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INHALT
Zur Einführung 5
Gehe dorthin - ich weiß nicht wohin
Bringe das - ich weiß nicht was 9
Der Kristallberg 23
Der böse Riese Werlioschka 28
Die Wahrheit und die Lüge 32
Die sieben tüchtigen Brüder 38
Iwan-Kuhsohn 58
Die weiße Ente 68
Der tapfere Tagelöhner 72
Die Wunderblume 73
Das Märchen vom zänkischen Bauern 84
Vom Elend 85
Der seherische Traum 91
Der Zwerg mit dem Schnurrbart 101
Prinzessin Maria Morewna und der Zauberer 108
Der Eisklumpen 118
Die Sprache der Vögel 121
Die Zarin Frosch 125
Die geschwätzige Frau 131
Der treue Freund 135
Der goldene Berg 144
Die Blinden 147
Das Märchen vom Barsch 150
Tyrkyneku und die schöne Gytinnäu 153
Prinz Iwan und die Harfe 156
Der gierige Kaufmann 169
Der goldene Karpfen 170
Der Vogelzug 174
Der Wolf, der Hund und der Kater 179
Die Nachbarn 181
Blendwerk 1 197
Blendwerk II 198
Schemjaks Richtsprüche 201
Der Töpfer 204
Das kluge Mädchen 206
Das Märchen von der schönen Ajoga 222
Verfolgte Unschuld 225
Gritzko und der Pan 229
Assilak und der Drache 231
Die Katze und das Schaf 236
Och 237
Das Winterlager der Tiere 246
Der Axtbrei 251
Rollerbslein 252
Hund, Wolf und Kater als Gesellen 265
Wie der Bauer mit dem hochmütigen
Gutsherrn zu Mittag aß 268
Der Zauberspielmann 271
Warum der Dachs und der Fuchs in Höhlen wohnen 275
Wie Wassil den Drachen tötete 278
Pilipka, das Söhnchen 281
Das Mädchen und der Mond 286
Der Löwe und der Hase 289
Wie der Bär das Teilen lehrte 291
Der listige Bauer 292
Marco der Reiche und Wasili der Unglückliche 295
Zwitscher hin und zwitscher her 305
Der Vogel Kachka 307
Der kranke Spatz 310
Schneeflöckchen 311


Bd-07-003_Titel Einleitung. Flip arpa

Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker



Bd-07-004_Titel Einleitung. Flip arpa

Nach alten Vorlagen unter Heranziehung

von Texten in englischer und französischer Sprache, die vom Herausgeber unter Mitarbeit von Ursula Rauch übersetzt wurden, ausgewählt und mit einer Einführung versehen von Karl Rauch

Lizenzausgabe mit Genehmigung von Interbooks, Zürich für Verlag Olde Hansen, Hamburg und Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, Gütersloh die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart und die Buchgemeinschaft Donauland, Kremayr &Scheriau, Wien Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch's Verlag Nachf., Berlin -Darmstadt -Wien Schutzumschlag und Einbandgestaltung R. Metke Gesamtherstellung Mohn druck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany Buch-Nr. 8691



Bd-07-005_Titel Einleitung. Flip arpa


ZUR EINFÜHRUNG

Das russische Land ist für unsere Vorstellungen riesenhaft groß. Es umfaßt mitsamt allen ihm neuerdings zugehörenden westlichen Grenz- und Nachbarländern gut die östliche Hälfte von Europa und dehnt sich nach Osten und Norden und südostwärts weithin nach Asien und bis zu den Weltmeeren aus. Urwälder, Steppen und Wüsten folgen riesigen Stadtrevieren und hochindustrialisierten Gebieten. Heute wie je erscheint es von Geheimnissen und undurchdringbarem Nebel umhüllt. Dieses Bild, wie es seit Kindertagen in uns lebt, hat sich innerhalb der nun allmählich zu Ende gehenden siebzig Jahre unseres Jahrhunderts nicht sehr verändert. Grauenhafte Kriege und soziale Umstürze haben die greifbare Wirklichkeit verwandelt. Amerika, von dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unsere Urgroßväter noch sagen konnten, wenn sie es mit ihrer Welt, dem alten Europa, verglichen: »Amerika, du hast es besser!«, das von unseren Großvätern und Vätern noch bestaunt wurde als ein Land »der unbegrenzten Möglichkeiten«, ist uns zufolge der beiden großen Kriege und der gigantischen Beschleunigung des Verkehrs derart nahe gerückt, daß wir im allgemeinen vermeinen, uns dort derart genau auszukennen, als lebten wir da auf heimatlich vertrautem Boden. Flugzeuge bringen uns innerhalb der gleichen und immer geringer werdenden Stundenzahlen heute geradeso rasch nach Moskau oder nach Sibirien wie nach New York oder nach Kanada. Aber während die westliche Welt aufs engste zusammengerückt ist, erscheint uns die innerliche Entfernung gegenüber den östlichen, den russischen Dimensionen ständig fast noch zunehmen, sich steigern zu wollen.

Der russische Mensch spricht wie seine Vorfahren vom geliebten, ihm vertrauten »Mütterchen Rußland«; wir Mitteleuropäer empfinden es nach wie vor anders und weit entfernt -fremd. Vertraut sind



Bd-07-006_Titel Einleitung. Flip arpa

Fabeln und Märchen, ihr Alter und ihre Dauer läßt sich nahe an die Zeit eines Jahrtausends zählen. Die auf uns gekommenen Berichte von dem mächtigen und vermögenden Mann, der sich allabendlich vorm Einschlafen von seinen dienstbaren Geistern und Sklaven die Fußsohlen kitzeln und abenteuerliche Geschichten und wundersame Märchen erzählen ließ, reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück und scheinen den orientalischen Ursprüngen von »Tausendundeiner Nacht«innig verwandt. Die Felsen- und Gebirgswelt des Kaukasus, das Einanderdurchdringen skythischer Zeitenferne und griechischer Sagenwelt mag den einen Ursprungsquell aufzeigen; andere sind vermutlich das antike Byzanz und die Anfänge dessen, was wir gegenwärtig weithin als die orthodoxe Religion bezeichnen. Das eigentliche großrussische Märchengut speist sich daneben aus südund ostslawischen, ukrainischen und weißrussischen Quellen. Vom Norden her gesellen sich sibirische Überlieferungen dazu. Von Bauern, Dorfbewohnern, Handwerkern und Bettlern, aber auch von Fischern, Seeleuten und Händlern sind Märchen von alters her durch alle Lande verbreitet worden. In Rußland haben mittelalterliche Spielleute zu ihrer Ausbreitung beigetragen und sich darauf verstanden, durch Dramatisierung und eine volkstümlich rhythmische Singsangmusik ihre Beliebtheit zu steigern. Die ungeheuerlichen und schier endlosen Waldgebiete ließen Menschen- und Tierwelt dicht zueinander kommen. Nur auf eine so natürlich gewachsene Verwandtschaft sind wohl die meisten Tiermärchen zurückzuführen, und das russische Volk besitzt deren weit mehr als andere europäische Völker.

In frühen Zeiten war es allgemein Brauch, daß Landleute Märchen von Mund zu Mund erzählten und diese von Großeltern auf Enkel überlieferten. Schriftliche Aufzeichnungen sind wohl erst im 18. Jahrhundert aufgekommen. Um etwa 1750 sind dann auch Flugblätter gedruckt und die ersten Illustrationen mit der Hand roh in Holz geschnitten worden.

Puschkin war der erste russische Dichter, der sich aus dem Geiste der Romantik heraus der volkstümlichen Märchen angenommen hat und ihnen Eingang in höfische Kreise vermittelte. Auf eine Aufnahme von ihm stammender Märchen haben wir in unserer Sammlung aus den gleichen Gründen verzichtet, die uns bewegten, in



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Band III Märchen von Andersen und Lagerlöf unbeachtet zu lassen. Erst reichlich vierzig Jahre nach der Großtat der Brüder Grimm in deutschen Landen hat es Alexander Nikolajewitsch Afanassjew, den man mit gutem Recht den Wilhelm Grimm der Russen nennt, zustande gebracht, mehrere Bände von ihm eifrig gesammelter russischer Volksmärchen mit Unterstützung einer gelehrten Gesellschaft zum Druck zu bringen. (Die ersten drei Bändchen, denen nachher noch weitere fünf folgen konnten, erschienen in den Jahren 1855-1857.) Sie entstammten sehr unterschiedlichen Landschaften, bevorzugten teils heroisch legendäre, teils orientalisch phantastische Stoffe und bezogen häufig derbe, grobianische Schwänke ein. Die schönsten von ihnen lieben Gespräche und naive Unterhaltung, zeichnen sich durch eine urwüchsig bilderreiche Sprache aus und nehmen auch klangvoll schöne Wiederholungen und drastisch volkhafte Sprichwörterweisheit auf. Es gibt daneben auch solche, deren Handlung sich überaus langsam, ja hölzern abwickelt und mitunter sich trockener, papierener Wendungen bedient. Es darf bei deren Lesen niemals vergessen werden, daß der ursprüngliche Erzähler sein mündlich vorgetragenes Wort zusätzlich durch eine lebhafte Dramatisierung, durch bewegtes Mienenspiel und Gesten zu ergänzen verstanden hat und damit die erregte Spannung seiner Zuhörer zu steigern wußte.

Das russische Märchen bezieht zahlreiche Varianten aus der Märchenwelt anderer Völker ein; man braucht nur ans Stiefmuttermotiv, an Hänsel und Grete!, den Däumling, den Gestiefelten Kater, Menschenkinder von tierischer Abkunft und anderes zu denken. Die grausige und oft auch groteske Baba-Jaga gehört zu den absonderlichsten Eigenheiten des russischen Märchens. Bäurische Lügenmärchen hat der russische Mensch von je besonders gern, doch liebt er über alles und in vielfältigen Variationen Märchen vom Volk, das von der Natur, von Geistern, von Tyrannen oder Göttern gestraft und durch tausenderlei Heimsuchungen und Nöte gepeinigt wird, dem nach langen Drangsalen endlich ein jugendlicher, tapferer Held erwächst, der es siegend der ersehnten Freiheit zuführt. Daß diesen uralt-überlieferten, heroischen und mythischen Stoff auch die völker-und weltbefreiende Heilslehre des Bolschewismus sich zunutze zu machen versucht, ist leicht verständlich.



