemacht haben mußte;
hätten sie in einer Stadt gewohnt, so würden sie sich wohl damit
begnügt haben, ihren Bekannten von ihrer Rückkunft Nachricht zu
geben; aber die Sitte auf dem Lande fordert größere Aufmerksamkeit
für gute Nachbarn; man mußte fünf oder sechs Familien im
Umkreis von drei Stunden besuchen, mußte ihre Neugierde über
diesen Vorfall umständlich befriedigen; kurz, man mußte sich zeigen,
wie man sich etwa nach einer überstandenen Krankheit bei den Bekannten
wieder zeigt und für ihre Teilnahme Dank sagt. Als aber
der General mit seinem Sohn am dritten Tag nach ihrer Rückkehr
nach Thierberg aufbrach, war es noch ein anderer Grund als Höflichkeit
gegen gute Nachbarn, was sie dorthin zog. Der junge Willi
mochte in den einsamen Wochen seiner Gefangenschaft Zeit gefunden
haben, über sein Leben und Treiben nachzudenken; er mochte
gefunden haben, daß ihn jene politischen Träume, welchen er nachgehängt
hatte, nicht befriedigen könnten, daß es ein höheres, reineres
Interesse gebe, wodurch sein Leben Bedeutung und Gehalt, seine
Seele Ruhe und Zufriedenheit gewände,
Der General lächelte, als ihm Robert sein Verhältnis zu Anna
entdeckte und die Wünsche auszusprechen wagte, die sich mit dem
Gedanken an die Geliebte verbanden. Er lächelte und gestand seinem
Sohn, daß er längst dieses Verhältnis geahnet, daß er gewünscht
habe, das unruhige Treiben des jungen Mannes möchte eine festere
Richtung annehmen. "Ich kenne dich," sagte er ihm; "wärest du
zu jener Zeit jung gewesen, Wo wir in Europa umherzogen, um
Krieg zu führen, so hätte deine Phantasie mit aller Kraft die großartigen
Bilder des Krieges ergriffen, ich hätte dir den ersten Raum
geöffnet, du selbst hättest dann deine Laufbahn gemacht. Daß du
in diesen stillen Feiertagen des Jahrhunderts nicht dienen willst,
kann ich dir nicht übel nehmen. De:, Umherschweifende in der Welt
bist du satt, das Leben in den Salons genügt dir nicht, —so bleibe
bei mir, besorge an meiner Statt meine Güter! Ich kann dabei nur
gewinnen; ich gewinne Zeit für mich und meine Erinnerungen,
gewinne dich, und —" setzte er mit einem freundlichen Händedruck
hinzu, " wenn du anders deiner Sache gewiß bist, gewinne ich Anna."
Sie besprachen diese Kapitel auch auf dem Weg nach Thierberg
wieder, und Robert gab seinem Vater Vollmacht, bei dem
Alten und Anna für ihn zu werben. Sie verhehlten sich nicht, daß
eine nicht unbedeutende Schwierigkeit im Charakter des alten Thierberg
liegen könne. Ihre Gesinnungen hatten so oft die seinigen
beinahe feindlich durchkreuzt; man hatte sich wegen Meinungen so
oft gezankt, man war oft unzufrieden, beinahe verstimmt auseinander
gegangen. Aber sie trösteten siel) damit, daß er doch nie persönliche
Abneigung gezeigt habe, und die Vorteile, die für Thierberg aus
dieser Verbindung hervorgingen, erschienen so bedeutend, daß der
General, als sie über die Zugbrücke ritten, sich schon im Geist als
Vater der schönen Anna zu sehen glaubte und vertrauensvoll auf
das Thierbergsche Wappen über dem alten Portal zeigte. "M u t
gewinnt , führen sie als Symbol im Wappen," flüsterte er seinem
Sohn zu. "Das fügt sich trefflich: denn weißt du noch, was der
Wahlspruch deiner Ahnen war"
"Der Will' ist stark!" rief der junge Willi, freudig errötend
. "Mut gewinnt — und der Will' ist stark!"
Im Schloßhof empfing Rantow die Angekommenen. Er entschuldigte
seinen Oheim mit einem kleinen gichtischen Anfall, der
ihn verhindere, die steile Treppe herabzusteigen und seinen Geisten
entgegenzugehen. Er sagte dies schnell und nicht ohne einige Verlegenheit
, die er hinter einem Schwall von Glückwünschen für
Robert Willi zu verbergen suchte. Nach den Verhältnissen, die
gegenwärtig in den alten Mauern von Thierberg herrschten, konnte
nicht leicht etwas störender wirken als dieser Besuch. Man hatte
zwar den Vetter aus der Mark nicht mit in das Geheimnis gezogen.
Der Vater schien es zu bereuen, daß er sich nur so weit gegen seinen
Neffen ausgesprochen habe, und Anna hatte mit ihm seit einigen
Tagen nie mehr über Willi gesprochen, sei es auf ein Verbot ihres
Vaters, sei es aus Argwohn, er möchte dem Alten ihr Geheimnis
verraten haben. Seit jenem Abend jedoch, wo die Rückkehr Roberts
angekündigt worden war, herrschte eine Spannung, die um so
drückender wurde, da die ganze Gesellschaft zwar aus dreierlei Parteien,
aber — nur aus drei Personen bestand.
