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INHALT
ZUR EINFÜHRUNG 5
MÄRCHEN AUS FRANKREICH
Die drei Zaubergaben 13
Der Soldat aus Paris 16
Vierzehn 17
Das kleine Rotkäppchen 19
Der gestiefelte Kater 20
Klein Flöhchen und Klein Läuschen 23
Die armen Seelen 25
Peronnik der Einfältige 30
Aschenbrödel oder das kleine Glaspantöffelchen 43
Ewenn Congar 48
Die Zauberdinge und die wunderbaren Früchte 56
Der Drache und die schöne Florine 63
Vom kleinen Mann Sapperlot 67
Der goldene Stern 73
Der Zaubervogel 75
Der Tänzer unserer lieben Frau 81
Die Schlange mit dem Diamanten 84
Das Waldkind 90
Jochen Ohnefurcht 93
Die beiden Buckligen 103
Die törichten Wünsche 109
Das Fräulein mit der langen Nase 117
Die Schöne und das Tier 124
Hans der Bär 134
Blaubart (Erste Version) 149
Blaubart (Zweite Version) 152
Der kleine Däumling (Erste Version) 154
Der kleine Däumling (Zweite Version) 157
Die Feen 159
Der blaue Vogel 161
Der Orangenbaum und die Biene 173
Ricdin-Ricdon 180
Der Mann aus Eisen 186
Der Meisterdieb 191
Tartari -Barbari 200
Der Mann in allen Farben 201
Das Teufelswirtshaus 209
Die Mutter des heiligen Petrus 212
Die steinerne Suppe 213
MÄRCHEN AUS DEN NIEDERLANDEN
Jan Vettegraf 219
Die drei Schwestern 222
Lange Wapper 223
Die Meerjungfer aus der Lombardei 228
Warum Wasser und Feuer sich bekämpfen 228
Mutter und Koren 229
Der rollende Pfannkuchen 231
Däumling und die zwölf Räuber 233
Warum die dicken Bohnen eine Kerbe haben 235
Der Kluge und der Dumme 236
Von dem Bauern, der mit Lügen eine Königstochter gewann 237
Die Sprache der Tiere 238
Von einem Esel, der Bürgermeister wurde 241
Warum die Schwalben fortziehen und die Hähne einander nachkrähen 243
Böse Griet und Peetje Mekrul 244
Die Schwanenjungfer vom gläsernen Berg 246
Warum die Kabauter nicht mehr zu den Menschen kommen 249
Vom schlauen Barbier und der schönen, stolzen Königstochter 251
Warum die Schiffer an der Höllenpforte angehalten werden 258
Das Männlein Elend 258
Vom Bauer Besen, Bauer Blatt und Bauer Eisen 262
Die schmutzige Liese 264
Jaakske mit der Flöte 268
Der Wahrsager Grille 268
MÄRCHEN AUS DER SCHWEIZ
Die Ziege des Schmiedes 272
Der Hahn und die Henne 277
Reinhold das Wunderkind 280
Die zwei Brüder und die Hexen 290
Dolmetsch 292
Der Teufel und die Frau 293
Der Geist, der den Barbier spielt 295
Der kleine Hirt ohne Hemd 304
Die Geschichte von den drei Hunden 304
Das Kloster Sankt Gallen 309
Das Märchen von Cuonz und Cuonzessa311
Die Geisterküche 316


Bd-09-003_Titel Einleitung. Flip

Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker



Bd-09-004_Titel Einleitung. Flip

Nach alten Vorlagen unter Heranziehung
von Texten in französischer Sprache,
die von Ursula Rauch übersetzt wurden.
ausgewählt und mit einer Einführung versehen von Karl Rauch.
          Illustrationen: Eva Raupp-Schliemann
Lizenzausgabe mit Genehmigung von Interbooks, Zürich
         für Verlag Olde Hansen, Hamburg
für Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, Gütersloh
die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart
und die Buchgemeinschaft Donauland, Kremayr &Scheriau, Wien
   Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buchgemeinschaft
C. A. Koch's Verlag Nachf., Berlin - Darmstadt -Wien
Schutzumschlag und Einbandgestaltung: R. Metke
Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh
            Printed in Germany Buch-Nr. 8688


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ZUR EINFÜHRUNG

In seiner »Reise nach Frankreich« schrieb Friedrich Schlegel im Jahre 1803: »Eine Eigenschaft des französischen Charakters ist unstreitig die heitere Laune. Sie muß einem Fremden auf einer Reise in den Provinzen, durch größtenteils fruchtbare Gegenden in der schönsten Jahreszeit, um so angenehmer auffallen, da sie sich durch alle Stände, Alter und Geschlechter erstreckt. Die eigentümliche Höflichkeit des gemeinen Mannes vollendet das Ganze dieser Erscheinung . . Nach dem Gefühl der Gegenwart ist er ganz gewiß unter die beglücktesten Bewohner der Erde zu rechnen.« Fast alle unsere heutigen Landsleute werden dieser vor reichlich i so Jahren geäußerten Meinung des großen Landsmannes Goethes ohne Vorbehalt und mit Vergnügen zustimmen. Es lebt sich unverkennbar auch heute wohl angenehm und vergnüglich im Lande unsres westlichen Nachbarn. »Wie der Herrgott selber lebt man in Frankreich«, ist bei uns ständige Redensart - wenn nicht gerade im deutschen Norden, so doch gewiß in Süddeutschland und auf der anderen Rheinseite.

Der Herausgeber hat Frankreich selbst schon als junger Mann während des Ersten Weltkrieges kennengelernt und Land und Volk dort hinter den Kampflinien von Herzen liebgewonnen, er hat auch noch am Zweiten Weltkrieg teilnehmen müssen und jede sich bietende Gelegenheit auf den Boulevards von Paris und weitum auf dem Lande genutzt, sich mit Jungen und Alten gern zu unterhalten und gesprächsweise auszutauschen. Er hat sich dort auf Zetteln und in kleinen Heften schon als Zwanzigjähriger mit Vorliebe Märchen aufgeschrieben, die er erzählen hörte. Neuerdings hat er diese privaten »Kriegsmitbringsel« insgeheim wieder mal vorgekramt und sich der solange gehüteten, alten Vertrautheiten gefreut. Erst vor wenigen Jahren ist auf diese Weise ein im Verlag Herder in Freiburg erschienenes Sammelbändchen »Der Zaubervogel - Märchen aus Frankreich« erwachsen, und eine Reihe dieser entzückenden Märchen aus dem Poitou, aus der Auvergne, der



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Provence und der Gascogne, von der Charente, aus dem Anjou, dem Limousin, dem Berry und aus Lothringen und der Bretagne bot sich unmittelbar zur Aufnahme in diesen Band 9 unserer »Märchen der europäischen Völker« an. Eine kleine Auslese nach von Lisa Tetzner stammenden Nacherzählungen französischer und bretonischer Märchen wurde ergänzend beigefügt. Alle hier zu einem bunten Wiesenstrauß munter vereinten Märchen wurden bewußt nicht eigens nach Landschaften geordnet. Sie wurden absichtlich nicht regional rubriziert und systematisiert, sondern sollen unbefangen als Sendboten und Schmetterlingsgrüße das ganze Frankreich in einer Art von kostbarem Blütenstaub vertreten.

Der uns nahestehenden, sehr lobenswerten und bereits im Gesamtemführungsaufsatz unseres Bandes »Von den europäischen Volksmärchen« genannten Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker sei ausdrücklich gedankt für die gütige Erlaubnis, im Anschluß an den Nachdruck eines griechischen Märchens in unserem Band 8 nun auch in diesem Frankreichband die je zwei Varianten der Märchen »Blaubart« und »Der kleine Däumling« nachzudrucken, die diese Gesellschaft erstmals in dem Band 2 der von ihr herausgegebenen, unveröffentlichten Quellen »Märchen der europäischen Völker«(Verlag Aschendorff, Münster i.W.) mit Beigabe französischer Originale publiziert hat.

Wir zitieren auch gern die dort gegebenen Anmerkungen zum »Blaubart«: »Diese erste Version ist am 21. 9. 1942 in La Buratière, einem Weiler, der an Le Coudrais in der Gemeinde Monsireigne (Vendée) grenzt, aufgenommen worden. Die Erzählerin, Marie Groleau, 65 Jahre, stammt aus Mouchamps, wo sie 45 Jahre in dem Weiler Pagerie gelebt hat. Von Jugend auf war sie Kuhhüterin, bevor sie einen Landarbeiter heiratete. Sie hat ihre Märchen von ihrer Großmutter.« Zur zweiten Version des »Blaubart«wird vermerkt: »Sie ist am 15. 9. 1942 in Coudrais, einem Weiler in der Gemeinde Monsireigne (Vendée), aufgenommen worden. Die Erzählerin, Philomène Morisset, 72 Jahre, hat diese Erzählung von den Alten des Dorfes. Vor ihrer Heirat war Philomüne schon frühzeitig Magd und Kuhhüterin. —>Wetze stumpfes Messer (ayuse couteau goudrille)< — in den rhythmisch geordneten Wendungen sind archaische Wörter enthalten, die sowohl von der Erzählerin als auch von den Zuhörern nicht mehr richtig verstanden werden (>aiguise< = wetze, >goudrille< bezeichnet eine schlechte, stumpfe Messerklinge). Beim Vortrag des Dialogs wiederholen die Kinder im Chor diesen Refrain, dessen genauen Sinn sie nicht erfassen.



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>Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier sind.<Wenn man Philomène fragt, was das bedeutet, antwortet sie: >Ich weiß es nicht: das heißt so.<Dieser unverständliche Satz, der ständig wiederholt wird, stammt sicher aus einer Vermischung von zwei oder drei Wendungen, wie der Vergleich mit der Version des >Blaubart< von Marie Groleau zeigt:

Version von Marie Groleau (3 verschiedene Formeln):

a) Ich sehe den staubigen Wald, und die Erde dröhnt.

b) Ich sehe Staub, der näher kommt, der sehr schnell näher kommt.

c) Ich sehe zwei Reiter, die näher kommen, die sehr schnell näher kommen.

Version von Philomène Morisset (eine einzige Formel):

Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier sind (wahrscheinlich Verschmelzung von 2 oder 3 Formeln):

a) Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet (>&anti<interpretiert in dem Sinn von >der sich ausbreitet<) oder auch:

b) Ich sehe nur Staub (und die Erde) dröhnt = retentit = &antl.

c) Ich sehe (zwei Reiter), die noch sehr weit, sehr weit von hier sind.

Das Wort >&anti<hat weder im Patois noch im Französischen irgendeine Bedeutung. Es wird für den Reim gebraucht oder vielmehr für die Assonanz auf -i, die dieses ganze Stück kennzeichnet (ne vois-tu rien veni/sur le chemin de Paris usw.).

Die archaischen und schlecht zu verstehenden Wendungen haben oft einen poetischen Wert.«

Zum Märchen »Der kleine Däumling«besagen die Anmerkungen bei Version eins:

»Dieses Märchen stammt aus der Sammlung von A. de Félice, Une conteuse et chanteuse berrichone: Euphrasie Pichon, mit der Maschine geschriebenes Manuskript, das sich in den Archiven des Musce national des arts et traditions populaires befindet. >Der kleine Däumling<wurde 1943 in Baraize (Indre) bei Euphrasie Pichon aufgezeichnet, die damals 8o Jahre alt war. Zu dieser Zeit wurden dort Aufzeichnungen gemacht. Bemerkungen zu dem Vortrag der Erzählerin:

Zwei immer wiederkehrende Formeln heben sich von dem Hintergrund der Erzählung ab:



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i. die Worte des kleinen Däumling im Bauch des Ochsen,

2. die Warnung an die Hirtinnen.

Wenn seine Mutter ihn ruft: >Oh, kleiner Däumling! . . . Oh, kleiner Däumling!<, antwortet der Held der Erzählung mit sehr lauter Kopfstimme: >Ich bin im Bauch des Ochsen Guivet!<Guivet oder Guivé bedeutet >aschgrau<(lat. gilvus). Es ist einer der herkömmlichen Namen, die die Zugochsen im Berry haben.

Die Warnung an die Hirtinnen wird mit sehr klarer Stimme gesprochen.

Bemerkung zur Intonation: Das Wort >Virez< wird in rufendem Ton ausgesprochen, und zwar eine Note höher als die folgenden Worte der Formel.

Später, wenn die Erzählerin den kleinen Däumling eingreifen läßt, der, unter seinem Stein versteckt, die mit dem Zählen der Beute beschäftigten Diebe mit dem Ruf unterbricht: Und . . . mein . . . Teil?, spricht sie in einem sehr hohen Ton.«

Zur zweiten Version wird als Quelle notiert: »Diese Geschichte wurde im Juli 1943 erzählt von Madame Valerie Auclair (43 Jahre), Bäuerin in Dol, einem Weiler der Gemeinde Chambon-sur-Voueize (Creuse).«

In der historischen Rückschau wäre anzumerken, daß im ganzen Frankreich vor der großen Revolution nirgends geachtet worden ist, was das Volk gemeinhin sich unter sich erzählte. Dort liefen von Mund zu Mund, ohne daß Leute von Stand, von Herrschaft und gar etwa von Adel oder aus Kreisen des Hofes sich auch nur darum kümmerten, alte, überkommene Geschichten und Abenteuer und Schwänke um. Dort hörten die Dienstmagd oder der Bauernbursche, was Mutter und Ahne erzählten, lauschten der wundersamen Mär und, wenn einer ein gutes Gedächtnis besaß, prägte er sich's ein und gab's weiter. Haus- und Kindermärchen galten dem gebildeten Frankreich des 17. und i 8. Jahrhunderts gleich nichts, sie erschienen gerade gut genug fürs gemeine Volk —für Kuhhüterin und Gänsemädchen. Vieles an alten Heiligenlegenden war lebendig geblieben. Späße und Foppereien, Hänseleien von Dorf zu Dorf, von einer Landschaft zur andern erfreuten sich allseitiger Beliebtheit. Dorftrottel, Dummriane und närrische Frauen erbten sich in der Erinnerung von Geschlecht zu Geschlecht weiter. Grausige Züge treten häufig auf.

Die französischen Rotkäppchen-Varianten sind meist barbarischer als die rechtsrheinischen. Daß der gräßliche Wolf die alte Großmutter nicht nur auffrißt, sondern dem kleinen Mädchen auch noch von deren



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Fleisch zu essen, von ihrem Blut zu trinken gibt, erweckt rein kannibalische Vorstellungen. Möglicherweise handelt es sich da um Einschübe, die alten nordischen und keltischen Mythen entlehnt sind. Die abstoßende Grausigkeit hat auch Ähnlichkeit mit Details aus dem »Blaubart«. Charles Perrault nutzt in seiner drastischen Moralisierung gerade dieses Märchen zur Belehrung ängstlicher Kinder, nur ja der Mutter zu folgen, immer brav und gehorsam zu sein. Solche Belehrung bevorzugt der Hof autor Ludwigs des Vierzehnten mit Vorliebe. Viele seiner »Contes de la mère l'oie« waren ähnlicher pädagogischer Absichten voll. Es verrät sich darin nebenher die Überheblichkeit der feinen Herrschaften der Rokokozeit gegenüber der robusten Gesundheit, mit der das Volk auf den Dörfern zu leben und zu denken pflegte. Gezierte Damen der gleichen Epoche überschwemmten Frankreich mit dem Flitter und Tand der auch den Kitsch nicht scheuenden Feenmärchen, und daneben brachte eine erste abendländische Übersetzung von Tausendundeine Nacht (in Frankreich erstmals 1704) die Fülle alles orientalischen Zaubers. Arabische, persische, indische, chinesische, türkische Märchen kamen in Mode - gut das ganze 18. Jahrhundert hindurch -, und sie wurden reichlich imitiert. Sie alle füllen die Hefte des »Cabinet des Fées« und der sehr populären Bände der »Bibliothèque bleue«, die durch Wanderreisende, später durch Kolporteure noch zu Anfang unseres Jahrhunderts von Dorf zu Dorf bis ins abgelegenste Nest gebracht wurden.

Die Revolution brachte bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit ihrem gewaltigen sozialen Umschwung und der Aufklärung spürbare Wandlungen. Ossian wurde entdeckt... ihm folgte die deutsche Romantik -ihre ersten Einflüsse nach Frankreich bewirkte der junge Herder während seiner Straßburger Jahre. Die Grimmschen Märchen sind schon ein Jahr nach Erscheinen ins Französische übersetzt worden. Doch ist man seltsamerweise, während norwegische, dänische, polnische, baltische, russische und auch ungarische Volkskundler bald schon den Beispielen Herders und der beiden Brüder Grimm gefolgt sind, in Frankreich allein bei Perrault geblieben. Erst etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts begeben sich dort eigenstämmige Märchenforscher ans Werk. Nach Cénac-Moncauts »Contes populaires de la Gasgogne«, den »Contes populaires de la Bourgogne« und ähnlichen provinziellen Sammlungen beginnt die Blüte der französischen Märchenerschließung erst um 1870 herum mit den »Contes bretons« von Luzel und der eifrigen Forschungsarbeit des bewundernswerten Sébillot. In seinen »Contes populaires de Lorraine« zeigt sich durch aufhellende



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Kommentare nach der Mitte der achtziger Jahre, also geraume Zeit nach dem Kriege Frankreichs mit Preußen-Deutschland, Emmanuel Cosquin als ein ausgezeichneter Kenner der mündlichen folkloristischen Überlieferung weit über den französischen Raum hinaus.

Eine Art »goldene Ära« der französischen Märchenforschung begann und hat in Verbindung mit keltischen Forschungen weit in den Ersten Weltkrieg hinein Funde um Funde zutage gebracht. Seit dem Jahre 1946 bestehen in Frankreich von Staats wegen unterstützte Einrichtungen zur Erforschung des französischen Volksmärchens. Sie halten gute Kontakte mit der internationalen Forschung, natürlich auch mit deutschen Gruppen. Der uralte Zauberwald Merlins, der Wald von Broceliande, von dem in alten Tagen Chretien de Troyes gesungen hat, wird auch heute noch bei Paimpont in der Bretagne verschwiegenen Wanderern von Einheimischen gezeigt -in seiner immer noch geheimnisvollen Einsamkeit. Ludwig von Pigenot, der ihn im Jahre 1936 aufsuchte, berichtet viele Absonderlichkeiten und endet mit den Sätzen: »Zwischen Laubwald, Fichten und Föhren erheben sich hohe Stechpalmen mit großen, roten leuchtenden Früchten! Bei Sonnenuntergang scheint der Wald sich in ein mächtiges Flammenmeer zu verwandeln.«

Von Frankreich nordwärts und westlich ins Lothringische, Luxemburgische und Belgische hinein mischen sich im Volke französische Märchen weithin mit solchen alemannischer und deutscher (germanischer) Herkunft. In Holland und in Belgien hat man zwischen wallonischen und flämischen Beeinflussungen zu unterscheiden. Unser Band bringt unter der Abteilung »Märchen der Niederlande«eine Anzahl typischer flämischer Märchen, deren bäurisch-seemännische Derbheit und Schläue allein schon in der Mundart meist sehr erheitert. Der Großteil davon ist dem Heftchen »Flämische Märchen« entnommen, die Karl Jacobs kurz nach Abschluß des Zweiten Weltkriegs für den Verlag für Jugend und Volk in Wien zusammenstellte.

Aus dem Märchenschatz des viersprachigen Landes zwischen Alpen und Bodensee, der freien Schweiz, haben wir erlesene Stücke rätoromanischer Bauernmärchen gewählt. Sie sind dem verdienten, weit über die Schweiz hinaus bekannten Märchenforscher Prof. Leza Uffer in Chur zu danken und mit dessen gütiger Erlaubnis dem von ihm herausgegebenen Bändchen »Rätoromanische Märchen und ihre Erzähler« entnommen, das von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (G. Krebs Verlagsbuchhandlung A. G., Basel) verlegt worden ist. Aus



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dem einfühlsamen Vorwort Prof. Uffers, das diesem gehaltvollen Band vorangestellt wurde, geben wir einige Abschnitte wieder, die genaue Einblicke in heute noch wirksame und fruchtbare Märchenforschung in diesem vielbereisten Land Europas vermitteln:

»Das Erzählen im Volke geht leider immer mehr verloren. Einstimmig bezeugen alle Erzähler, daß früher weit mehr Interesse für Geschichten zu finden war und auch viel, viel mehr erzählt wurde. Die >erzählende Dorfgemeinschaft< ist heute fast im hintersten Bergtal untergegangen. An ihre Stelle tritt seit Jahren die Zeitung und in neuester Zeit immer mehr der Rundfunk. Das Aussterben der >erzählenden Dorfgemeinschaft< wurde in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Umwälzungen bedingt. Wie die Bezeichnungen für manches Werkzeug und manchen Arbeitsvorgang des Handwerkes verlorengingen, weil das Werkzeug als Träger des Namens durch eine Maschine ersetzt wurde, so gingen die Arbeitsvorgänge, die eine Gelegenheit zum Erzählen boten, verloren.

Wie steht es nun mit der soziologischen Funktion des Erzählens? Wem wird erzählt? Wann und wo wird erzählt? Bei was für Gelegenheiten wird erzählt und was ist der Zweck des Erzählens? Wenn wir feststellen, daß heute kaum mehr erzählt wird, so ergibt sich daraus die Tatsache, daß die folgenden Beobachtungen einen früheren Zustand schildern. Was hier gesagt wird, mag in seltenen Fällen noch zutreffen, im allgemeinen aber liegen die Dinge wohl fünfzig Jahre zurück. Kindern ist wahrscheinlich immer erzählt worden; auch meine Gewährsleute hatten und haben teilweise heute noch Kinder als Zuhörer. Noch um die Jahrhundertwende wurde viel Erwachsenen erzählt. An den abendlichen Zusammenkünften, an denen Märchen und Sagen zum besten gegeben wurden, trafen sich meist nur Männer.

Der Zweck des Erzählens scheint in unseren Gegenden vorwiegend die Unterhaltung, der Zeitvertreib gewesen zu sein. Wohl nur das Erzählen für die Kinder will neben der Unterhaltung noch belehren. Die Antwort auf die Frage nach dem Zweck gibt uns zugleich Aufschluß über das Wo und das Wann des Erzählens. Im allgemeinen wurde nur am Feierabend erzählt. Man traf sich in Stuben oder Ställen. Seltener wurde an Sonntagen erzählt. Am meisten wurde, soweit man sich zurückzuerinnern vermag, in den Maiensäßen erzählt, und zwar mehr als im Frühjahr im Spätherbst, wenn es schwerer hielt, die immer länger werdenden Abende auszufüllen. Das Erzählen am Feierabend lebt dort heute noch, allerdings immer seltener werdend, weiter. Das Erzählen als Begleiterscheinung bei gewissen gemeinsam verrichteten Arbeiten



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aber ist wohl kaum mehr anzutreffen. Früher wurde im Herbst, beim Ausschälen der Maiskolben erzählt. Das Brechen des Hanfes wurde noch vor etwa fünfzig Jahren im Surmeir von den Frauen einer Nachbarschaft gemeinsam in irgendeinem geräumigen Stall ausgeführt. Bei dieser gemeinsam verrichteten Arbeit wurde gesungen und hauptsächlich erzählt. Dann und wann wurde auch in den Spinnstuben erzählt. Das übereinstimmende Zeugnis aller Gewährsleute beweist, daß früher im Dorfe die Freizeit in einem viel größeren Ausmaße als heute gemeinschaftlich verbracht wurde. Alle über vierzig Jahre alten Leute in Sursees z.B. erinnern sich an frühere Erzähler. Ein Tona Sonder (gen. Tona da Burvagn), gest. um 1900, erzählte Abend für Abend in den >aclas<und zu Hause. In Tinizong starb anfangs des Jahrhunderts ein Gion Mareia Tumaschign (Thomasin), ebenfalls ein berühmter Erzähler. Ein Sohn des Peder Wazzö berichtet, daß Gion Mareia in der acla >Pensa< (Val d'Err) mit dem Titel >La storgia da Fioravanti< eine Geschichte erzählte, die zwei lange Abende ausfüllte. Alle zwei Jahre teilte er dieses Märchen mit. Wie lange sich das gemeinschaftliche Erzählen in den Maiensäßen und Alphütten während der Frühjahrsund Sommermonate wohl noch halten kann? Vielleicht, daß es dort noch lange Heimatrecht genießen darf. Die Pflege des Erzählens ist, soweit unsere Erfahrungen zeigen, nicht in erster Linie Sache der ganzen Dorfgemeinschaft, sondern Aufgabe bestimmter Familien. Jene Menschen und jene Familien, die Sinn und Überlieferung dafür haben, müssen diese älteste und glücklichste Art der Unterhaltung retten. Die Beispiele von Zarn und Spinas beweisen, daß die Gabe des Erzählens nur einigen wenigen begnadeten Menschen gegeben ist, die sie ererbt haben und die vielleicht berufen sind, ihre Talente und Fähigkeiten dem jüngeren Geschlechte weiterzugeben. Wenn aber im Volke und besonders in den Kinderseelen die Freude am Geschichtenhören nicht erhalten und vermehrt wird, muß der Erzähler vereinsamen, denn die Märchen und Sagen und alle Wesen in ihnen werden erst lebendig und beseelt, wenn die Begeisterung für diese ganze Zauberwelt aus dem Herzen des Erzählers hinüberschlägt in die Seelen der Zuhörer.« Das von uns aufgenommene rätoromanische Märchen »Reinhold das Wunderkind« zeigt deutliche Anklänge an »Die Chronika der drei Schwestern« des alten thüringischen Märchenerzählers Musäus, von dessen Schriften der Band i unserer Reihe handelt.

K. R.



Bd-09-013_Maerchen aus Frankreich . Flip


MÄRCHEN AUS FRANKREICH


Die drei Zaubergaben

Es war einmal ein Mann, der hieß Hanspeter. Er hatte viele Kinder und mußte hart für sie arbeiten, um nur den nötigsten Lebensunterhalt zu verdienen. Eines Tages begegnete ihm ein alter Bettler. »Gib mir ein Almosen«, bat er. Mitleidig, wie Hanspeter war, gab er dem Armen seinen letzten Groschen. Aus Dankbarkeit schenkte ihm jener eine Bohne, so groß, wie er noch nie eine gesehen hatte. »Pflanze sie in die warme Asche deines Herdes!« riet er ihm. Und als Hanspeter heimgekommen war, pflanzte er die Bohne in die Herdasche. Augenblicklich begann sie zu keimen, wuchs und wuchs und schlang sich rings um den Herd, stieg am Kamin empor, überragte die Kappe des Schornsteines und erhob sich allmählich dick wie ein Baum bis in den Himmel hinauf. Als es Winter geworden war, konnte Hanspeter nichts mehr für seine Kinder verdienen, und da versuchte er an seiner Bohnenranke in den Himmel hinaufzuklettern, um dort oben Hilfe zu suchen. Er kam an das Tor des Paradieses. »Poch, poch!« »Wer ist draußen?«fragte ihn St. Peter. »Hanspeter, der eine Schar Kinder hat und nicht weiß, wovon er sie ernähren soll. Habt Ihr einen Rat für mich?« »Du bist ein braver Mann, ich kenne dich. Nimm hier das Tischtuch und lege es daheim auf den Tisch. Dann sage nur: Bring mir Gekochtes, Gebratenes, Süßes, Kaffee und Schnaps dazu!« »Danke dir, heiliger Petrus.« Die Speisen kamen wirklich im Überfluß, wie es St. Peter vorausgesagt hatte, und die Kinder stopften sich die Mäuler voll wie nie zuvor; und alle Tage begann er von neuem.

Eines Tages, als Hanspeter in der Schenke saß, um ein Bier zu trinken, fragte die Wirtin ihn: »Du hast sicherlich einen Schatz gefunden, denn du siehst wohl und rund aus zum Platzen.« — »Habe ich auch«, lachte Hanspeter und erzählte der Wirtin alles. Er gab ihr gar noch das Tischtuch in die Hand und merkte gar nicht, daß die gerissene Wirtin im Handumdrehen das Tuch vertauschte. Als er es nun wieder auf den Tisch legte, weil sie hungrig waren, mochte er noch so viel sagen:



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»Komm Gebratenes, Gekochtes, Süßes, Kaffee und ein Schnäpschen dazu.« Rein gar nichts kam, aber auch kein Brotsämlein. Traurig kletterte er zum zweitenmal an seiner Bohnenranke zum Himmelstor. »Poch, poch.« »Wer ist draußen?« »Hanspeter, der eine so große Schar Kinder hat und Euch fragen möchte, wie er sie ernähren soll.« St. Peter erkannte ihn gleich. »Du bist ein Tor«, rief er. »Ich ahne es schon, du warst im Wirtshaus und hast alles verloren. Aber ich will dir noch einmal helfen. Diesmal nimm den Esel, welcher Goldstücke scheißt. Wenn du in Not bist, so breite nur unter ihm ein Bettuch aus, mich aber laß hinfort in Ruhe.« — »Dank dir, St. Petrus!« Und als Hanspeter nach Hause kam, versuchte er St. Peters Ratschlag und bekam so viele Goldstücke, daß er sich das Scheffelmaß von der Wirtin ausleihen mußte, um sie zu messen, denn er wollte sich doch nicht lange mit Zählen quälen. Wie er es aber zurückbrachte und die Wirtin sich ihr Maß ansah, da fragte sie: »Zum Teufel, Hanspeter, was ist auch schon wieder mit dir? Mißt du oft solches Korn?« und sie holte ein Goldstück hervor, das im Scheffelmaß hängengeblieben war. Hanspeter erzählte ihr wiederum alles. Da lachte sie vor Freude und wollte es nicht glauben. »Hol deinen Goldesel her, ich zahl' dir Schnaps und Kaffee, und du mußt ihn dafür in der Stube Gold scheißen lassen.«

»Mit Vergnügen, Frau Nachbarin!« und der Hanspeter lief nur so und brachte seinen Esel in der Wirtin gute Stube. Aber je mehr Kaffee und Schnaps der Hanspeter trank, um so müder wurde er, bis er schlafend unter dem Tisch lag. Da führte die Wirtin den Esel in ihren Stall und stellte einen der ihren an seine Stelle. Hanspeter war wieder angeschmiert, und anstatt Gold gab dieser Esel nur Eselsdreck von sich. Obgleich es ihm St. Peter verboten hatte, stieg der geprellte Arme nochmals an seiner Bohnenranke in die Höhe und klopfte ans Paradies. »Poch, poch.« — »Wer ist draußen?« —»Hanspeter, schilt ihn nicht. Er weiß wieder nicht, wovon er seine Kinder ernähren soll.« — »Schon wieder da? Daran merke ich gleich, daß du abermals im Wirtshaus warst. Hoffentlich weißt du jetzt, daß die Frauen gerissener sind als du. Ich will dir noch einmal etwas geben, aber es ist das letzte Mal. Wenn du wiederkommst, öffne ich nicht mehr. Da die Wirtin dein Tischtuch und deinen Esel vertauscht hat, nimm jetzt den Stock und geh beides zurückverlangen. Will sie dir dein Eigentum nicht zurückgeben, so sage nur: >Knüppel, tu deine Pflicht!< und dann erlebe selber, was geschieht.« »Dank dir, heiliger Petrus.«

Kaum war Hanspeter unten angekommen, so lief er gleich mit seinem Knüppel zur Wirtin. »Jetzt sollst du erst das rechte Wunder erleben«,



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sagte er. »Gib mir mein Tischtuch und meinen Esel zurück.« — »Ich habe nichts von dir.« —»Was sagst du, du hast nichts von mir?« —»Nein doch, tausendmal nein.« — »Ich zähle bis drei - eins, zwei, drei.« — »Nein und nochmals nein.« — »Also dann, Knüppel, tu deine Pflicht.« Und da begann der Knüppel zu tanzen und zu springen und tanzte seinen Tanz auf der Hinterseite der Wirtin. »Hanspeter, halte deinen Stock fest!« —»Gib mir mein Eigentum!« —»Ich habe nichts.« —»Knüppel, dann tu deine Pflicht!« Und weiter, immer weiter verbläute der Knüppel die Hinterseite der Wirtin. Als die Wirtin nicht mehr japsen konnte, wimmerte sie: »Hanspeter, so halte den Stock fest, damit ich dein Eigentum holen kann!« Und mit ihrer letzten Kraft holte sie beides herbei. Von da an lebte Hanspeter mit seinen Kindern glücklich und in Frieden und nichts, aber rein gar nichts fehlte ihm mehr.


Der Soldat aus Paris

Es war einmal ein Soldat, welcher seinen Dienst verlassen hatte; er bat eine alte Frau, ihn für die Nacht zu beherbergen, und sie tat es gern. Am andern Morgen fragte sie ihn, woher er käme. »Von Paris, gute Frau«, antwortete er. Die gute Frau verstand aber »vom Paradies«, und so rief sie erfreut: »Vom Paradies? Habt Ihr meinen guten Mann gesehen?« »Wie heißt er denn?« »Hans, wie Ihr.« »Ja, gute Frau, er ist im Paradies und er hat dort eine Schenke.« »Ist er reich?« »Nicht sehr. Er muß den Apfelwein literweise verkaufen, um eine neue Tonne zu kaufen. Er besitzt nicht einmal ein Hemd. Sobald ein Eisenbahnzug kommt, macht er den Gepäckträger.« »Eisenbahn?«fragte die Frau erstaunt. »Gibt es denn im Paradies eine Eisenbahn?« »Ja, gute Frau, und Pferde und Wagen. Morgen früh werde ich dorthin zurückkehren.« »Würdet Ihr wohl meinem guten Mann Hemden und Geld mitnehmen?« »Das will ich gern«, sagte der Soldat, und sie gab ihm ein Dutzend neuer Hemden und eintausendfünfhundert Franken und noch fünfzehn Franken obendrein für die Besorgung. Sobald der Soldat fort war, kam der Sohn der guten Frau, welcher Priester war, heimgeritten. Seine Mutter sprach zu ihm: »Mein lieber Junge, wenn du nur ein wenig früher gekommen wärst, hättest du einen Mann gesehen, der gradewegs aus dem Paradies kam. Er war deinem Vater begegnet, welcher leider gar nicht reich ist, er hat eine Schenke und keine Hemden mehr. Ich habe dem Mann Hemden und Geld gegeben, damit er es ihm mitnimmt.« »Wie ist der Mann gekleidet?«fragte der Priester. »Als Soldat.«



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Sofort stieg der Priester zu Pferde und verfolgte den Soldaten, um ihm Geld und Hemden wieder abzunehmen. Am Rand eines Waldes erblickte er einen Mann, der dürre Reiser sammelte. Es war der Soldat, aber er hatte sein Kleid gewechselt und sich einen Schnurrbart umgehängt.

»Habt Ihr keinen Soldaten hier gesehen?« fragte ihn der Priester. »Doch«, antwortete der Mann. »Es lief soeben einer vorbei. Er muß dort hinten noch zwischen den Bäumen sein.« Da der Priester nicht zwischen den Bäumen reiten konnte, bat er den Mann: »Haltet mein Pferd, ich gebe Euch ein gutes Trinkgeld, wenn ich zurückkomme.« Darauf eilte er in den Wald hinein, um den Soldaten zu suchen. Der Soldat aber kehrte sein Gewand um, stieg zu Pferd und enteilte in vollem Galopp. Als sich der Priester umwandte, erkannte er sein Pferd und rief dem Soldaten zu, er solle halten. Aber der Soldat hörte nicht darauf, peitschte sein Roß und trieb es zu noch schnellerem Lauf an. Als der Priester zu Fuß wieder zu Hause ankam, sagte seine Mutter zu ihm: »Was hast du mit dem Pferd gemacht?« »Ach«, erwiderte er, »ich habe es dem Soldaten gegeben, damit er schneller ins Paradies kommt.«


Vierzehn

Eine Frau, die vor langer Zeit lebte -wie mir meine Großmutter erzählt hat, die es selbst von ihrer Großmutter wußte -, ging nicht mit steifen Händen an die Arbeit. Sie hatte in weniger als zehn Jahren ihrer Ehe dreizehn Kinder gehabt, dann war sie weitere zehn Jahre ohne Kinder geblieben, und sie glaubte schon, daß es nun genug sei des Guten, da kam sie eines Tages mit einem Schlingel nieder, der war groß und stark wie der Teufel. Die gute Frau hatte alle Kalenderheiligen erschöpft, um ihren ersten dreizehn Kindern Namen zu geben, und da sie nicht wußte, wie sie den letzten nennen sollte, entschloß sie sich, ihn »Vierzehn« zu taufen, und zwar auf den Rat einer alten Fee, die man zur Taufe eingeladen hatte. »Es genügt doch nicht, ihm den Namen Vierzehn zu geben, gute Fee«, hatte die Mutter gesagt, »er braucht auch noch die Kraft von vierzehn Männern.« »Das ist richtig«, erwiderte die Fee. »Ich wünsche, daß er die Kraft von vierzehn mal vierzehn Männern erhalte.«Was die Fee gewünscht hatte, war eingetroffen: Vierzehn hatte eine außergewöhnliche Körperkraft erhalten.

Die gute Frau, seine Mutter, starb schließlich, und Vierzehn verließ das Dorf, um eine Rundreise durch Frankreich zu machen. Er schlug den



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ersten besten Weg ein und gelangte in das Haus eines Müllers, den er um Arbeit als Knecht bat. Der Müller nahm ihn an und beauftragte den neuen Ankömmling, zwei Maulesel zu nehmen und in das Nachbardorf zu gehen, um mehrere Sack Korn zu holen. Anstatt zu tun, was ihm sein Herr befohlen hatte, ließ Vierzehn die Maulesel daheim, ging allein ins Dorf und trug die Kornsäcke in die Mühle. Der Müller traute seinen Augen nicht, doch mußte er sich schließlich vom Augenschein überzeugen lassen und sparte nicht mit Lob für seinen kräftigen Knecht.

Am folgenden Morgen rief der Müller Vierzehn zu sich und sprach: »Du wirst einen Pflug und zwei Pferde nehmen und auf meinen Acker gehen.« »Ihr könnt die Pferde im Stall lassen, Meister, ich werde allein Euren Acker umpflügen; schickt nur jemanden mit, der mir zeigt, wo er liegt.« Vierzehn ging ins Feld, und nach einer Stunde hatte er alle Ackerstücke des Müllers, seines Herrn, umgepflügt. Bei seiner Rückkehr gab es neues Lob.

Am nächsten Tage sollte Vierzehn mit den anderen Knechten ins Holz gehen, das ziemlich weit entfernt war, um dort große Bäume umzuschlagen, die sie auf einen großen Wagen laden und in die Mühle bringen sollten. Die Knechte gingen in aller Frühe fort und machten sich sogleich ans Werk. Vierzehn wachte erst spät auf und ging ganz gemütlich in den Wald. Dort angekommen, nahm er seine Axt, und im Handumdrehen hatte er zwei von den dicksten Bäumen umgehauen. Die Knechte waren außer sich vor Verwunderung. Vierzehn lud die beiden Eichen auf seinen Wagen und kehrte zur Mühle zurück. Aber unterwegs war ein dicker Baum umgefallen und versperrte den Weg. Ohne eine Miene zu verziehen, beugte sich der starke Knecht unter den Wagen und hob ihn über das Hindernis hinweg. »Schon zurück?«sagte der Müller zu ihm. »Ja, Herr, und ich habe sogar die beiden Bäume umgeschlagen, ehe ich sie auf meinen Wagen aufgelegt habe.« »Das ist unmöglich!« »O nein, es ist alles so, wie ich es Euch sage!«

Gegen Mittag kamen die Knechte zurück und verlangten weitere Pferde, um einen Baum wegzuschaffen, der die Straße versperrte. Der Müller jagte sie alle zum Teufel und behielt nur Vierzehn. Aber die Knechte suchten den Teufel wirklich auf, um ihn zu beauftragen, für sie an Vierzehn Rache zu nehmen. »Was wollt ihr?« sagte der Teufel zu ihnen. »Wir wollen uns an einem gewissen Vierzehn rächen, einer Art Herkules, der Knecht ist beim Müller von Famechon.« »Und wie das?«»Ihr sollt ihn ohne Unterlaß peinigen und gewaltig durchbläuen, wenn Ihr Lust dazu habt.« »Gut, Ihr könnt auf mich rechnen. Adieu!«



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Und der Teufel suchte Vierzehn auf, stritt mit ihm und versuchte ihn zu prügeln. Der Bursche verteidigte sich mit gewaltigen Faustschlägen, aber der Teufel wäre seines Gegners doch fast Herr geworden, wenn nicht Vierzehn eine Flasche Weihwasser ergriffen und diese dem armen Teufel ins Gesicht geschüttet hätte, worauf sich letzterer ganz erschreckt davonmachte und schwur, sich niemals wieder mit diesem Burschen einzulassen. Vom Teufel befreit, blieb Vierzehn in Ruhe beim Müller, dessen Tochter er heiratete. Er bekam zahlreiche Kinder und lebte glücklich und zufrieden.


Das kleine Rotkäppchen

Es war einmal ein kleines Mädchen, welches man das Rotkäppchen nannte. Seine Mutter gab ihm ein Körbchen, legte einen Topf Butter und einen Kuchen hinein und sagte zu ihm: »Mein Liebling, bring das deiner Groß!«

Das kleine Rotkäppchen begegnete unterwegs dem Wolf, welcher zu ihm sprach: »Kleine, wohin gehst du?« —»Ich gehe zu meiner Groß und bringe ihr einen Topf Butter und einen Kuchen.« —»Und welchen Weg schlägst du ein, den Weg der Steinchen oder den Weg der Nädelchen?« »Den der Nädelchen, ich möchte einige auflesen.« — »Aber dein Korb wird dich stören. Gib ihn mir, ich will ihn tragen; ich gehe den Steinchenweg, wir treffen uns an der Tür deiner Groß wieder.«

So gab das kleine Rotkäppchen dem Wolf seinen Korb, und dieser beeilte sich, zuerst anzukommen. Als er am Haus der Großmutter war, klopfte er. »Poch, poch.« »Wer ist da?« fragte die Großmutter. »Ich bin's, deine kleine Enkelin. Ich bringe dir einen Topf Butter und einen Kuchen.«»Oh, das ist schön. Drücke auf die Klinke und stelle alles auf den Tisch.« Daraufhin trat der Wolf ein, stürzte sich auf die Groß und verschlang sie. Als er satt war, legte er das, was von ihr übriggeblieben war, in den Schrank, und das Blut stellte er in einer Schüssel auf den Tisch. Dann setzte er die Mütze der Alten auf und legte sich in ihr Bett. Nun klopfte das arme kleine Rotkäppchen an. »Poch, poch.« — »Wer ist da?« —»Ich, deine Enkelin. Ich bringe dir Nädelchen.« —»Gut, drück auf die Klinke und leg sie auf den Tisch.« — »Ich hatte dir auch einen Topf Butter und einen Kuchen gebracht, Großmutter, aber ich bin dem Wolf begegnet; der hat mir meinen Korb abverlangt, und ich gab ihn hin, aus Angst, gefressen zu werden.« — »Da hast du sehr recht daran getan, mein Liebling.« »Ach, Groß, ich habe jetzt argen Hunger.« —



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»Da! Offne den Schrank, darin findest du Fleisch. Iß davon!« Und während die Kleine von dem Fleische aß, sagte der Wolf: »Oh, oh, die Kleine ißt das Fleisch, das Fleisch ihrer Groß. Die Kleine ißt das Fleisch ihrer Großmutter. Das Fleisch ihrer Groß.« —»Was redest du da, Groß, daß ich dein Fleisch esse?« —»Nein, nein, ich sagte nur, du solltest dich beeilen und endlich ins Bett kommen.« —»Ach, Großmutter, ich habe auch so argen Durst.« »So trink aus dieser Schüssel mit Wein, die auf dem Tisch steht.« Während sie trank, sagte der Wolf: »Oh, oh, die Kleine trinkt das Blut ihrer Großmutter. Das Blut ihrer Groß.« —»Was sagst du da, Großmutter, daß ich dein Blut trinke?«»Nein, nein, mein Liebling. Ich sagte: nun bin ich bald hundert Jahre alt.« —»Großmutter, ich bin so müde.« »Dann lege dich endlich zu mir ins Bett und schlafe.« Als Rotkäppchen im Bett lag, fragte es: »Oh, Großmutter, was hast du für lange Haare an den Beinen?« — »Das kommt vom Alter, mein Kind.« —»Mein Gott, Großmutter, und was hast du für lange Ohren?« »Damit ich dich besser hören kann.« —»Und was hast du für eine lange Nase?« — »Damit ich dich besser riechen kann.« »Und was hast du für leuchtende Augen?« »Damit ich dich besser sehen kann, mein Kind.« — »Mein Gott, Groß, und was hast du für lange Zähne?« — »Damit ich dich besser fressen kann, mein Kind.« Und happ, verschlang es der Wolf.


Der gestiefelte Kater

Ein Müller hatte drei Söhne, und als er starb, hinterließ er seinen Söhnen seine Mühle, seinen Esel und seinen Kater. Das war alles, mehr hatte er nicht. Die Teilung war bald vollzogen, da brauchten sich weder der Notar noch der Testamentsvollstrecker den Kopf zerbrechen, weil dabei nichts zu verdienen war, bekam der älteste Sohn die Mühle, der zweite den Esel und der jüngste den Kater. Der war darob recht traurig und klagte: »Meine Brüder werden sich ihr Brot ehrlich verdienen können, wenn sie ihren Besitz gut zusammenhalten, wenn ich aber meinen Kater verspeist habe, so bleibt mir nichts als sein Pelz, und der gibt höchstens noch ein Paar Puiswärmer.« Der Kater hatte die Worte wohl verstanden, er tat zwar nicht dergleichen und fühlte sich weder gekränkt noch zornig, sondern er sagte mit ernster Miene: »Guter Herr, sorgt Euch nicht um die Zukunft. Gebt mir lediglich einen Sack, laßt mir ein Paar Stiefel machen, mit denen ich durchs Gestrüpp laufen kann, und dann werdet Ihr noch erleben, daß Euer Anteil gar nicht so



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kläglich ist, wie Ihr glaubt.«Obwohl sein Herr sich nicht viel von den Worten des Katers versprach, kannte er immerhin seine Geschicklichkeit beim Mäusefangen - er hatte selber erlebt, daß er sich, vor dem Mehlsack liegend, tot stellte oder sich sogar mit den Beinen nach oben im Gebälk aufhängte. Jedenfalls wollte er noch nicht alle Hoffnung aufgeben und verschaffte dem Kater, um was er bat. Dieser zog sofort die Stiefel an, warf sich den Sack um den Hals und hielt die Schnüre mit seinen Vorderpfoten fest. Dann begab er sich nach dem Karnickelberg, steckte Kleie in seinen Sack und legte sich-zu Boden. So wartete er, ob ein in den Ränken dieser Welt noch unerfahrenes Kaninchen in den Sack schlüpfen würde, um das zu fressen, was er so verlockend hineingesteckt hatte. Schneller, als er erhofft hatte, wurde sein Wunsch erfüllt.

Ein junger Kaninchenleichtfuß, der nicht auf die Lehren seiner Mutter hören wollte, kroch in den Sack, der Kater zog rasch die Schnüre zu, packte es und tötete es erbarmungslos. Dann stolzierte er mit seiner Beute an den Königshof und verlangte den König zu sprechen. Man gewährte ihm Eintritt, und kaum hatte er den König erblickt, machte er eine tiefe Verbeugung und sprach: »Allergnädigster Herr, der Marquis von Carabas, mein Gebieter (er hielt es für vorteilhaft, dem Müllerssohn diesen Namen zu geben), schickt ein Kaninchen vom Karnikkelberg.

»Sagt Eurem Herrn, daß ich ihm danke«, erwiderte der König. Das nächste Mal versteckte sich der Kater in einem Kornfeld und fing auf die gleiche Weise Rebhühner, und genauso wie mit dem Kaninchen vom Karnickelberg überbrachte er auch sie dem König. Mit Vergnügen nahm dieser sie an und ließ dem Kater dafür ein königliches Trinkgeld reichen. So ging das nun zwei, drei Monate lang.

Eines Tages hatte der Kater erfahren, daß der König mit seiner Tochter am Flußufer entlang eine Spazierfahrt machen wollte. Nun sagte er zu seinem Herrn: »Wenn Ihr meinem Rat folgen wollt, so ist Euer Glück gemacht. Ihr braucht nur an einer Stelle im Fluß, die ich Euch zeigen werde, zu baden, das übrige überlaßt mir.« Der Marquis von Carabas tat, wie sein Kater ihm geheißen hatte, noch ohne zu wissen, wozu ihm das dienen sollte. Während er badete, fuhr der König vorüber, und der Kater begann aus Leibeskräften zu schreien: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Marquis von Carabas ertrinkt!« Auf dieses Geschrei hin steckte der König seinen Kopf aus dem Kutschenschlag und erkannte den Kater, der ihm so oft Wildbret gebracht hatte. Er befahl seiner Leibwache, dem Marquis von Carabas unverzüglich Hilfe zu leisten.



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Der Kater aber trat zur Kutsche und berichtete dem König, während sein Herr gebadet, hätten Diebe seine Kleider mitgenommen, obwohl er aus Leibeskräften geschrien habe. (Der Schelm hatte sie unter einen Stein versteckt, denn sie waren zu ärmlich, um das Auge des Königs zu erblicken.) Der König befahl nun seinen Dienern, jenem Marquis von Carabas, der ihm so zahlreiche Aufmerksamkeiten erwiesen hatte, Kleider aus seinem Schrank zu bringen; und da jener in diesen prächtigen Kleidern sehr schön und stattlich aussah, denn er war ohnehin jung und wohl gewachsen, so gefiel er der Königstochter, und kaum hatte er ihr einige ehrerbietige, aber doch zärtliche Blicke zugeworfen, so war sie schon heftig verliebt in ihn. Der König lud ihn ein, in seine Kutsche zu steigen, um mit ihnen spazierenzufahren. Der Kater, der sah, daß sein Plan gelang, war entzückt darüber und lief rasch voraus. Unterwegs traf er Bauern, welche eine Wiese mähten, und sprach zu ihnen: »Ihr guten Leute, die ihr da mäht, wenn ihr dem König nicht sagt, daß eure Wiese dem Marquis von Carabas gehört, so werdet ihr kurz und klein gehackt wie Pastetenfleisch.«

Der König fragte auch wirklich, neugierig von Natur aus, wem die fette Wiese wohl gehöre, die sie da mähten. »Dem Herrn Marquis von Carabas«, riefen alle aus einem Munde, denn der Kater hatte ihnen Furcht eingejagt. »Ihr habt schöne Wiesen, Herr Marquis«, sagte der König. »Sehr wohl, gnädiger Herr.« Der Kater aber lief voraus, traf Schnitter und sprach zu ihnen: »Ihr guten Leute, wenn ihr nicht sagt, daß alle eure Felder dem Marquis von Carabas gehören, so werdet ihr kurz und klein gehackt wie Pastetenfleisch.«Wenige Minuten später wollte der König wissen, wem die Felder gehörten. »Dem Marquis von Carabas«, schrien sie alle, und der König freute sich darüber. Der Kater lief immer weiter voraus und er sagte allen, die er traf, das gleiche, so daß der König allgemach erstaunte über die reichen Besitztümer des Marquis von Carabas.

Indessen war der Kater an ein prächtiges Schloß gelangt. Leider gehörte es einem Menschenfresser, und das war einigermaßen erschreckend. Aber es war das reichste und schönste Schloß, das man jemals gesehen hatte; auch alle die Ländereien gehörten dem Menschenfresser. Der Kater hatte sich genau erkundigt, welcher Art der Menschenfresser wohl sei und was für besondere Künste er verstünde. Er verlangte nun mit ihm zu reden. »Denn«, so sagte er, indem er sich tief verneigte, »ich habe nicht vorübergehen wollen, ohne dem hohen Herrn und Künstler meine Aufwartung zu machen.« Der Menschenfresser empfing ihn so freundlich, wie Menschenfresser einen nur empfangen können, und bat



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ihn, Platz zu nehmen. »Man versicherte mir«, sagte der Kater, »Ihr könntet Euch in jedes beliebige Tier verwandeln, sogar in einen Löwen oder einen Elefanten.« »Das ist wahr«, brummte der Menschenfresser, höchst zufrieden damit, daß sein Ruf bis zu dem Kater gedrungen war. »Ich werde es Euch sofort beweisen.« Der Kater war so erschrocken, als gleich darauf ein brüllender Löwe vor ihm stand, daß er die Dachrinne hinauf kletterte. Nicht ohne Mühe und Gefahr, denn seine Stiefel paßten nicht dazu. Kaum hatte der Menschenfresser seine richtige Gestalt wieder angelegt, kam er herab und tat, als sei er in großer Furcht gewesen. »Man hat mir auch versichert, Ihr könntet Euch in das kleinste Tier verwandeln, sogar in eine Maus. Doch das glaube ich nun und nimmer. Es ist bestimmt unmöglich.« »Unmöglich?« entgegnete der Menschenfresser, »Ihr sollt es gleich sehen.« Aber kaum hatte er sich in eine Maus verwandelt und begann auf dem Fußboden herumzulaufen, da stürzte sich der Kater darauf und fraß die Maus auf. Unterdessen war der König an dem Schloß angekommen, und der Kater lief sofort hinaus und hieß ihn willkommen auf dem Schloß des Marquis von Carabas. »Wie?« rief der König, »dieses Schloß gehört Euch? Laßt es uns sofort besichtigen.«Der Marquis reichte der jungen Prinzessin die Hand, und so betraten sie den Speisesaal, in welchem sie ein herrliches Mahl vorfanden, das der Menschenfresser für sich und seine Freunde hatte richten lassen. Des Königs Entzücken kannte keine Grenzen mehr, und als er fünf bis sechs Glas getrunken und die herrlichsten Pasteten verspeist hatte, sagte er: »Herr Marquis, es hängt nur von Euch ab, mein Schwiegersohn zu werden.«

Der Marquis von Carabas verbeugte sich tief und vermählte sich bald darauf mit der Prinzessin, die ebenso glücklich wie er darüber war. Der Kater wurde ein großer Herr und sprang nur noch zum Vergnügen den Mäusen nach.


Klein Flöhchen und Klein Läuschen

Klein Flöhchen ging eines Tages aus, um sein Korn in die Mühle zu tragen. Er ließ seine Frau Klein Läuschen allein zu Hause. »Nimm dich wohl in acht, daß du nicht in den Kochtopf fällst!«sagte er, als er fortging. »Fürchte nichts, Klein Flöhchen, ich werde mich wohl hüten hineinzufallen, wenn ich den Topf abschäume.«Als ihr Gatte fort war, begann Klein Läuschen sauber das Haus zu kehren, das Geschirr zu spülen und das Gemüse zu lesen. Dann ging sie daran, den Topf abzuschäumen.



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Sie nahm also den Schaumlöffel, stieg auf einen Stuhl, glitt aus und fiel in den Kochtopf. »Au, auh«, schrie sie. >Das ist Klein Läuschen, nun ist sie doch in den Kochtopf gefallen<, dachte Klein Flöhchen, der gerade von der Mühle zurückkam, als er das Geschrei hörte. >Geschwind, geschwind, ich muß ihr zu Hilfe eilen<, und er kam auch so rasch es nur ging zu Hause an, aber da war es schon zu spät. Klein Läuschen war tot, gerade als Klein Flöhchen ins Haus trat. »Meine Frau ist tot, meine Frau ist tot«, jammerte Klein Flöhchen. »Ich will aus dem Hause gehen, weil meine Frau tot ist!«

»Was hast du, Klein Flöhchen?«fragte der Tisch. »Klein Läuschen ist tot, und ich gehe aus dem Haus.« »Ach, Klein Läuschen ist tot«, klagte der Tisch. »Ich enttische mich und folge dir.« Der Tisch und Klein Flöhchen gingen an der Backmulde vorbei. »Was hast du, Klein Flöhchen, daß du so weinst?«fragte die Mulde. »Klein Läuschen ist tot, ich gehe aus dem Haus, und mein Gefährte enttischte sich.« »Ach, Klein Läuschen ist tot, dann entmulde ich mich und folge euch nach.«

Man ging bei der Tür vorbei. »Wo geht ihr hin?«fragte diese. »Klein Läuschen ist tot, Klein Flöhchen geht aus dem Haus, der Tisch enttischte sich und die Backmulde entmuldete sich.« »Und ich entangle mich«, fügte die Tür hinzu. Ein Baum stand in der Nähe. »Wohin gehst du, Klein Flöhchen?« »Meine Frau ist tot, ich gehe aus dem Hause, der Tisch enttischte sich, die Mulde entmuldete sich und die Tür entangelte sich.« »Und ich entwurzele mich.«

Klein Flöhchen, der Tisch, die Mulde, die Tür und der Baum gingen an einer guten Frau vorüber, die Wasser aus einem Brunnen schöpfte. »Wohin gehst du, Klein Flöhchen?«fragte sie. »Klein Läuschen ist tot, ich gehe aus dem Hause. Der Tisch enttischte sich, die Backmulde entmuldete sich, die Tür entangelte sich und der Baum entwurzelte sich.« »Ach, wenn Klein Läuschen tot ist, so zerbreche ich meine beiden Krüge und folge euch nach.« Die Frau zerbrach die beiden Krüge, das Wasser floß ungetrunken davon, und Klein Flöhchen, der Tisch, die Backmulde, die Tür, der Baum und die Alte gingen davon und kamen niemals wieder.


Die armen Seelen

Vor langen Zeiten lebte einmal ein junges Mädchen mit Namen Isabeau. Sie hatte ihre Mutter verloren, und ihr Vater hatte sich alsbald mit einer anderen Frau verheiratet, aber diese Frau war häßlich und



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böse. So häßlich war sie, daß die anderen Dorfleute sich abwandten, um sie nicht ansehen zu müssen, wenn sie vorüberging. Doch das war nicht das schlimmste. Die Stiefmutter konnte Isabeau nicht leiden und tat ihr Böses an, wo sie nur konnte. Isabeaus verstorbene Mutter hatte ihre Tochter mit einem jungen Burschen des Dorfes verlobt. Peter, so hieß der Bursche, war tüchtig und fleißig und am Morgen der erste bei der Arbeit. Die böse Stiefmutter verbot Peter das Haus und schloß die Stieftochter ein, damit diese Peter nicht treffen konnte. Doch weil sich die beiden so von Herzen liebten, trafen sie sich nach dem Abendläuten hinter dem Gartenzaun; aber kaum standen sie beisammen, so kam schon die alte Stiefmutter mit dem Prügel bewaffnet, und wenn Peter davoneilte, so faßte sie dafür Isabeau und schlug sie ohne Erbarmen.

Als die arme Isabeau so blau und grün geschlagen war, beschloß sie, nicht nach Hause zurückzukehren, wo sie nur noch mehr Prügel erwarteten, sondern sie ging in den Abend hinein und immer geradeaus. Endlich gelangte sie an eine große Heide, und weil sie müde und vor Tränen und Kummer krank war, setzte sie sich an einen Felsblock, schloß die Augen und schlief ein. Wie sie nach einer Zeit wieder erwachte, stand der Mond am Himmel und die Eule schrie im nahen Wald, so daß Isabeau erschrak. Am Himmel flogen Sternschnuppen, und sie wußte gar wohl, daß das die Seelen der Toten sind, die in die andere Welt fliegen. So still und einsam war es auf der Heide, und das arme Mädchen fürchtete sich. Sie hörte es im Dorf hinter dem Wald Mitternacht schlagen, und plötzlich, sie traute ihren Augen nicht, begann die ganze Heide zu zittern und zu beben, und hinter jedem Stein und jedem Heidebusch schlüpften seltsame unheimliche, gelbe, glänzende Wesen hervor, mit großem Kopf, langen Bärten oder alten, verrunzelten Gesichtern. Unter jedem Kiesel kamen sie hervor, so daß zuletzt die ganze Heide von ihnen wimmelte, und schließlich begannen sie zu tanzen und zu singen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen«, immer das gleiche. Doch plötzlich bemerkten sie Isabeau und kamen auf sie zu.

»O du Menschenkind«, riefen sie, »komm, tanze mit uns, tanze mit uns und singe mit uns.« — »Ihr singt ja immer dasselbe«, rief Isabeau. »So hilf uns etwas Besseres singen, denn wir sind verdammte arme Seelen und müssen so lange auf Erden sein, bis wir unseren Wohigesang zu Ehren Gottes vollendet haben. Schon viele hundert Jahre suchen wir nach einem neuen Vers und können keinen finden. Hilf uns, hilf uns!« Da bedachte sich Isabeau nicht lange, ergriff eine der armen Seelen bei



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der Hand und sang mit ihnen: »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn.«

Kaum hatte sie das gesungen, so begannen die armen Seelen wie toll zu tanzen und zu wirbeln und wiederholten, was Isabeau gesagt hatte. Ja, sie baten sie: »Fahre fort, fahre fort, Isabeau.« Aber Isabeau war so müde, daß sie sagte: »Nein, heute nicht, doch ich werde wiederkommen und euren Lobgesang vollenden.« Da trat eine der armen Seelen auf Isabeau zu und sprach: »Um dir für deine Wohltat zu danken, gewähren wir dir eine Bitte.« »Dann wünsche ich mir nur das eine, meine Stiefmutter soll fortgehen müssen, wenn ich meinen Peter treffen will.« »Nimm diesen Ring«, antwortete die arme Seele, »und jedesmal, wenn du ihn am Finger drehst, wird deine Stiefmutter gezwungen sein, Kohl zu zählen, und sie wird so lange dazu brauchen, als du willst.«

Rasch eilte Isabeau heim, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie auf den Hof kam. Sie erkannte auch gleich ihren Peter, der aus Sehnsucht nach ihr um den Hof strich. Kaum hatte die Stiefmutter die beiden gewahrt, so lief sie mit dem Stock in der Hand auf sie zu. Aber Isabeau drehte rasch den Ring an ihrer Hand, und da ließ die Stiefmutter den Stock fallen, rannte in ihr Kohlfeld und begann den Kohl zu zählen, und wenn sie damit fertig war, fing sie von neuem an. Von nun an kam Peter sehr oft, und jedesmal schickte Isabeau ihre Stiefmutter Kohl zählen. Schließlich aber, was geschah? Der Peter bekam es satt, so oft zu Isabeau zu gehen, zumal sie immer verweinte Augen hatte von den vielen Schlägen, die die Stiefmutter ihr dann am Abend gab. Deshalb kam Peter nicht mehr, sondern ging mit Miete, einem anderen Nachbarmädel, auf den Tanz. Das betrübte die arme Isabeau sehr, und sie gedachte, den armen Seelen den Ring zurückzubringen, da er ihr ja nur Kummer gebracht hatte. Sie wartete, bis die Dunkelheit kam, dann schlich sie sich heimlich aus dem Haus und lief in die Heide. Es war fast Mitternacht, und sie sah auch alsbald unter den Steinen und aus den Büschen die armen Seelen hervorkriechen, die sie gleich umringten und baten: »Oh, da ist das Menschenkind wieder, komm, tanze und singe mit uns und hilf uns den Lobgesang vollenden.«»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen, loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn«, sangen sie und schauten sehnsüchtig nach Isabeau; »der die Welt erlösen wird«, fuhr Isabeau fort. Und nun war des Jubels kein Ende, und die armen Seelen tanzten, bis der Morgen kam. Wie aber der erste Strahl der Morgenröte aufstieg, da trat wieder eine der armen Seelen zu Isabeau und sprach: »Was wünscht du dir heute, sage es.«

»Ich gebe euch den Ring zurück, er hat mir nur Kummer gebracht.



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Peter findet ein anderes Mädchen schöner als mich. Ich möchte aber so schön sein, daß er nur mich liebt und daß alle mich lieben.«

Da trat eine arme Seele vor, hob ein Halsband unter einem Stein auf und band es Isabeau um. »Nun bist du schöner als der junge Tag, und kein Mensch kann dir widerstehen. Aber jetzt wirst du uns vergessen, und wir können unseren Lobgesang nicht vollenden.«»Nein, ich werde euch nicht vergessen, ehe der Tag viermal aufsteigt, komme ich zu euch zurück.

Isabeau aber beeilte sich und lief nach Hause, doch in der Eile verirrte sie sich und kam an einen Bauernhof, da trat sie zu den Knechten und fragte sie: »Zeigt mir den Weg nach Hause.« Doch kaum hatten sie die Knechte bemerkt, so ließen sie alle Arbeit liegen und traten bewundernd näher. »Wie bist du schön, mein Gott, wie bist du schön!« Der eine wollte sie heimtragen, der andere -fahren, der dritte bat sie, immer hierzubleiben, und schließlich konnte sich Isabeau kaum mehr bewegen, so dicht standen die Burschen und Männer um sie herum. Nur die Frau des Hofes, die kam und wollte das fremde Mädchen vor Eifersucht schlagen und trieb sie vom Hofe. Endlich gelangte Isabeau heim, und auch hier blieben alle bewundernd stehen, und als sie Peter bemerkte, kam auch er näher und staunte, und Isabeau freute sich, daß Peter wieder zu ihr kam. Aber nicht lange danach kam die böse Stiefmutter, und wie sie das schöne Halsband sah, riß sie es der armen Isabeau vom Hals und legte es an ihren eigenen Hals, und obwohl sie alt und runzlig blieb und ihr Kopf wackelte, drängten jetzt alle Männer zu ihr und drückten und stießen sie und bewunderten sie; da merkte die Alte schließlich, daß das Halsband schuld sei, und weil sie an den Rand des Brunnens gedrückt worden war, so riß sie es sich vom Halse und warf es in den Brunnen. Und nun lachten alle die Burschen und Männer über die Frau, und um sich an Isabeau zu rächen, schlug die Alte das arme Mädchen zum Abend grün und blau. Peter aber schalt auch mit ihr, sie liefe nachts in der Welt umher und zöge alle Burschen hinter sich nach, und er wolle auch nichts mehr von ihr wissen, denn er heirate jetzt ein Mädchen, das reicher sei als sie.

>Ach<, dachte die arme Isabeau, >wie töricht habe ich doch gewünscht! Hätte ich doch lieber Reichtum verlangt! Noch heute nacht will ich zu den armen Seelen gehen.<

Und in der Nacht, als alle schliefen, schlich sich Isabeau davon und ging in die nächtliche, einsame Heide. Dort warteten schon die armen Seelen auf sie und nahmen sie bei der Hand. »Fahr fort, Isabeau, fahr fort, damit wir unseren Lobgesang beenden können.« Und sie begannen zu



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singen und zu tanzen. »Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn, der die Welt erlösen wird.« — »Die Guten wir die Bösen«, fuhr Isabeau fort. Und kaum hatte sie das gesungen, so wußten die armen Seelen sich vor Freude nicht mehr zu lassen, sie hüpften und sprangen, die ganze Heide bebte. »Du hast uns erlöst«, riefen sie, »und nun dürfen wir in die ewige Seligkeit eingehen; erbitte von uns, was du magst, es ist dir gewährt.« »Um die Liebe meines Peters zu besitzen, möchte ich reich sein«, rief Isabeau. »Das ist dir gewährt, du sollst reich sein, reicher als der König!« Und eine der armen Seelen berührte Isabeaus Hand, mit dünner Stimme sagte sie: »Menschenkind, jede einzelne Träne von dir soll ein Diamant und eine Perle von großem Wert sein.« Doch eine andere Seele trat auf sie zu uns sagte: »Nimm auch diese kleine Nadel, und solange du die bei dir hast, wird dein Peter nur dich und keine andere lieben! Leb wohl!« Kaum hatte sie das gesagt, stieg die erste Morgenröte auf, die armen Seelen erhoben sich plötzlich wie ein dünner Nebel in die Luft und stiegen in den Morgenhimmel und verschwanden.

Isabeau aber kehrte nach Hause zurück, und kaum trat sie ins Haus, so stürzte auch schon die Stiefmutter auf sie zu und überhäufte sie mit Schmähreden und begann sie zu schlagen. Doch als jetzt Isabeau zu weinen begann, verwandelten sich ihre Tränen in Perlen und Diamanten. Kaum gewahrte das die böse Stiefmutter, so begann sie wie unsinnig auf das arme Mädchen einzuschlagen. »Weine doch, du Unselige, weine mehr!« schrie sie und brachte Eimer und Schüsseln, um den unermeßlichen Reichtum aufzusammeln. Alle Kisten und Kasten waren schon voll Perlen und Edelsteinen. In diesem Augenblick ging Peter vorüber und fühlte sich angezogen durch die Nadel der steten Liebe, welche das junge Mädchen besaß. Er trat in das Haus, und ohne die Reichtümer, die er mit Füßen trat, zu beachten, erblickte er nur eines: seine Verlobte grausam geschlagen von der Stiefmutter. Von Unmut ergriffen, stürzte er sich auf diese, packte sie bei der Gurgel und hielt sie fest, aber die Alte rief ihm zu: »Schlag sie doch, Peter, schlag sie doch, sie weint ja Perlen.« Peter hielt sie immer noch fest, und rasend vor Zorn, daß sie ihre Stieftochter nicht mehr schlagen konnte, um noch mehr Reichtum zu erlangen, erstickte sie und fiel plötzlich tot zu Boden. Wenige Wochen später heiratete Peter Isabeau. Jedermann bemerkte, wie innig sie sich liebten. Sie waren die reichsten Leute im Lande und bekamen vierzehn Kinder. Peter spürte aber niemals Lust, sein Vermögen zu vermehren, indem er seine Frau weinen ließ, der er bis zu seinem Tode in treuer Liebe zugetan war.



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Peronnik der Einfältige

Ihr seid sicher schon einem dieser armen Einfältigen begegnet, die der Priester mit Hasenschmalz getauft hat und die nichts können, als an den Türen stehen und betteln. Sie sind wie Kälber, die den Weg zu ihrem Staue verloren haben. Sie schauen sich nach allen Seiten mit großen Augen und offenem Maule um, als ob sie etwas suchten, aber was sie suchen, das ist in diesem Lande nicht so gemein, daß man es auf der Landstraße findet; es ist der Verstand. Peronnik war einer von diesen armen Schelmen, die anstatt auf Vater und Mutter auf die Mildtätigkeit ihrer Brüder in Christo angewiesen sind. Er ging immer der Nase nach und wußte nicht, wohin. Wenn ihn dürstete, trank er aus den Quellen, und wenn ihn hungerte, so erbettelte er von den Frauen, die auf den Türschwellen standen, die Abf alikrusten. Wollte er schlafen, so suchte er sich einen Strohhaufen und grub sich hinein wie eine Eidechse. Übrigens war Peronnik für seine Verhältnisse nicht schlecht gekleidet, er hatte eine Leinenhose, der nichts als der Boden fehlte, eine Weste mit einem Ärmel und die Hälfte einer Mütze, die einst neu gewesen war. Dennoch sang Peronnik aus Herzensgrund, so oft er satt war, und dankte Gott morgens und abends.

Ein Handwerk hatte Peronnik nie gelernt, aber er war in vielerlei Dingen geschickt. Er aß so viel, wie man verlangte, er schlief länger als irgend jemand und ahmte mit seiner Zunge den Gesang der Lerchen nach. Zur Zeit, von der ich spreche, das heißt vor tausend und mehr Jahren, war das Land noch nicht so beschaffen wie jetzt.

Wie dem auch sei, jedenfalls kam Peronnik eines Tages auf einen Hof, der am Rande des Waldes erbaut war, er trat näher, um etwas Essen zu erbetteln. Die Bäuerin kniete gerade auf der Türschwelle und war dabei, ihren Breikessel mit harten Steinen zu säubern; aber als sie die Stimme des Einfältigen hörte, der sie im Namen Gottes um Nahrung bat, hielt sie inne und streckte ihm den Kessel entgegen: »Nimm!« sagte sie, »mein armer Dummhans, iß das Zusammengescharrte und bete dafür ein Paternoster für unsere Ferkel, die nicht gedeihen wollen!« Peronnik setzte sich auf den Boden, nahm den Napf zwischen seine Beine und begann, ihn mit den Nägeln auszukratzen; aber er erwischte nur wenig, denn alle Löffel des Hauses waren schon darin gewesen. Indessen schleckte er sich die Finger ab und ließ ein befriedigtes Grunzen hören, als habe er nie etwas Besseres genossen. »Es ist Hirsemehl«, sagte er halblaut, »Hirsemehl angerührt mit Milch von einer schwarzen Kuh, und das von der besten Köchin im ganzen Unterland.« Die Bäuerin,



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welche sich abgewandt hatte, drehte sich geschmeichelt um. »Armer Dummling«, sagte sie, »es ist nur wenig mehr übrig, aber ich werde dir ein Stück Schwarzbrot dreingeben.« Sie brachte dem Burschen eine Schnitte von einem Laib, der gerade aus dem Backofen kam. Peronnik biß hinein wie ein Wolf in einen Lammschenkel und rief, daß der Teig vom Leibbäcker Sr. Eminenz des Bischofs geknetet sein müsse. Die Bäuerin antwortete stolz, es wäre noch ganz anders, wenn man das Brot mit frisch gerührter Butter bestreiche, und um es zu beweisen, brachte sie ein wenig Butter in einer kleinen bedeckten Schüssel. Der Dummling pries die Butter aufs höchste, und um sein Lob zu bekräftigen, strich er alles, was sich in der Schale vorfand, auf seine Brotschnitte. Aber die Befriedigung über das Lob hinderte die Bäuerin, dies zu merken, und sie fügte dem, was sie schon gegeben hatte, noch ein Stück Speck hinzu, welches von der Sonntagssuppe übriggeblieben war. Peronnik rühmte ein Stück noch mehr als das andere und verschlang alles wie Quellwasser, denn schon lange hatte er kein solches Mahl mehr gehabt. Die Bäuerin ging und kam und gab ihm hin und wieder ein paar Brocken dazu, die er, sich bekreuzigend, entgegennahm.

Während er so beschäftigt war, neue Kräfte zu erwerben, erschien ein bewaffneter Ritter vor der Haustür und wandte sich an die Frau, um den Weg nach dem Schlosse Kerglas zu erfragen. »Jesus, mein Gott, Herr Ritter! Dorthin wollt Ihr?« rief die Frau. »Ja!« antwortete der Krieger, »und zu diesem Zweck bin ich aus einem so fernen Lande hergekommen, daß ich drei Monate lang Tag und Nacht reisen mußte, um hierher zu gelangen.« »Und was wollt Ihr im Kerglas?« fragte die Bäuerin. »Ich suche das goldene Becken und die diamantene Lanze.« »Das sind wohl zwei wertvolle Dinge?«fragte Peronnik. »Wertvoller als alle Kronen der Erde«, entgegnete der Fremde, »denn abgesehen davon, daß das goldene Becken augenblicklich alle Speisen und alle Reichtümer hervorbringt, die man sich wünscht, genügt es, daraus zu trinken, um von allen Leiden geheilt zu werden, und die Toten selbst stehen auf, wenn es ihre Lippen berührt. Die diamantne Lanze aber tötet und zerschlägt alles, was sie trifft.« »Und wem gehört diese Lanze und dieses Gefäß?«fragte Peronnik verwundert. »Einem Zauberer namens Rogear, welcher im Schlosse von Kerglas wohnt«, antwortete die Bäuerin, »man sieht ihn täglich am Waldesrande, auf einer schwarzen Stute sitzend, vorüberreiten, gefolgt von deren Füllen von dreizehn Monaten; aber niemand würde es wagen, ihn anzugreifen, denn er hält in seiner Hand die erbarmungslose Lanze.«»Ja«, warf der Fremde ein,



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»aber ein Befehl Gottes verbietet ihm, sich ihrer im Schlosse Kerglas zu bedienen. Sobald er dort ankommt, werden Becken und Lanze in der Tiefe eines dunklen Verlieses, welches kein Schlüssel zu öffnen vermag, verwahrt; dort will ich den Zauberer angreifen.« — »Weh! Das wird Euch nicht glücken, Herr!« entgegnete die Bäuerin, »mehr als hundert andere Edelleute haben das Abenteuer vor Euch gewagt, aber nicht einer ist zurückgekommen.« —»Ich weiß es, gute Frau«, versetzte der Ritter, »aber sie haben nicht wie ich zuvor die Unterweisungen eines Eremiten erhalten.« —»Und was hat Euch dieser Eremit gesagt?« fragte Peronnik. »Er hat mich alles gelehrt, was ich tun muß«, antwortete der Fremde, »zunächst muß ich durch den Irrwald reiten, wo alle Arten von Zauber angewendet werden, um mich zu erschrecken und mich meinen Weg verfehlen zu lassen. Die Mehrzahl von denen, die mir vorangegangen sind, hat sich dort verirrt, ist erfroren oder vor Hunger und Ermattung gestorben.« —»Und wenn Ihr ihn durchschreitet?« fragte der Einfältige. »Wenn ich ihn durchschreite«, fuhr der Edelmann fort, »werde ich einem Zwerg begegnen, der mit einem feurigen Stachel bewaffnet ist, welcher alles, was er berührt, in Asche verwandelt. Dieser Zwerg bewacht einen Apfelbaum, von dem ich eine Frucht pflücken muß.« —»Und dann?«fragte Peronnik weiter. »Dann werde ich die lachende Blume finden; sie wird von einem Löwen behütet, dessen Mähne aus Schlangen besteht, und ich muß diese Blume brechen. Darauf muß ich den Drachensee überschreiten, den schwarzen Mann mit der Eisenkugel bekämpfen, welche immer ihr Ziel erreicht und von selbst zu ihrem Herrn zurückkehrt; schließlich werde ich das Tal der Freuden betreten, wo ich alles schauen werde, was einen Menschen verführen und zurückhalten kann, und ich werde zu einem Fluß kommen, der nur eine Furt hat. Dort wird sich eine schwarzgekleidete Dame befinden, die ich hinter mich aufs Roß nehme und die mir sagen wird, was ich weiter tun muß.« Die Bäuerin versuchte dem Fremden zu beweisen, daß er niemals all diese Proben bestehen würde; aber dieser erwiderte, darüber könne eine Frau nicht urteilen; und nachdem er sich den Eingang zum Walde hatte zeigen lassen, spornte er sein Roß und verschwand zwischen den Bäumen.

Die Bäuerin seufzte tief und meinte, das sei ein Toter mehr, der vor Gottes Gericht treten müsse; sie gab Peronnik noch einige Krusten und forderte ihn dann auf, seinen Weg weiterzugehen. Dieser folgte ihrem Rate, zumal der Bauer gerade vom Felde heimkehrte. Er hatte den Knaben, der seine Kühe am Rande des Waldes hütete, davongejagt und überlegte sich, wie er dafür Ersatz schaffen könne. Der Anblick des



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Dummlings war für ihn ein Lichtstrahl, er glaubte gefunden zu haben, was er suchte, und er fragte Peronnik geradeheraus, ob er auf dem Hofe bleiben wolle, um das Vieh zu hüten. Peronnik hätte es vorgezogen, nur sich selber zu hüten, denn niemand war besser als er zum Nichtstun aufgelegt; aber er spürte noch den Geschmack des Specks, der frischen Butter, des Schwarzbrotes und des Hirseschmarrens auf seinen Lippen, daher nahm er den Vorschlag des Bauern an. Dieser führte ihn sogleich an den Waldrand, zählte ihm laut die Kühe vor, ohne die Kalbinnen zu vergessen, und schnitt ihm eine Haselgerte ab, damit er sie zusammenhalten könne; dann trug er ihm auf, bei Sonnenuntergang heimzutreiben.

So war Peronnik Viehhüter geworden, er mußte den Kühen verwehren, daß sie Schaden anrichteten, und mußte von den schwarzen zu den roten und von den roten zu den weißen laufen, um sie gehörig beisammenzuhalten. Während er so von einer Kuh zur anderen lief, hörte er plötzlich Pferdegetrappel und gewahrte in einem Baumgange des Waldes den Zauberer Rogear, der auf seiner Stute saß, und dahinter das Füllen von dreizehn Monaten. Am Halse trug er das Becken und in der Hand die diamantene Lanze, die leuchtete wie eine Flamme. Peronnik verbarg sich erschrocken hinter einem Busch; der Riese ritt nahe an ihm vorbei und setzte seinen Weg fort. Als er verschwunden war, verließ Peronnik sein Versteck und schaute nach der Richtung, nach der jener sich gewandt hatte, ohne jedoch den Weg wahrnehmen zu können, den er eingeschlagen hatte.

Indessen kamen unaufhörlich bewaffnete Ritter, die das Schloß Kerglas suchten, aber keinen von ihnen sah man wiederkehren. Vielmehr machte der Riese alltäglich seinen Rundgang. Der Dummling, der allmählich kühner wurde, verbarg sich nicht mehr, wenn er vorüberritt, und betrachtete ihn von weitem mit neidischen Augen, denn das Verlangen, das goldene Becken und die diamantene Lanze zu besitzen, wuchs von Tag zu Tag in seinem Herzen.

Eines Abends war Peronnik wie gewöhnlich allein auf der Weide, da stand mit einem Male ein weißbärtiger Mann am Waldesrand. Der Dummling glaubte, das sei wieder irgendein Fremder, der gekommen war, um die Abenteuer zu wagen, und er fragte ihn, ob er etwa den Weg nach Kerglas suche. »Ich suche ihn nicht, denn ich kenne ihn«, entgegnete der Unbekannte. »Ihr seid ihn gegangen und der Zauberer hat Euch nicht getötet?« rief der Einfältige.

»Weil er von mir nichts zu fürchten hat«, erwiderte der weißbärtige Greis. »Man nennt mich den Zauberer Bryak, und ich bin der ältere



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Bruder Rogears. Wenn ich ihn besuchen will, komme ich hierher, aber da ich trotz meiner Zaubermacht den Irrwald nicht durchschreiten könnte, ohne mich zu verirren, so rufe ich das schwarze Füllen, damit es mich führe.«Bei diesen Worten zog er drei Kreise mit seinem Finger in den Sand, murmelte einige Worte, wie sie der Teufel die Zauberer lehrt, und rief: »Füllen mit den leichten Füßen, Füllen mit den scharfen Zähnen, Füllen, ich bin da, komm geschwind, ich wart' auf dich!« Das kleine Roß erschien augenblicklich. Bryak legte ihm ein Halfter und eine Fußfessel an, stieg auf seinen Rücken und ließ es in den Wald zurückkehren.

Peronnik sagte keinem Menschen ein Wort von diesem Abenteuer; aber er wußte jetzt, daß es das erste war, wenn man nach Kerglas wollte, das Füllen zu besteigen, welches den Weg kannte. Unglücklicherweise verstand er weder die Kreise zu zeichnen noch die Zauberworte auszusprechen, die nötig waren, um den Anruf wirkungsvoll zu machen. Er mußte also ein anderes Mittel finden, sich seiner zu bemächtigen, und dann den Apfel zu pflücken, die lachende Blume zu brechen, der Kugel des schwarzen Mannes zu entgehen und das Tal der Freuden zu durcheilen. Peronnik dachte lange darüber nach, und es schien ihm zuletzt, daß es ihm gelingen könne. Die Starken suchen der Gefahr mit ihrer Stärke zu begegnen, und oft gehen sie dabei zugrunde, aber die Schwachen packen die Dinge von der Seite an. Da der Dummling nicht hoffen durfte, den Riesen zu überwältigen, so beschloß er, ihn zu überlisten. Vor den Schwierigkeiten schrak er nicht zurück, er wußte, daß die Mispeln hart wie Kiesel sind, wenn man sie pflückt, und daß sie mit ein wenig Stroh und viel Geduld schließlich doch weich werden.

Er traf also alle Vorbereitungen für die Stunde, in welcher der Riese am Waldesrande erscheinen mußte. Er richtete zunächst ein Halfter und eine Fußfessel aus schwarzem Hanf her, dann eine Schnepfenschlinge, deren Haare er in Weihwasser tauchte, einen Leinenbeutel, den er mit Vogelleim und Lerchenfedern füllte, einen Rosenkranz, eine Hollerpfeife und ein Stück Brotrinde, bestrichen mit ranzigem Speck. Hierauf zerbröckelte er sein Frühstücksbrot längs des Weges, den Roegar mit seiner Stute und seinem Füllen von dreizehn Monaten einschlagen mußte.

Alle drei erschienen zur gewohnten Stunde und durchschritten die Weide, wie sie es alle Tage taten; aber das Füllen, das mit hängendem Kopf und auf dem Boden schnüffelnd einherging, roch die Brotbrocken und blieb stehen, um sie zu fressen, so daß es bald allein und außer Sehweite des Riesen war. Da schlich sich Peronnik herzu, warf ihm sein



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Halfter über, fesselte zwei seiner Füße mit den Spannstricken, sprang auf seinen Rücken und ließ es nun laufen, wohin es wollte, denn er war sicher, daß das Füllen, welches den Weg kannte, ihn zum Schloß Kerglas führen würde.

Das Rößlein schlug wirklich ohne Zaudern einen der wildesten Wege ein und lief so schnell, wie es ihm die Fußfesseln erlaubten. Peronnik zitterte wie ein Blatt, denn alle Zauber des Waldes vereinigten sich, um ihn zu erschrecken. Bald schien es ihm, als öffne sich ein Abgrund vor seinem Reittier, bald schienen die Bäume in Flammen zu stehen und er sich inmitten einer Feuersbrunst zu befinden, oft, wenn er einen Bach überschritt, wurde der Bach zu einem reißenden Strom und drohte ihn mitzuführen; ein andermal, als er einem Pfad am Fuße eines Hügels folgte, schienen sich ungeheure Felsmassen abzulösen und auf ihn herabzustürzen, um ihn zu zerschmettern. Der Dummling mochte sich noch so oft sagen, daß dies Trugbilder des Zauberers seien, er fühlte doch sein Mark vor Angst erstarren. Schließlich zog er seine Kappe über die Augen, um nichts mehr zu sehen.

So kamen beide in eine Ebene, wo die Zauber aufhörten. Nun nahm Peronnik seine Mütze ab und blickte um sich. Es war eine dürre Heide und trauriger als ein Friedhof. Von Zeit zu Zeit sah man die Gerippe der Ritter, die gekommen waren, um das Schloß Kerglas zu suchen. Sie lagen da, neben ihren Rossen hingestreckt, und graue Wölfe nagten an ihren Gebeinen. Schließlich gelangte der Dummling auf eine Wiese, die ganz und gar von einem einzigen Apfelbaum überschattet wurde, der so mit Früchten beladen war, daß die Äste sich bis zur Erde niederbogen. Vor dem Baume stand ein Zwerg, der in seiner Hand die feurige Waffe hielt, die alles, was sie berührte, in Asche verwandelte. Als er aber Peronnik erblickte, schrie er wie eine Meerkrähe und erhob seine Waffe; aber ohne Erstaunen zu zeigen, zog der junge Mann höflich seine Mütze. »Laßt Euch nicht stören, mein kleiner Prinz«, sagte er, »ich möchte nur vorüber, um mich nach Kerglas zu begeben, wohin mich der Zauberer Rogear bestellt hat.« »Dich?«erwiderte der Zwerg, »wer bist du denn?« »Ich bin der neue Diener unseres Herrn«, antwortete der Dummling. »Ihr wißt doch, der, den er erwartet.« »Ich weiß von nichts«, sagte der Zwerg, »und du siehst mir ganz wie ein Schwindler aus.« »Verzeihung«, unterbrach ihn Peronnik, »das ist nicht mein Beruf, ich bin lediglich Vogelsteller und Vogelabrichter. Aber, mein Gott, haltet mich nicht auf, denn der Herr Zauberer rechnet auf mich und hat mir sogar sein Füllen geliehen, wie Ihr seht, damit ich schneller ins Schloß gelange.«Der Zwerg merkte nun wirklich, daß Peronnik das



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junge Pferd des Zauberers ritt, und begann zu glauben, daß jener die Wahrheit sage.

Der Dummling sah übrigens so unschuldig aus, daß man ihn nicht für fähig halten konnte, eine Geschichte zu erfinden. Indessen schien er noch zu zweifeln und fragte ihn, wozu der Zauberer einen Vogelsteller brauche. »Er hat ihn dringend nötig, wie es scheint«, entgegnete Peronnik, »denn wie er sagt, wird gegenwärtig alles, was im Garten von Kerglas keimt und reift, von den Vögel gefressen.« »Und wie willst du sie daran hindern?«fragte der Zwerg. Peronnik zeigte die kleine Falle, die er verfertigt hatte, und sagte, kein Vogel könne ihr entgehen. »Davon will ich mich überzeugen«, versetzte der Zwerg. »Mein Apfelbaum wird auch von den Amseln und Drosseln geplündert; stell deine Falle, und wenn du sie fangen kannst, so lasse ich dich vorbei.« Peronnik war einverstanden; er band sein Füllen an einen Baum und näherte sich dem Stamm des Apfelbaumes, befestigte das eine Ende der Schlinge daran und rief dann dem Zwerg zu, er solle das andere Ende halten, während er die Futterhölzchen aufrichten wollte. Dieser tat, was der Dummling verlangte; nun zog Peronnik plötzlich den Schiebeknoten zu, und der Zwerg war selbst wie ein Vogel gefangen. Er stieß einen Wutschrei aus und wollte sich losmachen, aber die Schlinge, die in Weihwasser getaucht war, widerstand allen seinen Anstrengungen.

Der Dummling hatte Zeit, zum Baume zu laufen, dort einen Apfel zu pflücken und dann wieder auf sein Füllen zu steigen, welches nun seinen Weg fortsetzte. So verließen sie die Ebene und befanden sich vor einem Lustwäldchen, das aus den schönsten Pflanzen zusammengesetzt war. Dort gab es Rosen in allen Farben, spanischen Ginster, rotes Geißblatt, und über alledem erhob sich eine Wunderblume, welche lachte; aber ein Löwe mit Schlangenmähne lief um das Wäldchen herum, rollte die Augen und knirschte mit den Zähnen wie mit zwei frisch geschliffenen Mühlsteinen. Peronnik blieb stehen und begrüßte ihn wieder, denn er wußte, daß vor Großen die Mütze auf dem Kopf weniger am Platze ist als in der Hand. Er wünschte dem Löwen und seiner Familie alles erdenkliche Glück und fragte ihn, ob er auf dem rechten Wege nach Kerglas sei. »Und was suchst du in Kerglas?« rief das wilde Tier mit drohender Miene. »Mit Eurer Erlaubnis«, antwortete der Dummling furchtsam, »ich bin im Dienste einer Dame, welche eine Freundin des Herrn Rogear ist und welche ihm als Geschenk etwas sendet, wovon er eine Lerchenpastete machen kann.« »Lerchenpastete?« wiederholte der Löwe und schleckte sich mit der Zunge seinen Schnurrbart ab, »es ist ein Jahrhundert her, daß ich keine gegessen



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habe. Hast du viel bei dir?«»Alles, was dieser Sack fassen kann, gnädiger Herr!«erwiderte Peronnik und wies den Leinenbeutel vor, den er mit Federn und Leim gefüllt hatte. Und um seinen Worten Glauben zu verschaffen, fing er an, das Zwitschern der Lerchen nachzuahmen. Dieser Ton vergrößerte den Appetit des Löwen. »Laß sehen«, sagte er und kam näher, »zeig mir deine Vögel, ich will wissen, ob sie fett genug sind, um unserem Herrn aufgetischt zu werden.« »Ich wünsche mir nichts Besseres«, entgegnete der Dummling, »aber wenn ich sie aus dem Sack hole, fürchte ich, daß sie mir davonfliegen.« »Offne ihn nur so weit, daß ich hineinschauen kann!« Das war es, was Peronnik erhofft hatte, er hielt dem Löwen den Leinenbeutel vor, der seinen Kopf hineinsteckte, um die Lerchen zu packen, da aber sah er sich in den Federn und dem Leim festgehalten. Der Dummling zog geschwind die Schnur des Sackes um seinen Hals zu, machte ein Kreuzzeichen über den Knoten, um ihn unauflöslich zu machen, und lief dann zur lachenden Blume, pflückte sie, und das Füllen eilte in größter Geschwindigkeit mit ihm davon.

Aber alsbald kam er an den Drachensee, den er durchschwimmen mußte, und kaum war er darin, so eilten die Drachen von allen Seiten herbei, um ihn zu verschlingen. Diesmal unterhielt sich Peronnik nicht damit, vor ihnen die Mütze zu ziehen, sondern er warf ihnen die Perlen des Rosenkranzes vor, wie man den Enten Korn vorwirft, und bei jeder verschluckten Perle drehte sich ein Drachen auf den Rücken und verendete, so daß der Dummling das andere Ufer ohne Schaden erreichen konnte.

Es blieb also noch das Tal, das von dem schwarzen Mann bewacht wurde. Peronnik gewahrte ihn gleich am Eingange, mit den Füßen an den Felsen geschmiedet und in der Hand die Eisenkugel haltend, welche, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, stets von selbst zurückkehrte. Er hatte sechs Augen rund um den Kopf, welche abwechselnd wachten, aber in diesem Augenblicke hatte er alle sechs geöffnet. Peronnik wußte, daß ihn die Eisenkugel treffen müßte, noch bevor er hätte reden können, daher zog er es vor, am Unterholz entlang zu schleichen. So kam er, hinter dem Gebüsch verborgen, bis auf einige Schritte an den schwarzen Mann heran. Dieser setzte sich gerade nieder, und zwei seiner Augen waren zum Schlummer geschlossen. Peronnik glaubte, jener sei müde, und er begann, halblaut den Anfang der Messe zu singen. Der schwarze Mann schien zuerst erstaunt, er wandte den Kopf; dann aber, da der Gesang auf ihn wirkte, schloß er das dritte Auge. Peronnik stimmte nun das Kyrie eleison an im Ton jener Priester, die vom



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Schlafteufel besessen sind. Der schwarze Mann schloß sein viertes Auge und das fünfte zur Hälfte. Peronnik begann die Vesper, aber ehe er zum Magnifikat gekommen war, war der schwarze Mann eingeschlafen.

Nun nahm der Bursche das Füllen beim Zügel und führte es leise über Moosflecke; dann gelangte er, rasch am Wächter vorbeigehend, ins Tal der Freuden. Das war die schwerste Probe, denn es handelte sich hier nicht darum, einer Gefahr zu entgehen, sondern einer Versuchung zu widerstehen. Peronnik rief alle Heiligen zur Hilfe. Das Tal, das er durchquerte, glich einem Garten voller Früchte, Blumen und Quellen waren von Wein und süßen, berauschenden Getränken, die Blumen sangen mit zarten Stimmen wie die Cherubin im Paradies, und die Früchte boten sich von selber an. Bei jeder Biegung des Weges sah Peronnik große Tafeln, die gedeckt waren, wie um Könige zu speisen, er roch den Duft des Backwerks, das man gerade aus dem Ofen zog, er sah Diener, die ihn zu erwarten schienen, während etwas weiter abseits schöne junge Mädchen aus dem Bade stiegen und auf dem Rasen tanzten; sie riefen ihn beim Namen und baten ihn, den Reigen anzuführen. Der Dummling machte zwar das Zeichen des Kreuzes, aber verlangsamte doch den Schritt seines Füllens, ohne es zu merken, er hob die Nase in den Wind, um besser den Duft der Schüsseln zu riechen und die badenden Mädchen zu sehen; fast hätte er angehalten, und dann wäre es um ihn geschehen gewesen; da zuckte ihm der Gedanke an das goldene Becken und die diamantene Lanze durch das Hirn, und sogleich begann er auf seiner Hollunderpfeife zu flöten, um die lockenden Stimmen nicht zu hören, er aß sein mit ranzigem Speck bestrichenes Brot, um den Duft der Schüsseln nicht zu riechen, und er betrachtete die Ohren seines Pferdes, um die Tänzerinnen nicht zu sehen. Auf diese Weise gelangte er ohne Unfall zum Ende des Gartens und sah nun endlich das Schloß Kerglas vor sich. Aber noch trennte ihn von diesem der Fluß, von dem man ihm erzählt hatte und der nur eine einzige Furt besaß. Glücklicherweise kannte sie das Füllen und trat am rechten Ort ins Wasser.

Peronnik schaute um sich, ob er nicht die Dame erblickte, die ihn ins Schloß führen sollte, und er bemerkte sie auf einem Felsblock sitzend. Sie trug ein schwarzes Seidengewand, und ihr Antlitz war gelb wie das einer Maurin. Der Dummling zog wieder seine Mütze und fragte sie, ob sie nicht den Fluß überschreiten wolle. »Deshalb erwarte ich dich«, entgegnete die Dame, »komm näher, damit ich mich hinter dich setzen kann!« Peronnik ritt herzu, ließ sie hinten aufsitzen und begann die



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Flut zu durchreiten. Mitten im Fluß sagte die Dame zu ihm: »Weißt du auch, wer ich bin, du armer Junge?« —»Verzeihung«, antwortete Peronnik, »aber nach Euren Kleidern zu urteilen, seid Ihr wohl eine adlige und mächtige Dame.« —»Adelig muß ich wohl sein, denn mein Stamm geht auf den ersten Sündenfall zurück; und mächtig bin ich auch, denn alle Völker der Erde beugen sich vor mir.« — »Aber wie ist Euer Name, gnädige Frau, wenn ich bitten darf?« fragte Peronnik. »Man nennt mich die Pest!« erwiderte die gelbe Frau. Der Dummling machte einen Satz auf seinem Pferd und wollte sich in den Fluß stürzen, aber die Pest sagte zu ihm: »Bleib ruhig sitzen, armer Junge, du hast von mir nichts zu fürchten, und ich könnte dir sogar einen Dienst leisten.« —»Ist es möglich, daß Ihr so gütig sein wolltet, Frau Pest?«fragte Peronnik und zog diesmal seine Mütze, um sie nicht wieder aufzusetzen. »Ich erinnere mich jetzt in der Tat, daß Ihr mir angeben solltet, wie ich mich des Zauberers Rogear entledigen kann.« — »Soll der Zauberer sterben?«sprach die gelbe Dame. »Nichts wäre mir lieber«, erwiderte Peronnik, »aber er ist leider unsterblich.« —»Höre und suche mich zu verstehen!« entgegnete die Dame. »Der Apfelbaum, den der Zwerg bewacht, ist ein Steckling vom Baum des Guten und Bösen, den Gott selbst ins irdische Paradies gepflanzt hat. Seine Frucht macht wie die, von welcher Adam und Eva aßen, die Unsterblichen für den Tod empfänglich. Sieh zu, daß der Zauberer den Apfel genießt, dann brauche ich ihn nur zu berühren, damit er aufhöre zu leben.« »Ich will es versuchen«, sagte Peronnik, »aber wenn es mir gelingt, wie kann ich das goldene Becken und die diamantene Lanze erwerben, die in einem dunklen Verlies verborgen sind, das kein geschmiedeter Schlüssel aufzusperren vermag?« —»Die lachende Blume öffnet alle Tore und erhellt alle Nächte«, versetzte die Pest.

Nach diesen Worten erreichten sie das andere Ufer, und der Dummling schritt auf das Schloß zu. Vor dem Eingang befand sich ein großes Wetterdach, ähnlich dem Thronhimmel, unter dem 5. Eminenz der Bischof bei der Prozession des hl. Sakramentes schreitet. Hier lag der Riese vor der Sonne geschützt und hatte die Beine übereinandergeschlagen wie ein Landwirt, der sein Korn eingebracht hat, und rauchte aus einer Tabakspfeife aus lauterem Gold. Als er das Fohlen erblickte, auf welchem Peronnik und die gelbe Dame in schwarzer Seide saßen, hob er den Kopf und sprach mit donnerdröhnender Stimme: »Bei Beelzebub, unserem Herrn! Das ist mein Füllen von dreizehn Monaten, auf dem dieser Dummkopf reitet.« »So ist es, o größter aller Zauberer!« erwiderte Peronnik. »Und wie hast du es angestellt, um dich seiner zu bemächtigen?«



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fragte Rogear. »Ich habe die Worte wiederholt, die mich Euer Bruder Bryak gelehrt hat«, entgegnete der Dummling, »und das kleine Tier ist sogleich gekommen.« »Du kennst also meinen Bruder?« fragte der Riese. »Wie man seinen Herrn kennt!« erwiderte der Bursch. »Und warum schickt er dich?« — »Um Euch zwei seltene Dinge zu überbringen, die er soeben aus dem Maurenlande erhalten hat: hier den Apfel der Freuden und dort die unterwürfige Frau, die Ihr vor Euch seht. Wenn Ihr den ersteren verspeist, werdet Ihr immer einen so zufriedenen Sinn haben wie ein armer Mann, der einen Beutel mit hundert Talern in einem Holzschuh gefunden hat; und wenn Ihr die letztere in Euren Dienst nehmt, so habt Ihr auf der Welt keinen Wunsch mehr.« — »Nun, so gib den Apfel und laß die Maurin absteigen!« entgegnete Rogear. Der Dummling gehorchte; aber sobald der Riese in die Frucht gebissen hatte, rührte ihn die gelbe Dame an, und er fiel zu Boden wie ein Ochs, den man niederschlägt.

Peronnik trat sogleich ins Schloß, in der Hand die lachende Blume. Er durcheilte nacheinander mehr als fünfzig Säle und gelangte endlich vor das Gewölbe mit der Silberpforte. Diese öffnete sich von selbst vor der Blume, welche dem Dummling den Weg beleuchtete bis zum goldenen Becken und zur diamantenen Lanze. Aber kaum hatte er sie ergriffen, so bebte die Erde unter seinen Füßen, ein schreckliches Krachen ertönte, der Palast verschwand, und Peronnik befand sich mitten in einem Wald, versehen mit seinen zwei Wunderdingen; mit ihnen begab er sich an den Hof des Königs.