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Neuerdings hat Alexei N. Tolstoi russische Volksmärchen erneuert und nacherzählt. Wir haben mit Vergnügen Auszüge auch aus seinen Sammlungen in unsere Ausgabe übernommen und beschließen unsere Einführung mit dem hübschen »Vormärchen«, das er seinem Band voranstellte:


Ein Vormärchen

Weit draußen im Meer, im Ozean, auf der Insel Bujan steht seit uralten Zeiten der Goldwipfelbaum. Auf diesem mächtigen Baume lebt und raunzt der uralte Kater Bajun, der immer ein Liedchen schnurrt, wenn er an Stamm und Ästen hinaufklettert, und jeweils ein Märchen erzählt, wenn er abwärts stapft. Dies, was hier erzählt wird, ist noch kein richtiges Märchen - nur erst ein Vormärchen. Das Märchen selber kommt noch. Es wird erzählt werden vom frühen Morgenrot bis in den späten Nachmittag und die Zeit der absinkenden Sonne hinein. Zuvor aber wollen wir uns erst noch am kräftigen, frischgebackenen Brote laben.

K.R.



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Gehe dorthin - Ich weiß nicht wohin Bringe das - Ich weiß nicht was

In einem Königreich am blauen Meer lebte einmal ein König. Er war nicht verheiratet. In einem seiner Regimenter, die für ihn auf die Jagd zogen, Vögel schossen und die königliche Tafel versorgten, diente auch ein junger Mann mit Namen Fedot als einfacher Schütze. Er traf stets mitten ins Ziel und schoß niemals daneben. Deshalb schätzte ihn der König mehr als alle seine übrigen Untergebenen. Eines Tages nun ging Fedot schon früh bei Morgengrauen auf Jagd. Er kam in einen finsteren dichten Wald und sah da auf einem Baum eine Taube sitzen. Fedot spannte den Bogen, zielte und schoß —aber sein Schuß streifte den Flügel des Vogels nur leicht. Der Vogel jedoch fiel zur Erde. Der Schütze hob ihn auf, wollte ihm den Kopf abreißen und ihn in seine Tasche stecken. Da fing die Taube an zu reden:

»Ach, lieber junger Schütze! Reiße mir das Köpfchen nicht ab und verbanne mich nicht aus dieser so schönen Welt! Bringe mich lebendig zu dir nach Hause und setze mich dort aufs Fensterbrett. Sobald dann der Schlaf über mich kommt, schlage mich leicht mit dem Rücken deiner rechten Hand, und du wirst ein großes Glück erfahren!«

Der Schütze war höchst verwundert. >Was ist das?<dachte er, >von außen ist's ganz ein Vogel und spricht doch mit menschlicher Stimme! Bisher ist mir so etwas nie begegnet.<

Er brachte den Vogel heim, setzte ihn aufs Fensterbrett und wartete. Nach einiger Zeit schob die Taube ihr Köpfchen unter den Flügel und schlief ein. Da erhob der Schütze die rechte Hand und schlug das Täubchen leicht mit dem Handrücken. Die Taube fiel zur Erde und verwandelte sich in ein Mädchen von ganz unbeschreibbarer Schönheit.

Es sagte zu dem wackeren Jungen, dem königlichen Schützen: »Du



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hast mich erjagen können, nun darfst du auch mit mir leben. Werde mein mir vom Schicksal erwählter Gatte, und ich will dir deine von Gott zubestimmte Gattin sein!«

So taten sie auch; Fedot heiratete, lebte für sich und erfreute sich an seiner jungen Frau. Darüber aber vergaß er nicht seinen Dienst. An jedem Frühmorgen noch in der Dämmerstunde griff er nach seinem Bogen und ging in den Wald, schoß dieses und jenes Wild und brachte es zur königlichen Küche.

Seine Frau aber sah, daß ihn diese Jagerei stark ermüdete, und sie sagte zu ihm: »Höre zu, mein Lieber! Du tust mir leid. An jedem Tag, den Gott uns schenkt, schweifst du in Wäldern und Sümpfen umher und kommst meist pitschnaß nach Hause, aber wir haben davon keinen rechten Nutzen. Was ist das schon für ein Handwerk! Doch höre, ich selber verstehe mich auf eines, das uns Nutzen bringen kann. Besorge dir zweihundert Rubel, das andere schaffen wir dann schon.«

Fedot wandte sich an seine Kameraden. Bei dem einen lieh er sich einen, bei dem anderen zwei Rubel und brachte genau zweihundert Rubel zusammen.

»Jetzt«, sagte sie, »kaufe du für das ganze Geld verschiedene Arten von Seide.«Der Schütze kaufte für zweihundert Rubel verschiedene Seiden.

Die Frau nahm sie und sagte: »Kümmere dich nicht, bete und leg dich schlafen. Der Morgen ist klüger als der Abend!«

Der Mann legte sich zur Nachtruhe, die Frau aber trat auf die Freitreppe hinaus, schlug ihr Zauberbuch auf, und alsbald erschienen vor ihr zwei Jünglinge.

»Was wünschst du? Befiehl!«

»Nehmt diese Seide hier und macht mir in einer Nacht einen Teppich, einen so wunderbaren, wie er in der ganzen Welt noch nicht gesehen worden ist. In den Teppich muß das ganze Königreich eingewebt sein mit allen Städten, Dörfern, Flüssen und Seen.«

Sie machten sich an die Arbeit und fertigten einen ganz wunderbaren Teppich an. Am Morgen übergab ihn die Frau ihrem Mann.

»Hier nimm«, sagte sie, »trage ihn zum Markt und verkaufe ihn an die Kaufleute, aber beachte genau: Verlange ja keinen Preis, sondern nimm willig das, was sie dafür geben.«



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Fedot nahm den Teppich, legte ihn zusammen, hängte ihn über den Arm und ging durch die Gassen zum Markt. Ein Kaufmann sah ihn, ging zu ihm hin und fragte: »Höre, mein Lieber, verkaufst du das?«

»Ja.«

»Was soll der Preis sein?«

»Du bist ein Handelsmann, setze nur du den Preis fest.«

Der Kaufmann dachte, grübelte und rechnete und konnte einfach den Wert des Teppichs nicht schätzen. Da kam ein anderer Kaufmann hinzu, dann ein dritter und vierter - und schließlich standen eine ganze Anzahl von Händlern beisammen: sie beschauten den Teppich, bewunderten ihn, konnten aber seinen Wert nicht schätzen.

Indessen ging der königliche Tafeldecker an den Verkaufsständen vorüber, sah die Händler miteinander reden und wollte wissen, worüber sie sich unterhielten. »Wir können uns für einen Teppich über den Preis nicht einigen.«

Der Tafeldecker schaute den Teppich genau an und geriet vor Verwunderung völlig außer sich.

»Höre, Schütze!« sagte er. »Sprich mir die Wahrheit und sage aufrichtig, wo hast du diesen wunderbaren Teppich her?«

»Meine Frau hat ihn angefertigt.«

»Was soll ich dir dafür geben?«

»Den Preis weiß ich selber nicht; meine Frau hat mir befohlen, nicht zu handeln und zu nehmen, was man gibt -das soll dann uns gehören.«

»Gut, dann gebe ich dir gern zehntausend.«

Der Schütze nahm das Geld und gab ihm den Teppich. Dieser Tafeldecker aber war ständig um den König - er aß und trank mit ihm auch am Tisch. Auch an diesem Tag fuhr er zum König zum Mittagessen und nahm den Teppich mit: »Wollen Eure Hoheit sehen, was für einen Teppich ich heute gekauft habe?«

Der König schaute - und sah da sein ganzes Reich wie auf einer Handfläche. »Oh«, rief er voller Staunen, »das ist mir aber ein Teppich! In meinem ganzen Leben habe ich ein solches Kunstwerk nicht gesehen! Mach, was du willst, den Teppich gebe ich dir nicht wieder.«

Der König nahm fünfundzwanzigtausend und übergab sie dem Tafeldecker,



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den Teppich selber aber hängte er in seinem Schloß auf. >Macht nichts<, dachte der Tafeldecker, >ich werde mir einen anderen, noch besseren bestellen.<

Sogleich ritt er zum Schützen, fand sein Häuschen und ging ins Giebelzimmer. Aber kaum daß er die Frau des Schützen gesehen hatte, da vergaß er sich selber und alle seine Angelegenheiten. Nur mit großer Anstrengung riß er sich los und ging zu Fuß nach Hause. Er wußte von diesem Zeitpunkt an nicht mehr, was er tat: bei Tag und Nacht dachte er nur noch an die schöne Schützenfrau.

Der König merkte das und fragte ihn: »Was ist so plötzlich über dich gekommen? Hast du etwa irgendeinen Kummer?«

»Ach, Väterchen König, ich habe bei dem Schützen eine Frau gesehen-eine solche Schönheit gibt es in der ganzen Welt nicht mehr!«

Dem König kam die Lust an, sich selbst zu ergötzen, und er fuhr in das Lager der Schützen. Er betrat die Hütte und sah eine unbeschreibbare Schönheit. Eine heiße Leidenschaft erfaßte ihn.

>Warum<, dachte er bei sich, >lebe ich eigentlich als Junggeselle? Ich will diese Schönheit heiraten. Warum soll sie die einfache Frau eines Schützen sein? Ihrer Natur nach ist sie zur Königin geboren.<

Der König kehrte ins Schloß zurück und sagte zum Tafeldecker: »Höre! Du hast mir die Frau des Schützen, diese unbeschreibbare Schönheit, zeigen können, jetzt mußt du ihren Mann fortbringen. Ich selber will diese Frau heiraten .