Anna sprach wenig, hielt sich meist auf ihrem Zimmer auf
wohin Albert noch niemals eingeladen worden war. Der Alte war
mürrisch, aufbrausender als sonst gegen seine Diener, gegen seinen
Gast herzlich wie zuvor, aber ernster und einsilbiger, gegen seine
Tochter kalt und gleichgültig. Ertrank, trotz der bittenden Blicke
die Anna zuweilen nach ihm hinzusenden wagte, mehr Wein als
gewöhnlich, schimpfte dann auf die ganze Welt, verschlief den Nachmittag
und ließ sich abends den Amtmann holen, um ein Spiel mit
ihm zu machen. Dann setzte sich Anna mit ihrer Arbeit in ein Fenster,
ließ sich von dem Vetter etwa:, vorlesen; aber Tränen, die hin und
wieder auf ihre Hand herabfielen, zeigten dem jungen Mann, wie
wenig ihr Geist mit dem beschäftigt sei, was er eben las. Der Anfall
von Gicht, der über den Alten kam, machte die Sache womöglich
noch schlimmer. Man sah, wie er alle Kraft aufbot, seine Schmerzen
zu unterdrücken, nur um der natürlichen Hilfe seiner Tochter weniger
zu bedürfen, und wenn fälle eintraten, wo er diese Hilfe nicht abweisen
konnte, wenn das schöne Kind bleich und mit Tränen im
Auge vor ihm kniete, um seine Beine in warme Tücher zu hüllen,
da wandte er sich ab, pfiff irgend ein altes Liedchen, nannte sich einen
Mann, der bald in die Grube fahren musse, und fand es schön, daß
doch ein Enkel der Thierberge zugegen sein werde, wenn man den
letzten dieses Namens beisetzte.
Rantow wußte zwar, daß sein Oheim da:: Gastrecht gegen seine
Nachbarn nicht verletzen werde; aber diese letzten Tage fielen ihm
schwer auf die Seele, als er die Fremden die Treppe hinanführte,
und er sah voraus, daß die beiden Willis gewiß nichts dazu beitragen
würden, die Verstimmung aufzulösen.
Der Empfang war übrigens herzlicher, als er sich gedacht hatte.
Es gibt eine gewisse höfliche Freundlichkeit, die man sich angewöhnen
kann, ohne sich dessen bewußt zu werden. Besonders auffallend erscheint
diese Eigenschaft, wenn sich Männer begrüssen, von welchen
wir wissen, daß sie keiner Heuchelei fähig sind, und die dennoch.
sei es durch Meinungen, sei es durch Verhältnisse, sich feindlich
gegenüberstehen. So schien es auch der alte Thierberg nicht über sich
vermögen zu können, sein gewohntes Ah! schön! schön! Freut mich,
Platz genommen!" diesmal mit einem kälteren und förmlicheren
Gruß zu vertauschen, und die fünfhundertjährige Gastfreundschaft
dieser Burg schien die unwillkommenen Gäste in ihre schützenden
Arme zu schließen. Ein Blick von Anna hatte dem jungen Willi
gesagt, was hier vorgegangen sei. Erfand sie blaß, ihre Stimme
nicht so fest wie sonst, es lag Kummer um den holden Mund, und ihre
Augen schienen weicher geworden zu sein. Er pries im stillen
ihren richtigen Takt, daß sie mehr zu dem General sprach als zu ihm;
denn er hätte, von diesem Anblick ergriffen, nicht Fassung genug
gehabt, Gleichgültiges mit ihr zu reden. Rantow, der einen ganz
andern Auftritt erwartet hatte, wunderte sich, daß auch in diesem
"ehrlichen Schwaben," wo ihm sonst alles so offen und ehrlich deuchte,
vier Menschen, die sich so nahe standen, ein so falsches Spiel unter
sich spielen könnten, ihre Gedanken, ihre Leidenschaften unter einer
so ruhigen Hülle zu verdecken wüssten. Er sah staunend bald den
jungen Willi und den alten Thierberg an, die ganz ruhig und abgemessen
sich über die Ereignisse der letzten Wochen besprachen; bald
hörte er auf das Gespräch zwischen dem General und der Geliebten
seines Sohnes, die dasselbe Thema, nur mit Veränderungen, abhandelten,
wobei übrigens Anna eine solche Ruhe an den Tag legte, daß
sie nie hastig fragte, von nichts mehr als schicklich ergriffen war.
Der General wandte sich im Gespräch und ging mit ihr langsam
im Saal auf und ab. Erstellte sich endlich wie zufällig in einen
tiefen Fensterbögen, und Albert entging es nicht, daß er sich dort
schnell zu dem schönen Mädchen herabbückte, ihr etwas zuflüsterte,
was eine tiefe Röte auf ihre Wangen jagte. Sie schien erschrocken,
sie faßte seine Hand, sie sprach leise, aber heftig zu ihm; aber er
lächelte, schien sie zu beruhigen, zu trösten, und so stolz und zuversichtlich
war seine Stirne. waren seine Züge, als müsste er in diesem
Augenblick seine Division ins Feuer führen, um den schwankenden
Sieg zu entscheiden.
Der Gast aus der Mark ahnete, daß dort in jenem Fensterbögen
ein Entschluss gefaßt oder mitgeteilt worden sei, der auf Annas
Schicksal sich beziehe, und das Herz pochte ihm, wenn er an den
eisernen Trotz seines Oheims dachte. Die Diener hatten indessen
Wein herbeigebracht, man setzte sich in eines der weiten Fenster,
und wenn nur die Gemüter der fünf Menschen, die um den kleinen
Tisch saßen, weniger befangen waren, der schöne Tag, der Anblick
des herrlichen Tales, das vor ihnen lag, hätte sie zu immer höherer
Freude stimmen müssen.