Auf der Durchreise trug er Sorge, die reichsten Kleider zu kaufen, die er finden konnte, und das beste Roß, das in der Bischofsstadt des Landes des weißen Kornes feilgeboten wurde. Als er nach Nantes kam, wurde diese Stadt gerade von den Franzosen belagert, welche die Felder ringsumher derart verwüstet hatten, daß kaum ein Baum mehr übrig blieb, an dem eine Ziege hätte rupfen können. Obendrein war Hungersnot in der Stadt, und die Soldaten, die nicht an ihren Wunden starben, kamen aus Mangel an Brot um. Daher verkündete gerade an dem Tage, da Peronnik ankam, ein Trompeter an allen Straßenecken, daß der König der Bretagne denjenigen, der die Stadt befreien und die Franzosen verjagen würde, als Erben einzusetzen verspräche. Als der Dummling dieses Versprechen hörte, sagte er zu dem Trompeter: »Rufe nicht länger, sondern führe mich zum König! Ich bin imstande zu tun, was er verlangt.« — »Du?« sagte der Trompeter, der sah, daß er so jung und klein war, »schau, daß du weiterkommst, kleiner Stieglitz, der König hat keine Zeit, um Vögel zu fangen.«



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Statt jeder Antwort streifte Peronnik den Soldaten mit seiner Lanze, und im gleichen Augenblick fiel dieser tot zur Erde zum Schrecken der zusehenden Menge, die nun entfliehen wollte. Aber der Dummling rief: »Ihr habt gesehen, was ich gegen meine Feinde vermag, erfahrt jetzt, was ich für meine Freunde tun kann!« Und er näherte das Zauberbecken den Lippen des Toten, der augenblicklich wieder belebt wurde.

Der König, der dieses Wunder vernahm, übertrug Peronnik den Befehl über die Soldaten, welche ihm noch geblieben waren; und da der Dummling mit seiner Lanze Tausende von Franzosen tötete, während er mit seinem Becken alle gefallenen Bretonen erweckte, vertrieb er in wenigen Tagen das feindliche Heer und erbeutete alles, was in ihrem Lager zurückblieb. Er heiratete des Königs Tochter, mit welcher er hundert Kinder bekam, deren jedes ein Königreich erhielt.


Aschenbrödel oder das kleine Glaspantöffelchen

Es war einmal ein Edelmann, der nahm in zweiter Ehe eine Frau, die hochmütigste und stolzeste, die man je gesehen hat. Sie hatte zwei Töchter ganz nach ihrer Art, die ihr in jeder Beziehung glichen. Der Mann hatte eine Tochter aus erster Ehe, die war von einer Sanftmut und Güte ohnegleichen: das hatte sie von ihrer Mutter, welche die beste Frau von der Welt gewesen war. Kaum war die Hochzeit vorüber, so ließ die Stiefmutter ihre böse Laune losbrechen. Die guten Eigenschaften des Kindes waren ihr zuwider, weil sie ihre eigenen Töchter nur noch verabscheuungswürdiger erscheinen ließen. Sie lud ihr die niedrigsten Verrichtungen im Hause auf: sie mußte das Geschirr putzen und die Stiegen und das Zimmer der Gnädigen scheuern sowie jenes ihrer Fräulein Töchter; sie schlief ganz oben auf dem Speicher auf einem elenden Strohsack, während ihre Schwestern in Gemächern mit Parkettböden ruhten, wo sie Betten von der neuesten Mode hatten und Spiegel, in denen sie sich vom Kopf bis zum Fuße betrachten konnten. Das arme Mädchen ertrug alles geduldig und wagte nicht, sich bei ihrem Vater darüber zu beklagen, der sie doch nur gescholten haben würde, weil seine Frau ihn gänzlich beherrschte. Wenn sie ihre Arbeit verrichtet hatte, so pflegte sie sich in der Asche am Ofen niederzulassen, daher nannte man sie im Hause gemeinhin Aschenhocker; die jüngere Schwester, welche nicht ganz so feindselig war wie die ältere, nannte sie Aschenbrödel; indes war Aschenbrödel mit seinen armseligen Kleidern



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hundertmal schöner als seine Schwestern, wenn sie auch noch so kostbar ausstaffiert waren.

Es ereignete sich nun, daß der Königssohn ein Bailfest gab, zu welchem er alle Leute von Stand einlud; unsere beiden Fräulein waren gleichfalls gebeten, denn sie spielten eine große Rolle im Lande. Da sah man sie nun in bester Laune damit beschäftigt, ihre Kleider und ihren Kopfputz auszusuchen, der ihnen am besten anstände; neue Plage für Aschenbrödel, denn sie mußte das Leinenzeug ihrer Schwestern bügeln und ihre Manschetten fälteln; es wurde nur mehr davon geredet, wie sie sich anziehen wollten.

»Ich«, sagte die ältere, »ich werde mein rotes Sammetkleid mit dem englischen Spitzenausputz anlegen.« — »Ich«, sagte die jüngere, »ich habe nur meinen gewöhnlichen Rock, aber dafür ziehe ich den Mantel mit den goldenen Blumen an und meine Diamantspange, die nicht zu den unscheinbarsten gehört.« Man ließ die beste Haarkräuslerin kommen, um die Haarpuffen in Doppelreihen aufzustecken, und kaufte Schönheitspflästerchen bei der ersten Künstlerin; dann riefen sie Aschenbrödel herbei, um ihren Rat zu erholen, denn sie hatte einen guten Geschmack. Aschenbrödel gab ihnen die besten Ratschläge von der Welt und erbot sich sogar, ihnen das Haar zu richten, was sie sich gern gefallen ließen. Während Aschenbrödel sie frisierte, sagten sie zu ihr: »Aschenbrödel, hättest du nicht auch Lust, auf den Ball zu gehen?« »Ach, liebe Fräulein, ihr spottet! Da gehöre ich nicht hin!« — »Da hast du recht, man würde hübsch lachen, wenn man einen Aschenhocker auf den Ball gehen sähe.«Jede andere als Aschenbrödel hätte ihnen das Haar verkehrt gemacht, aber sie war sanftmütig und frisierte sie tadellos. Fast zwei Tage lang blieben sie ohne Nahrung, so außer sich waren sie vor Freude, man zerriß über ein Dutzend Schnürbänder, so fest schnürte man sie, um ihnen schlankere Hüften zu geben, und sie gingen nicht von ihrem Spiegel fort. Endlich kam der Glückstag, sie fuhren davon, und Aschenbrödel verfolgte sie mit den Augen, solange sie konnte; als sie nichts mehr von ihnen sah, begann sie zu weinen. Ihre Patin sah sie so in Tränen aufgelöst und fragte sie, was sie habe. »Ich möchte gern . . . ich möchte gern . . . !«Sie weinte so heftig, daß sie ihren Satz nicht vollenden konnte. Ihre Patin, die eine Fee war, sagte zu ihr: »Du möchtest gern auf den Ball gehen, nicht wahr?« —»Ach, ja«, erwiderte Aschenbrödel seufzend. »Nun gut, willst du ein braves Mädchen sein«, sagte die Patin, »so will ich dich hinbringen.«

Sie führte Aschenbrödel in ihre Kammer und sprach zu ihr: »Geh in den Garten und hole mir einen Kürbis!« Aschenbrödel ging sogleich



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hin und brachte den schönsten, den sie finden konnte, ihrer Patin; freilich konnte sie sich nicht denken, wie dieser Kürbis es ihr ermöglichen sollte, auf den Ball zu gehen. Ihre Patin höhlte ihn aus, und als nur noch die Schale daran war, schlug sie mit ihrem Zauberstäbchen auf den Kürbis, und im Nu ward dieser in eine schöne, über und über vergoldete Kutsche verwandelt. Dann schaute sie in ihre Mausefalle, worin sie sechs noch lebendige Mäuse vorfand; sie hieß Aschenbrödel die Klappe der Mausefalle ein wenig heben, und einer jeden Maus, die hinausschlüpfte, gab sie einen Schlag mit ihrem Stäbchen, und im Handumdrehen war jede Maus in ein schönes Pferd verwandelt, das gab ein prächtiges Sechsergespann, gezogen von mausgrauen Apfelschimmeln. Da sie in Sorge war, aus was sie einen Kutscher machen sollte, sagte Aschenbrödel: »Ich will nachschauen, ob keine Ratte in der Rattenf alle ist, daraus könnten wir einen Kutscher machen.« — »Du hast recht«, sagte die Patin, »geh und schau!« Aschenbrödel brachte ihr die Rattenfalle her, in welcher drei fette Ratten waren. Die Fee wählte die mit dem dichtesten Bartwuchs unter den dreien aus und, nachdem sie sie mit ihrem Stabe berührt hatte, ward sie in einen dicken Kutscher verwandelt, der einen der schönsten Schnurrbärte hatte, die man je gesehen. Dann sprach sie zu ihr: »Geh in den Garten, dort wirst du sechs Eidechsen hinter der Gießkanne finden; bringe sie mir!« Kaum hatte sie diese der Patin gebracht, als sie auch schon in sechs Lakaien verwandelt waren, die geschwind in ihren verbrämten Gewändern hinten auf die Kutsche kletterten und sich dort festhielten, als ob sie nie in ihrem Leben etwas anderes getan hätten. Darauf sagte die Fee zu Aschenbrödel: »So, siehst du, damit kannst du auf den Ball gehen. Bist du nicht recht froh?« »Ja, aber soll ich so, wie ich bin, in meinen garstigen Kleidern gehen?« Ihre Patin berührte sie nur mit ihrem Stäbchen, und sogleich waren ihre Kleider in Gewänder aus Gold- und Silberstoffen verwandelt, ganz mit Edelsteinen besetzt. Dann reichte sie ihr ein Paar Glaspantöffelchen, die schönsten von der Welt. Als sie solcherweise geschmückt war, stieg sie in die Kutsche; doch ihre Patin ermahnte sie, vor allen Dingen ja nicht über Mitternacht auszubleiben, denn falls sie einen Augenblick länger auf dem Ball verweilen würde, so wäre ihre Kutsche wieder ein Kürbis, ihre Pferde wieder Mäuse, ihre Lakaien wieder Eidechsen, und ihre alten Kleider würden ihre frühere Gestalt wieder annehmen. Sie versprach ihrer Patin, sie wolle nicht verfehlen, den Ball vor Mitternacht zu verlassen; dann fuhr sie davon, ganz außer sich vor Freude.

Der Königssohn, dem man gemeldet hatte, daß soeben eine unbekannte



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hohte Prinzessin vorgefahren sei, beeilte sich, sie zu empfangen, er bot ihr beim Aussteigen aus der Kutsche den Arm und geleitete sie in den Saal, wo die Gesellschaft versammelt war. Sogleich entstand ein allgemeines Schweigen, man hörte zu tanzen auf, und die Geigen verstummten, so sehr war man in die Betrachtung der außergewöhnlichen Schönheit dieser Unbekannten versunken. Man vernahm nur noch ein Stimmengewirr: »Ach, wie schön sie ist!« Der König selber, so alt er auch war, konnte es nicht unterlassen, sie anzuschauen, und er flüsterte der Königin zu, er habe schon lange kein so schönes und liebenswürdiges Wesen mehr gesehen. Sämtliche Damen musterten aufmerksam ihren Kopfputz und ihre Kleider, um sich gleich am nächsten Tage ähnliche zu verschaffen, vorausgesetzt, daß sich überhaupt noch so schöne Stoffe und so geschickte Hände auffinden ließen. Der Königssohn wies ihr den Ehrenplatz an, dann nahm er sie und führte sie zum Tanze, und sie tanzte so anmutig, daß man sie nur noch mehr bewunderte.

Man trug ein treffliches Mahl auf, von welchem der junge Prinz nichts aß, so sehr war er damit beschäftigt, sie anzuschauen. Sie setzte sich zu ihren Schwestern und erwies ihnen tausend Aufmerksamkeiten, sie teilte ihnen von den Orangen und Limonen aus, die der Prinz ihr gegeben hatte, was diese sehr wunderte, denn sie kannten sie gar nicht. Während sie so plauderten, hörte Aschenbrödel die Uhr dreiviertel auf zwölf schlagen: sogleich machte sie eine tiefe Verbeugung vor der ganzen Gesellschaft und enteilte so geschwind, wie sie konnte. Sobald sie heimgekommen war, suchte sie ihre Patin auf, dankte ihr und sagte zu ihr, sie möchte gar zu gern auch am nächsten Tage auf den Ball gehen, weil der Königssohn sie darum gebeten habe. Als sie noch dabei war, ihrer Patin alles zu erzählen, was sich auf dem Balle zugetragen hatte, klopften die beiden Schwestern an das Tor; Aschenbrödel ging, um ihnen zu öffnen. »Wie spät ihr heimkommt!« sagte sie gähnend und sich die Augen reibend und sich reckend, als ob sie gerade erst aufgewacht sei; sie hätte indessen keine Lust zum Schlafen gespürt, seit sie auseinandergegangen waren. »Wenn du auf dem Ball gewesen wärest«, sagte die eine der Schwestern, »so hättest du dich gewiß nicht gelangweilt. Die schönste Prinzessin war dort, die allerschönste, die man nur sehen kann; sie hat uns tausend Höflichkeiten erwiesen, sie hat uns Orangen und Limonen gegeben.« Aschenbrödel geriet fast außer sich vor Freude: sie fragte jene nach dem Namen dieser Prinzessin, aber sie antworteten, daß man diesen nicht wisse, und gerade das sei der größte Kummer des Königssohnes, der um alles in der Welt gern wissen möchte, wer sie sei. Aschenbrödel lächelte und sagte: »Sie war wohl



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schön? Mein Gott, wie seid ihr glücklich, könnte ich sie nicht einmal zu Gesicht bekommen? Ach, Fräulein Plaudertasche, leiht mir doch Euer gelbes Kleid, das Ihr alle Tage tragt!« »Wirklich«, sagte Fräulein Plaudertasche, »das kannst du dir denken, mein Kleid einem garstigen Aschenhocker leihen, wie du einer bist, da müßte ich ganz verrückt sein!« Aschenbrödel erwartete diese abschlägige Antwort und war recht froh darüber, denn sie wäre in große Verlegenheit geraten, wenn ihre Schwester ihr das Kleid hätte leihen wollen.

Am folgenden Tage waren die beiden Schwestern auf dem Ball und Aschenbrödel gleichfalls, aber noch reicher geschmückt als das erstemal. Der Königssohn hielt sich ständig in ihrer Nähe auf und sagte ihr unausgesetzt Liebenswürdigkeiten. Das junge Mädchen langweilte sich keinen Augenblick und vergaß derart die Warnung ihrer Patin, daß sie schon den ersten Schlag der Mitternachtsglocke vernahm, als sie glaubte, es sei erst elf Uhr; sie sprang auf und floh so behende wie ein Reh von dannen. Der Prinz folgte ihr, konnte sie aber nicht einholen; sie ließ einen von ihren gläsernen Pantoffeln fallen, den der Prinz sorgfältig aufhob. Aschenbrödel kam daheim ganz außer Atem an, ohne Kutsche, ohne Lakaien und in ihren abscheulichen Kleidern, nichts war ihr von der ganzen Pracht geblieben als eines ihrer Pantöffelchen, da& Gegenstück zu dem, das sie hatte fallen lassen. Man befragte die Türhüter des Schlosses, ob sie nicht eine Prinzessin hätten herauskommen sehen; sie sagten, niemand sei herausgekommen außer einem sehr schlecht gekleideten jungen Mädchen, das eher wie eine Bäuerin denn wie eine Dame ausgesehen habe. Als ihre beiden Schwestern vom Balle heimkamen, fragte sie Aschenbrödel, ob sie sich wieder so gut unterhalten hätten und ob die schöne Dame wieder dort gewesen sei. Sie bejahten es, aber sie sei entflohen, als es Mitternacht geschlagen habe, und das so hastig, daß sie eines ihrer Glaspantöffelchen habe fallen lassen, das niedlichste von der Welt; der Königssohn habe es aufgehoben und den ganzen Rest des Balles damit verbracht, es anzuschauen, sicher wäre er über die Maßen verliebt in die schöne Prinzessin, der der Pantoffel gehörte.

Sie sagten die Wahrheit, denn einige Tage darauf ließ der Königssohn durch einen Trompeter öffentlich bekanntmachen, daß er diejenige, deren Fuß in den Pantoffel passe, heiraten wolle. Man probierte ihn zuerst den Prinzessinnen an, dann den Herzoginnen und dem ganzen Hofstaat, aber umsonst; man brachte ihn zu den beiden Schwestern, die ihr möglichstes taten, um ihren Fuß in den Pantoffel hineinzuzwängen, aber sie hatten keinen Erfolg damit. Aschenbrödel, die ihnen



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zuschaute und ihren Pantoffel erkannte, sagte lachend: »Ich möchte doch sehen, ob er mir nicht paßt!«

Ihre Schwestern lachten und spotteten sie aus, aber der Kammerherr, welcher die Pantoffelprobe besorgte, betrachtete Aschenbrödel aufmerksam und fand sie überaus schön; er sagte, es sei nur recht und billig, und er habe den Auftrag, den Pantoffel allen jungen Mädchen anzuprobieren; darauf hieß er Aschenbrödel Platz nehmen, und wie er nun den Pantoffel ihrem Füßchen hinhielt, gewahrte er, daß derselbe ohne Mühe darüberging und wie angegossen saß. Das Erstaunen der beiden Schwestern war groß, aber es ward noch größer, als Aschenbrödel das andere Pantöffelchen aus der Tasche zog und an ihren Fuß steckte. Darüber kam die Patin herbei, welche mit ihrem Zauberstab Aschenbrödels Kleider berührte, die nun noch weit prächtiger wurden als alle die früheren. Da erkannten ihre beiden Schwestern in ihr das schöne Wesen wieder, das sie auf dem Ball gesehen hatten. Sie warfen sich ihr zu Füßen, um sie für die schlechte Behandlung, die sie ihr hatten angedeihen lassen, um Verzeihung zu bitten. Aschenbrödel hob sie auf und sagte ihnen, indem sie sie umarmte, daß sie ihnen von ganzem Herzen vergebe und daß sie sie bitte, sie immer lieb zu behalten. Darauf führte man sie zu dem jungen Prinzen, geschmückt, wie sie war, und dieser fand sie noch weit schöner als je zuvor, und wenige Tage darauf heiratete er sie. Aschenbrödel, welche geradeso gut war wie schön, ließ ihre beiden Schwestern im Palaste wohnen und gab sie noch am gleichen Tage zwei vornehmen Herren vom Hofe zur Ehe.


Ewenn Congar

Es war einmal ein armer Mann, der hatte seine Frau verloren und lebte allein mit seinem einzigen Sohn. Der Mann hieß Ewenn Congar, und alles, was er besaß, waren drei Äcker, zwei Kühe und ein Pferd. Sein Sohn, der auch Ewenn genannt wurde, war ein gescheites, aufgewecktes Bürschchen, und als er im zehnten Lebensjahr war, sagte er eines Tages zu dem alten Ewenn Congar: »Vater, ich muß wohl in die Schule und etwas lernen.« — »Mein Kind, wie soll ich das denn machen, du weißt ja, daß ich dafür zu arm bin.« — »Verkauf doch eine Kuh.« — Da ging der Vater auf den nächsten Viehmarkt und verkaufte eine seiner Kühe, und von dem Gelde, das er bekam, bezahlte er den Lehrer für seinen Jungen. Der kleine Ewenn wurde bald der Liebling und der Stolz seiner Lehrer; denn er zeigte sich sehr anstellig und sehr fleißig. Nach einem



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Jahr war das Geld aufgebraucht, und der gute arme Vater mußte seine zweite Kuh verkaufen und wieder ein Jahr später auch das Pferd, damit sein Sohn noch auf der Schule bleiben konnte.

Nach drei Jahren hatte der Jüngling so gut und so viel gelernt, daß er für seine Jahre wahrhaft ein Gelehrter genannt werden konnte. Er ließ sich ein Gewand schneidern, das war von außen weiß, von innen schwarz; dann zog er aus, um sein Glück zu machen.

Unterwegs traf er einen vornehmen Herrn, der ihn anhielt und fragte: »Wohin des Wegs, junger Freund?« — »Ein Unterkommen und ein Auskommen suchen, gnädiger Herr.« — »Verstehst du zu lesen?« —»Ja, ich kann lesen und schreiben.« — »Dann paßt du nicht für mein Geschäft.« —Damit ritt der Herr seiner Wege und ließ Ewenn stehen. Der aber, nicht faul, drehte sein Gewand um, lief querfeldein und erreichte die Straße wieder noch vor dem Fremden. »Wohin des Wegs, junger Freund?« fragte ihn dieser, ohne ihn zu erkennen. — »Eine Anstellung suchen, gnädiger Herr.« — »Verstehst du zu lesen?« —»Leider nein, ich kann nicht lesen und nicht schreiben, mein Vater war zu arm, um mich auf die Schule schicken zu können.« — »Gut, gut, dann taugst du für mein Geschäft. Setz dich hinter mich aufs Pferd.«

Ewenn Congar stieg auf, setzte sich hinter den Sattel zu dem Herrn aufs Pferd, und bald erreichten sie ein schönes Schloß, das von hohen Mauern umgeben war. Niemand kam ihnen im Hof entgegen, um sie zu empfangen. Sie stiegen ab, und der fremde Herr führte sein Roß selber in den Stall. Dann wandte er sich an Ewenn Congar und sagte zu dem Jüngling: »Du wirst hier weder Mann noch Frau begegnen, niemandem außer mir. Aber sei unbesorgt, es wird dir an nichts fehlen, und wenn du genau befolgst, was ich sage, so erhältst du im Jahr fünfhundert Taler Lohn.« — »Und was muß ich tun, gnädiger Herr?« — »Ich habe in meinem Schloß fünfzig Käfige und in jedem einen Vogel, außerdem habe ich in meinem Stall zehn Pferde; die Vögel und die Pferde hast du zu versorgen, und zwar so, daß ich damit zufrieden bin.« — »Ich werde mein Bestes tun.« — Darauf zeigte ihm der Herr des Schlosses die Käfige und die Pferde und sprach zu Ewenn: »Nun gehe ich auf Reisen und komme erst übers Jahr und über einen Tag zurück.« —Dann ritt er davon.

Ewenn Congar war nun ganz allein in dem Schlosse und pflegte Vögel wie Pferde aufs beste. Viermal am Tage fand er im Speisesaal den Tisch für sich gedeckt, ohne daß er jemals einer Menschenseele begegnet wäre. Er aß und trank und ließ es sich nach Herzenslust schmecken, und wenn er mit seiner Arbeit fertig war, strich er durch das Schloß und



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durch die Gärten. Als er nun eines Tages wieder einmal so durch alle Zimmer ging, von denen eines immer reicher an Schätzen und Kostbarkeiten war als das andere, stand plötzlich eine wunderschöne Prinzessin vor ihm. Die sprach: »Erkennst du mich? Ich bin eines der Pferde, die du in dem Stall täglich fütterst und tränkst, und zwar das dritte von links, wenn du in den Stall trittst, die Apfelschimmelstute. Der Zauberer des Schlosses hat mich so verwandelt, und ich muß diese Gestalt behalten, bis einer kommt, der mich erlöst. Vier haben es schon versucht, aber sie sind in Vögel oder in Pferde verwandelt worden. Wenn nun der Zauberer nach seiner Rückkehr mit deinen Diensten zufrieden ist, so wird er dir gestatten, dir zur Belohnung eines der Pferde auszuwählen, damit du zu deinem Vater zurückkehren kannst. Wählst du mich, so wirst du es nicht zu bereuen haben. Ich bin die Tochter des Königs von Spanien. Aber behalte es gut im Kopf: die Apfelschimmelstute, das dritte Pferd von links, wenn du in den Stall trittst. Viele Königssöhne und andere tapfere und edle Männer haben das Wagnis schon unternommen, mich zu befreien, aber viele haben dabei ihr Leben eingebüßt, und in einem Saal des Schlosses findest du ihre Haut an Nägeln aufgehängt. Drum gib acht, daß nicht auch du deine Haut lassen mußt.« Darauf zeigte die Prinzessin Ewenn Congar, wo der Magier seine Zauberbücher verborgen hielt, nämlich in einem winzigen Kabinett, das ganz und gar mit schwarzem Tuch ausgeschlagen war. Da lagen viele große, mit schönen Schlössern und Beschlägen verzierte Bücher, und mitten unter ihnen ein kleines, unscheinbares rotes Buch. Die Prinzessin hieß Ewenn Congar das wichtigste Buch auswählen, und er griff ohne Zaudern nach dem kleinen roten. »Das ist gut«, rief die Prinzessin, »du bist der Richtige, nun gib acht, ich will dich in der schwarzen Kunst unterweisen, damit du den Zauberer bestehen kannst.«

Nach einem Jahr und einem Tag erschien der Herr des Schlosses wieder, wie er angezeigt hatte. Er war sehr zufrieden mit Congars Diensten und sagte ihm, er solle noch ein weiteres Jahr bei ihm bleiben, er wolle ihm auch den doppelten Lohn zahlen. »Nein, danke, Herr«, antwortete Ewenn Congar, »ich will zu meinem Vater zurückkehren.« — »Aber bedenke doch, daß du jetzt mehr als zwölftausend Meilen von deiner Heimat entfernt bist.« — »Mir gleich, Herr, ich muß zu meinem alten Vater zurück.« — »Gut, wie du willst. Hier hast du deine fünfhundert Taler Lohn, und ich werde dir noch ein Pferd geben, damit du nach Hause zurückkehren kannst. Komm in den Stall und such dir eins aus.« Sie gingen in den Stall, und Ewenn tat, als ob er nicht wüßte, welches er sich wählen sollte; dann zeigte er auf die Apfelschimmelstute und



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sagte: »Die hier will ich, die kleine Stute da.« —»Was, diese Mähre? Du verstehst wirklich nichts von Pferden. Schau doch hin, daneben, das sind schöne Rosse.« — »Nein, gerade diese Apfelschimmelstute hat mir's angetan, die will ich, und keine andere.« — »Der Teufel soll dich holen! Nimm sie also, aber merke dir, ich kriege dich doch noch!« Congar führte die Apfelschimmelstute aus dem Stall und hinaus auf den Hof. Kaum waren sie außerhalb des Schlosses, so verwandelte sich die Stute und wurde wieder eine wunderschöne Prinzessin. »Nun kehre nach Hause zurück«, sprach die Prinzessin zu ihrem Befreier, »ich will ebenfalls zu meinem Vater gehen, dem König von Spanien, dort wirst du mich finden, übers Jahr und über einen Tag.« Und im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Also machte sich Congar mutig auf den Weg zu seiner Heimat. Als er nur noch wenige Meilen bis zum Hause seines Vaters hatte, begegnete ihm ein Bettler, den er früher oft gesehen hatte; dieser aber erkannte ihn nicht. Den fragte er: »Guter Mann, ist Euch nicht vielleicht ein gewisser Ewenn Congar bekannt?« —»Oh, den kenne ich gut, ich wohne ja nicht weit von ihm«, antwortete der alte Bettelmann. — »So lebt er noch? Und wie geht es ihm?« — »Er lebt schon noch, aber es geht ihm sehr schlecht, und er ist nicht viel glücklicher dran als ich. Denn das Wenige, das er besaß, hat er vergeudet, um seinen Sohn auf die Schule schicken zu können; dieser aber kümmert sich nicht um ihn, und niemand weiß, was aus ihm geworden ist.«

Congar erwiderte nichts, gab dem Bettler ein großes Goldstück und eilte nach Hause. Als er zu der morschen Hütte kam, fand er seinen alten Vater auf einem runden Feldstein vor der Türschwelle hocken. Er umarmte ihn und rief: »Guten Tag, lieber Vater, da bin ich wieder!« Doch sein Vater erkannte ihn nicht und sagte: »Schämt Euch, daß Ihr Euch über einen alten Mann lustig macht!« —»Nicht doch, Vater! Jetzt bin ich reich, nun sollst du dich erholen, wir wollen uns gemeinsam ein schönes Leben machen. Da, schau her!« —Und damit warf er die fünfhundert neuen Goldstücke auf den Tisch. Dann ließ er den Vater im Ort einkaufen, Weißbrot, Fleisch, Speck, Würstchen, Apfelmost und sogar Wein, und sie veranstalteten ein wahres Festessen und luden auch ihre Nachbarn dazu ein.

Alle Tage ging es so herrlich zu, solange die fünfhundert Goldstücke reichen wollten. Aber als der alte Ewenn Congar den letzten Dukaten wechseln mußte, sprach er zu seinem Sohn: »Nun sind wir am Ende mit unserem Geld, mein Söhnchen, jetzt wird wieder Schmalhans Küchenmeister bei uns werden.« — »Macht Euch deshalb keine Sorge,



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Vater, denn habt Ihr Euch um alles gebracht, damit Ihr mich zur Schule schicken konntet, so hab' ich einiges unterwegs gelernt, wie Ihr bald erleben werdet, und ich werde es Euch weder an Geld noch an sonst irgend etwas mangeln lassen. Morgen früh, Vater, geht auf den Viehmarkt von Lannion, um dort einen feisten Ochsen zu verkaufen.« »Und woher soll ich den Ochsen nehmen, Söhnchen? Es ist lange her, daß ich einmal einen Ochsen, eine Kuh und ein Kalb mein eigen nannte.« —»'S ist gleich, woher der Ochse kommt, doch morgen früh, wenn Ihr aufsteht, werdet Ihr vor Eurer Tür einen stattlichen Ochsen finden; den führt nach Lannion zum Viehmarkt und verlangt zweihundert Taler dafür. Ihr werdet sie auch erhalten, ohne einen Heller nachzulassen. Doch behaltet den Strick zurück!« — »Der Strick wird mitverkauft, so ist es üblich«, sagte der Alte. »Ich sage Euch, gebt den Strick unter keinen Bedingungen her, oder Ihr bringt mich in große Gefahr. Ihr versteht mich doch, bringt den Strick unter allen Umständen wieder nach Hause; ansonsten verliert Ihr etwas, was Euch so teuer ist wie Euer eigenes Leben.« — »Also gut, ich werde den Strick nicht hergeben, obwohl das nicht üblich ist.«

Am nächsten Morgen fand der Alte in der Tat vor seiner Tür einen prächtigen Ochsen, der hatte einen ganz neuen Strick um den Hals. Der alte Ewenn Congar führte den Ochsen zum Viehmarkt nach Lannion, ohne sich wegen seines Sohnes irgendwelche Gedanken zu machen. Kaum war er mit dem Ochsen auf dem Markt angelangt, drängten sich alle Händler und Metzger heran, um ihm den Ochsen abzuhandeln. »Was kostet der Ochse, guter Mann?« — »Zweihundert Taler, und der Strick bleibt mir!« —»Ihr seid nicht ganz bei Trost. Sagt hundertfünfzig und schlagt ein, dann trinken wir noch eine Flasche zusammen darauf.« »Zweihundert Taler, und nicht einen Heller weniger.« —»Na schön, Ihr werdet sehen, Ihr bleibt sitzen mit Euerm Ochsen.« Schließlich hatten alle Metzger und alle Händler den Ochsen betrachtet, abgetastet und ihr Gebot gemacht. Wie der Alte jedoch immerzu auf zweihundert Talern bestand, ohne etwas nachzulassen, hatten sie sich verlaufen. Als der Markt zu Ende und die Sonne schon zur Rüste ging, erschien noch ein fremder Händler, mit flammendroten Haaren und stechenden, unruhigen Augen; der näherte sich dem alten Ewenn Congar, betrachtete den Ochsen und fragte: »Na, Biedermann, wieviel soll der Ochse kosten?« — »Zweihundert Taler, und der Strick bleibt mir.« — »Das ist ziemlich teuer; aber das Tier gefällt mir, ich kann es gut gebrauchen, hier sind die zweihundert Taler. So, und nun gebt mir den Strick; damit ich den Ochsen wegführen kann.« — »Ohne den Strick! Ich habe Euch



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gesagt, der Strick bleibt mir.« —»Was soll das heißen? Der Strick gehört immer dem Käufer, alter Narr!« — »Den Strick gebe ich Euch nicht, ich sag's noch einmal, und wenn Euch das nicht paßt, ist der Handel hinfällig. Ihr behaltet Euer Geld und ich meinen Ochsen.« — »So häng dich auf mit deinem Strick!« Und damit ging der Fremde fort. Der Ochse wurde endlich verkauft an einen Metzger aus Morlaix, der ihn mitnahm und ihn in seinen Stall stellte, um ihn am nächsten Tag zu schlachten. Aber am andern Morgen war der Ochse aus dem Stall verschwunden, und Ewenn Congar war wieder bei seinem Vater.

Solange nun die zweihundert Taler reichten, führten Vater und Sohn ein lustiges Leben wie zuvor, und ihre Freunde hatten auch ihren Teil daran. Als es aber wieder an den letzten Sechser ging, sagte der junge Mann zu seinem Vater: »Morgen früh, Vater, mußt du auf den Viehmarkt von Bré und dort ein Pferd verkaufen.« — »Und woher sollen wir das Pferd nehmen, mein Sohn?« — »Es wird dorther kommen, woher auch der Ochse gekommen ist. Das laßt nur meine Sorge sein. Morgen früh werdet Ihr es an Eurer Tür finden. Dreihundert Taler müßt Ihr dafür verlangen und keinen Heller heruntergehen! Ihr werdet sie auch kriegen. Aber erinnert Euch, wie bei dem Ochsen verkauft unter keiner Bedingung den Halfter mit. Bringt ihn ja wieder mit nach Hause, oder es kommt Euch teuer zu stehen, und mich auch.« — »Schon gut«, antwortete der brave Alte, »ich werde den Halfter wieder mit nach Hause bringen, da du es so willst, obwohl das hierzulande nicht üblich ist.«

Am nächsten Morgen ritt der alte Congar also auf den Pferdemarkt von Bré, mit einem wunderschönen Pferd, auf das er furchtbar stolz war, und er wunderte sich nicht einmal darüber, was aus seinem Sohn geworden sein konnte.

Auf dem Markt kamen zahllose Händler von Cornouaille, von Léon und von Tréguier herbei und handelten um das Roß, da ihnen das Tier über die Maßen gefiel. Aber da der Alte von seinen dreihundert Talern auch nicht einen Heller abging, ließen sie ihn samt seinem Pferde stehen.

Gegen Abend erschien wieder der unbekannte Händler, der schon um den Ochsen gefeilscht hatte, und gleich den anderen fragte er: »Wieviel soll das Pferd kosten, Biedermann?« — »Dreihundert Taler, und der Halfter bleibt mir.« —»Das ist teuer, aber das Pferd gefällt mir, und ich werde dir die dreihundert Taler geben, ohne einen Heller abzuhandeln. Jedoch mußt du mir den Halfter lassen, das ist nicht mehr als üblich.« »Mitnichten, der Halfter bleibt mir, oder der Handel gilt nichts.«



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»Alter Dummkopf, weißt du denn nicht, daß der Halfter immer und stets dem Käufer gehört?«

»Das kann jeder halten, wie er mag. Ich aber will mein Pferd verkaufen und den Halfter behalten.« —»Daß dich der Teufel hole, dich samt deinem Roß und dem Halfter!« — Und voller Wut und Zorn verschwand er.

Das Pferd wurde ein wenig später an einen Roßhändler aus der Normandie verkauft, der es nach Guingamp mitnahm, wo er es mit mehreren anderen Pferden zusammen für die Nacht in den Stall tat, um am nächsten Tag weiterzureisen. Doch am andern Morgen war das Pferd verschwunden, ohne daß der Händler gewußt hätte, wie es zugegangen war. Und Ewenn Congar war wieder im Hause seines Vaters.

Als die dreihundert Taler von neuem ausgegeben waren, ließ sich Ewenn zum dritten Mal, diesmal als Esel, von seinem Vater auf den Markt von Bré führen; zweihundert Taler sollte der Vater für den Esel fordern und gut darauf achten, daß er den Halfter wieder mit nach Hause bringe.

Und wiederum stellte sich der rothaarige Händler ein. »Wieviel der Esel, alter Freund?« — »Zweihundert Taler!« — »Viel Geld, viel Geld für das abgetriebene Langohr, aber ich liebe es nicht zu feilschen - da sind die zweihundert Taler, her mit dem Esel!« und schnell sprang er auf das Tier. »Hallo«, rief der alte Congar, »den Halfter müßt Ihr mir lassen!« — »Zu spät, Graukopf«, erwiderte spöttisch der andere, schlug mit dem Stock auf den Esel ein und jagte im Galopp davon. Nach einiger Zeit kam er vor eine Schmiede am Wege, dort hielt er an und sagte zudem Schmied: »Rasch, rasch, Meister, macht mir vier Hufeisen, aber jedes zweihundert Pfund schwer, und beschlägt meinen Esel damit!« »Wollt Ihr mich zum Narren halten?«gab der Schmied zurück. »Keineswegs, tut, wie ich Euch sage, und ich werde es Euch gut bezahlen. «

Während der Schmied daranging, die vier Hufeisen zu machen, wurde der Esel an einem Ring draußen vor der Schmiede angebunden. Die Kinder standen um ihn herum und zogen ihn an den Ohren, damit er schrie. »Bindet mich los«, sprach da der Esel. »Ein Esel, der reden kann!« rief einer der Buben. — »Was hat er gesagt?«fragte ein anderer. »Wir sollen ihn losbinden.« — »Ja, Kinder, bindet mich los, und ihr werdet etwas Lustiges zu sehen bekommen«, wiederholte der Esel. Da lösten die Kinder den Knoten. Sofort verwandelte sich der Esel in einen Hasen und stob über die Felder davon, daß der Staub aufwirbelte. Als der Zauberer das Geschrei der Kinder vernahm, eilte er aus der



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Schmiede und fragte: »Wo ist mein Esel?« — »Er hat sich als Hase aus dem Staub gemacht«, schrien die Buben. — »Wohin ist er gelaufen?« — »Dorthin über das Feld!« —und schon jagte der Zauberer als Jagdhund fort und setzte dem Hasen nach. Wie er diesem dicht auf den Fersen war, verwandelte sich der Hase unversehens in eine Taube und flog davon, der Zauberer nun als Sperber hinterdrein. So schossen sie durch die Luft, der Sperber immer dicht hinter der Taube, bis sie an das Schloß des Königs von Spanien kamen. Es fehlte nicht mehr viel, und der Sperber packte die Taube, da erschien die Königstochter an einem Fenster des Schlosses, und flugs wurde die Taube zu einem Ring und glitt der Prinzessin an den Finger. Da nahm der Zauberer menschliche Gestalt an, ging zum Schloß und meldete sich als Arzt, der den schon lange schwerkranken König heilen wolle. Weil nun die Ärzte des ganzen Landes ihre Künste an dem alten König bisher vergeblich ausprobiert hatten, ließ ihn der Kranke kommen, und nach ganz kurzer Zeit hatte er ihn geheilt. Darüber war der König so glücklich, daß er ihm alles versprach; was er auch verlange, er werde es ihm geben.

Der falsche Arzt jedoch sprach: »Ich erbitte mir nicht viel, o König, nichts anderes und nicht mehr als den goldenen Ring, den die Prinzessin, Eure Tochter, am Finger trägt.« — »Wie, Ihr wolltet Euch mit so wenig zufriedengeben? Und wenn Ihr Gold von mir verlangt, so viel, wie meine Krone, mein Zepter und mein Thron zusammen wiegen, ich werde es Euch geben.« —»Nein, König, ich bitte nur um den goldenen Ring von der Hand Eurer Tochter.« — »Gut denn, wie Ihr wollt. Morgen früh sollt Ihr ihn bekommen.«

Als sich die Prinzessin am Abend zum Schlafen niederlegte, mit dem Ring an ihrem Finger, erschrak sie sehr, denn auf einmal lag neben ihr ein Mann, der sprach geschwind zu ihr: »Prinzessin, erkennt Ihr mich nicht? Es ist gerade ein Jahr her, da habe ich Euch aus der Gewalt des Zauberers befreit. Seit ich Euch erlöst habe, verfolgt mich die Rache des Zauberers ohne Unterlaß. Jetzt ist es ihm, als Arzt verkleidet, gelungen, Euren Vater von seiner Krankheit zu heilen. Zum Preis dafür verlangt er den Ring, den Ihr am Finger hattet. Nun bitte ich Euch, zu tun, was ich Euch sage. Antwortet dem Zauberer, Ihr wolltet ihm den Ring geben und Ihr wolltet ihn sogar selber ihm an den Finger stecken. Dabei laßt den Ring zu Boden fallen. Ist es soweit, macht Euch wegen des Ausgangs keine Sorge mehr; alles wird gutgehen; wenn Ihr genau tut, was ich Euch gesagt habe.«

Am nächsten Morgen ließ der König seine Tochter zu sich rufen; der Zauberer, als Arzt verkleidet, war bei ihm, und der König sagte zu der



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Prinzessin: »Siehe, meine Tochter, das ist der Mann, der mir Gesundheit und Leben geschenkt hat, indessen alle Ärzte des ganzen Reiches meinem Leiden machtlos zusahen. Zur Belohnung für diesen unschätzbaren Dienst fordert er nichts weiter als den goldenen Ring, den du am Finger trägst. Das wirst du ihm nicht abschlagen.« —»Wahrhaftig nicht, mein Vater«, antwortete die Prinzessin, »und ich bitte sogar darum, ihm den Ring sogleich auf den Finger stecken zu dürfen.«

Damit zog sie den Ring von ihrem Finger, doch in dem Augenblick, da sie ihn dem Zauberer anstecken wollte, tat sie, als ob sie zu bewegt oder ungeschickt wäre, und ließ ihn zu Boden fallen. Sofort wurden aus dem Ring viele Kichererbsen, die auf dem Boden herumkollerten. Doch schnell verwandelte sich der Zauberer, um die Erbsen auf zupikken, in einen Hahn. Da wurden die Erbsen zu einem Fuchs, der stürzte sich auf den Hahn und biß ihn tot. So endete der Wettkampf, und Ewenn Congar hatte den bösen Zauberer endlich besiegt. Nun nahm die Prinzessin Ewenn bei der Hand und berichtete ihrem Vater, wie Ewenn sie befreit hatte. Und er erzählte, was sich inzwischen zugetragen und wie der Zauberer ihn mit seiner Rache verfolgt habe. Darauf bekam Ewenn die Prinzessin zur Frau, es wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert, und der alte Ewenn Congar war auch dabei, denn er lebte immer noch.


Die Zauberdinge und die wunderbaren Früchte

Es waren einmal drei Brüder, die hatten sich sehr lieb. Als der erste erwachsen war, zog er fort, um Soldat zu werden; später ging der zweite in das gleiche Regiment, und auch der dritte Bruder schloß sich ihnen an, als seine Zeit gekommen war.

Nun war aber die Dienstzeit des ältesten beendet; da sagte er zum mittleren: »Ich werde noch Soldat bleiben, um auf dich zu warten.«

Als auch der zweite Bruder mit seinem Dienst fertig war, sagten die beiden ältesten: »Wir werden noch länger bei den Soldaten bleiben und mit dir zusammen unseren Abschied nehmen.«

So wurden sie denn zur gleichen Zeit entlassen und zogen zusammen wieder in ihr Dorf zurück. Sie waren lange gegangen, ohne auf eine menschliche Behausung zu stoßen; es war schon spät, und sie hatten Hunger. Endlich kamen sie an eine Mühle und baten um Aufnahme. »Ich kann euch wohl etwas zum Essen geben«, sagte der Müller, »aber ich habe keinen Platz, um euch für die Nacht unterzubringen. Ich habe



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hier wohl in der Nähe ein altes verfallenes Schloß, aber die, die darin schlafen wollten, sind nie zurückgekehrt. Um das Schloß zu erlösen, muß jemand drei Nächte hintereinander dort zubringen.«

»Wir werden dort schlafen«, antworteten die Brüder. Sie speisten bei dem Müller gut zur Nacht; dann begaben sie sich zum Schloß. Dort fanden sie ein gutes Bett, und sie beschlossen, daß immer einer wachen sollte, während die beiden anderen schliefen. Der älteste sagte: »Da ich am ältesten bin, werde ich heute abend wachen.«

Gegen Mitternacht hörte er draußen einen großen Sturm heulen, der immer näher kam und dann plötzlich aufhörte. Darauf klopfte es dreimal an die Tür. »Wer ist draußen?«fragte der Soldat.

»Der Schloßherr! Laß mich hinein!«

»Nein, ich lasse niemanden herein!«

»Bitte, laß mich hinein, ich werde dir einen Zaubermantel geben!«

»Laß sehen!«Der Soldat öffnete die Tür, der Teufel trat ein und reichte ihm den Mantel.

»Man muß sich nur daraufsetzen, sich irgendwohin wünschen, und schon ist man dort!«

»Gut, Ihr könnt hereinkommen, aber leise, damit meine Brüder nicht aufwachen. Aber bleibt nicht länger als zehn Minuten!«

Der Teufel trat näher, machte schnell eine Runde im Schloß, und nach kaum zehn Minuten verschwand er wieder.

Als es Tag wurde, legte sich der älteste zu den beiden Brüdern, ohne vom Besuch des Teufels zu erzählen. Dann gingen alle drei in die Mühle, um dort zu essen. Der Müller fragte: »Habt ihr nichts gesehen?«

»Nein, nichts, wir haben gut geschlafen.«

Der Müller war sehr zufrieden, brachte ihnen die besten Speisen und wollte sie noch eine Nacht dabehalten. Diesmal übernahm der zweite Bruder die Wache. Gegen Mitternacht hörte er Sturm- und Donnergetöse, das schnell näher kam und dann plötzlich aufhörte. Dann ließen drei laute Schläge das Schloßtor erzittern.

»Wer ist da?«fragte der Jüngling.

»Der Schloßherr! Laß mich hinein!«

»Nein, ich lasse niemanden herein!«

»Bitte, laß mich hinein, ich gebe dir dafür einen Zauberbeutel.«

»Laß sehen!«

Der Jüngling öffnete die Tür, der Teufel trat herein und gab ihm den Beutel. »Du kannst so viel Gold und Silber daraus nehmen, wie du willst, er wird immer voll bleiben.«



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»Gut, Ihr könnt hereinkommen, aber seid leise, damit meine Brüder nicht aufwachen. Ihr habt fünf Minuten Zeit.«

Der Teufel murmelte vor sich hin: »Die drei Brüder verteidigen sich gut, es sieht so aus, als wollten sie hierbleiben. Morgen werde ich mit ihnen abrechnen!« Er trat ein, machte schnell seine Runde, und als die fünf Minuten um waren, verschwand er wieder.

Am nächsten Morgen legte sich der Jüngling zu seinen beiden Brüdern; diese hatten nichts gehört. Dann begaben sich die drei zur Mühle; der Müller war noch fröhlicher als am Vortag, gab ihnen gut zu essen und zu trinken und wollte sie noch eine Nacht bei sich behalten.

Diesmal war die Reihe am jüngsten, die Wache zu übernehmen. Gegen Mitternacht hörte er, wie sich unter lautem Sturm- und Donnergetöse eine Karosse näherte; dann wurde es plötzlich still, und drei gewaltige Schläge erschütterten das Schloß.

»Wer ist draußen?«

»Der Schloßherr! Laß mich hinein!«

»Nein, ich laß niemanden herein!«

»Bitte, laß mich hinein! Ich werde dir ein Zaubertuch geben!«

»Laß sehen!« Der Jüngling öffnete, der Teufel kam herein und zeigte ihm das Tuch.

»Wenn man es ausbreitet, steht es gleich voller bester Speisen und Weine, die für alle reichen, die essen wollen.«

»Gebt es mir und kommt herein; aber hütet Euch, meine beiden Brüder zu wecken! Ihr habt zwei Minuten Zeit!«

Der Soldat wartete, sein Gewehr im Anschlag; der Teufel hatte gerade die Zeit, seine Teufelsbücher zusammenzuraffen, dann fuhr er schnell fort in der Karosse, in der er eigentlich die drei Brüder entführen wollte. Er war wütend, weil er keine Macht mehr über das Schloß hatte.

Am nächsten Morgen beglückwünschte der Müller die drei Soldaten, die sich wieder auf den Weg machten. Bald bekamen sie Hunger; die zwei älteren stellten bekümmert fest, daß keine Herberge in der Nähe sei. »Macht euch keine Gedanken um einen Ort zum Essen«, sagte der jüngste; »ich habe hier in meinem Bündel genug, um euch alle beide satt zu machen.« Er hieß sie, sich am Feldrain niedersetzen, zog sein Tuch heraus und breitete es auf dem Boden aus. Und im gleichen Augenblick war es beladen mit allem, was man für drei Personen braucht.

»Das hat mir der Teufel gegeben, weil ich ihn ins Schloß hereingelassen habe«, sagte er.



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Alle drei speisten, dann faltete der jüngste sein Tuch zusammen, steckte es in sein Bündel, und sie machten sich wieder auf den Weg. Bald kamen sie in eine Stadt, und sie schämten sich ihrer abgenutzten Kleider; man hatte sie ihnen bei ihrer Entlassung gegeben, aber jetzt waren es nur noch Lumpen.

»Wir wollen diese alten Fetzen nicht länger behalten«, sagte der mittlere; »ich habe genug, um uns neue Kleider zu kaufen.« Und er zog den unerschöpflichen Beutel aus seiner Tasche. »Den habe ich vom Teufel bekommen, weil ich ihn einen Augenblick in das Schloß hereingelassen habe«, sagte er; und er führte seine Brüder in den schönsten Laden, den sie wenig später wie Prinzen angetan verließen. Sie machten sich wieder auf den Weg, aber sie waren noch weit von ihrem Dorf entfernt und sie murrten über den langen ermüdenden Weg.

Da sagte der älteste: »Wir werden nicht mehr lange weiterlaufen; ich werde euch im Handumdrehen zu uns nach Hause bringen!« Er zog den Mantel aus seinem Bündel und breitete ihn aus.

»Den habe ich vom Teufel bekommen, weil ich ihn einen Augenblick ins Schloß hereingelassen habe. Setzt euch darauf, an meine Seite!« Als alle drei Platz genommen hatten, wünschte sich der älteste in seine Heimat, und schon waren sie dort. Ihre Eltern waren sehr erstaunt, als sie die schönen Herren ankommen sahen, und als sie in ihnen ihre Söhne erkannten, war die Freude groß. Dank des Zaubertuches und des Zauberbeutels lebten die drei Brüder und ihre Eltern von nun an im Überfluß und im Reichtum.

Einige Zeit später ließ der König überall bekanntmachen, daß der, der in einem Tag für seinen ganzen Hofstaat ein prächtiges Mahl bereiten könne, seine Tochter zur Frau haben solle.

Der älteste der drei Brüder sagte: »Mit meinem Zaubermantel könnte ich die besten Köche holen.« Und der mittlere sagte: »Mit meinem Zauberbeutel könnte ich die teuersten und seltensten Dinge kaufen!« Der jüngste aber sagte: »Mit meinem Zaubertuch kann ich im Handumdrehen die prächtigste Mahlzeit servieren!«

»Das ist wahr!« sprachen die anderen.

»Leiht mir eure Wunderdinge, und ich werde die Prinzessin leicht gewinnen. «

Ersetzte sich auf den Mantel und befand sich sofort am Königshof, wo er seine Dienste anbot. Mit seinem unerschöpflichen Beutel konnte er das schönste goldene Geschirr kaufen, die feinste Tischwäsche und die schönsten Blumen der ganzen Stadt. Dann breitete er sein Tischtuch aus, das sofort mit den besten Speisen und Weinen beladen war. Der



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König war es zufrieden, und der Jüngling erhielt die Erlaubnis, der Prinzessin den Hof zu machen, bevor er sie heiratete.

Aber eines Tages fragte die Prinzessin:

»Wie konntest du nur so schnell ein so prächtiges Mahl herrichten?«

»Ich habe ein Zaubertuch, das ich nur ausbreiten muß, damit es mit den besten Dingen beladen ist.«

»Laß sehen!« sagte die Prinzessin.

Der Jüngling zog das Tuch heraus, breitete es über einen Tisch, der sofort all das trug, was man für zwei Personen zum Speisen braucht.

»Schenke mir das Tüchlein als Beweis deiner Liebe!«bat die Prinzessin. Er gab es ihr, und die Königstochter brachte es in ihr Zimmer.

Als der Jüngling am nächsten Tag wieder vor ihr stand, erklärte die Prinzessin: »Ich habe nachgedacht, ich will mich nicht mehr verheiraten, es sei denn, du hättest noch ein anderes Geschenk, das meiner würdig ist.«

»Ich habe auch noch eine Zauberbörse, die niemals leer wird.« »Laß sehen!«

Er zeigte sie ihr und bewies ihr, daß man so viel Geld daraus holen könne, wie man wolle, ohne sie jemals leeren zu können.

»Gib sie mir, dann kann ich dich heiraten!« sagte die Prinzessin. Der Jüngling gab ihr den kostbaren Beutel, und die Prinzessin legte ihn zu dem Zaubertuch.

Aber am anderen Morgen, als er wieder vor ihr stand, sagte die Königstochter zu ihm: »Ich habe aufs neue nachgedacht; wirklich, ich kann nicht deine Frau werden, wenn du mir nicht noch ein letztes Geschenk machen kannst, das meiner würdig ist.«

»Ich habe noch einen Zaubermantel, der einen dahin bringt, wohin man will. Aber ich kann ihn dir erst nach der Hochzeit geben.«

»Meinetwegen, aber zeige mir, wie man damit umgeht.«

Der Jüngling breitete den Mantel aus, setzte sich darauf und bat die Prinzessin, an seiner Seite Platz zu nehmen. Dann wünschte er sich ans Ufer des Roten Meeres; und schon flogen sie weit, weit weg, in ein unbekanntes Land.

»Geh, hol mir diese Blume dort, ehe du mich wieder nach Hause bringst«, bat die Prinzessin. Der Jüngling wandte sich zu der Blume, und die Prinzessin, die allein auf dem Mantel zurückgeblieben war, wünschte sich wieder in das Schloß ihres Vaters, wo sie auch alsbald ankam. Sehr zufrieden tat sie den Zaubermantel zu den beiden anderen Dingen.

So war nun der arme Jüngling ganz allein, in einem fremden, weitentfernten



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Land. Einige Zeit irrte er umher, und schon bald hatte er sehr viel Hunger und Durst.

Er kam an einem sehr schönen, verlassenen Garten vorbei, dessen Bäume prächtige Früchte trugen. Aber auf einmal merkte er, als er von den Äpfeln aß, daß jeder der Äpfel ihm ein Horn wachsen ließ. Erschrocken hielt er inne, aber er hatte immer noch Hunger.

»Vielleicht habe ich bei den Birnen mehr Glück«, sagte er sich. Und er begann, von den kleinen goldgelben Birnen zu essen, und jede Birne, die er aß, ließ ein Horn verschwinden. Da flocht er sich zwei Körbe aus Waidreben, füllte den einen mit den dicken Äpfeln, die Hörner hervorzaubern konnten, und den anderen mit den kleinen Birnen, die die Hörner wieder verschwinden ließen. Dann machte er sich auf den Heimweg; um nicht Hungers zu sterben, bettelte er auf dem ganzen Weg. Eines schönen Tages endlich fand er sich wieder in der Stadt der schönen Prinzessin, die ihn so sehr betrogen hatte. Er verkleidete sich als Bauer, hängte seinen Korb mit Äpfeln an den Arm, marschierte vor dem Palast auf und nieder und rief: »Äpfel! Schöne Äpfel zu verkaufen!«

Die Prinzessin hörte ihn und steckte den Kopf aus dem Fenster; die dicken roten Äpfel ließen ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen, und sie schickte eine Dienerin hinunter, den ganzen Korb zu kaufen. Bei der Mahlzeit wurden die Äpfel als Nachtisch aufgetragen. Der König, die Königin und die Prinzessin versuchten, und sie fanden die Äpfel so herrlich, daß sie drei oder vier davon auf einmal aßen. Aber als sie die Köpfe hoben, schrien sie vor Entsetzen auf, als sie bemerkten, daß ihnen allen ganz ansehnliche Hörner gewachsen waren.

Voller Scham versteckten sich der König, die Königin und die Königstochter in ihren Gemächern. Man rief den Hofarzt, aber der erklärte, eine solche Krankheit sei ihm noch nie untergekommen und er könne sie nicht heilen. Da ließ der König im ganzen Lande bekanntmachen, daß derjenige, der sie alle drei heilen könnte, seine Tochter zur Frau bekommen werde.

Von überall her kamen Ärzte, aber keiner wußte ein Mittel, das die Hörner verschwinden ließ. Es kam sogar ein Chirurg, aber jedesmal, wenn er ein Horn abgesägt hatte, wuchs ein neues, das noch viel länger war. Endlich verkleidete sich der geprellte Jüngling als Arzt und bot seinerseits seine Hilfe an. Er hatte seine goldgelben Birnen mitgebracht, und er gab zuerst dem König und der Königin davon zu essen. Die Hörner fielen sofort ab; aber die Prinzessin, die am gefräßigsten gewesen war und deren Haupt zwei Paar schöne Hörner trug, wollte er noch



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ein wenig zappeln lassen. So gab er ihr zunächst statt der Wunderbirnen eine gewöhnliche Birne zu essen, und er tat sehr erstaunt, als er kein Horn verschwinden sah.

»Prinzessin, wenn mein Mittel nicht wirkt, dann nur deswegen, weil Ihr eine große Lüge oder einen Diebstahl auf dem Gewissen habt, vielleicht sogar beides.«

»Ja, tatsächlich; ich sollte einen jungen Mann heiraten, der ein Zaubertuch besaß, aber als er mir das Tuch gegeben hatte, wollte ich ihn nicht mehr.«

»Gebt mir das Tuch, damit ich es seinem Besitzer wiedergeben kann, dann werde ich Euch helfen.«

Sie gab ihm das Tuch, und er ließ sie eine kleine goldgelbe Birne essen, und ein Horn verschwand. Dann gab er ihr wieder eine gewöhnliche Birne, die keine Wirkung hatte.

»Ihr müßt noch einen anderen Betrug auf dem Gewissen haben.«

»Ja, ich habe dem Jüngling versprochen, ihn zu heiraten, wenn er mir einen Zauberbeutel geben wolle, aber als ich ihn hatte, wollte ich ihn nicht mehr heiraten.«

»Gebt mir den Beutel zurück, damit ich ihn seinem Besitzer wiedergeben kann, dann werde ich Euch helfen.«

Sie gab ihm den Beutel, und er ließ sie eine goldgelbe Birne essen, und das zweite Horn fiel ab. Dann gab er ihr wieder eine gewöhnliche Birne, ließ sie gestehen, auch den Zaubermantel gestohlen zu haben, und ließ sich diesen zurückgeben; da verschwand auch das dritte Horn.

»Bevor ich Euch nun von dem vierten Horn befreie, muß ich die Zauberdinge wieder ihren Besitzern zurückbringen.«

Er zog fort, gab seinen beiden Brüdern den Mantel und die Börse zurück und ging wieder zur Prinzessin. Er entdeckte sich ihr, warf ihr die Betrügereien vor und erklärte, daß er ihr das vierte Horn erst nach der Hochzeit wegnehmen wolle, da er kein Vertrauen mehr zu ihr haben könne.

Sie hielten Hochzeit, und danach ließ der Jüngling auch das vierte Horn mit Hilfe der goldgelben Birnen verschwinden. Um ihren Betrug wiedergutzumachen, liebte ihn die Prinzessin sehr und schenkte ihm viele Kinder, und alle lebten glücklich bis an das Ende ihrer Tage.



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Der Drache und die schöne Florine

Es war einmal ein König, der hatte drei Kinder: zwei Söhne und eine Tochter; diese hieß Florine und war sehr schön.

Als des Königs Weib starb, heiratete er wieder eine Frau, die selbst schon eine Tochter hatte; diese hieß Tritonne und war ebenso häßlich, wie Florine schön war. Sehr bald wurde die Stiefmutter eifersüchtig auf Florine, weil sie sah, daß jeder sie ihrer eigenen Tochter vorzog, und sie behandelte sie sehr schlecht.

Die Brüder Florines waren am Hofe eines jungen Königs; dem erzählten sie von der Schönheit ihrer Schwester. Der König wollte sie sehen und sie zu seiner Frau machen. Deshalb kamen die Söhne zu ihrem Vater zurück und baten ihn, Florine mit ihnen ziehen zu lassen. Der Vater gab die Erlaubnis, aber die Stiefmutter und ihre Tochter bestanden darauf, die drei Geschwister zu begleiten.

Der Tag der Abreise kam, und alle bestiegen ein großes Schiff. Als man etwas vom Ufer entfernt war, da riefen Florines Brüder: »Florine, hörst du den Gesang der Sirene, die den Wal besänftigt?«

Florine fragte ihre Stiefmutter: »Mutter, was haben meine Brüder gesagt?«

»Sie haben gesagt, du sollst dir ein Auge ausstechen!« antwortete die Stiefmutter. Und sie gab ihr ein kleines spitzes Messer.

Florine stach sich ein Auge aus, und die Stiefmutter nahm es und steckte es in ihre Tasche.

Etwas später riefen die Brüder wieder: »Florine, hörst du den Gesang der Sirene, die den Wal besänftigt?«

Florine fragte die Stiefmutter: »Mutter, was sagen meine Brüder?«

Und die böse Frau antwortete: »Sie sagen, du sollst dir auch das zweite Auge ausstechen!«Florine stach sich auch das zweite Auge aus und gab es ihrer Stiefmutter. Und die Brüder riefen zum dritten Male:

»Florine, hörst du die Sirene, die den Wal besänftigt?«

Und Florine fragte wieder die Stiefmutter, was sie wollten. Diese antwortete: »Sie sagen, du sollst ins Wasser springen!«

Als sie das sagte, stieß sie Florine ein wenig an, und die Stieftochter verschwand in der Flut.

Wie groß war die Überraschung der beiden Jünglinge, als das Boot am Ufer anlegte und sie von der Stiefmutter erfuhren, daß Florine ins Wasser gestürzt sei. Sie wagten nicht, zum König zu gehen, da sie ihm doch versprochen hatten, ein schönes Mädchen mitzubringen, und nun kamen sie nur mit der häßlichen Tritonne. Als der König sie rufen ließ,



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mußten sie die Stiefschwester wohl oder übel vorstellen. Der König wurde sehr zornig und befahl, die beiden Jünglinge sofort einzusperren, aber er heiratete trotzdem Tritonne, weil er nun einmal versprochen hatte, das junge Mädchen zu heiraten, das man zu ihm bringen würde. Aber Florine war nicht tot. Auf dem Meeresgrund hatte sie ein Drache empfangen und ihr gesagt, daß sie nicht unglücklich sein werde, wenn sie bei ihm bleiben wolle, und Florine hatte zugesagt.

Sie war sehr lange bei dem Drachen, und eines Tages sagte sie zu ihm, daß sie traurig sei, die Pracht des Meeresbodens nicht bewundern zu können, weil sie blind sei. Der Drache versprach, ihr das Augenlicht wiederzugeben, wenn sie immer bei ihm bleiben wolle, und sie sagte zu.

Nun hatte aber der Drache, der sehr geschickt war, eine schöne Spindel aus Gold gebastelt, und er ging auf einen Marktplatz, um sie zu verkaufen. Bald kamen zwei schön gekleidete Damen, um mit ihm zu handeln.

»Wieviel wollt Ihr für diese Spindel haben?«fragten sie.

»Ich will ein Auge dafür haben.«

»Mein Gott, was für ein Gedanke! Ein Auge! Wo sollen wir denn ein Auge herbekommen? Sagt uns lieber, wieviel Geld Ihr haben wollt, und wir werden bezahlen.«

»Nein, ich habe euch gesagt, daß ich ein Auge haben will.« Da sagte die junge Frau zu ihrer Mutter: »Geben wir ihm doch das Auge Florines!«

Zuerst wollte die Mutter nicht, aber dann gab sie nach. Und sofort stieg der Drache zufrieden wieder auf den Grund des Meeres; er gab Florine das Auge, und als sie wissen wollte, woher er es habe, erzählte er, daß es zwei schöne Damen gewesen seien, die es ihm gegeben hätten.

Einige Zeit später hatte Florine den Wunsch, auch das andere Auge zu haben, und sie sagte es dem Drachen. Dieser bastelte aus Gold eine Spindel, und am nächsten Sonntag ging er wieder auf den Markt, um sie zu verkaufen. Die gleichen Damen kamen wieder und fragten nach dem Preis, weil sie die eine Spindel nicht ohne die andere gebrauchen konnten. Der Drache nannte den gleichen Preis. »Gott«, sagten die Damen, »was für eine seltsame Idee, dafür ein Auge zu verlangen!« Aber der Drache bestand darauf, und sie mußten ihm auch noch das zweite Auge Florines geben. Diese aber war glücklich, ihr Augenlicht wiederbekommen zu haben.

Ein paar Tage später sagte sie zu dem Drachen:

»Ich würde so gern einmal an das Meeresufer gehen, aber das ist wahrscheinlich unmöglich . .



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Der Drache sagte: »Ich habe alles für dich getan, damit du dein Augenlicht wiederbekommen hast, und jetzt willst du mich verlassen.« —

»Nein«, antwortete sie, »ich verspreche, Euch niemals zu verlassen.« Darauf machte der Drache starke Ketten, die Florine an ihrem Gürtel befestigte, und sie begab sich ans Ufer. Man hatte ausgemacht, daß sie, wenn sich jemand nähere, rufen sollte: »Drache, zieh mich an der Kette, ich sehe einen Wal!«

Und so ging sie jeden Tag an das Meeresufer und machte sich schön. Wenn sie sich wusch, fiel Kleie von ihren Wangen, und wenn sie sich kämmte, rieselte Weizen aus ihren Haaren. Der König dieser Gegend aber hatte eine große Herde Schweine, die all das fraßen, was von Florines Haupt fiel, und wenn sie abends heimkamen, wollten sie nie fressen; die Diener berichteten darüber dem König, und der trug ihnen auf, die Tiere zu beobachten. Da sah man, daß sie zum Meeresufer liefen, aber man wußte nicht, warum, denn man sah Florine niemals.

Eines Tages befahl der König den Dienern, den ganzen Tag aufzupassen. Sie sahen Florine, und sie gingen, um ihrem Herrn zu berichten, daß Kleie und Weizen vom Haupt des jungen Mädchens rieselten.

Der König wollte sie sehen, und eines Tages ging er an das Meer. Als Florine ihn sah, wollte sie untertauchen, aber der König bat sie, zu bleiben. Er sagte ihr, daß er sie aus der Gefangenschaft befreien werde, aber sie wollte nicht, da sie den Drachen nicht verlassen konnte. Nachdem Florine ihm ihre Geschichte erzählt hatte, erklärte sie, sie wolle versuchen, herauszubekommen, wie sie entkommen könne. Am Abend sagte sie: »Drache, ich möchte Euch etwas fragen. Was muß man tun, um die Ketten, die mich halten, zu zerbrechen?« Da wurde der Drache böse und sagte:

»Jetzt sehe ich, daß du mich verlassen willst, da du daran denkst.« Sie versprach ihm zu bleiben, flehte ihn aber an, ihr zu antworten, und er sagte schließlich: »Hundert goldene Äxte müßten die Kette mit einem Schlag zerstören!«

»Aber wie soll das ein Mensch tun, das ist unmöglich!« rief Florine. Am nächsten Tag kam der König ans Meer, um sich die Antwort zu holen. Florine verriet ihm, was ihr der Drache gesagt hatte. Da rief der König alle Goldschmiede der Gegend zusammen, um die goldenen Äxte zu schmieden. Schnell war die Arbeit getan.

Endlich kam der Tag, an dem der König Florine holen wollte, und am frühen Morgen begab er sich mit den Handwerkern und mit einer prächtigen Kutsche ans Meer.

Nachdem der König »eins, zwei, drei!« gezählt hatte, schlugen die



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hundert Äxte auf einmal zu, die Ketten sanken auf den Meeresgrund, und Florine fuhr in dem schönen Wagen davon.

Als der Drache sah, daß die Ketten ohne Florine zurückkamen, stieg er schnell hinauf, aber er tat nichts, denn der Wagen war schon weit. Als man am Schloß angekommen war, ließ der König die böse Stiefmutter und deren Tochter Tritonne, die der König gar nicht liebte, holen; auch die Brüder Florines ließ er rufen, um zu sehen, ob sie das Mädchen wiedererkannten. Man kann sich die Freude der beiden Jünglinge denken, als sie ihre Schwester sahen, aber auch den Verdruß der Stiefmutter und Tritonnes, die behaupteten, das Mädchen nicht zu kennen. Endlich erkannte der König die Unschuld der Jünglinge, befreite sie aus ihrem Gefängnis und steckte statt ihrer Tritonne und die Mutter hinein.

Ein paar Tage später heiratete der König Florine; es war eine prächtige Hochzeit. Ich war eingeladen, und dort hat man mir diese Geschichte erzählt. Man wollte nicht, daß ich zu Fuß nach Hause ginge; man gab mir eine gläserne Karosse, gezogen von vier Ratten; aber unterwegs bin ich einer Katze begegnet, die die Ratten aufgefressen hat, und ich mußte zu Fuß gehen.


Vom kleinen Mann Sapperlot

Es war einmal ein kleiner, bescheidener Mann. Er hatte eine kleine Frau, und die beiden lebten in großer Not. An manchen Tagen hatten sie so gut wie gar nichts zu essen. Sie wohnten in einer armseligen, halb verfallenen Hütte, in der es nicht einmal richtige Fenster gab und deswegen selbst am hellen Mittag ganz dunkel war.

Eines Tages, als sie im Walde Reisig sammelten, fanden sie in der Nähe einer Hecke eine Erbse. Sie staunten und freuten sich; denn es war eine sehr schöne und mächtig dicke Erbse, wie sie dergleichen noch nie zuvor gesehen hatten.

»Das muß eine ganz besondere, seltene Sorte sein«, sagte die Frau. »Sie ist dick und prächtig. Jammerschade wäre es doch, sie umkommen zu lassen. Was meinst du wohl, wenn wir sie in unsern Garten pflanzten? Ich glaube, sie wird uns Glück bringen.«

Nachdem sie zwei Reisigbündel gesammelt hatten, gingen sie wieder nach Hause. Sie gruben an der schönsten Stelle ihres Gartens ein Loch. Der Mann tat eine ordentliche Schaufel Dung hinein und steckte die Erbse in die Erde.



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Aufs höchste verwundert war er, als er am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang in den Garten trat und sah, daß die Erbse schon aufgegangen war und ihr Stengel bereits die Höhe seiner Nase erreichte. Sogleich setzte er ihr eine Stange, damit sie weiterklettern könnte, und am übernächsten Tag hatte die Erbse die Stange schon weit überholt. Er mußte eine weitere Stange hinzufügen.

Tag für Tag erwies es sich als notwendig, eine neue Stange am Ende der anderen anzusetzen. Es war auf die Dauer gar nicht so einfach, das könnt ihr euch denken. Die Stangen waren zwar leicht zu finden, aber der Mann begann trotzdem unruhig zu werden und fragte sich, wo das wohl noch hinausgehen solle.

Eines Morgens nun, als er wieder hinaufgestiegen war, um eine Stange am Ende der vorigen zu befestigen, erkannte er, daß er hoch droben am Himmel an der Eingangspforte zum Paradies angelangt war. Er war ganz glücklich darüber, denn nun mußte seine Erbse also aufhören zu wachsen. Rasch stieg er von Blatt zu Blatt wieder nach unten und brachte seiner Frau die erstaunliche Nachricht.

»Oh!« rief da die Frau. »Was bist du doch für ein armseliger Narr! Du bist bis oben hinauf an die Tür zum lieben Gott gekommen, und du hast ihn nicht einmal darum gebeten, uns ein bißchen aus unserem Unglück herauszuhelfen? Guck dir doch diese Hütte an! Nie dringt hier ein Strahl Sonne herein. Wenn wir doch wenigstens ein ordentliches Häuschen hätten. Alles übrige möchte sich ja ertragen lassen . .

»Red' nicht soviel, meine gute Frau! Es freut mich nicht, aber ich will sofort wieder hinaufsteigen und deinen Wunsch ausrichten.«

Beim folgenden Morgenrot ging der arme Tropf in den Garten hinaus, stieg wieder von Blatt zu Blatt an der Erbse empor und gelangte schließlich zum Paradies.

Dort klopfte er an die Tür: »Poch, poch, poch!«

»Wer ist draußen?«

»Ich bin's nur, Herr, der arme kleine Sapperlot.«

»Und was wünscht er denn, der kleine Herr Sapperlot?«

»Oh, liebster gnädiger Herr, wir leiden so große Not und sind sehr unglücklich, meine arme Frau und ich. Selbst die Schweine sind besser untergebracht als wir. Wenn wir doch nur ein Häuschen hätten wie die andern Leute, dann wollten wir wohl sehr glücklich sein.«

»Geh, mein kleiner Sapperlot, ich will dir gern gefällig sein! Du wünschest dir ein hübsches Häuschen? Du sollst es haben.«

Als der Mann wieder unten ankam, machte er kugelrunde Augen, denn die traurige Hütte hatte sich in ein wunderschönes Haus verwandelt,



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dessen frisch gekalkte Wände in der Sonne leuchteten. Der Mann und die Frau freuten sich von Herzen.

Doch nach einigen Tagen wurde die Frau nachdenklich und schweigsam, und als sie eines Abends alle beide am Platz hinterm Ofen hockten, meinte die Frau:

»Es stimmt wohl, wir haben ein wirklich schönes Haus, aber jetzt sieht man auch erst richtig, wie erbärmlich unsere Möbel sind. Ich an deiner Stelle würde versuchen, etwas Besseres zu erlangen. Wenn du noch einmal hinaufsteigen und es richtig anfangen würdest, vielleicht ließe der liebe Gott mit sich reden . .

Der arme Mann sagte kein Wort, aber am Tag darauf ging er in den Garten hinaus und kletterte von Blatt zu Blatt die Erbse hinauf zum Paradies.

»Poch, poch, poch!«

»Wer ist da?«

»Ich bin's, liebster Herr, Ihr kennt mich wohl noch: der kleine Sapperlot...«

»O schön, was willst du denn wieder?«

»Ich komme, um Euch für das schöne Haus herzlich zu danken, das Ihr uns geschenkt habt. Aber unsere Möbel, die darin stehen, brechen fast ganz auseinander, so verfallen sind sie. Könntet Ihr uns wohl vielleicht andre geben?«

»Geh, kleiner Mann Sapperlot! Ich sehe keinen Grund, deine Bitte abzulehnen. Du sollst die Möbel haben.«

Ganz schnell stieg der kleine Mann hinunter. Und als er in das Haus eintrat, entdeckte er zwei prächtige Betten, zwei frisch gezimmerte Tische, auch Stühle dazu, und zwei herrliche Spiegel an der Wand vor einem funkelnden Waschtisch.

Die Frau war ganz begeistert: jetzt hatte sie ein schönes Haus und schöne Möbel darin. Aber es blieb trotz allem noch etwas, das sie ziemlich verdroß: daß sie nämlich mit ihrem Mann in ihrem Alter immer noch hart arbeiten mußte, um leben zu können, genau wie sie das auch früher getan hatten. Diese Überlegung behielt sie freilich für sich, solange sie konnte; aber eines schönen Abends konnte sie doch nicht mehr schweigen:

»Es ist ja im Grunde nichts einzuwenden. Es geht uns wirklich besser als früher, aber was hilft uns das schon? Wozu ein so schönes Haus, wenn wir darin schließlich noch des Hungers werden sterben müssen? Du könntest eigentlich den lieben Gott bitten, daß er uns einigen Vorrat an Weizen und Korn bewilligt!«



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»Es verdrießt mich wirklich sehr«, antwortete der Mann, »ihn schon wieder zu stören, ihn abermals zu belästigen, nachdem er sich so großmütig gezeigt hat. «

»Du bist mir ein rechter Dummkopf! Geh nur, du weißt doch: wer um nichts bittet, bekommt auch nichts.«

Am andern Morgen kletterte unser kleiner Sapperlot schnaubend die Erbse empor bis an die Tür zum Paradies.

»Poch, poch, poch!«

»Was ist?«

»Ich bin's, der kleine Sapperlot.«

»Was steht denn nun wieder zu Diensten?«

»Herr, wir sind zu alt, um noch länger auf Tagesarbeit zu gehen. Wenn Ihr kein Mitleid mit uns habt, werden wir in dem schönen Haus, das Ihr uns geschenkt habt, wohl bald des Hungers sterben müssen. Ich wäre Euch dankbar und sehr beruhigt, wenn ich meinen Speicher voller Getreide wüßte.«

»Geh, kleiner Sapperlot, ich will dir nichts verweigern. Dein Speicher wird voller Getreide sein, so daß ihr nie mehr Hunger leiden müßt.« Kaum auf die Erde zurückgekommen, lief er zum Speicher und rief seiner Frau zu:

»Komm her und schau! Komm doch bloß und sieh dir das an! Ich glaube wirklich, ich hab' meine Zeit nicht unnütz vertan!« Sie wurden für eine gute Weile sehr glücklich, aber eines Abends fing die Frau von neuem an, sich zu beklagen:

»Man kann ja bestimmt nicht sagen, daß es uns an Brot fehlte, aber immerzu trockenes Brot, das wird man schließlich doch leid. Meinst du nicht auch? Wenn du ein richtiger Mann wärst, dann stiegst du nochmals nach oben und bätest den lieben Gott, daß er dir ein schönes Pökelfaß mit fettem Schweinefleisch gibt!«

Der kleine Sapperlot wollte nicht wieder hinaufsteigen, aber seine Frau lag ihm die ganze Nacht hindurch derart in den Ohren, daß er am andern Morgen wieder auf die Erbse stieg und sich dabei ganz leise über die Frauen beklagte, die nie zufrieden sind.

»Poch, poch, poch!«

»Was gibt's?«

»Ich bin's nur, der kleine Sapperlot.«

»Was willst du noch?«

»Lieber Herr, es handelt sich um meine Frau, die sich nicht daran gewöhnen kann, ständig trockenes Brot zu essen. Wenn wir noch ein bißchen Speck dazu hätten, wären wir vollkommen glücklich.«



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»Geh, kleiner Sapperlot, diesen Dienst will ich dir gern noch erweisen. Dein Pökelfaß wird immer voll Fleisch und Speck sein.«

Er bedankte sich sehr, stieg wieder hinunter, lief zum Pökelfaß und fand es angefüllt mit vortrefflichem Schweinefleisch.

»Wir brauchen uns wirklich nicht zu beklagen«, sagte die Frau, »wir haben jetzt mehr Fleisch, als wir essen können. Wenn wir die Nachbarn mal einlüden, mit uns zu speisen, das wäre wohl ein rechtes Vergnügen.«

Und so wurde es gemacht.

Als aber die Nachbarn wieder gegangen waren, sagte die Frau zu ihrem Mann:

»Es ist doch immer dasselbe. Bloßes Wasser erwärmt den Magen nicht recht. Hast du die Gesichter gesehen, die sie schnitten? Wir werden sie nicht mehr einladen können, wenn wir ihnen nicht wenigstens einen einfachen Wein anbieten können. Und wenn du wieder mal hinaufsteigst, könntest du den lieben Gott leicht um Wein bitten. Ihn kostet es ja nichts, ein kleines Wunder zu tun . .

Der kleine Sapperlot, der einen guten Trunk nie verachtete, ließ sich nicht lange bitten und kletterte wieder vors Paradies.

»Poch, poch, poch!«

»Was ist?«

»Ich bin's, der kleine Sapperlot.«

»Was wünschest du denn noch?«

»Ihr werdet sagen, daß ich üppig werde, aber meine Frau sagt, daß sie an Schwächeanfällen leidet und daß sie sich nicht recht stärken kann ohne ein bißchen Wein.«

»Es ist gut, geh wieder nach Haus, dein Keller wird nun stets ein Fäßchen Wein bereithalten.«

Als er das hörte, wurde der kleine Mann recht von Herzen froh. Beim Hinuntersteigen fing er bereits an zu singen wie eine Nachtigall. Bis zum Jahresende ließ seine Frau ihn in Ruhe. Doch als sie dann bei der Christmette schöne Damen traf, die seidene Kleider und kostbare Hüte trugen, fing sie an, diese zu beneiden. Am Abend saß sie ganz traurig da.

»Was gibt's wieder?«fragte der Mann.

»Ach, weißt du, es lohnt nicht die Mühe, in einem hübschen Hause zu wohnen, wenn man in geflickten Kleidern herumläuft, über die alle Welt spottet und sich lustig macht. Du solltest uns vom lieben Gott schöne Kleider erbitten und ein paar Dienstboten dazu, sie instand zu halten. Sollte er's ablehnen, kannst du ja einfach zurückkommen. Eine



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abschlägige Antwort bringt schließlich niemanden um. Man kann's doch wenigstens versuchen.«

Schon seht ihr den armen Mann wieder von Blatt zu Blatt zum Paradies hinaufsteigen.

»Poch, poch, poch!«

»Was ist?«

»Ich bin's, der kleine Sapperlot.«

»Wirst du denn nie aufhören zu bitten? Was fehlt dir nun noch?« »Mein liebster Herr, es ist nicht meine Schuld, nur meine arme gute Frau ärgert sich und gerät in Zorn, weil sie sieht, daß andere Frauen besser gekleidet sind als sie. Sie möchte ein Seidenkleid, einen passenden Hut und Dienstboten, die ihr die Kleidung instand halten. Um zu vermeiden, daß ich noch einmal zu Euch heraufsteigen muß, könntet Ihr uns vielleicht auch gleich in den Adelsstand erheben. Wäre das wohl möglich? Dann hätte sie nichts mehr zu wünschen und ließe Euch und auch mich selber künftig in Ruhe.«

»Wenn's sonst an nichts fehlt, um dein Glück zu vollenden, kann ich das wohl noch tun. Geh nur heim, du wirst künftig Marquis de la Sapperlotterie heißen!«

Wie der Blitz sauste der neue Graf den Erbsenstengel hinab, um seiner Frau die gute Nachricht zu bringen. Sie ließ ihn nun auch geraume Zeit in Ruhe. Aber schließlich fing sie wieder an zu klagen und zu jammern:

»Wenn ich es recht bedenke, was wir einst waren und was wir jetzt sind, so läßt sich nicht leugnen, daß es allerlei Fortschritte gegeben hat. Aber wenn man ein bißchen ernsthaften Willen und einen rechten Ehrgeiz entwickelt, sollte man doch dabei nicht stehenbleiben. Ich weiß schon, du wirst wieder brummen, aber einmal mußt du schon noch da hinaufsteigen. Du sollst den Wunsch vortragen, selber der liebe Gott zu werden und ich die Jungfrau Maria.«

»Nie werde ich wagen, so etwas zu erbitten. Du weißt genau, daß ich stets redlich versuche, dir gefällig zu sein und dir Freude zu machen, aber was soll denn der Herr bloß von mir denken!? Nein, du bist verrückt!«

»Was willst du denn? Der liebe Gott wird alt, er wird nichts lieber tun, als dir seinen Platz abzutreten . . .

Kurz und gut, durch viel Schmollen und Schmeicheln gelingt es ihr am Ende, den Gatten zu erweichen. Nie ist ihm der Aufstieg so schwergefallen. Trotzdem gelangt er schließlich stöhnend an die Paradiestür. »Poch, poch, poch!«



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»Wer ist da?«

»Ich bin's, der Marquis de la Sapperlotterie.«

Als der Herr das hörte, mußte er recht von Herzen lachen. »Dein Titel Marquis ist nur für die andern, mußt du wissen, für mich bist du nach wie vor der kleine Sapperlot. Du hast alles, was du dir wünschen konntest. Was kann dir denn nun noch fehlen?« »Herr«, antwortete der arme Mann, »es ist immer nur meine Frau, sie möchte noch ein ganz klein wenig dazu: sie möchte, daß ich der liebe Gott bin und sie selber die Jungfrau Maria.«

Da grollte die Stimme:

»So vergiltst du mir alles, was ich für dich getan habe? Undankbarkeit liebe ich nicht, verstehst du? Geh, kleiner Sapperlot, da ihr doch nie zufrieden seid, wirst du ein alter Uhu werden und deine Frau eine Nachteule.« Und so geschah es.

Die beiden schämten sich derart über diese Verwandlung, daß sie seither ihre Tage in düsteren Baumhöhlen zubringen.


Der goldene Stern

Ein Mann, der eine Tochter hatte, heiratete nach dem Tode seiner Frau eine Witwe. Diese besaß ebenfalls eine Tochter, die durch ihre Bosheit, ihr mürrisches Wesen und ihr häßliches Aussehen ebenso auffiel wie die andere durch ihre Anmut, Sanftmut und Güte. Die Stiefmutter sann einzig darauf, wie sie die Tochter ihres Mannes loswerden könne. Eines Tages sagte sie zu ihr:

»Geh und reinige diese Getreidekörner im Fluß in einem Sieb und bring sie mir rein und sauber zurück!«Als das Mädchen dann aber am Ufer im seichten Wasser stand, rief die Stiefmutter ihm zu:

»Geh weiter, weiter, nur hinein in den Fluß!« Sie drängte derart, daß das arme Kind schließlich von der Strömung gepackt und mitgerissen wurde...

Die Fluten aber legten das Mädchen sanft auf dem gegenüberliegenden Ufer ab, dicht am Rande eines Waldes. Aus diesem Walde trat ein großer, alter Mann mit weißem Bart. Er war derart heruntergekommen, elend und zerlumpt und schmutzig, daß er geradezu Angst einflößte. »He, kleines Mädchen«, redete er sie an, »würdest du mir wohl einen Dienst erweisen?«

»Mit Freuden, wenn ich dazu imstande bin, Großvater!«gab sie ihm freundlich zur Antwort.



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»Ich möchte gern die Läuse loswerden, die mir im Bart herumlaufen. Aber das wird dir Abscheu und Ekel erwecken, fürchte ich.«

»Ach, kommt nur her!« sagte das Mädchen, nahm den Kamm, der ihr das Haar zusammenhielt, tauchte ihn ins Wasser und säuberte damit den Bart des Alten sehr sorgsam und gründlich.

»Ich danke dir, kleine Freundin! Nimm zum Dank diesen Stab hier! Er wird das Wasser zur Seite schieben, damit du nach Hause zurückkehren kannst. Aber wenn du den Hahn krähen hörst, dann wende dich um, um nur noch Lebewohl zu sagen! Achte wohl darauf und vergiß es nicht! Hab nochmals Dank!«

Das Mädchen erhob den Stab - und alsbald zeichnete sich eine breite Furt im Wasser ab, auf der sie den Fluß überqueren konnte. Als sie etwa in der Mitte war, hörte sie den Hahn krähen. Sie wandte sich rasch um und winkte dem alten Mann mit der Hand ein freundliches Lebewohl. Sie sah gerade noch, wie sein Schatten im Walde verschwand. Auf ihrer Stirn aber erschien im selben Augenblick ein strahlender goldener Stern, und ihr anmutiges Aussehen verwandelte sich in leuchtende Schönheit.

»Oh! Was ist denn mit dir geschehen?«rief die Stiefmutter verwundert, als sie das Mädchen wiedersah.

Und das Mädchen erzählte arglos seine Geschichte, ohne sich dabei mit einem einzigen Wort des Dienstes zu rühmen, den es dem alten Manne erwiesen hatte. Die Stiefmutter wollte vor lauter Wut und Eifersucht schier den Verstand verlieren.

Kurze Zeit darauf ritt ein schmucker junger Reiter an dem Hause vorbei. Er sah die Schöne am Fenster stehen. Geblendet stieg er von seinem Roß, nannte seinen Namen - er war der Sohn des Königs - und erlangte durch seine Bitte sogleich die Erlaubnis des Vaters, das Mädchen mit sich zu nehmen, um sie dem König vorzustellen. Bald darauf heiratete er sie, und das ganze Land jubelte vor Freude.

Da sagte die Stiefmutter zu ihrer eigenen Tochter: »Was sie so leicht fertiggebracht hat, solltest du schließlich auch können. Versuch's also, und komm auch du mit einem goldenen Stern zurück!«

Brummend machte sich das Mädchen auf, ließ sich durch die Strömung davontragen und drüben am Waldrand absetzen. Und alles geschah genau wie beim ersten Male. Aber als der alte Mann ihr seine Bitte vortrug, wich sie voller Ekel und Widerwillen zurück und schrie ihn an: »Du elender Lausekerl, du Schmutzfink! Das ist keine Arbeit für mich! Von mir aus kannst du deine Läuse im Fluß ersäufen. Das beste wird sein, dich selber gleich mit!«



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Ganz sanft und ohne sich die geringste Kränkung anmerken zu lassen, reichte der Mann ihr den Stab zum Durchqueren des Wassers und empfahl ihr, wie er es schon bei ihrer Schwester getan hatte, sich nach ihm umzuwenden, sobald sie den Hahn krähen hören würde. Sie gehorchte, sah jedoch von dem Manne keine Spur mehr. Alsbald aber fühlte sie etwas auf ihrer Stirn und lief voller Entzücken eilig nach Hause.

»Unglückliche! Was hast du angestellt?« schrie die Mutter entsetzt, als sie sie sah.

Auf der Stirn des bösen Mädchens klebte ein dicker Batzen Hühnerdreck. Kein Kratzen, kein Waschen konnten diesen Schandfleck wegbringen, das Mal saß fest und war nicht zu tilgen. Das Mädchen war ganz entsetzlich anzusehen - noch tausendmal häßlicher als zuvor.


Der Zaubervogel

Es war einmal ein braver Mann. Er war sehr arm. Er und seine gute Frau hatten all ihr Hab und Gut längst aufgezehrt und wußten nicht mehr, wie sie sich ernähren sollten. Das einzige, was sie noch besaßen, war ihr Sohn, der Ludwig hieß, genau wie sein Vater. Da ihnen kein anderer Weg mehr blieb, entschlossen sie sich, den Jungen anderswo als Lehrling unterzubringen. Also machten sich Vater und Sohn auf den Weg zum nächsten Marktflecken, um sich dort umzuschauen. Unterwegs begegneten sie einer alten Frau, die sie höflich begrüßten.

»Wohin des Wegs, Vater Ludwig?« wollte die Frau wissen.

»Ach, ich will für meinen Sohn eine passende Stelle suchen«, antwortete der Vater. »Wir wissen nicht mehr, wovon wir uns ernähren sollen. Der Junge ißt glatt für vier - und wir haben so gut wie nichts mehr im Hause.« —»Oh, armer Mann, nehmt meine besten Wünsche mit auf den Weg! Aber ich will Euch einen guten Rat noch dazugeben. Ihr werdet im Ort einen Mann finden, der Euren Jungen gern nehmen will. Bedenkt Euch nicht lange! Euer Sohn wird bei dem Herrn ein lustiges und sehr einträgliches Handwerk lernen. Vereinbart nur auch, daß Ihr dafür einen guten Lohn bekommt!«

Und sieh mal an! Kaum waren sie in der Ortschaft angelangt, der junge Ludwig mit einer Blume am Hut zum Zeichen, daß er einen Arbeitsplatz suche, als auch schon ein freundlich aussehender und vornehm gekleideter Herr auf sie zutrat und zu wissen begehrte, welchen Betrag der Herr Vater dafür verlange, wenn er seinen Sohn auf ein Jahr als Lehrling und Helfer zu sich nehme.



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»Hundert Franken in Gold, keinen Sou mehr und auch keinen weniger!« «

»Das ist viel Geld, guter Mann! Aber sei's drum, ich bin einverstanden. In einem Jahr, auf den Tag genau, könnt Ihr Euren Jungen zurückholen.«

Vater Ludwig ging in seine ärmliche Hütte zurück. Er sah gar nicht besonders zuversichtlich aus und sagte zu seiner Frau:

»Eine Stellung hat unser Junge gefunden, aber kein Wort habe ich von seinem Meister darüber erfahren, was er ihm beibringen wird. Ich wünschte nur, das Jahr ginge rasch vorüber.«

Indessen richtete sich der kleine Ludwig bei seinem Meister ein, und dieser brachte ihm nach und nach die erstaunlichsten Zauberkünste bei, denn er war ein großer Zauberer. Der Junge war gerade achtzehn Jahre alt und keineswegs auf den Kopf gefallen. Er lernte gut und mit Eifer. Er zeigte sich derart begabt, daß der Zauberer richtig beglückt war, einen solchen Schüler gefunden zu haben. Er beschloß, ihn bei sich zu behalten, und sann darüber nach, ihn nicht wieder zurückzugeben. Als das Jahr abgelaufen war, verwandelte er den jungen Ludwig in einen kleinen grauen Vogel und ließ ihn in seinem Garten frei. Dann wartete er auf die Rückkehr des Vaters Ludwig.

Der war bereits unterwegs, fand am selben Platz wie im Jahr vorher die alte Frau wieder und begrüßte sie mit der gleichen Höflichkeit. »Wohin soll's denn gehen, Vater Ludwig?«

»Heute will ich mir meinen Jungen wiederholen, den ich im vergangenen Jahr verdingt habe.«

»Dann hört gut zu! Ich habe einen guten Rat für Euch. Wenn Ihr zu dem Manne kommt, wird er Euch zum Essen und Trinken einladen. Lehnt ja ab, nehmt keinen Bissen und keinen Schluck an! Er wird Euch in sein Zimmer führen, darin ganze Haufen von Gold und Juwelen aufgestapelt sind. Er wird Euch auffordern, Euch nach Eurem Belieben zu bedienen. Seht Euch vor, nehmt ja nicht mehr, als damals vereinbart wurde, keinen Sou mehr! Und zum Schluß wird er Euch noch in seinen großen Garten führen. Ihr werdet staunen über die vielen und wunderbaren Vögel, die darin leben. Sie sitzen und fliegen da in vielerlei prächtigen Farben. Auf einem Baumwipfel ganz droben werdet Ihr ein unscheinbares, kleines, graues Vögelchen entdecken. Sagt dem Manne, daß Ihr dieses haben möchtet, kein anderes!«

»Vielen Dank, gute Frau, ich werde tun, wie Ihr mir geraten habt.« Und Vater Ludwig kam bald darauf beim Lehrmeister seines Sohnes an. Dieser empfing ihn sehr freundlich.



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»Willkommen, Vater Ludwig! Ihr wollt gewiß Euren Jungen wiederhaben?«

»Ganz recht, mein Herr, und bitte, ich hab's ziemlich eilig.«

»Aber Ihr werdet doch sicher Hunger haben nach dem langen Marsch.

Ich will Euch ein kleines Mahl richten.«

Tatsächlich knurrte dem alten Ludwig der Magen wie ein Wolf. Aber er gedachte des Rates, den ihm die alte Frau gegeben hatte:

»Ihr seid sehr liebenswürdig, aber ich habe nicht den geringsten Hunger. Ich möchte nur meinen Jungen holen. Wir müssen uns beeilen, um noch vor dem Dunkelwerden wieder heimzukommen.«

»Na schön, aber Ihr werdet doch ein Glas mit mir trinken! Ihr seid müde und erhitzt. Ein Gläschen Wein wird Euch aufmuntern.«

»Nein, schönen Dank auch, ich habe keinen Durst.«

»Ja, aber! Ihr werdet mir doch einen guten Schluck nicht verweigern?«

»Entschuldigt mich, bitte! Ich sagte bereits, daß ich's eilig habe!«

»Dann also nicht, bitte kommt ins Zimmer nebenan! Ich will Euch meine Schuldigkeit bezahlen.«

Und der Zauberer führte den Vater Ludwig in einen Raum, darin sich Berge von Geld, Kleinodien und Gold nur so türmten.

»Greift zu, mein Lieber! Bedient Euch ganz nach Belieben! Ich muß mich inzwischen rasch meinen Geschäften widmen.«

Er ließ Vater Ludwig allein. Der arme Mann überschlug mit raschem Blick, daß da für ihn mehr als genug lag, um bis zum Ende seiner Tage glücklich zu leben und aller Sorge ledig zu sein. Aber er erinnerte sich an das, was ihm die alte Frau gesagt hatte, und nahm nichts als die vereinbarten hundert Franken.

Bald darauf kam der Zauberer zurück und führte ihn, ohne seine Überraschung spüren zu lassen, in den Garten hinaus. In dessen Mitte stand ein riesiger Baum, und auf diesem Baume wimmelte es in allen Zweigen und Ästen von prächtigen Vögeln, die in allen Farben leuchteten. Es waren rubinrote darunter, blaue, die wie Türkise strahlten, und vielerlei andere.

»Wählt aus, welchen immer Ihr wollt, Vater Ludwig!«

»Den kleinen grauen dort oben, der auf der Spitze des Baumes sitzt, den möcht' ich wohl haben!« sagte der Mann, und schon war ihm der Vogel auf die Schulter geflogen. Beide machten sich sofort auf den Weg.

»Wie geht es daheim?«fragte unterwegs der kleine Ludwig den Vater. »Ach, schlechter und schlechter! Zum Glück haben wir nun die hundert Franken. Sie werden uns helfen, unsere Schulden zu tilgen.«



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»Sag, Vater, gibt es heute wohl einen Jahrmarkt hier in der Nähe?«

»Das schon, Junge, gerade heute ist Markt in Lezay.«

»Dann laß uns dorthin gehen! Ich werde mich rasch in ein fettes Schwein verwandeln. Du bindest mir einen Strick ans Bein und verkaufst mich so teuer wie möglich. Nur denke daran, den Strick ja bei dir zu halten; denn wenn du den Strick nicht bei dir behältst, kann ich nicht mehr zu dir zurück!«

Kurz bevor sie nach Lezay hineinkamen, verwandelte sich der kleine Ludwig, wie ihn das der Zauberer gelehrt hatte, in ein ansehnliches und wohlgenährtes Schwein. Der Vater führte ihn am Strick. Schon kamen Kauflustige herbei.

»Was verlangt Ihr für Euer Schwein?«

»Fünfundzwanzig Pistolen.«

»Was? Fünfundzwanzig! Das ist mir zu teuer, Alter! Ich biete dreiundzwanzig. Die zahle ich gern und sofort.«

»Mir soll's recht sein. Nur müßt Ihr mir dafür den Strick zurücklassen. Gehn wir ins Wirtshaus, den Handel abzuschließen!«

Also begaben sie sich zum nächsten Gasthof, tranken einen Schoppen, tauschten einen Händedruck, und Vater Ludwig bekam sein Geld. Den Strick steckte er in die Tasche, ließ dem andern das Schwein und zog davon.

Kurze Zeit später wurde das Schwein wieder zum Vogel, schwang sich in die Luft und landete alsbald wieder beim Vater.

»Gibt's wirklich keinen anderen Markt mehr?«

»Markt ist hier in die Gegend sonst nirgendwo. Aber in Melle ist heute gerade Pferderennen. «

»Ausgezeichnet! Ich werde mich in ein abgemagertes Pferd mit kümmerlichem Aussehen verwandeln. Du steigst auf meinen Rücken. Die Leute werden staunen, wie wir uns den ersten Preis holen!«

Als sie bei der Reitbahn ankamen, wurden sie von allen Leuten mit Hohn und Spott empfangen. Kaum ließ sich unterscheiden, ob das Gelächter mehr dem alten Reiter oder dem Roß galt, auf dem er saß —mit den wankenden Knien und dem gekrümmten Rücken. Ohne darauf zu achten, reihte sich der Vater Ludwig zwischen den anderen Reitern ein.

Die Fahne zum Start senkte sich. Ludwig ließ die anderen leicht vorausreiten, dann trieb er sein Pferd plötzlich an, das sofort an allen anderen vorbeischoß und als erstes durchs Ziel kam.

Höchst vergnügt war Vater Ludwig gerade dabei, das gewonnene Geld klimpernd in seine Tasche zuzählen, als der reichste Grundbesitzer der



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Gegend an ihn herantrat und ihn fragte, ob er nicht Lust habe, sein Tier zu verkaufen.

»Warum schließlich nicht? Das Pferd will ich Euch gern verkaufen. Nur das Halfter möchte ich behalten.«

»Oh, das macht mir nichts aus. Euer Halfter lockt mich in keiner Weise.«

»Einverstanden. Ihr zahlt mir also fünftausend Goldfranken.»

Der Mann zahlte, ohne jeden Versuch, etwas abzuhandeln, und führte das Pferd davon.

»He!«sagte er daheim zu seinem Knecht, »da bringe ich ein Pferd, das ich gerade gekauft habe! Behandle es gut und pflege es ordentlich!« Der Knecht knurrte vor sich hin: »Was für einen erbärmlichen Gaul hat er sich da andrehen lassen! Ich will ihn rasch auf den Hof bringen. Der läuft bestimmt nicht davon.«

Aber kaum wandte er sich zur Seite, da verwandelte sich der Gaul wieder in einen Vogel und flog zum Vater zurück. Und weil dieser nun reichlich müde war, verwandelte sich der Sohn in ein stattliches Maultier und ließ den Vater aufsitzen.

So setzten sie ihren Weg eine gute Weile fort. An einer Weggabelung stießen sie auf einen vornehm gekleideten Mann.

»Oh, was für ein famoses Maultier!«rief der Fremde. »Könnte man das wohl erwerben?«

»Ja, wenn Ihr es durchaus haben wollt! Das Tier schon - nur das Halfter nicht.«

»Mir recht, und was wollt Ihr dafür?«

»Zweitausend Franken.«

Das Geschäft wurde gemacht. Der neue Besitzer schwang sich auf das Maultier und ritt eilends davon. Aber dieser neue Besitzer war niemand anders als der Zauberer, der es nicht verwinden konnte, seinen Schüler so rasch verloren zu haben.

Er hatte seine Gestalt und sein Gesicht verändert, um ihn zurückzuholen, ohne daß Vater Ludwig in erkannte. So führte er nun das Maultier seinem Hause zu, während der gute Alte vergeblich auf die Rückkehr des Sohnes wartete und langsam unruhig wurde. Zugleich aber dämmerte ihm, daß sie diesen ständigen Betrug an gutgläubigen Leuten doch auf die Dauer nicht fortführen dürften.

Der verdrossene Zaubermeister aber spannte das Maultier an eine Zauberleine und sperrte es in seinen Stall. Dort verabreichte er ihm eine kräftige Tracht Prügel und ging davon.

Nur wenig später kam ein kleiner Bub vorbei, hörte klagende Rufe und



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schaute in den Stall. Da entdeckte er ein Maultier, dessen trauriger Blick ihn erbarmte.

»Du armes Tier!«sagte er, »du bist geschlagen worden, du tust mir leid, und ich will dich befreien.« Er kletterte in die Futterkrippe und zerschnitt das Zauberseil. Sogleich wurde der kleine Ludwig wieder zum Vogel und flog nach draußen. Der Zauberer, der in seinem Garten spazierenging, bemerkte, wie das Vögelchen den Stall verließ. Er begriff sofort, was da vor sich ging, verwandelte sich in einen Sperber und setzte zur Verfolgung an.