Wenn du ihn aber nicht rasch fortbringst, dann mach dir nur gleich selber Vorwürfe. Wenn du auch mein getreuer Diener bist, so wirst du dann doch an den Galgen kommen!«

Der Tafeldecker ging fort und war noch trauriger als zuvor. Er wußte nicht, was er mit dem Schützen anstellen sollte. Er ging verwirrt über unbebaute Plätze und durch verwinkelte Gassen. Da begegnete ihm ein ärmliches altes Weib und sagte: »Halt, königlicher Diener, ich erkenne alle deine Gedanken und Sorgen. Willst du, daß ich dir in deinem großen Kummer helfe?«

»Hilf mir, Großmütterchen! ich zahle dir, was du verlangst.«

»Du hast den königlichen Befehl, den Schützen Fedot zu entfernen. Da ist nichts Großes dabei. Er selber ist ein einfacher Mensch, aber seine Frau ist sehr schlau. Wir werden ein Rätsel ersinnen, das nicht so bald zu lösen ist. Geh zum König und sage, er möge den Schützen



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schicken: dorthin -ich weiß nicht wohin, zu bringen das - ich weiß nicht was. Diese Aufgabe wird er sicherlich in alle Ewigkeit nicht zu erfüllen vermögen. Entweder geht er spurlos verloren, oder er kommt mit leeren Händen zurück.«

Der Tafeldecker belohnte die Alte mit Gold und eilte zum König. Der hörte ihn an und ließ den Schützen herbeirufen.

»Fedot! Du bist ein wackerer Mann, bist mir der erste Schütze im Regiment. Erweise mir jetzt einen besonderen Dienst: Gehe dorthin — ich weiß nicht wohin, bring mir das - ich weiß nicht was! Aber wisse, wenn du es nicht bringst; hier ist mein Schwert, und dir kommt der Kopf von den Schultern.«

Der Schütze machte linksum kehrt und ging aus dem Schloß. Nachdenklich und traurig kam er nach Hause. Da fragte ihn die Frau: »Warum bist du so bekümmert, mein Lieber? Hast du einen Verdruß?«

»Der König schickt mich - ich weiß nicht wohin, und befiehlt zu bringen das -ich weiß nicht was. Um deiner Schönheit willen werde ich alles Unglück ertragen?«

»Ja, das ist keine kleine Aufgabe. Um dorthin zu gelangen, muß man neun Jahre hin- und neun Jahre zurückgehen, das macht achtzehn Jahre, ob es aber einen Sinn hat, das weiß Gott allein.«

Was tun? Was anfangen?

»Bete und leg dich schlafen, der Morgen ist klüger als der Abend, morgen wirst du alles erfahren.«

Der Schütze legte sich schlafen. Die Frau aber erwartete die Mitternacht, schlug ihr Zauberbuch auf, und sogleich erschienen vor ihr zwei Jünglinge.

»Was wünschest du? Was brauchst du?«

»Wißt ihr nicht, wie man es fertigbringt, zu gehen dorthin -ich weiß nicht wohin, zu bringen das - ich weiß nicht was?«

»Nein, das wissen wir nicht!«

Sie schlug das Buch zu, und die Jünglinge verschwanden wieder. Am Morgen weckte die Schützenfrau ihren Mann: »Geh zum König und verlange einen Goldschatz auf den Weg. Du mußt ja achtzehn Jahre lang wandern. Wenn du das Geld bekommen hast, komme wieder zu mir, damit wir Abschied nehmen.«

Der Schütze ging zum König, empfing einen ganzen Haufen Gold



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und ging dann zu seiner Frau, um sich zu verabschieden. Sie gab ihm ein Handtuch und einen kleinen Spielball und sagte: »Wenn du aus der Stadt hinauskommst, dann wirf diesen Ball vor dich hin. Wohin er rollt, genau dorthin gehe auch du. Und hier hast du noch eine Handarbeit von mir: Wo du auch bist und dich wäschst, trockne immer dein Gesicht nur mit diesem Handtuch ab.«

Der Schütze nahm Abschied von seiner Frau und seinen Kameraden, verneigte sich nach allen vier Seiten und ging durch den Schlagbaum. Dort warf er den Ball weg. Dieser rollte dahin, und er folgte seiner Spur.

Ein Monat verging, da rief der König den Tafeldecker und sagte zu ihm: »Der Schütze ist fortgegangen, um sich achtzehn Jahre in der Welt herumzutreiben. Vermutlich ist er nicht mehr am Leben. Achtzehn Jahre sind weit mehr als zwei Wochen. Was kann da unterwegs alles passieren? Geh ins Lager der Schützen und bringe seine Frau zu mir aufs Schloß.«

Der Tafeldecker ging ins Lager zu der schönen Schützenfrau, trat in die Hütte und sagte: »Guten Tag, du Kluge! Der König hat mir befohlen, dich ins Schloß zu bringen.«

Sie kam ins Schloß und wurde vom König freudig begrüßt. Er führte sie in seine vergoldeten Zimmer und fragte sie: »Willst du Königin sein? Ich werde dich zur Frau nehmen.«

»Wo ist das jemals gesehen und gehört worden, daß man einem lebenden Mann seine Frau wegnimmt? Sei es, wie es wolle, wenn er auch nur ein einfacher Schütze ist, aber er ist doch mein rechtmäßiger Mann.

»Wenn du nicht freiwillig kommst, werde ich dich mit Gewalt nehmen!«

Da lachte die schöne Frau, stampfte auf den Boden, verwandelte sich in eine Taube und flog zum Fenster hinaus.

Viele Reiche und Länder durchwanderte der Schütze. Der Ball rollte immer vor ihm her. Wo sie an einen Fluß kamen, dort bildete er eine Brücke; wo der Schütze ausruhen wollte, dort breitete der Ball ein Daunenbett aus. Endlich gelangte der Schütze zu einem großen, prächtigen Schloß. Dort rollte der Ball durchs Tor und war verschwunden.

Der Schütze dachte lange Zeit nach.



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>Jetzt gehe ich einfach geradeaus!< sagte er sich und ging über die Treppe in ein Zimmer. Dort begegneten ihm drei schöne Mädchen. »Woher und warum, guter Mann, bist du gekommen?«

»Ach, ihr schönen Mädchen, hättet ihr mich nicht zuerst mal von meinem anstrengenden Weg ausruhen lassen und später fragen können? Gebt mir lieber zuerst mal Essen und Trinken und führt mich ins Bett. Dann fragt mich nach Neuigkeiten.«

Sie holten sofort einen Tisch herbei, ließen ihn Platz nehmen, speisten ihn und brachten ihn in ein Bett.

Nachdem der Schütze ausgeschlafen hatte, stand er aus seinem weichen Bett auf. Die schönen Mädchen brachten ihm eine Waschschüssei und ein Handtuch. Er wusch sich mit dem Quellwasser, aber das Handtuch nahm er nicht an.

»Ich habe mein eigenes Handtuch zum Abwischen des Gesichtes«, sagte er.

Er nahm das Handtuch und trocknete sich ab. Da fragten ihn die schönen Mädchen:

»Guter Mann! Sage, wo hast du dieses Handtuch her?«

»Das hat mir meine Frau gegeben.«

»Da bist du also mit unserer eigenen Schwester verheiratet.«

Sie riefen ihre alte Mutter herbei, und als sie das Handtuch sah, erkannte sie es sofort: »Das ist eine Handarbeit meines Töchterleins!«

Sie fragte den Fremden aus, und er erzählte alles, wie er ihre Tochter geheiratet habe und wie ihn der König geschickt habe, dorthin -ich weiß nicht wohin, zu bringen das - ich weiß nicht was.

»Ach, Schwiegersöhnchen! Von diesem Wunder habe nicht einmal ich etwas vernommen! Warte, vielleicht wissen meine Diener etwas davon.«

Die Alte holte ihr Zauberbuch hervor, schlug es auf, und sofort standen zwei Riesen vor ihr: »Was wünschest du? Was brauchst du?«

»Hört ihr, meine treuen Diener! Bringt mich mit meinem Schwiegersohn auf das weite Meer und haltet gerade in der Mitte, wo es am tiefsten ist.«

Sogleich ergriffen die Riesen den Schützen und die Alte und brachten sie wie ein Wirbelwind auf das weite Meer und machten in dessen



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Mitte halt. Dort standen sie wie zwei Säulen und hielten den Schützen und die Alte in ihren Händen. Jetzt schrie die Alte mit lauter Stimme, und alle Fische und Meerungeheuer kamen zu ihr herangeschwommen. Es wimmelte nur so von ihnen. Vom Meer war gar nichts mehr zu sehen! »Heißa, ihr Fische und Meerungeheuer! Ihr schwimmt überall herum, habt ihr nicht gehört, wie man gehen kann dorthin - ich weiß nicht wohin und bringen das - ich weiß nicht was?«

Alle Ungeheuer und Fische antworteten einstimmig: »Nein, davon haben wir nichts gehört!«

Auf einmal aber drängte sich ein alter krummbeiniger Frosch nach vorne und sagte: »Quack, quack! Ich weiß, wo ein solches Wunder zu finden ist!«

»Gut, mein Lieber, da kann ich dich brauchen!«sagte die Alte, nahm den Frosch und befahl den Riesen, sie und den Schwiegersohn nach Hause zu tragen. Im Nu waren sie wieder im Schloß.

Dort fragte die Alte den Frosch: »Wie und auf welchem Weg muß mein Schwiegersohn gehen?« Der Frosch antwortete: »Dieser Ort liegt am Rande der Welt -weit -weit! Ich hätte ihn wohl selber hingeführt, aber ich bin schon sehr alt und kann kaum meine Beine dahin schleppen. Ich würde in fünfzig Jahren nicht hinspringen.« Da brachte die Alte eine große Büchse, goß frische Milch hinein, setzte den Frosch dort hinein und gab sie dem Schwiegersohn:

»Trage diese Büchse in der Hand, der Frosch soll dir den Weg zeigen.«

Der Schütze nahm die Büchse mit dem Frosch, verabschiedete sich von der Schwiegermutter und den Schwägerinnen und machte sich auf die Reise. Der Frosch zeigte ihm den Weg. Ober kurz oder lang kamen sie an einen feurigen Fluß. In dessen Nähe stand ein hoher Berg, an dem eine Tür zu sehen war.