Der General, dem es peinlich sein mochte, daß das Gespräch
nach und nach zu stocken anfing, bat Anna um ein Lied, und ein
Wink ihres Vaters bekräftigte diese Bitte. Man brachte ihre Gitarre
herbei, der junge Willi stimmte die Saiten; aber waren es die Worte
des Generals, war es der Anblick ihres Vaters, war es die langersehnte
Nähe des Geliebten, was sie verwirrte, sie errötete und
gestand, daß sie in diesem Augenblick kein passendes Lied zu singen
wusste. Man schlug vor, man verwarf, bis Rantow beifiel, wie man
einst in Berlin eine berühmte, schöne Sängerin von einer ähnlichen
Verlegenheit befreite. Er schnitt kleine Zettel und ließ jeden ein
Lied aufschreiben. Dann faltete er die Papiere geschickt und zierlich
zusammen, schüttelte sie als Lose durcheinander und ließ die Sängerin
eines wählen.
Sie wählte, sie öffnete das Los und errötete sichtbar, indem
sie den General besorgt anblickte. "Das hat niemand anders als Sie
geschrieben," sagte sie. "Warum denn gerade dieses Lied? Es ist
nicht immer politisch, ein politisches Lied zu singen!"
"Wenn es nun aber mein Lieblingslied ist!" erwiderte Willi.
"Ich appelliere an Ihren Vater; stand nicht die Wahl durchaus frei?"
"Gewiß," antwortete der Alte, "du singst, Anna; und wenn
das Lied Politik enthalten sollte — nun, erdichtete Politik kann man
ja immer noch ertragen."
Sie nickte schweigend Gehorsam zu. Aber von jenem Augenblick
an, wo sie mit einem kurzen, aber kräftigen Vorspiel den Gesang
anhob, schien auf ihren lieblichen Zügen eine Art von Begeisterung
aufzugehen. Eine zarte Röte spielte auf ihren Wangen, ihre Augen
glänzten, und um den schönen Mund, der die Töne so voll und rund
hervorströmen ließ, spielte anfangs ein Lächeln, das mehr und mehr
in Wehmut überging. Es war eine französische Ode, aus welcher
sie einige Stellen vortrug. Die Melodie, bald heiter, ermunternd,
bald erhaben und triumphierend, bald ernst und getragen, schmiegte
sich an das wechselnde Versmaß und den Gedankengang der Strophen,
und so süß war ihre Stimme, so ausdrucksvoll ihr Vortrag, so hinreißend
ihr ganzes Wesen, das mit dem Gesang sich zu verschmelzen
schien, daß die Männer, wenn sie gleich über den Gegenstand die
verschiedensten Gesinnungen hegten, doch von dem Strom der Töne
mit fortgerissen wurden. Wie erhaben war ihr Vortrag, als sie sang:
| "Cachez ce lambeau tricolore!
C'est sa voix; il aborde, et la France est à lui." |
***Ernst, beinahe traurig, hod) nicht ohne Triumph fuhr fie fort:
| "II la joue, il la perd; l'Europe est satisfaite
Et l'aigle, qui, tombant aux pieds du Léopard
Change en grand capitaine un héros de hasard,
Illustre aussi vingt rois, dont la gloire muette
N'eût jamais retenti chez la postérité;
Et d'une part dans sa défaite,
Il fait à chacun d'eux une immortalité"). |
***Als fie geendet [jatte, legte fie hic Gitarre nieder und ging,
während die Männer lied) in verlegener Stille satzen, schnell hinweg.
"Il la jano, il la perd," sprach der alte Thierberg lachend. "Eine
große Wahrheit! Und dieser Dichter, wer er auch sein mag, konnte
jenen Mann nicht besser schildern; seine ganze Größe bestand ja nur
dann, daß er das rouge noir so hoch als möglich spielte, und der
alte Satz, daß der kaltblütigste Spieler endlich gewinnt, bestätigte
sich an ihm. Der Leopard hat doch die Bank gesprengt, und
Wellington wird es eben darum keinen Kummer machen, wenn man
ihn heros hasard nennt,"
"Wie lächerlich sind solche Hyperbeln!" rief Rantow, "als ob
zwanzig Könige ihren Nachruhm, ihre Unsterblichkeit diesem Sommerkönig
zu verdanken hätten! Was uns betrifft wenigstens, so wird
man eingestehen müssen, daß der Ruhm der preußischen Waffen
älter ist als der des sogenannten Siegers von Italien und nicht
von der großen Nation geadelt werden mußte." .
"Und dennoch," erwiderte der General mit großer Ruhe, "dennoch
wird man einst nicht sagen, es war Bonaparte, der zur Zeit
dieses oder jenes Königs lebte — man wird sagen, Herr von Rantow,
sie waren Zeitgenossen Napoleons. Doch was den Obergeneral de:,
englischen Heeres in der Bataille von Mont St. Jean betrifft, so
möchte es die Frage sein, ob ihm der Titel heros hasard sehr angenehm
ist; so viel ist wenigstens gewiß, daß er jene Schlacht nicht
gewonnen, sondern nur — nicht verloren hat."
"Es ist ein Glück für die Welt," bemerkte Thierberg lächelnd,
"daß man Ihren Satz umkehren kann und daß er dann noch höhere
Wahrheit enthält; Ihr Herr und Meister hat jene Schlacht zwar
nicht gewonnen , aber desto gewisser verloren."
"Er hat sie verloren," antwortete der General; "was die Welt
damit verlor, will ich nicht aussprechen; aber jene Strophe, womit
Anna ihren Gesang schloß, drückte aus, wer noch am Abend jenes
unglücklichen Tages, als Cäsar und sein Glück von der Übermacht
zerschmettert wurden, als meine braven Kameraden auf Mont
St. Jean den letzten Atem aushauchten, der — Größere war.