Schon pfiffen die Schwingen des Raubvogels über dem kleinen Ludwig. Da erkannte er gerade unter sich ein junges Mädchen. Rasch verwandelte er sich in einen goldenen Ring und fiel dem Mädchen vor die Füße. Das Mädchen hob staunend den Ring auf, steckte ihn an den Finger - und der Zauberer wagte es nicht, die Verfolgung fortzusetzen.

Als das Mädchen daheim sein Zimmer betreten hatte, nahm der junge Ludwig zum jähen Erschrecken des Mädchens seine wahre Gestalt an und sagte zu ihr: »Hab keine Angst! Ich habe mich in einen Ring verwandelt, um einem sehr gefährlichen Zauberer zu entkommen, der mich verfolgt. Er wird morgen kommen und dir anbieten, deinen Vater zu heilen, der schon so lange krank ist. Als Gegendienst wird er von dir den Ring erbitten. Du wirst ihm den Ring übergeben, aber wohl darauf achten, daß der Ring, bevor er ihm in die Hand kommt, zu Boden fällt.«

Tags darauf stellte sich der Herr tatsächlich bei dem jungen Mädchen ein:

»Guten Morgen, mein Fräulein!«

»Guten Tag, mein Herr!«

»Ich hörte, daß Euer Vater seit langer Zeit schwer krank ist .

»Ach, leider ja! Schon seit vielen Wochen, und die Ärzte können ihn nicht heilen.«

»Ich aber werde ihn von seiner Krankheit befreien, wenn Ihr mir Euren Ring dafür gebt.«

»Oh, sehr gern, aber heilt mir bitte zuerst den Vater!« Der Zauberer ließ seine Hände mit leichten Strichen über der Stirn des Schwerkranken kreisen. Alsbald lösten sich dessen verkrampfte Züge, und er atmete leicht und wie befreit in leisem Schlummer.

»Und nun bitte den Ring!«

Das Mädchen löste den Ring von seinem Finger und ließ ihn, wie aus Ungeschick, zu Boden fallen. Dort verwandelte sich der Ring in ein Weizenkorn. Der Zauberer wurde blitzschnell zu einem Hahn und



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stürzte sich darauf, um es zu verschlingen. Aber der kleine Ludwig war schneller als er; er verwandelte sich in einen Fuchs und erwürgte den Hahn.

Dann nahm er wieder seine menschliche Gestalt an und fragte das Mädchen, ob es wohl Lust habe, seine Frau zu werden. Sie hielten Hochzeit, wurden glücklich miteinander und hatten viele Kinder. Manchmal noch erzählte Vater Ludwig seinen Enkelkindern die Geschichte vom bösen Zauberer und berichtete ihnen davon, wie dieser überwunden wurde. Den Zaubervogel aber hat niemand mehr gesehn.


Der Tänzer unserer lieben Frau

Es war einmal ein Gaukler, der tanzend und springend von Ort zu Ort zog, bis er der ewigen Wanderfahrt und aller Weltlust müde war. Da gab er all seine Habe hin und trat in das Kloster zu Clairvaux ein. Der neue Laienbruder war zwar schön und stattlich von Gestalt, doch die Bräuche und Sitten des Klosters kannte er nicht. Er hatte ja seine ganze Zeit mit Springen, Tanzen und Radschlagen verbracht, und nie hatte ein Mensch den Gedanken gehabt, ihn das Vaterunser, das Ave oder gar das Credo zu lehren.

Voll Demut staunte er alles im Kloster an, er sah, wie die Brüder nie ihr frommes Schweigen brachen, und so ging auch er wie ein Stummer umher, bis er von den Brüdern verlacht und mit Zwang zum Reden gebracht wurde. Er sah, wie jeder auf seine Weise dem Herrn diente, wie die Priester am Altar ihr heiliges Amt vollzogen, wie die Diakone die Evangelien lasen, wie die Klosterschüler im Chor den Psalter sangen und wie selbst der Kleinste von ihnen ohne Zaudern das Vaterunser aufsagen konnte. Da stand er beschämt: ach, er allein, er konnte nichts. Oft stand er lauschend vor den Zellen und hörte Klagen und Wehrufe von drinnen ertönen, und wie er den Grund des Weinens reiflich überlegte, fand er, daß die da drinnen Gott für ihre Schuld um Gnade anflehten. »Ach«, sprach er, »was tue ich hier? Ich kann nichts als müßig stehen und gaffen. Ich bin das Brot nicht wert, das man mir gibt. Ach, wenn man es merkt, so werden sie mich mit Schande verjagen, weil ich zu gar nichts nütze bin.« In seinem Gram flüchtete er aus des Tages Licht in eine unterirdische Kapelle, wo zwischen Kerzen das Bild der Gottesmutter stand. Dort verkroch er sich sorgenvoll in einen Winkel. Plötzlich klang tief und voll die Münsterglocke, welche die Brüder zur Messe lud. Er hob das Haupt und sprang auf: »Soll ich hier liegen, während



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die anderen wetteifern, Unsere Frau zu loben? Was säum' ich noch? Bin ich nicht auch in mancherlei Künsten erfahren? Nach Kräften dient ihr ein jeder, so will auch ich tun, was ich kann.« Rasch warf er die lange Kutte beiseite und gürtete sich sein dünnes Röckchen um die Lenden. Dann trat er demutsvoll vor das Bild der Gottesmutter und sprach: »Dir, o Königin ob allen Königinnen, befehle ich Seele und Leib. Zu dir komme ich voll Vertrauen, o nimm mit meinem Eifer vorlieb. Die schönsten Spiele, die ich kann, wähle ich dir zur Lust, so wie ein Böcklein auf der Heide vor seiner Mutter springt und hüpft. Du verschmähst nie, was dir ein Herz aus Liebe bietet, sieh, was ich habe, bring ich dir.« Und während droben die Hymnen erschollen, beginnt er mit vollen Kräften zu tanzen, bald vor- und bald rückwärts, auf und nieder, er geht auf Händen durch die Kapelle und überschlägt sich in der Luft, alle Arten von Tänzen springt er mit kunstgerechtem Schwung, und nach jedem Tanz verneigt er sich vor dem Bilde: »Das tu ich nur für dich, daß sich dein Auge daran erfreue, erfreust du doch die ganze Welt.« Und wiederum hebt er an, die Hand auf die Stirn gelegt, mit kleinen Schritten zierlich in die Runde zu gehen, dabei weint er und betet: »O Frau, dir singe ich Ehre und Preis mit Herz und Leib, mit Hand und Fuß. Da droben singen sie Lobeshymnen: laß mich dein treuer Tänzer sein und gib mir in deinem himmlischen Palast eine kleine Wohnung, denn dein bin ich ganz und gar.«Solange der Sang von oben klingt, tanzt er ruhelos, bis ihm der Atem vergeht und die Glieder den Dienst versagen: da sinkt er in Ohnmacht taumelnd zu den Füßen der Himmelskönigin nieder. Und siehe: die Strahlende neigt sich mit gütigem Lächeln hernieder und fächelt ihn mit ihrem Tüchlein, und mit ihrer süßen Gnadenhand kühlt sie das Feuer seiner Schläfen. Ein Mönch hatte draußen diese Vorgänge mit angesehen und heimlich den Abt geholt. Dieser ließ am anderen Tage den Laienbruder vor sich laden. Der Arme erschrak zu Tode, denn er glaubte, er solle wegen seines Müßiggangs vertrieben werden. Er fiel also voll Zagen vor dem Abt auf die Knie und sprach: »O Herr, ich weiß, ich kann nicht hier bleiben, doch ich will tun, was Ihr befehlt. Ich will hinaus ins Elend gehen.« Doch der Abt neigte sich voll Ehrfurcht, küßte ihn und bat ihn, zu Gott für ihn und die Brüder zu beten, damit sie einst von seinen Gnaden erben möchten. Da ward der Arme vor Freude krank und kam zum Sterben. Als aber sein letztes Stündlein gekommen war, da trugen der Engel Scharen den Tänzer Unserer lieben Frau zum allerhöchsten Sternenzeit.


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Die Schlange mit dem Diamanten

Vor langer Zeit lebte einmal ein armer Holzfäller. Seine Hütte lag, in der Tiefe eines abgelegenen Tales verborgen, am Ufer des Sees von Saimblancay.

In der Mitte dieses ziemlich großen und sehr tiefen Sees befand sich eine grünende, von Büschen und Bäumen bedeckte Insel. Oft schon hatte Jeannin, unser Holzfäller, dort gearbeitet, Eichen gefällt, Reisig geschnitten und gebündelt. Öfter auch ging er dahin, um sich einigen Vorrat an dürren Ästen zu besorgen, die er dann in seinem Holzstall für den Winter auf schichtete. Er kannte den kleinen Wald sehr genau und war auch mit jedem Pfad und jeder Lichtung vertraut. Er fühlte sich darin richtig zu Hause und war befreundet mit all den Amseln, Buchfinken und Drosseln, deren fröhliche Lieder seine Axtschläge begleiteten.

Eines Tages jedoch verspürte er dort eine heftige Unruhe. Der Abend war schon nahegerückt, und er hatte nach getaner Arbeit seinen Holzplatz verlassen, kam aber noch einmal zurück, um ein Werkzeug zu holen, das er vergessen hatte. Gerade hatte er an der Insel angelegt, sein Boot wie üblich an einem dicht beim Ufer eingerammten Pflock festgebunden und wollte in den Wald eindringen, als er ein gräßliches Zischen und ein seltsam schleifendes Geräusch hörte. Voll Angst, Abscheu und Widerwillen erkannte er bei näherem Umschauen etwa zehn Schlangen, die bei seinem Näherkommen alsbald zu fliehen schienen und rasch unter dem trockenen Laub des Mooses und in Erdlöchern verschwanden.

Aus Furcht vor einem Schlangenbiß blieb Jeannin starr und stumm stehen. Plötzlich wurde sein Blick durch ein seltsames Funkeln angezogen, das, einen Steinwurf entfernt, über den Blättern spielte. Er wagte zwei, drei vorsichtige Schritte und erkannte jetzt eine weitere Schlange, deren grün- und braungezeichnete Schuppen sich mit dem Gras und den Blättern vermischten. Aber diese Schlange war riesenhaft groß, ganz ungeheuerlich; sie entrollte die Ringe ihres klebrigen Kammes, der den Leib um einige Meter überragte, und richtete mit drohender Miene ihren dreikantigen Kopf zornig in die Höhe. In seiner Mitte erstrahlte etwas wie ein riesiger Diamant, der ein blendendes Feuer aussandte.

Mit einer jäh aufzuckenden Wendung kehrte sich die mächtige Schlange dem See zu, glitt ohne Zögern an Jeannin vorbei und gelangte in einigen Wellenbewegungen ans Gestade des Wassers. Dort neigte sie sich vorsichtig



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nieder und ließ den Diamanten zur Erde gleiten - und der zitternde Holzfäller beobachtete, wie der gewaltige Schmuck am Erdboden unter den schrägen Strahlen der Abendsonne flammte und glitzerte. Indessen neigte das Ungeheuer seine Stirn über den Wasserspiegel und trank in langen Zügen. Nur eine einzige und völlig leere Augenhöhle war zu erkennen - das Ungeheuer war blind.

Nachdem es seinen Durst gelöscht hatte, tauchte es den Kopf in den Weiher, schnaubte mehrere Male, glitt an das Ufer zurück und setzte den Diamanten geschickt wieder an seinen Platz. Dann kroch es in aller Ruhe wieder zum Walde hin und tauchte im Unterholz unter, das im schon heraufziehenden Dunkel versank. Jeannin fragte sich, ob er geträumt habe. Die große Stille der Nacht legte sich übers Land. Am starrgrauen Himmel, den der Flug der Fledermäuse ritzte, leuchteten die Sterne auf, und sein Boot schwankte leise unterm leichten Schlag kleiner Wellen. Alles atmete Ruhe und Frieden. Aufs höchste erregt aber sah Jeannin im Geiste vor sich noch immer die gewaltige, über das Wasser geneigte Schlange, und den Glanz des glitzernden Diamanten konnte er nicht vergessen. Er hatte bestimmt nicht geträumt. Das alles hatte er mit eigenen Augen geschaut. Mochte seine Hütte dort hinten mit ihrem vertrauten Anblick auf ihn warten, mochte alles genauso sein wie an anderen Tagen - er war sich gewiß, daß etwas ganz Ungewohntes, etwas kaum Glaubhaftes geschehen war.

So unglaubhaft war sein Erlebnis, daß Marie Jeannin, seine Frau, als er ihr beim Löffeln der abendlichen Suppe davon berichtete, sich sehr beunruhigt zeigte und den Holzfäller fragte:

»Mein armer Mann, du wirst doch heute nachmittag, als du im Boot über den Weiher gefahren bist, nicht etwa ohne Mütze gewesen sein und dir auf dem Wasser gar einen Sonnenstich geholt haben?«

»Aber nein! Ich weiß genau, was ich sage, ich bin ganz klar bei Sinnen und habe auch kein Kopfweh«, antwortete Jeannin. »Ich habe sie deutlich gesehen, diese Schlange, mit meinen Augen habe ich sie gesehen, und auch diesen Diamanten! Nein, nein! Ich träumte nicht, ich könnte noch genau die Stelle zeigen, vielleicht gar noch ihre Spuren im Gras . .

Als er am Tage darauf das Abenteuer seinem guten Freund, dem Weber im Dorf, erzählte, zeigte dieser keineswegs die unruhige Besorgnis seiner Marie. Er brach nur in lautes Gelächter aus und rief: »Jeannin, guter Freund, was hast du denn gestern getrunken? Gib's zu! Es stimmt ja, ein heißer Tag ist's gewesen. Du mußt da im Walde ganz schön was abgekriegt haben!«



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»Was soll ich schon getrunken haben? Wir haben nichts anderes als unser bißchen dünnen Landwein!« knurrte darauf Jeannin und ging verärgert davon.

>Recht hat er schon<, überlegte der Weber still für sich. >In seinem Keller gibt's mehr Birnensaft als Wein, genau wie bei mir.<

Wie aber, wenn also Jeannin nicht betrunken war, sollte man sich seinen ungereimten Bericht erklären? Der Weber fing an, ringsum im Dorfe davon zu reden, daß sein Freund Jeannin ihm recht ernsthafte Sorgen bereite und seine Gedanken wohl nicht mehr recht beisammen habe. Da verzichtete der Holzfäller sehr bald darauf, auch nur noch die geringste Anspielung auf sein seltsames Abenteuer von sich zu geben. Aber ständig dachte er daran, und wenn die Erinnerung an die Ängste, die er ausgestanden hatte, sich auch allmählich verwischte, so sah er das strahlende Gefunkel des gewaltigen Diamanten mit nur noch wachsender Deutlichkeit, und nach und nach setzte sich ein unbezähmbares Begehren in seinem Herzen fest:

>Wenn ich doch bloß auf den Diamanten zugesprungen wäre, während die Schlange sich blind über das Wasser beugte! Ich hätte überhaupt nichts aufs Spiel gesetzt! Da doch mein Boot ganz in meiner Nähe bereitstand, hätte ich mich ohne Mühe retten können, bevor das Ungeheuer auch nur ahnte, was geschehen war. Und ein Vermögen gehörte jetzt mir! Oh, wenn ich gewußt hätte! Wenn sich je wieder einmal die Gelegenheit bietet .

Aber die Gelegenheit bot sich nicht mehr. Wiederholt schon war Jeannin auf die Insel gekommen, aber er hatte nie wieder etwas Ungewöhnliches gesehen. Die Grillen zirpten, die Spatzen balgten sich in der Sommersonne, und nachdem der Herbst die Insel in eine auf dem Teich schwimmende riesige Blüte aus rotgelbem Laub verwandelt hatte, kam der Winter. Die morschen Äste knackten unter dem scharfen Nordost, die Bäume hüllten sich in Rauhreif und Schnee. Aber nie, niemals zeigte sich auch nur der Schatten einer Schlange!

In der Ofenecke hockte Jeannin in seiner warmen Hütte, flocht Weidenkörbe und dachte voll Trauer über das strahlende Glück nach, das zu ergreifen er nicht verstanden hatte! Doch im nächsten Jahr, an einem Nachmittag im Monat Mai, hatte der Holzfäller gleich beim Anlegen auf der Insel das deutliche Gefühl, daß sich da eine ganz einzigartige, beklemmende Luft rege. Vorsichtig blieb er in seinem Boot am Ufer, wartete und lugte umher. Da gewahrte er in dem Wäldchen dasselbe flüchtige Gleiten, die gleiche erregende Unruhe, und ein Geruch nach Moschus, der ihn leicht anwiderte und den er ohne allen Zweifel wiedererkannte,



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stieg ihm in die Nase . . . Es fiel ihm ein, daß —auf den Tag genau -gerade ein Jahr verflossen war, seit er zum ersten Male sein seltsames Schlangenerlebnis gehabt hatte. Ein kalter Schauer durchschüttelte ihn - und für eine Sekunde fühlte er die Versuchung, wieder zum Ruder zu greifen und umzukehren

Doch der Gedanke an den Diamanten, den es jetzt zu gewinnen galt, hielt ihn fest. Sein Entschluß war gefaßt; er ließ das Boot so geräuschlos wie möglich vorangleiten und band es im Schatten einer großen Eiche am Ufer fest, ganz dicht bei der Stelle, wo die riesige Schlange im Jahre vorher ihren Durst gelöscht hatte.

Und er wartete, zitternd vor Ungeduld .

Minuten, ja Stunden vergingen. Ihm erschien's endlos. Ihm war's, als ob das ganze Wäldchen vor Erregung zitterte. Es schien von Schlangen zu wimmeln. Er meinte, sie zu hören, er glaubte, sie zu erspähen, aber er mochte ausschauen, soviel er wollte - es gelang ihm nicht, auch nur eine von ihnen zu sehen.

Schließlich, als die sinkende Sonne schon den Wasserspiegel berührte, wurden die Geräusche deutlicher, und von seinem Boot aus erkannte er, wie schattenhaft und undeutlich braune, graue, grünliche Leiber aus der Mitte des Waldes heranglitten und sich verteilten, sich geschmeidig im Grase wanden, zwischen die Blätter des Laubes krochen, Erdklumpen und trockene Reiser peitschten.

Der Augenblick war gekommen, nicht länger zu zögern. Mit einem hurtigen Absprung schwang sich Jeannin aus seinem Boot und stieg bis zu einem dichten Weidenbusch, in dem er sich sorgsam versteckte. Er brauchte nicht lange zuwarten: Der Vorhang der Äste und Zweige öffnete sich - und die riesige Schlange erschien. Mit hohem Kamm und ausgestreckter Zunge schob sie sich rasch auf den See zu, wobei sie Gräser und Binsen unter ihrem Gewicht zerdrückte. Auf der Mitte ihrer Stirn funkelte der herrliche Diamant wie ein strahlender Stern. Knapp vier Schritte von Jeannin entfernt hielt sie an, ließ den Diamanten wieder zur Erde gleiten und trank voller Gier.

Da schwang Jeannin sich vor, legte die Hand auf den Diamanten und sprang in sein Boot. Wenige Sekunden darauf war er schon auf der Mitte des Sees und warf sich kräftig in die Ruder -während das Ungeheuer, tastend und blind, vergeblich nach seinem Diamanten suchte und in seiner Wut mit entsetzlichem, grausigem Gezisch ganze Sturzbäche von Rauch und Flammen aus sich herausspie...

Jeannin, fast fiebernd, kam mit heiler Haut davon und erreichte seine Hütte. Diesmal erzählte er von seinem Abenteuer kein Wort. Er wußte



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genau, daß er alles unterlassen mußte, was doch nur Diebe anlocken konnte. Er überlegte genau, was er mit seinem Diamanten anstellen solle. Er dachte nicht daran, ihn aufzuheben, sondern er wollte ihn möglichst rasch zu Geld machen. Aber er war sich auch darüber klar, daß niemand im Dorfe vermögend genug war, ihm das Kleinod abzukaufen. Die Bauern lebten in Armut und Elend, der Gutsherr selber trug abgetragene Kleider, sein Schloß drohte einzustürzen, und seine vornehme Gattin verfügte in ihrem Geldtäschchen sicher über mehr abgegriffene Sou-Stücke als über funkelnde Dukaten.

Deshalb beschloß Jeannin nach langen Überlegungen, den Diamanten dem König selber darzubringen, um auf diese Weise seine Gunst zu erwerben und sich einen gewichtigen Platz bei Hofe zu verschaffen. Er eilte also auf geradem Wege nach Bourges, wo zu seiner Zeit noch der Herrscher des Landes regierte, und erbat sich bei diesem eine Audienz.

Er hatte schon sagen hören, daß es gar nicht leicht sei, vom König empfangen zu werden; und als er im Palast ankam, wartete dort bereits eine ganze Menge Leute darauf, an die Reihe zu kommen: adelige Herren in vornehmen Gewändern aus feinem Tuch, Offiziere mit stolzen Gesichtern, hohe Beamte mit Hermelinkragen. Sie alle richteten auf Jeannin, der schüchtern ins Vorzimmer trat und die Gesellschaft sehr kleinlaut begrüßte, geringschätzige Blicke, doch zur allgemeinen Überraschung war es Jeannin, den der Türhüter bald darauf als ersten aufrief und zum König führen ließ.

Der Herrscher empfing ihn mit sehr großem Wohlwollen. Er erhob sich sogar von seinem Thron und schritt Jeannin liebenswürdig entgegen, um diesem einen Sessel anzuweisen. Der gute Jeannin war völlig verwirrt. Doch dann faßte er sich schnell, erklärte dem König den Grund seines Besuchs und überreichte ihm sein kostbares Geschenk. »Oh!«rief da der König, »jetzt verstehe ich alles! Ich fühlte etwas wie einen inneren Zwang, dich als Freund zu behandeln und dich vor all den andern zu empfangen. Tatsächlich eignet diesem Stein ein unschätzbarer Wert, aber er ist zugleich ein Zauberstein. Er hat die Macht, seinem Besitzer überall eine wohlgeneigte und günstige Aufnahme zu besorgen. Du, wackerer Mann, hast soeben die Kraft dieses Diamanten erprobt!«

»Herr, das also ist es?«

»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr der König fort. »Schau her!« Der Herrscher erhob sich und berührte mit dem Diamanten leicht die verschiedenen Stücke einer Waffensammlung, die die Wände des Saales



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schmückten. Wunder über Wunder! Die Fülle dieser kostbaren Waffen, die Lanzenspitzen, Pfeile, Hirschfänger und alles andere strahlten im güldenen Glanz -alles war plötzlich zu reinem Gold verwandelt! »Das nämlich ist die zweite Macht dieses Steines«, fügte der König hinzu. »Dein Glück ist gemacht, Jeannin! Ich habe keinerlei Recht, ein solches Geschenk anzunehmen, zumal du es unter Lebensgefahr erworben hast.«

Jeannin aber traute seinen Augen nicht. Durch die bloße Berührung mit dem Diamanten ließ sich alles in Gold verwandeln. Plötzlich sah er vor sich seine Marie mit ihren armseligen Kleidern, ihrer alten Hütte und ihrem erbärmlichen Leben. Das also würde nun alles ein Ende haben...

Aber der König legte besorgt seine Stirn in Falten.

»Höre«, sagte er, »ich will mit dir reden wie mit einem Freund und dir auch den Grund meines Nachdenkens erklären. Dieser Zauberstein macht mir großen Kummer. Solange er sich in den Händen eines rechtschaffenen Mannes befindet, wie du einer bist, wird von ihm keinerlei schlimmer Gebrauch gemacht werden. Aber nimm einmal an, daß er einem Schurken in die Hände fällt! Er wird die Gunst aller Welt an sich ziehen, wird hohes Ansehen und alle Macht erlangen und aller Gerechtigkeit spotten. Außerdem ist Eisen weit nützlicher als Gold - und das Gold würde allen Wert verlieren, sobald es seine Seltenheit einbüßt! Oh, dieser Zauberstein ist sehr gefährlich.«

»Herr, was ratet Ihr mir also?«

»Sag mir, Jeannin, was dir vor allem am Herzen liegt! Was wünschest du dir besonders? Ein leichtes Leben für dich und die Deinen? Das laß ganz meine Sorge sein! Ich verbürge mich dafür, dir ein sorgenfreies und angenehmes Leben zu sichern. Was aber diesen übermächtigen und gefährlichen Diamanten angeht, so ist es besser, dich von ihm zu befreien.«

»Aber was soll ich damit machen?«

»Es muß auf jeden Fall verhindert werden, daß irgendein anderer sich seiner bemächtigen kann. Das beste wird sein, ihn in den tiefsten Grund des Sees zu werfen! Das rate ich dir ganz eindringlich an, und sobald du das getan hast, komm mit all den Deinen wieder zu mir! Ich werde gut für eure Zukunft sorgen.«

»Ich will tun, wie Ihr mir ratet«, versprach ihm Jeannin, und der König stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Als Jeannin wieder in sein Dorf zurückgekehrt war, beeilte er sich, das dem König gegebene Versprechen auszuführen. Er trat nahe zum See



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und schleuderte mit voller Wucht den riesigen Diamanten von sich. Zunächst prallte er über den Wellen ab wie ein ganz gewöhnlicher Kieselstein, dann versank er blitzschnell im grünen Wasser. Aber damit waren die Überraschungen des Holzfällers noch nicht am Ende.

Kaum nämlich war der Diamant verschwunden, als der See zu bersten schien. Riesige Garben von kochendem Wasser und Flammen schossen zum Himmel auf, unergründliche Strudel gruben sich in den See und verschlangen innerhalb von wenigen Augenblicken die Insel mitsamt allem, was an Pflanzen und Tieren darauf lebte.

Endlich trat wieder Stille ein. Als Jeannin, der halbtot vor Angst geflüchtet war, wieder aus seiner Hütte trat und sich zaghaft näherte, hatte der See seine gewohnte Heiterkeit zurückgewonnen. Nur etliche abgebrochene Äste schwammen noch auf dem Wasser, von leichtem Schaum getragen, der in der Sonne in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Die Welt war in ihre alte Ordnung zurückgekehrt.


Das Waldkind

Sylvio, der Sohn des Köhlers, war im Walde groß geworden. Die Vögel waren seine Freunde; denn er hatte sie schon zu der Zeit, als sie noch unter der Eierschale im Nest gelegen hatten, vor den gierigen Schlangen gerettet. Er kannte sie alle und antwortete ihnen, pfeifend wie sie. Die Ameisen, der Hase -der doch so ängstlich ist - und auch das Eichhörnchen liefen vor ihm keineswegs davon; denn er liebte sie alle und war freundlich und gut zu ihnen.

Er lebte sehr glücklich in ihrer Mitte, als eines Tages die königliche Jagd vorüberbrauste.

Auf einem feurigen weißen Pferd erschien wie ein strahlender Blitz die goldblonde Prinzessin, und ihr Anblick hinterließ im Herzen des Waldkindes ein beseligendes und zugleich sehr qualvolles Begehren. Voller Sehnsucht durchstreifte Sylvio die Wälder, und eines Tages begegnete ihm ein Unbekannter, der Äste zurechtstutzte, um neue Holzzinken für seinen Rechen zu schneiden.

»Warum bist du so traurig, Sylvio?«fragte er. »Es wäre besser, du gingest in die Stadt, um zu schauen, was sich alles dort zuträgt. Die Tochter des Königs wird von mehr als hundert Freiem umworben, und um sie loszuwerden, hat jetzt der König ausrufen lassen, daß nur der die Prinzessin bekommen soll, der drei vom König selbst ausgewählte Worte erraten kann. Hast du keine Lust, dein Glück zu versuchen?«



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»Ach«, sagte Sylvio verwirrt, »ich bin nur ein armer Junge, ein Kind der Wälder, das sich auf die Sprache der Vögel sehr viel besser versteht als auf die der Menschen. Wie soll ich diese drei Worte erraten? Und würde wohl der König seine Tochter einem so groben Flegel anvertrauen, wie ich es bin?«

»Du bist doch gar kein Flegel und auch nicht grob, Sylvio! Hör gut zu, ich will dir was ins Ohr flüstern. Das sind die drei Worte, die es zu erraten gilt. Und da hast du noch meine Mütze. Sie wird dir bestimmt gute Dienste tun!«

Und der Mann sagte Sylvio ins Ohr, was er tun solle. Dann verschwand er.

Sylvio machte sich auf und ging geradewegs zum königlichen Palast. Als er sich in seinen ärmlichen Kleidern, die Mütze in der Hand, ganz schüchtern und bescheiden als Bewerber vorstellte, blickten der König und die Prinzessin einander höchst überrascht und auch ein wenig unwillig an. Aber ein königliches Wort ist ein königliches Wort. So wurde ihm das Rätsel vorgelegt, das bisher niemand hatte erraten können. In aller Ruhe antwortete Sylvio:

»Das erste Wort ist: Feuer; das zweite ist: Holz; das dritte heißt: Pfanne. Gebt mir, was diese Worte besagen, und ich werde sogleich in dieser Mütze hier den prächtigen Eierkuchen bereiten!«

Und hurtig, im Handumdrehen, reichte er der völlig verdutzten Gesellschaft einen köstlichen, goldgelben Eierkuchen hin.

»Ausgezeichnet«, sagte der König, »du hast's richtig erraten; ich kann mein Wort nicht zurücknehmen. Aber du wirst zugeben, daß die Prinzessin gut drei Prüfungen wert ist! Hier gleich die zweite: Bist du imstande, binnen einer Stunde einen Sack Hirsekörner fein sauber auszulesen?«

»Ich will's versuchen«, antwortete Sylvio und war sehr betroffen.

»Nun gut, der Sack steht da drüben auf dem Feld!«

Um zu dem Feld zu gelangen, mußte man über einen kleinen Steg den Bach überschreiten. Wenn das Waldkind nun auch noch so in Gedanken versunken und voller Sorgen war, wie es die schwere Aufgabe lösen sollte, so gewahrte es doch zu seinen Füßen einen großen Zug Ameisen, der gerade den Steg überquerte. Rasch hielt es seinen Fuß an, der drauf und dran war, sie zu zertreten, und ging vorsichtig zur Seite, um seine kleinen Freunde nicht zu verletzen. Dann setzte er sich auf das Feld, öffnete den Sack Hirsekörner und leerte ihn aus. Diesen Berg sollte er nach guten und schlechten trennen? Er verlor allen Mut.

Aber schau einer bloß an, was sieht er da? Da kommt der ganze Ameisenschwarm



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schnellschnell herbei und fängt mit dem Auslesen an. Das wimmelt und arbeitet emsig und voller Eifer. In weniger als einer Stunde liegen alle die Hirsekörner ganz sauber auf zwei Haufen beisammen, und die guten warten nur darauf, wieder in den Sack eingefüllt zu werden. Überglücklich bringt Sylvio den Sack dem König.

»Aber wie hast du diese feine Arbeit nur in so kurzer Zeit schaffen können?« fragte der König ganz überrascht.

»Herr König, meine Freundinnen aus dem Walde haben mir dafür gedankt, daß ich ihnen nie ein Leid angetan habe!«

»Nun gut!« sagte der König, »laß schauen, ob du auch die dritte Prüfung bestehen wirst! Man wird dir jetzt einen Sack bringen, in dem die Samenkörner von Steckrüben und Kohl völlig durcheinandergemischt sind. Du weißt sicher, wie sehr sie einander ähneln. Deine Aufgabe wird sein, sie genau voneinander zu trennen. Geh und zeige, was du kannst!«

Und Sylvio geht, nimmt die zwei Säcke auf seinen Rücken, kehrt in seinen Wald zurück und ruft laut:

»Liebe Buchfinken, Grasmücken, Stieglitze, Zeisige, Rotkehlchen, alle meine kleinen Freunde, kommt mir zu Hilfe, damit ich die Prinzessin mit den goldenen Haaren heiraten kann!«

Alsbald stürzen von allen Zweigen ringsum ganze Wolken von Vögeln herunter, die im Handumdrehen die Rübensamen von den Kohlsamen trennen, dann fortfliegen und zwitschern:

»Es gelingt, Sylvio! Sylvio, du schaffst es!«

Und überglücklich bringt Sylvio dem König die zwei Säcke, den einen mit Rübensamen, den andern mit Kohlsamen fein säuberlich gefüllt.

»Aber wie hast du das nur in so kurzer Zeit zuwege gebracht?«fragte der König.

»O Herr König, meine kleinen Freunde aus dem Walde haben mir dafür gedankt, daß ich ihnen nie ein Leid angetan habe.«

Da senkte der König schweigend den Kopf. Er mußte sein Wort halten. Es war nichts mehr dagegen zu tun. Aber da sagte die Prinzessin, die bisher den Sylvio nur wortlos angeschaut hatte, sehr laut und vernehmlich: »Mein Vater, dieses Waldkind ist weder reich noch mächtig, aber er ist ein guter Mensch, und ich will ihn heiraten!«

Sie ist denn auch mit dem sanften, gütigen Sylvio glücklicher geworden, als sie es mit irgendeinem der hundert Freier hätte werden können. So ist es gewesen. Und nun geht nach Haus -die Geschichte ist aus.



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Jochen Ohnefurcht

Auf der Burg Rocquenvel, eine gute Meile von Aurillac entfernt, lebte einst der edle Herr von Rocquenvel. Der Burgherr war auf seinen mächtigen Bergfried, der allen Anstürmen trotzte, nicht wenig stolz; aber auf seinen Obstgarten war er sicher noch sehr viel stolzer.

Oh, was für ein Garten! Darin sah man kräftige Birnbäume, strotzend von saftigen Birnen; und prächtige Calviläpfel. und Pflaumenbäume, deren Früchte in der Augustsonne leuchteten, als seien sie aus purem Gold; und Pfirsichbäume, die strahlende, saftige, samtartige Früchte trugen, daß einem schon beim bloßen Anschauen das Wasser im Munde zusammenlief. Ach ja, ich versichere euch, von allen berühmten Obstgärten war dieser wahrhaftig einer der fabelhaftesten . . . Der edle Herr von Rocquenvel liebte es, darin seine Freunde und seine Gäste ehrenvoll zu empfangen.

Nun geschah es eines Tages, daß er, als er gerade einen seiner guten Nachbarn hinausbegleitet hatte, mit sehr sorgenvoller Miene in den großen unteren Saal der Burg zurückkehrte und seine Söhne zu sich rief, drei schöne Burschen im Alter von zweiundzwanzig, zwanzig und achtzehn Jahren.

»Meine lieben Söhne«, sprach er zu ihnen, »ich bin sehr bekümmert. Als ich soeben unseren Nachbarn meinen Obstgarten anschauen ließ, habe ich festgestellt, daß mehrere der schönsten Früchte unserer Birnund Pfirsichbäume verschwunden sind. Gestern sind sie noch dagewesen. Jetzt nicht mehr. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Ein dreister Missetäter muß heimlich bei Nacht über die Mauer steigen und in unseren Obstgarten eindringen. Er stiehlt uns unser bestes Obst. Es gilt ihn zu entdecken. Du, Peter, bist der Älteste, dir vertraue ich diese Sorge an. Du wirst dich heute nacht hinter der dicken Eiche am Eingang des Gartens aufstellen, und sobald du den Dieb bemerkst, wirst du ihn ergreifen. Nimm diesen Knüttel mit, um ihn in rechter Weise zu gebrauchen, falls der Schurke dich angreifen sollte. Aber sieh dich ja vor und achte darauf, daß du ihn nicht tötest; denn unser Oberlehnsherr, der Graf von Auvergne, hat allen seinen Vasallen untersagt, sich selbst Recht zu verschaffen. Falls du einen Mann umbringst, droht dir selbst Gericht und Tod.«

Peter nahm den Knüttel. Er schien von der Aufgabe, die sein Vater ihm da übertrug, nicht gerade entzückt zu sein. Es läßt sich nicht verheimlichen, der älteste der Söhne des edlen Herrn Rocquenvel glänzte durchaus nicht durch einen unbezähmbaren Mut.



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Um sich Mut einzuflößen, trug er außer dem Knüttel eine gute Flasche blaßroten Bourbonen-Wein und ein reichliches Stück Ochsenbraten mit sich.

Gegen elf Uhr nachts, da ihn die Langeweile plagte, fing er an zu essen und zu trinken. Nun geschah, was ihr schon erratet. Der Wein und das reichliche Essen machten ihm die Augen schwer. Er streckte sich in seiner ganzen Länge zu Füßen der Eiche aus, und wenige Augenblicke später schlief er mit geschlossenen Fäusten und schnarchte kräftig wie ein verstopfter Kamin.

Der Dieb sprang über die Mauer, ließ sich an einem Ast in den Obstgarten hinuntergleiten und entwendete in jener Nacht sämtliche »Guten Luisen«, die besten Birnen des Burgherrn von Rocquenvel. Am folgenden Morgen kam der älteste Sohn ziemlich verlegen zu seinem Vater und berichtete sein Mißgeschick. Der Vater zeigte seine Unzufriedenheit sehr deutlich, nannte ihn einen Einfaltpinsel, einen Ansthasen, drohte, ihm eine Tracht Prügel zu verabreichen, und ließ schließlich den zweiten seiner Söhne zu sich rufen.

»Dein Bruder hat eine schöne Gelegenheit, unsere Diebe zu erwischen, verpaßt. Inzwischen aber sind unsere >Guten Luisen< verschwunden. Die Spitzbuben sind auf den Geschmack gekommen. Sie werden bestimmt wiederkommen; denn die Nächte sind schön, und wir haben gerade Vollmond. Ich rechne auf dich, daß es dir besser gelingen wird als deinem älteren Bruder. Hier hast du deinen Knüttel! Nun gib dir Mühe!«

Der zweite Sohn war nicht so ängstlich wie der älteste. Aber er war ganz entsetzlich zerstreut. Träumerisch und leichtfertig dachte er nur daran, in den schönen Handschriften zu lesen, die die Bücherei seines Vaters aufbewahrte, oder aber in den höchsten Raum des Schloßturms hinaufzusteigen, um die Sterne zu betrachten. Er nahm den Auftrag, den ihm sein Vater erteilte, gern an.

>Eine Nacht unter freiem Himmel<, sagte er sich, >das ist nicht unangenehm. Ich werde in aller Ruhe den Himmel erforschen können und neue Sterne entdecken. Und falls darüber der Dieb kommt, wird es mir sicher nicht schwerfallen, ihm eine kräftige Tracht Prügel zu versetzen.<

Als die Nacht gekommen war, ließ er sich bequem am Eingang des Obstgartens nieder, begann den Himmel zu betrachten und verfiel in eine so tiefe Träumerei, daß er schon vor Mitternacht in tiefem Schlafe lag.

Früh am andern Morgen eilte der edle Herr von Rocquenvel herbei.



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Er mußte seinen Sohn schütteln und rütteln, um ihn wachzubekommen. »So also, törichter Träumer, hast du gewacht! Wohlan, sieh das Ergebnis: die Diebe sind zurückgekommen, und von unseren Calviläpfeln haben sie nichts mehr übriggelassen. Sie haben nur die Mühe gehabt, sie in einen Sack zu stecken und sie sich auf den Rücken zu laden. Das ist wahrhaftig zu stark, und ich weiß nicht, was mich noch zurückhält, dich ganz gehörig durchzuprügeln.«

»Mein Sohn«, fügte er hinzu und wandte sich zu dem dritten seiner Kinder, »ich hoffe, daß du dich etwas besser bewähren wirst als deine älteren Brüder. Hier ist der Knüttel, ich zähle darauf, daß du diesen Schurken erwischen wirst, der meinen schönen Obstgarten derart plündert!«

Der dritte der Söhne des edlen Herrn von Rocquenvel hieß Jochen und hatte ein entschlossenes Wesen. Er nahm den Knüttel und antwortete ganz schlicht:

»Mein Vater, seid ohne Sorge! Hat man mir in der Nachbarschaft nicht den Beinamen >Jochen Ohnefurcht<gegeben? Die Räuber und Diebe sollen sich rasch davon überzeugen.«

Vom frühen Abend an stand er Wache unter einem Lindenbaum. Er machte sich klein und rührte sich geradesowenig wie ein totes Blatt. Eine Stunde - zwei Stunden - drei Stunden vergingen -Jochen sah nichts kommen. Er fing an, sich zu langweilen, zu gähnen und sogar ein wenig schläfrig zu werden, als er plötzlich einen Hagel von Äpfeln hörte, die auf den Boden herunterprasselten.

»Dieses Mal«, sagte er sich, »schnappe ich ihn!« —denn gerade in diesem Augenblick stieg der Dieb vom Baum und begann die Äpfel auf zusammein.

Jochen schlich auf Zehenspitzen vorwärts, umspannte seinen Knüttel und versetzte damit dem Dieb einen heftigen Schlag direkt auf den Kopf. Der Dieb brach auf der Stelle tot zusammen, ohne auch nur einen Seufzer auszustoßen.

»Unglückseliges Kind!«rief sein Vater am folgenden Morgen aus, »du hast einen Menschen umgebracht! Mein armer Kleiner, du mußt fliehen. Du kannst nicht länger im Schloß von Rocquenvel bleiben, sonst wirst du festgenommen und abgeurteilt. Brich also eilig auf! Ich bedaure es, denn du warst der mutigste und kühnste meiner Söhne. Geh, zieh in die Welt! Ich hoffe nur, daß dir kein Unglück geschieht. Aber bevor du fortgehst, nimm hier diesen Sack! Er ist zauberkräftig, heißt es (denn ich selber habe nie die Gelegenheit gehabt, ihn zu benützen). Dein Urgroßvater hat ihn mir vermacht. Wenn dir auf deinem Wege



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ein Hindernis begegnet, ein Ding oder ein Mensch, wodurch du belästigt oder behindert wirst, kannst du es da hineinzaubern und bist davon befreit. Leb wohl, mein Sohn, die Zeit und dein Mut werden, so hoffe ich, deine Angelegenheiten schließlich in Ordnung bringen!« »Fürchtet nichts, mein Vater; Ihr wißt doch, daß man mir den Beinamen >Jochen Ohnefurcht<gegeben hat!«Der junge Jochen machte sich auf den Weg, den Sack nachlässig über die Schulter geworfen.

Er wanderte lange, sehr lange Zeit. Bei Einbruch der Nacht, am Abend seines ersten Reisetages, drang er in einen dichten Wald ein. Rechtschaffen müde, ließ er sich am Fuße einer dichtbelaubten Eiche nieder und zündete ein Reisigfeuer an, um sich zu wärmen und zugleich die Tiere fernzuhalten. Er aß mit gutem Appetit die Vorräte, die sein Vater ihm mitgegeben hatte, und streckte sich dann auf das Moos, um einzuschlafen. Er schlief noch nicht sehr lange, als er in dem Baum Lärm hörte:

>Nanu<, sagte er sich, >das ist doch nicht schon wieder ein Dieb. Wer kommt denn da und stört mich?<

Ein Dieb war es nicht; es war ein ganz in Weiß gekleideter Mann, dessen Augen wie Feuer funkelten. Jochen richtete sich auf. Furcht kannte er nicht, aber er war äußerst überrascht und neugierig gemacht.

Der Mann purzelte von Ast zu Ast herunter, setzte den Fuß an die Erde und näherte sich dem von Jochen angezündeten Feuer, wie um sich zu warmen.

»Holla, mein Herr, wer seid Ihr denn, und was macht Ihr hier?«fragte Jochen die Erscheinung.

»Ach, armer junger Mann! Das will ich Euch gerne sagen. Ich bin ein Gespenst. Heute vor genau zehn Jahren bin ich gestorben, mit schwerer Schuld beladen. Kurz vor meinem Tode hatte ich aus der Kirche des Nachbardorfes einen Kelch und eine Monstranz gestohlen. Ich hatte sie in ein tiefes Loch vergraben, hier unter der Eiche. Der Himmel hat dieses abscheuliche Verbrechen hart bestraft. Ich bin ins Fegefeuer gestürzt worden, wo ich ganz entsetzlich leide. Und ich werde so lange darin bleiben müssen, ach, bis mein Diebstahl wieder der Kirche zurückerstattet worden ist. Ich habe jedoch das Recht, mein möglichstes zu versuchen. Zwei- oder dreimal im Jahr muß ich wieder zur Erde, sobald es nachts zwölf Uhr schlägt. Ich irre dann in diesem Walde umher, und wenn ich einen verspäteten oder verirrten Reisenden entdecke, gehe ich ihm entgegen, seine Hilfe zu erbitten. Aber seht Ihr, junger Mann, man muß wohl glauben, daß die Gespenster keinen guten Ruf haben. Sobald die Menschen mich auch bloß gewahr werden, entfliehen



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sie voller Entsetzen. Ihr seid seit zehn Jahren der erste, der mir einige Anteilnahme bezeugt.«

»Ich werde noch mehr tun«, sagte Jochen. »Ich will Euch jetzt Linderung verschaffen: Ich werde zudem Pfarrer gehen, ihn benachrichtigen und die gestohlenen Gegenstände ausgraben.«

»Ich danke Euch«, antwortete das Gespenst und verschwand. Jochen erreichte rasch das benachbarte Dorf. Alles ruhte in tiefem Frieden. Am Glockenturm der Kirche schlug es gerade zwei Uhr. Jochen nahm Steine und warf sie gegen die Fensterläden des Pfarrhauses. Nach einer Weile tat sich eines der Fenster auf, und der Pfarrer steckte seinen Kopf nach draußen:

»Wer seid Ihr denn«, fragte er, »und was kommt Euch an, daß Ihr zu solcher Stunde einen Christenmenschen aufweckt?«

»Herr Pfarrer, beeilt Euch!« antwortete Jochen. »Legt Eure Soutane an und holt eine Schaufel und eine Hacke! Ich werde Euch unterwegs erklären, wozu.«

»Oh«, erklärte der Pfarrer, schon zur Hälfte beruhigt. »Eine Schaufel und eine Hacke. Es ist jetzt nicht die Stunde, sich Gärtnerarbeiten zu widmen. «

»Spaßen Sie nicht, Herr Pfarrer, es ist sehr ernst!«

»Gehen Sie nicht hin, Herr Pfarrer«, mischte sich vom anderen Fenster die Magd ein, die sich nun auch erhoben hatte. »Das ist bestimmt ein Strolch, der Sie meuchlings ermorden will!«

Sie zerrte den Pfarrer an seinem Mantel und schrie dabei wie eine Besessene.

»Hört nicht auf diese alte Närrin, Herr Pfarrer! Ich habe keinerlei Lust, Euch zu ermorden, sondern es handelt sich darum, eine Seele aus dem Fegefeuer zu erlösen, und die Zeit drängt sehr.«

Bei diesen Worten zögerte der Pfarrer nicht länger. Er stieg die Treppe hinab, öffnete das Gartentor, nahm aus der Scheune eine Schaufel und eine Hacke und folgte Jochen.

Unterwegs berichtete dieser, wie er der traurigen Erscheinung begegnet war.

»Ich erinnere mich sehr gut an den Diebstahl«, sagte der Pfarrer. »Ich war damals noch nicht hier. Aber mein Vorgänger hat mir davon erzählt.«

Am Fuß der Eiche angekommen, wo Jochen eingeschlafen war, fingen sie nun an, rings um den Baum voller Eifer zu graben.

Schon nach wenigen Spatenstichen deckte der Bursche ein schweres, in ungebleichte Leinwand gehülltes Paket auf. Der Pfarrer kniete nieder,



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öffnete es: der Kelch und die Monstranz waren da, unversehrt und strahlend im hellen Mondenschein.

Genau in diesem Augenblick schoß eine Sternschnuppe quer über das Firmament.

>Das ist die erlöste Seele des Diebs, die nun ins Paradies eingeht<, dachte Jochen, und er fühlte sich glücklich.

Der Pfarrer wollte ihn nicht so einfach fortgehen lassen. Er brachte ihn zurück ins Pfarrhaus, ließ ihm durch die Magd ein reichliches Mahl auftragen und sagte dann zu ihm:

»Ihr seid wohl der mutigste Junge, der mir je begegnet ist, Ihr rechtfertigt Euren Beinamen. Aber da Ihr so tapfer seid, könntet Ihr auch uns einen großen Dienst erweisen. Hört: eine Meile von hier erhebt sich eine prächtige Burg, die einst von einem vortrefflichen Edelherrn und seiner Tochter bewohnt wurde. Aber der Teufel hat sich dieser Burg bemächtigt. Er hat die Eigentümer daraus verjagt, und das ist seither nun ein entsetzliches Unglück für das Land. Denn Monsieur Ropotou befehligt dort, umgeben von einer ganzen Meute von gehörnten und spaltfüßigen Teufeln, einem regelrechten Höllenzug. Ich versichere Euch, daß jedermann hier in der Gegend Euch sehr großen Dank wissen wird, wenn es Euch gelänge diese unerwünschten Gäste zu vertreiben.«

»Sehr gern, Herr Pfarrer«, antwortete Jochen. »Der Teufel und seine Teufelchen haben mir noch nie Angst gemacht.«

»Ja, gewiß«, sagte der Pfarrer. »Aber ich muß Euch trotzdem sagen, daß von all jenen, die sich in diese Burg hineingewagt haben, bis heute keiner je wieder herausgekommen ist.«

»Darauf soll es mir nicht ankommen. Ich möchte Euch nur bitten, Herr Pfarrer, mir Eure Stola und den großen Holzstab des Prozessionskreuzes zu leihen.«

»Wenn's sich bloß darum handelt, ich leihe sie Euch gern.«

Und nachdem Jochen mit der einen Hand den Stab, mit der andern die Stola ergriffen hatte, schlug er die Richtung nach dem Spukschloß ein. Den wunderbaren Sack seines Urgroßvaters trug er wohlweislich bei sich. Nachdem er ungefähr eine Stunde lang gegangen war, gewahrte er das Gebäude. Es sah unheimlich aus. Alle Fenster waren dicht geschlossen, die Läden sorgfältig zugemacht. Alles war finster und still. Indessen stand das Ausfalltor weit offen, die Zugbrücke war herabgelassen. Jochen durchschritt das Tor, ohne mit der Wimper zu zucken. Er überquerte den Innenhof und trat durch eine kleine offene Tür in die Küche.



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Eine schöne Küche, wahrhaftig, aber keine Menschenseele darin. In dem hohen Kamin prasselte ein lustiges Feuer. Auf einem Spieß steckte eine wunderbare Gans beim Braten. Ringsherum waren auf Dreifüßen Kochtöpfe aufgestellt, denen ein höchst angenehmer Duft entströmte.

»All das sieht nicht eben sehr böse aus«, murmelte Jochen. »Aber wenn ich nicht rasch eingreife, wird diese Gans noch anbrennen.« Und sogleich fing er an, den Bratspieß zu drehen, den Braten sorgfältig mit Öl zu begießen und die Glut zu schüren. Dann setzte er sich auf einen Schemel und überwachte sein Werk.

Plötzlich erscholl ein gellendes Kreischen. Er hob den Kopf: durch den Kamin purzelte ein pechschwarzer Teufel herunter.

»Wer hat dir erlaubt, hier hereinzukommen, und was treibst du in meiner Küche?« fauchte der Gehörnte.

»Das siehst du ja. Ich bin eingetreten, weil alle Türen offen waren. Und was ich gerade tue, das ist leicht zu erraten: Ich passe auf das Essen auf, und du solltest mir danken; denn wenn ich nicht dagewesen wäre, wäre der Braten längst schon verbrannt.«

Und ohne sich weiter aufzuhalten, fuhr Jochen fort, den Spieß zu drehen und die Gans zu begießen.

Der Teufel schien verärgert, aber er erwiderte nichts und wandte sich dem Küchenschrank zu.

»Es ist gut«, sagte er. »Da du nun einmal da bist, kannst du gleich mit uns essen.«

Er zog Besteck und Teller heraus und fing an, den Tisch zu decken. Kaum war er damit fertig, als eine ganze Bande von Teufeln in die Küche stürmte. Durch alle Öffnungen drang das herein. Sie waren geradeso häßlich und ebenso schwarz wie der Teufelskoch. Im Vorbeigehen schnitten sie zu Jochen hin wüste Grimassen; der aber setzte vollkommen ruhig seine Arbeit fort.

Endlich erschien Beelzebub selber und sagte: »Zu Tisch, zu Tisch! Komm und setze dich neben mich!«

Sämtliche Teufel und Teufelchen ließen sich lärmend rings um den Tisch nieder. Der Koch legte die Stücke vor. Jochen beobachtete, wie der Teufel auf seinen Teller heimlich ein weißliches Pulver schüttete, das Beelzebub ihm zuvor gegeben hatte. Daher hütete er sich wohl, auch nur das kleinste Bröckchen zu essen. Während sämtliche Teufel mit mächtigen Zähnen kauten und hinunterschlangen, warf er alles, was sich auf seinem Teller befand, unter den Tisch.

Doch beim letzten Happen wurde sein Treiben entdeckt. Grimmig erhob sich der Teufelsfürst und schrie seinem ganzen Volk zu:



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»Genug gegessen! Jetzt wollen wir zu Ehren unseres Gastes eine Partie Kegel spielen. Holt die Kegel!«

Eilig gehorchte ein Teufelchen. Es öffnete den Salzbottich und - o Schreck: die Kegel darin waren aus Totengebein gemacht! In aller Ruhe stellte sie der Teufel auf den Boden auf. Dann nahm er die Kugel und reichte sie höflich Jochen hin. Die Kugel aber, das war natürlich ein Totenkopf. Jochen zitterte ein wenig, aber Angst spürte er nicht.

»Ah, ah«, rief Beelzebub aus. »Du siehst diese Kegel. Sie stammen von all den Unvorsichtigen her, die die Dreistigkeit besessen haben, hierherzukommen und uns einen Besuch abzustatten.«

»Wohlan«, rief Jochen da, »ich werde deine Sammlung nicht vergrößern. Gehörnter Teufel, im Namen des Herrn: hinein in meinen Sack!«

Der Teufel wollte widerstehen. Aber wie sehr er auch zappelte und tobte - er wurde in den Sack gezogen.

»Und nun«, begann Jochen von neuem, »hör gut zu! Ich werde dir deine Freiheit erst dann wiedergeben, wenn du mit deinem Blute ein Pergament unterschreibst, durch das du versprichst, niemals mehr deine gespaltenen Füße in diese Burg zu setzen, weder du noch einer deiner Bande und Helfershelfer.«

»Nein, nein, nie«, schrie Beelzebub fluchend und tobend. »Ah, du willst nicht? Nun gut, warte ein bißchen.. .« —Und mit dem Stab des Prozessionskreuzes begann Jochen dem Teufel eine kräftige Tracht Prügel zu verpassen.

»Oh, oh, oh«, ächzte der Teufel, »oh, wie ich leide, oh, wie tut das weh, dieses Holz verbrennt mich und martert mich, oh, ich gebe nach, ich verspreche.«

Da sie ihren Meister derart wimmern hörten, hatten inzwischen sämtliche Teufel die Flucht ergriffen.

»Willigst du ein, zu unterschreiben?«

»Ja, nein, doch, doch, ich unterschreibe. Laß mich bloß 'raus!«

Jochen öffnete den Sack ein wenig; der Teufel wich aus der Öffnung. Er hoffte zu entfliehen, aber hopp, schwang unser Held die Stola und hielt Beelzebub in ihrem Schwunge fest.

»Hune«, ächzte dieser zusammenbrechend. »Eine geweihte Stola, mir, der ich ihre Berührung nicht ertragen kann! Schnell, schnell, reich mir ein Messer!«

Und mit der Klinge stach sich der Teufel in den Finger, daß das Blut nur so perlte, und unterzeichnete das Pergament.



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»Marsch - und hinaus mit dir und deinem gesamten Anhang! Du hast dich mit deinem Blut verpflichtet. Sieh zu, daß du nie wieder den Fuß in diese Burg setzt!«

Der Teufel entfloh brüllend vor Wut. Eine feurige Spur sprühte hinter ihm her.

Vor seinem Aufbruch durchsuchte Jochen unverzagt die ganze Burg, um sich zu überzeugen, daß keinerlei Dämon daringeblieben war. Aber diese hatten alle nur ein einziges Verlangen gehabt: hinter ihrem Meister her zu verschwinden. Die Burg war völlig leer. Jochen öffnete die Fenster ganz weit und ging zurück ins Pfarrhaus.

Der Pfarrer hatte schon die Hoffnung aufgegeben, den mutigen Burschen wiederzusehen. Er war überrascht und froh, als Jochen ihm die Stola und den Stab des Prozessionskreuzes zurückgab und dabei erzählte, was sich ereignet hatte.

»Kommt sogleich mit mir«, sagte er zu ihm, nachdem Jochen sich ordentlich gestärkt hatte; »ich führe Euch sogleich zum Eigentümer der Burg.«

Dessen Freude werdet ihr euch ausmalen können. Als die Burg durch den Pfarrer geweiht und gereinigt worden war, richtete der Burgherr sich im Hause seiner Ahnen wieder ein.

Habe ich euch eigentlich schon gesagt, daß er eine entzückende Tochter besaß? Nicht? Nun, dann erfahrt ihr es jetzt, und dazu auch, daß das Edeifräulein den Mut des Junkers Jochen im stillen sehr bewunderte. Dieser hatte dem edlen Herrn berichtet, wie er genötigt gewesen war, von daheim zu fliehen.

»Hier«, sagte der Burgherr, habt Ihr nicht das geringste zu befürchten. Ihr befindet Euch nicht mehr in den Ländern des Grafen von Auvergne. Und wenn Ihr mögt, will ich Euch gern in meinem Dienst behalten. Ihr werdet mein Ritter und mein Gefährte sein, denn Ihr seid von edler Geburt und eines solchen Glückes wohl würdig.«

Jochen nahm das Angebot gern an und wahr sehr glücklich.

Schon bald verliebte er sich in die Tochter des Burgherrn, und sie schien seine Liebe zu erwidern.

>Was für ein schönes Paar, ich werde sie sicher bald trauen<, dachte der Pfarrer.

Ach, so ganz leicht gingen die Dinge nun freilich nicht. Eines Tages suchte Jochen seine allerliebste Freundin auf und hielt ihr folgende Rede:

»Ich bin tief betrübt. Ich liebe Euch und glaube, Ihr liebt mich auch. Ich möchte Euch so gern heiraten, aber seht an: bevor ich das Vaterhaus



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verließ, habe ich geschworen, nur eine Frau zu nehmen, die mir wenigstens einmal Furcht eingeflößt hat.«

»Wenn weiter nichts ist, mein Herr«, antwortete das junge Mädchen heiter lächelnd. »Wir werden zum Schluß schon noch über Euren Mut triumphieren.«

Doch so leicht war das nicht. Vergeblich hüllte sich das Fräulein in ein weißes Tuch und rasselte mit Ketten; Jochen war bereits einem Gespenst begegnet; er fürchtete also dergleichen nicht. Es war auch unnütz, den Teufel vorzutäuschen oder einen Dieb nachzumachen: Jochen fuhr fort, vor nichts und gar nichts Angst zu haben.

Am Ende eines Monats war die Tochter des Burgherrn durchaus noch nicht weitergekommen als am ersten Tag. Aber sie ließ den Mut nicht sinken.

Eines Morgens sagte sie zu Jochen: »Begleitet mich doch in die Küche! Ich will einen Kuchen backen. Kommt und helft mir dabei!«

Die Küche war so geblieben, wie sie gewesen war, als Jochen zum erstenmal dort eingetreten war. Aber sie hatte jetzt nichts Teuflisches mehr. Die Mägde waren geschäftig am Kochen und Braten.

Das junge Mädchen fing an, den Teig zu kneten. Dann wandte sie sich zu Jochen:

»Bringt mir doch rasch das Salz!«

Jochen wendet sich zur Salzkiste. Er hebt den schweren Deckel hoch. Frrut . . . sämtliche Tauben des Taubenschlags werfen sich ihm flatternd ins Gesicht. Bleich vor Angst fährt Jochen zurück, stolpert und stürzt zu Boden.

»Er hat Angst gehabt! Er hat Angst gehabt!« riefen die Mägde, die in das Geheimnis eingeweiht waren.

»Ihr habt Angst gehabt, mein armer Jochen!« sagte das Fräulein. »Nun bleibt Euch nichts andres übrig, als mich zu heiraten . .

So geschah es. Die Hochzeit war herrlich und wunderbar. Und natürlich wurden die beiden über die Maßen glücklich und bekamen viele Kinder.

Die Nacht ist gekommen,
Der Hahn hat gekräht,
und das Märchen ist aus:
Gute Nacht, alle zusammen!


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Die beiden Buckligen

Da gab es vor noch gar nicht so langer Zeit in Omont einen Buckligen, den man wahrhaftig zu den Buckligen mit froher Laune zählen konnte. Er lachte und sang den ganzen Tag, und da er zudem eine gute Stimme hatte, war es ein Vergnügen, ihm zuzuhören. Er war geradeso fröhlich wie der Hanswurst selber, der heimliche König ihrer Bruderschaft.

Unser Buckliger betrieb das Schneiderhandwerk, er war ein sehr guter und tüchtiger Schneider und ringsum sehr angesehen und beliebt. Den ganzen Tag über saß er mit gekreuzten Beinen auf seinem Tisch, nähte und sang mit dem gleichen Eifer.

Nur ein einziger Kummer quälte unsern Freund: er konnte nicht mit den jungen Burschen und Mädchen des Landes tanzen. Auch hätte sicher keines der Mädchen ihn zum Manne genommen, und so lief er Gefahr, dereinst ein alter Hagestolz zu werden.

Da enthüllte ihm ein alter Mann des Dorfes, dem er seine Not anvertraute, ein Geheimnis: »Kennst du die alte, verkrüppelte Eiche, die sich beim Kreuzweg zwischen Omont und Chagny erhebt?«

»Aber sicher!« antwortete der Schneider. »Das ist eine verfluchte Eiche, und niemand hält sich gern lange in ihrer Nähe auf; denn es wird davon gesprochen, daß die Höllenteufel jeden Samstag dort hinkommen und da ihren Höllentanz aufführen.«

»Pöh!«machte der Greis, »dessen bin ich mir nicht so sicher. Daß dort irgendeine Hexerei vor sich geht, das glaube ich freilich gern. Aber es sind nicht alle Teufel böse Teufel. An deiner Stelle würde ich mein Glück versuchen und gegen Mitternacht dort eine kleine Runde machen. Die geheimnisvollen Wesen, die an dem Kreuzweg herumspuken, können dich vielleicht von deinem Gebrechen heilen.«

»Schönen Dank auch, Alter! Ich will Eurem Rat folgen.«

>Schließlich<, so überlegte sich unser junger Mann, >was setze ich schon aufs Spiel, wenn ich zu dieser alten Eiche gehe? Ich weiß wohl, daß man ihr den Beinamen >Alter Ziegenbock<gegeben hat und daß behauptet wird, sie sei behext. Aber wenn die Teufel mich nicht heilen sollten, können sie mich doch jedenfalls nicht häßlicher machen, als ich so schon bin.<

Also beschloß er, einen Versuch zu wagen. Am folgenden Samstagabend verließ er seine Wohnung. Die Nacht wahr sehr dunkel, der Mond noch nicht aufgegangen. Jetzt bekam unser Freund doch Herzklopfen. Aber er war fest entschlossen, das Abenteuer bis zu Ende zu gehen.



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Er wanderte lange. Endlich bemerkte er die Wegkreuzung. Zugegeben —der Ort war finster; kein Haus, nicht ein Lichtschimmer zu sehen. Mitten auf der Kreuzung erhob sich die alte Eiche, deren verkrüppelte Äste im Dunkeln wie Arme aussahen, die mit geballten Fäusten gen Himmel drohten. Keinerlei Laut, Totenstille .

>Das ist ein Ort<, sagte sich unser Buckliger, >der wohl von Christenmenschen nicht häufig besucht wird. Und ich möchte selber wohl ganz gern wieder umkehren.< Genau in diesem Augenblick schlug es am Kirchturm von Omont Mitternacht, zwölf harte Schläge. Aber unser Mann achtete schon nicht mehr darauf. Er riß die Augen auf:

Ein Windstoß hatte die Wolken auseinandergetrieben; der Mond zeigte sich jetzt und goß sein Licht über die Kreuzung. Plötzlich schien ein Schwarm kleiner Kobolde unmittelbar aus dem Erdboden hervorzusprudeln. Sie sahen durchaus nicht sehr schrecklich aus, diese kleinen Kobolde. Sie spielten unter sich, purzelten übereinander und schossen Kobolz, neckten und foppten sich gegenseitig. Unserm Mann schenkten sie keinerlei Aufmerksamkeit, der, höchst neugierig und nun ohne jede Angst, sich hinter einem dicken Gebüsch versteckt hielt und vergnügt und gespannt zuschaute.

Auf ein Zeichen ihres Anführers faßten sich die Kobolde bei den Händen und begannen, rund um den »Alten Bock«herumzuspringen, zu tanzen und dabei im Chor zu singen:

»Montag, Dienstag,
Mittwoch, Donnerstag

Aber der Gesang klang nicht eben besonders. Sie stockten, fingen von neuem an, zögerten. Der Anführer wurde ungeduldig - und dann zeigte sich's ganz deutlich: sie kannten das Lied nicht vollständig. Sie wiederholten unermüdlich:

»Montag, Dienstag,
Mittwoch, Donnerstag

und suchten spürbar die Fortsetzung, die sie einfach nicht wiederfinden konnten.

Nach einer Weile hielt es unser Buckliger nicht mehr aus. Er huschte aus seinem Versteck, wagte sich in die Mitte der Lichtung, und mit der stärksten und wärmsten Stimme, zu der er fähig war, stimmte er das Lied an und sang es vollständig:

»Montag, Dienstag,
Mittwoch, Donnerstag,
Freitag, Samstag -
und Sonntag noch dazu.«


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Da gab es eine wahre Freudenexpiosion. Sämtliche Kobolde wiederholten das nun endlich vollständige Lied im Chor, und voller Eifer betonten sie die beiden letzten Zeilen, die sie jetzt endlich konnten:

»Freitag, Samstag -
und Sonntag noch dazu.«

Sie zogen den Buckligen von Omont in ihre Runde, der mit ihnen hin und her hüpfte und aufs schönste sang, bis er vor Erschöpfung zu Boden sank.

Die Kobolde hielten inne. Dann betrachteten sie ihn näher, und ihr Anführer ergriff das Wort:

»Obwohl du ein Mensch bist und wir es nicht sehr lieben, Berührung mit den Menschenwesen zu haben, bist du doch ein sehr tüchtiger Kobold und hast uns einen großen Dienst erwiesen. Wir hatten die Erinnerung an einen Teil dieses Liedes verloren, und weil wir ihn so völlig vergessen hatten, waren wir zu sehr mühsamen Arbeiten verurteilt worden. Daher wollen wir dich belohnen. Sprich: was erwartest du von uns?« »Auf Ehre, meine Herren Kobolde, da ihr mich schon danach fragt, möchte ich euch sagen, daß ich da auf dem Rücken eine Last trage, die mich wirklich sehr behindert. Wenn eure Macht und Güte es fertigbrächte, mich davon zu befreien, wäre ich euch tatsächlich ganz außerordentlich dankbar . .

»Wenn's weiter nichts ist!«riefen die Kobolde aus, »das, guter Freund, ist leicht getan.«

Lediglich einige geheimnisvolle und (für Ohren von unsrer Größe) unverständliche Worde wurden über ihn ausgesprochen - und schon war der Buckel verschwunden. Unser Freund stand da -gerade wie ein 1 und flink und munter, als ob er nie verunstaltet gewesen wäre.

Nun nahmen die Kobolde noch ein- oder zweimal ihr Lied und ihren Tanz wieder auf. Aber in diesem Augenblick ließ sich ein dumpfes Brummen vernehmen, und alle Kobolde verschwanden im Nu. Nur ihren Gesang hörte man noch, der immer schwächer wurde:

»Freitag, Samstag -
und Sonntag noch dazu.«

Der Schneider von Omont fand sich im Grase sitzend wieder; er rieb sich die Augen und fragte sich, ob er nicht geträumt habe. Aber nein, kein Zweifel war möglich: der Buckel war nicht mehr auf seinem Rücken! Heiter wie ein Buchfink eilte er zurück ins Dorf.

In Omont gab das eine tolle Überraschung, das kann man wohl sagen; denn unser Handwerker war sogar um eine Handbreite gewachsen. Man wollte ihn nicht wiedererkennen. Alles drängte sich, ihn zu sehen.



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Man versuchte, seinen Buckel zu betasten, doch der Held dieses Abenteuers war zum schlanksten Burschen des Dorfes geworden.

Immer und immer wieder mußte er alle Einzelheiten seines nächtlichen Erlebens erzählen und ließ sich im übrigen auch nicht lange darum bitten. Beim Ball am darauffolgenden Sonntag gab es keinen unermüdlicheren Tänzer - und auch keinen, der begehrter gewesen wäre.

Was unfehlbar kommen mußte, trat alsbald ein: Die Mädchen verschmähten diesen Schneider nicht mehr. Ja, schon einen Monat später verlas der Herr Pfarrer von Omont das Aufgebot für den Schneider mit dem schönsten Mädchen des Dorfes.

Aber die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende.

In Chagny, einem Dorfe, das eine halbe Meile von Omont entfernt liegt, gab es auch einen Buckligen, einen Mann, der ungefähr gleichen Alters war wie der Schneider, aber nicht dessen Frohsinn besaß. Die Last, die er auf seinem Rücken trug, hatte nie aufgehört, ihn zu verdüstern. Er hatte sich nie damit abfinden können, bucklig zu sein, und versäumte keine Gelegenheit, über das Leben zu jammern und sich zu beklagen. Das gleiche tat er über sein Handwerk, er war Schuhmacher, und das ist doch schließlich gar kein so übler Beruf.

Seinen Nachbarn von Omont, der trotz seines Buckels stets so guter Laune geblieben war, hatte er immer scheel angesehen. Als er von dem Glück seines Kameraden erzählen hörte, glühte er vor Neid. Fast hätte er darüber die Gelbsucht bekommen. Schließlich aber sagte er sich: >Warum sollte ich's nicht genauso machen? Die Kobolde haben mich vielleicht nötig und nehmen auch mir meinen Buckel ab.<

Aber er zauderte noch; denn das muß ich euch noch sagen: der Schuster von Chagny war nicht gerade sehr mutig. Tatsächlich zitterte er sogar vor Angst bei dem Gedanken, sich um Mitternacht allein zu dem Kreuzweg zu begeben.

Aber reifliches Überlegen und sein wachsender Neid brachten ihn zum Entschluß. Er nahm das bißchen Mut, das er besaß, in beide Hände, und an einem Samstagabend - es war etwa drei Monate her, daß der Schneider von Omont es ebenso gemacht hatte -wanderte er zu der alten, verkrüppelten Eiche. Die Nacht war eher schon kühl; dennoch schwitzte unser Schuster dicke Tropfen -derart war er von Angst und Schrecken geplagt.

Nach einer Stunde des Wartens traten die gleichen Ereignisse ein, die wir bereits kennen: der Boden erbebte, und die Kobolde erschienen. Zähneklappernd flüchtete sich der Bucklige von Chagny ins Gestrüpp.



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Genau wie beim ersten Mal fingen die Kobolde an zu tanzen; aber sie schienen weniger lustig zu sein als das erste Mal. Gleichwohl stimmten sie das Lied an:

»Montag, Dienstag,
Mittwoch, Donnerstag -«

Und dann stockten sie. Denn, ihr habt's schon erraten: diese armen Kobolde hatten alles andere als ein gutes Gedächtnis. Sie hatten den Rest des Liedtextes schon wieder vergessen.

Da zeigte sich ihnen der Schuster. Aber er zitterte am ganzen Leib und war völlig aufgeregt. Und dann hatte er auch keine gute Stimme. Daher sang er ziemlich meckernd und schwerfällig:

»Freitag
und Sonntag noch dazu.«

Ach, er hatte einen Tag der Woche vergessen! Aber die Kobolde merkten es sogleich:

»Das stimmt nicht!« schrien sie. »Dieser garstige Kerl hat sich geirrt. Oder hat er uns sogar täuschen wollen? Will er uns etwa erneut bestrafen lassen? Und er singt sehr schlecht; man sollte ihn züchtigen.«

»Ja, ja!« schrien alle Kobolde durcheinander.

»Verzeihung«, rief der Schuster völlig außer sich; »ich will noch mal anfangen.«

Aber nun fand er selber die Worte des Liedes nicht mehr und wiederholte nur immerzu:

»Freitag
und Sonntag noch dazu.«

»Hör auf, hör auf!«riefen die Kobolde. »Wir wollen ihm den Schabernack heimzahlen. Einen Buckel hat er schon. Wir werden ihm den Buckel seines Gefährten noch dazu auf den Rücken packen. Und hinaus, weg, fort mit ihm!«

Im nächsten Augenblick wurde der Schuster eingehüllt und verhext. Dann huschten die Kobolde flink davon.

Auch er fand sich im Grase sitzend wieder; doch was hätte er nicht alles dafür gegeben, daß er nur geträumt hätte.

Er sah von nun an tatsächlich aus wie der Hanswurst selber. Aber seltsam: seit er den Buckel seines Kameraden geerbt hatte, war er in seinem Wesen weit weniger mürrisch. Nur hat er niemand zum Heiraten gefunden und ist sein Leben lang ein alter Hagestolz geblieben.



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Die törichten Wünsche

Auf der kahlen Hochebene blies ein heftiger Herbstwind. Die Dämmerung brach gerade herein. Brigitte, die aus der Schule zurückkam, fühlte, wie ihre kleinen Beine schwach wurden. Sie war während der Pause zuviel gelaufen, und außerdem hatte sie wie an allen Tagen auch schon am frühen Morgen den weiten Weg zurücklegen müssen. Ganze fünf Kilometer waren das. Da mag man noch so junge Beine haben - fünf Kilometer hin und zurück sind reichlich lang.

Sie durfte nie Rast machen und stehenbleiben. Die Mutter hatte ihr das ausdrücklich verboten. Sie durfte sich auch nicht in den Wald wagen. Es war im Grunde ein Fußweg, dem sie folgte, gerade breit genug, damit an den Markttagen Karren und Wagen darauf fuhren. Wölfe, so hieß es, wagten sich kaum noch bis dahin vor. Sie müßten schon sehr großen Hunger haben.

Brigitte fragte sich ständig, wann wohl die Wölfe so besonders großen Hunger haben könnten. Ein einziges Mal war sie einem von ihnen begegnet, aber sie hatte ihn für einen großen Hund gehalten und trotz seiner wie Phosphor funkelnden Augen vor ihm keine Angst gehabt. Er war ihr nur ganz kurze Zeit gefolgt. Dann war er verschwunden. Daheim hatte sie ihren Eltern das Tier beschrieben. Daraufhin hatte ihre Mutter sie fast einen Monat lang täglich zur Schule gebracht, und gegen Abend machte ihr Vater einen Umweg, um sie nach Hause zu begleiten.

Aber das konnte auf die Dauer nicht so weitergehen. Die Mutter hatte im Hause reichlich Arbeit mit den drei anderen Kindern, zwei noch sehr kleinen Buben und der ältesten Tochter, die schwer krank und gebrechlich war. Der Vater, der auf den Bauernhöfen der Umgebung Dienst tat, hatte auch Arbeit und Mühsal mehr als genug. Darum mußte die Kleine eines Tages den Schulweg wieder allein bewältigen. Zum Glück hatte sich der »große Hund« nicht mehr gezeigt. Sie hätte gewiß riesige Angst vor ihm gehabt nach all den Fragen, die sie seinetwegen beantworten mußte, und all den Ratschlägen und Verwarnungen, die ihr zuteil geworden waren.

Vor allem auf dem Rückweg dachte sie häufig daran. Und wenn ein scharfer Wind blies, war's nicht nur die Kälte, die sie zum Zittern brachte. Häufig hörte sie Äste knacken, als ob Feuer an sie gelegt wäre. Es war aber kein Feuer, es war der Wind. Und dieses grausige Huuhuu! — war das auch der Wind? Oder etwa doch ein gräßliches Tier? Huu-huu! so etwa könnte der »große Hund« heulen...



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Warum fror sie bloß so? Es war doch erst November. Im Winter stapfte sie über den Berg durch den Schnee. Das ging dann schneller, und sie lief sich dabei warm. An jenem Novemberabend aber wollte es ihr nicht gelingen, sich warm zu laufen.

Nur langsam, immer langsamer kam sie voran. Die Füße schienen ihr schwer, ihre Waden ganz steif, wie aus Holz.

Sie wäre gerne rascher vorangekommen! Auf der Höhe oben würde es hoffentlich besser gehen. Der erste Teil der Strecke war immer der anstrengendste.

»Vorwärts, Brigitte! Mach schneller! Beeil dich!« schienen die Blätter ihr zuzuraunen, die der Wind vor ihr hertrieb. Huu-huu! heulte höhnisch der Wind...

Um sich Mut zu machen, dachte sie an ihre Mutter, ihre kleinen Brüder, an ihre gelähmte Schwester, die alle in der gemütlichen Hütte auf sie warteten. Schnüre von Zwiebeln und Speckseiten hingen dort von der Decke, und obwohl diese Decke sehr nieder war, konnte man das alles erst erkennen, wenn die Mutter bei der Heimkehr des Vaters die Kerze ansteckte. Bis dahin zuckte durch den Raum nur der Widerschein des Kaminfeuers, in dem die Bréjeaude warmgehalten wurde. Huu-huu! Sie strengte sich an, nur an diese gute Suppe zu denken, wie man sie im Limousin zu essen pflegt.

Einen tüchtigen Teller voll würde ihr die Mutter schöpfen. Das mußte Wärme geben. So warm, ja fast heiß, daß ihr die Tränen in die Augen schießen würden. Jetzt freilich weinte sie vor Kälte. Huu! Huu! Wirklich nur vor Kälte? Huu! Huu! Wollte etwa dieser steife Wind sie noch lange verhöhnen? Gleich würde sie ihm zeigen, daß sie sich nicht vor ihm fürchtete.

Mit schwacher Stimme sang sie das Loblied der »Bréjeaude«:

»Bei uns, bei uns versteht man sie zu kochen,
bei uns, bei uns weit besser als sonst auf der Welt.«

Aber weil sie sang, kam sie in Atemnot und lief nun noch langsamer als zuvor. Ja, es muß schon gesagt werden: ihre Füße schleppten sich nur noch hin, als wären sie aus Blei. Huu! Huu!

Doch bald würde die Mutter die Tür öffnen, einige Schritte über die Schwelle hinaus tun und nach den Umrissen der kleinen Gestalt ausspähen . . . War vielleicht der Vater schon vor Brigitte heimgekommen? Noch nie hatte sie so lange gebraucht, um die Höhe zu erreichen. Der Wind war weit schlimmer als sonst; er richtete vor Brigitte fast eine Mauer aus Gummi auf, die sie ständig zurückstieß —die zu durchstoßen ihr nicht gelang . .



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Das kleine Mädchen war jetzt am Ende seiner Kräfte angelangt und fast erstarrt vor Angst und vor Kälte, als sie mit einemmal eine alte Frau auf einem Baumstumpf sitzen sah, die ihr mit ihrem zahnlosen Mund zulächelte. Das Gesicht der Alten hob sich hager und bleich aus dem undurchsichtigen Dunkel der Nacht. Der Schritt des Kindes wurde nun noch langsamer.

»Guten Tag, Madame!«grüßte Brigitte höflich.

»Guten Tag, Kleine! Bist du nicht arg müde vom Gehen?« meckerte die Alte.

»O gewiß, Madame. Ich bin wirklich sehr müde.«

»Ja, dann setz dich doch! Hier ist gut Platz für zwei.« Und sie rückte vom Rande des Baumstumpfes weg.

»Ich danke Euch sehr, Madame! Aber ich darf mich nicht hinsetzen. Meine Mutter hat mir streng verboten, Rast zu machen und mich aufzuhalten.«

»Deine Mutter geht ja den Weg auch nicht selber! Meinst du, es wäre ihr lieber, wenn du hinfällst, bevor du ankommst? Sind dir die Füße nicht ganz schwer?«

»O gewiß, Madame!«

»Nach einem kurzen Ausruhen wird dir rasch wieder besser sein. Und anschließend, sofern du willst, bringe ich dich nach Hause.«

Huu! Huu! »Hör bloß nicht hin, Kleine! Geh weiter! Mach schnell!« schienen da die Blätter zu raunen, die um sie herumwirbelten, als wollten sie sie mitschleppen, sie vorwärtsstoßen.

Aber was vermögen so armselige dürre Blätter gegen eine solche Versuchung, die sich dem erschöpften Kinde hier anbot? Ein paar Minuten ausruhen und dann mit dieser guten Alten zusammen weitergehen »Bin ich nicht eine gute Alte?« wisperte die geborstene Stimme, und die Kleine wunderte sich gar nicht darüber, daß sie ihre Gedanken erraten hatte. Sie widerstand nicht mehr und ließ sich an der Seite der »guten Alten« nieder.

Huu! Huu!

Die Blätter krochen entmutigt über den Boden. Nur der Wind fuhr fort, mit den Ästen zu rütteln und zu knirschen.

Und jetzt hatten die Blätter ganz aufgehört mit ihrem Spiel . .

»Du gefällst mir, Kleine«, sagte die Alte, »und ich möchte dir gern eine Freude machen. Was wünschest du dir denn?«

Brigitte verschlug's den Atem . . . Was sollte sie sich wünschen, was wählen unter all den Begehrlichkeiten, die sie oftmals bewegten und die dieser erstaunliche Vorschlag in ihr aufweckte?



Bd-09-112_Maerchen aus Frankreich . Flip



Bd-09-113_Maerchen aus Frankreich . Flip

»Darf ich denn mehrere Dinge erbitten?«

»Du kannst so viele Wünsche aussprechen, wie du Haare auf dem Kopfe hast; denn für jeden deiner Wünsche sollst du mir nur eines deiner Haare geben.«

Die Kleine jauchzte vor Freude und klatschte in die Hände. Was ist schon ein Haar? Was sind zehn, fünfzig oder hundert Haare?

»Oh, zunächst möchte ich wohl gern weiterhin lernen, aber ich möchte nicht mehr zur Schule gehen . .

»Gib!«

Mit kurzem, entschlossenem Ruck riß sich die Kleine ein Haar aus, das die Alte sich sogleich um den Finger wickelte.

»Ich möchte, daß meine Schwester, die gelähmt ist, richtig gehen kann, genau wie andere Menschen . . . Ich möchte, daß jeden Tag in meiner >Bréjeaude< eine Speckschwarte steckt . . Und daß ich morgens und abends Kirschkuchen essen kann . . Und schöne Kleider möchte ich...«

»Wie viele denn? Ein Haar für jedes Kleid, vergiß das nicht!«

»Ein Kleid ganz aus blauer Seide . . . Eins aus rosa Seide . . . Eins aus grünem Samt . . . Eins aus Musselin, wie es das Fräulein vom Schloß tragt . .

Und jedesmal gab sie ein Haar, und alsbald breitete sich das Kleid ihrer Träume zu ihren Füßen.

Völlig berauscht, hielt sie sich nicht einmal dabei auf, es sich genau anzuschauen. Sie bat nur um weitere und immer noch mehr

»Eins aus grünem Samt mit Spitze . . . Eins mit Hermelin besetzt, wie ich's in einem Märchen gelesen habe . . . Eines mit Perlen bestickt . Eines . .

Mit einem köstlichen Knistern häuften sich die Kleider neben Brigitte, die nun - von einem wahren Taumel erfaßt -dazu auch Mäntel herbeiwünschte: Blaue Mäntel . . . rosa Mäntel . . . grüne Mäntel . weiße . . . graue . . . mit Pelz verbrämte . und auch reine Pelzmantel.

Sie dachte gar nicht daran, sich mit einem von ihnen zu umhüllen und sich darin zu wärmen. Sie spürte die Kälte schon gar nicht mehr, sie hörte auch den Wind nicht mehr. . Sie wünschte nur. . . wünschte nur. . Die Worte dafür kamen ihr nicht schnell genug. . . Die Wünsche vermehrten sich, je mehr sie erfüllt wurden.

Zu den Kleidern fügten sich die Schuhe -mehr Schuhe noch als Kleider! Dann kamen Kopftücher, Schals und Umschlagtücher. auch Hüte... und was alles noch! Und Juwelen erst!



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Armbänder, Halsketten, Ringe. Goldtäschchen, mit Diamanten besetzte Kämme fielen klirrend rings um sie herab.

Jedesmal gab sie ein Haar

Ah! Was hatte sie noch in ihren Märchenbüchern gelesen von dem, was die Prinzessinnen alles besaßen?

Ihre Einfälle oder vielmehr die Wünsche überstürzten sich, und der riesige Haufen von Stoffen, von Gold, von Silber, von Edelsteinen stieg immer weiter . . . Eine Karosse aus Gold, dazu sechs Pferde mit goldenem Zaumzeug und Zügeln, die mit Türkisen besetzt waren, fuhr in einigen Metern Entfernung vor. Ein prächtiger gekleideter Kutscher saß auf dem Bock, den ein nicht weniger prächtig gekleideter Diener begleitete. Ich wünsche mir . . . Und jedesmal gab sie ein Haar.

Sie wünschte sich auch einen Vogel, der in einem Zuge bis zu den Sternen fliegen und besser singen konnte als ein Nachtigallenchor. . . und dazu einen goldenen Käfig, um ihn hineinzusetzen. Sie wünschte sich ein Schaf, weißer als Schnee . . . Und pfeilschnell flog der Vogel herbei . . . Der goldene Käfig schloß sich über ihm. Das schneeweiße Schaf blökte höchst anmutig. Und jedesmal gab sie ein Haar...

Ganz außer Atem, doch nicht am Ende ihrer Wünsche, wünschte sie Geldstücke, und die Münzen klingelten als ein lustiger Regen rings um sie herab. Damit der goldene Regen noch dichter wurde und ganze Händevoll kamen, riß sie sich ihre Haare büschelweise aus . . . »Ich wünsche mir. . .« —Doch sie sprach nicht zu Ende. In dem Augenblick, da sie den neuen Wunsch aussprechen wollte, fand ihre zum Kopf geführte Hand kein einziges Haar mehr!

Nicht ein einziges Haar mehr!

»O Madame! Was tue ich mit all diesem Schmuck, wenn ich kahiköpig bin?«

Die Alte brach in ein finsteres Lachen aus.

»Madame! Madame!« schrie die arme Brigitte flehend, verzweifelt.

»Aber wo seid Ihr? Ich sehe Euch nicht mehr?«

Tatsächlich, Brigitte entdeckte, daß sie auf dem Baumstumpf alleingeblieben war, daß sie verlassen war.

Das Morgengrauen bleichte den Himmel. Feuchte Nebeldünste wallten zwischen den Zweigen.

Allein und einsam blieb Brigitte auf dem Baumstumpf und in diesem Waldwinkel. Der Kutscher, die Pferde, die Karosse, alle die Schätze, die sie vorher umgeben hatten, waren mit dem Tageslicht verschwunden. An ihrer Stelle lag nur noch ein riesiger Haufen toter Blätter. Sie hatte also geträumt? Mit zitternder Hand betastete sie sich den Kopf



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und stieß einen Schreckensschrei aus. Sie hatte durchaus nicht geträumt, denn ihr Schädel war nackt!

Von Schluchzen geschüttelt, ließ sich Brigitte zu Boden gleiten, wälzte sich zuckend in diesen Blättern, für die sie ihren natürlichen, unersetzlichen Haarschmuck hingegeben hatte.

Aber welch zärtliche Liebkosung streifte ihr plötzlich den kahlen Kopf? Sie richtete sich wieder auf. Eine liebliche Erscheinung war an die Stelle der schrecklichen Alten getreten. Und mit einer Stimme, die so melodisch und bezaubernd klang, sprach die anmutige Fee (ihr habt sicher erraten, daß es eine Fee war -Brigitte selber hat's auch sofort begriffen):

»Sei nicht so traurig! Wohl könnte auch ich nichts gegen den Zauber tun, den die Fürchterliche über dich geworfen hat, wenn. . «

Sie stockte, sah die Kleine voller Rührung an und sprach dann weiter: »wenn du unter so vielen selbstsüchtigen Wünschen nicht auch einen geäußert hättest, der das Übel wendet: Du hast um die Gesundheit deiner Schwester gebeten. Um dieses einen Wunsches willen habe ich von unserer Königin die höchst ungewöhnliche Gunst erwirkt, den Zauber zu brechen, dessen Opfer du wurdest.«

Während sie so sprach, streiften unaufhörlich ihre Hände leicht über Brigittchens Stirn, sanft wie Blütenblätter.

»Könntest du doch«, fuhr die liebenswürdige Fee fort, »die Erinnerung an diese Nacht in dir bewahren, die dir beinahe teuer zu stehen gekommen wäre! Erinnere dich dein ganzes Leben lang daran, daß jeglicher Wunsch auch seinen Preis hat . . . Und dieser Preis übersteigt nur zu oft den Wert dessen, was einer besitzt . .

Die gütige Hand erinnerte jetzt an feinste Seide. Und Brigitte fühlte, daß ihre Haare soeben anfingen, neu zu wachsen. Voller Bestürzung stammelte sie:

»O liebe Frau Fee! Danke, danke, liebe Frau Fee!«

Sie vermißte all die Reichtümer nicht mehr, gegen die sie ihre Haare so töricht hatte eintauschen wollen.

Doch ein Gedanke durchfuhr sie, der ihr das Herz abschnüren wollte. »Gute Fee? Was meine Schwester angeht . . . oh, ich möchte so gern, daß sie gehen könnte . . . Ich möchte aber auch meine Haare behalten!« Sie sprach ganz aufrichtig. »Aber . . . wenn es kein andres Mittel gibt . . . Oh! Damit meine Schwester gehen kann, will ich sie opfern.« »Unsere Königin hat deine Bitte vorausgesehen, meine liebe Kleine. Und deshalb brauchst du auf dein Haar nicht verzichten. Freilich unter einer Bedingung - ich habe dir schon gesagt, daß nichts umsonst gewährt



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wird. Deine Schwester wird den Gebrauch ihrer Beine wiedererlangen, falls sie niemals erfährt, daß du es bist, der sie das verdankt.

»Oh! Das will ich gern!« stimmte Brigitte rasch zu. »Ich hätte auch einem härteren Preis zugestimmt.«

»Ich weiß es, mein Kind. Auch unsere Königin weiß es. Sie hat in deinem Herzen gelesen . . . Daher, sieh dort!«

Brigitte hob den Kopf. ja-narrte sie schon wieder ein Traumbild? War es möglich?

Ihre Schwester lief ihr entgegen und schloß sie in ihre Arme. »Meine kleine Brigitte! Wir haben dich schon verloren geglaubt. Das hat mich so in Aufregung versetzt, daß ich mich plötzlich bewegen konnte. Und wozu hätte ich meine Beine besser brauchen können, als dich zu suchen?«

Dann fuhr sie voller Bewunderung fort:

»Was für schöne Haare du hast, Schwesterchen! Mir ist, als ob ich sie noch nie so gesehen habe!«

Sie täuschte sich nicht; die unter den Händen der guten Fee gewachsenen Haare waren länger und viel welliger als die früheren, ganz seidenweich.

»Komm schnell!«begann die Schwester von neuem, »laß uns nach den Eltern suchen, die mit mir zusammen losgezogen sind, die ich aber rasch überholt habe. Wir haben dir den Teller >Bréjeaude< mit Speck auf die Herdplatte gestellt - und stell dir vor, ein großes Stück Kirschkuchen steht auch bereit für dich. Der Vater hat neue Arbeit gefunden.«

Brigitte wollte unwillkürlich der guten Madame Fee danken -aber die Fee war nicht mehr da. Genau wie die böse Alte war sie, sobald ihre Aufgabe erfüllt war, verschwunden .

Muß noch gesagt werden, daß nach diesem Abenteuer Brigitte sich nie mehr in den Wäldern verspätet hat?

Sie geht jetzt immer in einem Zug den Weg vom Hause zur Schule und von der Schule nach Hause . . . Bisweilen noch ist es ihr, wenn sie an einem gewissen Baumstumpf am Rande des Fußpfades anlangt, als ob sie da eine Alte sitzen sähe, die ihr zuwinkt. Nur, diese Alte kann Brigitte nicht mehr aufhalten.



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Das Fräulein mit der langen Nase

Hugo aus Saint-Mard war ringsum in der Gegend der lustigste Bursche. Er war an fröhlichen Liedern und munteren Späßen sehr viel reicher als an klingenden Talern. Aber er hatte zwei kräftige Arme und zwei flinke Füße. Er wußte sich stets aufs beste zu benehmen, und alle Leute im Dorf schätzten seine witzigen Einfälle und erbaten gern seine Dienste. Keiner hatte das je zu bereuen.

Aber Hugo war außerordentlich neugierig. Er wollte sich die Welt besehen und fremde Länder kennenlernen. Als er seine Eltern und alle seine Verwandten verloren hatte, beschloß er deshalb, in die weite Welt zu ziehen. Also suchte er den Pfarrer auf und übergab ihm den Schlüssel seines kleinen Häuschens.

»Bewahrt ihn mir gut, Herr Pfarrer! Ich weiß noch nicht recht, wann ich wiederkommen und ihn von Euch abholen werde.« Und schon ist unser Bursche davon. Er marschiert ein gutes Stück, geht hier vorbei und bleibt dort stehen. Viel Gepäck trägt er nicht bei sich, das ihn behindern könnte. Die Nacht verbringt er unterm freien Himmel, nimmt einen Teppich von Moos als Federbett. Es ist ja Sommerzeit und warm genug. In den Bächen, die vom Gebirge herabströmen, fließt klares Wasser.

Und eines schönen Morgens findet sich Hugo ganz entzückt vor einer Mühle, die dicht beim Wasser steht. Ihr Rad drehte sich keineswegs schnell, o nein, es stand still.

>Nanu<, dachte Hugo, >was ist das für ein Müller?< — »Holla, ist denn da niemand?« rief er laut und machte die Runde um das Haus. Er fand aber nur ein verhärmtes, armseliges Ding, das auf einem Baumstamm hockte und heiße Tränen weinte.

Als das Mädchen Hugo hörte, hob es den Kopf. Es war nicht besonders hübsch, aber sein Gesicht war sauber und frisch und atmete Vertrauen und Güte.

»Was hast du?«fragte Hugo, »warum weinst du denn? Und wo steckt der Müller, dem die Mühle gehört?«

»Ach, Herr! Der Müller, mein Vater, ist tot, und tot ist auch meine Mutter. Ich bin ganz mutterseelenallein geblieben, um die Mühle in Gang zu halten. Bis jetzt ist das so schlecht und recht noch gegangen. Aber gestern abend ist die schwere Winde der Mühle zerbrochen. Ich bin nicht kräftig und auch nicht erfahren genug, sie wieder instand zu setzen. Was soll bloß aus mir werden?«

»Weiter nichts?«sagte Hugo darauf. »Ich verstehe mich ein bißchen auf



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Stelimacherei, wenn es sich gerade so gibt. Laß mich den Schaden beschauen! Er wird sich beheben lassen.«

Er geht in die Mühle hinein, überprüft die Werkzeuge, legt die Jacke ab und packt Säge und Hobel an. »Aber bester Herr! Ich muß Euch sagen, daß ich nicht einen roten Heller im Hause habe, um Euch zu bezahlen.«

»Tü, tü, tü«, pfeift Hugo vor sich hin, ohne ihr zu antworten. Und er scheut keine Mühe, greift wacker und unverdrossen zu.

Ein paar Stunden darauf war die Winde wieder vollständig in Gang gebracht, und die Mühle drehte sich so gut wie zuvor.

»So«, sagte Hugo, »das war eine leichte Mühe, wie du siehst!«

»Hört zu«, sagte darauf das Mädchen, »Ihr seid ein ehrlicher Kerl! Ihr habt mir mein Auskommen gerettet. Geld habe ich keins, aber in dem Koffer, den meine Eltern mir hinterließen, habe ich einen leeren Geldbeute! gefunden, dazu einen ledernen Gürtel und ein Pfeifchen, wie es die Jäger tragen, um ihren Hund zu rufen. Nehmt diese Dinge! Sie können Euch vielleicht einmal nützlich sein.«

»Vielen Dank! Ich will sie gern als Andenken an dich nehmen! Und dazu bewilligst du mir rasch noch einen kleinen Kuß!«

Klug wäre Hugo gewesen, wenn er nun nicht weitergewandert wäre, um das Glück zu suchen. Aber alle Jugend steckt die Nase in den Wind und will nur den eigenen Kopf gelten lassen.

Hugo zog also wieder los, und gar bald schon vergaß er die junge Müllerin. Er wanderte nach einer Gegend, von der ihm ein alter Mann tausend Wunder berichtet hatte. Dort seien alle Leute glücklich und sämtliche Mägdlein verlockend hübsch, hatte der Mann gesagt. Die Hübscheste aber und sicherlich auch die Glücklichste sei die Tochter des Königs.

>He<, dachte Hugo und schritt wacker aus, >ich möchte wohl gern ein bißchen glücklich sein und auch dieses schöne Mädchen kennenlernen, das sie als die Schönste im Lande bezeichnen. Warum auch nicht? Bis heute hatte ich nichts als meine Arme und meine Beine. Und jetzt verfüge ich bereits über einen Geldbeutel und einen ledernen Gürtel, um den Beutel dranzuhängen. Nur schade, daß der Beute! leer ist. Wenn ich nur fünfzig Taler darin finden könnte, das würde mir recht schön vorwärtshelfen.<

Kaum aber hatte er diesen Wunsch ausgesprochen, als der Beute! an seiner Seite plötzlich schwer wurde. Er betastete ihn, öffnete ihn und staunte sehr: fünfzig Taler blinkten ihm entgegen!

»Potztausend, träume ich etwa? Fünfzig Taler sind zu mir gekommen!«



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Erzählte sie, zählte sie noch einmal - und zum drittenmal. Kein Irrtum möglich. Oh, das könnte man vielleicht noch einmal versuchen.

»Daß doch gleich noch weitere fünfzig Taler in meinen Beutel kämen!« Und schau, da war die Börse von neuem gefüllt.

Hugo begriff, daß der lederne Gürtel ein Zaubergürtel war. Eigentlich (dachte er) muß ich ihn der braven Müllerin zurückbringen. Aber es ist schließlich nicht verboten, ihn noch ein bißchen für mich zu benützen. Es häuften sich die Taler vor ihm. Bald war es ein ganz ansehnlicher Haufen. Ganz närrisch vor Freude fing Hugo an zu jubeln, zu singen und zu tanzen. Der Unvorsichtige!

Durch all den Lärm angelockt, stürzte sich eine Diebesbande aus dem benachbarten Wald auf den einsamen Wanderer. Hugo war völlig allein. Er wurde von der Bande umringt - und es blieb ihm nicht ein einziger Taler übrig. Trotzdem war er noch heilfroh, daß die Räuber ihm das Leben gelassen hatten.

Er überlegte, wußte nicht, an welchen Heiligen er sich wenden sollte, ergriff schließlich sein Pfeifchen und pfiff daraus einen scharfen, gellenden Ton. Hoffte er etwa, auf diese Weise die Taler zurückzupfeifen? Ein erbärmliches, armseliges Mittel, wahrhaftig!

Aber ein neues Wunder geschieht! Alsbald dringt aus sämtlichen Büschen ein Schwarm von Soldaten hervor. Sie verfolgen die Diebe, knebeln sie und bringen sie ins Gefängnis.

Der Geldbeutel war verzaubert, der Gürtel desgleichen und das Pfeifchen auch. >Mit diesen drei Gegenständen<, sagte sich Hugo, >kann ich mir die Welt erobern. Zunächst die Tochter des Königs, die so schön sein soll. Aber dazu wird's nötig sein, daß sie mich erst einmal in all meiner Überlegenheit erkennt.<

Unser Held kommt zur Stadt. Er braucht nicht lange, um seine Taler in prächtige Kleider zu verwandeln. Er verschafft sich eine hellschimmernde Karosse und dazu Lakaien, die ihn bedienen. Hugo versagt sich nichts -besitzt er doch an seinem Gürtel den Zauberbeutel, der ihn mit allem versorgt.

Prunkvoll fährt er über die Promenade. Die Tochter des Königs kommt zufällig vorbei. Natürlich staunt sie über diesen jungen Edelmann, dem sie noch nie zuvor begegnet war. Sie läßt keine Ruhe, bis er ihr vorgestellt wird. Hugo gibt sich für einen ausländischen Prinzen aus, und natürlich ist er von der Schönheit der Prinzessin völlig geblendet. Noch nie hat er eine so zarte Haut und ein so liebenswertes Benehmen gesehen. Er ist von ihr völlig verzaubert. Er bittet sie, seiner Einladung zu



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folgen, läßt ein vortreffliches Abendessen auftragen und führt sie zum Tanz. In einem festlichen Saal wird prächtig musiziert, nebenan wird bei hohen Einsätzen gespielt. Hugo verliert gewaltige Summen Geld, doch scheint ihm das keine Sorge zu machen. Aus seinem Beute!, der immer leer zu sein scheint und doch stets gefüllt bleibt, zieht er Taler um Taler hervor.

Das Geheimnis erregt die Neugier der Prinzessin. Sie möchte die Lösung des Rätsels erfahren, gibt sich sehr liebenswürdig, schmeichlerisch, drängend; sie nimmt ihn mit sich in ihrer Karosse, führt ihn auf ihre Zimmer, bestürmt ihn mit Fragen. Hugo, der gutmütige, dumme Junge, ganz von Stolz erfüllt, sein Geheimnis mit der Tochter des Königs zu teilen, vertraut es ihr an und lädt sie sogar dazu ein, es selber einmal mit dem Beute! zu versuchen. O der Narr! Kaum hat die Prinzessin den Beutel, da stößt sie Hugo auf den Gang und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.

Hugo steht verdattert da. Er klopft und pocht mit heftigen Schlägen. Man lacht ihm ins Gesicht. Man bedroht ihn. Schließlich jagen ihn die Wachen des Palastes davon. Untröstlich und schäumend vor Wut jammert er die ganze Nacht hindurch. Aber als endlich der Morgen graut, stößt er einen lauten Freudenruf aus.