»Quack, quack«, sagte der Frosch, »laß mich aus der Büchse, wir müssen über den Fluß hinüber.«

Der Schütze nahm ihn heraus und setzte ihn auf den Boden.

»Jetzt, guter Jüngling, setze dich auf mich, aber fest, hab keine Angst, du erdrückst mich nicht!«

Der Schütze setzte sich auf den Frosch und drückte ihn ganz zu Boden. Der Frosch aber begann zu schnauben und wurde so groß wie



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ein Heuschober. Der Schütze hatte nur den einen Gedanken, daß er nicht herunterfalle.

»Wenn ich herunterfalle, wird es mein Tod sein!«

Der Frosch schnaubte und sprang -mit einem Sprung setzte er über den feurigen Fluß und wurde wieder ganz klein.

»Jetzt, guter Mann, geh zu dieser Tür. Ich aber werde hier auf dich warten. Du kommst in eine Höhle, dort verstecke dich gut. Nach kurzer Zeit werden zwei alte Männer hereinkommen. Höre genau, was sie sagen und tun, und wenn sie fort sind, so rede und tue desgleichen!«

Der Schütze ging zu dem Berg hin und öffnete die Tür. Aber in der Höhle war es so finster, daß man sich die Augen ausstoßen konnte. Er kroch auf allen Vieren und tastete herum. Endlich fand er einen leeren Schrank, setzte sich hinein und machte ihn zu.

Nach kurzer Zeit kamen zwei alte Männer und sagten: »Heda, Schmat-Kluger, gib uns zu essen!«

Im selben Augenblick -wunderbar! —brannten Lüster, klapperten Schüssel und Teller, und auf einem Tisch erschienen vortreffliche Weine und Speisen.

Die Alten aßen und tranken und befahlen dann: »Heda, Schmat-Kluger, räum alles weg!«

Im Nu war alles fort, der Tisch, der Wein, das Essen, und alle Lüster waren wieder gelöscht.

Der Schütze hörte, daß die beiden Alten fortgingen, kroch aus dem Schrank und schrie: »Heda, Schmat-Kluger!«

»Was wünschest du?«

»Füttere mich!«

Wieder brannten die Lüster, und der Tisch war mit allen möglichen Speisen und Getränken bedeckt.

Der Schütze setzte sich zu Tisch und sagte: »Ei, Schmat-Kluger! Da, Bruder, setz dich zu mir, wir wollen mitsammen essen und trinken, einem allein wird es sonst langweilig.«

Da antwortete die Stimme eines Unsichtbaren: »Heda, du guter Mann! Woher hat dich der liebe Gott gebracht? Jetzt sind es schon bald dreißig Jahre, daß ich den beiden Alten treu und ehrlich diene, aber die ganze Zeit haben sie mich niemals zu sich hinsetzen lassen.«



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Der Schütze schaute verwundert: Niemand war zu sehen, aber die Speisen flogen von den Tellern weg, als würden sie mit einem Besen heruntergefegt. Die Weinflaschen erhoben sich von selber und füllten die Gläser. Sie waren leer, bevor man sich dessen versah!

Der Schütze aß, trank und sagte: »Höre, Schmat-Kluger! Willst du mir dienen? Bei mir hast du ein gutes Leben!«

»Warum nicht? Ich habe es hier schon lange satt. Du bist, wie ich sehe, ein guter Mann.«

»Also räume alles zusammen, dann wollen wir gehen.«Der Schütze ging aus der Höhle heraus, blickte sich um, sah aber niemanden. »Schmat-Kluger, bist du da?«

»Ich bin da. Du brauchst keine Angst zu haben, ich gehe von dir nicht fort.«

»Gut«, sagte der Schütze und setzte sich auf den Frosch. Der blähte sich auf und sprang über den Feuerfluß. Dann setzte ihn der Schütze in die Büchse und ging den gleichen Weg zurück. Als er zur Schwiegermutter gekommen war, ließ er die Alte und die Töchter von seinem neuen Diener bewirten. Schmat, der Kluge, bewirtete sie so, daß die Alte vor lauter Freude fast zu tanzen angefangen hätte. Sie befahl, dem Frosch als Lohn für seine treuen Dienste täglich drei Schalen Milch zu geben. Jetzt verabschiedete sich der Schütze wieder von seiner Schwiegermutter und machte sich auf den Heimweg. Er ging lange und wurde furchtbar müde, seine schnellen Füße waren ganz schlapp, und die weißen Hände hingen ihm herunter: »Ach«, sagte er, »wenn du eine Ahnung hättest, wie müde ich bin! Meine Füße sind so matt.«

»Warum hast du mir das nicht schon längst gesagt? Ich hätte dich ganz schnell an Ort und Stelle gebracht.« Sogleich erfaßte er den Schützen wie in einem wilden Wirbelsturm und trug ihn so schnell durch die Luft fort, daß ihm die Mütze vom Kopfe fiel.

»Hallo, Schmat-Kluger! Warte eine Minute, mir ist meine Mütze heruntergefallen.«

»Zu spät hast du das bemerkt, Herr! Deine Mütze liegt jetzt fünftausend Werst von hier.«

Städte und Dörfer, Flüsse und Wälder huschten nur gerade so unter den Füßen des Schützen vorüber. . . Jetzt flog er über dem tiefen Meer, da sagte Schmat, der Kluge, zu ihm: »Soll ich dir auf diesem



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Meer eine goldene Laube errichten? Da kannst du ausruhen und dein Glück erlangen.«

»Also mach eine«, sagte der Schütze und ließ sich auf das Meer nieder. Dort, wo vor einer Minute noch die Wogen geplätschert hatten —da erschien jetzt eine Insel, und auf dieser Insel war eine goldene Laube.

Schmat, der Kluge, sagte zum Schützen: »Setze dich in die Laube, ruh dich aus und schaue auf das Meer hinaus. Es werden drei Kauffahrteischiffe vorüberfahren und an der Insel anhalten. Rufe die Kaufleute herbei, bewirte sie und tausche mich gegen die drei Wunderdinge um, die sie bei sich haben. Ich werde zur rechten Zeit wieder zu dir zurückkommen!«

Der Schütze sah sich um - und tatsächlich kamen von Westen her drei Schiffe geschwommen.

Die Schiffer sahen die Insel mit der goldenen Laube und sagten: »Was ist das für ein Wunder! Wir sind doch schon oft und oft hier gefahren, und es war nichts da als Wasser; jetzt ist auf einmal eine goldene Laube da. Halten wir zum Ufer hin, Brüder, und schauen uns das an!«

Sogleich rafften sie die Segel und ließen den Anker fallen. Die drei Kaufherren setzten sich in einen leichten Kahn und fuhren zur Insel hin. »Guten Tag, lieber Mann!«

»Guten Tag, ihr Kaufleute, Handelsmänner! Kommt nur zu mir, geht spazieren, seid lustig, haltet Rast. Diese Laube ist eigens für fremde Seefahrer errichtet.«

Die Kaufleute gingen in die Laube und setzten sich dort auf eine Bank.

»Heda, Schmat-Kluger«, schrie der Schütze, »gib uns zu essen und zu trinken!«

Da erschien ein Tisch, auf dem Essen und Trinken stand, was das Herz begehrt - alles war im Nu da!

Die Kaufleute schrien vor Verwunderung auf: »Komm«, sagten sie, »laß uns tauschen! Du gibst uns deinen Diener und nimmst von uns das Wunderding, das dir am liebsten ist.«

»Was habt ihr denn für Wunderdinge?«

»Schau her, und du wirst sehen!«

Da nahm einer der Kaufleute eine kleine Schachtel aus der Tasche,



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und kaum hatte er sie geöffnet, da bedeckte auch schon die ganze Insel ein lieblicher Garten mit Blumen und Wegen. Er machte die Schachtel zu, und alles war verschwunden. Der andere Kaufmann holte ein Beil hervor und fing an zu schlagen: eins, zwei - und ein Schiff stand da! Eins, zwei - noch ein Schiff! Hundertmal schlug er —hundert Schiffe hatte er gemacht, mit Segeln, Kanonen und Matrosen, die aus den Kanonen schossen und den Kaufmann um seine Befehle befragten . . . Nachdem er sich genug daran erfreut hatte, verbarg er sein Beil wieder, und die Schiffe waren verschwunden, als wären sie nie dagewesen!

Der dritte Kaufmann zog ein Horn heraus und blies hinein. Da tauchten Krieger auf: Fußsoldaten und Reiter, mit Gewehren und Fahnen.

Dazu rauschte Musik, und die Kriegsausrüstung dieser Regimenter leuchtete in der Sonne wie Feuer. Der Kaufmann war befriedigt, nahm das Horn und blies am anderen Ende hinein -alles war verschwunden.

»Eure Wunderdinge sind gut, aber ich kann sie nicht brauchen!« sagte der Schütze. »Soldaten und Schiffe -das sind Sachen für einen König, aber ich bin ein einfacher Schütze. Wenn ihr mit mir tauschen wollt, so gebt mir für meinen einzigen unsichtbaren Diener alle drei Sachen. «

»Ist das nicht zuviel?«

»Wie ihr wollt, aber anders mag ich nicht tauschen.«

Die Kaufleute überlegten:

»Was nützen uns der Garten, die Soldaten und die Kriegsschiffe? Es wird besser sein, wenn wir tauschen. Auf jeden Fall werden wir dann ohne Mühe stets gesättigt und getränkt werden.«

Sie gaben dem Schützen ihre Wunderdinge und sagten: »Heda, Schmat-Kluger, wir nehmen dich mit uns, wirst du uns treu und ehrlich dienen?«

»Warum nicht? Mir ist es ganz gleich, bei wem ich lebe.«

Die Kaufleute kehrten zu ihren Schiffen zurück und bewirteten gleich alle Schiffsleute.

»Jetzt los, Schmat-Kluger, rühr dich!«

Alle wurden betrunken und fielen in einen tiefen Schlaf. Der Schütze aber saß nachdenklich in der goldenen Laube und sagte: »Ach, es ist



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mir leid um den treuen Diener, Schmat, den Klugen, wo ist er jetzt?«

»Hier bin ich, Herr!«

Da freute sich der Schütze und sagte: »Ist es nicht Zeit, heimzueilen?«

Kaum hatte er das gesagt, da erfaßte ihn ein wilder Wirbel und trug ihn durch die Lüfte.