"Der Größere! Und dies können Sie noch fragen, General ?'
entgegnete heftig der junge Mann aus der Mark. "Als die Strahlen
der Abendröte über jenes denkwürdige Feld streiften, beleuchtend
die Schande Frankreichs und sein verwirrtes Heer, als blutend
aber unbesiegt das englische Heer jene Hügel deckte und Deutschland:
Völker stolzen Schrittes in die Ebene herabstiegen, um den Kampf
siegend zu entscheiden — denken Sie sich, ich bitte, jenen erhabenen
Moment, und sagen Sie mir, wer da der Größere war."
"Der Gott des Zufalls," erwiderte der General. "Mächtger
war er wenigstens als jener alte Held, der auch noch an seinem letzten
Schlachttage zeigte, welche mächtige Kluft zwischen dem Genie und
roher, wohlgenährter, tierischer Kraft befestigt sei. Er ist gefallen,
nicht, weil ihm England oder Deutschland gewachsen war, sondern,
weil er früher oder später fallen mußte, weil er einen Vertilgungskrieg
gegen sich selbst führte, der seine Kräfte aufrieb; oder können
Sie mir beweisen, daß an jenem Tage von Waterloo das Genie des
englischen Feldherrn oder gar Ihres Blücher ihn besiegte?"
Seien wir gerecht," nahm der junge Willi das Wort; "geben
wir zu, daß ihm keiner seiner militärischen Gegner gewachsen war,
so beweist dies noch immer nichts für jene innere Größe, für jene
moralische Erhabenheit, welche die Mitwelt mit sich fortreißt, ihr
Jahrhundert bildet und Segen noch auf die späte Nachwelt bringt.
Napoleon war ein großer Soldat, — aber kein großer Mensch."
"Sohn!" erwiderte der General, "wie kannst du in irgendeinem
Fach des Wissens groß, größer als sonst ein Mann des Jahrhunderts
werden, ohne ein großer Mensch zu sein? Die
Maschine ist es nicht, nicht dieser Körper ist es, was sie groß macht,
es ist der Geist. Jene veralteten Formen Europas, von klugen
Männern vor tausend Jahren ausgedacht, stürzten zusammen, weil
es Formen waren, die der Geist verlassen hatte; sie brachen ein vor
den Blitzen seines Genies, sie hatten da: Schicksal jener Leichname,
die, in Grüften eingeschlossen, in ihren fürstlichen Leichenprunk gehüllt
, Jahrhunderte überdauern, weil sie die Kerkerluft ihre: Grabes
nicht vermodern läßt. Berühre sie mit lebendiger Hand,
hauche sie an mit freiem Odem, und — sie zerfallen in Asche!"
"Dies beweist nicht gegen mich," sagte Willi.
"Und wo ist denn das große und feste Reich, das der große
Mann gründete?" unterbrach ihn Thierberg; "Sie vergleichen unsere
schönen alten Institutionen, Gott möge es Ihnen verzeihen, mit
einem Leichnam; aber was war denn jener korsische Kaiserthron, was
sein Staatsgebäude, als ein Kartenhaus?"
"Ich habe nie gesagt, daß Napoleon der Mann war, einen
großen Staat zu gründen," antwortete der alte Wille "Frankreich
war unter ihm ein Lager, dessen erste Posten die Rheinbundstaaten
bildeten. Er hätte vielleicht ein Ende genommen, das seiner oder
Frankreichs unwürdig gewesen wäre, Wenn er einige Jahre in beständiger
Ruhe und in Frieden regiert hätte."
So war also das Ende, welches er nahm, seiner würdige"
fragte Rantow lächelnd.
"Nicht der Platz, auf welchem wir stehen," versetzte der General
nicht ohne Wehmut, "nicht der Raum. sei er groß oder klein, gibt
uns Würde oder Schmach. Wir sind es, die uns und unsere Posten
adeln oder schänden. Die Welt hat gelacht und gehöhnt, als man
den größten Geist des Jahrhunderts auf eine öde Insel verbannte.
Dort, an der höchsten Felsenspitze, haben sie den alten Adler angeschlossen,
wo er nur in die Sonne, auf den weiten Ozean und in
einige treue Herzen sah. Aber man hat nicht bedacht, wie vielen
Stoff zum Lachen man der Nachwelt gebe; es war nicht Strafe,
was ihn dorthin verbannte; werin Europa konnte ihn strafen?
Es war — Furcht. So mußte es kommen, daß man in ihm noch
immer den Gefürchteten sah, und manche Herzen, die sich
von ihm abgewendet hatten, fingen an, ihn wieder zu lieben; pflegt
doch das Unglück die Menschen zu versöhnen, und — es war ja nichts
an seine Stelle getreten, was ihn hätte vergessen machen können."
"Glauben Sie etwa, Herr Nachbar," sagte Thierberg, "es hätte
wieder ein solcher Attila auftreten müssen, nur um die Zeitungsschreiber
zu unterhalten? Vergessen wird man wohl jenen Namen
noch lange nicht, aber — man wird ihn verdammen."
"Mancher hat ein persönliches Recht dazu, und ich kann ihn
darum nur beklagen, nicht entschuldigen, daß sein Gang über die
Erde nicht die gebahnte Straße ging. Aber man wird auch mit
andern Gefühlen sich seiner erinnern. Die Großen der Erde scheinen
zwar nicht viel von ihm gelernt zu haben, desto mehr vielleicht die
Kleinen. Er hat sich seine Bahn so erhaben aufgerissen als Alexander,
er hat sie verfolgt wie Cäsar, man hat ihm gedankt wie dem Hannibal
, auf jenem Felsen hat er gelebt wie Seneca, und seine letzten
Tage waren eines Sokrates würdig."