»Wie dumm bin ich doch! Ich habe ja das Mittel, wieder in den Besitz meines Beutels zu gelangen, den diese abscheuliche Person mir weggeschnappt hat. Ich hatte mein gutes Pfeifchen ganz vergessen.«

Er zieht es aus der Tasche, er bläst, bläst mit verdoppelter Kraft. Von allen Seiten kommen bewaffnete Männer heran, Hunderte und Tausende. Sie stellen sich hinter Hugo. Das Schloß des Königs wird gestürmt. Stolz tritt er vor die Prinzessin, die zitternd in ihr Zimmer geflüchtet ist.

»Ach!«schreit sie, »Ihr seid das, der uns solch einen Schrecken eingejagt hat! Ich fragte mich schon, was für ein schrecklicher Feind da über uns hereingebrochen ist. Wozu denn solch ein Spektakel?«

»Das fragt Ihr noch!«ruft Hugo. »Ihr habt mir meinen Wunderbeutel genommen, habt mich aus dem Schloß hinausgeworfen und wagt es jetzt noch, nach dem Grund meiner Wut zu fragen?«

»Wenn's weiter nichts ist«, antwortet da die Schmeichlerin und stellt sich unschuldig. »Aber ich habe Euch niemals berauben wollen. Ich wollte das schöne Stück doch nur meinem Vater zeigen. Und nun macht Ihr solchen Lärm! Nie hätte ich gedacht, daß ein Herr von Hoher Geburt unschuldige Leute derart erschrecken könnte.«

Und gleich fängt sie an, Hugo zu liebkosen, ihn zu umschmeicheln. Der



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Tropf läßt sich von den Reden der Prinzessin von neuem einfangen. Diese aber überlegte jetzt, daß dieser Hugo im Grunde kein Abenteurer sein könne. Ein Edelmann, der über derart viele und prächtige Truppen verfügt, mußte doch ganz bestimmt ein verkleideter Königssohn sein. Darum war sie auch bereit, ihm ihre Hand zur Ehe zu reichen.

»Von heute abend an will ich mich Euch versprechen. Ihr dürft gern zu meinem Vater gehen und ihn ersuchen, daß ohne alles Zögern unsere Hochzeit gefeiert wird. Aber vorher befehlt Euren Soldaten, nach Hause zurückzukehren. Welch eine wundervolle Truppe habt Ihr da, und wie schnell habt Ihr sie auf die Beine gebracht!«

Hugo aber konnte nicht anders; er mußte fröhlich lachen: »Mein ganzes Geheimnis steckt hier in diesem Pfeifchen«, erklärte er und erzählte der Prinzessin, wie alles zusammenhing.

Diese wurde von Wut und Verzweiflung gepackt. Das also war's! Sie hatte sich einem Habenichts angelobt, einem Bauernlümmel, der nicht einmal drei Morgen Land besaß! Zum Gespött der ganzen Welt wurde sie, wenn das jemand erfuhr.

Aber sie hütet sich wohl, ihre Gedanken zu verraten. Im Gegenteil, sie zeigt sich sanfter und jetzt nur noch zuvorkommender als bisher. Sie stellt sich so, als bewundere sie Hugos gewaltige Macht.

»Genügt es tatsächlich, in diese Pfeife zu blasen, um eine derartige Menge bewaffneter Männer um sich zu sammeln? Daran kann ich erst glauben, wenn ich selber das Wunder erprobt habe.«

»Versucht es getrost!«schlägt Hugo vor und reicht ihr das Pfeifchen. Oh, es dauert nicht lange, und die Prinzessin fängt an zu pfeifen, pfeift mit allen Kräften, bläst sich fast die Lunge aus dem Leibe, indem sie die gellendsten Töne auf schrillen läßt - und bei jedem Pfiff sieht man Haufen bewaffneter Männer erscheinen, fortwährend neue, eine gewaltige Armee, die rasch zweimal so stark wird wie jene von Hugo. Was folgt, läßt sich leicht erraten. Die Truppen Hugos wurden binnen kurzem aus dem Sattel gehoben, geschlagen und in alle Winde getrieben.

Voller Verzweiflung flüchtete Hugo aufs platte Land und wußte nicht recht, ob seine Verzweiflung größer war, weil er die Pfeife und den Beutel verloren hatte oder weil er von dieser ebenso hübschen wie heuchlerischen Prinzessin gleich zweimal verraten worden war. Aber nun war seine Liebe restlos erloschen. Er dachte nicht mehr an Heirat, aber zu gern hätte er seinen Beutel und die Pfeife wiedererlangt. Schließlich gehörten diese beiden Dinge ja gar nicht ihm. Ja, er hätte



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sie längst der kleinen Müllerin zurückerstatten müssen. Wie aber sollte er das anstellen?

Sein unstetes Umherstreifen hatte Hugo in einen blühenden Obstgarten geführt, und da er nach allem, was ihm widerfahren war, sich sehr erschöpft fühlte, streckte er sich in seiner ganzen Länge unter einem Apfelbaum aus und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Plupp! Ein Apfel weckt ihn auf, der herabfällt und ihm die Nase blutigschlägt. Das ist alles andere als angenehm. Plupp, zwei, drei, vier, fünf weitere Äpfel purzeln neben ihm ins Gras. Hugo schaut sich die Apfel an. Sein Magen knurrt. Seit vielen Stunden hat er nichts mehr gegessen. Er ist sehr hungrig und ißt die fünf Äpfel gierig auf. Nanu, welch seltsame Überraschung! Hugos Nase fängt plötzlich an, länger und breiter zu werden: einen Daumen breit, zwei, drei, vier, fünf Daumenbreit, einen Armlang pro Apfel! Und schon schleift seine Nase am Boden. Hugo ist höchst verwirrt. Was soll aus ihm werden mit dieser Wurst am Ende der Nase? Und doch nimmt er sich das Unglück nur halb zu Herzen. Er ist seit Tagen so mißhandelt worden, daß diese neue Schädigung ihn fast schon gleichgültig läßt. Außerdem kommt es ihm in den Sinn, in den Zauberbaum zu klettern und sich fünf weitere Äpfel zu pflücken, die er in seine Taschen steckt. Man weiß nie -dergleichen kann immer von Nutzen sein.

Und er macht sich ziellos auf den Weg. Jedenfalls, mit einer solchen Nase wünscht er auf keinen Fall nach Saint-Mard zurückzukehren! Aber er geht gar nicht weit. Wenn man solch einen Nasenschwanz mit sich schleift, wird man sehr rasch müde. Hugo hält unter einem anderen Apfelbaum sein Mittagsschläfchen. Er mißtraut den Früchten dieses merkwürdigen Landes, das ist klar. Aber er verspürt einen riesigen Durst: diese Äpfel da droben sind ganz rotbackig gelb, goldgelb, verlockend.

>Schließlich<, denkt Hugo, >sehe ich nicht recht ein, was mir noch passieren könnte! Ich will auch diese anderen Äpfel essen.<

Der knabbert sie an, beißt kräftiger zu - und ein neues Wunder: bei jedem Apfel verliert seine Nase wieder an Länge. Nach dem fünften Apfel hat sie ihre normale Gestalt wiedergefunden.

Rasch klettert Hugo in den Baum, pflückt fünf weitere Äpfel dieses neuen Wunderbaumes und steckt sie in eine andere Tasche, wobei er sorgfältig darauf achtet, sie scharf von den ersten getrennt zu halten. >Ich weiß, was ich tue<, denkt er dabei schadenfroh.



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Auf dem Markt der Hauptstadt hat ein gutmütiger Alter seinen Korb mit prächtigen Apfel aufgestellt. Sein wackeliger Kopf ist durch einen weiten Überwurf halb versteckt. Er scheint sehr gebrechlich und fast entkräftet.

»Nehmt meine Äpfel«, ruf er, »kauft meine Apfel! Es sind die besten des Landes.«

Hugo -denn er ist's natürlich -weiß sehr gut, was sich nun ereignen wird. Die Prinzessin war nicht nur hübsch, auch ihre Naschhaftigkeit war berühmt. Daher läßt sie anhalten, als sie auf dem Rückweg von der Promenade an dem Händler vorbeifährt, und zeigt sich entzückt von dem verlockenden Anblick dieser Äpfel. »Ich möchte davon!« ruft sie aus. »Was macht das?«

»Für Euch, mein schönes Edelfräulein«, antwortet Hugo mit verstellter Stimme, »für Euch macht das nur zehn Sou, und diese fünf Äpfel schenke ich dazu!«

Und er achtet genau darauf, die fünf Zauberäpfel obenauf zulegen. Was folgt, ahnt jeder. Die Prinzessin kehrt in ihren Palast zurück, verzehrt begierig die Äpfel - und bald schon hört man quer durch die Säle lautes Geschrei und Geheul. Die Nase der Prinzessin wird immer länger und immer länger . . . sie schleift beinahe schon an der Erde. »Man hole sofort diesen schrecklichen Händler herbei, der mich mit seinen Äpfeln verhext hat!«

Aber Hugo ist längst verschwunden.

Man läßt alle Ärzte der Stadt herbeiholen. Diese bereiten allerlei gelehrte Heilmittel. Aber keine Medizin hilft da, und die Prinzessin mit der langen Nase weigert sich, ihr Zimmer zu verlassen. Sie fürchtet, zum Gespött des ganzen Volkes zu werden. Der König ist untröstlich und befürchtet, daß seine Tochter vor Kummer bald sterben wird. Fünf Tage danach wird angekündigt, daß ein fremder Zauberer sich vor den Toren des Palastes aufhält. Er behauptet, daß er ein unfehlbares Mittel besitzt, mit dem die Prinzessin geheilt werden kann. Mit allen Ehren wird er ins Schloß gebeten.

Diesmal hat sich Hugo als Neger verkleidet. Er wird zur Prinzessin geführt. Er befiehlt, sie beide allein zu lassen.

»Eßt diesen Apfel, edle Prinzessin«, sagt er zu ihr, »und Eure Nase wird seine Wirkung verspüren!«

Sie ißt den Apfel: O Wunder, die so schrecklich lange Nase scheint sich wahrhaftig um ein ganzes Stück verkleinert zu haben.

Ein zweiter Apfel kommt an die Reihe: aber dieses Mal will sich keinerlei Fortschritt zeigen.



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»Damit das Heilmittel wirkt«, erklärt Huge und wendet der Königstochter den Rücken zu, »ist es erforderlich, daß die Prinzessin ein wirklich reines Gewissen hat. Könnte sie nicht etwa irgendeinen Gegenstand besitzen, der ihr nicht gehört?«

Sogleich wird die Prinzessin purpurrot, sie seufzt. Aber Schönheit ist ihr mehr wert als Macht. Sie zieht den Beutel hervor, den sie unter ihrem Bett versteckt hatte, und reicht ihn dem Zauberer. Ein neuer Apfel läßt die Nase weiter schrumpfen.

»Vorwärts, vorwärts«, sagte Hugo, »wir kommen schon langsam weiter. Ist die Prinzessin auch sicher, nichts mehr zu besitzen, was ihr nicht gehört?«

»Ich habe da noch dieses häßliche alte Pfeifchen . .

»Nun gut«, sagt Hugo und nimmt wieder seine natürliche Stimme an, »alles steht soweit aufs beste, und wir sind quitt. Lebt wohl, Prinzessin, eßt nun noch diese beiden Äpfel - und Ihr werdet gerettet sein!«

Zwei und zwei gibt vier. Die Prinzessin hatte nun vier Apfel gegessen —und Hugo war geflohen. Vergeblich wurde nach ihm gesucht. Außerdem hatte er all seine Macht zurückgewonnen. Besser war's nur, ihm nicht mehr die Stirn zu bieten. Und die Prinzessin behielt für alle Zeiten eine reichlich lange Nase

Hugo aber brachte den Beutel, den Gürtel und die Pfeife der jungen Müllerin zurück. Sie schloß alle drei Gegenstände in ihren Koffer ein, aus dem sie nie mehr herauskamen. Hugo aber verfügte über zwei kräftige Arme. Diese bot er der Müllerin an. Sie heirateten auf der Stelle, und die Mühle drehte sich Tag für Tag wacker und froh. Braucht es noch mehr, um glücklich zu sein?


Die Schöne und das Tier

Es lebte einmal ein ganz ungewöhnlich reicher Kaufmann. Er besaß drei Töchter, und weil er ein verständiger Mann war, ließ er es zu ihrer Erziehung an nichts fehlen und gab ihnen sehr gute Lehrer. Seine Töchter waren sehr schön. Besonders die jüngste Tochter wurde von allen Menschen über die Maßen bewundert und, solange sie klein war, stets nur »die Schöne« genannt. Dieser Name blieb ihr und rief die Eifersucht ihrer Schwestern hervor.

Die beiden ältesten Schwestern nun waren sehr stolz wegen ihres Reichtums. Sie spielten die vornehmen Damen, und weil sie sich nicht



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mit den andern Kaufmannstöchtern abgeben wollten, fehlte es ihnen an Leuten, die sie ihrer Gesellschaft für würdig erachteten. Tag für Tag gingen sie auf Bälle, ins Theater, auf Spaziergänge und spotteten über die Jüngste, die den größten Teil ihrer Zeit über Büchern zubrachte. Da man über den Reichtum dieser Mädchen genau Bescheid wußte, baten mehrere wohlhabende Kaufleute um ihre Hand, aber die beiden ältesten antworteten, daß sie nur einen Herzog oder zumindest einen Grafen heiraten wollten. Die Schöne dankte denen, die um sie anhielten, überaus freundlich, sagte ihnen aber, daß sie noch zu jung sei und lieber ihrem Vater noch einige Jahre Gesellschaft leisten wolle.

Mit einem Schlag verlor der Kaufmann sein gesamtes Vermögen. Es blieb ihm nur noch ein kleines Landhaus weit abseits der Stadt. Unter Tränen eröffnete er seinen Kindern, daß sie dieses Haus künftig bewohnen und sich mit schlichter Landarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen müßten. Die beiden ältesten Töchter erwiderten, sie wollten die Stadt nicht verlassen und hätten mehrere Verehrer, die glücklich wären, sie heiraten zu können, auch wenn sie kein Vermögen mehr hätten. Die Mädchen täuschten sich freilich; denn ihre Liebhaber schauten sie nicht mehr an, als sie arm waren. Da sie ihres Hochmuts wegen kein Mensch leiden mochte, wurde von ihnen gesagt: »Sie verdienen nicht, daß man sie bedauert, es geschieht ihnen nur recht, daß ihr Stolz gedemütigt worden ist. Mögen sie einsam die großen Damen spielen, wenn sie ihre Schafe hüten! Was aber die Schöne anlangt, so tut uns ihr Mißgeschick von Herzen leid, sie ist ein gutes und sanftes Mädchen.« Die arme Schöne war zunächst sehr bedrückt gewesen, als die Familie ihr Vermögen verlor, aber schon bald hatte sie sich gesagt: »Jammern und Weinen bringt verlorenes Geld nicht wieder, man muß versuchen, auch ohne Vermögen glücklich zu sein.«

Auf dem Lande begann der Kaufmann mit seinen drei Töchtern das neue Leben. Die Schöne stand um vier Uhr morgens auf, kehrte und putzte das Haus und bereitete dann das Frühstück für die Familie. Zu Anfang kam sie das sehr hart an, denn sie war die Magdarbeit nicht gewöhnt, aber schon nach zwei Monaten war sie kräftiger geworden, und die anstrengende Arbeit half ihr zu bester Gesundheit. Nach der Arbeit pflegte sie am Abend zu lesen, Klavier zu spielen oder beim Spinnen zu singen. Ihre Schwestern dagegen langweilten sich zu Tode, sie trauerten ihren schönen Kleidern nach, vermißten aufheiternde Gesellschaft und sagten: »Seht, unsre Jüngste hat eine niedrige Seele und ist so stumpfsinnig, daß sie sich mit unserer unseligen Lage befriedigt abfindet.«



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Der gute Kaufmann freilich bewunderte die Tüchtigkeit seiner Jüngsten und vor allem ihre Geduld; denn die Schwestern überließen ihr nicht nur die ganze Hausarbeit, sondern verspotteten und schmähten sie obendrein bei jeder Gelegenheit.

Ein volles Jahr lebte die Familie in ihrer Einsamkeit, als der Kaufmann eines Tages Nachricht erhielt, daß ein Schiff mit kostbaren Waren für ihn glücklich angekommen sei. Diese Nachricht verdrehte den beiden Ältesten völlig den Kopf, denn sie glaubten schon, nun werde das langweilige Landleben aufhören. Als sie ihren Vater reisefertig sahen, bestürmten sie ihn, schöne Kleider, Kopfputz und allen möglichen Tand mitzubringen.

Die Schöne bat ihn um gar nichts; denn sie erwog bei sich, daß all das für die Waren erlöste Geld nicht ausreichen würde, die Wünsche ihrer Schwestern zu befriedigen. »Du bittest mich nicht, auch dir etwas zu kaufen?«fragte sie der Vater. »Da Ihr so gut seid, an mich zu denken«, antwortete sie ihm, »so bitte ich Euch, mir eine Rose mitzubringen; denn es gibt hier keine, und ich vermisse sie sehr.«

Der gute Mann reiste ab, aber an Ort und Stelle mußte er um seine Waren einen Prozeß führen, und nach vieler Mühe und großem Verdruß kam er genauso arm zurück, wie er abgereist war.

Schon freute er sich darauf, seine Kinder wiederzusehen, aber als er noch kurz vor seinem Hause einen großen Wald durchqueren mußte, geriet er in die Irre. Es schneite nämlich stundenlang, ein heftiger Sturm wehte, der ihn zweimal vom Pferde riß, und als es Nacht wurde, glaubte er schon, vor Hunger und Kälte sterben zu müssen oder gar von den Wölfen gefressen zu werden, die er ringsum heulen hörte.

Plötzlich geriet er ans Ende einer langen Allee und bemerkte ein helles Licht, das aber noch weit entfernt zu sein schien. Er ging in dieser Richtung weiter und erkannte, daß das Licht von einem gewaltigen Schloß herkam, dessen sämtliche Fenster hell erleuchtet waren. Der Kaufmann dankte Gott für seine Hilfe und trat in das Schloß ein; aber wie groß war seine Überraschung, als er darin keinen Menschen fand! Das Pferd, das er hinter sich herzog, sah einen großen Stall offenstehen, trappte hinein und fand eine Menge Heu und Hafer. Das arme, ausgehungerte Tier stürzte sich darauf. Der Kaufmann band es fest und wandte sich zum Hause, wo er gleichfalls keinen Menschen antraf; im Saal aber flackerte ein warmes Feuer, und eine speisenbeladene Tafel, auf der nur ein einziges Besteck lag, lud zum Essen ein.

Da ihn Schnee und Regen bis auf die Haut durchnäßt hatten, setzte er sich an den Kamin und wartete eine geraume Zeit, daß der Herr des



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Hauses oder ein Diener eintreten würde; als es aber elf Uhr schlug, ohne daß er jemand erblickt hatte, konnte er seinen Hunger nicht mehr bändigen und nahm ein Hähnchen, das er rasch und unter Zittern verzehrte. Er trank einige Schluck Wein dazu und verließ, kühner geworden, den Saal. Er durchschritt mehrere große und prächtig eingerichtete Räume. Schließlich fand er ein Zimmer, in dem ein Bett gerichtet war, und weil Mitternacht vorüber und er selbst sehr müde war, sperrte er die Tür ab und legte sich zur Ruhe. Es war bereits zehn Uhr morgens, als er sich am folgenden Tag erhob, und er war nicht wenig erstaunt, als er ein sehr kostbares Gewand anstelle des seinigen vorfand, das vom Unwetter völlig verdorben worden war. >Gewiß<, sagte er sich, >gehört dieses Schloß irgendeiner guten Fee, die Mitleid mit meiner Lage hatte.< Er schaute durchs Fenster und sah keinen Schnee mehr, sondern grüne Lauben und Blumengewinde, die sein Auge entzückten. Er trat wieder in den großen Sah, wo er am Abend gespeist hatte, und bemerkte einen kleinen Tisch, auf dem herrlich duftende Schokolade dampfte. »Ich danke Euch, Frau Fee«, sagte er ganz laut, »daß Ihr so gütig seid, an mein Frühstück zu denken.« Der gute Mann trank seine Schokolade und ging dann, sein Pferd zu holen. Als er an einem schönen Rosenbeet vorüberging, fiel ihm ein, daß ihn die Schöne um eine Rose gebeten hatte; er brach also einen Zweig mit mehreren Blüten ab. Im selben Augenblick hörte er ein heftiges Geräusch und sah ein furchtbares Ungeheuer auf sich zukommen, dessen abschreckender Anblick ihn fast ohnmächtig werden ließ.

»Ihr seid sehr undankbar!«redete ihn das Ungeheuer mit furchtbarer Stimme an; »ich habe Euch das Leben gerettet, indem ich Euch in meinem Schloß Unterkunft gewährte, und zum Dank dafür stehlt Ihr mir meine Rosen. Ein solches Vergehen kann nur durch den Tod gesühnt werden; ich gebe Euch eine Viertelstunde Zeit, Eure Rechnung mit Gott abzuschließen.«

Der Kaufmann warf sich auf die Knie und beschwor das Tier mit gefalteten Händen: »Gnädiger Herr, verzeiht mir, es war nicht meine Absicht, Euch zu beleidigen, als ich eine Rose für eine meiner Töchter pflückte, die mich herzlich um eine solche gebeten hat!«

»Ich will Euch verzeihen«, versetzte darauf das Ungeheuer, »doch nur unter der Bedingung, daß eine Eurer Töchter freiwillig hierher zu mir kommt, um an Eurer Stelle zu sterben. Erhebt keine Einwendungen, geht, und wenn Eure Töchter sich weigern, für ihren Vater den Tod zu erleiden, so schwört mir, daß Ihr in drei Monaten selber zurückkommen werdet!«



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Der gute Mann wollte keineswegs eine seiner Töchter diesem gräßlichen Untier opfern, aber er dachte, wenigstens würde ihm auf diese Weise das Glück zuteil, sie noch einmal zu umarmen. Er leistete also den Schwur, daß er wiederkommen werde, und das Tier erlaubte ihm, abzureisen, wann er wolle. »Aber«, fügte es hinzu, »ich will nicht, daß Ihr mit leeren Händen geht. In dem Zimmer, in dem Ihr geschlafen habt, findet Ihr einen großen Koffer; Ihr dürft hineintun, was Euch gefällt; ich werde ihn in Euer Haus bringen lassen.« Mit diesen Worten zog sich das Ungeheuer zurück, und der gute Mann sagte zu sich: >Wenn ich also sterben muß, so werde ich wenigstens meinen armen Kindern etwas hinterlassen, wovon sie leben können.<

Er füllte also den Koffer mit Goldstücken und verschloß ihn, dann holte er sein Pferd aus dem Stall und verließ das Schloß geradeso traurig, wie er es freudig betreten hatte. Das Pferd schlug von selbst einen der Waldwege ein, und nach wenigen Stunden langte der gute Mann in seinem ärmlichen Hause an.

Seine Töchter umringten ihn freudig, aber statt sich ihrer Liebkosungen zu freuen, weinte der Vater bei ihrem Anblick. Er hielt die Rosen, die er seiner Tochter hatte mitbringen wollen, in der Hand, gab sie der Schönen und sagte: »Nimm diese Rosen, meine Schöne, sie kommen deinem unglücklichen Vater sehr teuer zu stehen!« Dann erzählte er ihnen von dem unheilvollen Abenteuer, das ihm zugestoßen war. Bei dieser Erzählung stießen die zwei älteren Schwestern laute Schreie aus, und weil die Schöne nicht weinte, schmähten sie diese: »Da seht, wie stolz diese kleine Kreatur ist! Durch ihren unseligen Wunsch verschuldet sie den Tod ihres Vaters und weint nun nicht einmal darüber!« »Warum sollte ich den Tod meines Vaters beweinen?« sagte darauf die Schöne. »Er wird nicht sterben, denn da das Ungeheuer eine seiner Töchter als Ersatz nehmen will, so werde ich mich seiner Wut überliefern, und ich bin sehr glücklich, daß ich meinem Vater auf diese Weise meine Liebe beweisen kann.«

Trotz des Einspruchs des Vaters, daß er älter sei und eher mit dem Leben abschließen könne, bestand sie auf ihrem Opfer. Der Vater machte sich also mit ihr auf den Weg zum Waldschloß, und die beiden bösen Mädchen neben sich die Augen mit Zwiebeln ein, um einige Tränen beim Abschied ihrer Schwester vergießen zu können.

Gegen Abend sahen Vater und Tochter das Schloß vor sich, erleuchtet wie das erste Mal. Das Pferd wurde im Stall untergebracht, und der gute Mann trat mit seiner Tochter in den großen Saal, wo sie eine prächtig gedeckte Tafel, diesmal mit zwei Bestecken vorfanden. Der Kaufmann



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verspürte keinerlei Lust zu essen, aber die Schöne bemühte sich, ruhig zu erscheinen; sie setzte sich zu Tisch und legte ihm mit Sorgfalt vor. Nach dem Essen hörten sie einen furchtbaren Lärm, und der Kaufmann verabschiedete sich unter Tränen von seiner Tochter, da er glaubte, das Ungeheuer komme, um sie zu fressen.

Auch die Schöne konnte sich eines Schauders nicht erwehren, als sie die schreckliche Gestalt erblickte, aber sie nahm sich zusammen, so gut sie konnte. Als das Untier sie fragte, ob sie freiwillig gekommen sei, sagte sie bebend: »Ja!«

»Ihr seid sehr gut«, sagte darauf das Tier, »und ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet. Guter Mann, reist morgen ab und laßt es Euch nicht einfallen, je wiederzukommen! Gott behüte dich, Schöne!« »Gott behüte dich, Tier!«erwiderte sie, und alsbald zog sich das Ungeheuer zurück.

»Oh meine Tochter!« sagte der Kaufmann, indem er die Schöne umarmte, »ich bin halbtot vor Angst, glaub es mir. Laß mich hierbleiben!«

»Nein, Vater«, sagte die Schöne zu ihm, »Ihr reist morgen früh ab und überlaßt mich der Gnade des Himmels. Vielleicht hat er Erbarmen mit mir.

Als der Vater abgereist war, setzte sich die Schöne in den großen Saal und fing an zu weinen; aber da sie sehr mutig war, empfahl sie sich Gott und beschloß, das bißchen Leben, das ihr nun noch geschenkt war, nicht zu vertrauern, denn sie war fest davon überzeugt, daß das Ungeheuer sie noch am Abend fressen werde. Sie beschloß, zuvor noch das schöne Schloß zu besichtigen. Sie konnte es nicht lassen, dessen Pracht zu bewundern, und war sehr überrascht, als sie auf eine Tür traf, über der die Worte zu lesen waren: Wohnung der Schönen. Sie öffnete rasch die Tür und war geblendet von dem Prunk, der darin herrschte. Was ihr aber am meisten in die Augen fiel, waren ein Bücherschrank und ein Klavier mit Noten. >Wenn ich heute abend gefressen werden sollte<, überlegt sie, >so würde man mich wohl sicher nicht so gut versorgt haben . . .<»Ach«, seufzte sie dann, »ich möchte nur meinen armen Vater wiedersehen und wissen, wie es ihm ergeht.«

Wie groß aber war ihr Erstaunen, als ihre Augen auf einen großen Spiegel fielen, in dem sie ihr Haus erblickte, wo ihr Vater gerade mit sehr bekümmerter Miene ankam. Ihre Schwestern kamen heraus, und trotz der Grimassen, die sie schnitten, um betrübt zu erscheinen, konnte man ihnen die Freude über den Verlust der Schwester deutlich anmerken. Einen Augenblick später verschwand alles, und die Schöne dachte, daß



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das Tier ihr sehr zugetan sein müsse und daß sie von ihm wohl nichts zu fürchten habe.

Am nächsten Mittag fand sie die Tafel gedeckt und vernahm, ohne jemanden zu sehen, herrliche Musik. Abends, als sie sich zu Tisch setzte, hörte sie wieder das Geräusch, das das Ungeheuer verursachte, und fing nun doch an zu zittern.

»Schöne«, sagte das Tier zu ihr, »erlaubt Ihr, daß ich Euch beim Essen zuschaue?«

»Ihr seid hier der Herr!« erwiderte die Schöne voll Schaudern und Beben.

»Nein«, sagte das Tier, »nur Ihr seid Herrin, Ihr braucht nur zu wünschen, daß ich gehe, wenn ich Euch lästig bin, und sogleich werde ich Euch verlassen . . . Sagt mir doch, findet Ihr mich nicht sehr häßlich?« »Das ist wahr«, antwortete die Schöne, »denn ich mag nicht lügen; aber ich glaube, daß Ihr sehr gut sein müßt.«

Die Schöne aß mit gutem Appetit; sie fürchtete das Tier jetzt kaum noch. Aber fast wäre sie vor Schrecken gestorben, als es plötzlich zu ihr sagte:

»Schöne, wollt Ihr nicht meine Frau werden?«

Sie blieb einige Zeit stumm, denn sie fürchtete, den Zorn des Untiers zu erwecken, wenn sie es ihm abschlug; dann sagte sie zitternd: »Nein, Tier!«

Hierüber wollte das arme Ungeheuer nun anfangen zu seufzen, doch es ließ dabei ein schreckliches Zischen hören. Aber die Schöne war bereits wieder beruhigt, als das Tier betrübt zu ihr sprach:

»Also behüt dich Gott, Schöne!« Und das Tier verließ das Gemach. Dabei wendete es sich von Zeit zu Zeit um.

Als die Schöne wieder allein war, empfand sie großes Mitleid mit dem Tier: »Ach!« sagte sie, »es ist wirklich schade, daß es so häßlich ist, tatsächlich ist es so gut!«

Die Schöne lebte drei Monate in aller Ruhe im Schloß. Jeden Abend stattete ihr das Ungeheuer einen Besuch ab und unterhielt sie während des Essens mit gesundem Verstand, und jeden Tag entdeckte die Schöne das Lichte und Gute an ihm neu. Die Gewohnheit, es zu sehen, hatte sie mit seiner Häßlichkeit vertraut gemacht. Jetzt fürchtete sie auch die Stunde seines Besuches nicht mehr, nein, sie schaute oft nach der Uhr, um zu sehen, ob es noch nicht bald neun sei. Nur ein Umstand quälte die Schöne: daß das Untier sie jedesmal vor dem Schlafengehen fragte, ob sie nicht seine Frau werden wolle, und jedesmal tieftraurig war, wenn sie ihr Nein wiederholte.



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Eines Tages sagte sie: »Du tust mir leid, Tier, ich möchte wohl, ich könnte dich heiraten, aber ich bin zu aufrichtig, und deshalb darf ich dich nicht hoffen lassen, daß dies jemals der Fall sein könnte.« Die Schöne hatte in ihrem Spiegel gesehen, daß ihr Vater vor Kummer über ihren Verlust erkrankt war, und sie wünschte sehnlich, ihn wiederzusehen.

»Ich würde dir gern versprechen«, sagte sie deshalb zu dem Ungeheuer, »dich nie gänzlich zu verlassen; aber ich habe so große Sehnsucht, meinen Vater wiederzusehen. Oder soll ich vor Schmerz sterben, wenn du mir diese Gunst verweigern solltest?«

»Ich will lieber selbst sterben«, antwortete das Untier, »als Euch kummer bereiten. Ich werde Euch zu Eurem Vater schicken, Ihr könnt dort bleiben, und Euer armes Tier wird vor Sehnsucht sterben!«

»Nein«, sagte darauf die Schöne weinend, »ich habe dich zu lieb; ich verspreche dir, in acht Tagen zurückzukommen. Du hast mich wissen lassen, daß meine Schwestern sich verheiratet haben und daß mein Vater jetzt ganz allein steht; erlaube mir bitte, ihm eine Woche Gesellschaft zu leisten!«

»Morgen führ werdet Ihr bei ihm sein, aber gedenkt Eures Versprechens! Ihr braucht nur Euren Ring beim Schlafengehen auf den Tisch zu legen, wenn Ihr heimkommen wollt. Behüte Euch Gott, Schöne!«

Das Untier seufzte wie gewöhnlich bei diesen Worten, und die Schöne legte sich zu Bett, betrübt darüber, ihr liebes Tier so in Sorgen zu sehen.

Als sie am andern Morgen aufwachte, befand sie sich im Hause ihres Vaters und läutete eine Glocke, die neben ihrem Bette stand. Sogleich kam eine Magd, die bei ihrem Anblick einen lauten Schrei ausstieß. Im Nebenzimmer befand sich ein Koffer voll goldgestickter Kleider, die das Ungeheuer geschickt hatte.

Auf die Nachricht von der Heimkehr der Schönen erschienen die Schwestern mit ihren Gatten zu Besuch; beide waren sehr unglücklich verheiratet, und ihre Eifersucht auf die Jüngste, die sie um ihre Kleider sehr beneideten, erwachte von neuem und steigerte sich noch, als sie hörten, wie gut es ihr gehe.

»Schwester«, sagte die Älteste zur Zweiten, »mir kommt ein Gedanke. Versuchen wir doch, sie länger als acht Tage hier bei uns zu behalten; ihr dummes Tier wird darüber ergrimmt sein, daß sie ihr Wort bricht, und wird sie vielleicht fressen.«

»Du hast recht, Schwester!« entgegnete die andere, »laß uns sie umschmeicheln, damit sie länger hierbleibt.«



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Als sie sich in diesem Sinne geeinigt hatten, traten sie wieder zur Schönen und erwiesen ihr eine solche Fülle falscher Liebesdienste, daß die Schwester vor Freude in Tränen ausbrach. Als die acht Tage verstrichen waren, rauften sich die Schwestern die Haare und jammerten mit so viel Heuchelei über ihre Abreise, daß sie ihnen versprach, noch für acht Tage zu bleiben.

Indessen stellte sich die Schöne doch auch den Kummer vor Augen, den ihr Ausbleiben ihrem armen Tier bereiten würde, das sie so von Herzen liebte, und sie sehnte sich danach, es recht bald wiederzusehen.

In der zehnten Nacht, die sie bei ihrem Vater verbrachte, träumte ihr, sie befinde sich im Garten des Palastes und erblicke das Tier halbtot im Grase liegen. Die Schöne erwachte plötzlich und vergoß heiße Tränen. »Bin ich nicht sehr schlecht«, sagte sie, »das Tier zu betrüben, das mir stets so gefällig gewesen ist? Auf, ich will es nicht unglücklich machen.« Bei diesen Worten erhob sich die Schöne, legte den Ring auf den Tisch und ging dann wieder schlafen.

Kaum war sie in ihrem Bett, als sie einschlummerte, und als sie am andern Morgen erwachte, sah sie mit Freuden, daß sie wieder im Palast des Tieres war. Sie kleidete sich prächtig, um ihm zu gefallen, und sehnte sich den ganzen Tag über fast zu Tode, während sie auf die neunte Stunde wartete. Aber umsonst schlug die Uhr, das Tier zeigte sich nicht. Die Schöne fürchtete schon, seinen Tod auf dem Gewissen zu haben, lief durch das ganze Schloß und schrie laut, sie war völlig verzweifelt.

Nachdem sie überall vergeblich gesucht hatte, erinnerte sie sich an ihren Traum daheim, eilte in den Garten und fand dort das arme Tier besinnungslos ausgestreckt, so daß sie schon glaubte, es sei tot. Sie warf sich auf die liegende Gestalt, ohne vor der Häßlichkeit des Tieres zu erschrecken, und fühlte, daß sein Herz noch schlug; sie schöpfte Wasser aus dem Brunnen und goß es ihm über den Kopf.

Das Tier öffnete die Augen und sagte zur Schönen: »Ihr hattet Euer Versprechen vergessen, und der Gram, Euch verloren zu haben, hat in mir den Entschluß geweckt, Hungers zu sterben. Aber ich sterbe beruhigt, da mir das Glück beschieden ist, Euch noch einmal zu sehen.« »Nein, mein teures Tier«, sagte darauf die Schöne, »du darfst nicht sterben, du sollst leben, um mein Mann zu werden; ich gebe dir meine Hand und schwöre, daß ich nur dir allein angehören will!«

Kaum hatte die Schöne diese Worte gesprochen, als sie das Schloß in hellstem Lichte aufstrahlen sah. Ein leuchtendes Feuerwerk stieg auf, und Musik ertönte; alles schien auf ein Fest hinzudeuten. Aber all diese



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Pracht vermochte sie nicht zu fesseln: sie wandte sich zu ihrem teuern Tier, dessen seltsames Schweigen ihr jetzt Angst einjagte. Aber wie groß war nun ihre Überraschung! Das Tier war verschwunden - und sie sah zu ihren Füßen einen Prinzen von vollendeter Schönheit. Und nun enthüllte der Prinz das Geheimnis:

»Eine böse Fee hat mich dazu verflucht, so lange in Tiergestalt zu verharren, bis eine schöne Jungfrau einwillige, mich zum Mann zu nehmen. Ihr wart der einzige Mensch auf der Welt, der sich von meiner Güte rühren ließ, und ich erfülle nur eine Dankespflicht, wenn ich Euch meine Krone anbiete.«

Sie begaben sich eilends in das Reich des Prinzen, dessen Untertanen ihn mit Freuden heimkehren sahen, und er heiratete die Schöne, die nun lange Jahre mit ihm lebte. Ihr Glück war vollkommen, denn es war auf der Tugend errichtet.


Hans der Bär

In den Bergen bei Vibres lebte ein schönes junges Mädchen, das weder Vater noch Mutter hatte. Es hieß Orsane. Sie ging täglich in den Wald, sammelte im Sommer Himbeeren, im Herbst Pilze und brachte diese zu den Herrschaften von Senez, um sich vom Erlös das nötige Brot zu kaufen. Im Winter sammelte sie Holz und Reisig, und im Frühling band sie kleine Blumensträuße.

Eines schönen Tages, als das Laub von den Bäumen fiel, trat sie ganz aus Versehen auf Irrkraut. Ihr kennt das nicht, aber es ist ein sehr gefährliches Gras. Es ist von so feiner Art, daß bisher noch kein Mensch es gesehen hat. Seine Blüten haben die Form von kleinen goldenen Flammen. Bei Nacht schimmern sie zart wie Glühwürmchen. Aber je näher man kommt, um so mehr erlischt dieser Schimmer. Setzt man den Fuß auf ein Büschel dieses Krauts und tut nur noch dreizehn Schritte, dann vergißt man den Weg zurück.

Verzweifelt suchte die schöne Orsane den Heimweg. Den ganzen Tag wanderte und stolperte sie durch den Wald, ohne aus ihm wieder herauszufinden. Und auch während der ganzen Nacht lief und irrte sie weinend in den Bergen umher. Alles ringsum war öde und leer, und weil das arme Ding keine Verwandten im Dorfe hatte, achtete niemand auf ihre Abwesenheit. Keiner sorgte sich um sie und zog aus, sie zu suchen.

Zum zweitenmal schon wurde es Nacht. Die Dunkelheit senkte sich



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herab. Orsane fand endlich den Eingang zu einer Höhle und schlich ermattet und müde hinein, um völlig erschöpft auf einem Haufen Laub einzuschlafen.

Beim Morgengrauen wurde sie durch ein lautes Geräusch von zerstampften und durcheinandergeschüttelten Blättern aufgeweckt. Sie vernahm ein rauhes Brummen - es war der Bär, der nach Hause kam. Sie war in die Höhle des Bären geraten!

Er stand aufrecht wie ein Mensch und breitete die Arme aus. Zwischen den Haarbüscheln seiner Schnauze konnte Orsane seine glänzenden kleinen Augen erkennen.

»Wer bist du? Was machst du hier?«brummte der Bär und beugte sich zu ihr hinunter.

»Ich bin Orsane, ich lebe allein ohne Familie. Ich suchte meinen Lebensunterhalt in den Wäldern. Ich habe mich im Walde verlaufen und kann mich nicht mehr herausfinden. Ich bin fast tot vor Erschöpfung, und mich hungert sehr.«

»Nun, du kannst hierbleiben, wenn du willst. Du wirst essen, was ich esse. Aber bringe mich nie wieder zum Sprechen - und sprich selber nie wieder mit mir! Sonst verschlinge ich dich mit Haut und Haaren!« Dieser Bär war mürrisch und verdrossen, aber im Grunde doch eine ganz ehrliche Haut. Orsane ernährte sich gern von dem wilden Honig und von den Früchten, die er brachte, und hielt sich bei Nacht an seinem mächtigen Fell schön warm. Zu Anfang streifte sie wohl noch oft im Walde umher und versuchte, den Ausgang zu finden, aber es gelang ihr nicht; und schließlich ergab sie sich darein, fern und abseits von den Menschen zu leben.

Im folgenden Sommer bekam sie ein wunderschönes Kind, das schnell heranwuchs und sich zu einem stämmigen kleinen Jungen entwickelte, dessen Haar ein kupferfarbenes Braun zeigte. Seine Fingernägel aber waren hart wie Eisen. Weil er genau an dem Tage geboren war, da die Sonne am längsten am Himmel steht, hatte sie ihn Johannes genannt. Er lief in den Bergen umher, und wo immer er einen jungen Bären traf, spielte und balgte er sich mit ihm. Stets erwies er sich als der Stärkere. Als er zwölf Jahre alt war, wurde es ihm langweilig, keine Gegner mehr zu finden, die ihm hätten Widerstand leisten können. Der Winter kam wieder, ein harter Winter, der alle in die Höhle sperrte. Die Tage erschienen endlos. Einmal, nur zum Zeitvertreib, stürzte sich Johannes auf seinen Vater, den Bären, der halb eingeschlafen war. Er schüttelte ihn heftig und brachte ihn in der Überrumpelung zu Fall. Der Bär brummte vor sich hin und versetzte ihm einen kräftigen Hieb.



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Da entschloß sich Johannes, davonzugehen, um bei den Menschen zu leben. Ihn störte das Irrkraut nicht, und er kannte alle Wege. Er wollte im Sommer zurückkehren und dann seine Mutter mitnehmen. Wochen vergingen. Lichtmeß kam. Am Morgen war es draußen mild und sehr klar. Der Bär trat aus dem Bau und tat unter den entlaubten Bäumen einige Schritte. Aber er erkannte an der Erde seinen Schatten und war gar nicht zufrieden mit diesem dicken dunklen Ding da neben ihm. Er stieß ein dumpfes Brummen aus und kehrte rasch ins Dunkel zurück, in die Höhle und unter die Erde, ohne noch einen Laut von sich zu geben. Orsane seufzte und sagte zu Hans:

»Da siehst du's! Erbat am Morgen von Lichtmeß seinen Schatten gesehen. Da müssen wir wieder für vierzig Tage noch eingesperrt bleiben...«

»Mag er im Schutz der Höhle bleiben, mich kümmert das nicht«, sagte Hans. »Ich gehe davon, und du kommst mit mir. Wir werden Menschen finden, die doch wenigstens mit uns sprechen!«

Sie ließen den alten Bären schlafen und stiegen zum Dorf hinunter. Das Wetter war plötzlich umgeschlagen. Es gab schreckliche Schneestürme. Das Gehen wurde mühsam. Doch Hans lief ständig voran und pfiff fröhlich wie eine Amsel.

Die Leute im Dorf machten große Augen, als Orsane nach so vielen Jahren mit einem so schönen Knaben zurückkehrte. Ihr Haus befand sich noch in recht gutem Zustand. Sie kümmerte sich nicht um die Leute, nahm ihr Leben von einst wieder auf und schickte den Hans in die Schule.

Hans wurde jeden Tag größer und stärker, aber die Schule mochte er nicht. Da mußte man ständig hinter Tür und Fenster bleiben. Während des Unterrichts zu spielen war streng verboten. Ihm erschien das alles noch viel langweiliger als der Winter in der Höhle des Bären. Und dann foppten ihn seine Kameraden wegen seines mächtigen, starken und breiten Wuchses und nannten ihn »Hans der Bär«. Nach Schulschluß gerieten sie oft aneinander, und er schlug sie alle mühelos. Da er aber keine anderen Spiele kannte als immer nur Balgen und Schlagen, mieden ihn die Kinder und flohen vor ihm. Der Lehrer machte ihm deshalb Vorwürfe. Da schlug er auch den Lehrer nieder und lief aus der Schule davon. Der Bürgermeister schickte Gendarmen zum Hause von Orsane, ließ Hans festnehmen, und sie brachten ihn ins Gefängnis, hinter eine wuchtige, mit Nägeln beschlagene Eichentür. Die Mutter kam, um Hans den Bären zu besuchen, und sprach mit ihm durch ein vergittertes Guckfenster:



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»Gefangen bist du, mein armer Kerl, du darfst nicht zu mir zum Essen kommen!« sagte sie und schluchzte. Er antwortete ihr und lachte ganz vergnügt:

»Weine nicht, liebste Mutter, ich werde bei dir daheim essen wie alle Tage. Halte nur eine kräftige, gute Kräutersuppe bereit!«

Sie kehrte halbgetröstet heim und fing an, das Gemüse für die Suppe zu putzen. Als er gegen Mittag Hunger verspürte, versetzte Hans der Tür mit der Schulter einen Stoß und ließ sie aufspringen. Er ging nach Hause, aß eine ganze Schüssel Kräutersuppe und sagte dann zu seiner Mutter:

»Wenn ich hierbleibe, werden die Gendarmen Euch nur neuen Kummer machen. Ich muß also weg von hier. Gebt mir ein bißchen Geld und meine neuen Schnürschuhe! Ich will ausziehen und mich im Lande umschauen.«

Er umarmte die gute Orsane und nahm den Weg ins Tal hinunter. Er wanderte von Dorf zu Dorf, ohne eine Arbeit zu finden, die für ihn gepaßt hätte. Eine Woche verging. Er hatte sich schon nach allen Richtungen hin umgeschaut und stieg nun wieder zu den Bergen hinauf, bis er an den Toren von Senez vor einer Schmiede anlangte. Der Schmied zog gerade an der Kette seines Blasebaigs und brachte ein Eisenstück zum Glühen. Hans redete ihn an:

»Seid gegrüßt, Meister! Habt Ihr wohl Arbeit?«

»Aber natürlich, hier wird nicht gefeiert. Hast du denn schon gearbeitet?«

»Das werdet Ihr sehen! Ich bin Hans der Bär.«

»Nun gut, komm herein und schlag mir dieses Eisen zurecht, um eine Pflugschar daraus zu richten!«

Hans stellte seinen Sack zur Erde, nahm die Zange, legte das rotglühende Eisen auf den Amboß, packte den Hammer - und päng! schlug er mit dem ersten Hieb den Amboß tief in den Boden. Es schaute nur noch eins der Hörner heraus.

»Das heißt nicht schlecht zugeschlagen!« sagte der Meister beunruhigt. »Ich möchte bloß wissen, wie du's jetzt anstellst, den Amboß wieder hochzubringen!«

Hans hob leicht den Fuß, drückte mit der Fußspitze gegen die Eisenmasse und hob sie heraus wie eine Rübe. Dann griff er den Amboß am Horn zwischen Daumen und Zeigefinger und trug ihn ein gutes Stück weg an eine Stelle, wo der Boden hart war.

»Dir werde ich die feinen Arbeiten anvertrauen!« sagte der Schmied und lachte.



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Und er gab ihm die härtesten Arbeiten. Hans der Bär aber ging mit solchem Eifer daran, daß er am Abend eine ganze Anzahl von Eisenbarren zerbrochen, drei Hämmer zerschlagen und den besten Amboß zerspalten hatte. Der Meister raufte sich die Haare:

»Wenn ich ihn behalte, bin ich noch vorm Ende der Woche glatt ruiniert. Jage ich ihn davon, ist er imstande und bringt mich um!« Darum redete er Hans dem Bären gut zu: »Höre, mein Junge, du bist der Mann, der reine Wunder vollbringt, aber das Schmieden, das ist eine viel zu sanfte Arbeit für dich. Du solltest woanders dein Glück versuchen.«

»Von mir aus, Schmied. Aber überlaß mir all die Eisenstücke, die ich zerbrochen habe, und laß mich noch ein letztes Mal schmieden!« »Das letzte Mal? Einverstanden. Aber was willst du mit all dem Eisen anfangen? Du kannst das doch nie fortbringen. Dazu brauchte es die Kräfte von wenigstens vier starken Männern!«

»Wartet nur ab, Ihr werdet gleich sehen«, antwortete Hans. Er brachte ein ganzes Bündel aufgespaltener und zusammengehauener Eisenbarren zum Glühen, hämmerte es sorgsam und schmiedete daraus schließlich eine riesige Stange, die dick war wie eine Wagendeichsel und gut ihre fünf bis sechs Zentner wog. Er verabschiedete sich von dem Schmied und ging fröhlich davon. Die Eisenstange nahm er bequem über die Schulter.

Gegen Abend kam er am Paß von Lèque an und setzte sich ins Gras, um auszuruhen. Da sauste etwas schnarrend über seinen Kopf hinweg: ein riesiger, runder Stein war's, gut ein Klafter breit, der im Kreis von Castellane wieder herunterfiel. Dann ließ ihn ein neuer Wirbel den Hals jäh zwischen den Schultern einziehen: Zwei, drei weitere Mühlsteine flogen auf ihn zu, überquerten den Paß und tauchten auf der anderen Seite unter. Jedes Mal brachte der Wind von ihrem Aufprall einen Duft von zerstampfter Minze mit. Hans durchspähte die ganze Gegend und entdeckte am Ende den Mann, der die Mühlsteine geschleudert hatte und noch einen letzten in Händen hielt.

»Das ist mir ein schönes Wurfscheiben-Spiel!« rief Hans ihm zu. »Du bist ja ein erstaunlicher Kerl! Ich selber bin Hans der Bär. Wie heißt denn du?«

»Ich bin der Mühlenabreißer. Ich langweilte mich so ganz allein, und ich vertrieb mir gerade ein bißchen die Zeit.«

»Willst du mit mir auf Wanderschaft ziehen?«

»Ganz ern.«

Eifrig schwatzend zogen sie los. Am Tage darauf kamen sie in einen



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Wald und sahen einen Holzhauer, der hatte als Werkzeug nur eine Sichel, wie die Grasmäherinnen sie benutzen. Mit zwei Sichelhieben hackte er eine mächtige Tanne ab, und als er genug Tannen umgehauen hatte, machte er Bündel daraus. Er riß eine Eiche aus, stemmte sie unter seinen Fuß, drehte sich eine Art Strick daraus, und mit diesem Strick band er acht oder zehn von den Tannen zusammen.

»Du fängst es ja gut an!« rief Hans ihm zu. »Ich muß es wissen! Ich nämlich bin Hans der Bär. Wie heißt denn du?«

»Der Eichendreher. Jeder verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem, was er kann.«

»Willst du mit uns zusammen losziehen?«

»Ganz gern.«

Die drei Gesellen marschierten zusammen ein gutes Stück. Am Abend gelangten sie an den Fuß eines Berges, auf dem sich ein großes, altes, hellerleuchtetes Schloß erhob. Sie fragten eine alte Frau, die am Wegrand ihre Ziege hütete: »Wem gehört dieses Schloß?«

Die alte Frau stellte sich zunächst taub oder stumm und antwortete nicht. Schließlich entschloß sie sich doch dazu, spie aus und sagte: »Geht nur hin, wenn Euch das lockt: aber Ihr werdet rasch merken, daß das ein verwunschenes Schloß ist! Schon mehr als hundert Ritter sind dort hinaufgegangen, nicht einer ist je wieder herausgekommen.«

Hans der Bär liebte kluge, zur Vorsicht mahnende Ratschläge gar nicht. Er zog seine Kumpane mit, und sie stiegen zusammen den Berg hinauf. Mitten in der Nacht kamen sie vor denk Schloß an. Sie fanden die Türen weit offen, aber niemanden, der sie bewachte. Sie traten in die hellerleuchteten Säle ein: Sie waren sämtlich leer. Auch die Treppen waren leer, die Flure auch. Alles war vergoldet, doch es herrschte gähnende Stille.

»Schöne Herberge -das!« sagte Hans der Bär. »Und keine störenden Hausherren! Wie wäre es, wenn wir uns hier einrichteten?« »Oh! Schließlich geht's auch darum, was zu essen zu kriegen«, sagte Eichendreher. »Ich habe nichts Rechtes mehr in meinem Sack. Wie steht das mit Euch?«

»Ich auch nicht«, sagte Mühlenabreißer. »Aber wir werden hier bleiben müssen. Es ist spät, legen wir uns jetzt einmal schlafen. Morgen früh werde ich aus allem, was wir noch bei uns haben, eine gute Suppe kochen. Ihr beiden geht unterdessen auf die Jagd. Ich rufe euch oder gebe euch Signal, wenn die Suppe fertig ist, und das Wildbret, das ihr erlegen werdet, können wir dann für den Abend aufheben. Am nächsten Tag können wir uns ja abwechseln.«



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Sie verbrachten eine ruhige Nacht. Am folgenden Morgen brachen Hans der Bär und der Eichendreher zur Jagd auf. Mühlenabreißer richtete sich in der Küche ein, röstete Brot, briet Speck an, ließ Zwiebeln schmoren und bereitete aus dem allen eine kräftige Suppe.

Gegen Mittag nahm er ein am Kaminsims hängendes Horn vom Haken und öffnete das Fenster, um seinen Kumpanen Signal zu blasen. Er führte das Horn an den Mund, blies die Backen auf. . . und im selben Augenblick prasselten Steine im Kamin. Blitzschnell fuhr der Mühlenabreißer herum.

Da stand vor ihm ein winziges Männlein, das die Nase zu ihm heraufreckte, ein kleines Männchen, nicht höher als das Spinnrad einer braven alten Frau; und genau wie ein altes Spinnrad schien auch das Männlein ganz hager, dünn und fast gebrechlich. Er war von Kopf bis Fuß splitternackt und bleich wie eine ausgetrocknete Artischocke. Es hatte den stachligen Schnurrbart und den platten Schädel einer Wildkatze. »Wo kommst du her? Was willst du?« fragte ihn Mühlenabreißer.

»Ich möchte von deiner guten Suppe kosten!« antwortete der kleine, bleiche Mann.

»Geh dahin, von wo du gekommen bist, du kleines Ungeziefer, oder ich zermalme dich!«

»Ah, redest du somit mir? Sieh dich vor, mein Sohn!« Der kleine Mann hielt eine Haselnußgerte in der Hand. Er hob sie und stürzte sich auf Mühlenabreißer wie eine Spinne auf eine dicke Fliege. Darauf war Mühlenabreißer nicht gefaßt. Angewidert wich er zurück. Der kleine Mann versetzte ihm auf die Schenkel einen ganzen Hagel der sonderbarsten kleinen Hiebe, die ihm wie Feuerstrahlen durch den ganzen Leib fuhren; so grimmig und so lange, daß er schließlich ohnmächtig auf die Fliesen sank.

Erst drei Stunden später kam Mühlenabreißer wieder zu sich, weil vom Hof her lärmende Schritte und lautes Rufen ertönten. Völlig zerschlagen erhob er sich und sah Hans den Bären und Eichendreher ankommen, die voller Ärger und Wut riefen:

»Wie lange willst du uns noch warten lassen, du großer Tunichtgut? Das lohnte die Mühe, derart zu prahlen! Warum hast du uns zur Mittagszeit nicht gerufen?«

»Ah! Ihr Freunde«, sagte Mühlenabreißer und jammerte zum Steinerweichen, »ich hatte eine so gute Suppe gekocht, die ganz herrlich duftete. Da ist plötzlich ein ungeheurer schrecklicher Riese gekommen, der wollte sie aufessen. Ich habe mich wütend auf ihn geworfen, aber er hat mich ganz krumm und lahm geschlagen mit Hieben, von denen



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jeder einzelne mich von Kopf bis Fuß schier versengt hat. Schließlich hat er mich für tot liegen lassen. Und seht bloß —den Kochtopf hat er völlig leer gemacht.«

»Das geht ja gut an«, sagte Eichendreher. »Morgen bin ich's der dableibt. Und falls dann der Riese kommen sollte, werde ich ihn ganz gehörig durchbläuen!« Am andern Tag begleitete der Mühlenabreißer Hans den Bären auf die Jagd, und der Eichendreher blieb im Winkel beim Feuer. Aber zu Mittag ertönte wieder kein Signal. Die Jäger geduldeten sich bis zum frühen Nachmittag.

»Zum Feuermachen und Kochen taugt er wohl weniger als zum Holzschlagen!« sagte Hans der Bär, als immer noch kein Signal zum Essen rief.

Endlich kehrten sie mit knurrendem Magen um, denn sie wollten nicht noch länger warten, und fanden Eichendreher lang am Boden hingestreckt. Sie rüttelten ihn und schütteten ihm kaltes Wasser ins Gesicht. Endlich kam er wieder zur Besinnung und stöhnte:

»Ah! Ihr Freunde! Der Riese ist wiedergekommen. Er ist noch viel größer und viel schrecklicher, als Mühlenabreißer gesagt hat. Er ist hoch wie der Kirchturm von Senez und rot wie eine Pfeffernuß von La Saint-Roche. Er hat mich gedroschen und gebeutelt, er hat mich halbtot geschlagen. Und seht doch nur! Er hat den Kochtopf völlig geleert!« Als er das sagte, vergoß er in den leeren Suppentopf heiße Tränen. Mühlenabreißer lachte sich ins Fäustchen bei dem Gedanken an diesen Riesen, der hoch und breit wie ein Spinnrad und blaß und welk wie eine vertrocknete Artischocke war. Aber er hütete sich wohl, dem Eichendreher zu widersprechen.

»Reden wir nicht mehr davon!« erklärte Hans der Bär. »Ihr seid doch wirklich schwächliche Kerle. Morgen soll der Riese jemanden finden: dann werde ich ihn übernehmen!«

Bei dem Gedanken an die Tracht Prügel, die dieses Großmaul beziehen würde, fühlten sich die beiden anderen für die Prügel, die sie selber erhalten hatten, fast schon völlig entschädigt.

Am nächsten Tag also blieb Hans der Bär allein im Schloß, während die beiden starken Männer auf Jagd zogen. Zu Mittag war seine Suppe fertig. Er nahm das Horn vom Haken und blies, ohne das Fenster zu öffnen, so stark vor dem weit offenen Kamin, daß die Mauern erbebten und eine Wolke von Ruß durch die Esse puffte und bis zu den Wolken hinaufwirbelte. Die beiden Jäger, eine knappe halbe Meile entfernt, hörten den Schall erstaunt und machten sich eilig an die Rückkehr. Inzwischen hatte Hans der Bär das Horn wieder an seinen Nagel überm



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Kamin gehängt. Im selben Augenblick erschien der kleine, weiße Mann mit seiner Haselnußgerte vor der Feuerstelle und schnüffelte mit der Nase den leckeren Duft der Suppe ein.

»Nanu, bist du der große Riese?«fragte Hans der Bär lachend. Der kleine Mann hob wütend sein kleines Stöckchen. Aber Hans der Bär war schneller als er, hatte bereits seine kräftige Eisenstange ergriffen und wuchtete sie auf seinen Katzenschädel. Doch er war hart wie Kiesel, dieser kleine Mann, und unter der Masse von Eisen sprühten die Funken, aber er krümmte sich nicht, er erlag nicht. Er brachte Hans dem Bären sogar Schläge mit seiner Gerte bei, die wie glühende Kohlen brannten. Hans glaubte schon, die Beine seien ihm gebrochen, doch biß er sich auf die Lippen und schlug hart zurück. Nach fünf Minuten, völlig zerschlagen und außer Atem, gelang es Hans dem Bären, den kleinen Mann zu Boden zu werfen. Der aber sprang fast auf der Stelle wieder hoch, und seine Schläge ließen Hans den Bären vor Schmerzen und Wut schreien. Mit drei oder vier kräftigen Hieben mit der Eisenstange schlug er ihn jedoch zuletzt platt: sssuu! — rechts -links -rechts, wie man mit drei Löffelschlägen Schweineschmalz im Topf breitschlägt. Der kleine Mann bat jammernd und winselnd um Gnade:

»Wenn du mich leben läßt«, sagte er zu Hans, »will ich dir das Geheimnis des Schlosses offenbaren.«

»Sag's zuerst! Ich will dann zusehen, was zu tun ist.« »Dieses Schloß ist verzaubert. Unter dem Stein des Kamins ist ein tiefer Schacht. Auf dessen Grund ist eine Prinzessin, die darauf wartet, erlöst zu werden. Es ist die schönste Prinzessin der Welt. Was meinst du dazu?« »Das braucht dich nicht zu kümmern. Trotzdem, vielen Dank! Jetzt mach dich schnell davon und laß dich nur ja nie wieder sehen!« Der nackte kleine Mann, weiß und gebrechlich wie er war, hinkte davon, so rasch er eben konnte.

Jetzt hörte Hans auch schon Mühlenabreißer und Eichendreher die Treppe heraufstürmen.

»Ist das Essen fertig? Hast du den Riesen nicht gesehen?« »Nein, ich habe nur einen bösen, kleinen Mann gesehen, und ich bin's der ihn zusammengeschlagen hat. Ihr seid bloß zwei erbärmliche Lügenbeutel. Ihr seid doppelt so alt wie ich, ihr seid vielleicht auch stärker als ich; aber es genügt eben nicht, Arme und Beine gut beisammen zu haben, es braucht auch einen klaren Kopf und ein tapferes Herz auf dem rechten Fleck. Ich glaube, es war falsch, daß ich mich mit euch einließ.« »Nun, sei nicht so böse! Wir sind ja überrumpelt worden. Wenn du nicht auf deiner Hut gewesen wärst dank der Tracht Prügel, die vor-



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her wir bezogen haben, hättest du dich vielleicht auch durchwalken lassen!«

»Nun gut, ich will jetzt eure Tapferkeit noch einmal auf die Probe stellen. Nach dem Essen steigen wir unter den Kamin hinunter. Wer sich dann als der Tapferste erweist, wird die schönste aller Prinzessinnen heiraten, die dort in der Tiefe gefangen sitzt.«

Sie aßen, und dann stemmte Hans der Bär mit seiner Eisenstange den Stein der Feuerstelle in die Höhe. Darunter erkannten sie einen schwarzen Brunnenschacht, der sich tief in den Berg bohrte. Sie schlangen ein Seil, gut hundert Klafter lang, dem Mühlenabreißer unter die Achseln und ließen ihn hinunter. Doch als das Seil zu Ende war, blieb es straff und schwer und fing an, zu tanzen und sich zu drehen. »Es ist zu kurz!« schrie der Mühlenabreißer hinauf. »Zieht mich rasch wieder hoch!«

Seine Stimme war aus der Tiefe kaum noch zu hören. Er erschien ganz bleich wieder am Rande des Loches. Hans der Bär knotete ein zweites Tau von hundert Klaftern an das erste an. Aber der Mühlenabreißer wollte nicht wieder hinunter.

»Was hast du denn gesehen?«fragte ihn Hans.

»Nichts, nichts, das ist ja gerade das Schreckliche. Geht nicht hinunter! »Geh du jetzt, Eichendreher!« befahl Hans.

Sie banden ihn unter den Armen fest, und schon fuhr er durch das Loch hinab. Aber als das Seil abgerollt war, fing es wieder an zu tanzen und sich zu drehen. Die Stimme vom Eichendreher hörte man überhaupt nicht mehr. Hans der Bär und der Mühlenabreißer zogen ihn gemeinsam mit großer Mühe wieder hoch. Er war ganz bleich und sagte nur: »Ich hab Angst! Ich hab Angst! Hans der Bär, geh nicht hinunter!« »Aber natürlich werde ich gehen«, erwiderte Hans der Bär. »Und ich bin's der die Prinzessin heiraten wird.« Er knotete noch drei Seile von je hundert Klaftern an die beiden ersten, und die beiden tapferen Gesellen ließen ihn in das Dunkel hinunter. Der Abstieg erschien Hans dem Bären sehr lang. Das Seil ließ ihn die ganze Zeit über sich drehen wie eine Spindel, und die Kälte der Erde drang ihm bis ins Knochenmark.

Endlich berührte er in der Finsternis, in der Tiefe des Berges, den Boden und band das Seil los. Er erkannte in der Ferne einen Lichtschimmer. Darauf ging er zu. Das Gewölbe des unterirdischen Ganges wurde nach und nach höher. Der Lichtschimmer verstärkte sich und wurde schließlich fast so hell wie die Sonne; und das Gewölbe wurde



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so hoch und so weit, daß man es zuletzt nicht mehr sah. Nur -anstelle der Sonne glühte ganz da oben etwas Bleiches und Zitterndes, etwas wie das Wasser eines Sees.

Auf einer Seite seines Weges sah Hans der Bär einen Haufen vergilbter Gebeine und zerbrochener Rüstungen. Ein großer Windhund schien dort zu wachen, der in einen Block von bläulichen Stein eingehauen war und sich auf einer dicken Steinplatte ausstreckte. Hans dachte an die hundert verschwundenen Ritter und sprach in seinem Herzen für die Seelen dieser Helden ein stilles Gebet. Der steinerne Windhund erhob sich und kam, ihm die Hand zu lecken. Hans streichelte ihn und setzte seinen Weg fort.

Ein Fluß zeigte sich vor ihm. Ober den Fluß führte anstatt einer Brücke nur ein langes Brett, das sich krümmte und durchbog, je weiter er bis zur Mitte vorrückte. Wiederholt glitt er aus und entging nur um ein Haar der Gefahr, ins Wasser zu stürzen. Wie er am Ende ankam, richtete sich vor ihm ein Drachte auf, der Feuer spie. Hans der Bär schwang sein mächtiges Eisenrohr und zerstieß dem Ungeheuer die Lenden. Dahinter erschien ein zweiter Drache. Dieser hatte sieben Köpfe - und in jedem Kopf ein einziges Auge. Hans hielt seine Eisenstange im Gleichgewicht vor sich wie eine Sense und mähte mit einem wuchtigen Hieb alle sieben Köpfe ab. Da fingen die sieben Augen an, dicke Tränen zu weinen, die waren aus goldenem Drachenblut und brannten wie schmelzendes Eisen. Ein Strom bildete sich daraus und quoll Hans entgegen, um ihn zu verschlingen. Eher der Strom anschwellen konnte, durchstach Hans die sieben Augen mit der Spitze seiner gewaltigen Stange und eilte weiter.

Da stürzte sich jäh vom Rande des bleichen, zitternden Sees da oben die »Mutter aller Drachen« auf Hans herab. Hinter ihr schleifte ihr Kleid aus grünlichem Leder in der Luft und bildete einen riesig langen Schwanz. Die »Mutter aller Drachen«wickelte Hans in die Falten ihres Schwanzes ein und flog davon. Sie stieg, stieg und stieg. . . Hans der Bär aber stieß ihr seine Eisenstange in den Leib und bohrte ein gewaltiges Loch, aber die geplatzte Haut flatterte nur rings um die Wunde auf, und die »Mutter aller Drachen« stieg weiter und weiter.

Hans zog sein Jagdmesser aus der Scheide und schnitt den grünen Schwanz ab, der ihn einwickelte. Dieser rollte sich nun auf wie die Schale eines Apfels. Hans, der sich an ihm festhielt, fiel mit ihm zusammen hinunter, ohne sich sonderlich weh zu tun. Was von dem Ungeheuer übrigblieb, zerschmetterte an einem Felsen. Der abgeschnittene Schwanz wand sich wie ein dicker Wurm. Er sprang auf ein kleines,



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fensterloses Haus zu, das auf einem Hügel stand. Durch die Mauern drang ein erstickter Gesang, so schön und so traurig, daß Hans dem Bären das Herz vergehen wollte. Er begriff sofort: das war das Haus der Prinzessin. Schnell umkreiste er das Haus, dessen einzige Öffnung eine schwere Eichentür mit gewaltigen eisernen Bändern verschloß. Es gab keinerlei Mittel, hineinzukommen.

Während Hans der Bär überlegte, was er tun müsse, sah er, daß der Schwanz des Drachens wie eine Kröte immer näher kroch und sprang. Etwas Schlimmes drohte der Prinzessin von diesem Unwesen, das spürte Hans. Darum durchbohrte er mit einem schrecklichen Hieb seiner Stange das Leder des Schwanzes und nagelte diesen an den Boden. Ein kleiner, nackter Mann, ganz weiß und zitternd, trat jetzt aus den Falten des Schwanzes heraus. Er hielt eine Haselnußgerte in der Hand und trabte hinkend auf die Tür zu. Hans riß seine Stange aus dem Boden heraus: der Schwanz bewegte sich nicht mehr. Aber während dieser Zeit warf sich der kleine, nackte Mann auf den Stein an der Schwelle. Ein Katzenloch öffnete sich unten an der Tür, und er schlüpfte ins Innere. Er tat das so überhastet, daß er sein Stöckchen entwischen ließ.

Wutentbrannt riß Hans der Bär alle seine Kräfte zusammen und schleuderte seine Stange wie einen Rammklotz gegen den Türpflügel. Das tat er dreimal, Schlag auf Schlag. Die Eiche krachte, das Eisen knirschte, rings um die Türangeln zersplitterte der Stein - in einer Wolke von Staub brach die Tür zu Boden.

Hans stürzte hinein und sah vor sich eine riesige Katze, aufrecht wie ein sich bäumendes Pferd. Sie war völlig nackt, ohne ein Fell über ihrer Haut, und von erschreckender Blässe. Ihre magere Brust sprang vor nach der Art eines Geierschnabels. Sie füllte mit ihrer Größe die ganze Breite und Höhe des Gewölbes.

Hans der Bär griff sie mit seiner zentnerschweren Eisenstange an, aber die grimmige Katze schien seine Schläge gar nicht zu spüren. Sie hatte einen der eichenen Querbalken ergriffen, den schwersten der Tür, und lieferte Hans damit einen schrecklichen Tanz. Endlich gelang es dem armen Jungen, der über und über blutete, ihr einen Stoß mitten in die Stirn zu versetzen. Eine Garbe von Funken sprühte heraus. Die Wildkatze strauchelte aber nicht; die sechs Zentner schwere Stange hingegen splitterte auseinander und zerfiel wieder in genauso viele Stücke, wie Hans sie in der Schmiede zusammengeschweißt hatte.

Er sah sich verloren, blieb aber entschlossen, als tapferer Mensch sein Leben auszuhauchen. Er beugte sich nieder, um wenigstens einen dieser



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Eisenstäbe noch einmal zu greifen, aber das strömende Blut machte ihn blind: er faßte nur ganz unversehens das Haselnußstöckchen, das dem blassen Männlein entwischt war. Wie toll schlug er damit auf die Wildkatze ein, die nun tot umfiel.

Bei dem Getöse vom Fall der Katze trat die Prinzessin aus ihrem Zimmer. Sie stürzte sich wie ein erlahmter Vogel Hans dem Bären in die Arme und küßte ihn auf die Lippen. Der Tapfere, der gerade einen so schrecklichen Kampf durchgestanden hatte, wurde bei der Süße dieses Kusses ohnmächtig. Sie aber wußte wohl, wie sie ihn wieder zur Besinnung bringen konnte. Und einige Stunden darauf, schon von seinen Wunden geheilt, führte Hans der Bär seine Braut auf den Grund des Brunnenschachts unterhalb des Schlosses.

Er band eine Stange an das Seilende, damit die Prinzessin darauf Platz nehmen konnte. Sie jedoch wollte nicht als erste hinaufsteigen:

»Wenn ich dort oben ankomme, werden deine Gefährten mich als Beute an sich nehmen und dich selber nicht hochziehen wollen!«

»Beunruhigt Euch darum nicht, meine Liebe und Gute«, sagte Hans. »Sie taugen nicht viel, das habe ich genau erkannt, aber sie wissen, daß ich Hans der Bär bin, und sie haben Angst vor mir. Ich will Euch um nichts in der Welt hinter mir in der Tiefe dieses Schachts allein lassen.«

Da löste die Prinzessin von ihrem Mieder zwei Veilchen, küßte sie und bot sie Hans mit Tränen in den Augen dar. Hans rüttelte mehrere Male an dem Seil, und die Prinzessin schwebte behutsam in die Höhe, hochgezogen von Eichendreher und Mühlenabreißer.

Während dieser Zeit dachte Hans der Bär eindringlich nach über alles, was er erlebt hatte. Er erinnerte sich an all die Lügen und die Feigheit der beiden Gesellen und auch an die Kränkungen, die er ihnen versetzt hatte. Er war unvorsichtig genug gewesen, ihnen zuerst zu sagen: »Die schönste der Prinzessinnen wird dem Tapfersten von uns dreien gehören«, und später zu erklären: »Sie wird mir gehören.« Was würden sie nun anstellen, diese Bösewichter?

Und tatsächlich, als Eichendreher und Mühlenabreißer jetzt die Prinzessin sahen, die so allerliebst und so schön war und ihnen unter dem großen, schwarzen Kamin schüchtern zulächelte, wurden sie völlig geblendet. Jeder von ihnen beschloß in seinem Herzen, sie für sich zu behalten. Trotzdem sagten sie nichts, denn sie hatten einander noch nötig, um Hans den Bären loszuwerden. Sie schauten einander an und verstanden sich mit einem einzigen raschen Blick.

Das Seil wurde von neuem langsam hinuntergelassen, lange, bis auf den



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Grund des Schachts. Nach einer Weile fühlten sie, wie das Gewicht von Hans es spannte, sie fühlten auch die drei ruckartigen Stöße, die das Signal gaben, und begannen zu ziehen, wobei sie wilde Grimassen schnitten. Sie zogen unter den Augen der beunruhigten Prinzessin zunehmend langsamer und keuchten.

»Oh, wie gräßlich schwer ist er doch, verglichen mit Euch, schönste Prinzessin!«

»Ah, das jetzt ist wahrhaftig viel schlimmer als ihn hinablassen!« »Mir zerreißt's noch die Arme!«

»Ich hab' mir die Hände ganz aufgeschürft!«

»Und oh, dieses Tau zerreibt sich über dem Stein! Der dröselt uns noch das Seil auf! Es ist einfach unmöglich!«

»Daß sie uns bloß nicht reißt, diese Leine!«

Endlich, nachdem sie den letzten Knoten hatten vorbeikommen sehen und dachten, Hans der Bär wäre nun etwa in Höhe von hundert Klaftern, stellten sie sich, als ob sie hinfielen, als ob das Seil zerrissen sei —und ließen es los. Ein dumpfes Getöse stieg aus der Tiefe des Schachts. Die Prinzessin fiel in Ohnmacht.

Hans der Bär aber lächelte, als er den dicken Stein, den er an das Seil gebunden hatte, herunterkommen sah. Die beiden Schurken sahen dieses Lächeln freilich nicht, sonst hätten sie wohl vor Schrecken mit den Zähnen geklappert.

Jetzt aber galt es, aus der unterirdischen Welt wieder herauszukommen, und Hans wußte nicht, auf welche Weise er das versuchen sollte. Traurig kehrte er zum Hause der Prinzessin zurück, in der Hoffnung, auf weitere Häuser, auf Menschen und Beistand zu stoßen. Er kam dicht an dem Haufen von Gebeinen und zerbrochenen Rüstungen vorbei, den er schon bei seiner Ankunft gesehen hatte.

Der große steinerne Windhund wachte da immer noch unbeweglich auf seiner Steinplatte. Er blickte Hans den Bären an. Hans verlangsamte seinen Schritt, dachte für eine Sekunde an das Unglück der tapferen Ritter, das gewiß noch viel hoffnungsloser war als das seine - und unwiederruflich. Er blieb stehen, nahm eins der beiden Veilchen der Prinzessin und warf es auf die Gebeine. Der steinerne Windhund erhob sich, kam heran und leckte ihm die Hand. Hans streichelte ihn mit verdüsterter Miene. Da sprach der große Windhund plötzlich:

»Wenn du schon einmal in der Luft geflogen bist, könntest du nicht noch einmal fliegen?«

Dann kehrte er mit geräuschlosen Schritten um, streckte sich wieder auf seiner Steinplatte aus und bezog erneut seine Totenwache. Der große



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steinerne Windhund lag wieder unbeweglich wie die Gebeine der Toten.

Hans dem Bären war es, als ob er aus einem Traum erwache. Er lief auf die Tür des Hauses zu. Der Schwanz des Drachen lag immer noch dort, auseinandergerollt in seiner ganzen Länge. Hans setzte sich auf die grünliche Lederhaut, wickelte seine Beine und seinen Oberkörper in die Falten des Schwanzes, und als alles Leder um ihn herumgewunden war, fühlte er jäh, wie er davonflog. Er brauchte nur in Gedanken zu lenken: höher, tiefer, nach rechts, nach links! —und er flog stets genau, wohin er verlangte. Er befahl der Hülle des Ungeheuers, ihn in den Schacht emporzuführen.

Die Prinzessin, Eichendreher und Mühlenabreißer waren nicht mehr da. Das Schloß selbst war eingestürzt.

Als die Prinzessin nach dem Verrat der beiden Männer und dem Schlag, der sie ins Herz getroffen hatte, wieder zu sich gekommen war, hatten Eichendreher und Mühlenabreißer bereits ihren Plan entworfen. Sie hatten zunächst angefangen, sich um den Besitz ihrer Beute zu streiten, einander zu bedrohen und beinahe schon, sich zu schlagen. Aber der eine war nicht tapferer als der andere. Und das war's, was sie schließlich zu ihr sagten:

»Der arme Hans der Bär ist tot. Wir hatten alles nur eben mögliche getan, um ihn zu retten, aber Ihr habt ja selber gesehen, wie das Verhängnis über uns gesiegt hat. Ihr braucht eine Wache, die Euch in das Königreich Eures Vaters zurückbegleitet, das noch weit entfernt von hier ist. Zudem haben wir beide wohl ein Anrecht auf eine Belohnung; denn ohne uns stecktet Ihr noch dort unten im Schacht. Ihr werdet uns also alle beide heiraten und einen Tag dem einen von uns gehören, am andern Tag dem andern. Wenn Ihr das ablehnt, werden wir Euch einfach umbringen, und wir werden das Königreich Eures Vaters genauso leicht zerstören, wie wir dieses Schloß hier zerstören können, wir sind die stärksten Männer der Welt.«

Und um sie in Furcht und Schrecken zu versetzen, ließen sie mit Hilfe von zwei Schulterstößen das Schloß auf dem Abhang des Berges umkippen: es stürzte, prallte wieder hoch, zersplitterte in tausend Stücke und fiel in Trümmer und Staub in die Tiefe des Abgrunds. Dann schleppten Eichendreher und Mühlenabreißer die Prinzessin fast schon wie eine Gefangene mit sich fort.

Die Prinzessin weinte und jammerte. Alle Freude, die sie empfand, ihre Eltern wiederzufinden, wurde durch die Androhung dieser schrecklichen



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Hochzeit erstickt. Aber sie wagte es nicht, ihrem Vater, dem König, die Wahrheit zu sagen. Er war so glücklich, der arme Mann, daß er sogar in die sonderbaren Bedingungen der beiden Gefährten einwilligte. Vielleicht hatte er auch Angst vor ihren Fäusten.

Die Festlichkeiten der Hochzeit wurden also vorbereitet. Das Festessen fand auf einer schönen, großen Wiese statt; denn es gab sehr viele geladene Gäste, und sämtliche Säle des Palastes reichten nicht aus, sie zu fassen. Am Schluß des festlichen Mahls aber sah man ein seltsames Tier am Himmel heranziehen. Das war Hans der Bär, in die Falten des Drachenschwanzes gehüllt, Hans der Bär, der allerorten nach seiner Verlobten suchte. Die festliche Menge auf der großen Wiese da unten hatte seine Blicke angezogen. Er stieg hinab, löste sich aus der grünlichen Drachenhaut und schritt auf die königliche Tafel zu.

Er steckte immer noch in seinen vom Kampf zerrissenen und von dem vergossenen Blut gebräunten Kleidern. Aber von seinem stürmisch bewegten Haarschopf her wehte es wie ein Wind von Jugend und Frühling, und seine braungoldenen Locken leuchteten in der Sonne. Sein Gesicht strahlte von Liebe. In der Hand hielt er ein noch frisches Veilchen.

Zitternd hatte sich die Prinzessin erhoben. Sie konnte kein Wort zu ihrem Vater sprechen, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Aber vor allen Anwesenden nahm sie nun in ihre kleine Hand die kräftige Hand von Hans dem Bären und ließ sie nicht mehr los.

Als aber die beiden Schurken so unvermutet den lebendig vor sich sahen, von dem sie meinten, sie hätten ihn getötet, liefen sie Hals über Kopf davon, und um ihre Flucht zu schützen, rissen sie alle Bäume aus, die die Wiese umsäumten, und warfen sie zur Deckung hinter sich. Hans der Bär aber dachte gar nicht daran, sie zu verfolgen. Er umarmte und küßte seine kleine Prinzessin und vergaß darüber die ganze Welt.


Blaubart (Erste Version)

Es war einmal ein Mann, der sieben Frauen gehabt hatte, und er wohnte in dem Schloß Tiffauges. Er hatte die achte Frau geheiratet. Eines Tages ging er auf Reisen, und da hat er zu seiner Frau gesagt:

»Hier sind alle Schlüssel des Schlosses. Du kannst alle benutzen, ausgenommen diesen kleinen Schlüssel.«

Dann hat sie ihn trotzdem benutzt. Aber der kleine Schlüssel war verzaubert.



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Als sie die Tür öffnete, fiel sie in dem Zimmer in eine Blutlache. Die Frau des Blaubarts hatte eine Schwester bei sich, eine Schwester Anne. Sie haben den Schlüssel gekocht, sie haben ihn mit Asche gerieben: niemals haben sie das Blut entfernen können.

Als dann der Herr ankam, haben sie es nicht weit gebracht. Er hat die Schlüssel gefordert, und dann hat er gesagt, daß sie sie benutzt hätten und daß sie dasselbe Schicksal erleiden sollten wie all die anderen Frauen, die da waren. (In dem Zimmer waren die sieben Frauen aufgehängt . . . und sie war die achte.)

Sie hatten eine kleine Hündin, die Sarène hieß. Und dann haben sie ihr einen Brief an den Hals gehängt und haben ihr gesagt, sie solle zu ihren Brüdern laufen. Als die Hündin fort war, hat sie zu ihrer Schwester gesagt:

»Schwester Anne, geh in mein Zimmer hinauf.«

Und dann hat Blaubart ihr gesagt, sie solle ihre schönsten Kleider anlegen, um auf Reisen zu gehen. Sie ist in ihr Zimmer hinaufgegangen, und während sie sich ankleidete, sagte sie:


1. Strophe:

»Schwester Anne, siehst du nichts kommen?«

»Ich sehe den staubigen Wald, und die Erde dröhnt.«

Da sagte ihr Mann, der unten war und der die Messer wetzte:

»Wetze, wetze meine stumpfen Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden!«

Sie war immer noch oben im Zimmer.

Er sagte:

»Bist du bald bereit, Frau?«

»Nein, nein, mein Gemahl, ich muß noch das schönste Kleid anziehen, das ich jemals angezogen habe und das ich jemals anziehen werde!«


2. Strophe:

Und sie fragte ihre Schwester: »Schwester Anne, siehst du nichts kommen?«

»Doch, doch, ich sehe Staub, der näherkommt, der sehr schnell näherkommt.«

Der Mann war noch immer dabei, seine Messer zu wetzen: »Wetze, wetze meine stumpfen Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden. Bist du bald bereit, Frau? Oh, ich werde ungeduldig.« »Nein, nein, mein Gemahl, ich muß noch die schönste Haube aufsetzen, die ich jemals aufgesetzt habe und die ich jemals aufsetzen werde.«


3. Strophe:

»Schwester Anne, siehst du nichts kommen?«



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»Doch, doch, ich sehe zwei Reiter, die näherkommen, die sehr schnell näherkommen.« (Variante: »die noch sehr weit, sehr weit von hier sind.«)

Da fängt der Mann wieder an:

»Wetze, wetze meine stumpfen Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden! Bist du bald bereit, Frau? Oh, ich werde ungeduldig, oh, ich werde ungeduldig! . . .«

»Nein, nein, mein Gemahl, ich muß noch mein schönstes Halstuch umlegen, das ich jemals umgelegt habe und das ich jemals umlegen werde. «

Poch, poch, an der Tür.

»Wer da?«

»Die Brüder von Madame. Wir kommen, um Madame zu holen.«

»Madame ist noch dabei, sich anzukleiden, um auf Reisen zu gehen.« Aber sie wußten wohl, daß das nicht wahr war: der Brief war ja gekommen.

Und dann, danach, öffneten sie die Tür.

Unterwegs hatten sie ein großes Faß bestellt. Dann hatten sie große Nägel in dem Faß festmachen lassen. Da haben sie Blaubart genommen, dann haben sie ihn in dieses Faß gesteckt. Sie haben ihn die Bouillatrie hinunter durch die Felsen in den Fluß rollen lassen. Und die Nägel drangen überall in seinen Körper. Er schrie immer nur:

Bouillatrie, Bouillatrie, rette mir das Leben.
Du wirst dein Leben lang reich sein!
Er ist in den Fluß gerollt.
Tri, tri, tri, mein kleines Märchen ist zu Ende.
Ich bin auf mein kleines graues Pferd gestiegen
und bin bis hierher gekommen.
(Variante: und bin bis nach Pagerie gekommen.)


Blaubart (Zweite Version)

Es war einmal ein Mann, der hieß Blaubart. Er hatte sieben Frauen gehabt und hatte sie alle getötet. Dann hatte er sich wieder verheiratet. Eines Tages ist er auf Reisen gegangen und er hat alle Schlüssel seiner Frau gegeben und ihr erlaubt, alle zu benutzen, außer einem kleinen Schlüssel. Er hat ihr streng verboten, in das Zimmer einzutreten, das dieser kleine Schlüssel öffnete.



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Eines Tages gab es eine Gesellschaft. Als sie da an dem Zimmer vorbeikamen, wollte die Schwester der Frau des Blaubart dort eintreten: »Hier dürfen wir nicht hinein, Schwester!«

Sie wollte eintreten:

»Aber wenn mein Gemahl das wüßte, es würde ihm nicht recht sein, daß ich hier hineingehe.«

Sie ist trotzdem hineingegangen. Es war Blut auf der Erde: der Schlüssel ist in das Blut gefallen. Und dann hätten sie ihn gern gereinigt: sie haben gerieben und gerieben, aber sie haben ihn niemals so wiederbekommen können.

Ihr Gemahl ist angekommen, sie gibt ihm die Schlüssel: »Gib mir diesen Schlüssel. Du gibst mir ja diesen Schlüssel dort nicht.« Sie wollte ihn ihm nicht geben, aber sie ist dazu gezwungen worden.

Als er diesen Schlüssel, der voll Blut war, sah, hat er ihr gesagt, sie solle hinaufgehen, sich ankleiden, alles nehmen, was sie an Schönstem besitze.

Sie ist hinaufgegangen. Er war unten, und er rief:


1. Strophe:

»Frau, bist du bereit dort oben?«

Er hatte ein großes Messer und sagte:

»Wetze stumpfes Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden? Frau, bist du bereit dort oben?«

»Oh nein, mein Gemahl, ich muß noch mein schönstes Hemd anziehen, das ich jemals angezogen habe, das ich jemals anziehen werde.« Sie hatte eine kleine Hündin am Fenster und sagte:

»Sarène, Sarène, siehst du nichts kommen auf dem Weg von Paris?« »Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier.«


2. Strophe:

Er war immer noch unten mit seinem Messer, und er rief ihr zu:

»Frau, bist du dort oben bereit? Wetze stumpfes Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden. Frau, bist du bereit dort oben?«

»Oh nein, mein Gemahl, ich muß noch meine schönsten Strümpfe anziehen, die ich jemals angezogen habe, die ich jemals anziehen werde.«

Und sie sagte immer wieder:

»Sarène, Sarène, siehst du nichts kommen auf dem Weg von Paris?«

»Oh nein, Madame, ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier.«



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3. Strophe:

»Frau, bist du bereit dort oben? Wetze stumpfes Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden. Frau, bist du bereit dort oben?«

»Oh nein, mein Gemahl, ich muß noch meinen schönsten Unterrock anziehen, den ich jemals angezogen habe, den ich jemals anziehen werde.«

Und sie sagte immer wieder zu ihrer kleinen Hündin:

»Sarene, Sarène, siehst du nichts kommen von Paris?«

»Oh nein, Madame, ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier.«


4. Strophe:

Da rief er ihr noch einmal zu:

»Frau, bist du bereit dort oben? Wetze stumpfes Messer, um meiner Frau den Hals abzuschneiden. Frau, bist du bereit dort oben?«

»Oh nein, mein Gemahl, ich muß noch mein schönstes Kleid anziehen, das ich jemals angezogen habe, das ich jemals anziehen werde.«

Und sie sagte zu ihrer kleinen Hündin:

»Sarène, Sarène, siehst du nichts kommen auf dem Weg von Paris?«

»Oh ja, Madame, ich sehe einen Wagen, der an der Pforte ankommt.«

Und er war hinaufgestiegen, um ihr den Hals abzuschneiden.

Aber die Brüder, die die Frau des Blaubart hatte holen lassen, sie sind angekommen. Sie haben einen Augenblick miteinander geredet. Dann haben sie Blaubart in ein Faß gesteckt, sie haben drinnen rundherum Nägel eingeschlagen, und dann haben sie ihn den Abhang der Bouillatrie herunterrollen lassen.

Und er rief immer wieder: »Bouillatrie, Bouillatrie, rette mir das Leben!«


Der kleine Däumling (Erste Version)

Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Kinder: ein Mädchen und einen kleinen Jungen. Das Mädchen war sehr kräftig, der kleine Junge war ganz, ganz klein. Man hatte ihn den kleinen Däumling genannt.

Eines Tages sagte die Mutter zu ihrer Tochter: »Du wirst jetzt die Tiere aufs Feld führen.«

Das Mädchen antwortet: »Das will ich gerne tun, aber ich will meinen kleinen Bruder mit mir nehmen.«

»Oh nein«, sagte sie, »das mußt du nicht tun. Es wird Regen geben, und du könntest ihn naß werden lassen.«



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»Doch, doch! Ich werde gut für ihn sorgen, und wenn Regen kommt, werde ich ihn sicher nach Hause zurückbringen.«

So hat das Mädchen den Däumling mitgenommen.

Gerade als sie auf dem Feld angekommen sind,. . . da kam der Regen. Der kleine Däumling hatte nicht mit seiner Schwester nach Hause zurückgehen wollen. Nebenan war ein Kohlrabifeld. Er hat gesagt: »Ich will mich unter einem Kohlrabiblatt verstecken: ich werde nicht naß.«

Und das Mädchen, es hat gemacht, daß es nach Hause kam.

Ja, aber währenddessen sind die Kühe in den Kohiraben gewesen, sie haben den Däumling gefressen.

Wahrhaftig, da kommt das Mädchen zu Hause an, und seine Mutter fragt es: »Was hast du mit deinem Bruder gemacht?«

»Oh«, sagte es, »ich habe ihn dagelassen. Er hat nicht mitkommen wollen. Er hat sich unter einem Kohlrabiblatt verkrochen; da ist er gut aufgehoben! Er muß nur dort sitzen bleiben.«

»Oh Gott, was hast du da angestellt! Die Kühe werden kommen und die Kohlrabiblätter fressen, und sie werden deinem kleinen Bruder Leid antun!«(Er war ganz, ganz klein. Deswegen hatte man ihn ja den kleinen Däumling genannt.)

Die Mutter läuft so schnell sie kann und kommt auf das Feld. Sie ruft: »Oh, kleiner Däumling! . . . Oh, kleiner Däumling!«

»Ich bin im Bauch des Ochsen Guivet! . . Ich bin im Bauch des Ochsen Guivet!«

»Oh, was für ein Unglück habe ich heute, was für ein Unglück! Was soll ich tun, was soll ich tun, um den kleinen Däumling wiederzubekommen?. . . Auf! Ich muß den Metzger holen und dann den Ochsen schlachten lassen! «

So hat der Metzger den Ochsen getötet. Sie haben überall gesucht, überall: sie haben den Däumling nicht gefunden. Dann hat der Metzger die Eingeweide genommen: er hat sie auf einen Weg geworfen, auf einen Hohlweg nahe beim Schlachthof.

Wahrhaftig, da kam in der Nacht ein Wolf daher: er hat das Eingeweide gefressen und auch den Däumling verschlungen. Und der Wolf ist überall umhergestreift; aber er konnte nichts mehr fangen: sobald er irgendwo hinkam, um Ziegen zu fressen oder um Lämmchen zu fressen, rief der kleine Däumling in seinem Bauch:

»Jagt den Wolf davon,
Schöne Hirtinnen,
Jagt den Wolf davon,
Der zu euch kommt!«


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So kam es, daß der Wolf immer magerer wurde. Er konnte nichts mehr fangen! Eines Tages hat er den Fuchs getroffen. Der Fuchs fragte ihn: »Machst du gute Geschäfte?«

»Oh, mein Lieber, laß mich doch in Ruhe«, sagte er. »Ich komme um vor Hunger! Ich bin untröstlich: Ich weiß nicht, was ich in meinem Bauch habe; sobald ich irgendwo hinkomme, um irgend etwas zu fangen, dann ruft es:

>Jagt den Wolf davon,
Schöne Hirtinnen,
Jagt den Wolf davon,
Der zu euch kommt!<

Darum hetzen die Hirtinnen die Hunde auf mich, und dann fallen sie mit Stockschlägen über mich her! Und mein Lieber, es bleibt mir nichts übrig, als zu sehen, daß ich fortkomme!«

»Oh«, sagt der Fuchs, »wie dumm du bist! Warte nur«, sagt er, »ich werde dich bald davon befreien. Du mußt mit mir kommen: Ich lasse dich zwischen zwei ganz eng zusammenstehenden Zaunpfosten hindurchgehen. Ich verspreche dir, ich werde schon aus dir herausbringen, was du im Bauch hast!«

Sie haben sich also auf den Weg gemacht. Er hat ihn durch einen Zaun kriechen lassen: er stieß ihn von hinten, lief auf die andere Seite und zog ihn am Hals! Er hat ihn beinahe ersticken lassen, so war der andere eingezwängt! (Das kann man wirklich glauben!) Schließlich ist es ihm gelungen, den kleinen Däumling herauszubringen...

So ist der kleine Däumling also herausgekommen. Neben dem Zaun lag ein großer Stein. Er hat sich ganz schnell unter diesem großen Stein versteckt. Der Wolf und der Fuchs hatten keine Zeit, ihn zu bemerken, dann sind sie fortgerannt.

Einen Augenblick später kommen zwei Diebe, die sich ausgerechnet auf diesen großen Stein gesetzt haben, um ihr Geld zu zählen. Derjenige, der die Geldbörse hatte, machte drei Teile anstatt zwei. Er sagte:

»Das ist mein Teil, das ist dein Teil, und das ist mein Teil!«

Aber der andere sagte:

»So geht es nicht!«

»Wie? Warum geht das nicht? Schau, das ist mein Teil, das ist dein Teil, und das ist mein Teil!«

»Aber«, sagt er, »dann hast du ja zwei Teile, und ich habe nur einen!« Nun, ihr werdet verstehen, das langweilte den kleinen Däumling, der alles mit anhörte. Als der andere noch einmal wiederholte: »Das ist mein Teil, das ist dein Teil, und das ist mein Teil«, hat er gerufen:



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»Und . . mein. . . Teil.

Oh je! Die Diebe haben Angst bekommen: sie haben gelaubt, daß da jemand gekommen sei, um sie festzunehmen. Sie haben alles zurückgelassen: Sie haben sich davongemacht, wie Diebe, die sie ja nun einmal waren. Es sah aus, als ob der Teufel sie entführte.

Dann ist der kleine Däumling unter seinem Stein hervorgekrochen. Er hat das ganze Geld in seine Schürze gesammelt und hat es seiner Mutter gebracht.

Und das wär's!


Der kleine Däumling (Zweite Version)

Es war einmal eine Frau, die keine Kinder hatte. Sie wünschte sich sehr welche. Eines Tages hat sie sich gesagt:

»Wenn ich wenigstens eins hätte, das so groß wie der Daumen wäre.« Sie wäre zufrieden gewesen.

Und sie hat eins bekommen, das so groß wie der Daumen war. Sie war sehr zufrieden!

Dann hat sie gesagt:

»Wenn ich jetzt Brot backen muß, wenn ich meine Kühe hüten muß, oder auch wenn ich meine Hühner oder meine Schweine zu hüten habe, so werde ich sie von dem kleinen Däumling hüten lassen.« Man muß wirklich sagen, daß sie zufrieden war!

Dann schickte sie ihn eines Tages aus, um die Kühe zu hüten . . und das war in der Nähe eines Kohirabifeldes. Dann hat es angefangen zu regnen. Dann ist der kleine Däumling, weil er sonst keinen Unterschlupf hatte, für eine Weile auf das Kohlrabifeld gegangen, und dann sind die Kühe, die keinen Hirten mehr hatten, auch dorthin gekommen — und da sich der kleine Däumling unter eine hohle Kohlrabe gesetzt hatte, haben die Kühe ihn gefressen.

Dann ist seine Mutter, da sie ihn nicht zurückkommen sah, losgegangen, um ihn zu suchen. Er antwortete ihr aus dem Bauch der Kuli, aber es waren fünf oder sechs Kühe da, und er sagte immer wieder: »Ich bin im Bauch der weißen Kuh!«

Dann hat die Mutter die weiße Kuh schlachten lassen, und sie haben nichts gefunden. Dann rief er immer wieder:

»Ich bin in dem Bauch der roten Kuh! . .

Und sie haben alle ihre Kühe getötet. (Er war in der letzten.)



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Dann mußten sie natürlich das ganze Fleisch verkaufen oder doch weggeben. Und alle haben sich davon geholt: einige mit Kübeln, andere mit Tragkörben. Unter ihnen war ein Alter, der wirklich einen großen Tragkorb voll mitnahm. Er mußte einen Hügel hinansteigen. Und als er dann die halbe Anhöhe erreicht hatte, schnaufte er, er war erschöpft. Er war es, der den kleinen Däumling mit sich führte. Und der kleine Däumling, der sich in dem Tragkorb befand und der sein Schnaufen hörte, rief ihm zu:

»Wenn du den Hügel hinansteigst, kommst du außer Atem!« Da suchte der Alte in seinem Fleisch, ob er nicht irgendetwas findet. Er findet nichts. Er beginnt von neuem, den Hügel hinanzusteigen. Und da fängt es wieder an: »Wenn du den Hügel hinansteigst, kommst du außer Atem!«

Und so geht es immer weiter

Dann hat der Alte Angst bekommen: Er hat den Tragkorb losgelassen und das Fleisch liegengelassen ... und ist weitergegangen. Er hatte sehr große Angst.

Dann ist der Wolf vorbeigekommen: Er hat das Fleisch gefressen, und er hat den kleinen Däumling gefressen. Aber zwei oder drei Tage später hatte der Wolf Hunger, es hatte ihm den Magen erweitert, und er hatte Lust, noch mehr Fleisch zu fressen.

Er ist zu den Hirten gegangen, um Schafe zu packen. In diesem Augenblick, gerade als er bereit war, die Schafe anzugreifen, sagte der kleine Däumling, der in dem Bauch des Wolfes war:

»Paßt auf, Hirtinnen!

Der Wolf will eure Lämmer fressen!«

Es war der kleine Däumling, der da so in dem Bauch des Wolfes schrie. So ist es in dem Märchen!

Die Hirtinnen machten sich daran, den Wolf mit Steinwürfen, mit Spindel- und Stockschlägen fortzutreiben. Dann konnte er nicht mehr länger leben, er war am Ende: Er kam vor Hunger um! Dann trifft er eines Tages seinen Gevatter, den Fuchs. Der Wolf sagt zu ihm:

»Mein lieber Freund, ich kann keine Lämmer mehr fangen. Ich bin tot vor Hunger.«

Dann erzählt er ihm, was in seinem Bauch vor sich geht, daß etwas Lärm macht und immer sagt:

»Paßt auf, Hirtinnen!

Der Wolf will eure Lämmer fressen!«

»Und dann schlägt man mich bunt und blau!«



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Da sagt der Fuchs zu ihm:

»Mein Lieber, ich werde dir ein Mittel sagen.«

Und der Fuchs sagt zu ihm:

»Du wirst jetzt zu einer bestimmten Stelle gehen: dort stehen zwei Büsche nahe beieinander. Zwischen ihnen gehst du hindurch und immer wieder hindurch, bis dir das Fell zerschunden ist.«

Er geht zwischen den beiden Büschen hindurch, aber es hilft rein gar nichts. Er hat wieder den Fuchs getroffen, und er hat ihm gesagt, daß es rein gar nichts geholfen habe.

»Nun«, sagte der Fuchs, »ich werde dir ein anderes Mittel sagen.« Und er sagt zu ihm:

»Du gehst jetzt zu einem Feld, in dem ein Tümpel ist; du setzt dich mitten hinein, schön mit dem Hinterteil hinein . . . Und dann wartest du bis zum nächsten Morgen. Ich werde nach dir schauen.«

Dann kommt der Fuchs am nächsten Morgen vorbei. Er sagt zu ihm: »Nun, mein Alter, jetzt bist du wirklich geheilt, du bist zufrieden. Du läßt deine Zähne sehen: du lachst!« Es war Winter. Der Wolf war in dem Tümpel erfroren, tot. So war es ihm ergangen. Und der kleine Däumling war befreit. Und seitdem hat man ihn nicht mehr gesehen — weil es ein Märchen ist.

Und jetzt ist's zu Ende!