Die Kaufleute erwachten und wünschten nach ihrem Rausch etwas zu trinken: »Heda, Schmat-Kluger! Gib uns etwas gegen unseren Katzenjammer!«

Aber niemand antwortete, niemand gehorchte. So sehr sie auch schreien und befehlen mochten, es war immer das gleiche.

»Nun, ihr Herrschaften, dieser Schlaukopf hat uns angeführt. Jetzt mag ihn der Teufel finden! Auch die Insel mit der goldenen Laube ist verschwunden.«

Die Kaufleute jammerten sehr, spannten die Segel und fuhren ihrem Ziele zu.

Der Schütze aber flog in sein Reich und ließ sich am Meeresufer auf einem freien Platze nieder.

»Höre, Schmat-Kluger! Kann man hier ein Schloß bauen?«

»Warum nicht? Es wird gleich fertig sein.«

Im Nu stand ein wunderbares Schloß da, zweimal schöner als das des Königs. Der Schütze öffnete die Schachtel, und um das Schloß herum entstand ein Garten mit kostbaren Bäumen und wundervollen Blumen. Da setzte sich der Schütze ans Fenster und schaute freudig in seinen Garten hinunter.

Auf einmal flog eine Taube ins Fenster, ließ sich auf den Boden nieder und verwandelte sich in seine junge Frau. Sie umarmten und begrüßten einander. Die Frau aber sagte zum Schützen: »Seitdem du aus dem Haus gegangen bist, bin ich immer als graue Taube in den Wäldern und Sümpfen herumgeflogen. Jetzt aber werden wir mitsammen gut leben!«

Am Morgen des anderen Tages trat der König auf seine Freitreppe und schaute aufs blaue Meer hinaus. Da sah er: Am Meeresufer stand ein neues Schloß und rund herum ein grüner Garten.

»Was ist das für ein frecher Kerl, dem es eingefallen ist, ohne mich zu fragen, auf meinem Grund etwas aufzubauen?«



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Die Eilboten rannten hin, erkundigten sich und meldeten, daß dieses Schloß von dem Schützen erbaut worden sei und er selbst mit seiner Frau dort wohne. Da wurde der König noch zorniger. Er befahl Soldaten zu sammeln, ans Meeresufer zu marschieren, den Garten von Grund aus zu zerstören, daß Schloß zu zertrümmern, den Schützen aber und seine Frau ihm vorzuführen.

Als der Schütze sah, daß eine starke Streitmacht gegen ihn anrückte, zog er rasch das Beil hervor: eins, zwei -ein Schiff war da. Hundertmal schlug er- und machte hundert Schiffe. Dann nahm er das Horn und blies einmal hinein -da strömten Fußsoldaten herbei, er blies noch einmal - und es erschien die Reiterei. Die Führer aller Regimenter eilten zu ihm und fragten nach seinen Befehlen. Jetzt befahl der Schütze, die Schlacht zu beginnen:

Musik rauschte, die Trommeln wirbelten, die Regimenter marschierten auf das königliche Heer los. Die Fußsoldaten durchbrachen seine Front, die Reiterei schlug von den Seiten drauf ein und machte Gefangene. Aus den Schiffen aber wurde mit Kanonen in die Hauptstadt hineingeschossen. Als der König sah, daß sein Heer floh, stürzte er sich selber nach vorn, um es aufzuhalten -aber vergeblich! Ehe er sich dessen versah, war er mit einem Schwertstreich vom Pferd geschlagen und in der Menge zertrampelt. Als der Kampf vorüber war, versammelte sich das Volk und bat den Schützen, er möge das Reich in seine Hände nehmen. Er willigte ein und sein ganzes Leben lang herrschte er in Frieden.


Der Kristallberg

In einem Königreich lebte einmal ein König, der hatte drei Söhne. Eines Tages sagten die Kinder zum Vater: »Lieber Herr-Väterchen, Väterchen, segne uns, wir wollen in die weite Welt reiten, uns die Menschen anschauen, uns selber ihnen zeigen und unser Glück suchen!«

Der Vater segnete sie, und sie ritten nach verschiedenen Richtungen davon.

Der jüngere Sohn, Prinz Iwan, verirrte sich noch am selben Tage. Er ritt im Wald umher und gelangte zu einer Lichtung. Dort lag ein totes Pferd, und neben diesem Aas hatte sich eine Unzahl aller möglichen



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Tiere, Vögel und Schlangen versammelt. Als die Tiere den Prinzen Iwan sahen, trennte sich von den Vögeln ein heller Falke, flog zu ihm hin, setzte sich auf seine Schulter und sagte: »Prinz Iwan! Teile du für uns dieses Pferd; es liegt schon sehr lange hier, und wir alle streiten uns darum, denn wir wissen einfach nicht, wie wir es teilen sollen.«

Der Prinz stieg vom Pferd und teilte das Aas: den wilden Tieren gab er die Knochen, den Vögeln das Fleisch, die Haut den Schlangen, den Kopf aber den Ameisen.

»Danke, Prinz Iwan!« sagten alle mit einer Stimme: die wilden Tiere, die Vögel und die Schlangen. »Für diesen Dienst kannst du jetzt auf die Liebe der Tiere, der Vögel und der Schlangen rechnen. Du brauchst nur zu sagen: Ich will ein lichter Falke sein und unter dem Himmel dahinfriegen, oder: Ich will eine kleine Ameise sein und an den Gräschen herumkriechen -dein Wunsch wird in Erfüllung gehen.«

Prinz Iwan dankte den Tieren, den Vögeln und den Schlangen und ritt weiter. Endlich kam er in ein weit entferntes Reich. Dort sagten ihm die Einwohner: »Bei uns könnten alle gut, behaglich und zufrieden leben, aber es plagt uns ein großes Unglück. Neben unserer Hauptstadt steht ein kristallener Berg und darauf haben sich seit kurzer Zeit drei schreckliche Drachen eingenistet. Jeden Tag schleppen sie bald Menschen, bald Vieh zu sich auf den Berg, und auf diese Weise haben sie schon nahezu das halbe Königreich verschleppt.«

»Hat sich denn da bei euch niemand gefunden, der gegen diese Ungeheuer auszieht und sie bis in ihr Nest verfolgt?«

»Nein, guter Jüngling, ein solcher Held hat sich nicht gefunden!«

Da ging Prinz Iwan zum König dieses Reiches und sagte: »König und Herr! Willst du mich nicht in deinen Dienst nehmen?«

»Warum soll ich einen so jungen Helden nicht nehmen? Ich brauche wackere Jünglinge, denn ich schlafe sowieso weder bei Tag noch bei Nacht und denke immerzu darüber nach, wie ich meine Tochter vor den Drachen schützen kann, die jeden Tag die schönsten Mädchen auf den Berg schleppen und mein ganzes Reich zerstören.«

Prinz Iwan blieb bei diesem König im Dienst und begann sich überall umzusehen und zu erkundigen. Es war so: Kein Tag verging ohne



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Unglück. Bald kam einer, bald ein anderer zum König, weinte und klagte seinen Kummer . . . Der eine schrie: »König und Herr, bei mir hat ein dreiköpfiger Drache die letzte Kuh geholt!« Ein anderer klagte: »König und Herr, bei mir hat ein dreiköpfiger Drache die Tochter und Braut geraubt!«

Alle flehten den König an: »Väterchen-König! Suche doch für uns auf der ganzen Welt einen Mann, der uns von diesen Ungeheuern befreien kann! Einem solchen Helden würden wir alle unsere Tiere abgeben!«

Der König aber ließ den Kopf hängen und wußte nichts anderes, als ihnen allen Geschenke auszuteilen.

Prinz Iwan sagte zu ihm: »König und Herr! Es tut mir weh, dein Unglück zu sehen und das Weinen und Klagen zu hören. Ich will mein Glück versuchen, entweder opfere ich meinen Kopf, oder ich vernichte diese Ungeheuer.«

»Es tut mir leid um dich, guter Jüngling, du wirst sie sicher nicht vernichten.«

»Das laß nur meine Sorge sein; befiehl mir lediglich, deine königliche Herde zu weiden, und was auch mit ihr geschieht, bestrafe dafür nicht mich!«

»Meinetwegen verfüge du über die Herde und sogar über alle meine Schätze, wenn du uns nur aus unserem Elend hilfst.«

Prinz Iwan kleidete sich als alter Hirte und trieb seine Herde auf den kristallenen Berg. Auf einmal lärmte und rauschte es auf dem Berg, und es kam ein dreiköpfiger Drache geflogen, der dem Prinzen zuschrie: »Du hast dich im Beruf vergriffen, Prinz Iwan. Ein wackerer Bursche kämpft, du aber weidest die Herde! Gib drei Kühe her!«

»Das wäre zu fett!« antwortete der Prinz. »Ich esse selber an einem Tag nicht einmal eine Ente, und du verlangst gleich drei Kühe, nicht eine wirst du bekommen!« Der Drache warf sich auf ihn, aber Prinz Iwan verwandelte sich in einen hellen Falken, hackte ihm die Augen aus und schlug ihm nacheinander alle drei Köpfe ab.