"In diesem Punkt werden wir nimmer einig," erwiderte der
alte Thierberg: " was mich betrifft, so kommt er mir vor, als habe
er seine Laufbahn eröffnet wie ein Aventurier, habe sie verfolgt
wie ein Räuber, habe mit seinem Raub verfahren wie ein verzweifelter
Spieler und habe geendet wie ein — Komödiant!"
"Wir sind noch nicht seine Nachwelt," bemerkte Robert Willi.
"Erst wenn alle Parteien, die persönliches Interesse aussprachen,
von der Erde verschwunden sind, dann erst wird man mit klarem
Auge richten. Mein Held ist er nicht; aber in seinen italienischen
Feldzügen erscheint er wie ein Wesen höherer Art, und dies wenigstens
werden Sie auch zugeben, Herr von Thierberg."
"Es ist möglich," versetzte der Alte; " er hat damals mein Staunen,
meine Bewunderung erregt; aber wie schnell wurde ich von
meiner Vorliebe geheilt! Wenn er damals den Bourbons den Thron
zurückgegeben hätte — die Macht hatte er dazu —so wäre er mir
wie ein Engel erschienen."
"Dies war wegen seiner Armee, die anders dachte, unmöglich,"
antwortete der General.
"Sie erinnern sich," fuhr der Alte fort, "daß ich Ihnen öfter
von einem französischen Kapitän erzählte, der mich in der Schweiz
aus großer Verlegenheit rettete, — der einzige Franzose, den ich
achte und für den ich noch jetzt alles tun könnte. Mit diesem sprach
ich damals auch über diesen Punkt. Ich sagte ihm, daß Frankreich
ohne Rettung verloren gehe, wenn es in der ewigen, sich immer
von neuem gebärenden Revolution fortfahre; nur ein König an
der Spitze könne es retten. — Ergab es zu; er sagte mir, daß die
Bourbons eine große Partei in Paris hätten und daß mein Gedanke
vielleicht erfüllt würde. Ich fragte ihn, wie der Konsul Bonaparte,
der damals an der Spitze stand, darüber dächte. ,Er äußert
sich nicht,' erwiderte mir der Kapitän; ,aber wenn ich ihn recht verstehe,'
setzte er lächelnd hinzu, ,so wird Frankreich bald nur einen
Meister haben.' Ich deutete dies Wort meines neuen Freundes
damals auf die Zurückkunft der Bourbons; leider ist es an Bonaparte
selbst in Erfüllung gegangen."
Der junge Willi war schon zu Anfang dieser Rede aufgestanden;
er hatte Annas Vater die Geschichte von seinem Kapitän schon
einige dutzendmal erzählen gehört, und sein Blut wallte in diesem
Augenblick noch zu unruhig, als daß er sie von neuem anhören mochte;
er ging mit zögernden Schritten im Saal auf und nieder; als aber
der alte Thierberg im Gespräch mit dem General auf die jetzigen
Verhältnisse Frankreichs einging, ein Punkt, über den sie niemals
in Streit gerieten, gesellte sich auch Rantow zu dem jungen Willi.
Er ließ sich von ihm die Geschichte der letzten Wochen noch einmal
wiederholen, führte ihn unbemerkt in das nächste Zimmer und dann
auf den breiten Hausflur. Dort hielt er plötzlich inne und flüsterte
dem erstaunten jungen Mann ins Ohr: "Sie dürfen vor mir kein
Geheimnis mehr haben; Anna hat mir alles entdeckt, und auf meinen
Beistand können Sie sich verlassen." Noch einen Augenblick zweifelte
Robert, weil ihm diese Nachricht zu neu und unerwartet kam; als
aber Rantow ins einzelne einging und ihm erzählte, was in jener
Schreckensnacht vorgefallen sei, als er ihm entdeckte, wie ungünstig
gegenwärtig die Verhältnisse seien, da stand jener nicht länger an,
die Hilfe, die ihm geboten wurde, anzunehmen; er bat Albert, ihm,
wenn es möglich wäre, Gelegenheit zu verschaffen, mit Anna zu
sprechen.
Der Gast aus der Mark dachte einige Augenblicke nach, ob er
dies möglich machen könnte; Anna hatte ihn selbst zwar nie auf ihr
Boudoir im Turm eingeladen; aber er hoffte, in solcher Begleitung ,
nicht unwillkommen zu sein; das einzige, was ihn hätte abhalten
können, war die Furcht vor dem Zorn seines Oheims, im Fall diese
Zusammenkunft entdeckt wurde; aber die Lust, wo er nicht selbst
die Rolle übernehmen konnte, wenigstens die Intrige zu unterstützen,
siegte über jede Bedenklichkeit; er winkte dem jungen Willi,
ihm zu folgen. Der Gang nach Annas Turm war ihm bekannt.