Die Feen

Es war einmal eine Witwe, die zwei Töchter hatte. Die Älteste glich ihr so sehr an Gemütsart und Gesicht, daß jedermann glaubte, er sähe die Mutter vor sich. Beide waren so widerwärtig und so stolz, daß man nicht mit ihnen zusammen leben konnte. Die Jüngste dagegen war das getreue Abbild ihres Vaters, was Güte und Sanftmut betraf, und obendrein war sie die schönste Jungfrau, die man hätte finden können. Da man natürlicherweise immer seinesgleichen liebt, so war die Mutter ganz versessen auf ihre älteste Tochter, während sie gleichzeitig eine heftige Abneigung gegen die jüngste empfand. Sie ließ sie in der Küche essen und ohne Unterlaß arbeiten. Unter anderm mußte das arme Kind zweimal am Tage zu einem Brunnen gehen, der eine gute halbe Meile vom Hause entfernt war, und Wasser schöpfen, dessen es einen ganzen Krug voll heimtragen mußte. Eines Tages, da sie bei der Quelle stand, kam eine arme Frau zu ihr, die sie um einen Schluck Wasser bat. »Gern, liebe Mutter!« sagte die schöne Jungfrau, schöpfte sogleich Wasser aus der reinsten Stelle des Brunnen und reichte es der Alten, indem sie dabei



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beständig den Krug hielt, damit jene bequemer trinken könne. Als die gute Frau getrunken hatte, sprach sie zu ihr: »Du bist so schön, so gut und brav, daß ich mich nicht enthalten kann, dir eine Gabe zu verleihen.« Sie war nämlich eine Fee, welche die Gestalt einer Bäuerin angenommen hatte, um zu erforschen, wie artig das Mädchen eigentlich sei. »Ich gebe dir zum Geschenk«, fuhr die Fee fort, »daß bei jedem Worte, daß du redest, aus deinem Munde eine Blume oder ein Edelstein hervorgeht.«

Als das Mädchen heimkam, schnaubte die Mutter es an, weil es so spät vom Brunnen heimkomme. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Mutter«, sagte das arme Kind, »daß ich mich solange versäumt habe!«Und während sie diese Worte sprach, traten ihr zwei Rosen, zwei Perlen und zwei große Diamanten aus dem Munde. »Was sehe ich da?« rief ihre Mutter höchst erstaunt, »ich glaube, Perlen und Diamanten kommen ihr aus dem Munde, woher ward dir das, liebe Tochter?«(es war das erste Mal, daß sie ihr Kind »liebe Tochter«anredete). Das arme Kind erzählte ihr arglos alles, was ihm zugestoßen war, nicht ohne dabei eine unzählbare Menge von Diamanten von sich zu geben. »Wahrhaftig«, sagte die Mutter, »da muß ich meine Älteste hinschicken. Du, Franzl, sieh, was aus dem Munde deiner Schwester hervorgeht, wenn sie spricht. Würde es dich nicht froh machen, die gleiche Gabe zu erhalten? Du brauchst nur Wasser aus der Quelle zu schöpfen, und wenn eine arme Frau dich um einen Trunk bittet, so mußt du ihr hübsch artig das Wasser reichen.« —»Das wäre mir schön genug«, antwortete jene trotzig, »daß ich an die Quelle ginge!« —»Ich will aber, daß du hingehst«, sagte die Mutter, »und zwar auf der Stelle.« Die Böse ging also unter beständigem Brummen hin und nahm dazu das schönste Silbergefäß, das sich im Hause fand.

Kaum war sie am Brunnen, so sah sie eine prächtig gekleidete Dame aus dem Walde treten, die sich von ihr einen Trunk erbat. Es war die nämliche Fee, die sich diesmal in das Äußere und in die Gewänder einer Prinzessin gehüllt hatte, um zu erfahren, wie unartig das Mädchen eigentlich sei. »Bin ich hierhergekommen«, sagte die Stolze trotzig, »um Euch zu trinken zu geben? Sicher habe ich mein Silbergefäß ausgerechnet dazu mitgebracht, um der gnädigen Frau Wasser zu reichen. Ich bin der Meinung, daß Ihr Euch selber das Wasser schöpfen könnt, wenn Euch dürstet.« —»Du bist nicht artig«, erwiderte die Fee, ohne sich dabei zu erzürnen, »nun gut, da du so wenig gefällig bist, gebe ich dir als Geschenk, daß bei jedem Wort, daß du aussprichst, eine Schlange oder eine Kröte aus deinem Munde kommt.«



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Sobald ihre Mutter sie bemerkte, rief sie ihr zu: »Nun, mein Kind?« »Nun, liebe Mutter?« antwortete ihr die Böse und warf dabei zwei Vipern und zwei Kröten aus. »O Himmel«, rief die Mutter, »was seh' ich da! Aber ihre Schwester ist schuld daran, sie soll's vergelten!« Und sogleich lief sie hin, um die Jüngste zu schlagen. Das arme Kind entfloh und rettete sich in den nahen Wald. Der Königssohn, der gerade vom Jagen heimkam, begegnete ihr, und als er sah, wie schön sie war, fragte er sie, was sie da so allein mache und warum sie weine. »Ach, mein Herr, meine Mutter hat mich von Hause vertrieben!« Der Königssohn bemerkte, daß aus ihrem Munde fünf bis sechs Perlen und ebenso viele Diamanten hervorgingen, und bat sie, ihm zu sagen, woher ihr dies käme. Darauf erzählte sie ihm ihr ganzes Abenteuer. Den Königssohn ergriff Liebe zu ihr, und er bedachte, daß eine solche Gabe mehr wert sei als alles, was man einer andern als Brautschatz mitgeben könne; er geleitete sie in das Schloß seines königlichen Vaters, wo er sich mit ihr vermählte. Was die Schwester anlangt, so machte sie sich dermaßen verhaßt, daß ihre eigene Mutter sie aus dem Hause jagte, und nachdem die Unselige lange umhergeirrt war, ohne daß sich jemand gefunden hätte, der sie aufnehmen wollte, zog sie sich in einen Waldwinkel zurück, wo sie elendiglich umkam.


Der blaue Vogel

Es war einmal ein König, der sehr reich war an Land und Geld. Als seine Frau starb, war er untröstlich. Er schloß sich eine ganze Woche lang in ein kleines Kabinett ein, wo er mit dem Kopf gegen die Mauern rannte; dermaßen hatte sein Schmerz ihn von Sinnen gebracht. Man fürchtete, er möge sich umbringen, und legte Matratzen zwischen das Mauerwerk und die Wandbehänge. Alle seine Untertanen gingen hin, um ihn nach Kräften in seiner Trauer zu trösten. Die einen redeten von ernsthaften und wichtigen Dingen, die anderen von anregenden und sogar von erfreulichen, aber all das machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn, er hörte kaum, was man zu ihm sagte. Endlich erschien eine Dame bei ihm, die ganz von schwarzen Kreppstoffen und -schleiern bedeckt war und dermaßen weinte und schluchzte, daß er davon ganz überrascht war. Sie sagte ihm, sie habe sich nicht wie die andern vorgenommen, seinen Schmerz zu vermindern, sie komme vielmehr, um ihn zu vergrößern, denn es gäbe nichts Natürlicheres als die Trauer um eine gute Gattin. Sie selbst hätte den besten aller Gatten verloren



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und wolle ihn beweinen, solange sie Augen im Kopfe habe. Darauf verdoppelte sie ihr Wehklagen, und der König begann, ihrem Beispiel folgend, gleichfalls zu schluchzen. Er empfing die Dame besser als alle andern Besucher, er unterhielt sie mit den edlen Eigenschaften der Verschiedenen, und sie überbot ihn mit denen ihres Verblichenen. Sie trieb es so lange, bis sie nicht mehr wußte, was sie über ihren Schmerz reden sollte. Als die schlaue Witwe bemerkte, daß das Thema fast erschöpft sei, hob sie ihren Schleier ein wenig, und der in Schmerz versunkene König labte seine Augen mit dem Anblick dieser armen Trauernden, die ihre mit langen schwarzen Wimpern umränderten großen blauen Augen nach allen Seiten drehte und wendete. Ihre Gesichtsfarbe war schon ein wenig verblüht.

Der König betrachtete sie aufmerksam. Schließlich sprach er immer weniger von seiner Frau und zuletzt überhaupt nicht mehr. Die Witwe redete davon, sie wolle ewig ihren Gatten beweinen, der König bat sie, ihren Schmerz nicht zu verewigen, und zuletzt war alle Welt sehr erstaunt, als er sie heiratete und ihr Schwarz sich in Grün und rosa verwandelte. Häufig genügt es, die Schwäche eines Menschen zu kennen, um ganz über ihn verfügen zu können.

Der König hatte nur eine Tochter erster Ehe gehabt, die als das achte Wunder der Welt galt. Sie hieß Blumenschön, weil sie frisch, jung und schön war. Man sah an ihr keine prächtigen Kleider, vielmehr liebte sie schlichte Hauskleider und Blumengewinde, die in der Tat einen prächtigen Eindruck machten, wenn sie auf ihren schönen Haaren thronten. Sie war fünfzehn Jahre alt, als der König sich wieder verheiratete. Die neue Königin ließ ihre Tochter holen, die bei ihrer Patin, der Fee Susio, aufgezogen worden war, aber sie war davon nicht schöner noch anmutiger geworden: Susios Mühe war bei ihr vergeblich gewesen, aber trotzdem liebte sie sie zärtlich. Sie hieß Forellchen, denn ihr Gesicht hatte rote Flecken wie eine Forelle. Ihre schwarzen Haare waren so fettig und filzig, daß man sie nicht berühren konnte, und ihre gelbe Haut schwitzte eine Art von Öl aus. Dennoch liebte sie die Königin bis zum Wahnsinn, und sie redete von nichts als von ihrem lieben Forellchen, und da Blumenschön alle möglichen Vorzüge vor ihr besaß, geriet sie in helle Verzweiflung.

Sie erdachte alle möglichen Mittel, jene beim König anzuschwärzen, und kein Tag verging, ohne daß die Königin und Forellchen Blumenschön irgendeinen Streich spielten. Die Prinzessin war sanft und geistreich und suchte über diese Unannehmlichkeiten hinwegzukommen. Eines Tages meinte der König, daß Blumenschön und Forellchen groß



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genug seien, um sich zu verheiraten, und den ersten besten Prinzen, der an den Hof käme, müsse man einer von beiden zum Manne geben. »Ich bin der Ansicht«, sagte die Königin, »daß meine Tochter die erste ist, die in Betracht kommt. Sie ist älter als die deinige, und da sie tausendmal liebenswürdiger ist, gibt es gar kein Bedenken.« Der König liebte keinen Streit und sagte, er überlasse alles ihr.

Einige Zeit darauf erfuhr man, daß der König Reizvoll ankommen würde. Nie gab es einen galanteren und prachtliebenderen Fürsten, und sein Geist wie sein Körper entsprach seinem Namen. Als die Königin diese Neuigkeit erfuhr, sandte sie nach allen Stickern, Schneidern und sonstigen Handwerkern, um Forellchen auszustaffieren, sie bat aber den König, daß Blumenschön nichts Neues erhalte; sie bestach ferner ihre Hofdame. daß sie Blumenschöns sämtliche Gewänder, Edelsteine und Kopfbedeckungen am gleichen Tage entwendete, an dem Reizvoll anlangte, so daß diese, als sie sich schmücken wollte, nicht ein einziges Band mehr vorfand. Sie merkte wohl, wer ihr dies angetan habe, und sandte zu den Händlern, um Stoffe zu erhalten; aber jene erwiderten, daß die Königin ihnen verboten habe, solche abzugeben. Sie blieb also in einem recht schmutzigen Kleid und schämte sich derart, daß sie in einer Ecke des Saales Platz nahm, als Reizvoll eintraf.

Die Königin empfing ihn mit großem Prunk, sie stellte ihm ihre Tochter vor, die wie die Sonne glänzte und doch in all ihrem Schmuck noch häßlicher war als gewöhnlich. Der König wandte seine Augen von ihr ab, und die Königin wollte sich einreden, daß sie ihm zu gut gefalle und er fürchte, sich festzulegen. Sie brachte daher Forellchen beständig in seine Nähe. Er fragte, ob nicht noch eine andere Prinzessin mit Namen Blumenschön da sei. »Ja«, sagte Forellchen und wies mit dem Finger nach ihr, »da versteckt sie sich, weil sie nicht artig ist.« Blumenschön errötete und wurde dadurch so schön, daß der König Reizvoll ganz geblendet wurde. Er erhob sich rasch und machte der Prinzessin eine tiefe Verbeugung:

»Mein Fräulein«, sagte er, »Eure unvergleichliche Schönheit schmückt Euch so, daß Ihr keiner fremden Hilfe mehr bedürft!«

»Mein Herr«, erwiderte sie, »ich gestehe, daß ich es wenig gewöhnt bin, ein so unsauberes Kleid zu tragen wie dieses, und Ihr würdet mich zu Dank verpflichtet haben, wenn Ihr mich nicht beachtet hättet.«

»Es wäre unmöglich«, rief Reizvoll, »daß eine so wunderschöne Prinzessin sich irgendwo aufhalten könnte, ohne daß sie meine Augen von allem andern ablenken würde!«

»Ah!« sagte die Königin erbost, »ich vergeude meine Zeit damit, Euch



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zuzuhören, glaubt mir, mein Herr, Blumenschön ist schon hinreichend eitel, man darf ihr nicht soviel Schmeicheleien sagen.«

Der König Reizvoll fand bald heraus, aus welchem Grunde die Königin so redete, aber da er nicht gesonnen war, sich Gewalt anzutun, so zeigte er seine Bewunderung für Blumenschön ganz offen und unverhüllt und unterhielt sich drei Stunden hintereinander mit ihr.

Die Königin war verzweifelt und Forellchen untröstlich, nicht mehr den Vorzug vor Blumenschön zu haben; beide beklagten sich beim König und bestimmten ihn, Blumenschön in einen Turm zu sperren, wo sie den König Reizvoll nicht mehr sprechen könne. Und wirklich wurde jene, sobald sie auf ihr Zimmer zurückgekehrt war, von vier maskierten Männern oben auf den Turm gebracht, wo sie auf dem Gipfel der Trostlosigkeit zurückblieb, denn sie sah wohl, daß man sie nur deshalb so behandelte, weil man sie verhindern wollte, dem Könige zu gefallen, der ihr seinerseits schon sehr gut gefiel und den sie gern zum Gatten gehabt hätte. Da dieser nichts von der Gewalttat erfuhr, wartete er stündlich mit Ungeduld darauf, die Prinzessin wiederzusehen, er wollte mit den Herren seines Ehrendienstes von ihr reden, aber auf Befehl der Königin sagten diese ihm alles erdenkbar Schlechte über sie: sie wäre eitel, wankelmütig und launisch und quäle ihre Freundinnen und ihre Bedienung; man könnte nicht unsauberer sein als sie, und ihr Geiz ginge so weit, daß sie lieber wie ein Hirtenmädchen gekleidet wäre, als daß sie sich neue Brokatstoffe kaufe. Bei jeder Einzelheit litt Reizvoll und fühlte Zornesregungen, die er kaum bändigen konnte.

>Nein<, sagte er zu sich, >es ist undenkbar, daß der Himmel eine so häßliche Seele in dieses Meisterwerk der Natur gelegt haben könne, ich gebe zu, daß sie nicht sauber angezogen war, als ich sie sah, aber ihre Scham bewies, daß sie es nicht gewohnt war, sich so zu sehen. Wie, sie wäre schlecht mit diesem bezaubernden Ausdruck von Bescheidenheit und Sanftmut! Das will mir nicht in den Kopf. Eher glaube ich, daß die Königin sie so verleumdet; man ist nicht umsonst Stiefmutter; die Prinzessin Forellchen ist eine so garstige Kreatur, daß es nicht verwunderlich wäre, wenn sie das vollkommenste aller Geschöpfe beneiden würde.<

Während er solches bedachte, merkten die ihn umgebenden Höflinge wohl an seinen Mienen, daß sie ihm keinen Dienst erwiesen hatten, als sie schlecht von Blumenschön redeten, und einer von ihnen, der besonders gewandt war, wechselte die Tonart; um die Gesinnung des Fürsten kennenzulernen, begann er allerlei Wunderbares von Blumenschön zu



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erzählen. Bei diesen Worten erwachte Reizvoll wie aus einem Traum, griff hastig in das Gespräch ein und Freude malte sich auf seinen Zügen: o Liebe, Liebe, wie schwer bist du zu verbergen!

Die Königin war ungeduldig, zu erfahren, wie der Eindruck auf den Fürsten gewesen wäre, sie schickte nach ihren Vertrauten und verbrachte die Nacht damit, sie auszufragen, und alles, was sie berichteten, bestärkte sie in ihrer Ansicht, daß der Fürst nur Blumenschön liebe. Aber was soll ich von der Schwermut dieser Prinzessin erzählen? Sie lag im Verlies des schrecklichen Turmes, in den sie die vermummten Männer gebracht hatten, auf dem Boden. »Weniger wäre ich zu beklagen«, sagte sie, »wenn man mich hierhergebracht hätte, ehe ich diesen liebenswürdigen König sah. Die Erinnerung an ihn vermehrt meine Qual; ich bin sicher, daß die Königin nur deshalb so grausam mit mir verfährt, um mich zu hindern, ihn weiterhin zu sehen. Weh, daß das bißchen Schönheit, das mir der Himmel verlieh, auch meine Seelenruhe kostet!« Sie weinte so bitterlich, daß ihre erbittertste Feindin sich ihrer erbarmt hätte, hätte sie ihren Schmerz gesehen.

Die Königin überhäufte indes Reizvoll mit kostbaren Geschenken und machte ihn sogar zum Ritter des Liebesordens, den sie eigens zu diesem Zweck gestiftet hatte.

Reizvoll erkundigte sich nach Blumenschön und erfuhr, daß der Vater ihr verboten habe, während seiner Anwesenheit ihr Zimmer zu verlassen. Er verabredete vermittels einer Hofdame eine nächtliche Zusammenkunft mit Blumenschön, aber die Treulose hatte nichts Eiligeres zu tun, als alles der Königin und Forellchen wiederzuerzählen%und diese kam auf den Gedanken, Blumenschöns Platz am Fenster ihres Zimmers einzunehmen. Die Nacht war so dunkel, daß der König unmöglich den Betrug bemerken konnte. Er näherte sich also mit Gebärden unaussprechlicher Freude dem Fenster und sagte Forellchen all das, was er Blumenschön hatte sagen wollen, um sie von seiner Leidenschaft zu überzeugen. Forellchen nahm die Gelegenheit wahr und sagte ihm, sie sei das unglücklichste Wesen von der Welt, da sie eine so grausame Stiefmutter habe, und ihre Leiden würden nicht eher aufhören, bis Forellchen verheiratet sei. Der König versicherte sie, er wäre glücklich, wenn sie ihn zum Gatten wolle, und er wolle Herz und Krone mit ihr teilen. Darauf zog er seinen Ring vom Finger und steckte ihn an den Forellchens, indem er hinzufügte, dies sei das Pfand seiner ewigen Treue, sie solle ihm nur die Stunde nennen, zu der sie heimlich fliehen wollten. Die Königin erfuhr sogleich den günstigen Ausgang dieser Unterredung und erhoffte alles davon. Wirklich wurde der Tag verabredet,



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an dem der König erschien, um die Prinzessin in seine von fliegenden Kröten gezogene Kutsche aufzunehmen, die ihm ein befreundeter Zauberer gemacht hatte. Die Nacht war sehr dunkel, Forellchen schlüpfte geheimnisvoll durch ein Hinterpförtchen, und der König, der sie erwartete, nahm sie in seine Arme und schwur ihr hundertmal ewige Treue. Auf Wunsch der Prinzessin begaben sie sich zunächst zur Fee Susio. Während Reizvoll im Vorsaal des gläsernen Palastes wartete, bemerkte er auf einmal durch die durchsichtige Wand Forellchen, die mit der Fee redete.

»Was?«sagte er, »bin ich betrogen? Haben die Dämonen diese Feindin meiner Ruhe hierhergebracht? Will sie meine Hochzeit stören? Meine teure Blumenschön kommt nicht! Ihr Vater hat sie vielleicht verfolgt!« Er dachte an tausend Dinge, die ihn zur Verzweiflung brachten, aber es wurde noch schlimmer, als jene eintraten und Susio in entschiedenem Tone zu ihm sagte: »König Reizvoll, hier ist die Prinzessin Forellchen, der Ihr Euer Treueversprechen gegeben habt. Sie ist mein Patenkind, und ich wünsche, daß Ihr sie sofort heiratet.«

»Ich«, rief er, »ich sollte dieses kleine Ungeheuer heiraten? Ihr haltet mich für sehr fügsam, da Ihr mir einen solchen Vorschlag macht! Nichts habe ich ihr versprochen, und wenn sie das Gegenteil behauptet, so hat sie...«

»Nicht weiter!« unterbrach ihn Susio, »und seid nicht so kühn, es mir gegenüber an Respekt fehlen zu lassen!«Forellchen zeigte Reizvoll den Ring, und dieser merkte, daß er getäuscht worden war, er wollte fliehen, doch die Fee hielt ihn durch einen Zauber fest. Es war umsonst, daß ihn die Fee mit Sanftmut, Drohungen und Versprechungen bestürmte, daß Forellchen weinte, schrie, schluchzte, tobte und schmeichelte, vergeblich redete man zwanzig Tage lang ununterbrochen miteinander, ohne zu essen, zu trinken, zu schlafen und sich zu setzen. Endlich verlor die Fee die Geduld und befahl dem König, zwischen der Heirat mit Forellchen und siebenjähriger Verwünschung zu wählen. Es fiel ihm leicht, letzteres vorzuziehen, und von der Fee in einen blauen Vogel verwandelt, flog er durchs Fenster davon.

Forellchen aber kehrte zu ihrer Mutter zurück, und beide gingen zu Blumenschön, der sie die angebliche Verheiratung der Prinzessin mit dem Fürsten erzählten, und sie bekräftigten ihre Worte durch Vorweisen des Ringes. Blumenschön war vor Kummer dem Tode nahe. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und sich überlegte, welch schlechte Behandlung man ihr habe angedeihen lassen und wie nun alle Hoffnungen auf eine eheliche Verbindung mit dem König für sie geschwunden



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sei, da wurde ihr Schmerz so heftig, daß sie die ganze Nacht über weinte.

Indessen hatte der König Reizvoll, oder besser gesagt der blaue Vogel, unausgesetzt das Schloß umflogen, denn er glaubte, daß seine teure Prinzessin dort irgendwo eingeschlossen sein müsse, und wenn ihre Klagen schmerzlich waren, so waren es die seinigen nicht minder: er näherte sich den Fenstern, so gut er konnte, um in die Zimmer zu blicken, aber die Furcht, Forellchen möchte ihn entdecken und erkennen, hinderte ihn das zu tun, was er wollte.

»Es geht um mein Leben!« sagte er zu sich selber, »wenn diese bösen Frauen erfahren, wo ich bin, so werden sie sich rächen wollen.« Diese Erwägungen zwangen ihn, sich tagsüber vom Schlosse fernzuhalten, und in der Regel kam er nur in der Nacht und sang. Man hatte gegenüber dem Fenster von Blumenschöns Verliese eine Zypresse von außerordentlicher Höhe gepflanzt, und der blaue Vogel wiegte sich auf ihren Zweigen. Kaum saß er dort, als er eine klagende Stimme hörte: »Soll ich noch lange leiden«, sagte sie, »kommt nicht der Tod, mich zu erlösen? O grausame Königin, was tat ich dir, daß du mich in so furchtbarer Gefangenschaft hältst? Daß du mich, um mich zu strafen, zum Zeugen des Glückes machst, das deine unwürdige Tochter mit dem König Reizvoll genießt?«

Der blaue Vogel vernahm diese Worte, und je mehr er hörte, desto klarer wurde es ihm, daß es die liebenswürdige Blumenschön sei, die so redete.

Er sprach zu ihr: »Anbetungswürdige Blumenschön, Wunder unserer Tage! Warum wollt Ihr Euer Leben so bald schon enden? Es gibt ein Heilmittel für Euer Leiden!«

»Wie? Wer spendet mir so süßen Trost?«

»Ein unglücklicher König«, erwiderte der Vogel, »der Euch liebt und nie eine andere lieben wird als Euch.« Mit diesen Worten flog er ans Fenster. Blumenschön fürchtete sich zunächst vor dem seltsamen Vogel, der so verständig redete, wie wenn er ein Mensch wäre. »Darf ich Euch wiedersehen, Prinzessin, darf ich ein so vollkommenes Glück genießen, ohne vor Seligkeit zu vergehen?«

»Wer seid Ihr, reizvoller Vogel?« sagte die Prinzessin und streichelte ihn.

»Ihr habt meinen Namen genannt!« erwiderte der König.

»Was! der größte König der Welt! Was! der König Reizvoll wäre der kleine Vogel, den ich in meiner Hand halte?« sagte die Prinzessin.

»Wehe, liebe Blumenschön, es ist nur zu wahr«, entgegnete er, »und



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wenn etwas mich trösten kann, so ist es das, daß ich diese Strafe jener vorgezogen habe, auf die Gefühle verzichten zu müssen, die ich für Euch hege.«

»Für mich? Oh, ich weiß, daß Ihr Forellchen geheiratet habt, ich habe Euern Ring an ihrem Finger erkannt!«

Nun erfuhr sie vom Prinzen den wahren Sachverhalt. Blumenschön empfand ein so großes Vergnügen dabei, ihren Geliebten reden zu hören, daß sie alle Leiden ihrer Gefangenschaft vergaß. Wie tröstete sie ihn über sein Mißgeschick! Wie überzeugte sie ihn, daß sie nicht weniger für ihn tun wolle, als er für sie getan habe. Der Tag brach an, und die Mehrzahl der Höflinge hatte sich schon erhoben, als die Prinzessin und der blaue Vogel noch immer miteinander redeten. Sie trennten sich unter tausend Qualen, nachdem sie einander versprochen hatten, sich jede Nacht so zu unterhalten.

Zwei Jahre vergingen so, jede Nacht erschien der blaue Vogel vor dem Fenster von Blumenschöns Kerker, und mitunter brachte er ihr kostbare Geschenke in seinem Schnabel mit. Indessen bemühte sich die feindselige Königin, die Blumenschön so grausam in ihrem Gefängnis zurückhielt, vergeblich, Forellchen zu verheiraten. Sie schickte Gesandte an alle Fürsten, deren Namen sie wußte, um sie ihnen anzubieten, aber wenn diese angekommen waren, wies man sie schroff ab. »Wenn es sich um die Prinzessin Blumenschön handeln würde, wäret Ihr mit Freuden aufgenommen worden«, sagte man zu ihnen, »aber Forellchen mag Vestalin bleiben, ohne daß jemand dagegen Einspruch erhebt.«Auf diese Nachricht hin gerieten Mutter und Tochter in neuen Zorn gegen die unschuldige Prinzessin, die sie nun um so ärger quälten.

»Wie! Trotz ihrer Gefangenschaft steht uns diese Unverschämte im Wege!« sagten sie, »wie können wir ihr die bösen Streiche verzeihen, die sie uns spielt. Sie muß geheime Verbindungen mit dem Ausland unterhalten, jedenfalls ist sie eine Staatsverbrecherin, wir wollen sie zu überführen suchen!« Sie beendeten ihren Kriegsrat so spät, daß es schon um Mitternacht war, als sie beschlossen, auf den Turm zu steigen, um sie auszufragen. Sie stand mit dem blauen Vogel am Fenster, geschmückt mit den Edelsteinen, die er ihr gebracht hatte, und mit einem Gesichtsausdruck, der bei bekümmerten Leuten nicht angebracht ist. Ihr Zimmer und ihr Bett waren mit Blumen überstreut, und einige spanische Pastillen, die sie verbrannt hatte, verbreiteten einen angenehmen Duft. Blumenschön und der blaue Vogel sangen gerade zweistimmig. »Ah, mein Forellchen, wir sind betrogen!«rief die Königin, öffnete hastig



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die Tür und drängte sich ins Zimmer. Blumenschön schlug hurtig das Fenster zu, um dem blauen Vogel Zeit zu lassen, sich zu entfernen. Die beiden Weiber stürzten sich wie die Furien auf sie los. Lange disputierten sie über die Schmucksachen und die Wohlgerüche, die Blumenschön irgendwo gefunden haben wollte. Die Königin beschuldigte sie der Verschwörung und heimlicher Unterhaltungen zum Schaden des Staates, und schließlich legte man ihr eine Spionin ins Zimmer, die alle Handlungen der Prinzessin überwachen sollte. Aber tagsüber fand diese nicht den geringsten Grund zum Verdacht, und abends legte sie sich frühzeitig schlafen, da sie sich langweilte. Nun öffnete Blumenschön das Fenster und rief ihren blauen Vogel herbei. Aber die Schläferin hatte ein Geräusch gehört, sie horchte im stillen, dann suchte sie mit den Augen die Finsternis zu durchdringen und bemerkte schließlich im Mondschein den schönsten Vogel von der Welt, der mit der Prinzessin redete, sie liebkoste und schnäbelte; endlich verstand sie auch einige Worte ihrer Unterhaltung und verwunderte sich sehr, denn der blaue Vogel sprach wie ein Liebhaber, und die Prinzessin antwortete ihm zärtlich.

Am anderen Morgen erschien die Kerkermeisterin bei der Königin und berichtete ihr alles, was sie gesehen und gehört hatte. Die Königin schickte sogleich nach Forellchen und nach ihren Vertrauten; sie beratschlagten sich lange Zeit und kamen schließlich auf den Gedanken, daß der blaue Vogel der König Reizvoll sein müsse. »Welch ein Schimpf, mein Forellchen!« rief die Königin, »diese unverschämte Prinzessin, die ich so in Kummer wähnte, genoß in Ruhe die angenehme Unterhaltung unseres Undankbaren! Oh! Ich werde mich blutig rächen, man soll davon lange reden!« Die Königin schickte die Spionin in den Turm zurück und befahl ihr, keinen Argwohn und keine Neugier zur Schau zu tragen, vielmehr sich tiefer als gewöhnlich schlafend zu stellen. Diese legte sich also frühzeitig nieder und schnarchte aus Leibeskräften, indes die arme, getäuschte Prinzessin das kleine Fenster öffnete und ihren Vogel rief.

Aber sie lockte ihn die ganze Nacht vergebens, er erschien nicht, denn die böse Königin hatte Messer, Dolche, Klingen und Schwerter an die Zypresse binden lassen, und als er mit raschen Flügelschlägen kam, um sich darauf niederzulassen, zerschnitten ihm die Mordwaffen die Füße, er fiel auf andere, die ihm die Flügel zerfleischten, und endlich rettete er sich unter tausend Qualen zu dem hohlen Baume, wo er die Tage zu verbringen pflegte, eine lange Blutspur zurücklassend. Er kümmerte sich nicht um sein Leben, denn er war überzeugt, daß Blumenschön



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ihm diesen bösen Streich gespielt habe. Dieser unselige Gedanke drückte ihn dermaßen nieder, daß er zu sterben beschloß. Aber sein Freund, der Zauberer, war derart um ihn besorgt, daß er achtmal die ganze Erde umlief, um ihn zu suchen. Endlich fand er ihn in jenem hohlen Baum. Ein anderer als er wäre mehr bestürzt gewesen, aber ihm war kein Kunstgriff der Zauberei fremd, es kostete ihn nur wenige Worte, um das Blut zum Stehen zu bringen, und mit gewissen Waldkräutern, über die er einige Worte aus dem siebenten Buche Mosis murmelte, heilte er den König so vollkommen, als sei er nie verwundet gewesen.

Blumenschön klagte indes um ihren Vogel, während die beiden Weiber triumphierten. Aber bald änderte sich die Sachlage vollkommen. Der alte König starb, und die Königin maßte sich sogleich die Herrschaft an. Das Volk jedoch wollte ihre Regierung nicht erdulden, es schüttelte ihre Herrschaft ab, und die Großen des Reiches holten Blumenschön aus ihrem Turme und setzten ihr die Krone auf.

Unterdessen hatte der Zauberer die Fee Susio aufgesucht, um bei ihr für den blauen Vogel ein gutes Wort einzulegen. Diese versprach aber nur unter der Bedingung den Fluch rückgängig machen zu wollen, daß der König Forellchen heirate. Der blaue Vogel, der Blumenschön nun ebenso haßte, wie er sie zuvor geliebt hatte und sich überdies in einem Zustand völliger Apathie befand, erklärte sich einverstanden, doch ersuchte er, die Hochzeit noch um ein Jahr hinausschieben zu dürfen. Dies wurde ihm gewährt, und die Fee gab ihm seine menschliche Gestalt zurück.

Blumenschön aber hüllte sich in bäuerliche Kleider, verbarg ihr Gesicht unter ihren dichten Haarflechten, setzte einen breiten Strohhut auf, nahm einen Sack auf die Schulter und machte sich auf die Reise, bald zu Fuß, bald zu Roß, bald zur See, bald zu Lande und alles so schnell wie möglich. Sie wanderte und wanderte und überschritt schließlich mit Hilfe einer gütigen Fee ein Gebirge, das war ganz aus Elfenbein; jenseits desselben lag die Hauptstadt des Königreiches von ihrem Geliebten. Sogleich erkundigte sie sich nach ihm, und man erwiderte ihr: »Morgen wird er mit der Prinzessin Forellchen zum Gotteshause gehen, denn er hat endlich eingewilligt, sie zu heiraten.«

Am andern Morgen drängte sich Blumenschön mitten durch die zuschauende Menge Volks und stellte sich neben den Thron, so daß der König sie gleich bemerken mußte, und wirklich redete er sie an und fragte sie, was sie wolle: »Ich heiße Klein-Schmutzfink«, sagte sie, »und komme, Euch einige Raritäten zu verkaufen.« Bei diesen Worten



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kramte sie in ihrem Sack und zog die smaragdenen Armbänder hervor, die der blaue Vogel ihr ehedem gegeben hatte. Als der König diesen Schmuck erblickte, erinnerte er sich dessen, den er Blumenschön gegeben hatte; er erbleichte und seufzte und schwieg lange. Endlich fürchtete er, man möge seine trüben Gedanken bemerken, und sagte mit Anstrengung zu Forellchen: »Diese Armbänder sind, glaube ich, ebensoviel wert wie mein Königreich; ich dachte, es gäbe nur ein Paar davon auf der Welt, aber diese hier sind ganz dieselben.«

Forellchen stieg von ihrem Thron herab, wo sie gesessen hatte wie eine Auster in ihrer Schale, und fragte die Königin, wieviel sie für diese Armbänder wolle. »Ihr hättet zu große Ausgaben, wenn Ihr sie bezahlen wolltet, gnädige Frau«, sagte diese, »besser ist es, ich schlage Euch einen andern Handel vor. Wenn Ihr mir erlauben wollt, eine Nacht im Kabinett der Echos zu schlafen, das neben dem Schlafzimmer des Königs liegt, so will ich Euch die Smaragden geben.«

»Gern, Klein-Schmutzfink«, sagte Forellchen und lachte wie besessen, wobei sie ihre langen Eberhauer zeigte. Auf Befehl Forelichens führte man die Königin in das Kabinett, und sie stimmte ihre Klagen an: »Das Unglück, das ich fürchtete, ist eingetroffen, grausamer blauer Vogel!« sagte sie, »du hast mich vergessen, du liebst meine unwürdige Nebenbuhlerin! Die Armbänder, die ich von deiner freigebigen Hand empfing, haben dich nicht an mich mahnen können, so sehr ist mein Bild in deinem Gedächtnis verblaßt.«

Der Kammerdiener hatte die ganze Nacht ein Wimmern und Stöhnen gehört, aber der König hatte durch ein seltsames Mißgeschick nichts vernommen. Das kam daher, daß er seit seiner Trennung von Blumenschön nicht mehr schlafen konnte, und wenn er zu Bett ging, gab man ihm Opium, um ihm einige Stunden Ruhe zu verschaffen. Blumenschön mußte also das Gemach wieder verlassen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, und wiederholte die List mit einem andern Schmuckstück, das Forellchen um denselben Preis kaufte. Auch diesmal hatte der König einen Schlaftrunk genommen, und Blumenschön veräußerte nun ihr drittes und letztes Kleinod gegen eine Nacht im Echogemach, nachdem sie zuvor den Kammerdiener gebeten hatte, dem König kein Opium zu geben. Sie ließ sich also mit Einbruch der Nacht wieder in das Gemach führen und hoffte, daß der Kammerdiener Wort halten würde. Als sie glaubte, daß alles schlief, begann sie ihre gewohnten Klagen.

Der König schlief aber nicht und hörte so genau die Stimme seiner Blumenschön, daß er jedes Wort verstand, doch begriff er nicht, woher die



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Worte kämen. Aber sein Herz ward von zarten Gefühlen durchdrungen, und er gedachte so innig seiner unvergleichlichen Prinzessin, daß die Trennung von ihr ihn ebenso schmerzlich dünkte wie in dem Augenblick, da die Messer auf der Zypresse ihn zerfleischten. Er begann ebenso wie die Königin zu klagen: »O Prinzessin«, sagte er, »Ihr wart zu grausam gegen einen Liebhaber, der Euch anbetete. Wäre es möglich, daß Ihr mich unsern gemeinsamen Feinden hättet opfern wollen?« Blumenschön hörte, was er sprach, und antwortete ihm unverzüglich, wenn er mit dem kleinen Schmutzfink reden wolle, so würde er über alle Geheimnisse aufgeklärt werden. Bei diesen Worten rief der König ungeduldig einen Kammerdiener und fragte ihn, ob er ihm nicht sogleich Klein-Schmutzfink herbeizubringen vermöge. Der Diener entgegnete, daß nichts leichter sei, weil sie im Gemache nebenan schlafe. Der König wußte nicht, was er davon halten sollte. Wie konnte eine so große Königin wie Blumenschön sich als Schmutzfink verkleiden? Wie konnte andererseits der Schmutzfink die Stimme der Königin annehmen und ihre Geheimnisse ausplaudern, wenn er nicht mit ihr personengleich war? In dieser Ungewißheit erhob er sich, bekleidete sich hastig und trat durch eine Tapetentür in das Kabinett der Echos. Dort fand er Blumenschön in einem leichten weißen Taftkleid, das sie über ihre bäuerlichen Gewänder geworfen hatte; ihre schönen Haare fielen ihr über die Schultern, sie lag auf einem Ruhebett hingestreckt, und eine etwas entfernte Lampe verbreitete nur ein unbestimmtes Licht. Der König trat plötzlich ein und seine Liebe siegte über seinen Groll; als er sie erkannte, warf er sich ihr zu Füßen, befeuchtete ihre Hände mit Tränen und glaubte, vor Freude und Schmerz sterben zu muss en.

Die Königin war nicht weniger erregt, ihr Herz preßte sich zusammen, sie konnte nur mit Mühe atmen und sah den König starr an, ohne ein Wort zu sagen; und als sie so viel Kraft gewonnen hatte, um mit ihm zu reden, hatte sie doch nicht genug, um ihn zu tadeln. Das Glück des Wiedersehens ließ sie einige Zeit den Gegenstand ihrer Klagen vergessen. Schließlich klärten sie einander auf und rechtfertigten sich; und alles, was sie noch beunruhigte, war die Fee Susio. Aber in diesem Augenblick erschien der dem König befreundete Zauberer in Begleitung einer berühmten Fee, und nach den ersten Komplimenten erklärten der Zauberer und die Fee, daß sie ihre Macht zugunsten des Königs und der Königin vereinigt hätten, daß Susio nichts gegen sie ausrichten könne und ihrer Hochzeit kein Hindernis mehr im Wege stehe. Man kann sich die Freude der Liebenden ausmalen. Bei Tagesanbruch verbreitete



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sich die Neuigkeit im Schloß, und jeder war entzückt, Blumenschön zu sehen. Auch bis zu Forellchen drangen die Gerüchte. Sie lief zum König, aber wie groß war ihre Überraschung, als sie ihre schöne Nebenbuhlerin bei ihm fand. Gerade wollte sie den Mund öffnen, um sie zu schmähen, da erschienen der Zauberer und die Fee und verwandelten sie in ein Ferkelchen. Fortgesetzt grunzend entfloh sie auf den Hof, wo das laute Gelächter, das sie empfing, ihre Verzweiflung auf den Gipfel trieb. Der König Reizvoll und die Königin Blumenschön, von einem so verhaßten Wesen befreit, dachten nur noch an ihre Hochzeit; Galanterie und Prunkliebe vereinigten sich hier, und man kann sich leicht ausdenken, wie groß ihr Glück nach so langem Unglück war.


Der Orangenbaum und die Biene

Eine Prinzessin namens Amata, die Tochter des Königs von den glücklichen Inseln, wurde, ein Kind noch, einst bei einer Seefahrt vom Sturm ins offene Meer getrieben und landete im Reiche der Menschenfresser. Diese waren von furchterregendem Äußeren: sie hatten nur ein schielendes Auge, das mitten auf der Stirne saß, ein Maul so groß wie einen Backofen, eine breite und flache Nase, lange Eselsohren, struppiges Haar und vorn und hinten einen Buckel. Quälerine, die Gattin des Menschenfressers Wüterich, nahm die Prinzessin in ihr Haus auf und beschloß, da sie so schön war, sie ausnahmsweise nicht aufzufressen, sondern als zukünftige Gemahlin für ihren Sohn aufzuziehen. Der Gedanke an diese drohende Heirat bekümmerte die Prinzessin sehr, und als sie eines Tages in trübe Gedanken versunken am Strande wandelte, bemerkte sie plötzlich einen Jüngling, den die Wellen auf das Ufer geworfen hatten. Sie nahm sich des jungen Fremden an und erquickte ihn mit Früchten, die sie im Walde gepflückt hatte; da er ihr aber folgen wollte, hielt sie ihn mit allen Gebärden der Angst zurück, denn sie fürchtete, er möchte dem Wüterich zum Opfer fallen. Der Schiffbrüchige - es war der Prinz Amatus, ihr Vetter, der gerade in das Land ihres Vaters hatte fahren wollen, dessen Thron er dereinst erben sollte -wurde in einem sichern Schlupfwinkel untergebracht, und die Prinzessin kam alle Tage, um ihm Nahrung zu bringen.

Eines Tages -drei Tage trennten die Jungfrau nur mehr von dem Termin, da sie den jungen Menschenfresser heiraten sollte - trat sie sich einen Dorn in den Fuß und konnte die Höhle, in der sie mit den Menschenfressern



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hauste, nicht verlassen; der Prinz, den ihr Fernbleiben ängstigte, machte sich auf, sie zu suchen, und gelangte an den Ort, den zu betreten die Jungfrau ihn mit allen Mitteln hatte hindern wollen. Der Wüterich wollte sich sogleich auf ihn stürzen, um ihn zu verschlingen, aber die Prinzessin bat, den jungen Mann als Festbraten zu ihrem Hochzeitstage aufzusparen. Das leuchtete dem Menschenfresser ein, und der Prinz erhielt eine Gnadenfrist von drei Tagen, die er in der Höhle verbringen mußte. Amata sann lange darüber nach, wie sie den Prinzen, den sie vom ersten Augenblicke an geliebt hatte, retten könne, und dabei fiel ihr das elfenbeinerne Stäbchen ein, dessen sich die zauberkundige Quälerine bei ihren Hexereien bediente. Sie entwendete also das Stäbchen und verabredete mit dem Prinzen die Flucht, die in der Nacht vor ihrem Hochzeitstage stattfinden sollte.

Diese langersehnte Nacht kam endlich herbei. Die Prinzessin nahm Mehl und knetete mit ihren weißen Händen einen Teig, in welchen sie eine Bohne steckte; dann sagte sie mit ihrem Elfenbeinstab in der Hand: »O Bohne, kleine Bohne, ich wünsche im Namen der königlichen Fee Trusio, daß du redest, wenn du gefragt wirst, so lange, bis du gar gekocht bist.« Darauf legte sie den Kuchenteig unter die Asche und trat zum Prinzen, der sie mit Ungeduld erwartete. »Auf!« sagte sie zu ihm, »das Kamel ist im Walde angebunden.«

»Die Liebe und das Glück mögen uns führen«, erwiderte ganz leise der junge Prinz, »komm, meine Geliebte, gehen wir, ein glücklicheres und ruhigeres Land zu suchen!«Der Mond leuchtete zu ihrer Fahrt, sie fanden das Kamel und machten sich auf den Weg, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Quälerine hatte den Kopf voll Sorgen, sie drehte und wendete sich im Bett herum und konnte nicht schlafen. Sie streckte die Arme aus, um zu fühlen, ob die Prinzessin schon auf ihrem Lager sei, da sie diese nicht spürte, rief sie mit Donnerstimme: »Wo bist du, Mädchen?« «

»Hier, beim Herd«, antwortete die Bohne. »Kommst du bald schlafen?«

»Gleich«, versetzte die Bohne, »schlaft nur, schlaft derweil!«Quälerine fürchtete, ihren Wüterich aufzuwecken, und machte keine weiteren Einwendungen. Aber zwei Stunden später tastete sie wieder nach dem Bette Amatens und rief: »Nun, kleiner Galgenstrick, willst du nicht schlafen gehen?«

»Ich wärme mich, solange ich kann!« entgegnete die Bohne.

»Ich wollte, du säßest mitten im Feuer für deine Unart!«murmelte die Menschenfresserin.



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»Da sitze ich auch«, sagte die Bohne, »man kann sich nicht besser wärmen.« So unterhielten sie sich noch eine längere Weile, und die Bohne antwortete verständig, denn sie war eine gescheite Bohne. Schließlich tagte es, und Quälerine rief wieder nach der Prinzessin, aber die Bohne war gar gekocht und antwortete nicht mehr. Diese Stille beunruhigte sie, sie erhob sich hastig, sah sich um, rief, erschrak und suchte überall herum. Kein Prinz, keine Prinzessin und kein Zauberstab waren zu sehen! Da schrie sie so laut, daß Wälder und Täler widerhallten: »Wach auf, du Fettwanst, wach auf! Teurer Wüterich, deine Quälerine ist betrogen, unser Menschenfleisch ist davongelaufen!«

Wüterich öffnete sein Auge und sprang wie ein Löwe mitten in die Höhle; er schrie, brüllte, heulte und schäumte vor Wut. »Marsch!« rief er, »meine Siebenmeilenstiefel, meine Siebenmeilenstiefel, daß ich unsere Durchgänger verfolge, sie sollen eine gute Mahlzeit abgeben, binnen kurzem werde ich meine Gurgel mit ihnen stopfen!« Er legte seine Stiefel an, in welchen ihn jeder Schritt um sieben Meilen weiterbrachte. Die beiden Flüchtlinge setzten indes ihren Weg fort, bezaubert von dem Glück, allein beisammen zu sein, und in der Hoffnung, nicht verfolgt zu werden, bis die Prinzessin, die zuerst den schrecklichen Wüterich entdeckte, aufschrie: »Prinz! Wir sind verloren! Sieh dieses entsetzliche Ungeheuer, das auf uns zukommt wie eine Wetterwolke!« »Was sollen wir tun?« sagte der Prinz, »was soll aus uns werden? Oh, wenn ich allein wäre, würde ich mich nicht um mein Leben kümmern, aber auch das deine, meine teure Freundin, ist in Gefahr!«

»Ich weiß keinen Rat; wenn das Stäbchen uns nicht hilft«, sagte Amata, »so müssen wir sterben.« Dann setzte sie hinzu: »Ich wünsche im Namen der königlichen Fee Trusio, daß unser Kamel ein Teich werde, der Prinz ein Nachen und ich eine alte Schifferin, die ihn steuert!« Alsogleich waren Teich, der Nachen und die Schifferin da, und der Wüterich kam an das Ufer: »Hola, ho, alte Vettel«, rief er, »habt Ihr nicht ein Kamel mit einem jungen Mann und einem jungen Mädchen vorbeikommen sehen?«

Die Schifferin, die sich in der Mitte des Ses hielt, setzte ihre Brille auf die Nase, betrachtete den Wüterich und gab ihm ein Zeichen, daß sie jene wohl gesehen habe und daß sie über die Wiese dort weitergegangen seien. Der Menschenfresser glaubte ihr und wandte sich nach links; die Prinzessin wünschte nun ihre alte Gestalt wieder anzunehmen, sie berührte dreimal mit dem Stab sich selbst, den Nachen und den Teich und wurde ebenso wie der Prinz wieder so schön und jung wie zuvor. Sie stiegen auf das Kamel und ritten nach rechts, um ihrem Todfeind nicht



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zu begegnen. Während sie so eilig vorwärtswanderten und irgend jemanden zu finden hofften, den sie nach dem Wege zu den glücklichen Inseln fragen konnten, lebten sie von den Früchten des Feldes, tranken das Wasser der Quellen und schliefen unter den Bäumen, stets in Furcht, die wilden Tiere könnten sie verzehren. Der Prinz gab der Prinzessin gegenüber dem Wunsche Ausdruck, möglichst bald zu ihrem königlichen Vater zu gelangen, denn sie hatte ihm versprochen, ihm mit dessen Einverständnis die Hand zum Ehebund zu reichen. Nachdem der Wüterich über Berge, Wälder und Ebenen gelaufen war, kehrte er in seine Höhle zurück, wo Quälerine und die kleinen Menschenfresserchen ihn mit Ungeduld erwarteten. »Nun«, rief Quälerine ihm zu, »hast du sie gefunden und gefressen, diese Ausreißer, diese Diebe? Hast du mir keinen Fuß und keine Pratze übriggelassen?«

»Ich glaube, sie sind davongeflogen«, versetzte Wüterich, »wie ein Wolf bin ich überall umhergerannt, ohne sie zu treffen, niemanden habe ich gesehen außer einer Alten in einem Nachen auf einem Teich, die mir Nachricht von ihnen gegeben hat.«

»Und was hat sie dir von ihnen gesagt?« erwiderte Quälerine ungeduldig.

»Sie hätten sich nach links gewandt!« antwortete der Wüterich.

»Bei meinem Haupte«, sprach jene, »da bist du schön angeführt worden. Mir geht durch den Kopf, daß du mit ihnen selber geredet hast. Kehr um, und wenn du sie erwischst, so schone sie keinen Augenblick!« Der Wüterich schmierte seine Siebenmeilenstiefel und sauste wie ein Rasender davon.

Unser junges Liebespaar trat gerade aus einem Wald, wo es die Nacht verbracht hatte. Als sie ihn bemerkten, erschraken sie von neuem. »Meine Geliebte«, sagte der Prinz, »da kommt unser Feind! Ich fühle Mut genug, ihm entgegenzutreten; bist du stark genug, um allein zu fliehen?«

»Nein«, rief sie, »ich verlasse dich nicht, Grausamer! Zweifelst du so an meiner Liebe? Aber versäumen wir keinen Augenblick. Vielleicht kann uns das Stäbchen wieder nützen. Ich wünsche«, setzte sie hinzu, »im Namen der königlichen Fee Trusio, daß der Prinz zu einem Gemälde werde, das Kamel zu einem Pfeiler und ich zu einem Zwerg.« Die Verwandlung vollzog sich auf der Stelle, und der Zwerg begann auf seinem Horn zu blasen. Wüterich, der mit großen Schritten näher kam, fragte ihn: »Höre, kleine Mißgeburt, sahst du nicht einen hübschen Burschen und ein Mädchen auf einem Kamel hier vorbeikommen?«



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»Im Falle«, sagte der Zwerg, »daß Ihr euch auf der Suche nach einem ritterlichen Jungherr, einer bewunderungswürdigen Dame und deren Reittier befindet, so wisset, daß ich ebendieselben gestern um diese Stunde erschaut habe, wie sie freudigen Gemütes einherstolzierten. Besagter Ritter war mit den Preisen der Turniere beladen, die zu Ehren der Merlusine abgehalten wurden, so Ihr alida leibhaftig abkonterfeit seht. Beim Scheiden redete die Jungfrau zu mir wie folgt: >Zwerg<, sagte sie, >um eines ersuche ich dich: so du einen ungeschlachten Riesen erblickst, der sein Auge inmitten der Stirn trägt, so bitte ihn höflich, daß er in Frieden reise und uns ziehen lasse.<Darauf spornte sie ihren Zelter an und entfernte sich.«

»Wohin«, fragte Wüterich. »Quer über jene blumige Wiese am Waldessaum«, versetzte der Zwerg.

»Wenn du lügst«, sagte der Menschenfresser, »so sei versichert, kleiner Schmutzfink, daß ich dich mitsamt deinem Pfeiler und dem Bild des Stockfisches* da verschlingen werde!«

»Nie war Untreue in mir«, entgegnete der Zwerg, »und nie ließ mein Mund eine Lüge verlauten, aber Ihr müßt Euch sputen, wenn Ihr sie noch fällen wollt, ehe die Sonne sinkt.« Der Menschenfresser entfernte sich, der Zwerg nahm seine alte Gestalt wieder an und berührte das Bild und den Pfeiler, die wieder zu dem wurden, was sie sein sollten. Der Wüterich lief vergebens umehr, er fand weder den Liebhaber noch die Geliebte, und müde wie ein Hund kehrte er in seine Höhle zurück. »Was? Du kommst wieder ohne die Gefangenen?« rief Quälerine, indes sie ihre Igelborsten raufte, »komm mir nicht zu nahe, sonst erwürge ich dich!«

»Ich bin niemandem begegnet«, sagte er, »als einem Zwerg, einem Pfeiler und einem Gemälde.«

»Bei meinem Haupte«, versetzte sie, »das waren sie! Ich bin eine Närrin, dir die Sorge für meine Rache anzuvertrauen, als ob ich zu schwach wäre, selber mich zu rächen. Jetzt gehe ich selber! Ich lege die Schuhe an und werde genauso schnell gehen wie du.« Sie zog die Siebenmeilenstiefel an und eilte von dannen.

Der Prinz und die Prinzessin sahen Quälerine kommen; sie war in eine Schlangenhaut gekleidet, die in allen Farben schillerte, und auf der Schulter trug sie eine Keule aus Eisen von einem entsetzlichen Gewicht. Sie schaute sich sorgfältig nach allen Seiten um und hätte die beiden sicher bemerkt, wenn sie nicht gerade in der Tiefe eines Waldes geschrit-Im 

*Im Original: merluche (»Stockfisch«).



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ten wären. »Wir können nicht vorwärts noch rückwärts«, sagte Amata weinend, »dort kommt die grausame Quälerine, deren Anblick mein Blut zu Eis erstarren macht; sie ist gescheiter als der Wüterich. Wenn einer von uns beiden mit ihr redet, wird sie uns erkennen und uns den Prozeß machen, um uns zu fressen, und damit wird sie höchstwahrscheinlich bald fertig sein.«

»Oh Liebe, Liebe!« rief der Prinz, »verlaß uns nicht!«

»Nun, kleines Stäbchen«, hub die Prinzessin an, »tu deine Pflicht! Ich wünsche im Namen der königlichen Fee Trusio, daß das Kamel zu einer Kiste und mein teurer Prinz zu einem schönen Orangenbaum werde, den ich in eine Biene verwandelt umschwirre.«Sie klopfte wie gewöhnlich dreimal mit dem Stäbchen auf jeden von ihnen, und die Verwandlung vollzog sich auf der Stelle, ohne daß Quälerine, die alsbald anlangte, etwas davon merkte. Die abscheuliche Megäre setzte sich ganz außer Atem unter den Orangenbaum, und die Prinzessin Biene machte sich ein Vergnügen draus, sie an tausend Stellen zu stechen; so hart ihre Haut auch war, sie fühlte doch den Stachel und schrie laut auf. Wie sie sich auf dem Rasen wälzte und um sich schlug, glich sie einem Stier oder Löwen, der unter einen Bienenschwarm gefallen ist, denn diese eine Biene arbeitete wie ihrer hundert sonst. Der Prinz Orangenbaum verging vor Angst, sie möchte sich ertappen lassen und getötet werden. Endlich entfernte sich Quälerine über und über blutend, und die Prinzessin wollte ihre alte Gestalt wieder annehmen, aber zum Unglück gingen gerade Fremde vorüber, welche das wertvolle Elfenbeinstäbchen entdeckten, aufhoben und mitnahmen.

So mußte das Liebespaar Orangenbaum und Biene bleiben, bis eines Tages eine Prinzessin in jenem Wald lustwandelte. Der gefiel der Orangenbaum so gut, daß sie ihn in ihren Garten verpflanzen ließ, wohin ihm seine treue Biene folgte. Die Prinzessin hatte ein unwiderstehliches Gelüste, eine Blüte von dem Baume zu brechen, und sosehr es ihr auch die Biene mit Stichen verwehrte, endlich gelang es ihr doch, einen Zweig zu pflücken; aber wie erschrak sie, als der Orangenbaum einen Wehschrei ertönen ließ und Blut aus der Wunde strömte. Sogleich berief sie eine Feenversammlung, und die Fee Trusio, die sich darunter befand, entwandelte den Prinzen Orangenbaum und auf dessen Bitten auch die Prinzessin Biene. Auf dem fliegenden Wagen der Fee begab sich das Liebespaar zu Amatens Eltern. Sie wurden vom König und der Königin um so liebevoller empfangen, als diese bereits jede Hoffnung auf ein Wiedersehen aufgegeben hatten. Alsbald wurde die Hochzeit gehalten, der die Grazien im Festgewande beiwohnten;



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auch die Liebesgöttin fand sich ein, obwohl sie gar nicht geladen war. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch erhielt der älteste Sohn des jungen Paares den Namen: »Treuelieb«.


Ricdin -Ricdon

Ein Königssohn ritt einst auf die Jagd. Er hatte sich von seinen Begleitern getrennt und durchquerte gerade eine Ortschaft, die ganz verlassen zu sein schien. Da sah er aus einem ländlichen Garten ein Mädchen von blendender Schönheit treten, das ein Weib von höchst unangenehmem Äußeren mit Gewalt in ein bäuerliches Haus zu zerren suchte, das sich gegenüber dem Garten auf der anderen Seite der Landstraße befand. Das junge Mädchen hatte einen Spinnrocken mit Flachs neben sich und trug in seinem aufgeschürzten Rock einen Strauß von frisch gepflückten Gartenblumen. Die Alte riß ihr die Blumen weg, warf sie mitten auf die Straße, gab dem Mädchen einige derbe Stöße und packte es dann wieder beim Arm, indem sie ihm mit wütenden Gebärden drohte: »Marsch, Marsch! Kleiner Unart! Geschwind ins Haus, dort will ich dich gehörig fühlen lassen, was es heißt, ungehorsam zu sein.« Der Prinz, der sein Roß angehalten hatte, um dieses Schauspiel mit anzusehen, näherte sich der Alten, die gerade dabei war, in ihr Haus zu treten, und fragte sie mit freundlicher Miene: »Woher kommt es, gute Frau, daß Ihr dieses junge Mädchen so arg mißhandelt? Welchen Fehler hat sie begangen, durch den sie sich Euren Zorn in solchem Maße zuzog?«

Die Bäuerin war sehr aufgebracht und wünschte nicht, daß man sich in ihre Angelegenheiten mische; sie hatte schon eine freche Antwort auf der Zunge, als ihre Augen auf die Gewänder des Prinzen fielen, und sie schloß aus deren außerordentlicher Pracht, daß ihr Träger eine Person von hohem Rang sein müsse; daher hielt sie an sich und begnügte sich, in scharfem Ton zu antworten: »Gnädiger Herr, ich zanke meine Tochter aus, weil sie stets das Gegenteil von dem tut, was ich ihr sage. Ich wünschte, daß sie nicht mehr spinnen sollte, und sie spinnt von Morgen bis Abend, und das mit einer Geschicklichkeit ohnegleichen. Ich tadle sie nur deshalb, weil sie zuviel spinnt.«

»Wie?«sagte der Prinz, »ist das ein Grund, diesem armen Kind so zu zürnen? Oh, meine liebe Frau, wenn Ihr die Mägde haßt, die gern spinnen, so braucht Ihr die Eure nur der Königin, meiner Mutter, zu überantworten, die sich so sehr an diesem Geschäft ergötzt und die Spinnerinnen



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so hoch schätzt. Die Königin wird das Glück Eurer Tochter machen.«

»Ach, gnädiger Herr«, erwiderte die Alte, »wenn Ihr die Zierpuppe da mit ihrer Geschicklichkeit so geeignet findet für unsere gute Königin, so könnt Ihr sie gleich mitnehmen, wenn Ihr wollt, denn sie ist mir schon lange zur Last, und ich wäre wohl zufrieden, sie loszuwerden.« Bei diesen Worten kam ein Teil vom Gefolge des Prinzen zurück, und dieser befahl seinem Kammerdiener, das Mädchen hinter sich aufs Pferd zu nehmen. Das junge Geschöpf hatte das Gesicht noch voll Tränen, welche die Drohungen der Alten ihr entlockt hatten, aber ihre Tränen nahmen ihr nichts von ihrem Liebreiz. Der Prinz versuchte sie zu trösten und versicherte sie, daß sie mit der Geschicklichkeit, mit der sie begabt sei, unfehlbar die Wohltaten der Königin im Überfluß auf sich häufen werde. Das arme Mädchen war indes durch die Menge des Jagdgefolges so verwirrt, daß es kaum die Hälfte von dem verstand, was man ihm sagte. Die Mutter sah sie scheiden, ohne den geringsten Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen, die Dorfbewohner dagegen fanden, daß sie nicht hinreichend große Augen hätten, um sie inmitten der goldbetreßten Herren anzugaffen. Sie wußten von den Untergebenen des Prinzen, daß man sie zur Königin führe, und alle Bäuerinnen des Dorfes beneideten sie um ihr Los.

Im Schlosse angekommen, stellte der Prinz die Schöne, die, wie er unterwegs erfahren hatte, Rosanie hieß, der Königin, seiner Mutter, als die geschickteste und eifrigste Spinnerin des ganzen Landes vor. Die Königin empfing sie gütig, betrachtete sie aufmerksam und lobte höchlich die bescheidene und rührende Anmut, mit der sie ausgestattet war, was gewissen Damen des Hofes, die auf ihre vollendete Schönheit stolz waren, nicht geringe Demütigung bereitete. Die Königin ließ Rosanie in einem Flügel wohnen, der eine über und über mit Haufen kostbarsten Flachses vollgestopfte Zimmerflucht enthielt. Man teilte Rosanie, gleich als ob dies eine angenehme Nachricht für sie sei, mit, daß sie unter all dem Flachs nur zu wählen brauche, mit welchem sie beginnen wolle; und man fügte hinzu, daß ihr das eigentlich gleichgültig sein könne, weil sie jung und geschickter sei als jede andere, und die Königin, die sie für lange bei sich behalten und ihr viel Gutes tun wollte, wünschte, daß sie alle Vorräte aufarbeitete.

Als das arme Mädchen allein war, überließ es sich dem heftigsten Schmerz: Rosanie hatte eine derart unüberwindliche Abneigung gegen das Spinnen, daß sie die Verpflichtung, auch nur einige Stunden mit dieser Arbeit zuzubringen, für eine entsetzliche Strafe hielt. Sie sah keinen



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Ausweg aus ihrer Verlegenheit, in die sie die Bosheit ihrer Mutter verstrickt hatte, und doch war sie froh, den Händen dieser Mutter entrissen zu sein, die nichts als barbarische Härte für sie übrig hatte. Die ersten Tage zwar gelang es ihr, durch allerlei Entschuldigungen den Beginn der verhaßten Arbeit hinauszuschieben, aber diese erregten schließlich den Argwohn ihrer zahlreichen Neiderinnen am Hofe, die sie bei der Königin zu verdächtigen suchten. Die Furcht, daß ihr Unvermögen über kurz oder lang aufkommen würde und sie dann die Freuden des Hofes verlassen müßte, um in das Haus ihrer unmenschlichen Mutter zurückzukehren, trieb sie so weit, daß sie beschloß, durch einen Sprung von einem hochgelegenen Pavillon herab den Tod zu suchen.

Während sie auf dem Pfade dahinschritt, der zu dem Pavillon führte, sah sie plötzlich einen großen braunen Mann in reicher Kleidung vor sich stehen, der seine von Natur finsteren Gesichtszüge zu einem anmutigen Lächeln verzerrte, als er zu ihr sprach: »Wohin geht Ihr, mein schönes Kind? Mir scheint, ich sehe Tränen aus Euren Augen strömen, sagt mir, was schmerzt Euch so? Es müßte seltsam sein, wenn ich Euch nicht helfen könnte.«

»Ach«, entgegnete Rosanie, »es gibt kein Mittel gegen den Kummer, der mich bedrückt, daher ist es unnütz, daß ich Euch den Grund meiner Sorge angebe.«

»Vielleicht«, versetzte der Unbekannte, »ist die Hilfe nicht ganz so fern, wie Ihr meint, aber zum mindesten erleichtert man seinen Schmerz dadurch, daß man ihn erzählt.« Rosanie öffnete also dem Unbekannten ihr Herz und sagte ihm alles, was sie zur Verzweiflung trieb.

»Da seht«, sprach jener, als sie geendet hatte, »dieses Stäbchen, das ich in der Hand halte. Nehmt es in die Eure!« Rosanie nahm das Stäbchen und betrachtete es: es war sehr klein, aus einem graubraunen polierten Holze, dessen Namen man nicht angeben konnte, und geziert mit einem bunt schillernden Stein, der aber keiner bekannten Sorte zugehörte.

Nachdem Rosanie dieses Stäbchen eine Zeitlang angeschaut hatte, gab sie es in die Hände des Fremden zurück, der zu ihr sagte: »Ihr seht wohl dieses Stäbchen. Es hat wunderbare Eigenschaften. Wenn Ihr damit den Hanf und den Flachs berührt, so wird jede beliebige Menge davon täglich gesponnen werden, und das so fein, wie Ihr selber es wünscht. Ich will Euch dieses Stäbchen für drei Monate leihen, vorausgesetzt, daß Ihr mit dem einverstanden seid, was ich Euch sage. Heute über drei



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Monate werde ich wiederkommen, um mein Stäbchen zurückzufordern, dann müßt Ihr zu mir sagen, wenn Ihr es mir gebt: Hier, Ricdin-Ricdon, nehmt Euer Stäbchen! Dann werde ich das Stäbchen nehmen, ohne daß Ihr irgendwelche Verpflichtungen einzugehen braucht. Aber wenn Ihr Euch an dem bestimmten Tage meines Namens nicht mehr erinnert und einfach sagt: Hier, nehmt Euer Stäbchen! so werde ich Herr Eures Geschickes sein und werde Euch überall hinbringen, wohin es mir gefällt, und Ihr werdet genötigt sein, mir zu folgen.« Rosanie überlegte sich einige Zeit, was sie antworten solle, aber der Name Ricdin-Ricdon schien ihr so leicht zu behalten, daß sie kein Wagnis zu unternehmen glaubte, wenn sie die willkommene Hilfe des Stäbchens annahm. Sie hatte schon eine geheime Vorfreude an dem Vergnügen, das sie empfinden würde, wenn sie den Stolz ihrer Mitbewerberinnen durch die schönen Fäden, die sie damit hervorzaubern sollte, demütigen würde. Endlich sagte sie: »Herr Ricdin-Ricdon, ich bin mit dem Vertrag, den Ihr mit mir abschließen wollt, einverstanden.« »Aber Ihr müßt schwören!« sagte der Fremde.

»Nun gut, ich schwöre es mit den unverletzlichsten Eiden!«

»Es ist gut«, sagte Ricdin-Ricdon, »daß Ihr mir das Versprechen in so feierlicher Form gegeben habt. Euer Diener, Schönste, und auf Wiedersehen!« Mit diesen Worten drückte er ihr das Stäbchen in die Hand und entfernte sich.

So vergingen die nächsten drei Maonte in unaufhörlichen Freuden. Die Arbeit, die das Stäbchen verrichtete, war so über alles Lob erhaben, daß sie der Jungfrau die höchste Zufriedenheit der Königin eintrug, welche sie am Hofe in höchsten Ehren hielt. Der Prinz, der seinen Schützling vom ersten Zusammentreffen an geliebt hatte, zeigte ihr bei jeder Gelegenheit seine innigste Zuneigung, die sie im nämlichen Maße erwiderte.

Indessen war Rosanie trotz aller Freuden des Hofes und der Liebe von einer geheimen Unruhe beseelt, welche sie kaum verbergen konnte. Ihr Kummer wurde aber durch die Untreue ihres Gedächtnisses verursacht; sie merkte nämlich, daß der Termin, den der Mann mit dem Stäbchen bestimmt hatte, um das kostbare Holz zurückzufordern, von Tag zu Tag näherrückte, und der wunderliche Namen des Fremden kam ihr nicht mehr in den Sinn. Vergeblich machte sie seit einiger Zeit tausend Anstrengungen, um ihn sich ins Gedächtnis zurückzurufen, es war umsonst. Dabei wußte sie, daß ein unverletzbarer Eid sie zwang, wenn sie sich des Namens nicht wieder erinnern würde, dem Entleiher des Stäbchens überallhin zu folgen, wohin er sie führen wollte.



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Eines Tages ritt ihr junger Liebhaber auf die Jagd, um sich des Kummers zu erwehren, den ihm der seiner Liebsten bereitete. Mehr mit seinen Träumereien als mit der Verfolgung des Wildes beschäftigt, trennte er sich von seinem Gefolge und kam unter ständigem Grübeln so weit in die Irre, daß die Nacht ihn überraschte, ehe er seine Leute wiedergefunden hatte. Gerade ritt er über eine öde Heide, auf der sich ein in Trümmern liegendes, unbewohnbar erscheinendes Schloß erhob, da bemerkte er auf einmal viele Lichter darin. Er näherte sich den Fenstern der Säle, die alle offenstanden und zerbrochen waren, und blickte durch die Bäume, die sie umgaben, hindurch. In violettem Schein sah er da mehrere Leute von abschreckendem Äußern und in wunderlicher Kleidung. Mitten unter ihnen befand sich ein Mann mit schwarzbrauner ausgetrockneter Haut und grimmigem Gesichtsausdruck, der wilde Blicke um sich warf; doch schien er sehr vergnügt zu sein, denn er sprang und tanzte mit erstaunlicher Gelenkigkeit umher. Der Prinz fühlte ein geheimes Schaudern beim Anblick dieser schrecklichen Gestalten, und er zweifelte nicht, daß er Bewohner der Hölle vor sich habe, deren Macht er fürchten mußte. Da hörte er den Schwarzbraunen mit fürchterlicher Stimme sagen:

»Wenn das junge hübsche Mädchen,
das nur Kinderspiele weiß,
hätt' in seinem Sinn behalten,
daß Ricdin-Ricdon ich heiß,
käm sie nicht in meine Schlingen.
Doch nun ist die Schöne mein,
denn das Wort fällt ihr nicht ein.«

Rosanie verzehrte sich indes in tödlicher Unruhe. Von Stunde zu Stunde sah sie den gefürchteten Augenblick näherkommen, da der Herr des Stäbchens vor sie treten würde, um das kostbare Holz zurückzufordern, und da sie nicht imstande war, sich des Namens des Unbekannten zu erinnern, sah sie sich verloren.

Unterdessen hatte sich der Prinz in einem Zweikampf eine Verwundung zugezogen und mußte das Bett hüten. Um ihn zu zerstreuen, versammelte sich die Hofgesellschaft an seinem Lager, und auch Rosanie leistete ihm einige Stunden des Tages Gesellschaft. Als sie eines Tages allein mit ihm im Zimmer war, erzählte er ihr sein nächtliches Erlebnis und unterließ es auch nicht, die Verse des wunderlichen Mannes zu wiederholen. Als er die Worte, die er gehört, erwähnte, stieß Rosanie einen solchen Schrei aus, daß der Prinz zuerst erschrak, indessen beruhigte er sich, als sie mit lebhaften Gebärden freudiger Eregung ausrief:



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»Der Himmel sei gelobt für die unermeßliche Güte, die er mir erweist!« Der Prinz erkundigte sich nach dem Sinn dieser Worte, und Rosanie erzählte ihm in wenigen Worten ihr Abenteuer mit dem Stäbchen und konnte sich von ihrem Schrecken kaum erholen, als sie erfuhr, daß der Mann, dem sie zu folgen versprochen hatte, ein Dämon sei, denn etwas Derartiges hatte sie nie geahnt.

Kaum war Rosanie wieder in ihrem Gemach, als man ihr meldete, daß ein schwarzgekleideter Mann mit ernsten Gesichtszügen sie sprechen wolle. Sie befahl, ihn eintreten zu lassen, und auf den ersten Blick erkannte sie in ihm den Mann mit dem Stäbchen. Obwohl sie seinen Namen wußte, machte sie doch sein Anblick erbeben, da sie daran dachte, wer der gefährliche Spender eigentlich sei. Ohne ein Wort zu reden, erhob sie sich, holte die Zauberrute und sagte zu ihm, indem sie ihm dieselbe zurückgab: »Hier, Ricdin-Ricdon, nehmt Euer Stäbchen!« Der böse Geist, der das nicht erwartet hatte, verschwand unter greulichem Geheul, da er sich betrogen sah, was ihm übrigens öfters passiert. Kurz darauf wurde die Hochzeit des Prinzen mit Rosanie gefeiert, der um so weniger Schwierigkeiten entgegenstanden, als sich herausstellte, daß dieselbe gar keine Bauerntochter, sondern ein Sproß aus edlem Hause war. Rosanie verlebte eine lange Spanne von Jahren mit dem Prinzen in überaus zufriedener Ehe und in einem vollkommenen Glück.


Der Mann aus Eisen

Es war einmal ein alter Soldat mit Namen La Ramée, der stets besoffen war und vom Morgen bis zum Abend Tabak kaute. Sein Oberst hatte ihm eines Tages Vorhaltungen gemacht; da zog er seinen Säbel und gab ihm einen Schlag quer durchs Gesicht, der ihn tötete. Einen Augenblick darauf erschienen der Hauptmann und der Korporal, um La Ramée auf die Polizei zu führen, und sie sagten ihm, daß er am nächsten Morgen vors Kriegsgericht gestellt würde. »Korporal!« sagte La Ramée, »ich habe meinen Sack auf dem Tisch meiner Kammer vergessen, das passiert mir nicht oft: Ihr wißt, daß ich meine Sachen immer in Ordnung habe. Gestattet Ihr mir, hinzugehen und ihn zu holen?«

»Geh, wenn du willst«, sagte der Korporal. La Ramée nahm seinen Sack, der mit Brot gefüllt war, und warf ihn auf die Straße, dann sprang er selber durchs Fenster, hob den Sack auf und entfloh. Um sich in Sicherheit zu bringen, setzte er nach England über.



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Eines Abends, als er einen Wald durchschritt, sah er ein zerfallenes Gemäuer. Da er vor Hunger fast umkam, trat er ein und fand eine alte Frau, die gerade Hanf pochte. Er bat sie um einen Bissen zu essen und um ein Nachtlager. Die Alte trug ihm ein Gericht von Kartoffeln auf und zeigte ihm in einer Ecke einen Haufen Hanfstengel, auf dem er in Ermangelung eines Bettes ruhen könne.

Am andern Morgen wollte La Ramée seine Wanderung wieder antreten, da sagte die Alte zu ihm: »Ich weiß etwas, das mein und dein Glück machen kann. An einer gewissen Stelle befindet sich ein Schloß. Den Weg dorthin werde ich dir zeigen. Geh zu diesem Schloß und tritt mutig ein. Im ersten Zimmer liegt Gold und Silber auf einem Tisch, im zweiten liegen Löwen, im dritten Schlangen, im vierten Drachen, im fünften Bären und im sechsten drei Leoparden. Du mußt alle Zimmer schnell und ohne zu erschrecken durchschreiten. Im siebenten Zimmer wirst du einen Mann aus Eisen erblicken, der auf einem Amboß aus Bronze sitzt, und hinter diesem Eisenmann steht eine brennende Kerze. Gehe geradewegs auf die Kerze los, lösche sie aus und schiebe sie in die Tasche. Du mußt dann den Hof durchqueren, in dem eine Wache steht; die Soldaten werden dich betrachten, du aber schau dich nicht um, sondern halte die Augen stets zu Boden gerichtet. Vor allem trage Sorge, so zu tun, wie ich dir sage, andernfalls geschieht dir Unheil«. La Ramée schlug den Weg ein, den ihm die Alte angab, und kam alsbald zum Schloß. In der ersten Kammer sah er auf dem Tisch einen Haufen Gold und Silber, in der zweiten lagen Löwen, in der dritten Schlangen, in der vierten Drachen, in der fünften Bären, in der sechsten drei Leoparden, in der siebenten endlich fand er einen Mann aus Eisen, der auf einem Bronzeamboß saß, und hinter diesem Eisenmann sah er eine brennende Kerze. La Ram&ging geradewegs auf die Kerze los, löschte sie aus und schob sie in die Tasche. Dann durchquerte er, die Augen auf den Boden geheftet, einen großen Hof, in dem sich eine Wache befand. Als er außerhalb des Schlosses war, fiel es ihm ein, die Kerze anzuzünden. Sogleich erschien der Mann aus Eisen, der der Kerze diente, vor ihm und fragte: »Meister, was wünscht Ihr?«

»Gib mir Geld!« antwortete La Ramée, »ich wünsche schon lange, mein Glück zu machen.«Der Mann aus Eisen füllte ihm seinen Sack mit Geld und verschwand. Dann machte sich La Ramée auf den Weg, um sich in die Residenz des Königs zu begeben. Auf dem Wege sah er plötzlich die alte Hexe vor sich, die von ihm die Kerze verlangte. Er sagte ihr zuerst, er habe sie verloren, dann hielt er ihr eine gewöhnliche Kerze hin. »Die will ich nicht«, sagte sie, »gib mir geschwind die, um die ich



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dich geschickt habe.« Als La Ramée sah, daß sie ihm drohte, warf er sich auf sie und tötete sie.

In der Hauptstadt angekommen, quartierte er sich in einem fürstlichen Gasthof ein, wo er fünfzig Franken pro Tag zahlen mußte. Da er sich nichts abgehen ließ, fand er nach einiger Zeit seinen Sack leer und blieb die Rechnung für zwei oder drei Tage schuldig. Die Besitzerin des Gasthofs verlangte unaufhörlich ihr Geld von ihm und plagte ihn. La Ramce war in höchster Verlegenheit. Nachdem er ein letztes Mal in seinem Sacke gewühlt hatte, ohne einen roten Heller darin zu finden, steckte er die Hand in die Tasche in der Hoffnung, dort einige Geldstücke zu finden; er zog die Kerze daraus hervor. »Ich Esel!« rief er, »wie habe ich nur meine Kerze vergessen können!« Er beeilte sich, sie anzuzünden, und sogleich erschien der Mann aus Eisen vor ihm: »Meister, was wünscht Ihr?«

»Wie?«schrie La Ramée, »du Dummkopf, du Schuft, du läßt mich hier sitzen ohne einen Groschen?« —»Meister, ich wußte nichts davon, ich konnte es nur vermittelst der Kerze erfahren.« — »Nun gut, gib mir Geld!«Der Mann aus Eisen gab ihm noch mehr als das erste Mal. Während La Ramée damit beschäftigt war, seine Taler zu zählen und sie auf dem Tische aufzustapeln, guckte das Zimmermädchen durchs Schlüsselloch und lief hurtig zu ihrer Herrin, um ihr zu sagen, daß das ein reicher Mann sei, den man nicht wie einen Landstreicher behandeln dürfe. Als er zum Bezahlen kam, machte ihm daher die Besitzerin ein freundliches Gesicht.

Zwei bis drei Tage später zündete La Ramée wieder seine Kerze an, und der Mann aus Eisen erschien: »Meister, was wünscht Ihr?« —»Ich wünsche, daß die Prinzessin, die Tochter des Königs von England, heute nacht in meinem Zimmer sei.« Es geschah, wie er es gewünscht hatte: nachts fand sich die Prinzessin im Zimmer des Gasthofs ein. La Ramée sprach mit ihr vom Heiraten, aber sie wollte ihn nicht einmal anhören. Sie mußte die Nacht in einer Ecke des Zimmers verbringen, und am Morgen befahl La Ram&dem Diener der Kerze, sie ins Schloß zurückzubringen. Die Prinzessin hatte die Gewohnheit, jeden Morgen ihrem Vater einen Kuß zu geben. Der König war sehr erstaunt, als sie an diesem Tage nicht kam. Es schlug sieben, dann acht Uhr und sie erschien immer noch nicht. Endlich kam sie: »Ah!«sagte sie, »mein Vater, welch eine traurige Nacht habe ich verbracht!«Und sie erzählte dem König, was ihr zugestoßen war. Der König fürchtete, daß nochmals Ähnliches passieren könne, und suchte eine Fee auf, die er um Rat fragte. »Wir haben es mit einem Stärkeren zu tun, als ich es bin«, sagte die Fee, »ich



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weiß nur ein Mittel: gebt der Prinzessin einen Sack mit Kleie und tragt ihr auf, die Kleie in dem Hause, in das sie gebracht wird, auszustreuen. Man wird so das Haus wiedererkennen.«

Inzwischen hatte La Ramée den Gasthof gewechselt. Eines Tages zündete er die Kerze an und sagte zum Eisenmann: »Ich wünsche, daß die Prinzessin heute nacht in mein Zimmer kommt.« —»Meister«, sagte der Mann aus Eisen, »wir sind verraten! Aber ich werde tun, was Ihr mir befehlt.«Nachdem er seinen Auftrag erledigt hatte, nahm er alle Kleie, die er bei den Bäckern vorfand, und streute sie in sämtlichen Häusern aus, derart, daß man am andern Morgen nicht mehr wissen konnte, wo die Prinzessin die Nacht verbracht hatte.

Die Fee riet nun dem König, seiner Tochter eine blutgefüllte Blase mitzugeben, die Prinzessin sollte diese Blase in dem Hause öffnen, in das sie gebracht würde. La Ramée befahl wieder dem Diener der Kerze, ihm die Prinzessin zuzuführen. »Meister«, sagte der Mann aus Eisen, »wir sind verraten! Aber ich werde tun, was Ihr mir befehlt.« Er drang in die Stallungen des Königs ein, tötete alle Kriegsrosse und alle Ochsen und verspritzte deren Blut überallhin. Am Morgen waren alle Straßen und alle Häuser mit Blut überschwemmt, so daß der König nichts entdecken konnte.

Er ging von neuem zur Fee, ihren Rat zu erholen. »Ihr müßt Wachen zur Prinzessin legen!« sagte sie. Als es Abend geworden war, zündete La Ramée seine Kerze an. »Meister«, sagte der Mann aus Eisen, »wir sind verraten! Es sind Wachen bei der Prinzessin, ich kann nichts gegen sie ausrichten.« La Ramée wollte selbst hingehen. Die Wachen ergriffen ihn, fesselten ihn und warfen ihn in einen finstern, feuchten Kerker. Er weinte und klagte gerade dicht beim Gitterfenster seines Gefängnisses, als er auf der Straße einen alten französischen Soldaten vorübergehen sah, einen ehemaligen Kameraden von ihm. Er rief ihn an. »Ei«, sagte der Soldat, »bist du nicht La Ramée?« —»Ja, der bin ich. Du könntest mir einen großen Gefallen tun, wenn du mir im Gasthof mein Feuerzeug, meinen Tabak und meine Kerze holtest, die du unter dem Kissen finden wirst.« Der alte Soldat erbat dazu die Erlaubnis vom wachhabenden Sergeanten und stellte sich im Gasthof als Bote La Ramées vor. »Dieser Dummkopf schickt Euch?« sagte der Besitzer, »nehmt seinen Plunder nur, ich will nichts mehr davon wissen!« Als La Ramée hatte, worum er gebeten hatte, schlug er sein Feuerzeug an und entzündete seine Kerze. Sogleich erschien der Mann aus Eisen, und die Fesseln La Ramées fielen ab. »Elender«, schrie La Ramée, »kannst du mich hier im Kerker sitzen lassen?« —»Meister«, sagte der Eiserne,



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»ich wußte nichts davon. Ich konnte es nur vermittelst der Kerze erfahren.« — »Nun gut, hilf mir da heraus!«

Der Eisenmann ließ La Ramée aus seinem Gefängnis heraus und gab ihm Gold und Silber, soviel er wollte; dann ließ sich La Ramée auf einen hohen Berg nahe bei der Hauptstadt bringen und befahl dem Mann aus Eisen, dort eine Batterie von zweihundert Kanonen aufzufahren; dann sandte er ihn zum König von England und erklärte diesem den Krieg. Der König ließ hundert Mann gegen ihn marschieren. La Ramées Heer bestand aus fünf Eisenmännern. Der Kampf dauerte nicht lange: alle Leute des Königs wurden getötet außer einem Tambour, der lief davon, dem König Nachricht zu bringen. Darauf forderte La Rarn.?e den König auf, sich zu ergeben, dieser aber antwortete, daß er sich nicht fürchte, und schickte vierhundert Mann gegen ihn, die gleichfalls getötet wurden.

Mittlerweile sah La Ramée einen Blinden mit seiner Frau vorübergehen; dieser Blinde hatte eine erbärmliche Fiedel, der er jämmerliche Töne entlockte. »Guter Mann«, sagte La Ramée zu ihm, »du hast da eine schöne Geige!« —»Lacht nicht über meine Fiedel!« entgegnete der Blinde, »diese Fiedel hat Gewalt über Lebende und Tote.« —»Verkaufe sie mir!« sagte La Ramée. »Das kann ich nicht«, sprach der Blinde, »ich erwerbe mein Brot damit!« — »Wenn man dir zehntausend Franken gäbe, würdest du dann bereit sein, sie herzugeben?« — »Recht gern!« La Ramée zahlte ihm zehntausend Franken und nahm die Fiedel. Darauf schickte er einen Unterhändler zum König, um diesen aufzufordern, seine Tochter herauszubringen und sie ihm zur Frau zu geben, andernfalls würde der Krieg weitergehen. »Als Soldaten hat er zehn Fuß hohe Männer, die acht Fuß lange Schwerter führen«, sagte der Unterhändler. Der König beauftragte diesen, er solle antworten, daß er selber kommen werde, um sich mit La Ramée zu verständigen. Tatsächlich erschien er bald darauf mit seiner Tochter. »Ich gebe Euch zwei Stunden Bedenkzeit«, sagte La Ramée, »wenn Ihr meine Forderungen nicht erfüllt, werde ich die Stadt und das Schloß bombardieren.« Der König dachte einige Zeit nach. »Ich wäre geneigt, Frieden zu schließen«, sagte er endlich, »aber es sind viele tapfere Leute getötet worden.« — »Gnädiger Herr«, versetzte La Ramée, »es gibt nichts Einfacheres, als sie wieder zu erwecken.« Er nahm seine Fiedel, und beim ersten Bogenstrich begannen die Soldaten, die auf dem Boden ausgestreckt lagen, sich zu bewegen. Die einen suchten ihre Arme, die andern ihre Beine und die dritten ihren Kopf. Bei diesem Anblick erklärte sich der König zufriedengestellt und willigte in die Heirat. Als er zu altern



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begann, erklärte er seinen Rücktritt, und La Ramée wurde an seiner Stelle König von England. Da hat ihm der König von Frankreich seine Desertion und seine anderen Missetaten verzeihen müssen.


Der Meisterdieb

Es lebte einst ein Mann, welcher zwei Kinder hatte: einen Knaben und ein Mädchen mit Namen Efflam und Henori. Eines Tages sagte der Vater zu Efflam: »Du bist nun erwachsen, mein Sohn, und solltest imstande sein, dir dein Brot selber zu verdienen. Wie wäre es, wenn du nach Paris gingest, dein Glück zu machen?« —»Gut, Vater, ich werde nach Paris gehen, mein Glück zu machen«, erwiderte Efflam. Und wirklich machte er sich am anderen Morgen auf den Weg nach Paris. Er wanderte und wanderte und setzte immer einen Fuß vor den andern. Eines Tages überraschte ihn die Nacht, als er gerade einen Wald durchschritt. Er stieg auf einen Baum, um geschützt vor den wilden Tieren den Tag zu erwarten. Alsbald erschienen drei mit Beute beladene Räuber unter dem Baume. Sie hoben einen großen Stein auf und legten ihre Beute in eine Höhle, deren Eingang der Stein verdeckte. Dann ließen sie sich unter dem Baume nieder, aßen und tranken und redeten dabei von ihren Abenteuern. Efflam spitzte die Ohren und vernahm folgendes: »Ich«, sagte einer der Räuber, »habe einen Wundermantel, welcher mich durch die Luft trägt, wohin es mir gefällt.«»Ich«, sagte der andere, »besitze einen Hut, der mich unsichtbar macht, und wenn ich ihn auf dem Kopfe trage, kann ich überall hingehen, ohne von jemandem gesehen zu werden.«»Und ich«, sagte der dritte, »habe Gamaschen, mit denen ich so schnell wie der Wind gehen kann, wenn ich sie anlege.« >Wenn ich den Mantel, den Hut und die Gamaschen oder doch eines dieser drei Dinge haben könnte<, sagte Efflam bei sich, >wäre ich ein gemachter Mann! Aber wie soll ich's anstellen, sie zu bekommen?< Er grübelte nach und kam auf diesen Gedanken: er wollte an den belaubten Ästen herabgleiten und sich mitten unter die Räuber fallen lassen, dabei wollte er »Diebe!«rufen, um sie glauben zu machen, der Teufel oder die Gendarmen seien ihnen auf den Hacken. So tat er auch, und die drei Räuber flohen, von Entsetzen ergriffen, so schnell sie konnten, indem sie an Ort und Stelle den Mantel, den Hut und die Gamaschen zurückließen. Efflam bemächtigte sich der drei Talismane und, nachdem er die Gamaschen angelegt hatte, war er im Nu in Paris.

Wie er durch die Straßen spazierte und die schönen Dinge, die er allent



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halben erblickte, über die Maßen bewunderte, bemerkte er einen Goldschmiedladen, der ihn noch schöner und reicher dünkte als alle die andern, und geriet in Versuchung, einige wertvolle Gegenstände daraus zu entwenden. Er setzte seinen Hut auf, drang, ohne bemerkt zu werden, in den Laden und nahm alles, was ihm gefiel. Darauf verkaufte er die Kleinodien, mit denen er sich auf diese Weise versehen hatte, in einem andern Laden, um Geld zu bekommen. Zufällig begegnete er einem Soldaten aus seiner Heimat, mit dem er einige Tage lang ein vergnügtes Leben führte. Als das Geld ausgegangen war, geriet Efflam in keine allzugroße Verlegenheit, denn er wußte, wie er sich neues beschaffen könne.

Eines Tages entdeckte er auf einem Platz einen Händler, der irdene Geschirre verkaufte und sein Geld, wie er es einnahm, in einen neben ihm stehenden Holzkasten legte. >Ich muß ihm seinen Kasten wegnehmen<, sprach Efflam bei sich. Er setzte also seinen Zauberhut auf, entwendete den Kasten mit Leichtigkeit, brach ihn auf, nachdem er ihn beiseite geschafft hatte, und nahm das Geld, das er darin vorfand, heraus. Dann führte er wieder, solange das Geld reichte, ein lustiges Leben.

An einem andern Tage, da er auf einem freien Platze der Stadt spazierenging, hörte er drei Männer miteinander vom Schatze des Königs reden. Sie sagten, der König sei schlecht beraten, daß er Wachtposten an den Turm, der den Schatz enthalte, aufstelle, dem man könne weder Türen noch Fenster in dem Turm wahrnehmen, und die Mauern seien so dick und fest, daß es unmöglich sei, nur die geringste Öffnung hineinzubringen. >Das ist sehr gut!<sagte Efflam zu sich selber, >nun weiß ich doch, wo der Schatz des Königs liegt!< Dann wandte er sich an die drei Männer: »Ihr glaubt also, daß es unmöglich sei, den Schatz des Königs zu stehlen?« —»Ja«, erwiderten sie. »Gut, ich glaube es nicht.« Mit diesen Worten ging er weiter. Als es Nacht geworden war, begab er sich zu dem Turme, breitete seinen Zaubermantel auf den Boden aus, auf dem er sich niederließ, setzte sodann seinen Hut auf und sprach: »Mantel, tu deine Pflicht und trage mich unverzüglich in die Schatzkammer des Königs!«Das geschah augenblicklich, ohne daß die Wächter noch sonst jemand irgend etwas bemerkten. Auf die gleiche Weise kam er wieder heraus, die Taschen gefüllt mit Gold und Silber, das er heimtrug. Das nämliche Geschäft betrieb er die nächste, die übernächste und jede folgende Nacht und stets mit dem gleichen Erfolg. Auf diese Art plötzlich zu Reichtum gelangt, kaufte er sich ein Schloß und berief seinen Vater und seine Schwester zu sich.



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Am Tage, da sie ankommen sollten, fuhr er ihnen zweispännig in einem schönen Wagen entgegen. Als er ungefähr eine Meile von der Stadt entfernt war, gewahrte er, wie sein Vater und seine Schwester zu Fuß und schlecht gekleidet auf der Landstraße daherkamen. Er befahl seinem Kutscher, mit einem Pferde heimzureiten und ihm eine Büchse zu holen, die er auf dem Tische in seiner Kammer habe stehenlassen und nun benötige; er selbst wolle in einem nahen Hause warten. Der Kutscher spannte eines der Pferde aus und ritt davon. Efflam ließ darauf seinen Vater und seine Schwester in ein an der Straße liegendes Haus treten, hieß sie ihre Kleider mit reichen Gewändern vertauschen, die er in seinem Wagen mitgebracht hatte, und gab jedem eine Börse voll Geld, damit der Kutscher, wenn er zurückkehre, sie nicht für arme Bauern halte, die sie in Wirklichkeit waren.

Der Kutscher kam wieder und sprach zu seinem Herrn: »Ich habe die Büchse nicht in Eurer Kammer gefunden.«

»Ach nein, ich hatte sie bei mir im Wagen und wußte es nicht.« Darauf fuhren sie in die Stadt.

Eines Tages fragte der Vater seinen Sohn, wie er es angestellt habe, daß er so reich geworden sei, und Efflam gestand ihm, daß er den Schatz des Königs zu bestehlen pflege. »Wenn es dir recht ist«, sagte der Alte zu ihm, »so werde ich mit dir gehen. Zu zweit können wir einen viel größeren Betrag heimbringen.« — »Das ist mir sehr recht«, entgegnete Efflam. Als es dunkel geworden war, legten sie sich alle beide auf den Mantel, bargen ihre Köpfe unter dem Hut und wurden in die Schatzkammer getragen; dann kehrten sie auf die nämliche Art wieder zurück, beide mit einer Ladung Geld. Indessen bemerkte der König, daß man seine Schatzkammer bestehle, und war sehr erstaunt darüber, denn er vertraute niemals einem Menschen den Schlüssel an, und überdies war nirgends eine Spur von einem Einbruch wahrzunehmen. Er ließ also rings um die Gefäße, welche das Silber und Gold enthielten, Fallen stellen, um darin den Dieb zu fangen. Und wirklich wurde der Vater in der folgenden Nacht darin gefangen. Als er sah, daß er nicht entkommen konnte, sagte er, um wenigstens seinen Sohn zu retten, zu diesem: »Haue mir den Kopf ab und trag ihn samt meinen Kleidern hinaus, damit man uns nicht erkennt!« Efflam folgte dem Rat des Vaters, er trennte ihm den Kopf ab und trug ihn heim, um ihn in seinem Garten zu begraben. Als der König am nächsten Morgen in die Schatzkammer trat, jauchzte er vor Freude auf angesichts des leblosen Körpers. »Ah! Endlich ist der Dieb gefangen! Laß sehen, wer es ist!« Aber weder er noch irgend jemand konnte die kopflose Leiche erkennen, und er geriet



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in größere Verlegenheit als je, denn es war klar, daß der Dieb noch Helfer haben müsse.

Er ließ nun in der ganzen Stadt ausrufen, daß der Dieb endlich gefangen sei und daß man seine Leiche auf einem Schinderkarren durch alle Straßen aller Stadtviertel schleifen werde. So geschah es in der Tat; und vier Soldaten, zwei vorn und zwei hinten, begleiteten die Leiche mit dem Befehl, genau darauf zu achten, ob jemand, wenn sie vorüberkämen, weinte oder jammerte oder sich sonstwie untröstlich gebärde. Efflam ließ seinen Wagen frühzeitig anspannen und sagte vor der Abreise zu seinen Hausgenossen und Nachbarn, er wolle seinen Vater in seine Heimat zurückbringen, nach der ihn verlange. Dies sagte er, um das Verschwinden des Alten zu erklären. Als er ungefähr eine Meile von der Stadt entfernt war, befahl er wiederum seinem Kutscher, eines der Pferde auszuspannen und damit eilends in die Stadt zurückzukehren, um seines Vaters Börse zu holen, die dieser bei der Abreise vergessen habe. Der Kutscher spannte das eine Pferd aus und ritt davon. Kurz darauf sah Efflam auf der Landstraße einen Kurier daherkommen, welcher Briefe trug; diesen fragte er, ob er nicht müde sei? »Noch nicht«, versetzte jener, »aber vor meinem Ziele werde ich es noch werden, denn ich habe einen weiten Weg zurückzulegen.« — »Wenn du willst, werde ich dir meinen Wagen und mein Pferd geben.« —»Spottet meiner nicht, Herr!« — »Ich spotte nicht, und zum Beweis: hier, nimm beides!« Efflam verließ seinen Wagen, ließ den Kurier fast mit Gewalt einsteigen und schlug dann seelenruhig zu Fuß wieder den Weg nach der Stadt ein. Er begegnete seinem Kutscher, welcher zurückkam, und sagte zu ihm: »Ich habe dich wieder einen vergeblichen Gang tun lassen; mein Vater hatte seine Börse in der Tasche und wußte es nicht, bei seinem Alter wird das Gedächtnis schwach. Ich habe ihm meinen Wagen und mein Pferd gegeben, um damit in seine Heimat zurückzureisen; ich selbst muß schleunigst zurück, denn es ist mir beizeiten eingefallen, daß ich heute zu Hause sein muß.« Und er bestieg das Pferd, das der Kutscher mitbrachte, und ritt im Galopp davon.

Bei der Heimkehr eröffnete er seiner Schwester alles und empfahl ihr dringend, nicht zu weinen, zu klagen oder traurig zu erscheinen, noch auch sich zu verbergen, wenn die verstümmelte Leiche ihres Vaters auf einem Schinderkarren vorbeigeschafft werden würde, und er erklärte ihr, wenn sie das geringste Zeichen von Schmerz äußern würde, so wären er und sie selber verloren. Bald hörte man die Volksmenge schreien: »Da ist der, welcher die Schatzkammer des Königs bestahl!« Jedermann lief auf die Türschwelle der Häuser, und eine gewaltige Menge



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folgte der Leiche ohne Kopf, aber niemand wußte zu sagen, wer es sei. Als der Zug vor Efflams Hause vorüberkam, stand dieser gleichfalls neben seiner Schwester auf der Türschwelle. Aber Henori konnte den Anblick nicht ertragen, sie stieß einen Schrei aus und zog sich ins Haus zurück. Efflam folgte ihr und brachte ihr mit einem Dolch eine Wunde an der Hand bei. Sogleich erschienen zwei Soldaten und sprachen: »Wir haben in diesem Hause Wehrufe gehört.«»Ja«, sagte Efflam zu ihnen, »das war meine Schwester, die schreit, weil sie sich an meinem Dolch verletzt hat. Seht, wie sie blutet!« Und in der Tat blutete das junge Mädchen und schrie dabei unaufhörlich. Daraufhin zogen sich die Soldaten zurück.

Die List hatte dem König nichts genutzt, und er besann sich auf etwas anderes. Er ließ die Leiche des Diebes an einen Nagel hängen, der in die Mauer seines Schlosses eingerammt war, und in der Nachbarschaft Posten auf die Lauer legen, denn er war überzeugt, daß in der nächsten Nacht die Verwandten oder Freunde des Diebes versuchen würden, die Leiche zu holen. Als Efflam dies sah, verkleidete er sich als Weinhändler, belud einen Esel mit Schläuchen, die mit einem mit Betäubungsmitteln untermischten Weine gefüllt waren, und ging damit in Begleitung seiner Schwester an der Schloßmauer vorüber, an der die Leiche seines Vaters hing. Durch einen Stoß seiner Schultern ließ er die Schläuche herabfallen, von denen einer, der eigens dazu hergerichtet war, sich entkorkte. Seine Schwester und er begannen zu schreien und um Hilfe zu rufen.