Am anderen Tag trieb der Prinz seine Herde wieder auf den kristallenen Berg zur Weide. Da polterte und lärmte es wieder, und es flog ein sechsköpfiger Drache daher, der vom Prinzen Iwan sechs Kühe verlangte. Prinz Iwan aber sagte lachend zu ihm: »Ach du gefräßiges Ungeheuer! Ich esse selber nicht mehr als eine Ente am



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Tag, aber was hast du verlangt? Nein, nicht eine sollst du bekommen!« «

Der Drache schäumte vor Wut und warf sich auf den Prinzen. Der aber verwandelte sich wieder in einen lichten Falken, hackte dem Drachen die feurigen Augen aus und schlug dem Blinden alle sechs Köpfe ab. Jetzt lief im Volk das Gerücht um von der Kühnheit und Tapferkeit des Prinzen Iwan, und die Menschen kamen ihm entgegen, wenn er am Abend die königliche Herde in die Stadt trieb. Alle begegneten ihm wie einem Wohltäter, küßten ihm die Hände und warfen ihre Mützen in die Höhe. Der König selber kam von der Freitreppe seines Schlosses herab zu ihm und sagte: »Du sollst an Stelle meines eigenen Sohnes der Erbe meines Reiches sein, hier hast du meine einzige Tochter als Braut.«

Er rief die Prinzessin und führte sie zu dem Prinzen Iwan, das Volk aber frohlockte und schrie: »Heil unserem König! Heil unserem Befreier!«

Bei dem König wurde kein Bier gebraut, kein Schnaps gebrannt - gerade auf den anderen Tag war die Hochzeit festgesetzt. Aber es kam nicht dazu. . .! Am Morgen kamen die Mädchen der Prinzessin zum König gelaufen und sagten: »König-Väterchen! Wieder ist ein unerwartetes rätselhaftes Unglück über uns gekommen! Heute früh, als die Prinzessin kaum mit uns in den Garten hinausgegangen war, um zu lustwandeln, ist von irgendwoher ein zwölfköpfiger Drache gekommen. Er nahm sie unter seine Flügel und trug sie fort auf den kristallenen Berg.«

Da weinte der König wie ein kleines Kind, rief den Prinzen Iwan zu sich und flehte ihn an: »Hilf mir in meinem Schmerz, befreie meine Tochter von dem Drachen und rette deine Braut vor dem schlimmen Tod!«Prinz Iwan ließ sich nicht lange bitten, setzte seine Mütze auf, steckte sein Messer in den Gürtel und ging fort. Als er zum kristallenen Berg gekommen war, verwandelte er sich in eine Ameise und kroch durch eine kleine Ritze mitten in den kristallenen Berg. Dort sah er in einem kristallenen Zimmer auf Bänken, die mit geripptem Samt bedeckt waren, lauter schöne Mädchen sitzen, die Ströme von Tränen vergossen. Mitten unter diesen schönen Mädchen saß auch seine Braut voller Schmerz und Kummer und weinte bitterlich.



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»Weine nicht, schönes Mädchen«, sagte der Prinz zu ihr, »ich bin gekommen, um dich aus der Gefangenschaft zu befreien.«

»Du wirst uns aus der Gefangenschaft nicht befreien können, guter Jüngling! Nur der kann uns befreien, der den zwölfköpfigen Drachen niederschlägt, ihn in zwei Hälften zerschneidet, das Herz aus seiner Brust herausreißt und aus dem Herzen den Samen nimmt. Diesen Samen muß er anzünden und zum kristallenen Berg tragen. Dann schmilzt er, und wir alle gelangen in die Freiheit.«

»Wo kann ich diesen Drachen finden?«

»Geh zu dem See meines Vaters, dorthin fliegt er jeden Morgen zum Trinken, denn aus diesem See sammelt er seine Kraft.«

Prinz Iwan ging aus dem kristallenen Berg wieder in die freie Welt. Er kam zum König und sagte: »König und Herr, befiehl, daß morgen in aller Frühe noch vor Sonnenaufgang am Ufer deines Sees ein vierzigstel Faß grüner Wein aufgestellt wird, damit ich eine Stärkung habe, wenn ich mit dem Drachen kämpfe.«

Das Faß mit dem grünen Wein wurde ans Ufer des Sees gerollt; Prinz Iwan schlug den Deckel heraus, legte sich selber ins Dickicht und erwartete den Drachen.

Kaum fing es an zu dämmern, kaum fing der Nebel an sich zu zerstreuen, da lärmte und rauschte es in der Luft, der zwölfköpfige Drache ließ sich zum See nieder und fing an, Wasser zu trinken. Da erblickte er den Prinzen Iwan.

»Warum bist du hier, nichtsnutziger Wurm? Was willst du?« »Ich bin hier, um mit dir zu kämpfen und das Königreich von dir zu befreien.«

»Wie willst du denn mit mir kämpfen? Meine Kraft liegt in dem See. Solange ich nicht alles Wasser daraus getrunken habe, wirst du mich auch nicht besiegen können.«

»Aber meine Kraft liegt in diesem Faß: Sobald ich vom Kampfe schwach werde, brauche ich nur einen Schluck daraus zu nehmen, dann kann ich drei Tage kämpfen, ohne müde zu werden.«

Er begann mit dem Drachen zu kämpfen. Er schlug immerzu und entfernte sich von seinem Fasse.

Da dachte der Drache: Warte, ich werde deine Kraft ganz vernichten, warf sich auf das Faß, packte es und trank es auf einen Zug aus. Da fiel er auch schon hin und ward auf der Stelle ohnmächtig, völlig



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betrunken. Der brave Jüngling aber besann sich nicht lange, sprang auf ihn zu und schlug ihm sämtliche Köpfe ab. Dann riß er ihm das Herz aus der Brust, nahm den Samen, zündete ihn an und warf ihn auf den kristallenen Berg. Der Berg schmolz sofort, und alle, die darin waren, gelangten ans Tageslicht. Da gab es Freudentränen! Jetzt fand auch Prinz Iwan sein Glück und wurde mit der Prinzessin getraut.


Der böse Riese Werlioschka

Einst lebten ein alter Mann und seine Frau, die hatten zwei kleine Enkelinnen, Waisenkinder, so schön und so allerliebst, daß die Großeltern sich an Lobreden und Anerkennung gar nicht genugtun konnten. Eines Tages hatte der Großvater den Einfall, Erbsen zu säen. Er brachte die Saat in die Erde; sie keimte, die Erbsen wuchsen und fingen an zu blühen. Der Großvater sagte sich: »Jetzt bin ich mir sicher, daß wir diesen ganzen Winter gebackene Plinsen mit Erbsen essen können.«

Aber, als wollten sie sich über ihn lustig machen, stürzten sich Spatzen auf seine Pflanzungen. Dem Großvater ging der Spaß zu weit und er schickte die jüngste seiner Enkelinnen, sie möge die Spatzen verjagen. Das Kind setzte sich dicht zu den Erbsen, hob einen abgefallenen Zweig auf, schwenkte ihn hin und her und rief dazu laut: »Sachte, sachte, ihr Spatzen; freßt meinem Großvater nicht die Erbsen weg!«

Plötzlich aber hörte es ein Geräusch im Walde, ein derbes Knacken: das war Werlioschka, der heranrückte. Er war von riesiger Gestalt, besaß nur ein einziges Auge; seine Nase war krumm, sein Bart buschig und gut eine halbe Ehe lang, und er schnitt ganz schreckliche Grimassen. Dieses Geschöpf hatte eine höchst sonderbare Gewohnheit: sobald es von ferne einen Menschen gewahrte, konnte es nicht umhin, diesem irgendein Zeichen seiner besonderen Zuneigung zu geben, das heißt, daß es sich anschickte, ihm die Knochen einzuschlagen; Werlioschka schonte niemanden, weder die Alten noch die Jungen, nicht die Friedfertigen und nicht die Zänkischen. Als er die Kleine entdeckte, versetzte er ihr einen Schlag mit seinem



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Knüppel, daß sie auf der Stelle tot umfiel. Als der Großvater, der immer noch auf die Rückkehr seiner Enkelin wartete, sie nicht wiederkommen sah, schickte er ihr die älteste nach, sie zu holen. Werlioschka ließ sie das gleiche Schicksal erleiden. Nach einem abermaligen Warten verlor der Alte schließlich die Geduld und sprach zu seiner Frau:

»Warum verspäten sich die Kinder da hinten? Sicherlich nur, um mit jungen Leuten zu schwätzen, und indessen lassen sie die Spatzen die Erbsen aufpicken. Geh doch selber, Frau, und bringe sie wieder ins Haus!«

Sie stieg vom Ofen herunter, auf dem sie gesessen hatte, nahm aus einer Ecke ihren Stock, überquerte mit schleppendem Schritt die Schwelle und kam nicht wieder ins Haus zurück. Es ist leicht zu verstehen, daß — beim Anblick ihrer toten Enkelinnen und des Werlioschka neben ihnen - sie wohl erraten hatte, daß dieser Kerl der Mörder war. Von Schmerz und Kummer überwältigt, fuhr sie dem Werlioschka mit ihren Nägeln in die Haare. Auf ebendiesen Moment aber hatte Werlioschka nur gewartet .

Der alte Mann wartete immer noch, aber seine Frau kam nicht wieder und seine Enkelinnen auch nicht. Da erhob er sich vom Tisch und machte sich selbst auf den Weg. Als er dicht bei der Erbsenpflanzung angekommen war, sah er am Boden seine lieben Enkelinnen, die wie eingeschlafen schienen; von der Stirne der einen rieselte Blut; der weiße Hals der andern trug noch blaue Spuren der fünf Finger, die ihn erwürgt hatten. Seine Frau war dermaßen verstümmelt, daß es ihm unmöglich war, sie wiederzuerkennen.

Der alte Mann schluchzte lange Zeit, lag über die Toten gebeugt; er jammerte und wehklagte. Danach kehrte er ins Haus zurück, nahm seinen Eisenknüttel und machte sich auf den Weg, um Werlioschka zu suchen und mit ihm abzurechnen.

Während er immer so vorwärts schritt, gewahrte er auf seinem Weg einen kleinen Weiher, in dessen Mitte eine Ente mit ausgerissenem Schwanz schwamm. Als die Ente den Alten bemerkte, fing sie zu schnattern und zu schreien an:

»Ein gutes und glückliches Leben wünsche ich dir, alter Mann, hundert Jahre lang!«

»Guten Tag, Ente, warum hast du gewartet?«



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»Ich wußte wohl, daß du dem Werlioschka nicht verzeihen würdest, was er deiner Frau und deinen Enkelinnen angetan hat.«

»Kennst du Werlioschka denn?«

»Wie sollte man ihn nicht kennen? Ja, gewiß, ich kenne ihn, diesen einäugigen Lumpen. Eines Tages fing er damit an, hier am Ufer des Weihers einem armen Mann eine Tracht Prügel zu verabreichen; damals hatte ich die Gewohnheit, jedem Wort eine Art Kehrreim anzufügen: Ah! ah! ah! Werlioschka setzte seinen üblen Scherz mit dem armen Mann fort, und ich, ich ließ immer wieder die Melodie meines Ah! ah! ah! ertönen.