Nach der Lage ihrer Fenster mußte ihr Gemach noch zwei Stockwerke
höher liegen als der Saal. Sie stiegen eine enge, steile Treppe
von Holz hinan, die unter jedem Tritte, so behutsam sie auch stiegen,
ächzte. Zum nicht geringen Schrecken begegnete ihnen auf dem
ersten Stock der alte Hans, der sie verwundert ansah. Albert winkte
seinem Gefährten, nur immer voranzugehen; er selbst nahm, ohne
in seiner Bestürzung zu bedenken, ob es klug sein möchte, den alten
Diener auf die Seite. "Hans!" sagte er, " wenn du deinem Herrn
ein Wort "
"O," erwiderte jener schlau lächelnd, "da hat es gute
Wege, so wenig als in jener Nacht, da Sie mich beinahe in den
Neckar warfen —ich bin so still wie ein toter Hund." Beruhigt folgte
Rantow dem Liebhaber; sie hatten bald das Ende der Treppe erreicht
und standen nun auf einer Art von Vorsaal; die Reinlichkeit
und Zierlichkeit, die hier herrschte, ließ ahnen, daß man sich nicht
mehr weit von Annas Gemach befinde. Zwei Türen gingen auf
diesen Vorplatz; sie wählten auf gutes Glück die nächste, pochten an —
keine Antwort. Sie pochten wieder; jetzt tat sich die zweite Türe
auf, und Anna erschien auf der Schwelle.
Sie errötete, als sie die beiden jungen Männer sah; doch als
habe dieser Besuch nichts Auffallendes an sich, lud sie dieselben durch
einen freundlichen Wink ein, näher zu treten. "Ihr kommt wohl,
um die schöne Aussicht von meinem Turm zu betrachten?" sagte sie.
"Jetzt erst fällt mir bei, daß du nie hier warst, Albert; aber so ganz
bin ich schon an diesen herrlichen Anblick gewöhnt, daß es mir nicht
einmal einfiel, dich hieher einzuladen."
12.
Das Gemach war klein, die Geräte gehörten einer früheren Zeit
an; aber dennoch war alles so freundlich und geschmackvoll geordnet,
daß Rantow, nachdem er die Aussicht geprüft, die nächsten Umgebungen
gemustert und alles recht genau angesehen hatte, dieses
Zimmer für das schönste im Schloß erklärte. Nur eine breite Kiste,
von schlechtem Holz zusammengezimmert, die auf einer Kommode
stand. schien ihm nicht mit den übrigen Gerätschaften zu harmonieren.
So ungerne er die beiden Liebenden, die, anscheinend in die Aussicht
auf das Tal hinab vertieft, eifrig zusammen flüsterten, stören
mochte, so war doch seine Neugierde, zu wissen, was der geheimnisvolle
Schrank verberge, zu groß, als daß er nicht seine Base darüber
befragt hätte.
"Bald hätte ich das Beste vergessen!" rief sie aus. "Das Bild
für Ihren Vater ist heute angekommen, Robert; ich habe es hieher
gestellt, weil mein Vater nie hieher kömmt und weil ich es doch
auch betrachten wollte." Sie rückte unter diesen Worten den Deckel
des Schrankes. Willi half ihn herabnehmen, und das Bild eines
Reiters, der auf einem wilden Pferd eine Anhöhe hinansprengt,
wurde sichtbar.
"Bonaparte!" rief Rantow, als ihm die kühnen, geistvollen
Züge aus der Leinwand entgegensprangen.
Erkennst du ihn?" fragte Anna lächelnd. "Das war der Sieger
von Italien!"
"Ich hätte nicht geglaubt, daß die Kopie so gut gelingen könnte,"
bemerkte Willi "aber wahrlich, David war ein großer Maler. Wie
edel ist diese Gestalt gehalten, wie glücklich der Einfall, diesen hochstrebenden
Mann nicht in der gebietenden Stellung eines Obergenerals,
sondern in einer Kraftäußerung aufzufassen, die einen
mächtigen Willen und doch eine so erhabene Ruhe in sich schließt."
"Ich kenne das Original," sagte Rantow, " es ist in der Galerie
zu Berlin aufgestellt, und ich finde diese Kopie trefflich; für Liebhaber
des Gegenstandes, worunter ich nicht gehöre, gewinnt dieses
Gemälde um so höheres Interesse, als die Idee dazu von Napoleon
selbst ausging. Man sagt, David habe ihn malen wollen als Helden,
den Degen in der Hand, auf dem Schlachtfelde; Bonaparte aber
erwiderte die merkwürdigen Worte: ,Nein! Mit dem Degen gewinnt
man keine Schlachten; ich will ruhig gemalt sein — auf
einem wilden Pferde."
"Dank dir für diese Anekdote," erwiderte Anna, "sie macht mir
das Bild um so lieber, und nicht wahr, Robert," setzte sie hinzu —
auch Ihr Vater soll durch seine Originalität nur noch mehr erfreut
werden."
"Anna!" unterbrach die Beschauenden eine dumpfe, wohlbekannte
Stimme. Sie sahen sich um; der alte Thierberg, auf seinen
Diener gestützt, stand mit hochrotem, zürnendem Gesicht und zitternd
vor ihnen; der General, welcher seitwärts stand, schien verlegen und
ängstlich. Aber so schnell war dieser Schreck, so groß die Furcht
Annas vor ihrem Vater und so furchtbar sein Anblick, daß sie zu
schwanken anfing, und hätte der General sie nicht unterstützt, sie
wäre in die Knie gesunken.
"Sind das die gerühmten Sitten Ihres Herrn Sohnes," wandte
sich der Alte bitter lachend zu dem General, indem er bald den Sohn.
bald den Vater ansah. "Heißt das, wie Sie mir vorzumalen suchten,
sich in den zartesten Grenzen des Anstandes halten? Herr! Wie
kommen Sie dazu, mit meiner Tochter allein auf ihrem Zimmer
zu sein ?
"Onkel —" rief Rantow, um ihn zu belehren.
"Schweig, Bursche!' antwortete ihm der zürnende Alte, indem
er immer den jungen Willi mit glühenden Blicken ansah.