Die Wächter eilten herbei, halfen ihnen die Schläuche wieder auf den Esel laden und erhielten zum Dank den, der beim Herabfallen sich geöffnet hatte, aber trotzdem noch über die Hälfte voll war. Darauf setzten Efflam und seine Schwester ihren Weg fort. Aber ungefähr eine Stunde später kehrten sie zurück und fanden die Wächter auf dem Boden ausgestreckt in tiefem todesähnlichen Schlaf. »Sehr gut«, sagten sie. Darauf begaben sie sich in ein benachbartes Mönchskloster unter dem Vorwand, sie wollten ihren trefflichen Wein zu billigem Preis verkaufen. Mit Hilfe ihres Weines schläferten sie die Mönche vom Abt bis zum Pförtner ein und benutzten die Zeit, um ihren Vater auf dem Klosterfriedhof in geweihter Erde zu bestatten. Dann vertauschten sie die Kleider der Mönche mit denen der Soldaten, so daß die Mönche als Soldaten und die Soldaten als Mönche ausstaffiert waren. Am andern Morgen, als es Zeit war, die Frühmesse zu singen, schleppten sich die Mönche noch halb im Schlaf und mit noch halb geschlossenen Augen in die Kapelle. Der erste von ihnen, der die eigenartige Mummerei des



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Abtes gewahrte, war zunächst starr vor Staunen. Er rieb sich die Augen und glaubte, er sehe nicht recht. Aber da er trotzdem einen Soldaten statt eines Mönches vor sich sah, stieß er seinen Nachbarn mit dem Ellbogen an und sprach zu ihm: »Schau doch unsern Abt an, wie er gemustert ist! Was soll das heißen?« Großes Erstaunen des andern seinerseits. Aber als sie ihre Blicke auf die Nachbarn rechts und links vom Abte gleiten ließen, sahen sie, daß diese nicht minder als Soldaten verkleidet waren, und ebenso die ganze Reihe der Mönche, die ihnen auf der andern Seite des Chores gegenüberstand. Darauf betrachteten sie sich selbst und erkannten, daß sie alle wie Soldaten angezogen waren. Was soll das heißen? Das ist zweifellos ein Streich des bösen Feindes! Die Gesänge und Gebete verstummten, und man versuchte, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Als indessen der Hauptmann am Morgen kam, um die mit der Bewachung der Diebsleiche beauftragten Soldaten zu besuchen, war er gleichfalls sehr erstaunt, sie in tiefem Schlaf und als Mönche vermummt vorzufinden. Was aber das ärgste war: die Leiche des Diebes war verschwunden. Er geriet in großen Zorn, fluchte, tobte und weckte die Soldaten mit Fußtritten. Das Gerücht verbreitete sich schnell in der Stadt, daß die Leiche des Schatzräubers verschwunden sei und die mit ihrer Bewachung betrauten Soldaten am Morgen sinnlos berauscht und als Mönche verkleidet vorgefunden wären, während die Mönche des benachbarten Klosters, ebenso betrunken, die Waffenröcke der Soldaten trügen. Dies wäre unfehlbar ein neuer Streich des Schatzdiebes. Das machte Aufsehen in der Stadt und wurde viel belacht. »Ich bin wieder genarrt«, sagte der König, als er alles, was sich ereignet hatte, erfuhr, »ich muß gestehen, daß das ein sehr geschickter Dieb ist; aber gleichviel, ich will wissen, wie weit seine Geschicklichkeit geht, denn ich hoffe sehr, noch einen Mangel bei ihm zu finden.«

Er ließ nun in der ganzen Stadt ausrufen, daß er am nächsten Tage auf einem öffentlichen Platze vor seinem Schloß eine schöne weiße Ziege zur Schau stellen werde, die ihm gehöre und die er sehr liebe. Gelänge es dem Diebe, sie zu stehlen, so solle sie ihm gehören. >Gut<, sagte Efflam, bei sich, als er den Ausrufer hörte, >die weiße Ziege des Königs wird mir gehören, ehe morgen die Sonne untergeht.<In der Tat wurde am folgenden Morgen die weiße Ziege auf dem Platz vor dem königlichen Schloß zur Schau gestellt, und es sammelte sich dort eine beträchtliche Menge, die neugierig war zu erfahren, wie der Dieb trotz der bewachenden Soldaten zum Ziele käme. Der König selbst stand mit der Königstochter auf dem Balkon, umgeben von Prinzen, Generälen und



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Herren des Hofes. Efflam setzte nun seinen Zauberhut auf und entwendete die Ziege so leicht wie nur irgend möglich, ohne daß jemand etwas davon sah oder begriff. »Ich bin wieder genarrt«, rief der König ärgerlich, als er bemerkte, daß die Ziege verschwunden war. »Aber wer ist dieser Mann? Er muß ein großer Zauberer sein, denn hinter alledem muß Zauberei stecken. Gleichviel! Ich halte mich noch nicht für besiegt und will wissen, wie weit das geht.«

Efflam hatte die Ziege des Königs getötet, sobald er heimgekehrt war, und hatte seiner Schwester befohlen, sie zu ihrem Mahle herzurichten; dabei gebot er ihr, das Kochen in aller Heimlichkeit vorzunehmen und auch nicht das kleinste Stück einem Bettler oder sonst jemandem zu geben. Indessen dachte der König darauf, die Geschicklichkeit und Schlauheit seines Diebes einer neuen Probe zu unterziehen. Er ließ einen blinden Bettler kommen und befahl ihm, an den Türen aller Häuser der Stadt um Almosen zu bitten, besonders aber überall um ein wenig Fleisch, das er gleich nach Empfang verkosten müsse. Gäbe man ihm irgendwo Ziegenfleisch, so solle er mit einem Stück weißer Kreide ein Kreuz an die Tür des Hauses machen, in dem er es erhalten habe, und sogleich kommen, um ihn zu benachrichtigen. Aber Efflam hatte das weiße Kreuz auf seiner Türe bemerkt und fragte seine Schwester, ob sie ihm in irgend etwas ungehorsam gewesen sei. Henori sagte, sie habe allerdings den Rest ihrer letzten Mahlzeit einem alten Bettler gegeben, der wegen seiner Blindheit ihr Mitleid erweckt habe. Efflam sprach weiter kein Wort, sondern versah sich mit einem Stück Kreide und beeilte sich, durch die ganze Stadt zu laufen und auf jede Tür ein Kreuz zu zeichnen. Die Soldaten machten vor der ersten Tür, auf der sie ein Kreuz bemerkten, halt und sagten: »Hier ist es.« Sie traten in das Haus und fanden zwei alte Leute, Mann und Frau, die sie aufforderten, ihnen in das Schloß des Königs zu folgen. »Was will der König von uns?«fragten sie höchst erstaunt. »Ihr habt seinen Schatz und seine Ziege gestohlen!« »Wie sollten wir das angefangen haben«, riefen sie voller Schreck, »alt und hilflos wie wir sind? Seit mehr als sechs Monaten haben wir keinen Fuß mehr aus dem Hause gesetzt.« Die Soldaten sahen, daß sie alt und hilflos waren, sie schauten einander an und sprachen: »Es ist klar, daß diese es nicht sind. Laßt uns sehen, ob wir kein Kreuz an einer anderen Tür finden!« Und sie gingen weiter und bemerkten zu ihrer Überraschung, daß die Türen aller Häuser des Viertels ähnliche Kreuze aufwiesen; dies meldeten sie dem König. »Was für ein Mann ist dieser Dieb!«rief der König und grübelte über ein anderes Mittel nach, ihn zu überführen.



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Am nächsten Morgen ließ er ausrufen, daß er seine Königskrone auf dem öffentlichen Platz vor seinem Schloß zur Schau stellen wolle, und sie solle dem gehören, der sie, ohne sich dabei erwischen zu lassen, entwenden könne. Efflam hörte das und sprach zu sich selber: >Die Krone wird mein sein ebenso wie die Ziege.< Die Königskrone wurde am bezeichneten Ort und zur angegebenen Stunde zur Schau gestellt. Eine ansehnliche Menge war auf dem Platz versammelt, welche begierig war zu sehen, ob es dem Diebe gelingen werde, auch noch die Krone zu stehlen. Der König und sein Hofstaat standen auf dem Balkon des Schlosses, und zahlreiche Soldaten hielten mit gezogenem Degen rings um das Sammetkissen, auf dem die Krone ruhte, Wache. Aber alle diese Vorbereitungen nutzten nicht das geringste, denn Efflam setzte seinen Zauberhut auf und entwendete die Königskrone mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er die Ziege genommen hatte.

Der alte Monarch war überzeugt, daß er es mit dem schlausten aller Diebe seines Königreiches zu tun habe, und überdies mit einem großen Zauberer, und er begriff, daß es umsonst sei, sich weiterhin mit ihm zu messen. Er dachte daher, es sei das beste, was er tun könne, wenn er ihn zu gewinnen und an sich zu fesseln trachtete, statt ihn zu verfolgen.

Er ließ also verkünden, daß er am nächsten Tage seine einzige Tochter an demselben Orte zur Schau stellen werde, an dem er die weiße Ziege und die Königskrone ausgestellt hatte, und wenn es dem Dieb wieder gelingen werde, sie zu entführen, so wolle er sie ihm zur Frau geben. Er war freilich überzeugt, daß der Dieb diese letzte Probe ebenso leicht bestehen werde wie alle früheren. Und in der Tat entführte Efflam die Prinzessin auf die nämliche Weise und brachte sie in sein Haus, ohne daß jemand wußte, was aus ihr geworden sei.

Als der König in sein Schloß zurückgekehrt war, begab sich Efflam in Begleitung der Prinzessin dorthin und erinnerte den alten Monarchen an sein Versprechen. Dieser zögerte nicht, sein Wort zu halten, und die Hochzeit Efflams mit der Prinzessin wurde mit großem Prunk gefeiert. Mehr noch: der König, welcher Witwer war, nahm selbst Henori zur Frau, die Schwester seines Schwiegersohnes, und einen ganzen Monat lang gab es nichts als große Feierlichkeiten, Spiele und Festmähler.



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Tartari-Barbari

»Poch, poch!« »Wer ist draußen?« »Ich, mein Herr!« »Und wo kommst du her, mein Freund?« »Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris!« »Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund!«»Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Ich habe eine Mühle auf dem Wipfel einer Ulme gesehen, die Mehl mahlte.« »Oh, das ist nicht wahr! Werft mir doch diesen Lügner ins Gefängnis!«

»Trara!« »Wer kommt da?« »Ich, mein Herr!« »Und wo kommst du her, mein Freund?« »Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris!« »Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« »Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Ich habe einen großen schwarzen Hund gesehen, der vom Wipfel einer Ulme herunterstieg, den Schwanz ganz mit Mehl bestäubt!« »Ach, liebe Freunde, sicher hat der Hund das Mehl aus jener Mühle gefressen! Laßt mir doch den Armen aus dem Gefängnis heraus!« »Trara!« »Wer kommt da?« »Ich, mein Herr!« »Und wo kommst du her, mein Freund?« »Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris!« »Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« »Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Als ich durch Paris kam, habe ich einen Vogel gesehen, der mit seinen Flügeln ganz Paris bedeckte!«»Bah! Das kann nicht wahr sein, werft mir diesen Lügner ins Gefängnis!«

»Trara!« — »Wer kommt da?« —»Ich, mein Herr!« —»Und wo kommst du her, mein Freund?« —»Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris.« —»Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« —»Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Ich habe eine Menge Leute gesehen, tausend und aber tausend, welche mit eisernen Stangen ein Ei durch die Straßen von Paris rollten.« — »Ach, gewiß hat jener Vogel ein so großes Ei gelegt! Laß mir doch den Armen aus dem Gefängnis heraus!«

»Trara!« — »Wer kommt da?« —»Ich, mein Herr!« —»Und wo kommst du her, mein Freund?« — »Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris!« —»Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« —»Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Ich sah die Teiche und die Flüsse brennen wie Stroh!« —»Bah! Ihr seht doch ein, daß das nicht wahr sein kann! Werft mir diesen Lügner ins Gefängnis!«

»Trara!« —»Wer kommt da?« — »Ich mein Herr!« — »Und wo kommst



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du her, mein Freund?« —»Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris.« —»Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« —»Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Ich habe etwas Seltsames gesehen! Auf der Heide und in den Wiesen, überall habe ich Karpfen und Hechte gesehen, die mit versengtem Schwanze flüchteten.« — »Ach, sie kamen gewiß aus jenen Flüssen! Ach, mein Gott, laßt mir doch diesen Armen aus dem Gefängnis heraus!«

»Trara!« —»Wer kommt da?« —»Ich, mein Herr!« —»Und wo kommst du her, mein Freund?« —»Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris.« —»Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« —»Ach, mein Herr, was ich gesehen habe? Die Gruben, die Gräben, die Becken, alles habe ich voll Brei gesehen!« — »Bah! Das kann nicht wahr sein! Werft mir diesen Lügner ins Gefängnis!«

»Trara!« —»Wer kommt da?« —»Ich, mein Herr!« —»Und wo kommst du her, mein Freund?« — »Mein Herr, ich komme von Tartari-Barbari, hundert Meilen jenseits von Paris.« —»Und was hast du auf dem Wege gesehen, mein Freund?« —»Ach, mein Herr, überall, wo ich vorüberging, habe ich Haufen von Löffeln gesehen, überall, überall!« —»Ach, die Löffel sollten gewiß dazu dienen, jenen Brei zu essen! Laßt mir doch diesen Armen aus dem Gefängnis heraus!«


Der Mann in allen Farben

Es war einmal ein alter Holzhacker, der verwitwet war und mit seinen sieben Söhnen mitten in einem großen Walde wohnte. Eines Tages rief der Holzhacker seine sieben Söhne zu sich und sprach: »Ihr Burschen! Bis heute habe ich geschwitzt, um euch euer Brot zu verdienen. Jetzt, da ihr groß seid, geht selbst hin und arbeitet für euren Lebensunterhalt. Ich habe noch genug Kraft, um nicht auf Almosen angewiesen zu sein. Wenn ich nicht mehr kann, so werde ich einen Sack nehmen und von Tür zu Tür um Brot betteln gehen, wie es einst unser Herr Jesus Christus getan hat.« — »Vater, wir sind reisefertig! Wann wir Geld haben, werden wir Euch welches bringen, und Ihr sollt nicht betteln gehen.« »So geht! Der liebe Gott bewahre euch! Aber zuvor will ich noch jedem von euch ein Geschenk machen.« Der alte Holzhacker öffnete nun seinen Kasten, darin befand sich ein Kleid, das war aus allen Farben zusammengestückelt, weiterhin eine Börse, die enthielt sechs Dukaten. Er gab jedem einen Dukaten, wobei er bei dem ältesten der Söhne anfing,



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so daß für den jüngsten nichts mehr übrigblieb. Die, welche ihre Dukaten empfangen hatten, verabschiedeten sich von ihrem Vater und gingen fort. Dann sagte der alte Holzhacker zu dem Jüngsten, der noch wartete: »Bursch, nimm dieses zusammengestückelte Kleid und sei nicht neidisch auf deine Brüder! Du wirst der Mann in allen Farben sein.« Gesagt, getan. Der Mann in allen Farben nahm Abschied von seinem Vater und ging fort.

Bei Sonnenuntergang gelangte er an den Saum eines großen Waldes und streckte sich unter einer Eiche nieder, um hier die Nacht zu verbringen. Der Mann in allen Farben war gerade am Einschlummern, als er Schreie und Geräusch in den Ästen vernahm. Eine Drossel war es, die bei ihrem Nest klagte, weil eine Schlange sich emporgeringelt hatte, um ihre Kleinen zu fressen. Sogleich nahm der Mann in allen Farben seinen Stock und schlug die Schlange entzwei. Die Schlange war aber von der Art derer, die das unter der Erde verborgene Gold bewachen. Sie hatte in ihrem Bauche zwölf Doppellouisdor und ebenso viele spanische Quadrupel. »Gut«, sagte der Mann in allen Farben, »die Doppellouisdor sind für mich und die spanischen Quadrupel für meinen Vater.« Er streckte sich wieder unter der Eiche aus, schlief die ganze Nacht und ging bei Sonnenaufgang weiter.

Nach drei Stunden Marsch machte er in einer Herberge an der Seite der Straße halt. Als er Suppe gegessen und eine Flasche getrunken hatte, bezahlte er die Pächterin und fragte sie nach dem Weg. »Mann in allen Farben, wenn du immer geradeaus gehst, so wirst du in drei Tagen in Paris sein. Wenn du aber rechts gehst, so kommst du um Mittag in das Land des Hungers und Durstes, und ich weiß nicht, wohin du dann gelangst.« Der Mann in allen Farben hielt sich rechts. Gerade um Mittag gelangte er in das Land des Hungers und Durstes. Dort gab es keinen Fluß, keinen Bach, keinen Brunnen, keine Quelle. Die Erde war dort so trocken wie der Boden eines Backofens. Menschen und Tiere, groß und klein, Gras und Bäume, alles kam dort um, gekocht und gebraten von der Sonne. Drei Tage und drei Nächte lang wanderte der Mann in allen Farben, ohne zu essen und zu trinken. Da fand er einen Toten auf dem Boden ausgestreckt, der noch in seiner rechten Hand eine schmiedeeiserne Stange hielt, die neun Zentner wog. Der Mann in allen Farben beerdigte den Toten, betete für ihn zu Gott, nahm die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange und wanderte weiter, bis der nächste Morgen dämmerte.

Bei Sonnenaufgang hatte er das Land des Hungers und Durstes hinter sich. Aber vor ihm lag ein Gebirge, steil wie eine Mauer, das mehr als



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hundert Klafter hoch aufstieg. Am Fuße des Gebirges gewahrte er ein Haus, dessen Türen und Fenster sperrangelweit offenstanden. Es war das Haus des Ohneseele, der gerade ausgegangen war, um seinen Rundgang zu machen. Der Mann in allen Farben trat ein. Er nahm einen Brocken Brot vom Brett, stieg in den Keller, um sich Wein zu holen, und begann zu essen und zu trinken. Hierauf legte er sich ins Bett mit der neun Zentner schweren schmiedeeisernen Stange in Reichweite und schlief bis Mitternacht. Da wurde er durch lautes Gepolter geweckt. Es war Ohneseele, der von seinem Rundgang zurückkam. »Ho! Ho! Ho! Wer hat sich da bei mir eingenistet? Warte, du Dieb, warte! Ich will dir den Geschmack am Brot verleiden!«Aber der Mann in allen Farben war schon aus dem Bett gesprungen und hatte die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange mit der Hand umklammert. Nun gab es einen großen Kampf, der drei geschlagene Stunden währte. Schließlich wurde der Ohneseele durch einen gewaltigen Schlag auf den Kopf zu Boden gestreckt. »Mann in allen Farben, laß mich nicht länger leiden! Nie wirst du mich töten können. Es ist geweissagt, daß ich nicht sterben kann bis zum Ende der Welt, um nie wieder aufzuerstehen. Laß mich nicht länger leiden, und ich werde alles tun, was du mir gebietest.« —»Gut, Ohneseele, zeige mir, wo man den Berg erklimmt. Aber zeige recht, sonst hüte dich vor meiner neun Zentner schweren schmiedeeisernen Stange!« Nun zeigte der Ohneseele dem Mann in allen Farben die gute Straße, und dieser kletterte wie eine Geiß durch die hohen und steilen Felsen.

Plötzlich bemerkte er einen Wolf, der war so groß wie ein Stier und lief im Galopp mit offenem Rachen auf ihn los. Was tat nun der Mann in allen Farben? Er schwang seine neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange und schlug damit solchermaßen auf den Kopf des Tieres, daß es auf den Tod verwundet niederstürzte. »Mann in allen Farben«, sagte der Wolf, »du bist nicht der erste, der ohne zu sterben das Land des Hungers und Durstes durchquert und dem Ohneseele seinem Willen aufgezwungen hat. Von denen, die bis hierher gekommen sind, habe ich viele gefressen. Aber manche sind weitergegangen und sind nun an einem Ort, den du alsbald erreichen wirst. Da ich durch deine Hand falle, so iß mein Fleisch und trink mein Blut, denn du brauchst Mut und bist noch nicht am Ende deiner Leiden.« Der Mann in allen Farben wartete, bis der Wolf tot war. Dann aß er sein Fleisch und trank sein Blut und fühlte sich alsbald von einer gewaltigen Kraft durchdrungen.

Eine Stunde später stand er auf dem Kamme des Gebirges, das hier an



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hundert Klafter tief unmittelbar in einen Fluß abstürzte, der eine halbe Meile breit war. Das Wasser dieses Flusses machte ein furchtbares Getöse und strömte schneller als der Wind. Auf der anderen Seite des Flusses erblickte er ein Land so wunderschön, so wunderschön, daß man glauben konnte, es sei das Paradies des lieben Gottes. Auf dem Kamme des Gebirges traf der Mann in allen Farben eine Menge Leute, die ihren ganzen Mut dazu aufgewendet hatten, um bis hierher zu gelangen. Einige weinten, andere knieten nieder, falteten die Hände und riefen: »Mein Gott, mein Gott, gib, daß wir hinüberkommen!« Da dachte der Mann in allen Farben: >Der liebe Gott steht denen nicht bei, die alles ihm überlassen. Diese Leute werden nie hinüberkommen.< Manche beratschlagten sich immer und entschlossen sich nie; sie sagten: »Gut wegkommen ist alles, nur keine Eile! Wir haben Zeit!« Da dachte der Mann in allen Farben: >Diese reden und handeln nie bis zum Tage des Gerichts. Es gibt Zeiten, da es zu reden, und Zeiten, da es zu handeln gilt. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Diese Leute werden nie hinüberkommen.< Andere redeten miteinander: »Stürzen wir uns alle auf einmal hinab. Helfen wir einander, schwimmen wir mitsammen, alle mitsammen!« Da dachte der Mann in allen Farben: >In diesem Falle muß man alles geben und nimmt nichts. Diese Leute werden nie hinüberkommen.< Es waren auch zwei oder drei da, die, kühn wie sie waren, hinabsprangen. Aber anstatt sich geradeaus zu halten, kehrten sie sich nach denen um, die vom Kamm des Gebirges aus zuschauten und schrien: »Rechts! Links! Nicht so! Ihr seid verloren!«

Diese Leute kamen nie hinüber, und die Fluten bedeckten sie für immer. Da dachte der Mann in allen Farben: >Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.< Er versteckte sich hinter einem Felsen, rollte seine Kleider zusammen und band sie sich auf den Rücken, dann machte er das Zeichen des Kreuzes und sprach: »Mut, Freund!« Er sang ein lustiges Lied und sprang ohne Furcht und Grauen hinab. Als er im Wasser war, schwamm er immer geradeaus, er schwamm sicher und ausdauernd wie ein Fisch, ohne sich umzukehren und auf die Rufe der Leute auf dem Gebirge zu hören.

Eine Stunde später zog er auf dem andern Ufer des Stromes seine Kleider wieder an. Der Mann in allen Farben begrüßte höflich die Leute, die auf dem jenseitigen Ufer des Flusses zurückgeblieben waren, aber diese wurden zornig, als sie sahen, daß er herübergekommen war. Sie zeigten ihm die Faust und überhäuften ihn mit Schmähungen. Aber er lachte nur darüber und setzte seinen Weg fort.

Als er eine Stunde gegangen war, begegnete er einem bärtigen Zwerg,



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der keine zwei Spannen groß war. »Mann in allen Farben, du mußt mir folgen!« —»Gern, Zwerg!« Beide gingen Seite an Seite, bis sie an eine große, schwarze Höhle kamen, die sich weit unter die Erde erstreckte. Lange, lange stiegen sie in dieser Höhle abwärts. Der Zwerg jedoch, der hinten nachging, richtete es so ein, daß später kein Mensch mehr hindurchgehen konnte, sei es, um hinab- oder hinaufzusteigen. Der Mann in allen Farben und der Zwerg kamen schließlich unten an und gewahrten ein kleines Licht. Sogleich hielten sie sich in dieser Richtung. Während sie wanderten, wurde das Licht immer größer. Endlich befanden sie sich auf der Schwelle eines großen Tores, das sich gegen ein schönes Land öffnete; in diesem stand ein großes Schloß mit hundert Meierhöfen ringsherum. »Mann in allen Farben! Ich schenke dir dieses große Schloß und die hundert Meierhöfe ringsherum. Von nun ab versuche glücklich hier unter der Erde zu leben, denn nie wirst du Mann noch Weib wiedersehen.«

Der Zwerg verschwand, und der Mann in allen Farben klopfte an die Türe des großen Schlosses. Sogleich öffnete eine Hand das Tor. Eine andere Hand führte ihn in einen großen Saal, wo eine Tafel gedeckt war und ein Mahl von einem Dutzend Händen dargereicht wurde. Aber es war dort weder Mann noch Weib. Nach dem Essen durchsuchte der Mann in allen Farben das ganze Schloß vom Speicher bis zum Keller. Überall sah er Hände, die in der Küche arbeiteten, die Zimmer besorgten und ähnliche Dinge verrichteten. Im Hofe stand ein großer eiserner Käfig, in dem ein Adler saß, dessen Fuß mit einer Kette gefesselt war. Hände brachten ihm zweimal am Tage rohes Fleisch. Drei Stuten waren im Stall, eine weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut. Diese drei Tiere wurden ebenfalls von Händen bedient, die sie striegelten, ihnen Streu gaben und es ihnen nicht an Heu, Stroh und Hafer fehlen ließen. Aber es war dort weder Mann noch Weib.

Der Mann in allen Farben lebte also wohlversorgt lange Zeit im großen Schloß, aber er war immer allein und wurde eines solchen Lebens recht herzlich müde. Um seine Zeit zu vertreiben, ging er morgens und abends in den Stall, und wenn er die drei Stuten versorgt hatte, trug er dem Adler, der im Eisenkäfig gefesselt war, rohes Fleisch zu. Diese vier Tiere schlossen so innige Freundschaft mit ihrem Herrn, daß sie nicht mehr von den Händen bedient werden wollten. Eines Tages begann der Adler zu reden: »Mann in allen Farben, du langweilst dich, weil du ständig allein in diesem großen Schlosse bist. Glaubst du, daß ich mich besser unterhalte, ich, der ich immer am Fuße gefesselt und



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in einen Eisenkäfig eingesperrt bin? Befreie mich! Ich werde durch die Höhle, in der du herabgekommen bist, auf die Erde fliegen. Jeden Tag werde ich kommen und dir Nachricht von oben bringen.« Der Mann in allen Farben befreite den gefangenen Adler und sprach zu ihm: »Adler, geh in mein Heimatland und bringe mir Nachricht von meinem Vater. Sage ihm, daß ich unter der Erde gefangengehalten werde und daß er mich niemals, niemals wiedersehen wird.« Der Adler flog davon und kehrte noch am gleichen Abend zurück. »Mann in allen Farben, ich habe deinen Vater gesehen. Er ist uralt, er kann nicht mehr arbeiten. Drei deiner Brüder helfen ihm, so gut sie können. Aber sie verdienen nicht genug, um ihn zu ernähren. So kommt es, daß der arme alte Mann oft seinen Sack nimmt und von Tür zu Tür um sein Brot bettelt, wie es einst unser Herr Jesus Christus getan hat. Jetzt habe ich alles gut eingerichtet, und das soll nicht mehr vorkommen. Ich weiß, wo ich mich zu versorgen habe, und dein Vater soll alltäglich sein Auskommen haben.« —»Danke, Adler!«Von diesem Tage an waren der Mann in allen Farben und der Adler innige Freunde. Jeden Morgen flog der Adler an seine Geschäfte, jeden Abend brachte er Nachrichten mit.

Eines Abends sagte er zu seinem Freund: »Mann in allen Farben, dort oben geht etwas vor, was des Redens wert ist. Es ist da ein König, der hat vier Töchter, schön wie der Tag. Ein Zwerg hat ihm die drei ältesten geraubt und hält sie irgendwo versteckt, nur die jüngste ist bei ihrem Vater geblieben. Jetzt höre, was der König heute morgen in allen Gemeinden des Landes durch einen Trommler hat verkünden lassen: >Ran plan, plan! Ran plan, plan! Alle tapferen Leute und kühnen Ritter werden vom König aus benachrichtigt, daß im nächsten Monat in der Stadt Babylon drei große Pferderennen abgehalten werden, jeden Sonntag eines. Wer dreimal den Sieg erringt, soll am Sonntag darauf die Tochter des Königs heimführen.<« Nun wurde der Mann in allen Farben traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte.

Eines Morgens gewahrte die Stute, die so rot war wie Blut, daß ihr Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das erste Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst.« — »Blutrote Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« —»Gut, gehen wir!« Die blutrote Stute rannte schneller als der Wind davon und kam eine Stunde später in die Stadt Babylon.



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Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war zu Ende, das Rennen begann, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Aber die blutrote Stute flog schneller als der Wind, und sie war am Ziel, als die andern Rosse noch keine hundert Schritte gemacht hatten. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Die blutrote Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß. Der Mann in allen Farben wurde wieder sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am nächsten Sonntag gewahrte die Stute, die so schwarz war wie ein Rabe, daß ihr Herr weinte: »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das zweite Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst.« — »Rabenschwarze Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« »Gut, gehen wir!«Die rabenschwarze Stute rannte schneller als der Wind davon, und dennoch kam sie erst zwei Stunden später in die Stadt Babylon.

Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, seit einer Stunde hatte das Rennen begonnen, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Aber die rabenschwarze Stute flog noch schneller als die blutrote, und sie war am Ziel, als die andern noch auf der Hälfte des Weges waren. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Die rabenschwarze Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.

Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am folgenden Sonntag gewahrte die Stute, die so weiß war wie der Schnee, daß ihr Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst, und ich könnte dir aus deiner Not helfen. Mit mir würdest du das dritte Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt, und ich darf ihn einmal hin und zurück durchmessen.« —»Gut, so hilf mir aus der Not!« — »Ich will nicht!« — »Ich bitte dich darum!« Der Mann in allen Farben bat so lange, bis die schneeweiße Stute erwiderte: »Gut, schwöre mir, daß du wieder mit — »Schneeweiße Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« Die schneeweiße Stute rannte schneller als der Wind davon. Dennoch kam sie erst drei Stunden später hinkend in die Stadt Babylon.



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Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, das Rennen war beinahe zu Ende, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Die schneeweiße Stute ging in kurzem Trab und hinkte. Da rief das Volk: »Schade, der Mann in allen Farben wird nicht zum Ziel kommen.«Und der Mann in allen Farben schrie in Verzweiflung: »So lauf doch, schneeweiße Stute!« — »Ich kann nicht, ich hinke ja!«Und der Mann in allen Farben verzweifelte, denn drei Reiter hatten nur noch hundert Schritte bis zum Ziel und waren nahe am Sieg. Da wieherte die schneeweiße Stute und flog so schnell, so schnell, daß man sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. In der Zeit, die man braucht, um Amen zu sagen, hatte sie alle anderen Rosse überholt und war am Ziel. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Aber die schneeweiße Stute rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.

Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am Sonntag darauf gewahrte der Adler, daß sein Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst, und ich möchte dir aus deiner Not helfen. Unglücklicherweise sind die Wege, welche die drei Stuten durchmessen haben, jetzt für ewig verschlossen. Es bleibt nur noch die Höhle, durch die du mit dem Zwerg herabgeschritten bist. Steige rittlings auf meinen Rücken, ich werde dich im Fluge davontragen. Aber das ist keine kleine Mühe. Um bis zum Ende zu kommen, muß ich während der Reise gut ernährt werden. Nimm eine Menge rohes Fleisch mit, um mich auf der Reise zu versorgen.« Der Mann in allen Farben holte eine Menge rohes Fleisch und stieg auf den Rücken des Adlers, der seinen Flug begann. »Mutig, mein Adler!« Und der Adler flog gewaltig geradeaus. Jeden Augenblick schrie er: »Rohes Fleisch! Rohes Fleisch!« Und der Mann in allen Farben versorgte ihn und rief ihm fortwährend zu: »Mutig, mein Adler!« Hundert Klafter unter dem Erdboden begann die Speise auszugehen. »Rohes Fleisch! Rohes Fleisch!« Da zog der Mann in allen Farben sein Messer, schnitt ein Stück von seinem Schenkel ab, versorgte den Adler und gab ihm sein warmes Blut zu trinken.

Fünf Minuten später gelangten beide in die Stadt Babylon. Es war acht Uhr morgens. Jedermann trug sein Feiertagsgewand. In allen Kirchen läuteten die Glocken wegen der Hochzeit der Königstochter. »Mann in allen Farben«, sagte der König von Babylon, »du kannst meine Tochter erst haben, wenn du mir ihre drei Schwestern wiederbringst!«



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Da sagte der Adler: »Warte hier auf mich!«Der Adler flog davon; eine Stunde später kam er wieder und zerrte den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß war, an den Haaren mit. Der Zwerg klopfte mit dem Absatz auf den Boden. Sogleich erschienen die drei Stuten: die eine war weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut. Die drei Stuten waren die drei ältesten Töchter des Königs von Babylon, die der Zwerg in Stuten verwandelt hatte, um sie besser verstecken zu können. Alsbald nahmen sie ihre alte Gestalt wieder an. »Mann in allen Farben«, sagte der König von Babylon, »ich kann dir nun nichts mehr abschlagen.« Nun wurde die Hochzeit gefeiert. Niemals wird man etwas Ähnliches sehen. Der Mann in allen Farben ließ seinen Vater holen. Ebenso ließ er seine drei Brüder kommen, die dem alten Mann geholfen hatten, und jeder von ihnen heiratete eine Prinzessin. Am Ende der Hochzeit, die einen ganzen Monat dauerte, sagte der Adler: »Mann in allen Farben, schon lange diene ich dir. Und doch hast du mich noch nicht ausgelohnt.« — »Adler, verlange, was du willst.« —»Mann in allen Farben, gib mir den höchsten Turm in Babylon, damit ich darauf mein Nest baue! Gib mir auch den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß ist!« —»Adler, es ist gut, nimm, was du brauchst!« Da zerrte der Adler den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß war, auf den höchsten Turm von Babylon. Dort riß er ihm die Augen aus und fraß ihn bis auf die Knochen.


Das Teufelswirtshaus

Vater Satan sagte eines Tages: »Auf Erden gibt es eine Straße, auf der viele Reisende daherkommen; das ist die Straße der Neugier. Ich will dort ein Wirtshaus aufmachen und zwei von meinen Söhnen ausschicken, die die Wirtschaft führen sollen. Aber ich will sie häßlich machen, so häßlich, daß niemand des Weges kommen wird, der nicht sagt: >Ihr Unseligen, was habt ihr gemacht, daß ihr so ausschaut?«

Der Teufel rief einen von seinen Söhnen herbei, und damit er so häßlich würde, wie beabsichtigt, schlug er ihm die Nase ein, riß ihm ein Ohr auseinander, schor ihn kahl und verunzierte ihm die Stirne mit einem schrecklichen Geschwür. Bei dem andern machte er es ebenso und sprach: »Geht auf die Erde, richtet euch an der Straße der Neugier ein und schickt mir alle herunter, die euch fragen, was euch passiert ist. Hierher zurückkehren dürft ihr erst, wenn ihr einen gefunden habt, der so hartgesotten ist, daß er gleichgültig an euch vorüberzieht.«



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Die Teufelssöhne machten sich auf den Weg, und tausend Jahre lang sandten sie eine riesige Menge von Neugierigen in die Hölle hinab. Kein Passant war vorbeigekommen, ohne von Mitleid gerührt zu werden. Aber kaum hatte er seine Frage gestellt: »Was ist mit euch?«, als er auch schon von Stockschlägen niedergestreckt und in Stücke geschnitten war. Das Fleisch servierten die Teufel dann den Reisenden, die als nächste kamen.

Es lebte damals eine sehr arme Frau. Als sie alles verkauft hatte, was sie besaß, blieben ihr 45 Francs, und diese teilte sie unter ihre Söhne. Eines Morgens sagte sie zu ihrem ältesten Sohn: »Mein Kind, nimm diese fünfzehn Francs, zieh aus und mach dein Glück.«

Der Älteste verließ seine Mutter und seine Brüder und schlug die Straße der Neugierde ein, welche breiter und schöner war als alle andern. So kam er an das Wirtshaus, und da er hungrig war, trat er ein. Doch als er die beiden Unholde erblickte, regte sich sein Herz in ihm, und er konnte sich nicht enthalten zu fragen: »Ihr Unglücklichen, was für eine schreckliche Krankheit hat euch so abgenagt?« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als er auch schon von Stockschlägen niedergestreckt und seine Leiche in einen finsteren Keller geworfen war.

Einige Zeit danach sagte die Mutter zu dem zweiten Sohn: »Mein Kind, nimm deine fünfzehn Francs, zieh aus und mach dein Glück.« Und der zweite Sohn ging ebenfalls fort und schlug den nämlichen Weg ein, der ihm ebenfalls zum Verhängnis wurde.

Und die Mutter sagte dasselbe zu ihrem letzten Sohn: »Mein Kind, nimm deine fünfzehn Francs, zieh aus und mache dein Glück.« Auch dieser zog aus. Unterwegs traf er eine schöne Dame, die ihn fragte: »Antonarello, wo gehst du hin!« —»Ich gehe das Glück suchen.« — »Du bist sehr jung dafür; dazu muß man viel Erfahrung haben und alle seine närrischen Launen kennen, und selbst dann trifft es nicht immer ein.« »Und was ist am notwendigsten, damit man es findet?« —»Notwendig ist, daß du mit deinen fünfzehn Francs drei Ratschläge von mir kaufst.« — »Das will ich gern«, sagte Antonarello, »denn ich sehe wohl, daß Ihr über meine Angelegenheiten besser Bescheid wißt als ich selber.« Und die Dame sprach: »Das ist der erste Rat: Misch dich nicht in fremde Angelegenheiten ein. —Willst du noch einen?« —»Ja.« — »Gib nie den alten Weg für den neuen auf!« — »Gebt mir noch den dritten!« »Sei blind und taub.« —»Danke, Madame, hier sind die fünfzehn Francs.« Und Antonarello, der nicht gemerkt hatte, daß es die liebe Heilige Jungfrau gewesen war, setzte ruhig seinen Weg fort. Doch wie groß war seine Überraschung, als er die Hand in die Tasche steckte und dreimal



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soviel Geld fand, als darin gewesen war. >Ein Wunder!<dachte er und machte sich fröhlich wieder auf den Weg.

Nach einiger Zeit traf er auf eine sehr schöne Straße. >Ob ich die einschlage?< dachte er. Doch er erinnerte sich an den ersten Rat, und das war sein Glück, denn an diesem Weg waren drei Diebe versteckt, die ihn unfehlbar umgebracht hätten.

Nach einigen Tagen traf er mehrere Leute, die sich prügelten. >Man muß sie trennen<, dachte Antonarello, doch der zweite Rat: »Misch dich nicht in fremde Angelegenheiten!« hielt ihn zurück. Er hatte großes Glück, denn die Streitenden gerieten in solche Wut, daß sie sich gegenseitig umbrächten bis auf den letzten Mann, und der brave kleine Bruder wäre umgekommen wie die andern zwei.

Nachdem er viele Tage gewandert war, kam er schließlich vor der Teufelsosteria an. »Heda, Wirtschaft, ich habe großen Hunger, was könnt Ihr mir anbieten?« — »Was Euch beliebt.« Der Wanderer ließ sich ein ausgezeichnetes Mahl auftragen, aß gut, trank noch besser, zahlte und ging.

Da ließ sich ein schreckliches Gebrüll vernehmen, und einer von den Teufeln sprach zu Antonarello: »Staubgeborener, du hast aber ein ziemlich hartes Herz, daß du so ungerührt an uns vorüberziehst!« — »Ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten, und wenn nötig, bin ich blind und taub.«

Die Teufel sahen ein, daß sie nichts erreichen konnten, und gaben sich geschlagen. Sie zündeten das Wirtshaus an, damit niemand mehr dort Zuflucht finde, und kehrten schäumend vor Wut in die Hölle zurück. Vater Satan empfing sie sehr unsanft, schickte sie aber bald wieder aus, um an einer anderen Straße ein Hotel zu errichten. Die Ernte wird ja immer gut sein und die Hölle kaum jemals arbeitslos.

Antonarello aber ging seine Straße fort. Ob er das Glück schon gefunden hat, weiß ich nicht, aber er wird es sicher bald finden, wenn er die Ratschläge anwendet, die ihm die liebe Heilige Jungfrau gegeben hat.


Die Mutter des heiligen Petrus

Die Mutter des heiligen Petrus war ihr Leben lang so böse gewesen, daß Gott sie nach ihrem Tod nicht in den Himmel lassen wollte. Sankt Petrus war darüber sehr traurig; er aß nichts mehr und magerte zusehends ab.



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Das bemerkte der Herr und sprach zu ihm: »Petrus, warum bist du so traurig?« Petrus antwortete: »Herr, seht Ihr nicht, was für Qualen meine Mutter in der Hölle leiden muß?« — »Das tut mir leid, aber sie hat's nicht anders verdient. Sage mir, Petrus, hat sie in ihrem ganzen Leben auch nur eine einzige gute Tat getan? Schau nach, und wenn du eine findest, wie klein sie auch sein mag, dann verspreche ich dir, sie in den Himmel zu lassen.«

Sogleich begann Sankt Petrus das Buch durchzublättern, in dem das Leben seiner Mutter aufgezeichnet stand. Seite um Seite wandte er um, aber nicht die geringste gute Tat. Da er aber mit aller Kraft suchte, fand er doch etwas, nämlich daß sie einmal einem Armen, der fast Hungers starb, ein Lauchblatt gegeben hatte.

Triumphierend eilte der heilige Petrus zum Herrn und sagte: »Herr, Herr, sie hat ein Lauchblatt hergeschenkt!« —»Gut denn, so soll dieses Lauchblatt ihre Rettung sein.«

Sogleich nahm der heilige Petrus ein Lauchblatt, das wuchs und wuchs, bis es in die Hölle hinabreichte. Die Mutter des heiligen Petrus hängte sich unverzüglich daran. Als sie so zum Himmel aufstieg, hängte sich ein Verdammter an sie, an diesen ein zweiter, ein dritter, ein vierter - schließlich zog das Lauchblatt alle Verdammten mit hinauf.

Da merkte die böse Frau, daß sie nicht allein war. Wütend teilte sie nach allen Seiten Fußtritte aus. »Ob ihr losläßt! Mein Sohn hat das Lauchblatt nicht für euch heruntergelassen!«

»Laß sie mitkommen, Mutter«, sagte der heilige Petrus, »sei nicht undankbar.« Doch die Mutter hörte nicht darauf und fuhr mit ihren Fußtritten fort, damit kein andrer Unglücklicher sich mit ihr retten konnte.

»Nun, Petrus«, sprach da der Herr, »was sagst du dazu?«

Sankt Petrus senkte das Haupt; dann ließ er das Lauchblatt aus und ließ seine Mutter in die Tiefen der Hölle zurückfallen.


Die steinerne Suppe

Es waren einmal zwei Schwestern, die eine sehr reich, die andere sehr arm. Eines Tages kam die arme, die sechs Kinder hatte, zu der reichen und sagte: »Gib mir ein halbes Schwarzbrot, denn ich habe nichts mehr zu essen.«Doch die Schwester schlug es ihr ab und sprach: »Komm und backe mir mein Brot, wenn du von mir ernährt werden willst.«

Die arme Frau nahm dies an und erhielt für ihre Arbeit jeden Tag eine Semmel. Das war arg wenig für eine ganze Familie. Deshalb behielt die



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arme Schwester -Anna war ihr Name - immer die Hände voll Teig, wenn sie nach getaner Arbeit heimkehrte, und wusch sie sorgfältig in eine Schüssel mit Wasser hinein. Von diesem Wasser kochte sie eine Suppe ihren Kleinen zu essen, und die wurden ganz frisch und rosig davon. Die Kinder von Maria, der bösen Schwester, aber waren schwach und kränklich, obwohl sie alles hatten, was ihr Herz begehrte, und jeder, der sie sah, rief sofort: »Die armen Kinder!«Dadurch wurde Maria eifersüchtig. >Wie können die so rund und hübsch sein?<dachte sie. >Sie essen eigentlich nichts Besonderes und sind doch besser beisammen als die meinen, die alles bekommen.<

Eines Tages, während Anna bei ihr das Brot machte, begab sich Maria in das Haus der armen Schwester und schaute nach, was die Kinder aßen. »Nun, wie ist's, habt ihr heute schon gefrühstückt?« —»Ja, liebe Tante.« —»Was hat es denn gegeben?« —»Die Mutter hat uns eine Suppe gemacht.« —»Und wo hat sie das Mehl hergenommen? Habt ihr eins im Haus?« — »Nein, aber wenn die Mutter heimkommt, hat sie die Hände immer ganz weiß, dann wäscht sie sich die Hände und stellt den Topf mit dem Wasser auf. Dann ist die Suppe gleich fertig, und wir essen sie.«

>Ah<, dachte die böse Maria, >meine Schwester trägt Teig aus dem Haus, das werde ich ihr schon austreiben.< Von diesem Tag an mußte Anna sich die Hände waschen, bevor sie das Haus verließ. Und die armen Kinder, die keine Suppe mehr zu essen hatten, wurden genauso mager wie die Kinder der bösen Maria.

Eines Abends hatte Anna nichts mehr, was sie ihren Kindern hätte vorsetzen können. Sie setzte sich traurig am Herd nieder und fing zu weinen an. »Mutter, was hast du?« fragten die Kinder. Die arme Frau senkte den Kopf und schwieg. Der Älteste, als er seine Mutter so traurig sah, glaubte, sie sei krank, und verhielt sich still. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und sagte ganz unglücklich: »Ich habe Hunger, so argen Hunger!«Das Jüngste, das, um seiner Mutter keinen Kummer zu machen, beiseite geblieben war, kam jetzt auch immer näher heran, umarmte die Mutter und sagte: »Liebe Mutter, wenn du wüßtest, was für einen Hunger ich habe!« Und da die Mutter nichts sagte, fingen alle Kinder zu weinen an.

Da wachte Anna auf einmal wie aus einem tiefen Schlafe auf. »Was habt ihr, Kinder? Warum weint ihr so?« — »Wir haben Hunger!« — »Was nicht gar! Wir haben ja Geld und wollen gleich eine gute Suppe machen. Du, Francesco, bring Wasser im Topf; Giovanni soll Holz holen und ein ordentliches Feuer anzünden. Hört auf zu weinen; ich gehe ein



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großes Stück Fleisch kaufen und bin gleich wieder da.«Und Anna verließ das Haus und begab sich zu Maria.

»Schwester, liebe, gute Schwester, magst du mir nicht ein klein wenig Brot geben, damit ich meine Kinder füttern kann?« — »Ich gebe gar nichts; wer Brot haben will, soll es sich verdienen.« — »Ich flehe dich an! Wenn du es weigerst, müssen wir alle Hungers sterben.« — »Was geht das mich an? Ich habe dich immer bezahlt für deine Arbeit, ich bin dir nichts schuldig.«

Traurig kehrte Anna heim. >Was soll ich ihnen nur geben?<dachte sie. >Wenn sie nur noch bis morgen aushielten, da könnte ich vielleicht etwas auftreiben.<Auf einmal kam ihr ein Gedanke. Sie nahm drei schöne Steine und wickelte sie in Papier ein. Zu Hause angekommen, stellte sie sich ganz vergnügt. »Francesco, bist du Wasser holen gewesen?« — »Ja, Mutter; hast du Fleisch dabei?« — »Freilich. Und du, Giovanni, hast du Holz gebracht?« —»Ja, einen großen Haufen. Sag, braucht das Fleisch lang, bis es fertig ist?« — »Nein, liebe Kinder, gar nicht lang. Geht inzwischen spielen; wenn das Fleisch fertig ist, rufe ich euch.« Und die Kinder gingen fröhlich fort. >Wie herrlich, wir bekommen etwas zu essen!<dachten sie. Inzwischen hatte Anna den Topf aufs Feuer gesetzt und die drei Steine hineingetan.

Nach einiger Zeit kamen die Kinder heim. »Ist das Fleisch fertig?« — »Nein, noch nicht ganz.« —»Dauert es noch lang?« — »Es wird bald fertig sein; geht nur inzwischen wieder spielen.« Aber die armen Kinder rührten sich nicht von der Stelle, denn sie hatten zum Spielen nicht mehr Kraft genug. Nach einiger Zeit fragte der älteste wieder: »Mutter, ich habe Hunger -ist das Fleisch noch nicht gar? Schau genau, damit du dich nicht täuschst.« — »Warte nur noch ein bißchen, es wird gleich gar sein; horcht nur, wie der Kessel kocht!« Die Kinder warteten weiter. Als die Mutter aber immer wieder sagte, daß das Fleisch noch nicht fertig sei, fingen sie alle zu weinen an.

In diesem Augenblick klopfte es an die Türe: pum pum pum! »Wer ist da?« — »Ein armer Mann bittet um Einlaß.« — »Wir haben nichts, das wir Euch geben könnten, guter Mann.« —»Ich will mich ja nur ein wenig wärmen, wenn Ihr mich am Herd niedersitzen laßt.« — »Laß ihn herein«, sagten die Kinder, »wir haben doch bald Fleisch!«

Anna machte die Türe auf, und der Bettler setzte sich an den Herd. Als er sich richtig gewärmt hatte, bat er: »Gebt mir ein Stückchen Brot!« »Ach, wir haben gar nichts, nicht einmal ein Stückchen Brot.« Der arme Mann schüttelte traurig den Kopf und sprach: »Anna, Anna, Ihr seid nicht barmherzig! Ihr habt den Schrank voll weißem Brot, und mir



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wollt Ihr nicht einmal ein Stück davon geben.« — »Ganz bestimmt, ich habe nichts, sonst ließe ich mich doch nicht so bitten.« — »Gut, wenn Ihr kein Brot habt, gebt Ihr mir ein Stück von dem Fleisch?« —»Ich habe keines.« — »Und was ist dort in dem Topf?« — »Ganz und gar nichts zum Essen. Das Wasser kocht wohl, aber es ist kein Fleisch darin.«

Als die Kinder dies hörten, weinten sie noch ärger. »Wir haben solchen Hunger!« sagten sie. Die arme Mutter war ganz verzweifelt. »Ihr seid sehr böse«, sagte der Bettler, »Eure Kinder so leiden zu lassen.« — »O Gott, was soll aus ihnen werden? Wir werden alle Hungers sterben.« »Wenn Ihr weder Brot habt noch Fleisch«, sagte der Bettler, »so gebt mir wenigstens ein bißchen von dem guten Wein, den Ihr im Keller habt.« — »Ihr seid im falschen Hause, ich habe nichts, sage ich Euch, aber auch gar nichts.«

»Was, Ihr habt kein Schwein geschlachtet? Ihr habt keine Schinken? Auch keine Käslaibe und keine Broccios?« —»Nein, ich habe von dem allem nichts.« — »Ihr wollt mich belügen, Anna. Ich bitte Euch, gebt mir und den Kindern ein wenig Brot und Fleisch; wir haben alle sehr Hunger.«

»Gut, wenn Ihr mir nicht glauben wollt, schaut selbst in den Topf.« »Oh, soviel Fleisch!« rief der Bettler, wie er den Deckel abnahm. »Das reicht ja für zwei Tage!« Und schon zog er drei große Stücke heraus. Die Kinder waren sehr froh. »Ist es endlich fertig?«fragten sie. »Ja, es ist schön weich«, antwortete der Bettler. »Jetzt brauchen wir noch Brot und Wein. Holt etwas, Anna.«

Die arme Frau lief voll Verwunderung an den Schrank und in den Keller. Und wirklich fand sie eine Menge Brot und drei große Fässer ausgezeichneten Wein. »Was sagt Ihr jetzt?« sprach der Wandersmann. »Ich dachte, ihr habt nichts zu essen?«

Anna traute ihren Augen nicht, und alle aßen und tranken. Als sie fertig waren, wollte der Arme, der um Einlaß gebeten hatte, noch Käse haben, und die glückliche Frau fand auf ihrem Speicher auch davon mehr als genug; außerdem hing dort ein schönes, gut gesurtes und geräuchertes Schwein samt Broccio und Würsten. Der Freudenrufe war kein Ende: »So viel gute Sachen! So ein Glück!« Die arme Frau kam vom Speicher herunter, die Arme voll Vorräten. »Warum habt Ihr mich belogen?« sagte der Bettler. —»Der liebe Gott hat ein Wunder für uns gewirkt, denn wenn ich etwas gehabt hätte, hätte ich Euch ganz gewiß etwas gegeben.«

»Ja, ich habe ein Wunder für Euch gewirkt. Ich wollte Eure armen Kinder nicht Hungers sterben lassen, die Ihr so lieb habt und für die Ihr alles



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getan habt, was in Euren Kräften stand. Eure Schwester Maria aber will ich bestrafen, weil sie gegen Eure Bitten taub war.«

»Herr«, sagte Anna zitternd und bebend, »ich flehe Euch an, tut ihr nichts; ich verzeihe ihr alles.«

»Weil Ihr ein so gutes Herz habt, sollen alle die Vorräte bis zu Eurem Ende vorhalten, aber der Stolz der Bösen muß gebeugt werden. Hört zu, was ich sage: Heute noch will ich die ganze Ernte Eurer Schwester verbrennen, ihre Herden vernichten und ihr Haus in Asche legen.« Darauf verließ der Herr in Bettlergestalt das Haus, und bald hörte man all die Übel berichten, welche die böse Schwester getroffen hatten. Anna war darüber sehr unglücklich, aber sie hatte nichts vermocht gegen den Willen des Herrn. »Zu Hilfe, zu Hilfe!« rief es von allen Seiten, und die Glocken verkündeten düster die Feuersbrunst, deren Flammen zum Himmel aufstiegen. Aber alles war umsonst; man konnte nichts retten. Plötzlich erfüllte ein furchtbares Krachen die Luft; Marias Haus stürzte zusammen, die Strafe Gottes war erfüllt. Mit einem Schlag wurde die reiche Maria arm wie die ärmste Bettlerin. Es blieb ihr nichts, weder Rinder noch Schafe noch Ziegen; alles war dahin wie ein Traum.

Die böse Schwester und ihre Kinder waren ins tiefste Elend gestürzt. Niemand wollte sie aufnehmen, denn alle hatten unter Marias Stolz zu leiden gehabt. Sie zog durch die Straßen und bat: »Ein Almosen, Leute!« Doch alle kehrten ihr den Rücken zur Strafe für ihre Bosheit. Eines Tages kam Maria, traurig und sehr verändert, in das Haus ihrer Schwester Anna. »Magst du mir nicht ein ganz kleines Stück Brot geben? Meine Kinder sterben vor Hunger.« — »Gewiß, Schwester, setz dich hin und nimm, was du brauchst.« Und die gute Anna gab ihr ein ganzes Brot samt Fleisch und Wein. »Iß nur, iß! Wo sind denn deine Kinder?« — »O Gott, sie sind tot.« — »Arme Schwester. Warum hast du mich angelogen? Hast du Angst gehabt, daß ich dir sonst das bißchen Brot verweigere?« —»Ich bin so böse zu dir gewesen, daß ich nicht gehofft habe, dein Mitleid zu erregen; aber ich dachte, wenn ich für sie bitte, stößt du mich nicht zurück.« — »Ich hätte dir auch so gegeben. Ach, was mußt du durchgemacht haben? Bleib ganz bei uns, und es soll dir nichts abgehen. Nachdem der liebe Gott mich reich gemacht hat, ist es nicht mehr als gerecht, daß auch du davon profitierst.«

Maria weinte vor Freude. Sie nahm das Angebot ihrer Schwester sofort an und hatte von nun an die Kinder der guten Anna so lieb, als ob es ihre eigenen gewesen wären. Und die beiden Schwestern lebten noch lange und waren glücklich bis zum letzten Tag.



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MÄRCHEN AUS DEN NIEDERLANDEN


Jan Vettegraf

In alten Zeiten war einmal ein Mann - er hieß Jan-, der kehrte aus fernen Ländern zurück nach Hause. Als er eine Zeitlang gewandert war, verirrte er sich, und er kam an einen ganz hohen Berg; da war kein Haus noch die Spur von einer Menschenseele zu sehen.

Der Mann schaute betrübt darein, denn inzwischen war es Abend geworden, und sein Magen fing an zu knurren. Er versuchte alle Wege links und rechts und geradeaus, sah sich nach allen Seiten um und wußte nicht, was er anfangen sollte, seinen Hunger zu stillen.

Da hörte er auf einmal in der Ferne ein Spinnrad schnurren, rrr rrr rrr! Er lauschte, woher das Geräusch kam, ging in der Richtung vorwärts. Da saß eine Spinnerin, ein steinaltes Mütterchen, die ließ das Rädchen schnurren, daß es eine Lust war zuzuhören. Durch das ewige Treten hatte sie einen ganz platten breiten Fuß bekommen und von dem Fadenfeuchten eine lange vorstehende Unterlippe.

»Wie kommst du hierher geschneit?«fragte die Alte, als Jan eintrat; »seit die Welt steht, bist du der erste Mensch, der den Fuß über meine Schwelle setzt. Was willst du von mir?« — »Ich wandre nach Hause«, sagte Jan, »und hab mich verirrt und kenne hier nicht Ost noch West. Und um die Wahrheit zu sagen, ich hab solchen Hunger, daß ich einem Nagel den Kopf abbeißen könnte.«

»Gut«, sagte die Spinnerin, »du sollst mein Gast sein, setz dich.« Darauf schnitt sie ihm eine dicke Butterstulle und füllte ihm einen Krug mit einem wundervollen Getränk. Davon wurde Jan so quick und munter, daß er bald mit der Frau lustig am Schwätzen war.

»Wohnst du hier so mutterseelenallein, Mutter?«fragte Jan. »O nein«, sagte Gret Weißwohl - so hieß sie nämlich -, »ich wohne hier mit den vier Winden.« — »Mit den vier Winden?« sagte Jan und machte große Augen. »Mit den vier Winden! Wie soll ich das verstehen?« — »Nun, die vier Winde sind meine vier Söhne«, sagte Gret. »Deine vier Söhne!«



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sagte Jan, »ach, die möchte ich wohl sehen.« — »Das kannst du, warte nur einen Augenblick, sie kommen gleich nach Hause.«

Und wirklich, es war noch keine halbe Minute herum, da kam plötzlich etwas angesaust und gebraust, und zugleich drang eine so kalte Luft herein, daß einem die Nase fror. »Hier«, sagte die Spinnerin, »siehst du's nun? Da ist Norden, er hat eine Reise über See gemacht.«

Und da stand er wirklich, der Kerl, seine langen Haare wehten wild durcheinander, und sein dunkles Gesicht war wie verhagelt, sein Bart wie Pfeffer und Salz wie bei einem, der durch den Schnee gegangen ist. Ein Vaterunser später kamen noch zwei hereingestürmt, fast wäre der Alten, von dem heftigen Wind, der Flachs vom Rocken geflogen.

»Guten Tag, Mütterchen«, sagten sie alle beide zugleich, obwohl sie von entgegengesetzten Seiten kamen, »wie geht's wie steht's und wo ist das Nestküken denn?«

Kaum waren die Worte über ihre Lippen, da wurde es mollig und warm wie mitten im Sommer, so daß Jan vor Schläfrigkeit anfing zu gähnen. Und da stand auch schon der Süden vor ihm, ein schlanker juner Mann, mit flachsblondem Bart, langem Krülihaar, in einem grünen Mäntelchen. »Ah, mein lieber Junge!« sagte die Alte, »wo hast du gesteckt? Wenn das Wegbleiben kein Ende nimmt, dann muß ich nächstes Mal böse werden.« —»Nein, nein, Mutter, du wirst nicht schimpfen, wenn du hörst, daß ich in dem Lande gewesen bin, wo man nicht stirbt.« — >Wo man nicht stirbt!<dachte Jan und sah aus, als ob er Schnee brennen sähe. >Nach dem Land möcht ich auch mal.<

»Gut«, sagte Süden, der Jans Gedanken gehört hatte; »ich ziehe morgen wieder hin. Willst du mit? Aber du mußt alles tun, was ich sage, sonst kommst du nicht hin.« — »Nur ruhig«, sagte Jan, »du brauchst nur zu befehlen.«

Den andern Morgen vor Tau und Tag stand Jan schon fix und fertig, als der Südwind noch im Bette lag und schnarchte. Ungeduldig gingen Jan hin und her wie einer, der auf Schildwache steht, und jedesmal wenn er vor Südens Schlafkammer kam, stampfte er ein- oder zweimal, bis Süden endlich wach wurde und rasch aufsprang.

»Ach, du bist's, der da schon so'n Lärm macht«, sagte Süden. »Wahrhaftig, du bist kein Langschläfer; komm, wir brechen gleich auf, aber paß wohl auf, was ich dir sag', sonst . . . Sieh, da ist eine Pelzmütze«, sagte Süden, »die mußt du aufsetzen und immer dicht bei mir bleiben, sonst verirrst du dich! Und hüte dich, daß du das Mützchen nicht vom Kopfe fliegen läßt. Denn wenn das geschieht, ehe wir den Boden erreichen, fällst du herab und brichst den Hals.«



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»Nur keine Angst«, sagte Jan und setzte dabei seine Mütze auf, und im Augenblick war er unsichtbar geworden, auch für sich selbst. Dann tat Süden sein Mäntelchen an, fing an zu wehen, und Hui! stob er mit Jan hinaus.

Als sie schon Stunde um Stunde geflogen waren, sahen sie von weitem ein schönes Schloß stehen, und Süden sagte zu seinem Gefährten: »Da wohnt der König des Landes, in dem man nicht stirbt.«

»Können wir nach dem Palast fliegen?«fragte Jan, »ich möchte ihn aus der Nähe besehen.« —»Einverstanden«, sagte Süden, und sie stoben hin wie die Schwalben. Da flog von dem starken Luftzug ein Fenster auf, und sie gerieten in die Kammer der Königstochter. Als sie hereinwehten, wurden alle die kostbaren Sachen und Sächelchen, die auf Tischen und Schränken lagen und standen, emporgehoben und umgeworfen. Jan, wie von der Hand Gottes geschlagen, vergaß sein Käppchen auf dem Kopf festzuhalten; plötzlich flog es ab, und da stand er nun, wie er leibte und lebte, sichtbar vor der Prinzessin, während Süden schon auf dem Nachhauseweg war.

Die Königstochter fand es herrlich, einen sterblichen Menschen zu sehen, und sie fragte Jan, woher er käme. Jan erzählte, und darüber kam der König und wollte sehen, was es da gab. Als der König von dem ifnbekannten Lande reden hörte, wurde er immer freundlicher zu dem fremden Gast und bot ihm zuletzt an, ganz dazubleiben und sein Schwiegersohn zu werden. Daß Jan nicht nein sagte, versteht sich. Als er aber über ein Jahr mit der Prinzessin gelebt hatte, dachte er an seine Mutter und bekam je länger je mehr Heimweh nach ihr. »Herr König«, bat er eines Tages, »darf ich einmal nach Haus und sehen, wie es meiner alten Mutter geht?«

»Du magst gehen«, sagte der König, »aber was willst du dort? Es wird dich keine lebende Seele mehr kennen; du wohnst hier schon viel länger, als du denken magst.«Als der König aber sah, daß Jan nicht davon abzubringen war, holte er sein bestes Pferd, und beim Abschied sagte er, er solle ja nicht von dem Pferde steigen; er würde es sonst bitter bereuen.

»Keine Sorge, keine Sorge!« sagte Jan und weg war er. Als er nun zu guter Letzt in seine Heimat kam, kannte er weder Land noch Sand, weder Mensch noch Tier; alles war anders, und was er gekannt hatte, tot und begraben. Er ritt zum Bürgermeister und ließ nachschlagen, aber alles war verlorene Mühe; sie durchsuchten zwei, drei dicke Folianten, fanden aber niemand, der da hieß wie Jan, nämlich Johannes Vettegraf, genannt Jan Knop von Munkenreede. Der Bürgermeister wollte das



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Suchen aufgeben, da kam ihm zufällig noch ein altes Register unter die Finger, das die Mäuse halb aufgefressen hatten. Er schlug es auf, und da stand Jan wirklich, mit Tauf- und Zunamen, gebucht vor siebenhundert Jahren.

»Wollt Ihr nicht bei mir zum Essen bleiben, mein Herr?« sagte der Bürgermeister, neugierig geworden. »Nicht nötig«, sagte Jan, machte rechtsum kehrt und ritt weg, ohne von seinem Pferd gekommen zu sein, denn er hatte die Warnung von seinem Schwiegervater noch nicht vergessen.

Als er nun wieder ein gut Stück Weges zurückgelegt hatte, sah er einen alten Mann unter einer Karre verbrauchter und zerbrochener Wagenräder liegen. Der arme Teufel ächzte und jammerte, daß es Jan erbarmte und er nicht an das dachte, was ihm sein Schwiegervater befohlen hatte. »Komm«, sagte er, »ich will dir helfen, Kamerad.« Und er zog den Alten unter dem Wagenrad hervor. Aber kaum war Jan von seinem Pferde gestiegen und der alte Taugenichts auf den Beinen, da packte er Jan fest an der Schulter. »Ha, Vogel, nun hab' ich dich gefangen. Siehst du all die zerbrochenen Räder auf meiner Karre? Die hab ich in Stücke gefahren, als ich dich verfolgte. Es sind schon siebenhundert Jahr, mußt du wissen, daß ich dir vergebens nachsetzte, aber nun hab ich dich; mein Name ist Pietje der Tod.« Das letzte Wort war gerade ausgesprochen, als Vettegraf, genannt Jan Knop von Munkenreede, der so lange gelebt hatte, tot hinfiel wie ein Stein.

En er kwam een kater,
En hij sprong in 't water.
En er kwam een puit
En 't vertelselken is uit.


Die drei Schwestern

Es gibt da drei Göttinnen, drei Schwestern, die wachen über den Menschen von der Geburt bis zum Tode. Das war so und ist noch so, obwohl die Menschen behaupten, daß es nicht so wäre. Und es wird auch immer so bleiben.

Die drei Schwestern heißen Wara, Werdenda und Sala. Wara, die jüngste, ist bei der Geburt dabei und gibt jedem Neugeborenen seine Tugenden und Untugenden, Gaben und Mängel auf den Lebensweg. Werdenda, die zweitjüngste, geleitet den Menschen durch Wohl und Wehe, Glück und Not. Sala endlich, die älteste und häßlichste, schneidet



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den Lebensfaden durch. Sie ist alt und häßlich, neidisch und mißgünstig auf ihre schönen Schwestern und alle, denen diese Schönheit verleihen.

Eines Tages wurde im Norden an der See in einer armseligen Hütte ein Kind geboren. Vater und Mutter saßen überglücklich um die Wiege. Wara war vom Glück der Eltern ganz gerührt.

»Ich werde das Kind reich beschenken«, sagte sie. »Es soll schön und gut werden, edel und klug.«

»Und ich«, sprach Werdenda, »werde das Kind die Pfade des Glücks und der Freude führen.«

Da erschien Sala und verzerrte ihr Gesicht vor Haß und Bosheit, als sie sah, was ihre Schwestern dem Kinde beschert hatten. Ihre Mißgunst war grenzenlos, als sie das Glück der Eltern sah, die den kleinen Wicht im Flackerschein einer Kerze immerzu ansahen.

»Meine Schwestern haben gewünscht«, sprach sie endlich, »das Kind solle schön und gut sein, und es solle die Pfade des Glücks und der Freude wandeln, doch sterben soll es, sobald diese Kerze niedergebrannt ist!« Und damit verschwand sie.

Wara und Werdenda standen bestürzt. Eilends blies Wara die Kerze aus und entfloh damit. Werdenda eilte ihr nach.

Sie ließen aus Blei eine Büchse machen, bargen darin die Kerze und warfen sie weit hinaus ins Meer, wo das Wasser am tiefsten ist. Und es ist der Wunsch der bösen Sala nicht in Erfüllung gegangen.


Lange Wapper


1

Eines Abends wurde Pitje an die Docks geschickt, um eine Botschaft für seinen Herrn auszurichten. Da zog ein Wetter herauf.

Um den Weg abzukürzen, ging er auf dem Rückweg am »Kraanenhoofd« vorbei. Und plötzlich sah er Lange Wapper dastehen. Er ragte mit dem Kopf in die Wolken, und die eine Hand stützte er auf den großen Kran.

Pitje erschrak und bog aus. Aber er sah noch gerade, wie Lange Wapper sich zur Erde beugte. Es schien, daß er etwas aufhob und in die Scheide warf. Und während es durch die Luft flog, erkannte der erschrockene Piet, daß es ein Mensch war, wie ihr und ich. Lange Wapper hatte ihn geschnappt und ins Wasser geschleudert.

Und daß er sich nicht getäuscht hatte, bestätigten die Zeitungen am



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nächsten Morgen. Ein Schiffer war die Nacht nicht an Bord zurückgekehrt. Drei Tage später wurde seine Leiche aufgefischt.


II

Lange Wapper stand wieder am großen Kran. Die Fischer kamen, einer nach dem andern vom nächtlichen Fang zurück, da plötzlich ein tobendes Unwetter hereingebrochen war. Sie waren froh, gleich mit ihren Booten im Hafen zu landen, und neben sich froh die Hände. Aber sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Plötzlich blies Lange Wapper, legte die hohlen Hände an den Mund und blies, als wollte er die ganze Welt wegpusten mit allem, was darauf und daran ist. Die Boote fegten durcheinander wie Papierschiffchen und alle Fischer ertranken. Die Leute, die an der Reede wohnten, haben hinter der Gardine gesessen und es beobachtet. Aber sie waren mehr tot als lebendig und getrauten sich nicht vor die Tür. Und wenn es auch schon lange her ist, die Antwerpener erzählen noch mit Schrecken von dieser Nacht.


III

Eines Abends spät polterte Lange Wapper in eine Kneipe an der Kipdorpbrücke. Er sah aus wie ein Hausierer. Und daß er ein Krämer sei, das glaubten wahrhaftig die drei Herren, die um den großen Tisch saßen und auf den vierten Mann zum Skat warteten. Lange Wapper fragte, ob er nicht mitspielen solle, bis der vierte Mann käme. Die drei waren einverstanden, und im Nu war das Spiel im Gange. Eine Partie folgte auf die andere, Lange Wapper verlor, verlor, soviel man nur verlieren konnte. Plötzlich warf er seinem Nachbarn vor, er betrüge. Es fielen grobe Worte, und bald war eine Prügelei im Gange. Wütend warf Lange Wapper die drei Kartenbrüder einen nach dem andern in die Ecke, kratzte das Geld, das auf dem Tisch liegen geblieben war, zusammen und sprang aus dem Fenster.

Als die drei das sahen, sprangen sie ihm nach und rannten hinterdrein. »Haltet den Dieb!« riefen sie durch die stillen Gassen.

Lange Wapper lief Straße ein, Straße aus zur Schelde. Und hinter ihm die drei Skatspieler. Am Brouwersvliet hatten sie ihn fast eingeholt. Da blieb Lange Wapper stehen. Und je näher sie kamen, um so gewaltiger wuchs Lange Wapper in den Himmel. Im Handumdrehen stand er da, hoch wie der Liebfrauenturm.



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Zu spät sahen die drei, daß sie Lange Wapper vor sich hatten. Der schlang sie in seine langen Arme und warf sie in das Fleet.


IV

In der Lei stand der Freßhof. Der hieß so, weil dort eine gefräßige Frau wohnte. Wie Lange Wapper sie eines Tages abfing, als er im Bauernkittel mit Eiern hausieren ging, das sollt ihr jetzt hören.

Die gierige Spinne, die bei jedem Eierkauf, und wenn die Eier noch so groß und frisch waren, herunterhandelte, versuchte das auch bei Lange Wapper.

»Gut«, sagte er schließlich, »ich lasse sie Euch billiger.« Da rannte die geizige Frau die Treppe hinauf, um ihren Geldbeutel zu holen. Aber Lange Wapper rief ihr nach: »Dein Geldbeutel soll mit jedem Schritt 1000 Pfund schwerer werden.«

Das war eine grausame Beschwörung. Denn als die Frau die erste Stufe heruntertrat, schien es ihr, daß der Beutel in wunderbarer Weise an Gewicht zunahm. Er fiel ihr fast aus den Händen, so schwer war er geworden. Beim zweiten Schritt wurde es noch ärger. Sie begriff nicht, was das war. Beim dritten Schritt stürzte sie die Treppe hinunter und der Beutel wälzte sich ihr auf den Leib und drückte sie platt. Lange Wapper verschwand, und die ganze Lei hallte wider von seinem höhnischen Gelächter. Und die Menschen, die es hörten, schlossen sich mehr tot als lebend in ihren Häusern ein.


V

Auf eine Quissel (Betschwester) war Lange Wapper schlecht zu sprechen. Er ärgerte sie, wo er nur konnte. Und wenn sie noch so sehr auf der Hut waren, es verging kein Monat, ohne daß er der einen oder der andern einen Streich gespielt hätte, zur großen Freude aller Welt.

Da wohnte auch in der Keizerstraat eine Quissel, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit einem Rosenkranz in der Hand und einem Gebetbuch unterm Arm in die Jakobskirche lief. Sie hatte ein böses Mundwerk und jammerte wie alle Quisseln immerzu über die Verderbtheit der Jugend und die Schlechtigkeit der Männer. Eines Tages erschien ein feiner Herr bei ihr. Er sah aus wie der junge Baron aus der Nachbarschaft, der neulich Witwer geworden war. Aber ihr habt gewiß schon erraten, daß der feine Herr niemand anders als Lange Wapper war. Er fragte die Quissel, ob sie seine Frau werden wolle.



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»Mit tausend Freuden«, rief sie sogleich.

»Welch ein Glück für mich«, antwortete der Baron. »Aber eins mache ich zur Bedingung: ich wünsche natürlich, daß Ihr genau wie ich Eure Christenpflicht ernst nehmt. Aber den ganzen Tag in der Kirche hocken und mit einem dicken Gebetbuch herumlaufen, kann ich nicht ausstehen! Ich mag Übertreibungen nicht!«

Und schrumm, packte die Quissel das Gebetbuch und warf es hinter den Schrank. »Seht nur, da fliegt es schon«, rief sie.

Darauf hatte Lange Wapper gewartet. Er riß die Tür auf und stürzte lachend aus der Stube. Und auf der Straße wurde er groß wie ein Haus und schrie, daß alle Nachbarn es hören konnten: »Du verrückte Quissei! Wenn sie einen Mann hat, ist alles gut.«


VI

Der Riese von Antwerpen war ein starker Kerl, das war in der ganzen Welt bekannt. Aber die wenigsten wissen, daß er auch ein starker Trinker war, einer, der alle Kumpane unter den Tisch prostete. Eine große Tonne war für ihn nicht mehr als für gewöhnliche Menschen ein Glas. Und von solchen Gläsern schüttete er nacheinander eine ganze Menge hinunter. Stapfte er irgendwo in eine Herberge hinein, dann mußten alle Männer aus der Nachbarschaft zusammengetrommelt werden, um den Trunk in Eimern aus dem Keller heraufzulangen.

Als er einmal in der »Goldblume«zechte, stand eine Kette von vierzig Leuten bis in den Keller hinunter und reichte eimerweise das Bier für ihn an. Dreißig Tonnen trank er diesen Abend leer, und er hatte noch nicht genug. Nachher ging er wie gewöhnlich zum Steen. Aber er hatte noch immer solchen Durst, daß er den einen Fuß auf das andere Ufer setzte und sich niederbeugte, um in langen Zügen Scheldewasser zu schlürfen. Schließlich hatte er genug getrunken. Als er sich wieder aufreckte, sah er drüben auf Sint An einen armen Schiffer, der ihm nachschaute und lachte.

»Was ist los?«fragte der Riese. »Wenn du mich auslachst, helf ich dir!« »Nein, Herr Riese, ich lache nicht über dich. Ich bin zwar nur ein armer Schiffer, aber du weißt ja, daß ich viel von dir halte. Wer hat regelmäßiger als ich Zoll bezahlt? Ich habe dich niemals betrogen und übers Ohr gehauen.« »Weshalb lachst du denn?«

»Ja, Herr Riese, ich lache nur mit Verlaub, weil du beim Trinken ein ganzes Floß geschluckt hast.«



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»Ein ganzes Floß? Donnerwetter! Ich dachte eben schon, ich hätte einen Strohhalm eingeschlürft. Aber ein Floß! Jetzt begreife ich! Es ist mir da etwas im Zahn stecken geblieben. Siehst du!«

Und damit holte der Riese lachend einen Baumstumpf aus dem Mund und ließ ihn auf das Ufer niedersausen.


Die Meerjungfer aus der Lombardei

Ein Fischer aus der Lombardei hatte den ganzen Tag über die Netze ausgeworfen und nichts gefangen. Als er nach Hause zurückfuhr, warf er nochmals die Netze aus, und als er sie herausziehen wollte, erschrak er sehr! Eines der Netze wog so schwer, als stecke eine ganze Karre Fische darin. Er hatte seine ganze Körperkraft nötig, um das Netz emporzubringen. Da aber erschrak er noch mehr, denn er zog eine schöne Meerjungfer aus der Flut. Sie war schlafend in sein Netz geraten. Die Meerjungfer fuhr aus ihrem Schlummer auf und fing an zu weinen wie ein kleines Kind.

»Laß mich, lieber Fischer, laß mich! Ich schwimme gleich zu meinem Vater. Der wird dich königlich belohnen!«

Der Fischer schenkte der Meerjungfer die Freiheit und fuhr weiter. Aber was nun mit ihm werden sollte, wußte er nicht. Drei Tage nacheinander war er schon ohne Fang heimgekehrt, und zu Hause hatten Frau und Kinder nichts zu essen. Es verdroß ihn, daß er die Meerjungfer hatte schwimmen lassen. Hätte er sie auf dem Markt verkauft, würde sie seiner Familie gut einige fette Wochen beschert haben.

Während er in seinem Boot saß und grübelte, hörte er weit draußen auf See Meerjungferngesang. Es war eine ganze Familie, die, Vater und Mutter voran, angeschwommen kam. Der Gesang kam näher und näher. Sie dankten dem Fischer und warfen eine große Börse mit Perlen in sein Boot. Die nun verkaufte der Fischer in der Stadt, und er löste genügend Geld dafür, um weiter unbesorgt mit seiner Familie zu leben.


Warum Wasser und Feuer sich bekämpfen

Einst war es nicht wie heute. Da war das Wasser noch nicht des Feuers Feind. Die beiden vertrugen sich wie zwei Brüder. Aber das Feuer hatte die Feindschaft gesucht, und das kam so.

Das Wasser bedeckte die ganze Erde, und das Feuer schwebte inmitten



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des Wassers. Aber es wollte Herr sein und seine Flammen zum Himmel senden. Was tat das Feuer also? Es brannte das Wasser, daß es verdampfte, und die Erde kam an vielen Stellen zum Vorschein. Das nahm das Wasser übel. Es wollte keine Freundschaft mehr mit dem Feuer, und seitdem trachtet es, das Feuer überall auszulöschen bis auf das letzte Fünkchen.


Mutter und Koren

Mutter war eine brave Witwe und lebte mit ihrem Sohn. Der hieß Koren und war so dumm, daß er vor dem Teufel hätte tanzen können. Eines Tages schickte ihn seine Mutter in den Laden, um Seife zu kaufen. Er band die Seife in ein Taschentuch und hängte sie sich auf den Rücken. Da es stichheiß war und der Junge weit zu laufen hatte, schmolz die Seife unterwegs, so daß sie ihm über den Rücken lief und aus den Haaren tropfte.

Als die Mutter das sah, schimpfte sie: »Himmeldonnerwetter! Das tut man doch nicht. Warum hast du dein Bündel nicht auf eine Karre gelegt?«

»Ich werde es das nächste Mal tun, Mutter«, sagte Koren.

»Geh in den Laden und kauf mir für fünf Pfennig Nadeln«, sagte Mutter ein paar Tage danach. Koren ging. Unterwegs traf er einen Heuwagen und legte die Nadeln zwischen das Heu. Natürlich fand er sie nicht wieder und kehrte mit leeren Händen heim.

»Himmeldonnerwetter! Das tut man doch nicht«, sagte Mutter.

»Warum hast du sie nicht auf deinen Kittel gesteckt?«

»Ich werde es das nächste Mal tun, Mutter«, sagte Koren.

»Kauf mir im Laden eine Kerze«, sagte Mutter ein wenig später. Nun wollte Koren die Kerze auf seinen Kittel stecken. Aber das ging nicht, sie bröckelte ab. Da schnitt er schließlich ein Loch in seinen Kittel und steckte das übriggebliebene Ende hinein. Aber als er nach Hause kam, hatte er es verloren.

»Himmeldonnerwetter! Das tut man doch nicht!« sagte Mutter.

»Warum hast du die Kerze nicht in die Tasche gesteckt?«

»Ich werde es das nächste Mal tun, Mutter«, sagte Koren.

»Geh zum Korbmacher und kauf uns einen Korb«, sagte die Mutter bald darauf. Der Junge holte den Korb, aber da er zu groß war, um ihn in die Tasche zu stecken, schnitt ihn Koren in kleine Stücke und stopfte alle Taschen damit voll.



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»Himmeldonnerwetter! Das tut man doch nicht«, sagte die Mutter.

»Warum hast du nicht einen Stock durch das eine Ohr gesteckt und den Korb auf dem Rücken getragen?«

»Ich werde es das nächste Mal tun, Mutter«, sagte Koren.

»Geh auf den Markt und besorg uns eine Magd«, sagte die Mutter eine Woche danach. Koren dingte eine Magd, steckte ihr einen spitzen Stock durchs Ohr und trug sie so auf der Schulter nach Hause. Das Mädchen schrie und heulte und verlangte, für die Mißhandlung entschädigt zu werden. »Himmeldonnerwetter! Das tut man doch nicht«, sagte die Mutter. »Warum hast du dem Mädchen nicht gesagt, wo wir wohnen? Sie hätte den Weg wohl gefunden!«

»Ich werde es das nächste Mal tun«, sagte Koren.

»Geh auf den Markt und kauf eine Kuh«, sagte Mutter ein paar Tage darauf. Koren ging auf den Markt und kaufte eine Kuh. Er legte die Hand auf das Tier und sagte: »Liebe Kuh, geh diese Straße hinauf, schwenke dann rechts den ersten Weg ein und geh in das dritte Haus. Das ist unseres. Du kannst es leicht finden. Mutter hat es gesagt!« Die Kuh nickte und ging.

»Hast du eine Kuh gekauft?«fragte Mutter, als er mittags heimkam.

»Ist sie noch nicht da?«fragte Koren verwundert.

»Ich habe keine Kuh gesehen«, sagte Mutter.

»Aber ich habe ihr doch den Weg gut gezeigt«, sagte Koren. »Sie brauchte niemand, um unser Haus zu finden.«

»Himmeldonnerwetter! Das tut man doch nicht«, sagte Mutter.

»Warum hast du ihr keinen Strick um die Hörner gebunden und sie so hierher gebracht.

»Ich werde es das nächste Mal tun, Mutter«, sagte Koren.

»Geh auf den Markt und kauf uns einen Schinken«, sagte Mutter in der nächsten Woche. Und Koren ging auf den Markt und kaufte einen Schinken. Aber er kaufte auch einen Strick, band ihn an den Knochen und zog den Schinken hinter sich her durch Pfützen und Morast.

»Wo ist der Schinken«, fragte die Mutter, als der Junge in die Stube trat. Koren zog ihn an dem Strick hinein. »Himmeldonnerwetter«, sagte die Mutter. »Jetzt hab ich aber genug. Ich sehe wohl, daß mit dir nichts anzufangen ist. In Zukunft werde ich meine Besorgungen selber machen.«



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Der rollende Pfannkuchen

Eine Frau wollte Pfannkuchen für ihre lieben Jungen backen, die alle sieben um den Ofen saßen und auf den ersten Kuchen warteten. »Mutter, gib mir schon ein Stück«, sagte der älteste.

»Warte, bis er gebacken ist. Ich muß ihn noch umdrehen«, antwortete die Mutter.

»Und ich! Und ich!« riefen die sechs anderen Jungen wie aus einem Mund.

»Wartet, bis er auf der anderen Seite gebacken ist, jeder bekommt sein Stück!« Das hörte der Pfannkuchen, und es paßte ihm gar nicht, von so vielen Mäulern aufgegessen zu werden. >Wartet nur<, dachte er, >bis ich umgedreht werde. Dann mach ich mich dünn.<

Und so geschah es. Die Frau warf den Pfannkuchen in die Höhe und hielt die Pfanne hin, um ihn aufzufangen. Aber der Pfannkuchen war fort. Er ließ sich auf den Boden fallen und rollte wie ein Wagenrad zur Tür hinaus und die Straße entlang. Und die Mutter mit der Pfanne in der Hand lief hinterher, um ihn zu fangen, und hinter der Mutter liefen die sieben Jungen, der größte zuerst und der kleinste Hosenkerl hinterdrein. Da kam der Hahn anstolziert. »Pfannkuchen, Pfannkuchen, wo läufst du hin? Komm her, ich freß dich auf!« rief der Hahn.

»Fällt mir nicht ein«, sagte der Pfannkuchen. »Sieh nur die Mutter mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen, wie sie mir nachlaufen, um mich zu fangen!«

Der Hahn sah die Frau mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen dem Pfannkuchen nachsetzen und lief mit. Da kam die Henne daher. »Pfannkuchen, Pfannkuchen, wo läufst du hin? Komm her, ich freß dich auf!«

»Fällt mir nicht ein«, sagte der Pfannkuchen. »Sieh nur die Mutter mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn, wie sie mir nachlaufen, um mich zu fangen.«

Und die Henne sah die Frau mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn dem Pfannkuchen nachsetzen und lief mit. Da kam die Katze daher. »Pfannkuchen, Pfannkuchen, wo läufst du hin? Komm her, ich freß dich auf«, sagte die Katze. »Fällt mir nicht ein«, sagte der Pfannkuchen. »Sieh nur die Mutter mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne, wie sie mir nachlaufen, um mich zu fangen.«

Da sah die Katze die Frau mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne dem Pfannkuchen nachsetzen



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und lief mit. Da kam der Hund daher. »Pfannkuchen, Pfannkuchen, wo läufst du hin? Komm her, ich freß dich auf«, sagte der Hund.

»Fällt mir nicht ein«, sagte der Pfannkuchen. »Sieh nur die Mutter mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne und die Katze, wie sie mir nachlaufen, um mich zu fangen!« Da sah der Hund die Frau mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne und die Katze dem Pfannkuchen nachsetzen und lief mit. Da kam die Ziege daher. »Pfannkuchen, Pfannkuchen, wo läufst du hin? Komm her, ich freß dich auf!« sagte die Ziege.

»Fällt mir nicht ein«, sagte der Pfannkuchen. »Sieh nur die Mutter mit der Pfanne in der Hand und die sieben Söhne und den Hahn und die Henne und die Katze und den Hund, wie sie mir nachlaufen, um mich zu fangen!«

Die Ziege sah die Frau mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne und die Katze und den Hund dem Pfannkuchen nachsetzen und lief mit. Und da kam das Schwein daher. »Pfannkuchen, Pfannkuchen, wo läufst du hin? Komm her, ich freß dich auf«, sagte das Schwein.

»Fällt mir nicht ein«, sagte der Pfannkuchen. »Sieh nur die Mutter mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne und die Katze und den Hund und die Ziege, wie sie mir nachlaufen, um mich zu fangen!«

Da sah das Schwein die Frau mit der Pfanne in der Hand und die sieben Jungen und den Hahn und die Henne und die Katze und den Hund und die Ziege dem Pfannkuchen nachsetzen und lief mit.

So lief die Frau mit der Pfanne in der Hand hinter dem rollenden Pfannkuchen, und dahinter liefen die sieben Jungen, und dahinter der Hahn, und dahinter die Henne, und dahinter die Katze, und dahinter der Hund, und dahinter die Ziege, und dahinter das Schwein.

Und wenn sie nicht gegen eine Mauer oder ein Haus gelaufen und nicht ins Wasser gefallen sind, dann -glaub ich -laufen sie noch!


Däumling und die zwölf Räuber

Däumling war mit seiner Mutter auf den Markt gegangen. Da war der Knirps vom Laufen so müde geworden, daß er heimlich der Mutter davonlief und sich in einen Haufen Klee legte, um sich auszuruhen. Kaum lag er da, da schnarchte er auch schon. Eine Kuh roch den Klee, schnupperte,



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schnappte den ganzen Däumling mit einem Büschel Klee und schluckte ihn hinunter. Da saß nun der Knirps im Magen der Kuh, von aller Welt verlassen. Zum Glück wurde aber die Kuh noch am gleichen Tage verkauft und geschlachtet, und der Metzger warf den Magen mit den Eingeweiden hinter seinem Haus auf den Misthaufen.

Ihr könnt euch denken, daß Däumling in dem warmen Kuhmagen alsbald das Bewußtsein verloren hatte, aber nun im Freien kam es ihm langsam zurück. Er war schon wieder so sehr zu sich gekommen, daß er eben aus dem Magen herauslaufen wollte, da hörte er plötzlich menschliche Stimmen.

Und siehe da, an dem Misthaufen standen zwölf Räuber, die gerade dabei waren, gestohlene Schätze zu verteilen.

»Erst müssen wir abzählen, ob niemand fehlt«, sagte der Räuberhauptmann. »Ich fange an: Eins!«

»Zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf«, fuhren die anderen Räuber fort.

Da rief Däumling plötzlich: »Dreizehn!«

»Was?« brüllte der Hauptmann, »wer wagt es, mich zum Narren zu halten! Wir zählen noch einmal ab! Wer >dreizehn<ruft, den schlag ich mit meinem Schwert tot, so wahr ich euer Hauptmann bin!«

Und sie zählten wieder bis zwölf. Und Däumling rief wieder, so laut er konnte: »Dreizehn!«

Bum! schlug der Hauptmann den zwölften Räuber mit seinem Schwert mausetot.

»Wir zählen wieder! Wer >zwölf< ruft, ist an der Reihe!«

Sie zählten von eins bis elf, und Däumling rief: »Zwölf!«

Da fiel der elfte Räuber unter dem Schwert des Hauptmanns. Und die Räuber mußten noch einmal zählen, und noch einmal, und Däumling zählte jedesmal mit, so daß das Schwert des Hauptmanns nacheinander acht Räuber um einen Kopf kleiner machte. Schließlich blieb der Hauptmann mit zwei Mann übrig.

»Jungens«, sagte er, »ihr seht, wie es den zehn Mann ergangen ist, ihr werdet doch nun vernünftig sein, und mich nicht reizen wollen.

Kommt, wir zählen ab.«

»Eins, zwei, drei!«

Und Däumling machte wieder mit, und der Hauptmann schlug seinem letzten Mann den Schädel ein.

»So, jetzt bin ich allein übrig. Ich weiß, was ich sage. Wenn ich vorbeizähle, bin ich nicht wert, länger zu leben. Los! Zähle! Eins!«

»Zwei!« rief Däumling.



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Und der Räuberhauptmann glaubte wahrhaftig, er selber hätte es gerufen. Er nahm sein Schwert und durchstach sich das Herz.

Da kam Däumling geschwind aus dem Magen der Kuh hervorgekrochen und raffte die Schätze auf, lauter Gold und Silber, steckte es in einen Sack und schleppte es nach Hause.

Und Däumling war froh, aber noch mehr freute sich die Mutter, als der kleine Knirps mit den Reichtümern angeschleppt kam. Es hätte sich nicht besser treffen können, denn zu Hause war gerade bittere Armut. Die war jetzt mit einem Mal vergessen. Von da an waren sie reich, und die Mutter brauchte ebenso wenig zu arbeiten wie Däumling. Und beide lebten ohne Sorge um den morgigen Tag!


Warum die dicken Bohnen eine Kerbe haben

Strohhalm und dicke Bohnen lagen einmal zufällig zusammen am Herd. Plötzlich sprang eine glühende Kohle aus dem Feuer.

»Kohle, Kohle, wohin willst du allein?«fragte der Strohhalm.

»Ich gehe spazieren«, antwortete die Kohle. »Hier liege ich den lieben langen Tag im Herd und brenne. Das habe ich satt, und wenn es nicht so heiß wäre, würde ich sagen: Ich habe es satt wie kalte Pappe.«

»Ich gehe mit«, sagte der Strohhalm.

»Ich auch«, rief die Bohne.

Die Freundschaft war schnell geschlossen, und die drei Gesellen machten sich auf die Wanderschaft. Sie gingen, gingen und gingen, und plötzlich standen sie vor einem großen Wasser. Sie versuchten hinüberzuspringen -vergebens!

Was tun? Sie dachten nach und fanden nichts.

»Nun hab' ich's«, rief die Bohne plötzlich. »Hört zu! Du Strohhalm legst dich aufs Wasser, und wir setzen auf deinem Rücken hinüber.«

»Einverstanden«, sagte der Strohhalm und legte sich aufs Wasser.

Nun stritten sie, wer zuerst über die Brücke gehen sollte. Endlich machten sie »Strohhalmziehen«, und die Kohle gewann. Als sie nun mitten auf der Brücke war, blies plötzlich ein Wind, der Strohhalm fing Feuer, die Kohle fiel ins Wasser und ertrank.

Als die Bohne das sah, lachte sie, daß sie platzte.

Es muß arg gewesen sein, denn seit dieser Zeit tragen alle dicken Bohnen eine Kerbe!



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Der Kluge und der Dumme

Zwei Brüder, der eine klug, der andere dumm, hatten Vater und Mutter verloren und gingen auf Wanderschaft.

Als der Abend hereinbrach, kamen sie an einen Bauernhof und baten um ein Nachtlager.

Der Bauer brachte sie in die Scheune und gab ihnen ein Bündel Stroh. Es dunkelte noch, als sie aufwachten. »Bruder«, sagte der Kluge, »laß uns schnell aufstehen, ehe es tagt. Der Bauer wird vielleicht Geld verlangen, und du weißt ja, wir haben keinen roten Heller. Zieh die Scheunentür leise hinter dir zu und folge mir.«

Aber was tat der Dumme!

Statt die Tür zuzuziehen, hakte er sie aus, nahm sie auf den Rücken und zog damit ab.

Der Kluge wollte ihn daran hindern, aber es war vergebliche Mühe, der dumme Tropf hatte die Tür und hielt sie fest

So kamen sie in eine lange Allee; in der Ferne sahen sie ein paar Lichter herankommen.

»Das werden Diebe oder Mörder sein«, sagte der Kluge. »Schnell auf einen Baum!«

Der Dumme tat es dem Klugen nach und kletterte auf einen Baum, aber die Tür nahm er mit.

Nach ein paar Augenblicken kam die Diebesbande und setzte sich unter die Bäume, in denen die beiden Brüder hockten. Da wollten sie ihre Beute teilen.

Die wurde ausgeschüttet und das Gold auf dem Boden ausgebreitet. Das dauerte eine ganze Weile. Der Dumme wurde schwach in den Armen. Er konnte seine Tür nicht länger festhalten und ließ sie fallen. »Ach«, stöhnte der Kluge, »jetzt sind wir verloren.«

Aber nein! . . . Die Diebe, bei ihrem bösen Handwerk überrascht, meinten, es sei ein Spuk und begannen zu laufen, so lang sie die Beine machen konnten .

Bald wurde es Tag. Die beiden Brüder kamen aus ihrem Versteck und rafften sorgfältig das zurückgelassene Gold auf.

Sie waren nun plötzlich reich und zogen auf ein schönes Schloß und verbrachten dort ihre Tage.



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Von dem Bauern, der mit Lügen eine Königstochter gewann

Es war einmal eine Königstochter, und die war sehr schön, aber niemand sollte sie zur Frau bekommen, wenn er sie nicht dazu brächte, »Du lügst!« auszurufen.

Grafen und Barone, die Söhne der reichsten Familien im ganzen Lande fanden sich zu Hunderten ein, aber keiner brachte es soweit, daß sie die beiden Wörtchen sagte.

Eines Tages kam ein Bäuerlein mit seinem Knecht vorbeigefahren. »Da muß im Königspalast etwas los sein«, sagte der Bauer, »es gehen soviele Herren ein und aus. Wenn ich nicht Pferd und Wagen bei mir hätte, ich glaube, ich ginge auch einmal hinein.«

»Nun, Bauer«, sagte der Knecht, »geht nur ruhig. Ich werde Pferd und Wagen wohl nach Hause bringen.« Der Bauer dachte nicht lange nach, sondern trat frank und frei in den Palast ein. Als er da mit seinem blauen Kittel unter all den großen Herren stand, fiel der Blick der Prinzessin auf ihn. »Vater«, sagte sie, »soll das Bäuerlein auch um meine Hand anhalten dürfen?«

»Warum nicht, Kind, der wird dich sicher nicht gewinnen«, antwortete der König lachend.

Da ging die Prinzessin zu dem Bauern und führte ihn im Palast umher, damit er Gelegenheit hatte, zu sprechen und . . . zu lügen. Auf ihrem Gang kamen sie in den Pferdestall. »Was wir für viele schöne und stattliche Pferde haben«, sagte sie, um etwas zu sagen.

»Ja, ja, es geht. Aber es ist doch ein Unterschied zwischen ihnen und meinen. Ich habe zu Hause einen Wallach, der ist so hoch, daß — mit Verlaub zu sagen - seine Äpfel schon getrocknet und verschimmelt sind, ehe sie zu Boden fallen.«

»Das mag sein«, antwortete die Prinzessin, als ob sie es glaubte, und dann gingen die beiden weiter zum Kuhstall.

»Viele schöne und große Kühe, nicht wahr?«sagte sie, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.

»Wahrhaftig«, sagte das Bäuerlein, »aber, du lieber Gott! Prinzessin, du müßtest die meinen erst sehen. Es ist kaum zu glauben, aber ich habe zu Hause einen Ochsen, der ist so groß und breit, daß zwei Musikanten einander nicht hören, wenn der eine auf dem linken Horn die Trommel schlägt und der andere auf dem rechten die Trompete bläst.«

»Das glaube ich gern«, sagte die Königstochter, schon etwas trockener. So kamen sie zu dem Gemüsegarten. »Wie findest du unsere Kohlköpfe,



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Bäuerlein?«fragte die Prinzessin, »hast du so große jemals gesehen?«

»Die sind gar nichts«, sagte der Bauer, »da mußt du erst in meinen Garten kommen. Ich habe da einen Kohlkopf, nach dem die ganze Welt sieht. Wir hatten schon acht Tage davon gegessen, als gestern ein Regiment Soldaten vorbeizog. Und weil gerade ein Regenguß niederging, haben sie sich unter die Blätter gestellt, und keiner hat auch nur ein Tröpfchen abbekommen.«

»Das ist sehr gut möglich«, sagte die Königstochter kleinlaut. Nun standen sie vor den Bienenkörben. »Ob es wohl noch irgendwo so prächtige Bienen gibt?«fragte die Prinzessin.

»Du lieber Gott, was glaubst du wohl«, sagte das Bäuerlein. »Ich habe in meinem Korb eine Biene, die fliegt jeden Morgen aus, und abends muß ich sie dann auf dem Wagen einholen. Und stell dir vor, was ich am letzten Freitag erlebte. Sie war auf einen dicken Lindenbaum geflogen und ich konnte rufen, soviel ich wollte, sie kam nicht herunter. Schließlich kletterte ich selber auf den Baum, fiel aber herunter. Und ich schlug ein so tiefes Loch in die Erde, daß ich nicht mehr herauskam.

Da habe ich schnell meine Beine nach Hause geschickt, einen Spaten zu holen. So ist es mir doch noch gelungen. Das war ein Glück im Unglück. Und als ich heraus war, was glaubst du, was ich da neben dem Loch liegen sah . Einen Zettel! Und weißt du, was darauf stand? .

Daß Seine Majestät, dein Vater, der Sohn eines Lumpensammlers sei.« »Das lügst du!« rief die Königstochter böse.

»Und du bist gefangen«, rief das Bäuerlein und lachte und tanzte vor Vergnügen. Und so gewann es mit Lügen eine Königstochter.


Die Sprache der Tiere

Es war einmal ein Junge, der in der Schule nicht lernen wollte. Was seine Eltern auch versuchen mochten, er gab nicht acht. Strafen und Schläge halfen nicht.

Da sagte der Vater eines Morgens:

»Was soll im Leben aus dir werden, wenn du nicht lernen willst?« »Schick mich auf die Schule, wo man die Sprache der Tiere lernt«, antwortete der Junge, »dann wirst du schon sehen.«

Und wahrhaftig, als der Junge ein Jahr lang diese Schule besucht hatte, verstand er, was die Tiere untereinander sprachen. Er verstand die



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Sprache der Tiere, die auf der Erde leben, die Sprache der Vögel, die in der Luft fliegen, und die Sprache der Fische, die im Wasser schwimmen. Und als er wiederkam, sagte er:

»Vater, jetzt kenne ich die Sprache aller Tiere, die Gott erschaffen hat. Laß mich nun auch Bauer werden, und du wirst sehen, daß es mir Nutzen bringt.«

Der Vater kaufte dem Jungen einen Hof, und so wurde er Bauer. Er hielt Kühe und Hühner, Katze und Hund und einen Ochsen und einen Esel. Und es verging kein Tag, wo er nicht zuhörte, was sie sich erzählten. So erfuhr er alles, was auf seinem Hofe geschah und Knechte und Mägde falsch machten, und er wußte alsbald, was er dagegen tun mußte. Niemand begriff es. Es war, als ob der Teufel im Spiele sei. Eines Tages hörte er das Gespräch des Ochsen und des Esels, die nebeneinander im Stall standen.

»Es ist kein Leben mehr mit diesem Knecht«, sagte der Ochse. »Alle Tage, die Gott werden läßt, von morgens früh bis abends spät ins Joch gespannt sein und ziehen, immer ziehen, daß das Ende davon ab ist! Du hast dagegen ein Herrenleben. Du brauchst nur dann und wann mit dem Herrn auszureiten!«

»Warum bist du so dumm«, antwortete der Esel. »Ich würde mich krank stellen. Dann muß der Knecht selber ziehen!«

»Gut, daß ich das weiß«, sagte der Bauer und ging hinaus. Am anderen Tage befolgte der Ochse des Esels Rat. Als ihn der Knecht vor den Pflug spannen wollte, stand der Ochse nicht auf. Der Knecht sagte es dem Bauern. »Weißt du was«, sagte der, »nimm den Esel mit.« Und der Esel kam spät abends mit dem Knecht vom Felde zurück. »Nun, Freund, wie war es?«fragte der Ochse.

»Schweig«, sagte der Esel, »ich kann nicht mehr. Mir tun alle Glieder weh. Ich bin für die harte Arbeit nicht geschaffen. Ob ich das lange aushalte, weiß ich nicht. Und du? Willst du nicht bald wieder arbeiten?« »Ich denke nicht daran«, sagte der Ochse.

Am nächsten Tag, als der Esel wieder spät abends heimkehrte, fragte der Ochse, ob's ihm besser gehe. »Noch schlechter«, sagte der Esel. »Aber es ist mir immer noch lieber, als dein Schicksal zu teilen. Ich habe den Knecht sagen hören, wenn du morgen nicht gesund seiest, würde dich der Bauer an den Metzger verkaufen.«

»Ich bin gesund«, sagte der Ochse.

Der Bauer, der wieder alles mitangehört hatte, wußte, was er nun zu tun hatte, und gab seinem Knecht die nötigen Befehle. Als der in den Stall kam, sprang der Ochse zur großen Freude des Esels auf.



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Einige Zeit darauf entstand ein Streit in der Familie. Die Bäuerin hockte, und hockte so, daß sie tagelang im Bett liegen blieb und für ihren Mann nicht arbeiten wollte. Er bekam nicht mehr zu essen und zu trinken und mußte zusehen, wie der Haushalt verwahrloste. Das tat ihm leid. Er wußte nicht mehr, was er anfangen sollte, da hörte er eines Morgens, wie Katze und Hahn sich im Ofenhaus untefliielten.

»Es geht dem Bauern nicht gut«, sagte die Katze.

»Wie sollte es auch, wenn seine Frau immer solche Launen hat! Er müßte einmal Hahn sein und über einen Hühnerhof regieren! Man muß Ordnung halten unter dem Weibervolk. Hätte er die Frau zur rechten Zeit einmal tüchtig geprügelt, dann hätte er jetzt keine Last mir ihr!«

Als der Bauer das hörte, dachte er: >Der Hahn hat recht.<

Und er ging in die Stadt und kaufte eine nagelneue Karwatsche. Und als er heimkam, ging er an das Bett der Frau und sprach:

»Wie geht es, Frau? Noch nicht besser? Nein? Ich komme aus der Stadt und habe einen berühmten Arzt gesprochen. Der hat mir ein unfehlbares Mittel an die Hand gegeben, um dich zu kurieren.« Und er schlug seine Frau mit der Karwatsche, daß sie vor Schmerz heulte.