Nachdem er den Unglücklichen totgeschlagen hatte, kam er zu mir gelaufen und rief: >Ich werde dich lehren, andere zu warnen und zu verteidigen!<Und diese Worte begleitete er mit einem Hieb, den er mir gegen den Schwanz versetzte; ich bin gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen; einzig der Schwanz blieb ihm zwischen den Händen. Es ist wahr, mein Schwanz war nicht groß, aber trotzdem vermisse ich ihn. Von da ab bin ich vorsichtiger geworden, und auf alles, was sich unter meinen Augen abspielt, antworte ich mit dieser Billigung: >Ja, ja, ja!< statt wie früher zu schnattern: >Ah! ah! ah!<Und kennst du das Ergebnis dieser Veränderung meines Betragens? Ich lebe seither viel ruhiger und genieße eine größere Wertschätzung bei den Menschen. Ich höre sie immerzu sagen: >Seht doch diese Ente, wenn sie auch einen gespaltenen Schwanz hat, so ist sie doch darum nicht weniger klug und geschickt!<«

»Aber dann wirst du mir vielleicht auch die Stelle zeigen können, wo dieser Werlioschka wohnt?«

»Aber ja, ja, ja!«

Die Ente kam aus dem Wasser und watschelte, wobei sie sich auf ihren Füßen schaukelte, am Ufer entlang, hinter ihr der Großvater. Als sie ihren Marsch fortsetzten, begegneten sie einem Bindfaden, dieser wendete sich an den Alten und grüßte ihn:

»Guten Tag, alter Mann mit dem ernsten Kopf!«

»Guten Tag, Bindfaden.«

»Wie geht es dir? Wo willst du hin?«

»Ich begebe mich zum Zweikampf mit Werlioschka, um mich an ihm zu rächen. Er hat meine alte Frau erwürgt und meine beiden Enkelinnen dreist umgebracht; sie waren so zierlich und allerliebst!«



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»Ich habe deine Enkelinnen und deine Frau gekannt. Nimm mich mit; ich will dir helfen.«

Der Alte überlegte; vielleicht könnte der Bindfaden ihm helfen, Werlioschka zu binden. Er antwortete ihm: »Gut, folge mir, du kennst den Weg.«

Der Bindfaden kroch hinter ihnen her wie eine Schlange. Als sie so ihren Marsch fortsetzten, begegneten sie auf dem Wege einem hölzernen Klopfer, der den Alten ansprach:

»Guten Tag, alter Mann mit dem ernsten Kopf!«

»Guten Tag, Klopfer!«

»Wie geht es dir? Wo gehst du hin?«

»Es geht mir gut. Die Reise, die ich mache, geschieht, um mich an Werlioschka zu rächen. Denke doch: er hat meine Frau erwürgt und meine beiden Enkelinnen umgebracht, die die Schönheit selbst waren.«

»Nimm mich mit dir, damit ich dir helfe!«

Der Alte sagte sich:

>Wahrhaftig! Dieser Klopfer kann mir tatsächlich nützlich sein.<

Der Klopfer hob sich vom Boden, stützte sich auf seinen Griff, tat einen Sprung und wanderte los. Sie gingen immer weiter und trafen unterwegs auf eine Eichel, die mit ihrem feinen Stimmchen kreischte:

»Gruß, alter Mann mit dem ernsten Kopf. Wohin gehst du?«

»Ich will mich mit Werlioschka schlagen. Kennst du ihn? Hast du irgendeine Vorstellung von ihm?«

»Wer sollte ihn nicht kennen? Es ist Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Nimm mich mit dir, damit ich dir helfe. Zwar bin ich nicht viel wert, aber mein Saft wird wohl eines Tages gut sein, deinen Durst zu stillen.«

Der alte Mann überlegte:

>Na gut! Mag sie mitkommen, sie auch; je mehr wir sind, desto besser!<

So sagte er denn zu ihr:

»Ordne dich ein und schleppe dich hinter uns her!«

Aber die Eichel, weit entfernt davon, sich zu schleppen, überholt sie alle mit einem Satz. Endlich erreichten sie einen dichten, wohl hundert Jahre alten Wald. Mitten darin erhob sich ein Haus. Sie schauten



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durchs Fenster hinein: niemand war drin. Das Feuer im Kamin war am Erlöschen, eine Suppe mit Grützbrei stand auf dem Herd. Die Eichel sprang in die Suppe, der Klopfer stellte sich auf ein Brett, der Bindfaden streckte sich auf der Schwelle aus, der Alte setzte die Ente auf den Kamin und postierte sich selbst hinter die Tür.

Werlioschka kam zurück, warf das Holz, das er mitgebracht hatte, zu Boden und machte Feuer im Kamin. Die Eichel, die sich in der Suppe befand, fing an, ein Liedchen anzustimmen:

»Pi, pi, pi, es ist wer gekommen, Werlioschka zu schlagen!«

»Ruhig, Suppe!« brüllte Werlioschka mit donnernder Stimme,

»oder ich werfe dich gleich in den Eimer.«

Aber die Eichel, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken, setzte ihr Kreischen fort. Werlioschka geriet in Wut, packte den Topf und kippte mit einem Schwapps die Suppe in den Eimer; aber da hopste die Eichel jäh aus dem Eimer heraus, versetzte Werlioschka einen Nasenstüber und zerriß ihm das eine Auge, das ihm geblieben war.

Werlioschka wollte davonlaufen, aber es war ihm unmöglich zu entwischen: der Bindfaden knebelte ihn, und er fiel zu Boden. Der Klopfer kam mit einem Satz vom Brett herunter, der Alte trat hinter der Tür hervor, und alle machten sich eifrig daran, Werlioschka tüchtige Schläge zu verpassen, während die Ente -auf dem Kamin — die Schläge mit ihrem üblichen Kehrreim begleitete. Es nützte Werlioschka gar nichts, daß er stark und kräftig war. Er wurde gründlich zusammengedroschen. Und damit ist das Märchen aus.


Die Wahrheit und die Lüge

In einem Dorf lebten einmal zwei Bauern als Nachbarn nebeneinander. Beide hatten keine Angehörigen und waren arme Leute. Der eine war ein Betrüger und stahl, wo er nur konnte. Der andere aber liebte die Wahrheit und suchte seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen.

Eines Tages stritten sie, wie man auf der Welt besser leben könne: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?



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Der eine sagte: »Mit der Wahrheit kannst du verhungern! Mit der Wahrheit lebst du nicht lange!«

Der andere aber meinte: »Wie soll man wohl ohne die Wahrheit leben können?«

Lange stritten sie hin und her, keiner gab nach. Da beschlossen sie, in die Welt hinauszuziehen, um zu erfahren, wie die Menschen lebten. Jeden, der ihnen begegnete, wollten sie fragen, wie man leben solle: mit der Wahrheit oder mit der Lüge.

Zuerst trafen sie einen Bauern, der gerade beim Pflügen war. »Helf dir Gott, lieber Mann«, sagten sie. »Kannst du unseren Streit schlichten? Sag uns, wie lebt man besser auf dieser Welt: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?«

»Nein, Brüder«, sagte der Bauer. »Mit der Wahrheit kann man in alle Ewigkeit nicht leben, aber mit der Lüge lebt man leichter als alle anderen.«

»Siehst du, daß ich recht habe?« sagte der Lügner zu seinem Begleiter. Als sie ein Stückchen weitergewandert waren, begegnete ihnen ein Kaufmann auf einem mit Waren beladenen Wagen, der von zwei gut genährten Pferden gezogen wurde.

Unsere Bauern traten zu dem Wagen hin, grüßten und sagten zum Kaufmann: »Zürne nicht, würdiger Herr, wir kommen mit einer Bitte zu dir. Kannst du unseren Streit schlichten? Sag uns, wie lebt man besser auf dieser Welt: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?«

»Ach, Freundchen! Mit der Wahrheit ist schwer zu leben. Mit der Wahrheit wirst du immer ohne Nutzen dastehen. Schau, man betrügt uns, also müssen wir auch betrügen.«

»Ich habe also doch recht!« sagte der Lügner.

Bald trafen sie einen herrschaftlichen Verwalter. Sie gingen auf ihn zu und sagten: »Sei uns gnädig! Entscheide unseren Streit. Wie lebt man besser auf der Welt: mit der Wahrheit oder mit der Lüge?«

»Was seid ihr für Kerle«, sagte der Verwalter, »daß ihr mich mit solchem Geschwätz belästigt! Was bekommt man heuzutage schon für die Wahrheit? Gerade soviel wie der Rabe für einen Knochen.«

»Aha, gelt, ich habe recht!« sagte der Lügner zu dem Wahrheitsliebenden.

Aber dieser blieb fest bei seiner Meinung: »Ich will das nicht glauben.



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Man muß fromm leben, wie Gott es befiehlt. Ich will auf keinen Fall als Lügner leben!«

Da sagte der andere zu ihm: »Gut, willst du es versuchen? Wandern wir weiter, und wir wollen sehen, wer von uns beiden eher satt wird: du mit deiner Wahrheit oder ich mit dem Lügen.«

»Gehen wir«, sagte der Wahre, »Gott wird mich nicht verlassen, wenn ich die Wahrheit rede.«

Sie zogen weiter. Dem Lügner floß alles wie von selber zu. Überall wurde er gut aufgenommen. Er bekam Speise und Trank und sogar noch etwas mit auf den Weg. Der Wahre aber konnte arbeiten, wo er wollte, er kriegte überall nur Wasser und Brot. Wenn er keine Arbeit fand, mußte er hungern. Der Lügner verhöhnte ihn

Eines Tages konnte es der Wahre vor lauter Hunger nicht mehr aushalten. Da bat er seinen Kameraden: »Gib mir ein Stückchen Brot!«

»Komm her, ich werde dir ein Auge ausschlagen«, sagte der Lügner.