"Ich denke," erwiderte dieser ruhig und mit stolzer Fassung,
"die Erziehung Ihrer Tochter und Annas Sitten müssten Ihnen
Bürge sein, daß ein Mann, selbst wenn er allein käme, sie besuchen
dürfte, vorausgesetzt, sie will ihn empfangen, und über den letzteren
Punkt steht nach allen Gesetzen der guten Sitte der jungen Dame
selbst, nicht aber Ihnen, Herr von Thierberg, die Entscheidung zu."
Diese Worte schienen seinen Eifer noch mehr zu entflammen,
er atmete tief auf; aber in diesem Augenblick trat sein Neffe mutig
dazwischen und redete ihn auf eine Weise an, die, wie ihn sein kurzer
Aufenthalt bei den Thierbergs gelehrt hatte, die Wirkung nicht verfehlen
konnte. "Herr von Thierberg," rief er bestimmt und mit
ernster Miene. "Sie haben mir vorhin zu schweigen geboten; ich
werde aber nicht schweigen, wenn man meiner Ehre zu nahe tritt.
Ich bin es gewesen, der Herrn von Willi hieher führte, ich bin es
gewesen, der ihn hier unterhielt, und er hat mich hieher begleitet,
weil ich ihn darum gebeten habe."
"Du warst zugegen?" fragte der Oheim mit etwas gemilderter
Stimme. "Aber was Teufel geht dich das Zimmer meiner Tochter
an? Was hattest du hier zu suchen?"
Mit einer theatralischen Wendung und sprechender Miene
wandte sich der Neffe gegen die Hinterwand des Zimmers, deutete
mit dem ausgestreckten Arm hin und sprach: "Hier steht, was ich
Der Alte trat mit schnelleren Schritten, als seine Krankheit
erlaubte, näher. Er betrachtete das Bild und blieb mit einem Ausruf
des Erstaunens stehen; seine trotzige Miene klärte sich auf, seine
Stirn entfaltete sich, sein blitzendes Auge schimmerte nur noch von
Rührung und Freude. "Gott im Himmel," rief er ans, indem er
das Mützchen abnahm, das er beständig trug, " wer hat mir das getan
, woher, woher habt ihr ihn? Wer hat ihn meinen Gedanken
nachgebildet? Wer hat mir diese Züge, diese Augen hier, hier aus
meinem Herzen herausgestohlen?"
Die Männer sahen sich staunend an; betreten richtete sich Anna
auf und trat näher; denn sie besorgte, ihr alter Vater rede irre.
Wer hat dieses Bild hieher gestellt?" fragte er nach einer Pause,
indem er sich umwandte, und alle sahen Tränen in seinen Augen
glänzen.
"Ich, mein Vater," sagte Anna zögernd.
"O, du gutes Kind," fuhr er fort, indem er sie in seine Arme
schloß, " wie unrecht habe ich dir vorhin getan! Als ich in dieses
Zimmer trat, glaubte ich, du habest mich tief gekränkt, und doch
hast du mich so unendlich erfreut! —Kennst du ihn, Hans?" wandte
er sich an seinen Diener. "Kennst du ihn nicht wieder?"
"Gott straf' mich, er ist's!" erwiderte der alte Reitknecht. "Solche
schreckliche Augen machte er gegen die fünf Buschklepper, die uns
auszogen. O, das war ein braver Herr!"
Die, welche den Herrn und seinen Diener so sprechen hörten,
konnten sich von ihrem Staunen kaum erholen; sie sahen sich lächelnd
an, als ahnten sie eine sonderbare Fügung des Geschicks, als sei ein
schweres Gewitter segnend über ihnen hinweggezogen. Der General
aber, der bald Anna, bald das Bild mit blitzenden Augen betrachtet
hatte, trat näher heran und fragte den alten Thierberg, wen er denn
in diesem Bilde wiedererkennen
"Das ist derselbe treffliche Kapitän," antwortete er, "der mich
am Fuß des St. Bernhard aus der Gewalt ruchloser Soldaten errettete;
wie? Er ist derselbe, von welchem ich Ihnen so oft erzählte,
das Muster eines braven Mannes, eines gebildeten und klugen
Soldaten."
"Nun, so bitte ich Sie," fuhr der General mit inniger Rührung
fort, indem auch ihm eine Träne im Auge schwamm, "ich bitte Sie
im Namen dieses Mannes, den ich auch kannte, Sie mögen ihm
vergeben, wenn er nachher anders handelte, als Sie damals dachten!"
"Wie: Sie haben ihn gekannt?" rief der Alte dringend, indem
er die Hand des Generals faßte. "Wer war er? Wie heißt er? Lebt
er noch ?"
"Er ist tot — seinen Namen kannte die Welt — dieser Mann
hier ist —"
"Nun?" drängte der Alte den General, dem die Stimme zu
brechen schien. "Wer? Doch nicht —"
"Dieser Mann," rief der General mit einem feurigen Blick auf
das Gemälde, "dieser Mann war — Napoleon Bonaparte,
der Kaiser der Franzosen!"
Der Alte setzte seine Mütze auf; er drückte die Augen zu, und
in seinem Gesichte kämpfte Unmut mit Rührung. Doch als er nach
einer Weile das Bild wieder ansah, schien er es nicht über sich zu
vermögen, dem stolzen Reiter gram zu werden. "Du also," sprach
er zu ihm, "du warst dieser — kühne Mann? Das war also deine
Meinung? Du hast mir mein Kleid, meinen Hut und meine Börse
zurückgegeben, um mir nachher mein alles zu raubens"
"Vater," sagte Anna schmeichelnd, "wie glücklich waren Sie aber
dennoch! Der erste Mann des Jahrhunderts hat so traulich zu
Ihnen gesprochen."