»Ich bin geheilt, Mann!«jammerte sie. »Ich bin geheilt und so gesund wie nie. Ich bin so glücklich, daß Haus und den Hof wieder versorgen zu können. Schlag mich nicht mehr. Ich bin geheilt! Ich bin gesund!« Und der junge Bauer lachte sich ins Fäustchen.


Von einem Esel, der Bürgermeister wurde

Es war einmal ein armes Karrenbäuerlein. Wie es hieß, weiß ich nicht mehr, aber es fuhr tagtäglich mit seinem Esel in den Wald, um Holz zu fällen. Das weiß ich desto besser. Einmal ging unser Bäuerlein nun wieder an die Arbeit. Als es den Esel angebunden hatte und selber auf einen Baum geklettert war, um das tote Holz herauszuschlagen, kamen zwei Herren vorbei, die riefen ihm zu: »Heda, Bäuerlein, wenn du nicht schleunigst von dem Aste heruntersteigst, auf dem du stehst, wirst du Hals und Beine brechen, ehe du noch zehnmal Atem holst. . . Der Ast bricht gleich ab!«

»Unsinn«, rief das Bäuerlein und schlug weiter Holz. Aber die Herren waren noch keine Minute fort, als es Krakerarakrak! machte. Das Bäuerlein fiel mit der Axt und dem Beil und seinem ganzen Kram zu Boden und war froh, mit einer blutigen Nase davonzukommen. >Sapperlot<,



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dachte es, >das waren bestimmt Wahrsager! Die muß ich doch noch einmal fragen.<Und er rappelte sich auf und rannte den fremden Reisenden nach.

»Holla! He! Ihr Herren! Ich habe da eine Bitte. Ihr habt mir die Wahrheit gesagt. Ich bin wirklich mit dem Zweig heruntergefallen. Darf ich euch wohl bitten, mir noch einmal die Wahrheit zu sagen, ehe ihr weiterzieht?«

»Gern, Bäuerlein«, sagte einer der Herren. »Also höre, was ich dir sage. Hüte dich, deinen Esel zu schwer zu beladen. Wenn er unter der Last zum drittenmal den Schwanz aufhebt, bist du mausetot.«

Das Bäuerlein zog die Mütze ab und dankte, und die Herren setzten ihren Weg fort. Aber da der Bauer kein Zweiglein liegen lassen wollte, packte er dem Esel doch zuviel auf, und dann ging es mit Hü! Hott! nach Hause. Als sie ein Ende Wegs zurückgelegt hatten, hob das Eselchen seinen Schwanz, es gab einen merkwürdigen Laut und der Bauer erschrak.

»Ach Eselchen! Eselchen! Was tust du da? Wenn du es noch zweimal tust, bin ich mausetot! Eselchen, tu's, bitte, nicht wieder!«

»I-a«, sagte das Eselchen, und es schleppte sich, daß es schwitzte. Und wieder gingen sie eine Weile, als der Esel unter der Last wieder den Schwanz hob. »Ach Eselchen, Eselchen! Bitte, tu es nicht mehr, sonst bin ich mausetot.« Aber sie hatten noch keine zwanzig Schritte gemacht, da tat der Esel es doch wieder, und der Bauer fiel hin, streckte alle viere von sich und rief: »Ich bin tot! Ich bin mausetot!«

Der Esel lief jedoch weiter bis ans Stadttor. Und da er ohne Fuhrmann kam, hielten ihn die Torwächter an und verkauften ihn.

Unser Bäuerlein lag aber noch immer auf dem Weg. Da kam eine Kutsche angefahren, und der Kutscher, der glaubte, daß es betrunken sei, rief: »He! Du! Steh auf, oder ich fahre über dich hinweg!«

»Ich bin mausetot!«rief der Bauer. Da sprang der Kutscher vom Bock und schwang die Peitsche über ihm, daß das tote Bäuerlein hinkend und heulend aufstand! »Wo mag bloß mein Esel sein«, jammerte es und machte sich auf die Suche. Nachdem er eine Weile gegangen war, kam er ans Stadttor und fragte die Schildwache: »Ach, bitte, lieber Herr, habt Ihr vielleicht meinen Esel gesehen?«

»Euren Esel?« sagte der Spötter. »Aber gewiß. Der ist schon lange durch und ist inzwischen Bürgermeister geworden!«

»Was sagt Ihr? Mein Esel . . . Bürgermeister? Bürgermeister!? Mein Esel?! Wo wohnt denn der neue Bürgermeister?«

Die Schildwache zeigte ihm den Weg, und er lief in einem Atemzug hin.



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»Tingelingting«, schellte das Bäuerlein. »Ist der Bürgermeister zu Haus?«

Der Bauer wurde zu dem richtigen Bürgermeister geführt. »Tag, Esel!« sagte er. Ihr könnt euch denken, was für ein Gesicht der machte!

»Tag, Herr Esel«, wiederholte der Bauer. »Ja, ja, nun bist du ein Herr Esel geworden, und ich, der ich so lange dein Meister war, bin noch immer das arme Bäuerlein von früher. Aber wo du jetzt ein so großer Mann geworden bist, Esel, komme ich und verlange die zehn Gulden zurück, die du mich gekostet hast. Ich möchte für das Geld einen Nachfolger kaufen.«

Aber mit dem Herrn Bürgermeister, der glaubte, man wolle ihn verspotten, war nicht gut Kirschen essen. Im Handumdrehen bekam das Bäuerlein so viele Schläge, wie auf seinen Buckel gingen, und es rannte davon, als ob ihm der Teufel auf den Hacken säße.

>Ja, ja<, dachte der Bauer, >wenn »nichts« zu »was« kommt, kennt es sich selber nicht mehr! Aber mit alldem ist mein stockdummer Esel nun doch Bürgermeister geworden!<


Warum die Schwalben fortziehen und die Hähne einander nachkrähen

Vor tausend Jahren -ich weiß selber nicht genau, wie lange es schon her ist - hatten die Schwalben so viel Schulden gemacht, daß sie ihr Haus räumen und sich eine andere Wohnung suchen mußten. Sie versammelten sich auf dem Kirchdach und kamen überein, ihre Nester an die Spatzen zu verkaufen, und was daneben gefallen war, den Bauern zu überlassen. Um mehr Volk zum Verkauf zu locken, baten sie den Hahn, er möge die Leute vor der Kirche zusammenkrähen. Der Hahn war froh, daß er seine Stimme hören lassen konnte, und nickte ja! Und am Sonntagmorgen stand Meister Hahn in voller Majestät auf dem Kirchenstein und las die Verkündung des Verkaufes vor. Und als er zu Ende gelesen und gegackelt hatte, schlug er noch einmal mit den Flügeln, stieß mit den Sporen, reckte sich auf den Beinen, um das letzte zu sagen, und fing zwei- oder dreimal an: »Sagt, sagt, sagt . . .«, und dann kam heraus: »Sagt's alle weiter!«

Und der Hahn vom Nachbarhof sagte es sogleich weiter. Das hörten die anderen Hähne in der Nachbarschaft. Auch die sagten es weiter. Und seitdem sagen die Hähne es noch immer fort, und die Schwalben ziehen noch alle Jahre um.



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Böse Griet und Peetje Mekrul

Peetje Mekrul war ein tüchtiger Junge und machte gern Späße. Sooft er die alte Griet, eine böse Holzsammlerin sah, rief er: »Böse Griet! Böse Griet!«Dann brauste die alte Hexe vor Wut auf. Sie drohte Peetje mit der Faust, aber Peetje wußte, daß er viel schneller laufen konnte als sie, und darum hatte er keine Angst. Und so wagte er sich immer näher heran, bis Griet sich eines Tages umdrehte und ihn beim Schopf faßte.

»Nichtsnutz«, rief sie, »das wird dir schlecht bekommen!« und sie steckte ihn in einen großen Leinensack und nahm ihn auf den Rücken mit in ihr Haus im Wald. Unterwegs setzte sie ihre Bürde nieder und las unter den Sträuchern noch ein paar Zweige auf. Und was tat Peetje? Schnell wie der Blitz schlüpfte er aus dem Sack und füllte ihn mit Zweigen und trockenem Laub. Und so trug ihn die böse Griet nach Hause und schlug so heftig mit einem Knüppel darauf los, daß ihr die Haut in Fetzen von den Händen hing. Dann erst merkte sie, daß Peetje sie hineingelegt hatte.

Ein paar Tage später rief Peetje wieder: »Böse Griet! Böse Griet!«und die Hexe erwischte ihn wieder und steckte ihn in den Sack. Aber während sie wieder ihre Bürde niedersetzte, um Schlehen und Brombeeren zu pflücken, kroch Peetje ganz heimlich heraus, und eins, zwei, drei hatte er ihn mit Dornen gefüllt. Unterwegs fühlte Griet, wie ihr die Dornen ins Fleisch drangen. »Stich nur, Taugenichts«, sagte sie, »ich werde dich zu Hause stechen lehren!«

Dort schlug sie mit der geballten Faust auf den Sack, schlug, daß ihre ganze Hand blutig war, aber in ihrer Wut merkte sie es nicht, schlug, solange sie den Arm noch heben konnte. Als sie nun den Sack ausschüttelte und sah, daß sie zum zweiten Mal betrogen war, schimpfte und tobte sie, daß die Wände ihres Häuschen wackelten, und rief: »Wart nur, Schubbejack, ich werde dich schon erwischen!«

Aber Peetje war nun besser auf der Hut, so daß es schon Winter geworden war und Griet ihn noch nicht geschnappt hatte. Eines Tages fiel er ihr doch wieder in die Klauen, und mit dem Sack auf dem Rücken zog Griet heimwärts. »Nun gibt es keine Blätter und Dornen mehr«, sagte sie und setzte ihre Bürde vor einer Hütte nieder, um sich die Hände zu wärmen. Aber es lag Schnee, und daran hatte die böse Griet nicht gedacht. Peetje packte den Sack damit voll und machte sich aus dem Staub. Als die Hexe ihre Bürde nun wieder auf den Buckel nahm, schmolz der Schnee allmählich, und das eiskalte Wasser rann ihr über



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den Rücken, so daß sie ganz durchfroren und vor Kälte zitternd zu Hause ankam. Sie fing sogleich wieder an, auf den Sack loszudreschen, als sie jedoch den Arm müde geschlagen hatte, sah sie, daß Peetje sie abermals zum Narren gehalten hatte. Nun wurde sie böse wie ein gebratener Teufel, und es hagelte Flüche, daß ihr Häuschen noch schwärzer wurde, als es schon war.

Aber Peetje konnte seine schlechte Gewohnheit, »Böse Griet« zu rufen, noch nicht lassen, und so dauerte es nicht lange, da hatte die Hexe ihn wieder beim Schlaffitchen. Nun war sie schlauer. Sie band den Sack fest zu und ging gleich damit nach Hause. Diesmal wollte sie den armen Jungen im glühenden Ofen verbrennen, und sie fing gleich an kräftig zu stochern. Als sie das Feuer genügend geschürt hatte, ließ sie Peetje aus dem Sack und befahl ihm, in den heißen Ofen zu kriechen. Aber das schlaue Bürschchen tat, als wüßte es nicht, wie man das macht. »Ich werde es dir zeigen«, sagte die dumme Griet und stellte sich auf ein hölzernes Bänkchen. »Siehst du, so!« sagte sie und stecke den Kopf in den Ofenschlund. Darauf hatte Peetje gewartet. Schnell wie der Wind gab er der Hexe einen festen Stoß, und sie saß selber in dem Ofen, wo sie zu Asche verbrannte.


Die Schwanenjungfer vom Gläsernen Berg

Es war einmal ein Junge, der ging im Wald jagen. Er hatte schon den ganzen Tag gejagt und nichts geschossen, keinen Hasen, kein Kaninchen und kein Rebhuhn. Spät am Nachmittag legte er sich mitten im Wald an einem Weiher ins Gebüsch. Manchmal spähte er über den Weiher, um nach dem Wasserwild auszuschauen. Und siehe, da strichen drei Schwäne vorüber und gingen am Ufer nieder. Der Junge griff nach seinem Gewehr, aber da sah er, daß die Schwäne ihre Federn wie Mäntel ablegten und ins Gras warfen. Und plötzlich waren es keine Schwäne mehr, sondern junge Mädchen, die in dem Weiher ein Bad nahmen.

Der Junge kroch auf Händen und Füßen an die Stelle, wo die drei Schwäne niedergegangen waren, und nahm einen der Mäntel weg. Den versteckte er zu Hause in seiner Mutter Schrank. Dann kehrte er zu dem Weiher zurück. Zwei von den Mädchen waren mit den Schwanenfedern fortgeflogen, das dritte saß weinend am Ufer. Der Junge zog schnell seinen Kittel aus, warf ihn dem nackten Mädchen als Mantel über und brachte es zu seiner Mutter. Dort wurde die Schwanenjungfer



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wie ein Kind im Hause verhätschelt. Es dauerte nicht lange, da begann der Junge die Schwanenjungfer gern zu sehen und fragte, ob sie seine Frau werden wollte. »Das kann nur geschehen, wenn ich weiß, wo meine Schwanenfedern geblieben sind!«

Da sagte der Junge, wo er sie versteckt hatte, und sie versprach, seine Frau zu werden. Nach Ablauf von drei Tagen wollte sie ihm sagen, was er tun müsse. Nach diesen drei Tagen hatte das Mädchen die Schwanenfedern gefunden. Es zog sie an und stieg in die Luft. Und da der Junge gerade aus dem Walde kam, rief sie: »Wenn du mich zur Frau haben willst, mußt du mich auf dem gläsernen Berg holen!« Und sie war weg.

Der Junge kehrte traurig heim. Er wußte nicht, wie er zu dem gläsernen Berg gelangen sollte, und noch weniger, wie er seinen Gipfel erreichen könnte. Aber die Nacht brachte ihm Rat. Er suchte einen Zauberer auf, der ihm für alles Geld, das er besaß, einen Adler lieh, um auf den gläsernen Berg zu fliegen. Der Adler jedoch, anstatt ihn auf dem Gipfel niederzusetzen, ließ ihn ein paar Meter zu früh fallen und flog dann schleunigst davon.

Der Junge versuchte nun, auf Händen und Füßen hinaufzukriechen, aber das ging nicht. Wie er sich auch abmühte, er fiel immer wieder hin und rutschte, so sehr er rutschen konnte. Im Nu lag er wieder unten zu Füßen des Berges. Was tun? Da hörte er einen wilden Lärm in der Nähe. Er ging hin und sah, was los war. Und er fand zwei Riesen, die um einen Hut kämpften, der unsichtbar machte, und um eine Serviette, mit der konnte man im Nu fliegen, wohin man begehrte.

>Das wäre etwas für mich<, dachte der Junge. Und was tat er? Während die Riesen einander gewaltig zu Leibe gingen, schlich er sich unbemerkt an den Hut heran, der am nächsten lag. Den setzte er auf. So war er schon halb gerettet. Die Riesen sahen ihn nun nicht mehr, und so konnte er sich weiter wagen und die Serviette schnappen. Er band sie sich sogleich vor und flog auf den Gipfel des gläsernen Berges. Und dann zog er weiter zu dem Schloß, auf dessen Weiher drei weiße Schwäne schwammen. Der Junge sah gleich, daß es die drei Schwanenjungfern waren. Die eine lief ihm gleich entgegen. »Meine Mutter ist böse auf dich«, sagte sie; »wenn sie erfährt, daß du hier bist, wird sie dir die unmöglichsten Dinge auftragen. Kannst du sie nicht ausführen, so wird sie dich töten. Aber habe keine Furcht, ich werde dir bei Nacht helfen, so daß sie dir nichts antun kann.«

Und so geschah es. Als der Junge bei der Mutter um die Hand der Schwanenjungfer anhielt, sagte sie, daß sie es sich noch überlegen



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müßte. Erst solle er in einer Nacht einen großen Wald roden, dann in der folgenden Nacht den Boden umpflügen und schließlich in der dritten Nacht ein Schloß darauf bauen und einen Park anlegen. Der Junge sagte, das alles sei nicht schwierig. Er verließ sich dabei auf die Schwanenjungfer. Und er dachte: >Mißlingt es, so habe ich noch immer meinen Hut und meine Serviette, um mich in Sicherheit zu bringen.<

Der Junge begann am gleichen Abend. Tausende Klabauter halfen ihm. Die Arbeit ging vorwärts, daß er seinen Augen nicht traute. Als es tagte, war der ganze Wald gerodet. In der zweiten Nacht kamen die Klabauter wieder, so daß am Morgen der ganze Grund umgepflügt war. Und ebenso waren die kleinen Männlein in der dritten Nacht auf ihrem Posten. Sie bauten das Schloß und legten den Park an. Alles verlief nach Wunsch. Als aber der Morgen da war und die Klabauter gerade verschwinden wollten, kam die Mutter der Schwanenjungfer früher als gewöhnlich. Sie merkte gleich, was die Stunde geschlagen hatte. Ohne fremde Hilfe hatte der Junge die Arbeit nicht vollenden können! Sie wurde sehr böse und sagte, er bekäme ihre Tochter nicht. Sie müsse sich reiflich überlegen, was sie mit ihm machen solle.

»Wenn ich die Schwanenjungfer nicht bekomme, fliege ich zu den Menschen zurück«, sagte der Junge, indem er seine Serviette hervorholte und auf dem Boden ausbreitete.

»Komm«, sagte er zu der Schwanenjungfer, die sogleich ihr Federnkleid abstreifte und sich neben ihn auf die Schürze stellte. Und so flogen beide davon. Die Mutter, diese abscheuliche Zauberin, schickte ihnen sogleich eine der beiden Schwanenjungfern in Gestalt eines Falken nach. Aber die Flüchtenden verwandelten sich, als der Vogel sie einholte, in eine Kapelle am Wege, vor der ein armes Weiblein betete. So kehrte die Schwanenjungfer unverrichteter Dinge zurück, und die beiden Fliehenden setzten ihren Weg fort.

Da sandte ihnen die Mutter die zweite Schwanenjungfer in Gestalt eines Geiers nach. Aber auch der entdeckte die Flüchtenden nicht, weil sie sich in einen Rosenstrauch verwandelt hatten, auf dem eine Rose blühte. Als der Geier zurückkehrte, wurde die Zauberin vom gläsernen Berg schrecklich böse.

»Ich werde selber gehen«, schrie sie, »und ich werde sie einholen, wären sie auch in die Hölle geflüchtet.«

Aber die Fliehenden sahen sie schon von ferne in der Gestalt eines Adlers kommen und verwandelten sich in einen Teich, auf dem ein schneeweißer Schwan trieb. Das böse Weib hatte dieses gesehen. Es



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flog an den Teich und begann ihn auszutrinken. Aber je mehr Wasser es trank, um so mehr kam dazu. Aber es trank und trank und trank, bis es schließlich gewaltig anschwoll und in tausend Stücke zerplatzte.


Warum die Kabauter nicht mehr zu den Menschen kommen

In alten Zeiten - das ist nun schon viele hundert Jahre her - war die Arbeit dem Menschen unbekannt.

Damals ging alles anders als heutzutage.

In jedes Haus, ob in der Stadt oder auf dem Dorfe, kamen die Kabautermänner (Heinzelmännchen) und wuschen und plantschten, nähten und strickten, kochten und schmorten. Die Kabauter gingen mit den Kühen auf die Weide, mit den Pferden auf das Feld, sie melkten und butterten und besorgten alles, so daß die Menschen abends nur das Geld, das sie verdient hatten, einzustreichen und die Augen zum Schlafen zuzumachen brauchten. Aber doch, für eins mußten sie sorgen. Die Kabauter bekamen abends als Lohn einen großen Hafen Milch. Davon tranken sie dann alle, bis sie genug hatten, denn süße Milch ist für sie Essen und Trinken. Und damit waren sie im Husch verschwunden, um anderen Tags zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Der Hafen voll Milch mußte in jedem Haus, ob groß, ob klein, zurechtgestellt werden. Da war aber nun ein geiziger Bauer, den verdroß es, daß er jeden Tag, den Gott werden ließ, dem Kabautervolk einen Hafen süße Milch ablassen mußte. Das war soundsoviel Geld weniger in seiner Tasche, überlegte er.

>Wartet<, dachte er, >dem Spiel werde ich ein Ende machen!<

Und eines Abends streute er Lauch in die Milch, damit die Kabauter überdrüssig würden. Als die kleinen Burschen nun an ihrer Milch schlabberten, entstand plötzlich ein Lärmen. Und es dauerte nicht lange, da kamen sie in die Wohnstube gestürmt, und ein alter Kabauter nahm das Wort und sprach zu dem geizigen Bauern: »Warum hast du denn das getan? Sind wir nicht immer gut gewesen zu dir und deinesgleichen? Und so belohnst du uns? Gut, dann gehen wir für immerfort. Du wirst uns nie mehr wiedersehen. Von nun an kannst du deine Arbeit selber machen. Keiner von den unsrigen wird sich noch abrackern für euch Menschen!«



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Vom schlauen Barbier und der schönen, stolzen Königstochter

Es war einmal ein Königssohn, dessen Vater regierte über ein ganz kleines Reich im Lande Trippentrappen. Es war kaum ein paar Tagereisen groß, und seine Bewohner waren ein paar hundert Fischer und Bauern, gerade genug, um ein Dorf zu bevölkern.

Dieses kleine Reich -ich glaube, es hieß Zehnbündnerland - war nach allen vier Windrichtungen von einem sehr, sehr großen Königreich eingeschlossen. Darin regierte ein mächtiger König, der nur ein Kind hatte, eine Tochter von so wunderbarer Schönheit, daß die Söhne der größten Fürsten um ihre Hand anhielten.

Nun hatte die schöne Prinzessin aber einen Fehler: sie war sehr eitel, und kein Prinz der Welt dünkte ihr gut genug, ihr Gemahl zu werden. Ein Kaisersohn wäre ihr noch zu gering gewesen.

Als nun der Kronprinz aus dem Zehnbündnerland zum Jüngling herangewachsen war, schickte ihm der Nachbarkönig einen Spiegel. Sooft man hineinblickte, sah man nicht sein eigenes Antlitz, sondern das Bild der schönen Prinzessin.

Und seitdem hatte er nur noch einen Wunsch, die schöne Prinzessin zur Gemahlin zu haben. Er ließ ihr durch einen Abgesandten einen langen Brief überreichen, darin flehte er sie an, ihm ihre Hand zu schenken, und er fügte hinzu, wenn sein eigenes Königreich auch winzig sei, so sei doch die Liebe, die er für sie im Herzen trage, viel, viel größer als das größte Reich der ganzen Welt. Als der Abgesandte nach ein paar Tagen zurückkehrte, wagte er die Antwort der Prinzessin kaum mitzuteilen. Nach langem Zögern fand er sich endlich bereit, sie dem alten König und seinem Sohn kundzutun.

»O König«, sagte er, »vergib deinem alten, treuen Diener, wenn er hier die Worte wiederholt, welche die Prinzessin ohne Scheu vor dem versammelten Hof ausgesprochen hat . . . Als ich ihr den Brief des Prinzen, deines Sohnes, vorgelesen hatte, brach sie in ein langes, gellendes Lachen aus und antwortete: >Sag dem eingebildeten Prinzlein, daß ich den Sohn eines Kaisers abgewiesen habe . . . Er aber wäre mir nicht einmal als Schuhputzer gut genug.«

Der junge Prinz war von dieser frechen Rede enttäuscht und beleidigt. Er stand einen Augenblick, als ob ihn die Hand Gottes geschlagen hätte. Doch dann ermannte er sich und beschloß, der stolzen Königstochter ihre hochnäsige Antwort heimzuzahlen. Ohne jemand seine wahren Absichten zu verraten, zog er nach ein paar Tagen im einfachen Wams eines Handwerksburschen in die Hauptstadt des Königreiches



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Trippentrappen und trat als Lehrjunge bei einem Barbier in Dienst, auf dessen Aushängeschild zu lesen stand:

Hier wohnt Pieter Callebalt.
Der schert am Königshofe
Jung und alt!

Der Prinz, der einen klugen Kopf hatte, machte so schnelle Fortschritte in der Kunst des Barbierens und Haarschneidens, daß der Meister ihn schon nach ein paar Wochen seine vornehmsten Kunden bedienen ließ. Und so schickte er ihn auch mit dem Auftrag an den Hof, die Königstochter, die abends einen glänzenden Hofball besuchen sollte, zu frisieren. Als sie nun vor dem Spiegel saß und der Prinz aus dem Zehnbündnerland, die weiße Schürze vorgebunden und den Kamm in der Hand, hinter ihr stand, sah sie, daß der Barbierjunge sich vor Lachen schüttelte.

»Weshalb lachst du?«fragte sie unzufrieden.

»Achtet nicht darauf, Hoheit«, antwortete er. »Ich lache nur, weil ich mit dieser Schürze und diesem Kamm eine drollige Figur mache. Ich werde aber, wenn Euch mein Lachen ärgert, bei der Arbeit ein paar Liedchen singen. Vielleicht findet Hoheit es dann weniger unangenehm, von einem so niedrigen Lehrjungen frisiert zu werden.« Und er begann zu trällern und zu singen, daß es eine Art hatte, und die Königstochter gar nicht bemerkte, wie er zwei- oder dreimal die Flechten wieder losmachte, als ob er eine Freude daran fände, ihr schönes, seidenes Haar zu fühlen. Ein Liedchen gefiel ihr vor allem. Das endete mit dem Kehrreim:

»Das Land ist so klein,
Die Herzen so groß.
Man haßt und liebt dort
Bis in den Tod.«

»Was für ein merkwürdiges Lied ist das«, fragte die Prinzessin. »Wo hast du es gelernt?«

»Ach, das hat nicht viel auf sich«, antwortete er. »Ich bin ein armer Junge aus dem benachbarten Königreich. . . Ihr könnt Euch denken, daß man in einem so winzigen Land keine schönen Lieder lernt.« Inzwischen hatten seine Lieder und seine Stimme die Prinzessin so bezaubert, daß niemand anderer ihr mehr die Haare machen durfte. Ja, es kam schließlich so weit, daß sie den jungen Barbiergehilfen an einem Tage zwei- oder dreimal an den Hof entbieten und sich von ihm frisieren ließ, nur um ihn singen zu hören.

Eines Abends, als wieder eine ihrer Dienerinnen den Barbiergehilfen



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holen wollte, sah sie aus seinem Stubenfenster einen wunderbaren Glanz strahlen, während ihr eine fast himmlische Musik entgegenklang. Als sie seine Stube betrat, saß der schöne Jüngling auf einem Hocker und spielte Geige, und auf seinem Kopfe trug er eine Samtmütze, worauf, von einem goldenen Band gehalten, ein Diament leuchtete. Natürlich hatte die Dienerin der Prinzessin ihre Entdeckung längst mitgeteilt, ehe der Barbierjunge im Palast angekommen war. Die Prinzessin brannte vor Verlangen, die Geige zu hören und den Diamanten zu sehen, und als sich der Junge gerade mit Kamm und Schere auf den Weg gemacht hatte, kam ihm die gleiche Jungfer schon wieder entgegen und sagte, ihre hohe Herrin wünsche, daß er die Geige und den Diamanten mitbrächte.

Jan, so hieß der Königssohn, kam ihrer Bitte nach, und daß er an diesem Abend keine Flechten machte und Löckchen drehte, werdet ihr wohl begreifen. Die Prinzessin fand so viel Gefallen an seinem wunderbaren Geigenspiel und an dem prachtvollen leuchtenden Stein, daß der Junge noch keines ihrer Haare hatte anrühren dürfen, als man sie schon das fünfte Mal zum Fest holen kam.

Als sie nun doch endlich frisiert war und Jan sich entfernen wollte, konnte sie nicht länger an sich halten und fragte, ob er ihr den Diamanten nicht verkaufen wolle.

»Verkaufen? Nein, verkaufen nicht«, antwortete der Barbierjunge. »Aber vielleicht schenken. Ich meine, Hoheit, daß ich wohl tauschen würde!«

»Und wogegen würdest du ihn tauschen?«

»Für eine Kleinigkeit«, antwortete er. »Für einen einzigen Kuß Eures schönen, kleinen Prinzessinnenmundes.«

Die Prinzessin blickte verlegen auf und fühlte sich gedemütigt, daß so ein gewöhnlicher Barbierjunge es wagte, ihr diesen Vorschlag zu machen. Doch der Diamant war so schön, und sie hätte so gern an diesem festlichen Abend damit geprunkt, daß sie eine List ersann und dem Jungen statt eines Kusses von ihrem schönen roten Prinzessinnenmund ein halbes Dutzend Küsse von ihrer ersten Dienerin anbot. Diese war dem kleinen Barbier gut gesinnt und opferte sich gern für ihre Herrin. Aber der Junge wollte von neuen Bedingungen nichts wissen. Nur von der Prinzessin nahm er den Kuß, sonst behielt er den Stein, und alles blieb wie zuvor.

Da sandte die Prinzessin ihre Jungfern in den Festsaal, um dem König mitzuteilen, daß seine Tochter gleich kommen werde, und ehe sie noch zurückkehrten, war Jan schon über alle Berge mit seiner Geige und dem



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süßen Kuß von dem schönen Prinzessinnenmund. Anderen Tages sandte die Prinzessin wieder ganz früh am Vormittag eine ihrer Damen mit einer Botschaft zu dem Barbier, und siehe da! — als sie zurückkehrte, wußte sie von einem zweiten Diamanten zu erzählen, den Jan auf seiner Mütze trug und der noch viel schöner und größer war als der erste. Auch den mußte Jan zum Palast mitbringen, und als die Prinzessin ihn sah, wollte sie ihn besitzen, koste es, was es wolle.

Diesmal verlangte der Junge den doppelten Lohn . . und da sie zufällig allein waren, sträubte sie sich nicht lange. Jan bekam zwei noch viel süßere Küsse, und die Prinzessin behielt den Diamanten.

Als sie nun am Tag darauf noch einen dritten und zehnmal größeren Stein bekommen und dafür ein halbes Dutzend Küsse gegeben hatte, sah die Prinzessin plötzlich, daß sie mit den Küssen von ihrem Munde auch ihr Herz weggegeben hatte.

Sie bemerkte, daß sie ohne den Barbierjungen nicht länger leben konnte. Aber einen Jüngling so niederer Abkunft ihrem Vater als Gemahl vorzustellen, nachdem sie so viele Königssöhne abgewiesen hatte, das ging nicht! Und so ging sie auf den Vorschlag des armen Jungen ein und floh mit ihm in das Zehnbündnerland.

Jan heiratete die Prinzessin, ohne ihr zu verraten, wer er war. Nicht weit vom Palast seines Vaters mietete er ein Häuschen und über die Tür ließ er die Worte malen:

Hier wohnt Jan, der Fiedelmann,
Er schert Bürger und Edelmann!

Damit seine Frau, die von Arbeit und Haushalt wenig verstand, auch ein paar Groschen verdiene, richtete er in seinem Hause eine Schenke ein. Bei Tage ließ er sie allein und gab vor, daß er seine Kunden aufsuchen und barbieren müsse, in Wirklichkeit verbrachte er die Zeit aber am Hof und bei seinen alten Eltern, denen er sein Abenteuer erzählt hatte. Die Prinzessin liebte er wohl von ganzem Herzen. Er wollte sie jedoch, ehe er sie als seine Gemahlin vorstellte, von ihrem früheren Hochmut und Stolz heilen.

Deshalb stellte er sie einigemal auf die Probe. Zunächst weigerte er sich, so inständig sie auch bitten mochte, ihr eine Wirtsmagd zu geben, die statt ihrer die grobe Arbeit in der Schenke verrichtete. Er sagte, dazu habe er kein Geld, und erklärte, daß er dann noch lieber eine Haushälterin als Zapfmädchen nehmen würde, da sie ja doch, wenn's um den Haushalt ging, von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. So mußte sie denn von morgens früh bis abends spät als einfache Wirtin hinter dem Schanktisch stehen und zapfen, bedienen und Gläser spülen, und



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dabei arm und reich mit dem gleichen freundlichen Gesicht Rede stehen.

Eines Tages schickte er einen von seines Vaters Höflingen. Der mußte es dahin bringen, daß ein paar Soldaten, nachdem sie stundenlang in der Schenke gezecht hatten, zu raufen anfingen und alles, was in der Stube war -, Gläser, Flaschen, Kannen, Krüge, ja selbst die Stühle und Tische - in tausend Stücke schlugen. Als er abends heimkam, fand er sie mit verweinten Augen, aber sie murrte und klagte nicht. Nun gab er zu, daß sie zur Wirtin nicht passe, und da er selber inzwischen einen ordentlichen Stüber verdient hatte, schlug er ihr vor, einen Glas- und Porzellanladen aufzumachen.

Das gefiel der Prinzessin besser. Sie fand es angenehmer, zwischen Gläsern und Schüsseln vor der Tür in der frischen Luft zu sitzen, als in der stickigen Wirtsstube dem Geschwätz haibtrunkener Soldaten und Matrosen zuhören zu müssen.

Aber es waren noch keine vierzehn Tage vergangen, da wurde ihre Geduld abermals auf eine harte Probe gestellt. Jan bezahlte einen Fuhrmann, der mußte mit Pferd und Wagen quer durch die Auslage reiten. Aber der Verkäuferin durfte nicht das geringste Leid geschehen.

Als er heimkam und sie, obwohl sie betrübt dreinschaute, doch mit keinem Wörtlein bedauerte, daß sie seinen Rat befolgt hatte und hier ein so kümmerliches Leben führen mußte, bekam der Prinz Mitleid und beschloß, sie schnell in sein Geheimnis einzuweihen.

So kam er nach ein paar Tagen frohgemut nach Hause. »Fasse Mut, liebe Frau«, rief er. »Jetzt haben wir uns genug abgerackert! Nach dem Graubrot werden wir nun endlich Weißbrot bekommen. Stell dir vor, was für ein Glück mir in den Schoß gefallen ist. Der König vom Zehnbündnerland hat mich zu seinem Leibbarbier ernannt. Morgen machst du deinen Laden zu. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn es mir nicht gelänge, meine Frau als Hofdame bei der Königin anzubringen!«

Und nach ein paar weiteren Tagen sagte er, auf seine untertänige Bitte habe der König sie seiner Gemahlin empfohlen. Am nächsten Tage würde sie bei Hofe erwartet. Und obendrein hätten die Majestäten ihm erlaubt, einen Bogenschuß vom Palast ein schönes Haus zu beziehen. »Du siehst, liebe Frau, daß sich die Dinge zum Guten gewendet haben. Das wird nun ein Leben wie im Schlaraffenland. Wenn wir beide bei Hofe sind, brauchst du nicht mehr an Kochen und Stochern zu denken. Das einzige, was dir noch zu tun bleibt, ist, daß du abends meine



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Schuhe blitzblank putzt. Du wirst zugeben, daß das keine schwere Arbeit ist!«

Die neue Hofdame wurde von der Königin mit Auszeichnung behandelt. Sie bezeugte ihr sogar eine große Vorliebe und lobte ihre feinen Manieren und ihre gewählte Sprache, ohne aber durchblicken zu lassen, daß sie wisse, wen sie da zur Dienerin habe. Jan hatte seiner Frau weisgemacht, daß er sie für die Tochter eines Höflings aus ihres Vaters großem Königreich ausgegeben habe.

Nun machte nach einiger Zeit die Königin ihre Hofdame darauf aufmerksam, daß ihre Fingernägel immer so schwarz und ihre Hände so verarbeitet aussahen. Und als die Prinzessin erklärte, daß sie die Schuhe putze, weil ihr Mann keine Dienstboten im Hause habe, da befahl ihr die Königin, den Barbier zu warnen. Sie, die Königin, verlange, daß die Hofdame keine erniedrigenden Arbeiten mehr zu verrichten brauche. »Gut, es sei«, antwortete Jan, als sie ihm erzählte, wie es ihr mit den schwarzen Fingernägeln ergangen war. »Du brauchst die Arbeit nicht mehr länger zu tun. Jedoch von einer Dienstmagd will ich jetzt ebensowenig hören wie früher. Laß einfach ausrufen, daß ein guter Schuhputzer hier abends eine halbe Stunde Arbeit findet.«

Und so geschah es. Aber - was tat unser Hofbarbier? Gegen Abend, als er seine Frau zu Hause wußte, begab er sich in seinem strahlenden Prinzengewande mit allen Höflingen seines Vaters und mit Musikanten und Fackeiträgern zu seinem Haus, klopfte an und fragte mit verstellter Stimme, ob es wahr sei, daß die Frau des Hofbarbiers Jan, des Fiedelmannes, einen Schuhputzer verlange. Sie erkannte ihn nicht in seinem prächtigen Gewande und begriff auch nicht, warum alle die großen Herren, die sie bis auf einen kannte, sich um eine so nichtige Sache kümmerten. Und so antwortete sie stotternd und bleich vor Erregung: »Ja. . . Herr, ich. . . Mein Mann wünscht jemandem zum Schuheputzen!« Da nahm der strahlende Unbekannte seinen Hut vom Kopf, beugte vor ihr ein Knie bis zur Erde und sagte: »Schöne Prinzessin, dem Prinzen aus dem kleinen Zehnbündnerland wird es eine Ehre sein, jeden Tag selber die Schuhe zu putzen, die Euer schönes, zierliches Füßchen kleiden. . .

Nun erkannte sie ihn endlich. Sie entsann sich der hochmütigen Antwort, die sie ihm ein Jahr zuvor auf seinen Antrag gegeben hatte, brach in Tränen aus und bat um Verzeihung.

»Verziehen habe ich dir längst«, sagte der Prinz. »Doch nun komme mit an den Hof meines Vaters . . Morgen wird unsere Vermählung öffentlich verkündet, und du wirst die Kronprinzessin des kleinen Reiches,



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wovon ich dir damals gesungen habe, als ich zum erstenmal dein schönes, seidenes Haar kämmte:
Das Land ist so klein,
Die Herzen so groß.
Man haßt und liebt dort
bis in den Tod.«


Warum die Schiffer an der Höllenpforte angehalten werden

Ihr wißt, daß die Schiffer im Splissen von Tauen sehr erfahren sind. Wenn auf ihrem Schiff ein Tau zerreißt, dann drehen sie die Enden auf und flechten sie so stark und fest wieder zusammen, daß man sie nicht mehr auseinanderreißen kann.

Als nun der erste Schiffer in die Hölle kam, langweilte er sich die ersten Tage so fürchterlich, daß er nicht wußte, wie er sich die Zeit vertreiben sollte. Und da begann er, um etwas zu tun, die Schwänze der Teufel zu splissen, so daß sie alle aneinanderhingen. Die Schwänze saßen so fest, als wenn sie mit dem Vorhammer zusammengeschmiedet worden wären. Das gab ein Zanken, Toben und Jaulen, ein Durcheinander, als ob der Teufel los wäre! Schließlich mußte Satan, der Oberteufel, einschreiten. Sobald er hörte, wer der Täter sei, warf er den Schiffer zur Hölle hinaus.

»Hier kommen keine Schiffer mehr herein!« rief er. Und wahrhaftig, seitdem, werden die Schiffer vor der Höllenpforte angehalten.


Das Männlein Elend

In alten Zeiten wohnte das Männlein Elend an der Straße von Brüssel nach Antwerpen in einem kleinen Häuschen mit Garten davor, der noch keine Schürze groß war. Dort stand ein großer Apfelbaum. Der hing jeden Herbst voll rotbäckiger Apfel, und die Zweige ragten über das Dach und über die Hecke auf die Landstraße.

Den Schlingeln von der Gasse stachen die rotwangigen Apfel in die Augen. Aber auch die großen Leute versuchten dann und wann, wenn sie vorüberkamen, einen Apfel zu erwischen. Die Gassenbuben kletterten in ganzen Scharen auf den Baum. So konnte es vorkommen, daß zur Erntezeit kein einziger Apfel mehr an den Ästen hing, und darüber



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ärgerte sich das Männlein Elend gewaltig. Eines Abends klopften zwei Männer bei ihm an und baten um eine Bleibe für die Nacht.

»Warum nicht«, sagte Männlein Elend. »Kommt nur herein! Ich will gern mit euch teilen. Ich habe zwar nicht viel.«

»Was man aus Liebe gibt, verdient Dank«, sagten die beiden Männer. Das Männlein trug auf, was es für sein eigenes Abendmahl bestimmt hatte, trockenes Roggenbrot und Buttermilchsuppe. Die Männer aßen, daß ihnen der Wanst dick und rund wurde, denn die karge Speise schmeckte ihnen wie Festtagsbraten.

Kaum hatten sie alles hineingelöffelt und waren mit dem Essen fertig, da sanken sie auch schon zu beiden Seiten des Ofens hin und schliefen. Und sie schnarchten wie zwei glückliche Seelen. Am anderen Morgen wachten sie beim ersten Hahnenschrei auf. Sie mußten weiterwandern und bedankten sich für alles, was ihnen das Männlein Gutes getan hatte. »Aber«, sagten sie schließlich, »wir wandern nicht weiter, ohne deine Freundlichkeit zu vergelten. Wünsche dir etwas! Gleichgültig, was es ist, wir werden es dir erfüllen.«

»Dann wünsche ich nur dies eine: Daß jeder, der auf meinen Apfelbaum klettert, daran kleben bleibt und ohne mich nicht wieder herunterkommt, und wäre es der König, der Tod oder der Teufel selber.« »Dein Wunsch ist erfüllt«, sagten die Männer und zogen ab.

Als nun im Sommer die Früchte reiften, kletterten die Buben wieder auf den Baum. Aber keiner konnte herunter. Als sie das bemerkten, heulten und jammerten sie wie Besessene.

Ihr könnt euch denken, daß das Männlein Elend sich darüber ins Fäustchen lachte. Aber es kam noch besser! Die Väter und Mütter kamen gelaufen und wollten ihre Kinder vom Baum herunterholen. Das ging natürlich nicht. Denn sie blieben auch kleben, mit Haut und Haaren und allem, was sie in den Händen hielten. Und der Bürgermeister kam mit seinem Hund und der Flurschütz mit dem Säbel und die Polizisten mit Gewehren. Auch sie wollten die Verhexten befreien, aber im Handumdrehen hingen sie mit daran und machten noch mehr Spektakel als die Kinder und ihre Eltern. So klebten sie eine Zeitlang zum großen Spaß der Leute, bis das Männlein Elend sie herunterließ.

»Jetzt werden sie meine Äpfel wohl hängen lassen«, sagte er.

Und er behielt recht. Die Kinder und die Leute des Dorfes ließen seitdem den Apfelbaum in Ruhe, und das Männlein Elend konnte seine Äpfel in Frieden essen. Nach langen Jahren, im Frühling, als der Apfelbaum noch in Blüte stand, klopfte es an Männlein Elends Haus. Er rief »Herein!«' und Pietje Krakeling mit der großen Sense stieß die Tür auf.



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»Jetzt ist die Zeit da, um Abschied zu nehmen, Freund. Deine Uhr hat geschlagen. Mach dich bereit!«

Da verlegte sich das Männlein aufs Bitten und Betteln. Pietje möge ihn doch noch ein wenig auf Erden lassen. »Nur ein paar Monate noch bis zum Herbst, damit ich ein letztes Mal meine Apfel essen kann«, flehte er. »Es sind Apfel, wie du noch nie welche gegessen hast. Ich will dir auch ein paar schenken.«

Da sagte Pietje Krakeling: »Gut denn! Es ist zwar nicht meine Gewohnheit, eine Daumenbreite nachzugeben, aber ich will im Herbst wiederkommen. Einmal ist keinmal, und Ausnahmen schaden in der Regel nicht.« Und damit war er fort.

Aber in den ersten Tages des Herbstes stand er wieder da. Die Apfel hingen noch auf dem Baum, und das Männlein Elend, das den gefährlichen Gast seit einigen Tagen erwartete, fing an zu husten und zu wimmern, als es das knöcherne Tacken gegen die Tür hörte. »Herein!« Das war Pietje.

»Du weißt, weshalb ich gekommen bin!«

»Das weiß ich allerdings«, sagte das Männlein Elend. »Aber du besinnst dich doch auf unsere Abmachung, nicht wahr?«

»Du durftest erst noch einen Apfel von deinem Baum essen, das hast du gewiß getan!«

»Nein, das hab ich nicht. Ich bin zu krank und hinfällig, um hinaufzuklettern.

»Ta, ta, ta«, sagte der Tod.

»Warum ta, ta, ta! Wir haben abgemacht, daß ich erst noch einen Apfel essen darf. Und du sollst auch einen haben. Weil ich zu schlapp bin, sie zu pflücken, mußt du es tun.«

»Gut, das werde ich besorgen!«

Im Handumdrehen saß Pietje Krakeling im Baum, aber ihr könnt von hier aus schon sehen, wie er hängen bleibt und sich zwischen den Zweigen festklemmt, als wäre er ein Fuchs in der Falle.

Da kam das Männlein Elend vor die Tür gerannt und rief ihm hinauf: »Da hängst du gut, was? Meinetwegen kannst du hängen bleiben bis ans Ende der Welt!«

Was Pietje Krakeling auch unternahm, es gab kein Herunterkommen. Er saß da wie angeschraubt, und als er nicht loskam, begann er zu betteln und zu flehen. Er jammerte: »Lieber Freund, laß mich doch herunter! Ich gebe dir, was du verlangst. Was soll in der Welt werden, wenn ich meine Arbeit nicht mehr tue! In der halben Stunde, seit ich hier sitze, ist kein Mensch mehr gestorben.«



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»Was geht das mich an!«rief das Männlein Elend. »Aber sage, was gibst du mir, wenn ich dich laufen lasse?«

»Das ewige Leben für dich und deinen Hund.«

Ja so, ich hatte euch zu erzählen vergessen, daß das Männlein Elend einen Hund hatte. Der war sein einziger Kamerad.

»Einverstanden«, rief das Männlein und ließ den Tod laufen. Und wie rannte Pietje! Er war blaß geworden vor Scham, daß das Männlein ihn so angeschmiert hatte.

Und das Männlein lachte sich ins Fäustchen. Aber seit jenem Tage haben die Menschen ein Kreuz mehr auf der Welt: das Elend, das ewig bis zum allerletzten Tag unter ihnen wohnen bleibt.


Vom Bauer Besen, Bauer Blatt und Bauer Eisen

Es waren einmal drei merkwürdige Bauern, die wohnten alle drei in dem gleichen Wald. Der erste baute sich da ein Häuschen aus Besen, der zweite ein Häuschen aus Blättern und der dritte ein Häuschen aus Eisen, und so hießen sie Bauer Besen, Bauer Blatt und Bauer Eisen.

An einem kalten Wintertage klopfte ein Wolf beim Bauer Besen an und rief: »Bauer Besen, Bauer Besen, mach doch auf, lieber Freund, meine Hände sind so kalt, und meine Füße sind ganz erfroren!« — »Ich mach nicht auf«, antwortete Bauer Besen kurz. — »Dann renne ich dein Haus ein!« Und der Wolf rannte gegen die Tür, so heftig er konnte, die Tür ging auf, und der Wolf setzte sich zu Bauer Besen ans Fenster.

Bauer Besen schälte gerade Kartoffeln, und der Wolf bat mit rauher Stimme: »Warrrm im Bauch! Gleich fettes Ferrrkel frrressen! Warrrm im Bauch! Gleich fettes Ferrrkel frrressen!« — »Was schwätzt du da für ein einfältiges Zeug?«fragte Bauer Besen dumm. —»Ja«, antwortete der Wolf, »das ist ein Gebet für dich . . . Aber gib mir eine Kartoffel, ich habe Hunger . . .«Bauer Besen steckte eine Kartoffel auf die Spitze seines Messers und reichte sie dem Wolf von weitem, aber der riß das Maul auf und schluckte Bauer, Messer und Kartoffel hinunter.

Am anderen Tage klopfte der Wolf bei Bauer Blatt an. »Bauer Blatt, Bauer Blatt, mach doch auf, lieber Freund, meine Hände sind so kalt und meine Füße ganz erfroren!« — »Ich mach nicht auf«, antwortete Bauer Blatt kurz. —»Dann renne ich dein Haus ein!«Und er rannte gegen die Tür, und die Tür fiel hinein, und der Wolf setzte sich zu Bauer Blatt an den Ofen. Der war auch gerade beim Kartoffelschälen, und der



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Wolf begann wieder mit hohler Stimme: »Warrrm im Bauch! Gleich fettes Ferrrkel frrressen! Warrrm im Bauch! Gleich fettes Ferrrkel frrressen!« — »Was murmelst du da«, fragte Bauer Blatt. —»Ach«, sagte der Wolf, »das ist so ein Gebetchen für dich! Aber gib mir doch eine Kartoffel, ich hab solchen Hunger!« Bauer Blatt hielt ihm das Messer mit einer Kartoffel darauf hin, und auch diesmal verschlang der Wolf Bauer, Messer und Kartoffel.

Am dritten Tag ging er zu Bauer Eisen. Der hatte ihn kommen sehen und einen schweren Topf mit Erbsen auf den Sölder*gesetzt. Der Wolf klopfte an: »Bauer Eisen, mach doch auf! Meine Hände sind so kalt, und meine Füße sind ganz erfroren.« — »Ich mache nicht auf!« —»Dann renne ich dein Haus ein!« — »Renne nur«, sagte Bauer Eisen, und der Wolf rannte sich die vier Pfoten wund, und sein Maul blutete und blutete, so daß Bauer Eisen schließlich Mitleid hatte und die Tür doch aufmachte . Und nun setzte sich der Wolf neben Bauer Eisen, der auch beim Kartoffelschälen war, und bald begann er wieder mit einer Stimme, die aus einem Grabgewölbe zu dringen schien: »Warrrm im Bauch! Gleich fettes Ferrrkel frrressen! Warrrm im Bauch! Gleich fettes Ferrrkel frrressen!« — »Wie«, fragte Bauer Eisen spöttisch, »was erzählst du da?« —»Ach«, sagte der Wolf, »das ist ein Stoßgebet für dich! Aber gib mir eine Kartoffel, ich habe solchen Hunger.« Bauer Eisen hielt ihm eine Kartoffeln hin, und der Wolf wollte ihn verschlingen, aber da fiel der Topf mit Erbsen um, und die Erbsen kollerten mit lautem Lärmen über den Boden.

»Was ist das? Was ist das?«fragte der Wolf und sprang auf. »Das ist der Richter, der dir auf der Spur ist«, antwortete Bauer Eisen lachend. »Sie wollen dich hängen, weil du Bauer Besen und Bauer Blatt gefressen hast!« — »Ach Gott, liebster, bester Bauer Eisen, ach, wie kann ich entwischen«, jammerte der Wolf. — »Lauf schnell auf meinen Sölder«, sagte der Bauer Eisen. »Ich werde dich nicht verraten!«

Und der Wolf rannte die Leiter hinauf, und Bauer Eisen nahm einen Kessel kochenden Wassers vom Feuer und setzte ihn unter die Leiter. Der Wolf hatte es so eilig, daß er die Sprossen verfehlte. Und so fiel er in den Kessel und verbrannte sich jämmerlich. Bauer Eisen holte ihn heraus, schnitt ihm den Bauch auf, und siehe da! Bauer Besen und Bauer Blatt krochen lebend heraus. . . Und zu dritt warfen sie den Wolf hinaus und kehrten in ihre Hütten zurück, Bauer Besen, Bauer Blatt und Bauer Eisen! 

Sölder = Speicher, offener Vorpiatz im oberen Stocke, sonst Söller.



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Die schmutzige Liese

Es war einmal ein König, der hatte zwei Töchter. Die älteste war zum Stehlen schön und die jüngste zu häßlich, um donnern zu helfen. Der König verachtete seine jüngste, häßliche Tochter. Sie mußte alle schmutzige Arbeit verrichten, so daß sie schlimmer dran war als die Geringsten seiner Knechte und Mägde.

Die älteste und schönste Tochter dagegen wurde sehr verwöhnt, fast so sehr wie des Königs Esel, und den liebte er über alles. Das hatte natürlich seinen Grund. Der Esel legte Gold, Gold in großen Haufen, tagtäglich einen ganzen Trog voll. So wurde der König mit jedem Tag reicher, und jeder reichere Tag brachte der ältesten Prinzessin mehr Glück und der jüngsten mehr Kummer. Das mußte sich ändern, wie alles in der Welt sich ändert. Was heute auf dem Gipfel prangt, liegt morgen unten.

Nun war der Prinz aus dem Nachbarland großjährig geworden, und seine Mutter dachte daran, ihn zu verheiraten. Ihre Läufer reisten in alle Länder der Welt, um diese Nachricht den heiratsfähigen Mädchen zu verkünden. Es war merkwürdig, daß die künftige Gemahlin keine Prinzessin zu sein brauchte, sondern nur das schönste Mädchen, das sich finden ließ. Die älteste Tochter des Königs legte alles darauf an, die Braut des Prinzen zu werden. Sie putzte sich prächtig heraus. Alle Höflinge mußten ihr helfen. Das war den ganzen Tag ein Auswählen und Anprobieren!

Die jüngste, häßliche Tochter sah das, und sie flehte und betete zu Gott, daß er sie doch auch so schön mache wie ihre Schwester.

Da geschah es, daß eine alte Zauberhexe, die manchmal aufs Schloß gerufen wurde, um dem König die Karten zu legen, eines Morgens den beiden Prinzessinnen im Park begegnete, zunächst der älteren, schönen, dann der jüngeren, häßlichen.

Die schöne Prinzessin lief davon, als sie die Zauberhexe kommen sah, und rief so laut, daß es jeder hören konnte: »Die alte Hexe hat mir wieder den Tag vergällt!«

Da wurde die Zauberhexe wütend wie eine Schlange und verwünschte die Prinzessin: »Dein Leben soll vergällt sein von dieser Stunde an. Du sollst kein Wort sprechen, oder es werden Kröten und Nattern aus deinem Munde springen.«

Nun kam die häßliche Prinzessin des Weges. Sie wußte nicht, was mit ihrer Schwester geschehen war, und sagte freundlich zu der Alten: »Guten Tag, Mütterchen. Da ich sehe, daß dir das Laufen schwer fällt,



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wünsche ich dir die Schnelligkeit und Geschmeidigkeit deiner zwanzig Jahre!«

»Ich danke dir, Prinzessin, und wünsche dir, daß du die Schönste aller Frauen wirst. Und so wird es geschehen!«

»So wird es einmal sein«, fuhr sie dann fort. »Höre gut zu, denn alles, was ich nun sage, mußt du genau ausführen. Hier ist ein Ring. Wenn du ihn am Finger trägst, wirst du die Schönste von allen sein, und wenn du sprichst, werden dir Perlen und Diamanten wie Tautropfen vom Munde fallen.«

Und sie sprach weiter: »Aber das ist noch nicht alles. Zu dem Prinzen, den du dir erträumst, mußt du mit einer Mütze gehen, die aus dem Fell des Esels geschnitten ist, der alle Tage Gold legt. Dein Vater muß das Tier sogleich schlachten. Und noch eines: Deine Schönheit wird nur solange dauern, als du den Ring am Finger trägst. Wenn dir aber der Prinz den Brautkuß gibt, wird sie nicht mehr vergehen. Geh nur geschwind und schau in deinen Spiegel, wie schön du bist.«Die häßliche Prinzessin lief fort. Vor dem Spiegel steckte sie sich den Ring an den Finger, und sie konnte nicht glauben, daß die bildschöne Prinzessin, die da vor ihr stand, ihr eigenes Bildnis sei.

»Wache oder träume ich?«fragte sie sich. Bei diesen Worten fielen ihr Perlen und Diamanten aus dem Mund, und daran erkannte sie, daß sie wach war. Auch das hatte ihr die Zauberin ja prophezeit.

Nun lief sie zu ihrem Vater, ohne den Ring vom Finger zu nehmen, und sie strahlte vor Schönheit, wie der Mond strahlt in der Nacht. »Vater«, rief sie, »sieh nur, wie schön ich bin! Und sieh einmal, welche Gabe mir die Hexe verliehen hat!«

Bei diesen Worten fielen ihr Perlen und Diamanten aus dem Mund. »Nun bitte ich dich um eine Gunst, nämlich daß du das goldlegende Eselchen tötest! Aus seinem Fell muß ich mir eine Mütze schneidern lassen, um den Prinzen zum Gemahl zu gewinnen.«

Der König sah sie gar nicht an und hörte auch nicht auf ihre Worte. Und so konnte er nicht wissen, welche Schätze bei den Worten aus ihrem Munde fielen. Aber die Höflinge und Pagen sahen es und griffen mit vollen Händen nach den Kostbarkeiten.

»Schlachte den Esel denn und mache aus seinem Fell, was du willst! Was nützt mir Gold, wenn mein liebstes Kind unglücklich ist«, sagte der König.

So wurde der Esel geschlachtet, und aus seinem Fell ließ sich die Prinzessin von dem besten Schneider der Stadt eine Mütze nähen, und mit dieser Mütze auf dem Kopf und dem Ring an einer eisernen Kette um



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den Hals machte sie sich auf den Weg ins Nachbarland, wo der Prinz wohnte.

Aber dort wagte sie den Palast des Königs nicht zu betreten. Da sie jedoch gehört hatte, daß der König eine Schweinemagd wolle, bot sie sich bei dem Verwalter an. Sie wurde angenommen, hütete die Schweine und schlief mit den anderen Mägden im Schweinestall.

Alle lachten über sie und nannten sie Eseismütze oder schmutzige Liese, nicht weil sie schmutzig, sondern weil sie so abschreckend häßlich war. Sie fühlte sich sehr unglücklich und vergoß dauernd bittere Tränen. Manchmal glaubte sie, ihre Hexe habe sie angeführt, zumal sie weder König noch Prinzen jemals zu Gesicht bekam. Einmal wollte sie, als sie im Schweinestall war, die Kraft des Ringes von neuem erproben. Sie nahm ihn von der Eisenkette und steckte ihn an den Finger. Im gleichen Augenblick fielen ihr die Lumpen vom Leibe, und sie war gekleidet in weißem Samt und Seide. Da konnte sie sich nicht länger bezwingen und wollte ihre Schönheit mit eigenen Augen sehen. Es war aber kein Spiegel im Schweinestall, und sie lief hinaus, um ihr Bild im Weiher zu betrachten.

Ja, sie war so schön wie damals, als sie sich in ihres Vaters Haus im Spiegel gesehen hatte.

»Wird der Prinz mich denn niemals zu Gesicht bekommen?« seufzte sie, und bei den Worten fielen ihr Perlen und Diamanten aus dem Mund ins Wasser. Als sie aufblickte, stand der Prinz auf der anderen Seite des Weihers und sah sie verzückt an. Darüber wurde sie so verwirrt, daß sie in den Schweinestall zurücklief, den Ring vom Finger zog und wieder im armseligen Rock der Schweinemagd mit der Eselsmütze auf dem Kopf dastand.

Der Prinz war in den Palast geeilt, um seiner Mutter, der Königin, zu erzählen, was er am Weiher gesehen hatte.

»Das schönste Mädchen, das es auf der Erde gibt«, rief er. »Es spiegelte sich im Wasser und ist vor mir in den Schweinestall geflohen. Komm, Mutter, wir gehen es holen. Ich will es zur Frau nehmen!«

Ein paar Augenblicke später kam der Prinz mit seiner Mutter in den Schweinestall, aber außer der schmutzigen Liese mit der Eseismütze war niemand zu sehen.

Die Königin jagte sie fort.

»An die Arbeit, schmutzige Liese!« rief sie.

Der Prinz suchte überall und fand keine Spur von der schönen Prinzessin. Das tat ihm sehr leid. Da fielen seine Blicke über dem Suchen auf ein blinkendes Ding, das im Stroh lag. Es war der Ring der Prinzessin,



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den sie in der Eile hatte fallen lassen, bevor sie ihn wieder an die eiserne Kette hatte legen können.

Der Prinz hob den Ring auf, bewunderte ihn und sprach: »Sieh, Mutter, das muß der Ring der schönen Prinzessin sein. Sie wird ihn beim Weglaufen verloren haben. Wenn ich sie nicht wiederfinde, werde ich nur das Mädchen heiraten, dem der Ring paßt.«

Und die Läufer des Königs verkündeten diesen Entschluß sogleich in allen Ländern.

Und von überallher kamen die Prinzessinnen, aber keiner paßte der Ring. Sie hatten viel zu dicke und plumpe Finger. Dann wurden die Töchter der Höflinge herbeigerufen, doch denen paßte er noch weniger. Da mußte man schließlich die Mädchen aus dem Volke fragen, ob ihnen der Ring paßte. Und man begann bei den Mägden am Hofe. Sie kamen eine nach der anderen, aber auch ihnen paßte der Ring nicht. »Ich habe die Schweinemagd mit der Eseismütze noch nicht gesehen«, rief der Prinz schließlich.

»Die schmutzige Liese«, sagte die Königin, »der paßt der Ring am allerwenigsten.«

»Erst versuchen, dann urteilen«, antwortete der Prinz. Die Schweinemagd kam in ihrem Arbeitskleid und der Eseismütze. Sie nahm den Ring und schob ihn so leicht auf den Finger, als sei er für sie geschmiedet. Da stand nun die schmutzige Liese mit der Eselsmütze vor dem Prinzen und war die schönste Prinzessin, die ihr euch vorstellen könnt!

»So habe ich dich am Weiher gesehen«, rief der Prinz überglücklich. »Du wirst meine Braut!«

Und der Prinz küßte die Prinzessin auf beide Wangen. Und von dem Augenblick an war ihre Schönheit beständig.

»Das alles ist mir geweissagt worden«, sagte die Prinzessin. Und während sie das sagte, fielen Perlen und Diamanten aus ihrem Mund auf den Boden. Das war das Wunderbarste! Die Königin und der Prinz trauten ihren Augen nicht. Am nächsten Tag wurde die Hochzeit gefeiert. Es war das schönste Fest, das je begangen wurde, ein Fest für die schönste Prinzessin, die es je gegeben hat. Und nach der Hochzeit hatte sie viele Kinder, wohl zwanzig, wohl hundert! Die waren so schön! Die ganze Welt hat sie bewundert!



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Jaakske mit der Flöte

Jaakske mußte Tag für Tag sehr weit mit den Kühen gehen und bekam von seiner Stiefmutter nur eine Kruste Roggenbrot mit.

Eines Tages kam ihm ein armer Mann entgegen.

»Männlein«, sagte der arme Tropf, »hast du nichts zu essen für mich? Ich habe so schrecklichen Hunger.«

»Gewiß«, sagte Jaakske, »ich werde mit dir teilen; aber sieh nur, es ist trockenes Brot und hart wie Knochen.«

»Es ist gut genug«, sagte der alte Mann, »es wird mir wohl schmecken.«

Jaakske brach seine Kruste entzwei und gab dem Alten die Hälfte. »Danke«, sagte der. »Ich werde dich belohnen. Was hast du am liebsten? Einen Beutel Silber, einen Beutel Gold oder eine Flöte, mit der du alles bekommen kannst?«

Unser Männlein dachte eine Weile nach und wählte die Flöte.

Er wollte schnell noch sehen, ob wohl wahr sei, was ihm der Alte gesagt hatte. Er blies hinein, und siehe da! Alle seine Kühe begannen zu tanzen, so daß sich Jaakske beinahe krummiachte.

Als er abends heimkam, warf ihm die Stiefmutter wieder einen Brocken hartes Brot vor. Aber Jaakske fing an zu flöten, siehe da! Ganz wie die Kühe auf der Weide fingen wieder alle an zu tanzen, die in der Küche waren. Die Knechte klapperten mit den Löffeln im Mund, die zinnerne Schüssel wippte auf dem Kaminbord, das Butterfaß rumpelte durchs Haus, und die Stiefmutter schwitzte, daß ihr die Ströme vom Gesicht herabliefen.

»Hör auf, Jaakske«, rief sie, »hör auf!«

»Ja, wenn du mir bessere Kost gibst!«

»Ja, ja, das verspreche ich dir!« rief die Stiefmutter.

Und Jaakske hörte auf und bekam, wenn er mit den Kühen auf die Weide ging, eine frische Weißbrotschnitte.


Der Wahrsager Grille

Zu der Zeit, als die Frauen noch spannen, gab es einmal einen Mann, der Grille hieß. Er war ein großer Freund eines Gläschens, und seine Frau war ganz versessen auf einen leckeren Hütsepott. Grille mußte jede Woche das Garn seiner Frau auf den Markt bringen. Wenn er auf dem Heimweg seine Taler in Bier umsetzte und sich



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manchmal auch um den Verstand trank, so sagte seine Frau doch kein Wort, brachte er ihr nur einen guten Hütsepott mit.

Einmal hatte Grille viel Geld für sein Garn bekommen, so daß er sehr fröhlich war und immerzu in die Hosentasche griff, um die Taler klimpern zu hören. >Diesmal gönne ich mir ein tüchtiges Glas<, dachte er, und so ließ er keine einzige Schenke aus. Aber allmählich schmolzen seine Groschen zusammen, so daß ihm kaum noch etwas übrigblieb. Grille fühlte, daß er einen richtigen Rausch hatte.

Während er nach Hause wankte, tastete er in seine Tasche und war sehr erstaunt, nur noch fünf Pfennige zu finden. Er zählte und zählte und mußte zu guter Letzt seinen Augen glauben. Das schlimmste war, daß er den Hütsepott für seine Frau vergessen hatte! Nachdenklich und murrend ging er weiter und kehrte, ohne es zu wissen, in die nächste Schenke ein. Und im Nu war er auch sein letztes Geld los. Da überkam ihn der Schlaf. Er legte den Kopf auf den Tisch und schnarchte wie ein Walroß.

Als er aufwachte, war er wieder nüchtern und überlegte, was er nun tun sollte. Nach Hause zu gehen getraute er sich nicht, denn ohne den Hütsepott würde ihn seine Frau nicht gerade freundlich empfangen, dessen war er sicher. Was also anfangen? Und siehe da! Der Wirt erzählte ihm, daß der Gräfin auf dem benachbarten Schloß ein Diamantring gestohlen worden sei. Und er mußte von großem Wert sein, denn die reiche Dame hatte dem Finder hundert Kronen versprochen. >Du lieber Himmel<, überlegte Grille, während er sein leeres Glas betrachtete, >das wäre etwas für mich! Wenn ich den Dieb entdecke, habe ich mein Glück gemacht.<Und ohne ein Wort zu sagen, stand er auf, ging zu der Gräfin auf das Schloß und gab sich dort für einen berühmten Wahrsager aus. Die Dame versprach ihm hundert Kronen, falls er binnen drei Tagen den Dieb entdecke; wenn nicht, würde man ihn mit Schimpf und Schande davonjagen.

Am ersten Tag suchte Grille alle Ecken und Winkel des Schlosses ab —vergebens! Als er die Diener beieinanderstehen und tuscheln sah, ging er gebückt an ihnen vorbei und beobachtete sie mit einem scheuen Blick von der Seite. Kaum hatte er ihnen den Rücken zugewandt, als einer dem anderen ins Ohr flüsterte: »Man könnte meinen, daß er es auf uns abgesehen hat, wir wollen auf der Hut sein.«

Inzwischen suchte Grille weiter den Boden ab und stöberte unter Blättern und Sträuchern. Aber es half alles nichts!

Das währte bis in den späten Abend. Da befahl die Gräfin einem ihrer Diener, den Fremden auf seine Schlafkammer zu bringen. Grille hatte



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allen Mut verloren, weil schon einer von den drei Tagen vorüber war, und sank mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl. Und er murmelte: »Ja, ja, Grille, das ist nun der erste!« Als der Diener das hörte, erschrak er sehr und rannte mit Riesenschnelligkeit zu seinen Kameraden: »Wir sind verloren! Der fremde Kerl weiß alles!« Und er erzählte ihnen, was er gehört hatte. Von da an getrauten sie sich kaum noch, Grille unter die Augen zu treten.

Am zweiten Tage untersuchte Grille die Sölder und Keller des Schlosses, aber der Ring war und blieb verschwunden. Nun schickte die Gräfin an diesem Abend einen anderen Diener mit Essen auf seine Schlafkammer. Ganz entmutigt sank Grille auf sein Bett und murmelte: »Ja, ja, das ist nun schon der zweite!«

Der Diener, der beide Ohren gespitzt hatte, erzählte das sogleich seinen Spießgesellen. »Kein Zweifel«, sagte er, »der Kerl hat alles entdeckt. Ich wette meinen Kopf, daß er uns morgen der Gräfin verraten wird. Dann sind wir unsere Stelle los und können unser Leben lang hinter Schloß und Riegel sitzen!«

Sie überlegten lange und fanden es schließlich ratsam, dem Wahrsager alles zu bekennen und einen Kniefall vor ihm zu tun. Damit er sie der Gräfin nicht verriete, wollten sie ihm ihr ganzes Spargeld schenken. Sie besprachen sich also mit Grille und gaben ihm den Ring und ihr erspartes Geld. »Ihr seht«, sagte Grille, »daß alles herauskommt! Seit der ersten Stunde, die ich hier bin, kannte ich eure Schelmerei. Für diesmal will ich schweigen. Aber hütet euch vor dem nächsten Mal!«

Nun holte der Schlauberger ein Klümpchen Teig, steckte den Ring hinein und warf ihn einigen Truthähnen und Gänsen vor. »Ik-kik! Ikkik!« «machte ein großer Truthahn, und schwupp! hatte er den Teig verschluckt. Dann ging Grille die Gräfin rufen: »Gnädige Frau«, sagte er, »Sie brauchen gegen keinen von Ihren Dienern einen Argwohn zu hegen, denn der Dieb Ihres Diamanten ist dieser schwarze Truthahn.« Das Tier wurde gefangen und geschlachtet.

Ihr könnt euch vorstellen, wie erstaunt alle waren, als der Ring zum Vorschein kam. Grille glaubte, daß er nun gleich seine versprochenen hundert Kronen einstreichen könne, aber da hatte er sich verrechnet. Die Gräfin schien zu zweifeln, ob er nicht doch ein Betrüger sei, und wollte ihn deshalb ein zweites Mal auf die Probe stellen. »Ich kann diese Geschicklichkeit nicht genug bewundern«, sagte sie freundlich, »und bitte dich, nicht weiterzuziehen, bevor du mir nicht noch einen Beweis deiner Kunst gegeben hast.«

Grille begriff, worauf das hinauslief, und so wurde ihm sehr unbehag



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lich zumute. »Sie brauchen nur zu sprechen, gnädige Frau, auf einmal mehr oder weniger kommt es mir nicht an!«

Da ließ die Gräfin ein paar Teller bringen, die ineinandergesetzt waren.

»Höre«, sagte die Gräfin, als die Teller auf dem Tisch standen. »Wenn du mir sagen kannst, was dazwischensitzt, bekommst du noch fünfzig Kronen. Weißt du es aber nicht, so setze ich dich vor die Tür, und du erhältst soviel Stockschläge, als Kronen zu verdienen sind.«

Grille machte ein dummes Gesicht. Er war wie von der Hand Gottes geschlagen und wußte nicht, wie er sich aus der Schlinge ziehen sollte. Er wagte nichts zu sagen, weil er falsch zu raten fürchtete. Wenn ihm die Stockschläge und seine Frau einfielen, fühlte er, wie sein Mut in die Schuhe sank, und er begann Blut und Wasser zu schwitzen vor Beklommenheit.

»Ach, arme, arme Grille!« seufzte er.

Da rief die Gräfin: »Ich bin verloren! Ich bin verloren! Du bist ein großer Zauberer!« Sie nahm den obersten Teller weg, und es lag eine tote Grille darunter.

Die Freude unseres Wahrsagers kannte keine Grenzen. Er ließ sich die hundertfünfzig Kronen sogleich auf den Tisch zählen und rannte damit nach Hause. Und da taten sie eine ganze Woche nichts anderes als trinken und Hütsepott essen, weil doch Grille so fein gewahrsagt hatte!



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MÄRCHEN AUS DER SCHWEIZ


Die Ziege des Schmiedes

Es waren einmal in einem Dorfe ein Mann und eine Frau. Der Mann war Schmied, und sie verdienten ihr Brot mit ihrem Handwerk. Kinder hatten sie keine, und sie lebten zusammen, zufrieden mit ihrem Los, in einfachen, aber hinlänglichen Verhältnissen. Sie hatten einen kleinen Stall, in dem sie einige Ziegen hielten, um Milch zu haben und um etwa eine Hausmetzg, einen Braten und einige Würste zu machen.

Eines Tages nun, es ging gegen den Herbst, sagte die Frau zu ihrem Mann: »Hör mal, es scheint mir, unsere Braune gibt keine Milch mehr und frißt etwas viel Heu, und ich glaube nicht, daß es sich lohnt, sie über den Winter zu behalten. Wir wollen sie mästen und eine gute Hausmetzg machen.« Und der Mann sagte: »O ja, wenn du meinst, wollen wir das machen. Im Frühjahr haben wir vielleicht ein Zicklein von der andern Ziege, und so wollen wir diese töten. Wir haben genug Milch von der andern.«

Und so verging der Herbst. Und eines Tages sagte die Frau: »Ich habe den Kalender angeschaut und glaube, der zweite Dezember, das ist ein gutes Zeichen, das Zeichen des Löwen. Das ist ein gutes Zeichen für die Metzg. Ich will am Nachmittag zu unsern Nachbarinnen hinübergehen und sie bitten, daß sie kommen möchten, um uns bei der Hausmetzg behilflich zu sein. Wir helfen ihnen auch.« Und die Frau ging einen Besuch machen und wünschte, daß jene am 2. Dezember kämen, da sie die Braune metzgen wollten. Und die Nachbarinnen waren sofort einverstanden und wußten, daß es an einer Hausmetzg eine gute Verpflegung gab, und sie versprachen, am zweiten, 4 Uhr morgens zu kommen.

Und der Schmied hatte alles zurechtgelegt, was nötig ist. Er hatte den Vorraum des Hauses hergerichtet, den großen Hammer herbeigeschafft, um der Ziege den Schlag zu geben, hatte die Messer geschliffen, um das Fleisch zu schneiden, und andere Werkzeuge, die man bei der Hausmetzg gebraucht, bereitgestellt.



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Und die Frau hatte Küchlein gebacken und im Laden eine besonders gute Sorte Kaffee und eine Flasche Branntwein gekauft. Sie waren es gewohnt, im Winter, wenn sie auf der Ofenbank saßen, hin und wieder ein Gläschen zu nehmen.

Am Morgen um 4 Uhr klopfte es, und die beiden Nachbarinnen kamen. Sie waren gut eingewickelt in Tücher, sagten der Schmiedin guten Tag und klagten, daß es sehr kalt, aber gutes Wetter zum Metzgen sei, denn die Hausfrauen liebten eine nicht zu hohe Temperatur für die Hausmetzg. Die Nachbarinnen kamen herein, und die Schmiedin lud sie in die Stube, damit sie ihre Kopftücher ablegen und ihre Arbeitsschürzen anziehen konnten.

Inzwischen war der Schmied im Stall gewesen, hatte die Ziege in den Vorraum des Hauses heraufgeführt und sie an einen der Ringe gebunden, die für solche Zwecke bereitstanden. Dann nahm er seinen großen Hammer und versetzte der Geiß den Schlag. Die Geiß fiel hin, ohne einen Mucks zu machen. Dann nahm er sie und legte sie auf die Bank. Indessen waren die Hausfrauen aus der Stube gekommen, die Schmiedin und die beiden Nachbarinnen, und begannen nun das Tier zu enthäuten.

Nachdem diese Arbeit erledigt war, sagte die Schmiedin, bevor es ans Schneiden des Fleisches ging: »Nun wollen wir, liebe Nachbarinnen und du, lieber Mann, in die Stube gehen, denn ich habe den Imbiß bereitgestellt. Zum Schneiden des Fleisches braucht es Kraft, das ist eine langweilige Arbeit. Nach dem Imbiß wollen wir dann die Arbeit wiederaufnehmen.« Die Nachbarinnen machten einige Umstände, wie das der Brauch ist, und meinten, diese Arbeit mache man ohne Zwischenverpflegung. Das waren aber bloß Redensarten und Komplimente, und gerne genug gingen sie dann in die Stube und ließen sich die guten Sachen, die die Schmiedin zubereitet hatte, munden. Auch den Schnaps schütteten sie nicht in die Schuhe.

Aber während der Schmied und die Frauen drinnen waren beim Essen und Trinken, was geschah? Die Ziege hob den Kopf und schaute herum, denn des Schmiedes Schlag hatte sie nicht getötet, sondern nur betäubt. Und wie sie bemerkte, daß sie sich halb enthäutet auf einer Bank befand und als sie all diese Gegenstände um sich herum erblickte, da sagte sie: »Ich glaube beim Eid, daß meine Brotherren mich töten und metzgen wollten. Das lasse ich mir aber nicht gefallen.«

Und mit einigen Sprüngen setzte sie von der Bank herunter, und mit ein paar weiteren Sprüngen jagte sie zur Haustür hinaus und fort in den Wald.



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Sie ging in den Wald. Es hatte schon zu tagen begonnen, und sie ging immer weiter in den Wald hinein. Wie sie immer weiter ging, kam die Geiß zu einer Hütte und dachte: >Das wäre was für mich, wenn ich da hineingehen könnte in diese Hütte und schlafen und ausruhen von allem, was ich erduldet habe. Ich bin sicher, daß ich von dem vermaledeiten Schmied ein paar Schläge an den Kopf erhalten habe, denn er wollte mich töten.<

Und sie ging hin und öffnete die Türe, die nicht mit dem Schlüssel geschlossen war, und erblickte in einer Ecke der Hütte ein schönes Lager aus frisch getrockneten Blättern, auf das sie sich hinstreckte, um bald fest einzuschlafen. Diese Hütte aber gehörte dem Fuchs. Dieser war frühmorgens beim Gevatter Wolf auf Besuch gewesen, und da es tagte, nahm er Abschied und machte sich auf den Heimweg. Ganz zufrieden und guter Dinge zog er seines Weges und erreichte seine Hütte. Er wollte eintreten, so wie er es gewohnt war, doch was? — Er fand die Türe geschlossen, und ganz erstaunt klopfte er an die Türe und rief: »Wer ist drin, öffnet sofort, das ist meine Hütte?«Aber statt einer Antwort hörte er nur ein gräßliches Stöhnen. Das arme Füchslein wurde immer aufgeregter, und in seiner Verzweiflung wurde es immer böser und klopfte mit aller Kraft mit seinem Stock gegen die Türe. Da hörte es drinnen rufen: »Ich bin des Schmiedes Ziege, und wer hereinkommt, den werde ich fressen!«

Wie der Fuchs das vernahm, erfaßte ihn Angst und Schrecken, und er kehrte um und machte sich auf den Weg, um den Gevatter Wolf zu Hilfe zu rufen. Mitten auf dem Hinweg aber begegnete er dem Vöglein mit dem krummen Bein, das ihn begrüßte: »Mein liebes Füchslein, du schaust furchtbar erschreckt drein, was ist dir begegnet, ist ein Unglück geschehen?«

»Ach, mein liebes Vöglein mit dem krummen Bein, denk nur, ich war diese Nacht beim Gevatter Wolf zu Besuch, und wie ich heimkam und in meine Hütte treten wollte, fand ich die Türe verschlossen. Und ich lasse die Türe nie geschlossen, wenn ich fortgehe, denn es ist nichts drin in meiner Hütte. Und ich hörte ein schauriges Geräusch drinnen, und wie ich an die Türe klopfte und rief und fragte, wer drinnen sei, da schrie eine unheimliche Stimme heraus: >Ich bin des Schmiedes Ziege, und wer hereinkommt, den werde ich fressen!<

Und nun bin ich auf dem Wege zum Gevatter Wolf, um ihn zu Hilfe zu rufen, denn allein wage ich nicht mehr, in mein Haus zurückzukehren.«

»Na, na«, sagte das Vöglein mit dem krummen Bein, »das wird nicht



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so schrecklich sein. Komm du nur mit mir, wir wollen schon schauen, wer so frech gewesen ist, in deine Hütte hineinzugehen. Ich habe keine Angst.« —»Oh, wenn Ihr mir helfen wollt, Vöglein mit dem krummen Bein, so wäre ich Euch sehr dankbar«, meinte der Fuchs.

Und sie kehrten um und gingen mit großen Schritten zur Hütte des Fuchses zurück. Dort angekommen, klopfte das Vöglein mit dem krummen Bein an die Türe und rief mit starker Stimme: »Wer ist drinnen? Gebt augenblicklich Antwort, ich bin das Vöglein mit dem krummen Bein und will sofort eine Antwort haben!« Und wirklich rief es wieder aus der Hütte: »Ich bin des Schmiedes Ziege, und wer hereinkommt, den will ich fressen!«

»Und ich bin das Vöglein mit dem krummen Bein, und wenn ich hineinkomme, so schleife ich dich tot heraus«, antwortete das Vöglein. Und es nahm einen Stock und schlug mit ein paar Schlägen die Türe ein. Wie es die Ziege auf dem Lager erblickte, ging es hin und erschlug sie kurzerhand mit seinem Stock. Die beiden faßten dann die Ziege, zogen sie aus der Hütte heraus und warfen sie in eine Ecke.

Im Dorfe hatten inzwischen der Schmied, die Schmiedin und die beiden Nachbarinnen ihren Imbiß eingenommen, und der Schmied sagte: »Nun, meine Frauen, wir wollen hinausgehen und unsere Arbeit fortführen.« — Er öffnete die Türe der Stube und fiel beinahe um vor Schreck, denn er sah, daß die Geiß nicht mehr auf der Bank lag.

Der Schmied ging hinaus in den Vorraum und schaute in alle Ecken, wo sich die Ziege hätte versteckt haben können, eilte in den Stall hinunter, um zu sehen, ob sie vielleicht wieder auf ihrem Lager wäre, aber sie war nirgends zu finden.

Da sagte der Schmied: »In Gottes Namen, die Ziege muß geflohen sein, wir müssen ihr nacheilen und versuchen, sie zu fangen.«

Und der Schmied, die Frau und die Nachbarinnen, ein jeder ergriff irgendeine Waffe, dieser eine Sense, der andere einen Pickel, der dritte eine Schaufel. So bewaffnet, machten sie sich mit großen Schritten auf den Weg zum Walde. Sachte, sachte gingen sie immer weiter in den Wald hinein, spähten in alle Löcher hinein und kamen wirklich auf einmal zum Ort, wo der Fuchs und das Vöglein mit dem krummen Bein die Ziege hingeworfen hatten.

Froh, die Geiß gefunden zu haben, lud sie der Schmied auf seine Schultern und trug sie nach Hause, wo sie schließlich mit der Metzg weiterfahren und ihre Würste nach Belieben machen konnten. Und nun Märchen, Schwanz der Ziege, Schwanz der Maus, die auf die Mauer kletterte.



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Der Hahn und die Henne

Frau Mengia hatte einen schönen Hahn mit wundervollen Federn. Diese glänzten in allen Farben. Er hatte auch einen schönen Doppelkamm. Er war ziemlich alt, sieben Jahre hatte er als guter Hirte seine Hennen gehütet, auf allen Wiesen herumgeführt, bis nach Plattas hinauf, wenn der Sperber nicht zu sehen war. Aber auch die Gluckhenne war eine gute Legerin gewesen in ihrer Jugend, das heißt als junge Henne. Nun war sie auch älter geworden, hatte viele Hähnchen ausgebrütet, aber noch mehr Hühnchen, und hatte so ihrer Herrin viele und schöne Hennen verschafft, ohne daß diese Küklein kaufen mußte. Darum konnte sich Frau Mengia nicht entschließen, weder das eine noch das andere abzutun, aus reiner Anerkennung. Und der Hahn machte den andern Hähnen jetzt noch Respekt, wenn sie kamen und in den Gärten herumschwatzten. Oberhaupt, unsere beiden Alten waren sozusagen Pensionäre, arbeiteten nicht mehr, genossen ihre Tage, indem sie an der Sonne lagen und an die schönen vergangenen Tage und Jahre dachten.

»Ich hätte eine große Lust, weißt, nach was?« sagte eines Tages die Gluckhenne. »Was du nicht sagst! Vielleicht, einen Tanz zu machen in deinen alten Tagen, überspannt genug wärst du schon?« — »Nein, aber noch einmal nach >Fuora da Uorch<hinaufgehen und Haselnüsse essen.« »Gut, gut, vorläufig sind diese noch lange nicht reif, und bis dahin haben die Buben alle abgerissen, so daß du nur Schalen ohne Kern essen kannst.« — »An mein Plätzchen gehen sie sicher nicht, mein Haselnußstrauch ist so sehr in den Bäumen versteckt und von Dorngestrüpp umgeben, daß sie nicht wagen, sich hineinzuzwängen. Aber wer weiß, ob er noch steht?« — »Für jetzt rechne nicht mehr, hinaufzugehen, später, gegen Ende September, wenn du deine Neugierde befriedigen willst und wenn es schönes Wetter ist, können wir den Ausflug immer noch unternehmen.«

Und richtig, eines schönen Tages, es war wirklich gegen Ende September, machte sich unser gutes Paar auf den Weg gegen »Fuora da Uorch«. Sie gingen über die Wiese, über die Kirchgegend hin und die Halde hinauf. Zu den Erlen hinaufgekommen, ziemlich müde, machten sie eine Pause, um zu verschnaufen. Das war ein schwerer Aufstieg gewesen. Dann gingen sie nach »Fuora da Uorch« hinunter in die Haselnüsse. Und da fanden sie auch jenen Haselnußstrauch der guten Henne unversehrt, voller Haselnüsse, Büschel von vier bis fünf Nüssen, beinahe braun und fast losgelöst von der Hülse. Das war eine Lust. Sie ließen



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es sich wohl schmecken, pickten den schönen großen Kern heraus und hatten bald ihren Kropf gefüllt. Das war ein Mahl. Nun machten sie eine Pause. Sie legten sich in die dürren Blätter nieder, unterhielten sich, indem sie Dummheiten machten, mit den Flügeln um sich schlugen und Witze erzählten: »Erinnerst du dich, als wir in Gesellschaft heraufkamen? Was für Zänkereien und Pickereien es da gab. Und wir Hennen mochten lachen und gifteln. Und dann, bevor's nach Hause ging, machtet ihr als höfliche Jungen die kleinen Wägelchen, um uns nach Hause zu ziehen. Und wir schmückten die Wagen mit Grün und Blumen. Das waren schöne Zeiten.« —»Ja, ja, tempi passati!« —»Du kannst vielleicht heute noch ein Wägelchen machen? Das wäre fein, im Wagen da hinunterzufahren.« —»Oho, so vergeßlich und unnütz bin ich denn doch nicht«, sagte der Hahn ganz beleidigt und begann sofort Räder, Sitz und Deichsel herzurichten. Und die Henne begann den Wagen mit Lärchenzweigen zum Dach zu schmücken, mit Ästchen voll Blättern und Blüten und mit Moos für den Sitz. Nun hieß es, den Wagen aus dem Gesträuch herauszubringen und hinaufschaffen zu den Erlen. Das ging schwer, aber dennoch brachten sie ihn hinauf. Und sofort setzte sich unsere Henne auf den Sitz und sagte: »Nun, mein Lieber, spann dich ein, daß wir gehen können, die Sonne geht bald unter, und es wird dann auch bald dunkel für uns.« — »Oha!« sagte der Hahn, »ist das so gemeint! Ich, der ich ein alter Mann bin, kann nicht so eine große Mühe ertragen, nein, nein, das glaube ja nicht, meine Liebe.« —»Ja, wer soll ihn denn ziehen, etwa ich, die ich eine alte Frau bin?«

Sie begannen nun zu streiten und zu gackern, so daß eine Gans, die gerade von Guarda herunterkam, nichts anderes glaubte, als daß der Hühnerkrieg ausgebrochen wäre. Sie stammte aus Guarda, wohnte aber in Susch. Sonntag für Sonntag kam sie her, um Neuigkeiten und Klatschereien zu sammeln, und sie machte dann reichlich Gebrauch davon, meist zum Schaden der anderen. Man nannte sie »Panflana«. Ganz Neugierde, hielt sie an und lachte: »Aber meine Lieben, ereifert euch nicht, gehen wir zusammen da hinunter, wenn es auch für mich Platz gibt. Unser Hahn als Kavalier zieht uns wohl, nicht wahr!« Der Hahn hätte am liebsten die Panflana über die Felsen hinuntergeschickt. »Glaubt Ihr, ich sei Euer Knecht, elende Schwätzerin, ich will Euch Mores lehren. Sofort kommt Ihr her an die Deichsel, Ihr seid jung und stark. Vorwärts ohne Umschweife.«Gesagt, getan, unser Hahn machte eins, zwei, packte sie an einem Flügel und - an die Deichsel. Alles Sträuben nützte nichts, er nahm eine biegsame Weidenrute, setzte sich mit einem Sprung auf den Sitz neben seine Gluckhenne, und vorwärts



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ging's. Unsere Gans, »nolens, volens«, mußte gehorchen, wenn sie nicht die Rute fühlen wollte.

Als sie zum Brunnen kamen, wollte sie anhalten, aber der Hahn schlug ihr eins um die Ohren, und vorwärts mußte sie. Weiter unten, neben dem Tuffelsen, sahen sie ein weißes Ding fliegen, aber sie erkannten niemand, es war schon etwas dunkel. »Wer kann das sein?«

Da sie näher kamen, erblickten sie eine kleine Eule auf einem Stein sitzend, die rief: »O laßt mich hinten aufsitzen, ich kann nicht mehr weiter, meine Füße brennen mir wie Flammen.« Die Gluckhenne und die Gans wollten nichts davon wissen und sagten: »Wahrscheinlich ist das wenig Gutes, wir wollen diese Gesellschaft nicht.« Der Hahn hingegen sagte ganz ritterlich: »Aber ja, mein liebes Jüngferchen, kommt nur herauf, aber nicht hinten, daß Ihr herunterfallen könntet. Hier ist Platz zwischen mir und meiner Frau. Ihr nehmt nicht viel Platz ein, schaut nur, daß Ihr uns nicht auf die Füße tretet, meine Frau hat Hühneraugen. Wenn Ihr der Frau auf die Füße tretet, werfe ich Euch den Abhang hinunter. Und nun vorwärts, Panflana, ohne Zögern, wir wollen wach nach Hause kommen.«

Sie kamen in die Ebene hinunter, da läutete die Abendglocke. Nun machten sie rasch. Panflana schrie vor Wut: »Wer weiß, wann ich nach Hause komme?«Aber auch unser altes Paar dachte: >Bevor wir ins Dorf hinunterkommen, haben sie das Türchen geschlossen, und dann?< Am Dorfeingang hielten sie an, um zu beraten. Nun war's ganz dunkel, und sie beschlossen, in den Hühnerstall von Frau Leta, der gewöhnlich offen stand, zu gehen, um zu übernachten. Und so machten sie es. Das Wägelchen warfen sie über den Hang des Herrn Jon St: . Panflana setzte sich auf einen Abfallhaufen, der Hahn und die Henne setzten sich auf die Deichsel der Egge, und die Eule hockte auf einem Pfosten. Bald waren alle in tiefem Schlaf.

Am Morgen vor Tagesanbruch erwachte der Hahn, der immer früh auf war, machte eine Untersuchung, ob die Gans vielleicht ein Ei gelegt hätte. Diese Ärmste hatte wirklich ob der großen Strapazen ein unreifes Ei gelegt, aber er hob es weg, ohne Panflana, die tief und fest schlief, zu wecken. Dann rief er seiner Gluckhenne ins Ohr, und fort hinaus über die Wiese. Und sie kamen gerade nach Hause, da Uorschla das Türchen öffnete. Sie gingen rasch ins Haus, froh, daß sie wegeilen konnten, ohne daß Panflana wußte, wer sie waren, sonst hätte sie ihnen keine Ehr mehr gelassen. Und die arme Eule? Allein wird sie sich nicht vom Pfosten losgemacht haben können. Sie wird noch dort sein.



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Reinhold, das Wunderkind

Ein Graf hatte drei Töchter. Die älteste hieß Adelheid, die zweite Luise und die dritte Elise. Durch schlechtes Haushalten kam der Graf in eine schlimme Lage, so daß er nichts mehr hatte. Und arbeiten, das wollte er nicht, er war zu vornehm. Sonst aber hatte er nichts zum Leben. Da dachte er, er wolle auf die Jagd gehen, das täten auch die Vornehmen (Adeligen)!

Eines Tages ging er in einen Wald. Den ganzen Tag aber fand er keinen Schwanz. Am Abend machte er sich auf den Heimweg. Es wurde Nacht. Kurz bevor er den Wald verließ, kam ein Bär daher, hielt ihn auf und sagte, er müsse ihm sofort etwas versprechen, sonst fresse er ihn auf. Da fragte er, was er ihm denn versprechen müsse. Da meinte der Bär, das müsse er versprechen, ohne daß er wisse, was. Und der Graf hatte Angst vor dem Bären und versprach es. Da eröffnete ihm der Bär, er hätte ihm seine Tochter Adelheid versprochen, die älteste, und in drei Tagen werde er sie holen. Der Graf ging heim, indem er nachdachte, was das doch für ein kurioser Bär sei. Zu Hause angekommen, erzählte er, es sei so und so gegangen. Er habe den ganzen Tag kein einziges Tier gesehen. Und am Abend sei er einem Bären begegnet, der ihn gezwungen habe, etwas zu versprechen, ohne zu wissen, um was es sich handle, sonst würde er ihn auffressen. Er hätte dann die Sache versprochen, und der Bär habe ihm bedeutet, nun hätte er ihm seine Tochter Adelheid versprochen. In drei Tagen werde er sie holen. Aber er sagte nichts, weder woher er komme noch wer er sei. Nun, sie warteten die drei Tage lang, nachdenkend, was geschehen könnte. Am dritten Tag, nachmittags, kam plötzlich eine Kutsche gegen das gräfliche Schloß gefahren. Und sie dachten: >Ja, was soll das sein, daß da plötzlich eine Kutsche kommt.< Sie hatten schon längst keine Besuche mehr gehabt. Die Kutsche hielt an, und es trat ein Jüngling heraus, ging hinauf und in die Stube, nahm Adelheid unter den Arm und verschwand mit ihr, mir nichts, dir nichts, zur Tür hinaus. Anfänglich waren sie ganz erstaunt, dann aber rannten sie ihnen nach, um sich nach dem Wie und Warum zu erkundigen, aber die Kutsche war schon weg. Nun begannen die Eltern und Schwestern zu weinen und zu klagen. Dann aber fanden sie hinter der Haustür einen Sack voll Geld. Da dachten sie: >Nun wollen wir das Geld nehmen und Gastmähler feiern und von da und dort her Herrschaften einladen.<Dann würden sie vielleicht eher herausfinden, wo das Mädchen wäre und was für ein Herr das sei, der mit dem Mädchen auf und davon gegangen war. Aber es



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kam niemand, der sagen konnte, wo das Mädchen sei. Und das Geld ging zur Neige. Da dachte der Vater: >Nun, mit der Zeit muß ich halt doch wieder auf die Jagd gehen.<Und er begann, in den Wald hineinzugehen, um zu sehen, ob er die Tochter fände. Den ganzen Tag über sah er wieder kein einziges Tier. Am Abend, bevor er nach Hause ging, erschien ein Adler und sagte, er müsse ihm, ohne zu wissen, was es sei, sofort etwas versprechen, sonst steche er ihm die Augen aus. Dem Grafen fuhr es augenblicklich durch den Kopf: >Wer weiß, ob es eine deiner drei Töchter wäre<, und er entgegnete, ohne zu wissen, um was es sich handle, könne er nichts versprechen. Der Adler aber meinte, wenn er nicht sofort das Versprechen gebe, so steche er ihm die Augen aus. Nun, der arme Mann wollte sich nicht gerade die Augen ausstechen lassen und dachte: >Na, irgendwie will ich mich diesmal wohl vorsehen, daß er nicht die Tochter stehlen kann, ohne daß ich weiß, wohin er geht und wer er ist.< Und er tat das Versprechen. Da eröffnete ihm der Adler, er habe ihm seine zweite Tochter, die Luise, versprochen, und in fünf Tagen werde er sie holen. In Gedanken versunken ging der Graf heimwärts. Sobald er heimkam, fühlten die Seinen, die Mutter und die Töchter, sofort, daß ihm etwas fehlte. Er aber wollte nicht sofort mit der Sprache herausrücken. Doch letzten Endes mußte er es sagen und erzählte, es stehe so und so. Er habe seine zweite Tochter versprechen müssen, um sich nicht die Augen ausstechen zu lassen. Und das Mädchen meinte, da habe er recht gehabt, denn ohne Augen hätte er ja doch nichts mehr tun können, und diesmal wollten sie doch schauen, daß niemand sie hole. Sie waren aber doch alle die fünf Tage hindurch recht traurig. Am Nachmittag des fünften Tages schlossen sie die Türe ab, damit niemand hereinkönne, und warteten. Auf einmal hörten sie wiederum eine Kutsche mit wunderbarem Geschell vor dem Hause halten. Ein Jüngling entstieg dem Wagen, klopfte an die Türe, diese öffnete sich, und der Jüngling trat ein, nahm Luise unter den Arm und ging auch mit ihr fort. Die Eltern und die andere Tochter begannen zu schreien, sprangen ihm nach, aber das Mädchen war schon fort und verschwunden. Sie fanden wiederum einen Sack voll Geld, noch mehr als das letzte Mal. Sie wurden wieder einig, Feste und Gastmahle und Bälle zu veranstalten und alle möglichen Adeligen und Herren einzuladen, aus allen Nationen, um daraufzukommen. Aber das Geld ging zu Ende, und von den Töchtern wußte niemand Nachricht zu geben.

Der arme Mann mußte nun wiederum auf die Jagd gehen. In jenen Wald aber, sagte er sich, gehe er nicht mehr. Und er ging in einer anderen Richtung. Gegen Abend kam er zu einem See. Er hatte den ganzen



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Tag nichts gefunden und ging nun diesen See entlang und dachte, es könnte vielleicht eine Wildente oder ein Vogel oder irgendein Fisch auftauchen, die er schießen könnte, aber er fand nichts. Gerade da er heimkehren wollte, erschien ein unheimlich großer Fisch und eröffnete ihm, wenn er nicht sofort etwas verspreche, so verschlinge er ihn lebendig. Der Graf dachte sofort: >Das ist dein drittes Töchterlein< und wollte fliehen. Aber der Fisch rief: »Versuche nur nicht zu fliehen, denn ich halte dich; wenn du mir nicht sofort das Versprechen gibst, so verschlinge ich dich!« Der arme Mann konnte nichts anderes tun, als das Versprechen abgeben, und er erkundigte sich, was er denn versprechen müsse. Das müsse er tun, ohne zu wissen, um was es sich handle, meinte der Fisch, und zwar augenblicklich, sonst würde er verschlungen. Da versprach es der arme Graf. »Gut«, meinte der Fisch, so habe er ihm seine dritte Tochter Elise versprochen, und in sieben Tagen werde er sie holen.

Ganz traurig zog der Vater heimwärts. Doch dachte er: >Ein Fisch kann ja nicht ans Land kommen.< Sobald er heimkam, merkten die Mutter und die Tochter sogleich, daß ihm etwas fehlte. Er wollte nichts sagen, aber schließlich dachte er: >Das nützt alles nichts, ich muß es bekennen.< Und er erzählte, daß vor der Heimkehr das und das vorgefallen sei. Ein Fisch sei gekommen und habe gesagt, wenn er nicht das und das verspreche, so verschlinge er ihn sofort bei lebendigem Leibe. Er habe schon gedacht, daß das seine dritte Tochter sein werde, was er versprechen müsse, aber sich einfach verschlingen lassen, habe er doch nicht wollen. Und der Fisch habe gesagt, in sieben Tagen werde er die Tochter holen. Er, der Vater, habe das Versprechen nicht gern gegeben, aber er sei dazu gezwungen gewesen. Und das Mädchen sagte: »Nun, da hast du recht gehabt, dich einfach so verschlingen zu lassen, davon hättest du ja doch nichts gehabt. Und ich werde irgendwie schon loskommen!« Sie warteten nun zwei, drei Tage und begannen dann das Schloß verriegelt zu halten. Sie verschlossen Fenster und Läden, um glauben zu machen, es sei niemand da. Die Tore verriegelten sie mit Ketten. Ja, zuletzt wagten sie nicht einmal mehr, Feuer zu machen, damit man nicht merke, daß jemand im Hause sei, der Feuer mache. Und doch dachten sie: >Ein Fisch kommt nicht ans Land<, und hatten doch noch Hoffnung. Am siebenten Tage waren sie ganz traurig, denn sie wußten nicht, was eintreten werde. Plötzlich hörten sie einen Wagen mit noch viel schönerem Geschell als der frühere vorfahren. Sie hörten drei Schläge an der Türe, und darauf trat ein Jüngling herein, nahm Elise unter den Arm und fort mit ihr. Die Eltern waren in heller Verzweiflung,



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aber das Mädchen war weg. Sie fanden wiederum, daß er einen Haufen Geld zurückgelassen hatte, noch viel mehr als die beiden andern. Da dachten die Eltern, es nütze nichts, Feste zu veranstalten, die Mädchen würden doch nicht mehr zum Vorschein kommen, und mit dem Geld könnten sie beide noch etliche Jahre leben.

Da bekamen die beiden plötzlich noch einen Knaben, den sie Reinhold nannten. Es war ein wunderschönes Knäblein, und alle Leute staunten, was das für ein schönes Knäblein war. Der Knabe wuchs heran, begann in die Schule zu gehen und hatte ein ganz außerordentliches Talent. Er übersprang alle Klassen, und alles wunderte sich ob des Talentes und ob der Schönheit des Knaben, und man begann ihn »Reinhold, das Wunder« zu nennen. Nach Beendigung der Volksschule begann er auf höhere Schulen zu gehen, und auch hier übersprang er die Klassen. So kam er ins Alter von siebzehn, achtzehn Jahren. In den Ferien kam er nach Hause und merkte bald, daß Vater und Mutter irgendwie nicht ganz zufrieden waren. Er begann zu fragen, ob sie nicht zufrieden seien, ob er zuwenig studiere oder ob er zuviel Geld brauche oder was ihnen denn fehle. Die Eltern sagten: Nein, nein, ihnen fehle nichts, sie seien schon zufrieden. Um ihm keine Sorgen zu machen, wollten sie ihm nichts sagen und erzählten ihm nichts von seinen drei Schwestern. Und auch die andern Leute, niemand sagte etwas. Er zog wiederum zur Schule nach Abschluß der Ferien, war fleißig und sparte, was er konnte. Als er wieder heimkehrte, waren sein Vater und seine Mutter immer noch nicht zufrieden. Das merkte er, denn er war jetzt auch älter geworden.