"Ja, das haben wir," erwiderte der Alte lächelnd und nicht ohne
Stolz; "recht freundlich haben wir uns unterhalten, ich und er, und
er schien Gefallen an mir zu finden. Ich habe nicht gehört, daß der
erste Konsul sich je gegen einen so offen ausgesprochen hätte wie
damals gegen mich. ,Frankreich wird nicht mehr lange ohne König
sein,' waren seine eigenen Worte. Du hast es erfüllt, kleiner Schelm!
—Ha! Und gerade so sah er aus, so warf er noch einmal den stolzen
Kopf herüber, als er sein Roß den Berg hinantrieb und die Feldmusik
des Regimentes herüberklang. General Willi — es war doch
ein großer Geist!"
"Gewiß!" sagte der General freudig gerührt, indem er dem
Alten die Hand drückte. "Aber wie kam nur dieses Bild hieher zu
Ihnen, Anna?"
"Darf ich es verschweigen, Robert?" antwortete sie. "Nein,
er hat es ja doch schon gesehen. Ihr Sohn wollte Sie an Ihrem
Geburtstag damit überraschen, und ich erlaubte, daß das Bild einstweilen
hier aufgestellt würde."
Der alte Thierberg hatte aufmerksam zugehört; er schien überrascht
und ging auf den jungen Willi zu, dem er seine Hand bot.
"Junger Mann," sagte er, "ich habe Ihnen vorhin bitter unrecht
getan; ich sehe jetzt, daß Sie ein schönerer Zweck auf dieses Zimmer
führte, als ich anfangs dachte; werden Sie mir meine übereilten
Worte, meine Hitze vergeben?"
Robert errötete. "Gewiß, Herr von Thierberg," antwortete er;
und wenn Sie noch zehnmal heftiger gewesen wären, so konnten
Sie mich zwar kränken, aber niemals beleidigen; es ist hier nichts
zu vergeben."
"Wirklich?" erwiderte der alte Herr sehr freundlich. "Und,
wenn ich fragen darf — wo haben Sie das Bild gekauft? Könnte
man nicht sich auch ein Exemplar verschaffen? Ich möchte doch
den gans capitaine, meinen Kapitän, in meinem Zimmer
haben."
"Wie ich meinen Vater kenne," sagte der junge Mann, "so wird
er dieses Bild vielleicht noch lieber in Ihrem Hause als in dem
seinigen sehen. Ich bitte, erlauben Sie, daß ich es dort aufhänge."
"Sie machen mir ein großes Geschenk, lieber Robert," sagte
Thierberg. "Wohin ist es mit unseren Gesinnungen gekommen?
Ich glaube, wir denken im Grunde gleich über diesen Bonaparte,
und doch sind Sie es, der mir ihn anbietet, und mir macht es Freude,
ihn anzunehmen. Ich habe wenige Bilder, aber einige alte, gute;
suchen Sie sich etwas aus, nehmen Sie dafür aus meinem Schloß,
was Sie wollen!"
"Halt!" rief der General. "Bei diesem Handel bin ich auch beteiligt
; ich kenne den unglücklichen Geschmack meines Sohnes und
weiß, wie wenig er auf alte Bilder hält; wollen sie ihm nicht ein
jüngeres dafür geben? Thierberg, vor diesem Bilde, das nun
auch für Sie von Bedeutung ist, wiederhole ich meine Werbung:
Ihre Anna um diesen Napoleon!
Der alte Herr war betreten; er warf verlegene Blicke auf die
Umstehenden; endlich haftete sein Auge auf Davids Gemälde. "Du
hast viel verschuldet," sprach er, "Europas alte Ordnung hast du
umgeworfen, und nun nach deinem Tode willst du dich in meine
Haushaltung mischens
"Herr Baron," sagte der alte Hans mit gerührter Stimme,
nehmen Sie es einem alten Diener nicht ungnädig auf! Aber wissen
Sie noch, was Sie zu dem braven Kapitän sagten, und was Sie
mir oft erzählt haben? Monsieur, haben Sie gesagt, wenn Sie einst
durch Schwaben kommen und in unsere Gegend, so vergessen Sie
nicht, auf Thierberg einzusprechen, daß Sie mich nicht zu Ihrem
ewigen Schuldner machen."
Herr von Thierberg aber strich sich nachdenklich mit der Hand
über die Stirne, warf noch einen zögernden Blick auf das Bild und
führte dann Anna zu Robert Willi. "Nimm sie hin!" sagte er fest
und ernst. "Ich habe es nicht tun wollen; aber vielleicht war es gut,
daß dies alles so kommen mußte. Nimm sie hin!"
Mit großer Rührung umarmte der General den alten Mann,
und indem Robert überrascht und selig seine Braut, wir wissen nicht;
ob zum erstenmal, an seine Lippen druckte, schüttelte der Gast aus
der Mark, um nicht ganz teilnahmlos zu erscheinen, dem alten Diener
herzlich die Hand. Albert hatte nachher erzählt, daß er in jenem
feierlichen Augenblick, trotz seines inneren Widerstrebens, gut napoleonisch
gesinnt gewesen sei und zum erstenmal in seinem Leben jene
Macht und Überlegenheit gefühlt und anerkannt habe, die jener
große Geist auf die Gemüter zu üben pflegte.
Er erzählte auch, daß der alte Thierberg jenen sonderbaren
Tausch niemals bereut habe; er fand in seinem Schwiegersohne
Eigenschaften, die er ihm nie zugetraut hatte; und als er ihn bei
der Verwaltung der Güter seines Vaters mit Rat und Tat unterstützte
, lebte er im Glücke seiner Kinder die Tage seiner eigenen
Jugend wieder.