Er begann sich wiederum zu erkundigen und meinte, es müsse ihnen sicher etwas fehlen. Aber sie wollten nicht heraus mit der Sprache. Da begann er andere Leute zu fragen, aber niemand sagte ihm etwas. Alles meinte, seine Eltern seien schon zufrieden. Er zog wiederum zur Schule. Alles liebte ihn, Lehrer, Professoren und Schüler. Niemand verursachte ihm Ärger. Da kehrte er wieder heim und sah, daß sein Vater und seine Mutter nicht zufrieden waren. Wiederum begann er zu fragen und meinte, er sehe, daß ihnen etwas fehle. Nun mußten sie endlich doch mit der Sprache heraus und sagten, er habe drei Schwestern gehabt, die gestohlen worden seien, und niemand wisse etwas von ihnen. Dann wolle er sie suchen gehen, entgegnete Reinhold, er müsse sie finden. Vater und Mutter begannen sofort, ihm das abzuraten, und warnten ihn: Das solle er nicht tun, sonst komme er vielleicht auch ums Leben, und dann hätten sie gar niemand mehr. Er aber beharrte auf seinem Plan und rief: Doch, doch, er gehe, er ziehe zwar nicht allein los,



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denn er finde schon Gefährten, die mit ihm kämen. Und jetzt sei er zwanzig Jahre alt und wisse sich schon zu verteidigen. Und er ging und fragte noch neun seiner Mitschüler, ob sie nicht mit ihm kämen, um seine Schwestern zu suchen. Er erzählte ihnen, wie die Sache stehe, und wahrhaftig, alle neun gingen mit ihm. Er sei ein guter Kamerad, meinten sie, und sie kämen gerne mit, um zu helfen, seine Schwestern zu suchen.

Sie machten sich auf den Weg zum Walde, wo die älteste Tochter war. Alle waren zu Pferd. Sie brannten darauf zu sehen, ob sie den Bären bezwingen könnten. Den ganzen Tag durchstreiften sie den Wald, nachdem sie sich verabredet hatten, sich an einem bestimmten Ort wiederzutreffen. Am Abend, als sie zusammentrafen, um unverrichteterdinge wieder heimwärts zu ziehen, erschien der Bär und überfiel sie. Einer floh auf diese, ein anderer auf die andere Seite. Und Reinhold geriet statt aus dem Wald immer tiefer in diesen hinein. Seine Kameraden flohen, um dem Bären zu entgehen. Reinhold ritt ein Stück in den Wald hinein und kam auf einen Fußweg. Er ritt auf diesem Weg weiter und kam zu einem Garten, neben dem sich eine Höhle befand. Er schritt zu dieser Höhle hin und rief hinein: »Meine liebe Schwester Adelheid, wenn du da drin bist, so komm heraus, denn da ist dein Bruder Reinhold, das Wunder, der dich suchen geht!« Da kam eine Frau aus der Höhle und sagte: »Was, du mein Bruder, der Sohn des Grafen Soundso?« —»Ja!« sagte er. Und die Schwester rief: »Dann fliehe um Himmels willen, denn wenn mein Mann kommt, heute abend ist er noch Bär und frißt dich auf. Wenn du morgen gekommen wärest, dann wäre er Mann gewesen.« Da fragte Reinhold: »Ja, wohin soll ich denn fliehen, ich weiß nicht wo ein und wo aus.« — »Dann fliehe auf jene Seite, so findest du eine Hütte, und dorthin will ich versuchen, ihn heute abend nicht gehen zu lassen«, riet ihm die Schwester. Kaum war er weg, so erschien der Bär. »Adelheid, hier ist jemand, den muß ich noch verspeisen!« rief er. »Ach, was kommt denn dir in den Sinn? Ich bin nun mehr denn zwanzig Jahre hier und habe nie einen Menschen gesehen, und du behauptest, hier seien Leute. Diesen Geruch wirst du sonstwie in deiner Nase haben. Du wirst heute wohl genug im Walde herumgestreift sein und Menschen beraubt haben. Komm jetzt zum Nachtessen, das ich schon längst bereitet habe. Ich bin müde und habe heute viele Hausgeschäfte verrichten müssen.« So sprach seine Frau, und der Bär meinte: »Und ich bin auch müde, ich mußte heute abend einen Trupp Reiter bekämpfen und habe alle versprengt.« — »Siehst du«, sagte Adelheid, »dann hast du ebendiesen Geruch in der Nase und



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im Fell.« Der Bär ging nun ganz beruhigt zum Nachtessen und legte sich dann schlafen.

Am andern Morgen sagte Adelheid, sobald sie aufgestanden waren: »Mein lieber Mann, verzeih mir, denn gestern abend habe ich dich angelogen.« — »Was, gelogen hast du?« rief der Mann. »Das ertrage ich nicht, dann könnte es dir schlimm ergehen.« Und die Frau erzählte: »Ja, das ist nun so. Gestern abend war ein Jüngling da und sagte, er sei mein Bruder, und ich habe ihn nie gesehen und habe ihn nicht erkannt.« Da erwiderte er: »Nun, da hast du recht gehabt; wo ist er denn?« —»Ja, ich habe ihn in jene Hütte geschickt«, meinte sie. »Dann hol ihn her, und die drei Tage, da ich Mensch bin, kann er hier bei uns bleiben.« Sie gingen hin und riefen den Bruder und sahen, daß es ein sehr schöner Jüngling war. Und der Bär sagte ihm, die drei Tage, da er Mann sei, könne er bei ihnen bleiben; denn er sei drei Tage Mann und drei Tage Bär. Reinhold wurde sehr gut gehalten während dieser drei Tage. Die zwei erkundigten sich nach Vater und Mutter und fragten, wie es gehe. Am Ende des dritten Tages sagte der Bär am Nachmittag: »Nun, mein lieber Jüngling, mein lieber Schwager, nun mußt du fort, denn morgen bin ich wiederum Bär, und ich müßte dich zerreißen, so weh es mir auch täte.« Sie begleiteten ihn ein Stück weit des Weges. Nach einer Weile sagte der Bär, er müsse zur bestimmten Stunde zu Hause sein, und sie nahmen Abschied. Vor der Trennung gab der Bär dem Reinhold drei Haare und sagte: »Nimm diese drei Haare, und für den Fall, daß du in Gefahr kommen solltest, reibe diese drei Haare, so werde ich dir zu Hilfe eilen.« Der andere nahm die drei Haare, steckte sie in seine Brieftasche und sagte: »Das könnte vielleicht noch von Nutzen sein!«, denn, sagte er, er wolle die drei Schwestern suchen, und bis er nicht alle drei gefunden habe, gehe er nicht heim, und nun suche er die beiden andern. Dann nahm er Abschied und ging. Er zog weiter. Die andern trugen ihm noch auf, Vater und Mutter zu grüßen und ihnen zu sagen, es gehe ihnen gut.

Am nächsten Tag kam Reinhold zu einem großen Baum und sah, daß in diesem Baum ein großes Nest war. Er dachte: >Wer weiß, ob da oben nicht deine Schwester Luise ist.< Da schrie er hinauf: »Meine liebe Schwester Luise, wenn du da oben bist, so komm herab, denn da ist dein Bruder, Reinhold, das Wunder, der dich suchen geht!«Darauf erschien eine Frau am Nestrand, schaute herunter und sagte: »Was, du mein Bruder, Sohn des Grafen Soundso? Dann fliehe um Himmels willen, denn heute abend ist mein Mann noch Adler, und wenn er dich erwischt, dann hackt er dir die Augen aus. Morgen, wenn du gekommen



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wärest, dann wäre er Mann gewesen.« Und Reinhold meinte: »Ja, wohin soll ich denn fliehen? Ich bin hier ganz verloren in diesem Wald und weiß nicht wo ein und aus.« — »So fliehe auf jene Seite«, rief die Schwester, »da findest du eine Hütte, und dahin will ich versuchen, ihn heute abend nicht hingehen zu lassen.« Und Reinhold floh, kam zu dieser Hütte und blieb dort über Nacht.

Kaum war er weg, so flog der Adler herbei. »Luise, ich rieche, daß hier jemand in der Nähe ist, ich muß noch gehen und dem die Augen aushacken!« rief der Adler. »Was kommt denn dir auch in den Sinn?« meinte seine Frau, »ich bin nun schon mehr denn zwanzig Jahre hier und habe nie einen Menschen gesehen. Komm du lieber zum Nachtessen, ich hab's schon längst zubereitet und bin müde.« —»Ah«, entgegnete der Adler, »ich riech' einfach, daß jemand da ist, dem muß ich noch die Augen auskratzen.«Und die arme Frau sagte immer wieder: »Nein nein, komm nur, hier ist niemand«und begann ihm die Federn zu streicheln und ihn zu bitten, er möchte doch kommen. Langsam ging dann der Adler zum Essen, und sie gingen zu Bett.

Am Morgen, sobald sie wach waren, sagte sie: »Mein lieber Mann, gestern abend sagte ich dir eine Lüge.« — »Nun, Lügen sage keine«, erwiderte er, »das ertrage ich nicht, sonst könnte es dir schlimm ergehen.« »Nun«, meinte sie, »gestern abend erschien hier ein Jüngling und sagte, er sei mein Bruder, und ich wollte ihm nicht die Augen ausstechen lassen und habe ihm gesagt, er solle in jene Hütte fliehen, da du ja heute Mensch bist.« —»Nun, so hole ihn her«, entgegnete der Adler, »die fünf Tage, da ich Mann bin, kann er bei uns bleiben.« Sie ging weg und kehrte mit Reinhold zurück. Da meinte der Adler: »Das wäre doch schade gewesen, wenn ich diesem schönen Jüngling hätte die Augen heraushacken müssen. Und nun, die fünf Tage, die ich Mann bin, kannst du hier bei uns wohnen.« Reinhold blieb dort und erzählte, wie es zu Hause gehe bei Vater und Mutter. Dann erzählte er auch, wie es ihm ergangen sei und daß er Adelheid gefunden habe. Er wurde sehr gut gehalten, wie ein guter Gast, während dieser fünf Tage. Am fünften Tage sagte der Adler: »Nun, mein lieber Junge, nun mußt du weg, denn morgen bin ich wiederum Adler, und wenn ich dich hier finden würde, müßte ich dir die Augen aushacken, obwohl ich wüßte, daß du mein Schwager bist.«Reinhold machte sich auf den Weg. Sie begleiteten ihn ein Stück weit, sagten, er solle Vater und Mutter grüßen, wünschten gut Glück, und vor der Trennung gab ihm der Adler drei Federn und sagte: »Hier hast du drei Federn, wenn du in eine Gefahr kommen solltest, so reibe diese drei Federn zusammen, so werde ich dir zu Hilfe



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eilen.«Der andere nahm die Federn und steckte sie zu den Bärenhaaren in die Tasche. Dann machte er sich auf den Weg, um weiterzuziehen und die dritte Schwester zu suchen.

Am andern Tag kam er zum See. Er ging um den See herum, um zu schauen, wo die Schwester sein könnte. Da kam er auf einem Weg, der direkt in den See hineinführte. Er schritt auf dieser Straße und sah im See einen Stein mit einem Loch. Da dachte er: >Wer weiß, ob da drin deine Schwester Elise ist.< Er rief: »Meine liebe Schwester Elise, wenn du da drin bist, so komm heraus, denn hier ist dein Bruder Reinhold, das Wunder, der dich suchen geht!« Da erschien eine Frau an jener Höhle und sagte: »Was, du mein Bruder, der Sohn des Grafen Soundso? Dann fliehe um Himmels willen, bevor mein Mann kommt, denn heute abend ist er noch Fisch, und wenn er dich hier vorfände, so würde er dich ganz und gar verschlucken.«

»Ja, wohin soll ich denn fliehen?«meinte Reinhold. »Ich bin hier verloren in diesem Wald und weiß nicht wo ein und aus!«Und die Schwester sagte: »So flieh auf jene Seite, dort findest du eine Hütte, und ich will schauen, daß er heute nacht nicht dorthin kommt.« Kaum war er fort, so erschien der Fisch und rief: »Elise, hier ist jemand in der Nähe, den muß ich noch verschlingen!« — »Was denkst du nur«, entgegnete die Frau, »ich bin schon mehr als zwanzig Jahre hier und habe nie einen Menschen gesehen.« Doch der Fisch wollte es nicht glauben und rief: »Nein, ich rieche, daß jemand in der Nähe weilt, und den möchte ich noch verschlingen.« Da begann sie seine Flossen zu streicheln und bat und bettelte, aber es machte ihr Mühe, ihn zum Nachtessen zu locken. Schließlich gelang es ihr doch, ihn zu beruhigen und ihn zum Nachtessen und ins Bett zu schicken.

Am Morgen, kaum waren sie aufgestanden, sagte sie: »Sei mir nicht böse, aber gestern abend habe ich dich angelogen.« —»Lügen solltest du nicht, sonst könnte es dir schlimm ergehen!« meinte der Mann. Doch die Frau antwortete: »Gestern abend erschien hier ein Jüngling und sagte, er sei mein Bruder, und ich hab' ihn nie gesehen und nie gekannt. Und da ich wußte, daß du heute Mann bist, habe ich ihn da und da hin fliehen lassen.« —»Nun, so hole ihn«, meinte er, »und während der Tage, da ich Mensch bin, kann er hier bei uns bleiben.«Sie ging und rief den Bruder. Und der Fisch meinte: »Es wäre beinahe schade gewesen, einen so schönen Jüngling zu verschlingen, da hast du recht gehabt, zu lügen und zu sagen, es sei niemand hier.« Und zu Reinhold sagte er: »Nun, die sieben Tage, da ich Mann bin, kannst du hier bei uns bleiben, denn ich bin sieben Tage Mensch und sieben Tage Fisch.« Reinhold



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blieb die sieben Tage dort und erzählte, wie es ihm ergangen sei. Er berichtete, er hätte die beiden andern Schwestern gefunden, und nun, da er alle gefunden habe, wolle er heimkehren und Vater und Mutter berichten, wie es ihnen gehe. Es ging ihm gut bei der Schwester und ihrem Mann, er hatte gutes Essen und feine Sachen zu trinken. Am siebenten Tage sagte der Fisch: »Nun, mein lieber Junge, nun mußt du gehen, denn morgen bin ich wiederum Fisch, und wenn ich dich hier finden würde, müßte ich dich verschlucken, auch wenn ich wüßte, daß du mein Schwager bist.« Ein Stück weit begleiteten sie ihn. Bevor sie Abschied nahmen, zog der andere drei Flossen aus und sagte: »Hier hast du drei Flossen, und im Falle, daß du in Gefahr kommen solltest, so reibe diese drei Flossen zusammen, so werde ich dir zu Hilfe eilen.« Reinhold legte die Flossen zusammen mit den Federn und den Haaren in seine Brieftasche, nahm Abschied und zog weiter.

Plötzlich kam er zu einer Straße, auf eine schöne breite Straße. Auf dieser Straße schreitend, kam er zu einem großen Felsen, der wie ausgemeißelt war. Reinhold schaute zu diesem Felsen hinauf und blickte sich um. Auf einmal schoß ein Wolf daher und wollte ihn packen. Er jagte sein Pferd gegen einen Baum und schwang sich auf den Baum hinauf, denn er merkte, daß der Wolf ihn und nicht das Pferd wollte. Der Wolf aber stand unter dem Baume und kratzte daran, um ihn umzuwerfen, damit er herunterfalle und er ihn packen könne. Plötzlich fielen Reinhold die Haare, die Federn und die Flossen ein, und er nahm sie heraus und rieb alle diese Sachen zusammen. Und im gleichen Augenblicke waren die drei Tiere da. Der Bär sprang hinzu und zerriß den Wolf in Stücke. Aus dem Leib des Wolfes flog eine Taube und flog über den See hin. Ober dem See ließ sie ein Ei fallen. Der Fisch sprang hin und fing das Ei auf, bevor es ins Wasser fiel, denn wäre es ins Wasser gefallen, dann hätte er es nicht mehr gefunden. Der Fisch übergab das Ei dem Adler. Dieser zerbrach das Ei und nahm einen Schlüssel heraus, den er Reinhold übergab. Darauf verschwanden die drei.

Reinhold kletterte vom Baum herunter, betrachtete diesen Schlüssel und sagte: »Was mag nur dieser Schlüssel bedeuten!«Er blickte um sich und sah statt des Felsens ein großes Schloß. Da dachte er: >Wer weiß, ob dieser Schlüssel für das Schloß ist<, ging zum Tor hin und richtig, der Schlüssel paßte. Nun ging er ins Schloß, schaute herum und dachte: >In diesem Schloß wirst du wohl jemand finden.< Er fing an zu rufen, durchschritt alle Zimmer, öffnete alle Türen, aber da war niemand. Er begann wieder zu rufen. In einem Zimmer, das er schon gesehen hatte, fand er nun einen Vorhang. Er ging hin und zog diesen Vorhang zurück



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und dachte: >Ob vielleicht jemand da hinten ist?< — Da lag ein wunderschönes Mädchen und schlief. Reinhold dachte: >Die wird wohl wach werden.< Dann schritt er im Zimmer auf und ab, hustete, schritt fest. Nichts. Er schaute wiederum und fragte sich: >Schläft sie oder ist sie tot?< Sie atmete ganz ruhig. Wiederum schritt er im Zimmer auf und ab. Auf einmal erblickte er an der Wand eine Tafel (Bild). Er wollte schauen, was auf dieser Tafel geschrieben stehe, aber er konnte kein Wort lesen. Da dachte er: >Was ist denn das, ich bin doch zur Schule gegangen, habe so viele Schulen besucht, so daß mich niemand mehr etwas lehren konnte, und nun, da ich die erste Inschrift lesen will, bringe ich kein Wort heraus.<Er war etwas aufgeregt und auch wütend, weil er nichts lesen konnte, und ergriff sein Schwert und führte einen Streich gegen die Tafel. Diese fiel -kling, kling -in tausend Stücke auf den Boden.

Daraufhin erwachte das Mädchen und kam herzu und sprang ihm um den Hals und rief: »Mein teurer Retter, mein teurer Retter!« Da vernahm er Lärm von außen, hörte schießen und spielen und jauchzen. »Was bedeutet denn das?« meinte er. Da aber kamen auch schon die drei Brüder, seine drei Schwäger mit den Schwestern zur Türe herein und riefen auch: »Mein lieber Retter, mein lieber Retter!« — »Ja, wie ist denn das, wie?«erkundigte er sich. »Nun schau, du hast uns befreit, schau nun zum Fenster hinaus«, riefen sie ihm zu. Reinhold schaute hinaus und erblickte statt des Waldes Dörfer und Städte und Land und fast keinen Wald mehr. Es war ganz eine andere Gegend. »Was ist denn das?« staunte Reinhold. Und da sagten die Brüder: »Das wollen wir dir erklären. Wir waren drei Brüder und eine Schwester. Da erschien ein Magier -das ist einer, der mit dem Teufel paktiert hat - und erbat unsere Schwester zur Braut. Die Schwester aber wollte nicht, und auch wir wollten sie ihm nicht geben. Da sagte er, er verwünsche uns mit samt dem Königreich für sieben Jahre. Wir drei Brüder müßten einer drei Tage Mann und drei Tage Bär, der andere fünf Tage Mann und fünf Tage Adler und der letzte sieben Tage Mann und sieben Tage Fisch sein, und unsere Schwester müßte sieben Jahre lang schlafen, ohne zu erwachen. Und sieben Jahre waren wir so verwünscht.

Nach sieben Jahren kam er wieder und rief uns alle vier zu sich. Wiederum erbat er unsere Schwester zur Braut. Wir weigerten uns wieder, noch energischer als das andere Mal. Da mußten wir nochmals sieben Jahre die gleiche Strafe erdulden. Dann kam er wieder. Und wir weigerten uns nochmals ganz und gar. Da verwünschte er uns zum dritten Mal. Und in diesen sieben Jahren ist er verendet. Und seither durften



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wir einen Menschen bei uns haben, und das waren deine drei Schwestern. Unsere Schwester aber mußte immerfort schlafen. Und indem du diese Tafel zerschlagen hast, wurde der Zauber gebrochen. Und nun, weil du uns gerettet hast, so gehört das ganze Reich dir, und wir geben dir, wenn du willst, unsere Schwester.« Da antwortete Reinhold: »O ja, euere Schwester, wenn sie mich will, werde ich sie freien, aber das Königreich will ich nicht, das könnt ihr in vier Teile zerlegen, ein jeder nehme seinen Teil.« Und damit waren die drei Brüder zufrieden. »Gut!«sagten sie, »nun wollen wir aber nach Hause gehen und Hochzeit feiern, damit Vater und Mutter wissen, daß wir noch am Leben sind.«Und auch die drei Brüder wollten richtige Hochzeit feiern, denn bis anhin hatten sie die Frauen nur gestohlen. Sie teilten das Königreich mit der Bedingung, daß, wenn einer Krieg beginnen wollte, er zuerst den Reinhold um Erlaubnis fragen mußte, jener mußte entscheiden. Und dann zogen sie heim und feierten Hochzeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch, daß man für sie die Totenglocke geläutet hätte, habe ich nicht gehört.


Die zwei Brüder und die Hexen

Es waren zwei Brüder, einer war reich, und der andere war arm. Und der Arme hatte seinen Bruder mehrere Male ohne Erfolg um Hilfe gebeten. Da wollte sich der Bruder verdingen und ging über einen Berg in eine Stadt, wo der König wohnte. Die Reise war für einen Tag zu weit, so daß er in einer Scheune auf der Alp im Heu übernachten mußte.

Um Mitternacht, als er gut schlief, öffneten sich die Tore, und eine ganze Schar Hexen mit der Anführerin kam herein. Dann sagte diese Hexe, diese Anführerin zu den andern: »Ich hätte euch etwas zu sagen, aber zuerst müssen wir schauen, daß niemand hier in der Scheune ist.« Und der arme Mann bekam eine große Angst und wagte sich nicht zu bewegen. Und die andern Hexen sagten: »Ach, hier ist niemand, du brauchst keine Angst zu haben, erzähle du nur, was du zu erzählen hast.« Dann sagte die Anführerin: »Ich habe eine schöne Neuigkeit, denn die Tochter des Königs da unten in dieser Stadt ist schwer krank, und wer imstande wäre, diese Tochter zu heilen, könnte, wie es scheint, eine schöne Geldsumme verdienen. Aber keiner kann sie heilen, weil sie nicht wissen, wo es fehlt. Das Mädchen hat ein Katzenhaar verschluckt, und wenn dieses nicht aus dem Magen herauskommt, so kann



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das Mädchen nicht genesen. Und um dieses Haar herauszubringen, muß man dem Mädchen ein Stück trockenes Schwarzbrot zu essen geben.« Da dachte der Mann: >Wenn die nur nicht herausfinden, daß ich da bin, so will ich morgen das schon machen, wenn sie mich bloß nicht finden.<

Beim Morgenläuten verließen die Hexen die Scheune, und beim Morgengrauen stand der arme Mann auf und ging in jene Stadt und verlangte Einlaß beim König. Und der arme Mann sagte zum König, er habe gehört, daß seine Tochter schwer krank sei, und er könnte ihr helfen mit einem ganz einfachen Mittel, wenn er's ihn versuchen lassen wolle. Und der König war sehr zufrieden, daß er einen finde, der das Mädchen heile, und versprach ihm ein schönes Stück Geld, wenn das Mädchen gesund würde. Aber vor allem wollte er wissen, was für ein Mittel er gebrauche. Da sagte der arme Mann, er solle zu einem Bauern schicken und ein hartes Schwarzbrot verlangen. Und er gab dem Mädchen ein Stück von diesem Schwarzbrot und ließ sie das essen. Und das erste Mal, da das Mädchen Stuhlgang hatte, ging das Haar weg, und das Mädchen (die Tochter) war gesund. Der König war ganz zufrieden, veranstaltete ein Gastmahl und bezahlte dem armen Mann eine große Summe.

Da er mit so viel Geld nach Hause kam, lebten sie viel besser in der Familie. Und so ging's daß das allen Leuten und auch seinem Bruder auffiel. Und sein Bruder erkundigte sich dann, wie er zu seinem Wohlstand gekommen sei. Und er erzählte alles, wie es gekommen war, auch das von den Hexen. Da gedachte der reiche Bruder die gleiche Reise zu machen und auch in jener Scheune zu übernachten, mit der Hoffnung, auch etwas von den Hexen zu vernehmen, das ihm Geld eintragen würde. Er ging und übernachtete in jener Scheune, und die Hexen kamen zur gleichen Stunde. Dann sagte die Anführerin zu den andern: »Seht ihr, habe ich nicht recht gehabt, nachzuschauen, ob jemand hier wäre, ich hatte wohl Zweifel, aber ihr wolltet es nicht glauben, aber dennoch war hier ein Mann auf dem Heu und machte infolge meiner Rede sein Glück beim König. Aber heute lassen wir es nicht dabei bewenden, wir wollen genau untersuchen, und wenn jemand da ist, so zerstückeln wir ihn so, daß ihn die Vögel aufpicken können.«

Eine große Angst erfaßte den Mann, er wurde von den Hexen sofort aufgefunden und wurde auf schreckliche Art mißhandelt und zerstückelt.



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Dolmetsch

Ein Herr und sein Knecht ritten eines Abends in der Dämmerung zu einem Hause mit einem Stall. Es war ein Gasthaus. Weitherum kein anderes Gebäude. Der Herr sagte zum Knecht: »Geh schnell hinein und schau nach, ob es Platz hat für uns und für die Pferde.« Der Knecht sprang vom Pferd und ging ins Haus. Da war nur ein Mädchen ganz allein in der Küche. Er fragte, ob der Herr im Hause sei, und sie sagte: »Nein, was wollt ihr?« —»Ich wollte nur fragen, ob wir hier übernachten könnten, ob ihr Platz hättet für den Herrn, für mich und auch für unsere zwei Pferde.« — »Platz haben wir genug, aber ihr seid hier in einem schlimmen Hause, hier wohnen Räuber und Mörder. Weitergehen aber nützt euch nichts, ihr kommt in ihre Hände.« Der Knecht sagte: »Wie viele sind es denn?« Das Mädchen sagte: »Es waren ihrer zwölf, aber jetzt fehlen vier schon eine gute Zeitlang; entweder wurden sie gefangen, oder sie mußten fliehen.« — »Nun, so erkläre mir genau ihr Benehmen und wie es hier im Hause zu- und hergeht.« Da sagte sie ihm: »Sie kommen herbei, zwei, vielleicht drei, dann wieder andere und so alle acht. Jeder geht in sein Zimmer hinauf, kleidet sich um und kommt herunter wie ein Herr. Sie kommen in die Stuben und sehen euch da. Sie sind freimütig und guten Humors, reichen euch die Hand und heißen euch willkommen. Inzwischen wird der Tisch gedeckt und das Nachtmahl aufgetragen: zuerst die Suppe und dann zwei Arten Fleisch, Kartoffeln und Gemüse. Zuletzt wird ein großer gedeckter Topf aufgetragen, und dieser ist gefüllt mit Pistolen und Dolchen. Es sind alles schon geladene Doppelpistolen. Wenn das Essen beendigt ist und ein jeder einen sauberen Teller hat, nimmt der Hauptmann den Topf, deckt ihn ab und verteilt die Pistolen und die Dolche an die Männer. Dann geht das Morden los.« Da sagte der Knecht zum Mädchen: »Gut, nun weiß ich alles. Nun müßt Ihr«, sagte er zum Mädchen, »diesen Topf vor mir auf den Tisch stellen.« Er ging dann zum Herrn hinaus. Der Herr war ganz erbost, rutschte auf dem Pferd herum und sagte: »Das muß kurzweilig gewesen sein, daß du nie kamst. Wie steht's eigentlich, können wir hierbleiben oder können wir weitergehen?« Er sagte: »Nein, nein, wir können hierbleiben, das ist ein gutes Haus.

Da sprang der Herr vom Pferd. Sie stellten die Pferde in den Stall und gaben ihnen einen Armvoll Heu. Dann gingen sie ins Haus, in die Stube, und es ging nicht lange, so kamen Männer ins Haus und, wie das Mädchen gesagt hatte, gingen sie erst in den oberen Stock und kamen



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bald wie Herren in die Stube und hießen die Gäste willkommen. Das Mädchen kam und deckte den Tisch fürs Nachtessen. Sie luden dann auch den Herrn ein, mit ihnen zu speisen, und da der Herr sich dann auch gesetzt hatte, ging der Knecht hin und setzte sich neben ihn. Der Herr warf dem Knecht einen strengen Blick zu, als ob er sagen wollte, er gehöre nicht hierher. Der Knecht sagte: »Heute abend bin ich auch Herr!« Die Männer verstanden das und sagten: »Ach ja, ein Knecht darf das eine und das andere Mal auch Herr sein«, und sie lachten darob. Dem Herrn gefiel es nicht, so viele Männer und keine Frauen zu sehen. Da brachte das Mädchen das Abendessen, eines nach dem andern, wie sie es gesagt hatte.

Und als der Topf kam, ließ der Knecht kein Gras wachsen, deckte ihn ab, ergriff mit jeder Hand eine Doppelpistole und schoß. Ihrer vier fielen, und die andern waren so überrascht, daß sie sich nicht zu helfen wußten - und befahlen, dem Herrn zu helfen. Und der Knecht rief dem Herrn, er solle helfen. Und so gelang es ihnen, alle acht niederzumachen.

Die Nacht verging mit wenig Schlaf. Am Morgen fütterten sie frühzeitig ihre Pferde, um Richtung Lukmanier weiterzureisen. Das Mädchen wollten sie mit sich nehmen und sagten, sie möge das Geld der Diebe herausgeben. Sie sagte, sie habe nie Geld gesehen, die Räuber brachten ihr alles, was sie brauchte. Der Herr glaubte nicht gern, daß kein Geld im Hause sei. Und das Mädchen aber wollte nicht mit ihnen gehen, es wollte allein zurückbleiben. Der Herr sagte: »So bleib denn, aber gut wird es dir nicht ergehen!«

Später kam ein Mann mit einem Holzgespann an diesem Haus vorbei. Wie er das Haus hinter sich hatte, sprang ein Mädchen aus dem Haus und lief dem Mann nach und bat ihn, ihr ein Hanf- oder Lederseil zu geben. Dieser sagte: »Ich kann das nicht geben, ich brauche alles, was ich habe.« Das Mädchen wandte sich um, weinte und ging ins Haus, und nachher hat niemand mehr vom Mädchen weder etwas gesehen noch gehört.


Der Teufel und die Frau

Unser Heiland und Sankt Petrus gingen spazieren, um die Welt zu besehen und gingen über eine Holzbrücke, die über einen Fluß führte. Unter der Brücke waren zwei, die sich stritten. Sankt Petrus sagte: »Horch, Heiland, geh hinunter und stifte Frieden, sonst können sie sich



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noch ins Wasser stürzen.« Unser Heiland antwortete: »Laß gut sein!« »Nein, nein«, sagte der heilige Petrus, »wenn du nicht hinuntergehst, so gehe ich.« — »So geh, geh!«

Unter der Brücke fand Sankt Petrus eine Frau und den Teufel, die sich stritten. Er versuchte Frieden zu stiften, aber vergeblich. Er konnte es nicht. Um sie auszusöhnen, mußte er beiden den Kopf abhauen. Er ging und kam zum Heiland, und dieser fragte: »Hast du Frieden gestiftet?« Er sagte: »Ja, aber um sie auszusöhnen, mußte ich beiden das Haupt abschlagen.«

Da sagte Unser Herr: »Du hast nicht recht getan, geh und setze die Köpfe wieder auf.« —»Das klebt doch nicht«, sagte Sankt Petrus. »Ich will es schon kleben machen«, sagte der Heiland. Er kehrte zurück, aber in seiner Aufregung verwechselte er die Köpfe und legte den Kopf des Teufels auf die Frau und jenen der Frau auf den Teufel. Seither sind die Frauen so böse.


Der Geist, der den Barbier spielt

Es war ein sehr reicher Kaufmann. Er hatte einen Buben, der zwei Jahre alt war, als die Mutter starb. Er nahm dann eine ältere Magd, und dieser übertrug er die Erziehung seines Kindes. Sie möge nicht zu streng mit ihm sein, es sei genug, daß das Kind keine Mutter habe. Im Hause, im Erdgeschoß hatte er sein Büro, und dort hatte er einen Kassierer, ebenfalls einen älteren, getreuen, ehrlichen Mann. Der Herr war viel abwesend, auf Reisen, wo er meist gute Geschäfte machte. Der Knabe wuchs heran, hörte auf, zur Schule zu gehen, und wenn die Magd oder die Lehrer klagte er sei nicht gehorsam, er habe nur Narrheiten im Kopf, so gefiel das dem Vater, und er sagte: »So, das gibt mal einen tüchtigen Mann, ein Junge muß Leben haben.«Wenn die Magd oder der Schreiber ihn strafen wollte, dann sagte er: »Ich sag's meinem Vater!« Der Schreiber sagte öfters: »Dein Vater wird von dir auch den Lohn erhalten!« Der Vater gab dem Knaben schon in den ersten Jahren, da er zur Schule ging, Geld, und mit diesem machte der Junge Narrheiten, kaufte allerlei unnütze Sachen. Und später, als er mit den Knaben ging, lud er Jünglinge und Mädchen ins Wirtshaus ein, zu Tanz und Trunk, soviel es gefallen mochte. Einmal bestellte er sogar eine Kutsche mit vier Pferden, und er und einige Kameraden und Mädchen zogen weiter weg in ein anderes Dorf, tranken, aßen und tanzten, alles auf seine Rechnung. Wenn man im Dorf dem Vater sagte, wie sich der Sohn aufführe,



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so hatte er große Freude. Er hatte dadurch auch Kameraden, Freunde und Freundinnen genug, alles wollte mit ihm gut Freund sein.

Und so kam es, daß der Vater krank wurde. Er schickte ihn in das Spital, wo es viel kostete. Der Vater starb dann, und der Sohn machte sich nicht viel daraus. Solange er Geld fand im Schreibpult des Vaters, fehlte ihm nichts. Und als es dort nichts mehr zu nehmen gab, mußte er aufhören mit seinen Narrheiten, ging auch nicht mehr ins Gasthaus. Der Wirt nebenan sagte ihm dann: »Warum kommst du nie mehr zu mir her?« Und er sagte: »Ich habe kein Geld, ich kann nicht mehr ins Wirtshaus gehen.« —»Oh, deshalb komm du nur, ich bewirte dich weiterhin. Du bist mir gut genug. Auf dein Haus gebe ich dir soviel du willst.« Und er ging dann wiederum ins Wirtshaus, glaubte, daß es ewig ausreiche. Nun begannen von allen Seiten Schulden einzulaufen, er hätte zahlen sollen und wußte nicht wo (Geld) hernehmen. Der Schreiber zahlte, solange er was zum Zahlen hatte, und dann kündigte er ihm an, daß nichts mehr da sei. Der Wirt, der hatte viel aufgeschrieben im Buch und jedenfalls auch vieles, das nicht genossen worden war. Kameraden sagten zu ihm, er solle die Magd gehen lassen, er könne ins Wirtshaus essen gehen, und die Arbeit, die der Schreiber mache, sei er auch imstande zu leisten. Und er glaubte, auf diese Weise ein gutes Stück zu ersparen. Der Schreiber war so hinterlistig gewesen und hatte für sich und für die Magd den Lohn für ein Jahr auf die Seite gelegt. Der Jüngling, da er gar nichts mehr hatte, denn der Wirt hatte ihm gesagt: »In drei Tagen mußt du hinaus aus deinem Haus, dieses gehört mir, mit allem, was drin ist«, ging auf die Diele zu einem Schrank mit Büchern und schaute diese durch und fand in einem Buch, daß sein Vater einem Mann in einem andern Dorf 600 Gulden gegeben hatte. Ein Teil des Zinses war bezahlt worden, und dann nichts mehr. (Zwei Jahre waren bezahlt.) Der Zins hatte sich zum Kapital geschlagen. Von allen übrigen Guthaben stand entweder im Buch geschrieben, daß es bezahlt sei, oder dann hatte er eine Quittung. Nur bei dieser Schuld war nichts vermerkt. Er nahm das Buch zu sich und dachte: >Nun gehe ich diese Schuld einziehen.< Am Abend ging er im Dorfe herum. Geld, um sich ein Nachtessen zu kaufen, hatte er keines, und von so vielen Kameraden und Kameradinnen, die er gehabt, hätte ihm keiner eine Tasse Kaffee gegeben, alles mied ihn. Am Abend fand er in einem Baumgarten einen Apfel, und das war sein Nachtessen. Er mußte warten, bis es dunkel war, damit er heimlich in eine Scheune steigen und auf einem Bündel Stroh schlafen konnte. Schlafen konnte er die ganze Nacht nicht. Sein Leichtsinn und seine jungen Jahre, das Leben, das er geführt, ließen ihn



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nicht schlafen. Am andern Morgen machte er sich auf den Weg in jenes Dorf, um sein Guthaben einzuziehen. Geld hatte er gerade so viel daß er zu Mittag eine Suppe essen konnte.

Gegen Abend kam er in jenem Dorf an. Er fragte nach jenem Mann, und man zeigte ihm, wo jener wohnte. Er trat ein, als sie gerade am Nachtessen waren, Vater und Mutter, drei Buben und ein Mädchen. Er sagte, wer er sei und warum er gekommen. Der Vater sprang auf wie ein Löwe, da er zu kommen wage, um die Schuld zu erlangen, die schon lange bezahlt sei. Er sagte: »Diese ist nie bezahlt worden; wenn Ihr mir zeigen könnt, daß sie bezahlt ist, so bin ich zufrieden; aber anstatt zu bezahlen, ist die Schuld größer geworden, dadurch, daß man so viele Jahre hindurch nicht bezahlte.« Und der Vater sagte: »Nun ist dein Vater gestorben, und nun glaubst du, du könntest kommen und von mir verlangen, was schon lange mit deinem Vater geordnet wurde.« »Mein Vater«, sagte der Jüngling, »hätte es schon gestrichen oder aufgeschrieben, daß es bezahlt sei, wenn es der Fall gewesen wäre!« Dann sagte der Vater: »Nun gut, so wollen wir denn bezahlen.« Er stand auf und ging zur Türe hinaus und kehrte zurück mit einem Strick in der Hand und sagte zu den Jungen: »Jetzt, Buben, kommt mit dem, den wollen wir schon meistern.«Sie banden ihm die Hände auf den Rücken, packten ihn und schleppten ihn die Kellertreppe hinunter und warfen ihn in einen ganz dunklen Keller. »Nun bleib da und zähle deine Schuld nach«, sagte der Vater. Und sie gingen weg. Einer der Jungen aber machte ihm die Hände frei. Und sie gingen hinaus, schlossen die Türe und überließen den Gefangenen sich selbst. Er tappte herum, ob er etwas finde, aber es war nichts, keine Bank, kein Brett und überhaupt nichts, wo er sich hätte niederlegen und ausruhen können. Die Angst und die Mühen und der Hunger zwangen ihn auf die Erde. Dieser Keller hatte hoch oben ein kleines Fenster, und an diesem war ein eisernes Gitter. Inzwischen wurde es dunkle Nacht, und wie alles ruhig war auf der Gasse und überall, kam jemand an dieses Fenster und sagte: »Ich lasse dir ein Seil mit einer Zange hinunter. Suche heraufzukommen und das Gitter wegzunehmen. Ich will dir helfen, soviel ich kann. Trachte zu entkommen, denn es könnte schlimm mit dir gehen.« Er faßte das Seil, kam in die Höhe, band sich am Seil fest und versuchte, mit der Zange das Gitter loszumachen. Das gab nicht viel Mühe. Das Holz, an dem das Gitter befestigt war, war halb verfault. Er zog sich selbst hinauf und entkam ins Freie. Er glaubte hier jemand zu finden, dem er danken könnte, aber da war kein Mensch zu sehen. Er kam hinauf in einen Garten, und das Seil war an einem Obstbaum festgemacht. Um



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so schneller machte er sich auf und davon und ging auf die Straße, um so rasch wie möglich aus dem Dorf zu entweichen.

Er lief, daß die Beine zitterten, so daß er kaum weitergehen konnte. Zum Glück ging der Mond auf, denn er kam bald in einen Wald. Die Straße führte durch einen Wald. Als er aus dem Wald heraustrat, kam er in ein Tal. Ein großer Wasserlauf stürzte herab und floß unter der Straße durch. Und das Wasser floß neben der Straße weiter und machte ein gewaltiges Geplätscher. Von weitem sah er Licht. Er ging auf dieses zu und meinte, eine Musik zu hören. Er war nicht ganz sicher, ob das Wasser diese Musik mache oder ob es wirkliche Musik sei. Und wie er näher kam, da war er überzeugt, daß es Klarinetten und Bässe waren.

Er kam zu einem einsamen Haus, einer großen Wirtschaft und einem Stall, und da herrschte ein großes Treiben. Er ging in die Gaststube und fand kaum Platz, um sich zu setzen. Der Wirt kam und fragte, was er bringen dürfe. Und er sagte: »Um Himmels willen, gebt mir etwas zu essen, ich habe schon zwei Tage nichts gegessen. Und nun bin ich aus einem Gefängnis geflohen.« Und er sagte ihm, wie er im Gefängnis gewesen war, und er möchte nun hier übernachten. »Ein Nachtessen will ich Euch schon geben, aber übernachten, dafür ist nirgends Platz. Ihr seht, daß da alles voller Leute ist, alle Zimmer sind besetzt.« Und er sagte: »Ich bin zufrieden, nur auf einer Bank zu liegen.«Und der Wirt sagte: »Nicht einmal eine Bank ist mehr frei, ich kann Euch nicht da bleiben lassen.« Und der Jüngling sagte: »Wenn ich hinaus muß, so muß ich auf dem Weg sterben.« Inzwischen hatte er das Nachtessen eingenommen, und der Wirt sagte zu ihm: »Ihr habt vielleicht auf der andern Seite des Wassers ein altes Schloß gesehen. Auch dieses gehört mir, und niemand wohnt darin. Und wenn Ihr dort hinüber wollt, so findet Ihr ein schönes, sauberes Bett, aber ich muß Euch sagen: soviele auch schon am Abend hinübergegangen sind, keiner ist am Morgen zurückgekehrt. Was geschieht, das weiß ich nicht.« Der Jüngling sagte: »Gut, ich gehe hinüber, gebt mir ein Licht und eine Flasche Wein.«Der Wirt ging und kehrte mit einer Kerze, einer Flasche Wein und dem Schlüssel des Schlosses zurück. »Dieser Schlüssel ist für das große Tor, und wenn Ihr drinnen seid, kommt Ihr zu einem Zimmer ohne jegliche Möbel. Ihr geht durch dieses Zimmer zu einer Türe, schließt auf, tretet ein, durchschreitet drei solcher Zimmer, und erst das vierte hat dann Möbel und das Bett.«

Er kam in dieses Zimmer und hatte jedesmal von innen die Türe eines jeden Zimmers verschlossen. Er zog die Schuhe und den Rock aus,



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nahm noch einen Schluck Wein und ging ins Bett, ließ aber die Lampe brennen.

Da hörte er die Uhr die zweite Stunde schlagen, und er hörte dann die eisernen Riegel des Schloßtores stoßen. Und es kam immer näher und näher, eine Tür öffnend und die andere schließend, bis es dann zu seiner Tür kam. Es trat ein kleines Männlein herein, mit einem schönen, runden Gesicht, mit einem Samtkleide, schwarzen Hosen, grünem Rock, weißen Strümpfen, Halbschuhen und einem Hut mit drei Ecken, weißen Haaren bis auf die Schultern hinab, unterm Arm eine große Schachtel. Es kam herein, setzte die Schachtel auf den Tisch, zündete die große Lampe an, die über dem Tisch hing, machte die Schachtel auf, nahm einen Spiegel heraus und setzte ihn auf den Tisch, nahm alles heraus, was zum Rasieren notwendig ist. Es schlug Seifenschaum, zog das Messer auf, und dann zog es einen Stuhl unterm Tisch heraus und bedeutete dem, der im Bett lag, heranzukommen und auf diesem Stuhl zu sitzen. Auf den ersten Blick ging er nicht. Der Mann ging bis zur Türe, schaute zurück, und der andere machte einen Sprung aus dem Bett und setzte sich auf den Stuhl. Da kam jener, nahm den Kamm, kämmte die Haare, machte einen Scheitel von der Stirne bis hinunter ins Genick und schnitt mit der Schere die Haare bis auf den Schädel zurück. So machte er es auch mit den Augenbrauen. Nur eine Augenbraue schnitt er ab und auf der andern Seite den Schnauz, und dann nahm er das Messer und rasierte dort, wo er mit der Schere geschnitten hatte. Er reinigte und wusch ihn dann, ließ ihn in den Spiegel schauen, und da dieser sah, wie er dreinschaute, wurde er wütend wie ein Bösewicht. Beide sprachen kein Wort. Der Alte legte alles wieder in seine Schachtel, nahm diese unter den Arm und ging bis zur Türe. Der andere war mit einem Sprung auf den Füßen und bedeutete ihm ganz energisch, er solle herkommen und sich auf den Stuhl setzen. Der Jüngling machte mit dem Alten genau das gleiche, was dieser mit ihm gemacht hatte. Und als er ihn mit der Serviette abgetrocknet hatte, stand der Alte auf und sagte: »Nun bin ich erlöst. Ich habe Euch schwer beleidigt, ich sehe, daß Ihr erzürnt seid, aber ich mußte das tun. Auf diesem Schloß wohnte vor Jahren ein sehr wohlhabender Junker, und ich und noch ein anderer Bursche waren seine Bedienten. Wir hatten an vielen Tagen wenig oder nichts zu tun.

Der Junker, ein wenig leichtsinnig, hatte es gern lustig und befahl uns zweien, daß alle, die ins Schloß kamen, sich von uns dieser Arbeit, die ich an dir gemacht habe, unterziehen lassen müßten. Und da kamen viele Wanderer, die bei uns übernachteten, und wenn sie am Morgen



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hinaus mußten vor die Leute, so lachten die Leute sie aus, und das war für unsern Dienstherrn und für uns eine große Belustigung. Einmal traf es sich, daß ein Kapuzinerpater hier übernachtete, und wir machten mit ihm das gleiche. Dieser aber verfluchte uns und wünschte, daß wir dableiben müßten und noch nach dem Tode diese Arbeit machen, bis einer komme, der mit uns das gleiche mache. Mein Gefährte hat bald einen gefunden, der mit ihm das gleiche machte, und ich bin schon mehr als zwanzig Jahre tot, und du bist der erste, der den Mut hat, auch mit mir so zu tun. Und nun würdest du einen großen Lohn verdienen, aber ich bin nur ein Geist und habe nichts, um ihn dir zu geben. Aber im Herbst, an dem Tag, da Tag und Nacht gleich lang sind, ist im Dorf K ein großer Markt. Durch dieses Dorf zieht ein großer Fluß, ein Wasser, und eine Brücke verbindet die eine Seite mit der andern. Auf dieser Brücke wird dir gesagt werden, was du tun sollst, um zu Reichtum zu kommen.«Und dann fragte der Jüngling den alten, was mit jenen geschah, die ihre Arbeit nicht verrichteten. »Diese wurden getötet und in eine Zisterne hinuntergeworfen. Und nun ist das Schloß frei, es kann kommen, wer will, es geschieht nichts Böses.«

Und der Geist verschwand. Der andere ging ins Bett, konnte aber lange nicht schlafen.

Irgendwie schlief er aber ein, und als er erwachte, war's heller Tag. Er kleidete sich an und ging ins Gasthaus hinüber. Ein Teil der Leute, die getanzt hatten, waren immer noch dort. Und da er in die Wirtsstube trat, zeigte alles mit dem Finger auf ihn und lachte. Der Wirt fuhr auf und sagte, niemand dürfe diesen Mann auslachen, er wolle zuerst schauen, wie es stehe. Die beiden -der Wirt nahm den Mann beiseitesetzten sich allein an einen Tisch. Er ließ zu essen und zu trinken bringen, und der Mann mußte alles, was geschehen war, erzählen. Der Wirt fragte, ob er für die Befreiung des Geistes bezahlt worden sei. Und er sagte: »Nein!«Daß er auf jenen Markt gehen sollte, sagte er nicht und verschwieg es. Er sagte nur, daß von nun an das Schloß sicher sei. Der Wirt war sehr zufrieden, daß er noch viele Leute zum Übernachten in das Schloß hinüberschicken könne. »Bleib du nur hier bei mir, bis Haare und Bart wieder gewachsen sind, das kostet dich nichts.« Und er blieb, half das Feld bearbeiten, und da der Tag kam, da Tag und Nacht gleich lang waren, wollte er wegziehen. Der Wirt wollte ihn nicht gehen lassen, das habe keine Eile. Aber er sagte nicht, warum er gehen wolle. Der Wirt gab ihm noch ein schönes Stück Geld für die Arbeit, die er geleistet hatte. Und mit diesem Geld konnte er Kleider beschaffen und weiterreisen. Am andern Tag, gegen Abend, kam er in



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jenes Dorf, übernachtete in einem Gasthaus. Am Morgen früh verlangte er das Frühstück und ging auf jene Brücke.

Er war nicht lange dort, da kam ein Mann mit einem Holzbein. Dann kamen Marktleute, die über die Brücke gingen. Einige grüßten ihn, und die meisten sagten nichts und gingen vorüber. Der mit dem Holzbein bat um Almosen. Da es Mittag wurde, wagte es der Mann nicht, von der Brücke wegzugehen, und schickte einen Knaben um eine Flasche Bier, Brot und Käse, damit ja der richtige Augenblick nicht verlorengehe. Am Abend, da alles weg war und er nur mehr mit dem Mann mit dem hölzernen Bein dort war, sagte dieser zu ihm: »Sag mir, warum hast du heute den ganzen Tag auf dieser Brücke gestanden? Ich bin auch da gestanden und habe weder gekauft noch verkauft, aber ich habe um Almosen gebettelt, und du hast das nicht gemacht, nicht einmal dich getraut, zum Mittagessen zu gehen.« Der Mann, indem er dachte, der Geist hätte ihn betrogen, war ganz erzürnt und sagte zu dem Armen: »Ich habe in einer Nacht geträumt, daß ich heute auf diese Brücke kommen sollte, und da würde ich mein Glück machen.« Der Bettler sagte: »Ach, auf Träume kann man nichts geben, wenn ich auf Träume horchen würde, so wäre ich der reichste Mann, den es gibt. Ich habe in einer Nacht geträumt, ich sollte ins Dorf D gehen. Das ist ungefähr sieben Stunden von hier entfernt. Und bevor man zu diesem Dorf komme, treffe man ein großes Gut, Haus und Stall, und zwischen Haus und Stall eine große Scheune mit einem Tor oben und unten, so daß man mit dem Wagen auf einer Seite hinein und auf der andern Seite hinaus kann. Hinter einem dieser Tore seien ein Pickel und eine Schaufel. Ich sollte das nehmen und zum andern Tor hinaus in den Hof gehen, zwanzig Schritte vorwärts, und da sei ein Rosenstock mit weißen Rosen. Zwölf Schritte davon nach rechts sei ein großer Birnbaum, und vor diesem sollte ich zu graben beginnen, und ich würde bald auf eine Kiste Geld stoßen. Aber das«, sagte der Arme, »das sind Träume, und auf Träume kann man nicht achten.«Der andere behielt alles im Sinn, was der Arme gesprochen hatte, und am andern Tag ging er an diesen Ort. Vor Einbruch der Nacht kam er zu jenem einsamen Haus, und dieses war leer, niemand wohnte darin. Er ging hinzu und trat in jene Hütte hinein und fand Pickel und Schaufel. >Nun, ganz falsch ist es nicht<, meinte er. Er wartete noch ein wenig, bis es dunkler war, und ging hinaus und grub an dem bestimmten Orte. Als er die Grasdecke weggenommen, fühlte er mit dem Pickel, daß mehr als nur Erde unten war. Er deckte ganz sachte ab und griff mit der Hand hinunter, da war's ein eisernes Kistchen. Er griff hinein und nahm dann eine Handvoll Geld heraus,



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ohne es zu zählen. Dann machte er die Kiste wieder zu und legte den Rasen so gut er konnte wieder hin, stellte die Werkzeuge an ihren Ort und begab sich ins Dorf.

Beim ersten Gasthaus kehrte er dann ein, ließ sich zu essen bringen und verlangte zu übernachten. Er fragte dann den Wirt, ob niemand da draußen in diesem Haus wohne. Und dieser sagte: »Nein, schon mehrere Jahre nicht. Das gehörte einem großen Kaufmann, und dieser hatte dem Besitzer dieses Haus geliehen. Der Mann war nicht imstande, das Geld zurückzugeben, und der andere nahm das Haus, Stall und noch das umliegende Land. Dieser Kaufmann hatte auch einen Sohn gehabt, aber man hat nie etwas von diesem gehört. Der Kaufmann ist schon viele Jahre tot, und man weiß nicht, ob der Sohn lebt und wo er ist. Der jeweilige Dorfpräsident verwaltet allemal die Sache. Man sollte an Haus und Scheune große Ausbesserungen vornehmen, und das Land müßte man etwas instand stellen. Aber da es sozusagen niemandem gehört, so macht niemand etwas.« Der Jüngling ließ den Wirt nichts merken, daß er der Betreffende sei, und sagte zum Wirt, ob er meine, daß man das Gut zu kaufen bekomme. Und der Wirt sagte dann: »Ja, das mein' ich wohl, nicht mal so teuer.« Und der Jüngling sagte: »Mir würde das sehr gut gefallen.« Der Wirt sagte: »Dann gehe ich morgen mit Euch zum Präsidenten, und Ihr könnt dann trachten, mit ihm handelseinig zu werden.«

Am andern Tag gingen sie dann und brachten das Gespräch auf dieses Gut. Und der Wirt war bereit, es zu verkaufen. Der Jüngling sagte dann: »Aber wenn ich vielleicht der Sohn dieses Kaufmanns wäre?« Er nahm seine Schriften aus der Tasche hervor, und sie mußten sich überzeugen, daß er wirklich Erbe jenes Kaufmannes sei. Und dann war der Kaufvertrag bald gemacht. Er kehrte zurück mit dem Wirt und blieb dort bei ihm: er bleibe ein paar Tage bei ihm, wenn er bleiben könne. Der Wirt sagte: »Gern behalte ich dich bei mir. Du hast wahrscheinlich im Sinn, nach Hause in deinen Heimatort zu gehen.« Und er sagte: »Nein, irgendwann gehe ich dann, aber noch lange nicht. Ich möchte nun einen Haushalt gründen. Wenn Ihr mir eine tüchtige Frau zur Hand geben könntet, so wäre ich Euch dankbar. Frauen aus meinem Ort, die kenn' ich, und von diesen möchte ich keine.« Der Wirt sagte: »Ich wüßte schon eine, sie hat nur einen Fehler, und der ist, daß sie arm ist. Es ist ein sehr schönes, arbeitsames, sauberes, sparsames und in jeder Beziehung rechtes Mädchen.« Der Jüngling sagte dann zum Wirt: »Könntet Ihr vielleicht dieses Mädchen einen oder zwei Tage zu Euch kommen lassen, um gewisse Arbeiten zu verrichten, damit ich sie



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kennenlernen könnte?« Da sagte der Wirt: »Ja, das wollen wir machen.« Und er ließ sie kommen und im Hause reinigen, waschen und nähen. Dann sagte der Wirt, sie könnte auch die Zimmer oben besorgen, kehren und die Betten machen. Dann besorgte sie auch das Zimmer des Jünglings. Am Abend des dritten Tages sagte der Wirt dann zu ihr: »So, für eine Weile hätten wir Ruhe. Wenn du andere Arbeit hast, dann kannst du schon gehen, um sie zu verrichten, sonst gibt es bei mir immer etwas zu tun.« Das Mädchen sagte: »Zwei Tage habe ich dem Dorfpräsidenten versprochen, seine Frau hat Wäsche, ich sollte waschen helfen.« Der Wirt sagte dann unter anderem zum Mädchen: »Hast du auch schon mit dem Jüngling gesprochen, der bei mir im Hause ist?« Und sie sagte: »Wenige Worte, aber es scheint ein tüchtiger, guter Jüngling zu sein, er hat wirklich eine feine Art. Das wäre auf jeden Fall ein wackerer Mann.« Und der Wirt sagte dann: »Würde er dir gefallen?«Und das Mädchen sagte: »Ja, aber das hat keinen großen Sinn, nur mit einer Armen, wie ich bin, die einen Tag hier, den andern dort arbeiten muß, läßt es dieser nicht genug sein.« Der Wirt sagte: »Gut, ich will dafür sorgen, daß ihr zwei zusammenkommt. Du gefällst dem Jüngling sehr gut, und nur auf seinen Wunsch ließ ich dich zu mir arbeiten kommen.«Dann ließ er sie zusammentreffen, und sie sprachen miteinander und versprachen sich gegenseitig. Der Jüngling sagte: »Ein halbes Jahr müssen wir noch warten mit Heiraten, ich muß vorher das Haus herrichten lassen. Da braucht's Schreiner und Maler, eine neue Frau lasse ich nicht hinein, wie es gerade jetzt aussieht.« Er führe das aus, und nach einem halben Jahr heirateten sie, zogen ins Haus und waren sehr glücklich.

Einmal nahm er dann die Frau und fuhr mit ihr in der Kutsche in sein Heimatdorf. Er sagte nicht, wer er sei. Einem aber verriet er dann, wer er sei, und dann wußte es bald das ganze Dorf. Er ging ins Gasthaus. Und der Wirt fragte ihn, ob er das Haus zurückkaufen wolle, denn er steckte bis zum Hals in Schulden. Und er sagte: »Nein, nein, dieses Haus hat dir kein Glück gebracht, du hast es auch so irgendwie an dich gebracht.« Andere gaben sich als Freunde aus und sagten: »Weißt du noch jenes Mal?«Und andere Mädchen sagten: »Erinnerst du dich des Tages, da wir in der Kutsche fuhren?« — »Ja, ich erinnere mich schon noch an das, und ich erinnere mich auch, daß, als ich arm auf der Gasse stand, ihr ins Haus flohet, statt mir eine Tasse Kaffee zu geben. Ein Apfel war mein Nachtessen und ein Bündel Stroh mein Bett, während ich ein großes Gut für euch verschleuderte. Und wenn jemand mir eine gute Mahnung gegeben hätte, so hätte ich mich auch anders einstellen



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können. Aber solange von mir etwas zu nehmen war, hat alles nur genommen.« «Er beschämte viele an jenem Tag und kehrte mit seiner Frau nach Hause und war in jenem Ort ein sehr geachteter Mann.

Eines Tages sagte dann der Dorfpräsident: »Jetzt wollen wir zu jenem gehen, der dich in den Keller gesteckt hatte.« Sie stellten jenen und sagten: »Wir wollen Euer Alter berücksichtigen und Ihr bezahlt die Schuld, die Ihr zu bezahlen habt, sonst stecken wir Euch für ein paar Jahre ins Gefängnis, wie Ihr diesen Mann behandelt habt.« Da sagte er nicht, er sei nichts schuldig, und er versprach zu bezahlen, sobald er könne.


Der kleine Hirt ohne Hemd

Es war ein König, der immer krank war, und niemand konnte ihm helfen. Da sagte einer: »Ich weiß auch nicht, wie helfen, das beste Mittel aber wäre, wenn man ein verschwitztes Hemd von einem, der vollkommen glücklich ist, bekommen könnte.«

So gingen die Bedienten überallhin suchen, fanden aber nie einen solchen, bis sie endlich auf einem Fußweg einen armen, kleinen zerlumpten Hirten mit einem Ranzen (wir sagen Säcklein) sahen, der jauchzte und sang. Den fragten sie, wie es gehe, ob er zufrieden sei. Da antwortete er: ihm fehle gar nichts, er habe das Vieh auf einem Hügel und nun gehe er nach Hause schlafen und am Morgen finde er bei Sonnenaufgang das Vieh auf der Höhe, ihm fehle gar nichts. »Schön, so tu mir den Gefallen und zieh dein Hemd aus und gib es mir und tausche es mit mir, du bekommst ein schönes seidenes Hemd.« — »O nein, das kann ich nicht, denn ich habe kein Hemd.«

Dann ging er nach Hause und erzählte, daß der zufriedenste Mensch kein Hemd trage.


Die Geschichte von den drei Hunden

Es war ein Metzger, der hatte einen einzigen Sohn. Dieser war erwachsen und ging manchmal mit dem Vater auf den Viehmarkt. Der Vater kaufte Mastvieh und züchtete gelegentlich auch selbst solches. Der Bub war nun groß geworden, und da sagte der Vater zu ihm: »Nun kannst du einmal für mich auf den Markt gehen, du hast mich manches Mal begleitet und weißt, wie ich tu und handle, und kennst dich in den



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Geschäften des Kaufes aus. Wenn ich alt werde, mußt du das Haus übernehmen und mußt daher etwas verstehen vom Viehhandel.« Er gab dem Sohn eine Geldsumme und sagte: »Kaufe einige Stücke Vieh zur Schlachtung und einige zur Mästung, damit wir sie dann später schlachten können.«

Der Jüngling machte sich auf den Weg zum Markt. Da begegnete er auf der Straße einem Manne mit einem Hund. Dieser Mann fragte ihn, wohin er gehe. Er gehe auf den Markt, meinte der Junge, er sei der Sohn eines Metzgers und müsse Vieh einkaufen. Da erkundigte sich der andere, ob er denn keinen Hund habe, er müsse doch einen Hund haben, er brauche doch jemand, der das Vieh antreibe. Er solle diesen Hund da kaufen. Der Jüngling aber meinte, sein Vater habe all die Jahre, da er Metzger sei, nie einen Hund besessen. Der Mann jedoch forderte ihn auf, den Hund, der ein ganz außergewöhnlicher Hund sei und sein Glück bedeuten werde, abzukaufen. Er versicherte dem Jungen, daß das ein starker Hund sei, der Eisen und Stahl brechen könne und darum auch »Brich Eisen und Stahl« heiße. Der Hund war schön und hätte dem Jüngling gefallen, und er erkundigte sich nach dem Kaufpreis des Tieres. Da meinte der andere, der Hund sei ziemlich teuer, aber er werde sein Glück bedeuten und koste soundso viel, und dabei nannte er gerade die Summe, die ihm sein Vater für den Viehkauf mitgegeben hatte. Darauf meinte der Junge, ein solches Kapital könne er ihm nicht geben, er müsse Vieh kaufen, da sein Vater solches benötige und ihm das Geld nicht übergeben habe, um einen Hund zu kaufen.

Der Alte aber drang so lange in ihn, bis er endlich beschloß, diesen Hund zu kaufen, weil er ihm Glück bringen sollte. So nahm er seinen Hund und ging nach Hause. Wie er ankam, sagte sein Vater: »Wieso kehrst du schon zurück und dazu noch mit einem Hund?« Und der Sohn erklärte, es sei ihm so und so ergangen, er sei einem Mann begegnet, der ihn aufgefordert habe, diesen Hund zu kaufen, weil er unbedingt einen Hund zum Antreiben brauche. Und er habe den Hund gekauft. Wieviel er denn bezahlt habe für das Tier, fragte der Vater. Da eröffnete der Junge, er habe dem andern grad das Geld gegeben, wofür er hätte Vieh einkaufen sollen. Da wurde der Vater zornig und sagte: Er sei doch ein Dummkopf, ein solches Kapital zu geben für einen Hund. Er, sein Vater, sei nun so viele Jahre Metzger gewesen und hätte es immer ohne Hund geschafft. Doch nun sei der Hund da, aber solche Schnitzer solle er keine mehr machen.

Nach einigen Tagen war wiederum Viehmarkt. Der Vater meinte, nun könne der Bub nochmals auf den Markt gehen, um Vieh zu kaufen.



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Diesmal solle er nun schön gemästetes Schlachtvieh erstehen, da er das letzte Mal keines heimgebracht habe. Und er gab ihm etwas mehr Geld. Der Bursche machte sich auf den Weg und begegnete wiederum dem gleichen Mann, mit einem andern Hund. Der Fremde fragte ihn wieder, wohin er gehe, und der andere antwortete, er müsse auf den Markt, um Vieh einzukaufen. Da erkundigte sich der andere, wo er denn den Hund habe. Den habe er zu Hause gelassen, erwiderte der Junge. Ja, meinte darauf der Alte, dann solle er diesen zweiten Hund kaufen, der sei noch besser als der erste. Jenen solle er seinem Vater geben, diesen aber unbedingt für sich erstehen, dieser sei sein Glück.

Der Bursche wehrte sich und erklärte dem andern, sein Vater sei schon böse geworden, weil er den andern Hund gekauft habe, nun kaufe er keinen mehr. Immer wieder beharrte der Alte auf seiner Bitte und meinte, das sei ein Glückshund. Der andere aber entgegnete, er müsse Vieh einkaufen gehen. Schließlich erkundigte er sich doch noch, was der Hund denn koste. Ja, der sei teurer als der erste, erhielt er zur Antwort, der sei schnell wie der Wind und heiße auch »Geschwind wie der Wind«, und der Alte nannte wiederum die Summe, die der Jüngling von seinem Vater für den Ankauf des Viehs erhalten hatte. Da wehrte er sich und meinte, soviel könne er niemals ausgeben, er müsse unbedingt das Vieh kaufen, und er wollte seines Weges gehen. Der Alte aber drang wiederum so sehr in ihn und hielt ihn fest, bis er auch diesen Hund abkaufte. Und der Verkäufer meinte, dieser Hund koste ihnen keinen Unterhalt, sie sollten ihm die Abfälle geben, die sie sonst nicht verwerten könnten. Und so ließ er ihn nicht los, bis er den Hund erstanden hatte. Der Jüngling machte sich mit seinem Hund auf den Heimweg. Er hatte ein schlechtes Gewissen und dachte: Wenn du heimkommst, wird dir dein Vater schon heimzahlen für das Hundekaufen.< Zu Hause angekommen, schimpfte sein Vater, daß er schon wieder ohne Vieh, aber mit einem Hund heimkehre. Da erzählte der Sohn wiederum, wie es ihm ergangen war. Es sei wieder jener Mann gekommen und habe ihn gezwungen, den Hund abzukaufen mit der Begründung, dieser Hund sei sein Glück und sei schnell wie der Wind. Schließlich rückte der dritte Markttag heran. Wiederum gab der Vater seinem Buben Geld, und zwar mehr als das letzte Mal, und schickte ihn auf den Markt. Und er schärfte ihm ein, diesmal schön gemästetes Vieh zu erhandeln, und vor allem solle er diesmal Schlachtvieh und keine Hunde kaufen, sonst werde er ihn samt seinen Hunden zum Teufel jagen. Der Junge ging weg, und an der gleichen Stelle begegnete er wiederum dem Fremden, der wieder einen andern Hund bei sich hatte.



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Unser Bursche wollte vorbeigehen, ohne ihn zu hören, und dachte: >Das ist der Hundeverkäufer, wir wollen ihm nicht mal Antwort geben.< Der andere aber rief: »He, he!« und erkundigte sich, wohin er gehe und ob er ihn denn nicht grüßen wolle. Er müsse auf den Markt und habe keine Zeit, meinte der Metzgerssohn. Der Fremde aber sprang ihm nach und hielt ihn fest, indem er fragte, wo er die Hunde gelassen habe. Die seien daheim, antwortete er, und er habe Eile, auf den Markt zu kommen. Und der aufdringliche Fremde fragte ihn, ob er nicht diesen dritten Hund für seine Mutter kaufen möchte. Die Mutter sei den ganzen Tag in der Küche und habe wohl dann und wann einen Knochen für den Hund. Dieser lebe auch bloß von Knochen, die auf den Boden fallen. Sein Vater sei erzürnt genug gewesen, meinte der Junge, und er kaufe keine Hunde mehr. Und er wollte weitergehen. Der andere aber hielt ihn zurück und forderte ihn auf, diesen Hund zu kaufen, er werde sein Glück sein und plagte ihn, bis der arme Bursche sich nach dem Preis des Hundes erkundigte. Der sei noch teurer als die andern, erwiderte der Alte, er koste soundso viel, und er nannte wieder gerade die Summe, die der Vater für den Ankauf des Schlachtviehs bereitgestellt hatte. Der gute Junge wandte ein, er könne diesen Handel nicht machen, er könne den Hund nicht kaufen, denn er müsse Vieh erhandeln, da sein Vater sehr erzürnt sei. Der Fremde hielt ihn aber fest und drang auf ihn ein, bis er auch diesen Hund erstand. Dann ging unser Junge mit seinem Hund und mit einem schlechten Gewissen heim. Er wußte schon, daß sein Vater heftig erregt sein würde. Dieser sah wiederum den Sohn mit einem Hund kommen, führte die beiden andern Hunde vor die Haustür und sagte zum Sohn: »Geh und laß dich segnen«, und er jagte ihn weg und gab ihm nicht einen roten Rappen. »Mach, was du willst, mit deinen Hunden!« rief er ihm nach. Die Mutter eilte dem Sohne nach und gab ihm ein paar Batzen in die Tasche. Der Jüngling ging fort und kam am Abend spät in einen Wald. Er wußte bald nicht mehr wo ein und wo aus. Da erblickte er ein Haus, ging hinein und bat, übernachten zu dürfen. Das könne er schon, erwiderte man ihm. Und er fragte, ob man ihm etwas zu essen gebe. Er aß dann und erklärte darauf, er wolle sich schlafen legen. Das könne er machen, wurde ihm bedeutet, aber die Hunde müsse er zurücklassen, so habe man nichts dagegen. So ging man denn mit ihm in sein Zimmer. In der Stube gelang es den andern, den »Brich Eisen und Stahl« zurückzuhalten. Die andern beiden aber mußten sie mit ihm gehen lassen. Dann schritten sie durch ein weiteres Zimmer und konnten jenen Hund zurückhalten, der schnell war wie der Wind. Und im dritten Raume gelang



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es endlich, den dritten Hund, der schnell war wie der Sinn, festzuhalten. Nun war der Junge ohne seine Hunde. Da erklärte man ihm, nun solle er Reu und Leid erwecken, sein Leben sei verwirkt. Die Hunde konnten die andern auch gebrauchen. Der Jüngling kniete nieder, aber statt zu beten rief er die drei Hunde bei ihren Namen: »Brich Eisen und Stahl, Geschwind wie der Wind, Geschwind wie der Sinn!« Kaum hatte er die Namen gerufen, so standen alle drei Hunde vor ihm. »Brich Eisen und Stahl« hatte die Türschlösser weggerissen, und die beiden andern waren ihm nachgefolgt und standen nun zur Hilfe bereit. Nun befahl er seinen Hunden, die Räuber, die dort waren, zu töten, und die Tiere besorgten das, als gelte es, Hanfstengel zu brechen. Der Jüngling ging dann in die Stube zurück und fand dort die Magd. Sie bat ihn inständig, er möchte sie um des Himmels willen verschonen, sie sei ein armes Mädchen. Eigentlich sei sie die Tochter des Königs, aber sie sei von den Räubern gestohlen worden und hätte hier für sie die Magd spielen müssen, sonst wäre sie getötet worden. Er aber erkundigte sich, ob noch mehr Räuber herumseien. Das verneinte die Magd und erklärte, es seien nur diese da gewesen, die er getötet habe. Sie gingen dann schlafen.

Am Morgen standen sie auf, und der Jüngling ließ sich das Geld, das die Räuber besessen hatten, zeigen. Da fanden sich Vieh und Wagen und Pferde und ein Haufen Geld. Der Jüngling wollte das Geld mit sich nehmen und mußte einen Wagen herschaffen und zwei Pferde, um das Geld wegzuführen. Und eine schöne Viehherde nahm er auch mit sich. Das Vieh führte er auf die Straße und befahl seinen Hunden, es zu treiben. Und er setzte sich mit der Magd in die Kutsche und zog heimwärts.

Auf einmal sah der Vater eine Viehherde daherkommen und niemand, der sie trieb, und doch gingen die Tiere nicht von der Straße ab. Zuletzt kam eine Kutsche, aber sonst war niemand zu sehen. Der Jüngling ließ die Tiere vor seines Vaters Haus anhalten. Das Vieh stand still, und man sah nichts, als hin und wieder etwas wie einen Schatten vorüberhuschen. Die Kutsche fuhr vor, und da kam der Sohn heraus und sagte: Hier habe der Vater nun das Vieh für das Geld, welches er zum Ankauf der Hunde gebraucht habe. Jener Mann hätte gesagt, diese Hunde wären sein Glück, und sie seien es auch gewesen. Und da habe er noch etwas Geld für den Zins jener Summen und etwas Geld für die Mutter. Er gehe weiter, um diese Dame zu heiraten, die seine Braut werde. Und er ging seines Weges und heiratete die Magd, und ich habe ihn seither nicht mehr gesehen.



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Das Kloster Sankt Gallen

Das Kloster Sankt Gallen stand unter dem österreichischen Kaiser, und dieser kam jedes Jahr einmal und machte dem Kloster einen Besuch, durchging die Bücher und gab einige Ratschläge, damit er etwas zu befehlen habe.

Einmal, als er auf Besuch kam, zeigte es sich, daß die Patres gut lebten. Sie waren alle wohlgenährt, und vor allem der Obere, der Abt, hatte das Aussehen einer Lärche und einen Bauch wie ein Butterfaß. Der Kaiser dachte bei sich: >Dich sollte ich schon ein wenig magerer werden lassen!<Der Besuch ging zu Ende, und er machte Anstalten, um wieder wegzugehen. Und dann sagte er zum Abt: »Heute in einem Jahr komme ich wiederum, und dann müßt Ihr mir Antwort geben auf drei Fragen, und das sind folgende: Wieviel bin ich wert, wenn ich als Kaiser auf meinem Thron sitze, mit Krone und Szepter, aber genau, nicht mehr und nicht weniger?

Die zweite Frage: Wie lange habe ich, um mit meinem Pferd um die Erde zu reiten, aber auf die Minute genau, weder fünf (Minuten) zuviel noch zuwenig?

Die dritte: Ihr müßt meinen Gedanken kennen, und der darf nicht die Wahrheit sein. Jetzt habt Ihr ein Jahr Zeit, nachzudenken. Und gebt Ihr mir genau Antwort, so ist's gut, sonst lasse ich Euch rücklings auf einen Esel setzen, des Esels Schwanz halten und auf der ganzen Erde herumführen. Jetzt habt Ihr ein ganzes Jahr Zeit, nachzudenken, genau nach einem Jahr komme ich die Antwort holen.«

Der Kaiser kehrte dann heim, und der Abt begann nachzudenken. Bei der ersten Frage brachte er nichts heraus (kam er nicht darauf)! Er nahm die zweite, und es ging ebenso. Und bei der dritten auch. Er dachte dann: >Nun, binnen einem Jahr werde ich wohl die rechte Antwort finden.< Das plagte ihn aber so, daß er ganze Nächte nicht schlafen konnte. Er erzählte es dann den Patres, um zu sehen, ob der eine oder der andere die Fragen lösen könnte, die eine oder die andere. Sie beteten alle zusammen, damit der Heilige Geist ihnen das Rechte eingabe. Aber sie kamen zu keinem Ergebnis. Sie ließen gelehrte Männer herbeikommen, die Träume auslegen, und solche, die Rätsel lösen konnten. Auch diese brachten gar nichts heraus.

Der Abt aber konnte nie schlafen, hatte keinen Appetit und wurde selbstverständlich magerer. Je näher der Jahrestag rückte, um so mehr magerte sein Körper ab. Ungefähr eine Stunde vom Kloster entfernt besaßen sie Weiden und Wald, und dort hütete ein Bruder fünf- bis



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sechshundert Schafe, und der wohnte draußen, und nur am Samstagabend zog er nach Hause. Am Sonntagmorgen kehrte er wiederum zu seiner Herde zurück. Ungefähr drei Tage vor dem Tag, da der Kaiser kommen sollte, wanderte der Abt übers Feld. Der Schäfer sah den Abt kommen, ging ihm entgegen und sagte: »Mein Herr und Meister, ich habe nie gehört, daß Ihr schwer krank gewesen wäret, und doch habt Ihr ein Aussehen, als ob Ihr eine schwere Krankheit durchgemacht hättet.« —»Ich bin nicht krank gewesen«, sagte der Abt, »aber ich habe etwas anderes, das mich altern läßt.« — »Nun, so sagt mir, was Euch fehlt«, meinte der Hirt. Der Abt wollte es nicht sagen und dachte bei sich: >Du bist doch nur ein armer Tölpel. Wenn die Gelehrten es nicht herausbrachten, was will denn ein solcher Dummkopf es besser wissen?< Und dennoch überlegte er: >Teile ihm die Sache nur mit! Wenn er sieht, daß man mich auf einem Esel in der Welt herumführt, so weiß er, warum.<Und er erzählte ihm die ganze Geschichte. Der Hirt lachte nur: »Deswegen würde ich mir kein schweres Blut machen, dem wollte ich schon Antwort geben.« — »Du«, meinte der Abt, »könntest ihm Antwort geben?« —»Jawohl!« sagte der Hirt, »wenn Ihr dafür sorgt, daß jemand anders an jenem Tag die Schafe hütet, und Ihr mir Euren Rock, Eure Kutte mit dem Brustkreuz gebt, werde ich schon mit dem Kaiser sprechen.«Der Abt dachte: >Nun gut, gehe es, wie es wolle, jetzt ist es doch soweit.< Und er versprach dem Hirten, seinen Wunsch zu erfüllen.

Anderntags kam ein anderer Bruder zu den Schafen heraus und erklärte dem Hirten: »Du mußt es mir überlassen, die Schafe zu hüten, und zeige mir, wo du sie nachts hintreibst. Du mußt ins Kloster, der Abt will, daß du nach Hause kommst.« Am Tage darauf erschien dann der Kaiser. Der Schäfer war als Abt verkleidet, ein großer, spindeldürrer Mann. Einige der älteren Patres standen vor dem Hause, um den Kaiser zu empfangen. Inzwischen versammelten sich die übrigen mit dem neuen Abt im Saal, der neue Abt auf seinem roten Stuhl. Der alte Abt drückte sich auch im Hintergrund in eine Ecke, damit ihn niemand sehe. Da erschien der Kaiser mit den Patres im Saal, erblickte den Abt auf seinem Stuhl und dachte bei sich: >Es hat geholfen, der Bauch ist nicht mehr so groß, und die Farbe hat auch gewechselt.<Dann sagte er zum Abt: »Nun, wie steht's mit den Fragen?« Der Abt antwortete: »Oh, ich glaube, es ist in Ordnung.« —»Nun, so wollen wir beginnen«, meinte der Kaiser. »Die erste lautet: Wieviel schätzt Ihr mich als Kaiser ein, nicht mehr und nicht weniger?« Der Abt entgegnete: »Unsern Herrgott haben sie für dreißig Denare verkauft, und mehr als der Herrgott



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wollt Ihr doch wohl nicht wert sein!« — »Diese Antwort ist sehr gut«, sagte der Kaiser. »Die zweite Frage: Wie lange brauche ich, um mit meinem Pferd um die Erde zu reiten?«Der Abt erklärte: »Ihr müßt am Morgen früh Euch aufs Pferd setzen, und sobald die Sonne sich zeigt, müßt Ihr zu reiten beginnen und immer die gleiche Linie mit der Sonne einhalten, dann habt Ihr genau vierundzwanzig Stunden um die Erde zu umreiten!« — »Auch diese Antwort ist gut. Nun kommen wir zur dritten Frage, diese ist schwerer«, meinte der Kaiser. Und der Abt sagte: »Nein, diese ist die leichteste!« — »Das kann nicht sein«, erwiderte der Kaiser, »Ihr müßt wissen, was ich gerade jetzt denke, und das darf nicht die Wahrheit sein.«Und dann sagte der Abt: »Ihr denkt jetzt, ich sei der Abt von Sankt Gallen, aber das ist nicht wahr, ich bin nur sein Schafhirt!«

Und dann sagte der Kaiser: »Jetzt sind wir am Ende. Auch ich habe über die Fragen nachgedacht und konnte nicht eine lösen. Ihr aber müßt mit mir kommen, Euch nehme ich mit mir nach Hause.« Und dann zeigte sich der alte Abt und sagte: »Er muß sein Leben lang hierbleiben. Wenn Ihr das eine oder andere Mal einen guten Rat wollt, so kann man ihn Euch geben, aber der Bruder muß hierbleiben.«


Das Märchen von Cuonz und Cuonzessa

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die zuoberst im Carlihof wohnten. Der Mann hieß Cuonz, und die Frau nannte man die Cuonzessa. Das waren brave Leute. Der Mann war Holzfäller und verdiente schlecht und recht sein Brot, indem er für die Bevölkerung von Pontresina das Holz rüstete. Und die Frau -Kinder hatten sie keine - nähte und besorgte die häuslichen Arbeiten. Sie war eine gute Frau, nur daß sie dumm und sehr eitel war. Und wenn dann so ein Hausdiener ins Haus kam -damals gab es noch nicht so viele Geschäfte, und die Krämer zogen von Haus zu Haus, um ihre Waren zu verkaufen, wie Tücher, Leinen, Spitzen und Bänder -, und wenn so ein Hausierer kam, so konnte sie sich nicht enthalten, einen Haufen solcher Sachen zu kaufen, ohne Bedürfnis und Nutzen. Dadurch aber brauchte sie vorweg alles, was der Mann verdiente, so daß häufig für die notwendigsten Bedürfnisse, wie Brot und Fleisch und solche Sachen, keine Mittel mehr vorhanden waren.

Der arme Mann war dadurch ganz verzagt und wußte in seiner Verzweiflung nicht was anfangen. Eines Tages, da die Frau wiederum den



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letzten Rappen für solche Dinge ausgegeben hatte und nichts mehr da war, um das Brot zu kaufen, wurde der Mann zornig und sagte zu ihr —obschon er sie liebte und sie gut miteinander auskamen, so hatte er an diesem Tage doch die Geduld verloren -, (und meinte): »Höre mal, Frau, von heute ab gebe ich dir nicht einen Rappen mehr in die Hand. Die notwendigen Dinge, Brot und Käse und anderes mehr kaufe ich. Du sagst mir, was wir benötigen, aber das Geld gebe ich dir nicht mehr, sonst können wir eines Tages am Daumen lutschen und Hunger leiden. «

Und in der Tat machte er es so. Aber er wußte halt nicht, wohin mit dem Geld. Er hatte ein einfaches Haus und hatte keine Möglichkeit, das Geld, das er verdiente, so zu versorgen, daß es die Frau nicht gefunden hätte. Und so kam er auf den Einfall, sein Geld in einem alten Holzstrunk zu verstecken, in einem alten Holzstrunk, der schon seit Jahren im Hof in einer Ecke stand und den niemand beachtete. Er hoffte, daß seine Frau nicht darauf käme, daß er das Geld dorthin bringe. So verging eine geraume Zeit. Der Mann verdiente ganz schön und hatte bereits einen schönen Posten Geld in den Baumstrunk gelegt und war ganz glücklich bei dem Gedanken, nun etwas beiseite gelegt zu haben für Tage der Krankheit oder für andere besondere Ereignisse.

Eines Tages nun - wer erschien wieder im Hause? Wieder kam so ein verfluchter (rom: gesegneter) Hausierer, der Spitzen und Tücher und Bänder verkaufte und der schon manches Mal bei der Cuonzessa gewesen war und immer gute Geschäfte mit ihr gemacht hatte. So grüßte er sie auch diesmal sehr freundlich: »Guten Abend, liebe Frau Cuonzessa, wie geht's, seid Ihr wohlauf? Diesmal habe ich Sachen, die Ihr noch niemals gesehen habt, Bänder, die direkt aus Paris kommen, und dabei sind sie nicht einmal sehr teuer.« — »Oh, das tut mir schrecklich leid, mein lieber Krämer, aber ich kann Euch nichts mehr abkaufen, denn mein Mann versteckt alles Geld, das er verdient, und gibt mir nicht einen Batzen mehr. Es hat also keinen Sinn, daß Ihr mir Eure Waren zeigt, das würde mir nur mehr Lust machen. Es ist besser, wenn Ihr gleich weitergeht.« Doch der Hausierer war ein pfiffiger Mann und nicht auf den Kopf gefallen und sagte daher: »Meine liebe Frau Cuonzessa, nun, auch wenn Ihr mir nichts abkaufen könnt, so will ich dennoch Euch meine Ware zeigen, denn Ihr seid mir immer ein guter Kunde gewesen.« So nahm er seinen Tragkorb vom Rücken und begann all die schönen Sachen vor der Cuonzessa auszupacken. Und diese konnte nicht genug die wundervollen Dinge betrachten und rief aus: »Oh, wenn ich nur einen Meter von diesen Spitzen und einen Meter



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von diesem Band haben könnte, das sind Sachen, wie ich nie schönere gesehen habe. Aber das hat ja keinen Zweck, ich habe kein Geld.« »Nun«, sagte der Hausierer, »habt Ihr nicht vielleicht in Euerem Haushalt etwas, das Ihr nicht gebraucht und das ich anstatt des Geldes nehmen könnte, nur damit ich Eurer alten guten Gewohnheit entsprechen könnte?« — »Ja, mein lieber Krämer«, seufzte die Alte, »ich wüßte wahrhaftig nicht, was ich Euch geben könnte. Das wenige, was wir haben, brauchen mein Mann und ich im Haushalt, das kann ich nicht weggeben. Ich weiß wirklich nicht, was. Es wäre wohl da unten im Hof in einer Ecke ein alter Baumstrunk, der schon lange da liegt und mit dem wir nichts anzufangen wissen, aber für den könnt Ihr wohl auch nichts geben.« —»Oh«, meinte der Hausierer, »zeigt mir mal diesen Strunk, man kann ja sehen, ob es etwas zu machen gibt.« —»Nun, dann kommt mit mir, so werde ich ihn Euch zeigen«, erwiderte die Frau.

Drunten im Hof schritt der Krämer auf den Holzstrunk zu und versetzte ihm einen Tritt mit dem Schuh, und in dem Augenblick vernahm er, der er ein feines Ohr hatte, einen gewissen Klang aus dem Innern des Strunkes, und er dachte: >Wer weiß, ob der Cuonz sein Geld nicht in diesem Strunke versteckt?<Und dann meinte er, zur Frau gewendet: »Ja, meine liebe Frau Cuonzessa, grad viel ist dieser Strunk nicht wert, aber um Euch einen Gefallen zu tun, will ich ihn doch nehmen und Euch dafür ein paar Meter von den Spitzen und von dem Band geben, die Euch so gut gefallen haben.« — »Oh, mein lieber Krämer«, frohlockte die Frau, »Ihr seid doch zu gütig, ich bin wirklich glücklich, etwas von diesem und jenem zu bekommen. Ich bin überzeugt, daß mein Mann glücklich sein wird, wenn er hört, daß ich diese schönen Sachen im Tausch um den Holzstrunk, der nichts wert war, bekommen habe.« Und der Hausierer maß schnell ab, was er ihr geben wollte, nahm den Baumstrunk und machte sich aus dem Staube.

Gegen Abend erschien dann der Mann nach Vollendung seines Tagewerkes, froh, nun nach der Tagesarbeit ausruhen zu können. Aber kaum war er in der Stube, so stürmte ihm seine Frau entgegen und zeigte ihm mit großer Freude die Spitzen und Bänder und erklärte, sie hätte das alles vom Krämer bekommen, ohne auch nur einen Rappen auszugeben. Der Hausierer wäre so freundlich gewesen, den alten Baumstrunk, der schon so lange im Hofe gelegen, an Zahlungs Statt zu nehmen. Wie Cuonz das vernahm, wurde er ganz bleich und sagte: »Du wirst doch nicht so verrückt gewesen sein, jenen Strunk dem Hausierer zu geben? Weißt du nicht, daß ich alles Geld, das ich seit Monaten verdient hatte, in den Strunk gelegt habe?« — »Mein lieber Mann, das tut



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mir sehr leid, aber ich wußte das nicht; der Krämer ist nun aber weg.« »Gut«, erwiderte Cuonz, »dann müssen wir trachten, ihm nachzueilen und ihn noch zu erwischen, damit er uns den Strunk zurückgebe.« »Schön, schön«, sagte die Cuonzessa, »so will ich schon mit dir kommen, ich muß nur noch ein Tuch um den Kopf binden, dann komme ich.« —»Also«, rief Cuonz, »ich gehe voraus, und du vergißt nicht, das Gartentor nachzuziehen!« Und in großen Sprüngen eilte Cuonz die Straße hinunter und über die Wiesen hinein. Und hinter ihm her kam bald die Cuonzessa, schnaufend und schwitzend, denn sie hatte das Gartentor auf den Rücken genommen. Wie der Mann das sah, meinte er: »Bist du eigentlich verrückt, das Gartentor mit dir zu nehmen, was fällt dir denn ein?« —»Aber mein lieber Mann, du hast es mir befohlen, das Gartentor nachzuziehen, und ich habe bloß getan, was du von mir verlangtest.« — »Nun«, sagte er, »zur Strafe trägst du es auch wieder zurück, wenn wir heimkehren. Nun aber müssen wir uns trennen, denn wir können nicht wissen, welchen Weg der Krämer gegangen ist. Du gehst auf dieser Seite des Baches hinunter und ich auf jener, und bei der eisernen Brücke können wir hoffen, daß einer von uns den Krämer treffe, dann muß er uns das Geld zurückgeben.«

Sie gingen noch ein Stück weit miteinander, und grad da, wo sie sich trennen wollten, fand Cuonz am Straßenrand den Baumstrunk. Mit Bangen ging er hifi und wollte das Geld herausnehmen, aber es war halt weg. Und Mann und Frau trennten sich, wie sie es abgemacht, und schritten mächtig gegen Schlarigna hinaus, einer auf dieser, der andere auf der andern Seite des Baches. Wie sie ein Stück weit gekommen waren, hörte Cuonz seine Frau rufen: »Cuonz, Cuonz, komm schnell her!« Und Cuonz, da er so rufen hörte, meinte, seine Frau habe den Krämer gefunden, durchwatete das Wasser mit wenigen Schritten und rief: »Was ist, Cuonzessa, hast du ihn?« —»Nein, nein«, sagte sie, »ich wollte dich bloß fragen, ob das Geißmist oder Schafmist ist?« — »Für solcherlei Dummheiten rufe mich nicht mehr, sonst hast du's mit mir zu tun.« So sagte Cuonz und kehrte wieder auf seine Seite hinüber. Es ging aber nicht lange, so hörte er seine Frau wieder rufen: »Cuonz, Gummi! «Er glaubte, diesmal habe sie ihn (den Krämer) erwischt, setzte über das Wasser und sagte: »Hast ihn, hast ihn?« — »Nein, nein«, meinte die Frau, »ist das Pferde- oder Eseismist?«Und Cuonz fuhr sie an: »Du große Eselin, mich noch einmal für solche Dummheiten herzurufen! Wenn du mich noch ein drittes Mal herrufst, so bekommst du eine Ohrfeige!«Und er kehrte wieder zurück. So zogen sie weiter, jedes auf seiner Seite, und kamen bei der eisernen Brücke wieder zusammen,



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ohne den Hausierer gefunden zu haben. Sie kamen dann wieder die Straße zurück, müde und traurig. Besonders die Cuonzessa war müde, denn sie mußte das Gartentor tragen. Da sie zum kleinen Wäldchen kamen, meinte Cuonzessa: »Cuonz, ich bin todmüde, wollen wir nicht eine Pause machen?« Und Cuonz erwiderte: »Ja, das ist wahr, es ist schon Nacht, und wir könnten bösen Leuten begegnen, laß uns auf einen Baum hinaufgehen und dort die Nacht verbringen.«Gesagt, getan, sie erkletterten eine Tanne und machten es sich so bequem als möglich.

Es dauerte aber nicht lange, da erschien eine Schar Männer und lagerte sich gerade unter der Tanne, auf der Cuonz und Cuonzessa sich befanden. Die Männer begannen zu reden und Feuer zu machen, um eine Suppe zu kochen. Und während sie da beschäftigt waren, begannen sie zu plaudern. »Heute ist es uns recht gut ergangen, wir haben eine gute Beute gemacht«, meinte einer. »Dieser Krämer, den wir gepackt haben, hatte einen Haufen Geld, und während wir das Essen bereiten, wollen wir grad das erwischte Geld zählen.« Und sie zogen allerlei Geld aus ihren Säcken und begannen es zu zählen. Indessen waren Cuonz und Cuonzessa in großer Angst auf ihrer Tanne und verhielten sich ganz ruhig, denn diese Männer waren Räuber. Nach einer Weile sagte Cuonzessa ganz leise: »He, Cuonz, ich kann's nicht mehr halten!« »Was hast du denn?«fragte er. »Oh, ich sollte pissen.«Und Cuonz flüsterte: »Um Himmels willen, halte zurück, denn wenn die andern merken, daß jemand auf der Tanne ist, so kommen sie herauf und machen uns kalt.«Da tat Cuonzessa ihr Möglichstes, um sich nicht zu verraten. Aber plötzlich sagte sie doch: »Nun kann ich's nicht mehr halten!« »Ach so laß zum Teufel fahren!« rief Cuonz. Und Cuonzessa pißte, und es fiel grad hinunter in die Pfanne, die die Räuber über das Feuer gestellt hatten. Wie diese das sahen, sagte einer zum andern: »Der Herr meint es gut mit uns. Er ließ uns nicht bloß einen guten Raub tun, nun schickt er uns gar noch die Suppe vom Himmel!«

Indessen rief droben nach einer Weile die Cuonzessa ihrem Mann: »Cuonz, Cuonz, ich kann's nicht mehr halten!« — »Um Himmels willen, Frau, was ist denn?«erkundigte er sich. »Oh, ich sollte meine Notdurft verrichten!«erwiderte sie. »Bei Gott«, sagte Cuonz, »halte zurück, sonst würden wir diesmal sicher erwischt, und es erginge uns nicht mehr so gut!« Und Cuonzessa hielt mit aller Kraft. Aber auch jetzt sagte sie wiederum: »Nun kann ich's nicht mehr halten!« — »So laß zum Teufel fahren!«rief Cuonz unwillig. Und -tuc, tuc, tuc -fiel es herunter und wiederum in die Pfanne. Wie die Räuber das sahen,



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sagte einer zum andern: »Ja, heute geht es uns wahrhaftig gut. Unser Herrgott gibt uns nicht bloß die Suppe, nein, sogar die Knödel schickt er uns.« Droben aber, auf der Tanne, drückte das Gartentor immer mehr den Rücken der armen Cuonzessa, so daß sie wieder rief: »Cuonz, Cuonz, ich kann nicht mehr, ich kann das Tor nicht mehr halten!« Und Cuonz rief: »Um Himmels willen, halte es, sonst -diesmal wären wir ganz sicher verloren!«Und die arme Cuonzessa machte wieder alle Anstrengungen, um das Gartentor nicht fallen zu lassen. Doch plötzlich jammerte sie wiederum: »Cuonz, ich kann nicht mehr!«Und Cuonz: »So laß es zum Teufel fahren!«Und mit ungeheurem Gepolter fiel das Tor in die Tiefe und brach Äste weg und fiel zu Boden. Wie die Räuber diesen Krach hörten und ein Ungeheuer vom Baum herunterstürzen sahen - so schien das Tor in der dunklen Nacht -, bekamen sie es mit der Angst zu tun und liefen eiligst davon, ließen all ihre Habe liegen und riefen: »Es kommt der Teufel, es kommt der Teufel!«

Als Cuonz sah, daß die Räuber weg waren, nahm er Cuonzessa mit sich und stieg vom Baum herunter. »Diesmal ist's uns gut ergangen«, meinte er. »Die Räuber, die den Krämer beraubt hatten, sind fort und werden jedenfalls nicht mehr zurückkehren. Nun können wir unser Geld nehmen und nach Hause gehen.«Neben dem Geld, das die Räuber dem Hausierer abgenommen hatten, lag noch anderes Geld, das sie andern Leuten gestohlen hatten. Und mit dem ganzen Fund kehrten dann die beiden gegen Morgen müde, aber zufrieden heim.

Und seit jenem Tag war die Cuonzessa viel vernünftiger geworden. Die Schule, die sie in jener Nacht durchgemacht hatte, war gut, und sie machte später keine unnützen Ausgaben mehr, ohne ihren Mann zu fragen. Und nun Märchen, Schwanz der Ziege, Schwanz der Maus, die auf die Mauer kletterte.


Die Geisterküche

Ein Sigrist hatte einen Sohn, der war so wild und so unbändig, daß der Vater mit sich zu Rate ging, wie er seinen Übermut dämmen könnte. Fürs erste stellte er einen Strohmann in den Kirchturm und schickte dann den Knaben bei Nacht in den Turm hinauf, noch die Uhr aufzuziehen. Aber der Junge schlug einfach den Popanz über die Stiege hinunter und brachte ihn lachend in die Stube hereingehuckelt. Da merkte der Vater, hier müsse man etwas Klügeres tun, und er ließ ihn das Schneiderhandwerk lernen, um ihn in die Fremde zu schicken, damit



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er sich hier die Hörner abstoße. Der Junge blieb aber der gleiche. Auf seiner Wanderschaft wollte er einst mitten im Walde in einem einsam liegenden Häuschen übernachten; aber niemand öffnete, und er erbrach zuletzt die Türe. Kein Mensch war drinnen, doch brannte auf dem Tisch ein Licht. Während er sich's dabei bequem machen wollte, kamen zwei Männer in die Stube getreten, die ihn einige Zeit anstutzten, dann aber nach kurzem Gespräch ihm gestanden, das Haus habe gar keinen Herrn mehr; denn es sei gespenstig; ihnen aber diene dieser Umstand dazu, ihre Diebereien hier verbergen zu können. Als der Geselle um das Nähere fragte, vernahm er, eine weiße Frau hüte hier einen Schatz und erscheine regelmäßig um die Geisterstunde. Nun verbündeten sie sich zu dritt, heute diesen Schatz zu heben. Bis Mitternacht war es aber noch lange, der Hunger war nicht gering; und weil die Diebe Mehl und Schmalz im Hause hatten, suchte der Geselle ein Mahl zu richten, machte in der Küche ein Feuer, und in kurzer Zeit küchelte er schon am Herde. Da hörte er, noch ehe die Mitternachtsstunde da war, aus dem Schlot herunter eine Stimme rufen: »Fliehe, oder ich falle!«

»Nur zugefallen!« antwortete er unbesorgt, und gleich fiel ein Schenkel durch den Kamin herab auf den Herd. Er schleuderte denselben in einen Winkel der Küche, tat die Pfanne wieder übers Feuer und röstete weiter an den Schmalzküchlein. Bald hörte er die Stimme aus dem Schlote abermals und gab abermals dieselbe Antwort; da lag der andere Schenkel vor ihm auf dem Herde. Er warf ihn zum ersten, und so ging es fort, bis zuletzt alle Glieder und Stücke eines Menschenkörpers da waren. Sobald er auch den Kopf zu den übrigen Teilen geworfen hatte, fügte sich alles zusammen, ein großer Mann richtete sich hinten in der Küchenecke auf und trat zu ihm heran. Der Bursche fragte ihn höhnisch, wo er denn sein Weib habe? »Sie wird nachkommen«, antwortete der Mann. »Um so besser«, sagte der Geselle, »setze dich also derweilen dort in jene Ecke.« Der Mann gehorchte, und der Geselle trug nun sein fertiges Gebäck auf. Als er mit der Schüssel über den Hausgang in die Stube gehen wollte, kam ihm eine schneeweiße Frau entgegen. »Aha«, sagte er, »das ist wohl diejenige, welche hier den Schatz hütet. Nun ja, so mag sie vorderhand zu Tisch kommen und ihren Mann, der dort im Winkel sitzt, mit hereinbringen.« So ging er mit der Schüssel voran in die Stube, und das Paar folgte ihm. Alle saßen zu Tisch, jedoch wollten die Geister nichts genießen. Nach dem Essen forderte der Geselle die Frau auf, ihm die Mittel anzugeben, wie sie erlöst werden könne, und versprach ihr, standhaft und beherzt bleiben zu wollen. Nun zündete sie ihm bis zu einem altertümlichen Bette voran, in welchem ein gewichtiger



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Schlüssel lag; dieser paßte im Hauskeller zu einer Eisentüre, und nach dreimaligem Umdrehen ging das Schloß auf. Die Frau trat mit dem Licht hinein. Da erblickten sie im Gewölbe einen Hahn mit feurigem Kamm, der sich auf dem Rücken eines gewaltigen Zottelhundes ausspreizte. Der Hund aber kauerte knurrend auf einer großen Kiste, während der Hahn dazu krähte, daß er sich selber fast überpurzelte. Der Schneider ließ sich von allem nicht dumm machen. Aller Grimassen ungeachtet, verscheuchte er erst die Ungetüme und schloß, sobald sie zum Keller draußen waren, die Türe zu. Dann legte er wohlbesonnen sein Schurzfell ab. Mit dem zweiten Schlüssel, den ihm nun die weiße Frau einhändigte, öffnete er die Kiste, und sie lag bis oben voll Gold. Sogleich aber warf der Geselle sein Schurzfell darüber, weil er wußte, daß man jedem Geisterschatze, der nicht mehr entweichen soll, etwas von seinen eigenen Sachen beilegen muß. Kaum war dies geglückt, so sagte er der weißen Frau und ihrem Manne: »Jetzt könnt ihr gehen«, und augenblicklich waren beide verschwunden. Nachher haben sich die drei, der Schneider und die Diebe, in die Schätze friedfertig geteilt, und der alte Sigrist sah seinen Sohn als reichen Mann wiederkehren.