»Dann gebe ich dir etwas zum Essen.«

»Was kann ich tun? Schlag zu, wenn du kein Gewissen hast.« Da schlug ihm der Lügner ein Auge aus, gab ihm aber nur so viel Brot, daß er nicht ganz satt wurde. Der Wahre ertrug alle Qualen, ging aber nicht von seiner Meinung ab. Er bekannte sich zur Wahrheit und gab dem Kameraden nicht nach.

Nach einiger Zeit mußte der Ärmste wieder Hunger leiden. So sehr er sich auch bemühte, er konnte weder Arbeit noch Brot auftreiben. Da warf er sich dem Lügner wieder zu Füßen und flehte ihn in Christi Namen an, er möge ihm wenigstens ein Stückchen Brot geben. Jetzt verhöhnte ihn der Lügner abermals und lachte ihn aus: »Gut«, sagte er, »ich will dich füttern, aber komm her, ich schlage dir auch das zweite Auge aus.«

»Habe Mitleid mit mir! Ich werde ja dann blind!«

»Was macht es aus, wenn du blind bist? Dafür lebst du mit der Wahrheit - du Wahrheitsfreund -, ich aber lebe mit der Lüge!« »Ich kann es nicht ändern! Gut, schlage mir auch das zweite Auge aus, wenn du die Sünde nicht fürchtest.«

Der Lügner schlug ihm auch das zweite Auge aus, gab ihm einen Bissen Brot und jagte den Unglücklichen auf die Straße.

Der Ärmste aß sein Stückchen Brot und schleppte sich dann tastend



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seines Weges dahin. Bald hatte er sich verirrt und wußte nicht mehr, wohin er sich wenden sollte.

Da hörte er auf einmal an seinem Ohr eine Stimme: »Geh nach rechts. Du wirst zu einer murmelnden Quelle kommen, dort trinke von dem Wasser und wasche dir damit die Augen, dann wirst du wieder sehen. Steige auf die Eiche, die über der Quelle wächst und bleibe dort die ganze Nacht bis zum Morgen sitzen. Merke dir aber genau, was du dort sehen und hören wirst.«

Was die Stimme gesprochen hatte, geschah nun. Der Wahre kam zu der rauschenden Quelle, wusch seine Augen und trank von dem Wasser, da konnte er wieder sehen. Unmittelbar neben der Quelle stand eine uralte, breitästige Eiche. Rund um diesen Baum war aber weder ein Gräschen noch ein Blatt; der Boden war völlig glatt und festgestampft. Der Wahre stieg auf den Baum, versteckte sich in den dichtbelaubten Ästen und erwartete die Nacht.

Kaum war es dunkel geworden, da kamen von allen Seiten her Teufel geflogen. Alle versammelten sich an der Quelle unter der Eiche wie die Rebhühner im Winter in einer Ackerfurche. Sie erzählten einander, wo sie überall gewesen seien und was sie getan hätten.

Der Wahre hörte, wie einer von den Teufeln erzählte: »Ich war bei der Prinzessin in der nahen Stadt. Schon seit zehn Jahren quäle ich sie mit einer schweren Krankheit. Kein Mensch kann sie von mir befreien. Nur der kann ihr helfen, der von einem reichen Kaufmann in der Stadt das Heiligenbild bekommt, das bei ihm in einem schwarzen Kästchen über der Tür hängt.«

Kaum graute der Morgen, da kroch der Wahre von der Eiche herunter und ging schleunigst in die nahe Stadt. Dort irrte er lange umher, bis er endlich das Haus des reichen Kaufmanns gefunden hatte, der das Heiligenbild besaß.

Er verdingte sich dem Kaufmann als Arbeiter und sagte: »Ich will von dir keinen Lohn. Statt des Lohnes sollst du mir aber das Heiligenbild geben, das in einem schwarzen Kästchen über deiner Türe hängt.«

Der Kaufmann war damit einverstanden und nahm den Wahren als Arbeiter bei sich auf. Ein volles Jahr diente er dem Kaufmann, so gut er konnte, und als das Jahr um war, ging er hin, um abzurechnen, und verlangte das Heiligenbild.



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»Brüderchen«, sagte der Kaufmann, »ich bin mit deiner Arbeit zufrieden, aber um das Heiligenbild ist es mir leid. Nimm lieber Geld.«

»Ich brauche dein Geld nicht«, sagte der Wahre. »Gib mir das Heiligenbild, wie es ausgemacht war.«

»Nein, ich gebe es nicht her. Wenn du es haben willst, so arbeite noch ein weiteres Jahr bei mir.«

Da arbeitete der Wahre nochmals ein Jahr bei dem Kaufmann. Als aber der Tag der Abrechnung gekommen war, ging es ihm genau wie vorher: Der Kaufmann bestand darauf, daß der Wahre für das Heiligenbild noch ein Jahr arbeiten müsse. Also diente dieser auch noch ein drittes Jahr. Nun aber konnte sich der Kaufmann nicht mehr länger weigern. Er holte das Heiligenbild aus dem Kästchen über der Tür und überließ es dem Wahren. Dann gab er ihm noch Speise und Trank und auch noch Geld auf die Reise.

Der Wahre ging mit seinem Bild sogleich in die Stadt, in der die von dem Teufel mit so schwerer Krankheit geplagte Prinzessin lebte. Er bot dem König an, sie ohne jede Belohnung wieder gesund zu machen. Kaum hatte er mit dem Heiligenbild das Zimmer der Prinzessin betreten, da stand sie auch schon von ihrem Bett auf und war gesund.

Die königlichen Eltern waren darüber sehr erfreut. Sie boten ihm Land an und wollten ihm viel Geld geben, er aber nahm nichts an. Da sagte die Prinzessin: »Dieser Mann ist mein Wohltäter. Ich will ihm dankbar sein und ihn heiraten, wenn ihr einverstanden seid.«

König und Königin stimmten zu. Auch der Wahre sagte nicht nein und wurde noch am selben Abend mit der Prinzessin getraut.

Jetzt lebte er herrlich und in Freuden. Er ging in königlichen Gewändern, wohnte in königlichen Zimmern, fuhr mit königlichen Pferden, aß und trank vom königlichen Tisch das Allerbeste. . . Eines Tages erinnerte er sich an seine ferne arme Heimat und an sein dort wohnendes altes Mütterchen. Da sagte er zu seiner Frau: »Ich möchte mit dir in meine Heimat reisen und mein altes Mütterchen holen.«

»Gut«, antwortete die Prinzessin.

Sie setzten sich in einen Wagen und fuhren seiner Heimat zu. Unterwegs begegnete ihnen der Lügner.



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Da hielt der Wahre die Pferde an und sagte: »Grüß Gott, Bruder!« Aber dieser erkannte ihn nicht.

»Ich bin dein Nachbar gewesen, mit dem du gestritten hast, wer auf der Welt besser lebte: der Wahrheitsliebende oder der Lügner. Wie du siehst, habe ich Glück gehabt. Ich lebe mit der Wahrheit und in Freuden.«

Den Lügner packte gleich der schwarze Neid, und er wollte erfahren, wie der Wahre sein Glück gefunden habe. Der verheimlichte nichts und erzählte alles schön der Reihe nach: wie er sich an der Quelle die Augen ausgewaschen und aus ihr getrunken, wie er auf der Eiche die Teufel belauscht habe -alles, alles.

Der Lügner prägte sich das genau ein. Kaum hatte er sich von dem Wahren verabschiedet, da rannte er davon und suchte den Ort auf, wo der Wahre sein Glück gefunden hatte.

Bald stand er unter der Eiche an der Quelle! Auch er trank von dem Wasser und wusch sich die Augen damit. Dann kletterte er auf den Baum und erwartete voller Freude die Nacht.

Jetzt, dachte er, werde ich auf meinem Sitz von einem der Teufel auch solch ein Stücklein hören und mich dann noch besser einrichten als mein Nachbar.

Aber alles kam anders. Als es finster geworden war, kamen die Teufel geflogen und spürten sogleich, daß jemand auf der Eiche saß und ihren Reden zuhörte.

Da zogen sie den Lügner vom Baum herunter und zerrissen ihn in Stücke, so daß man keine Spur mehr von ihm finden konnte. Der Wahrheitsliebende aber nahm aus seiner Heimat die alte Mutter mit sich, brachte sie in den königlichen Palast und lebte dort mit ihr und seiner Frau sein ganzes Leben lang in der Wahrheit und in Freuden.


Die sieben tüchtigen Brüder

In einem weit, weit entfernten Königreich, das hinter vielen Inseln, hohen Bergen und breiten Flüssen lag, stand in einer Ebene, die so glatt war wie ein Tischtuch, eine große Stadt. In dieser Stadt lebte ein König mit Namen Archidei. Nach seinem Vater hieß er Agejewitsch. Er war ein kluger und sehr gescheiter König. Unzählig waren



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seine Reichtümer, die Zahl seiner Krieger wußte er selber nicht. Vierzig mal vierzig Städte waren ihm untertan, und in jeder Stadt standen zehn Schlösser mit silbernen Türen, goldenen Decken und kristallenen Fenstern. Sein Rat bestand aus zwölf der weisesten Männer, jeder hatte einen ellenlangen Bart und einen erhabenen Verstand. Alle sagten dem König die Wahrheit, und keiner von ihnen wagte es, zu lügen. Wie, meint man, sollte ein solcher König nicht lustig und glücklich sein? Aber es ist klar, weder Weisheit noch Reichtum machen glücklich, wenn im Herzen der Kummer nagt. Er ist ein Bösewicht und kommt auch in die goldenen Paläste zu Gast. Der König Archidei war reich und gescheit und außerdem so schön, daß man es sich nicht vorstellen, es nicht beschreiben und auch nicht erzählen kann. Aber er konnte keine Braut nach seinem Geschmack finden, die gerade so schön gewesen wäre wie er selbst, und darüber verspürte der König oft Kummer und Pein.

Eines Tages saß er auf seinem goldenen Thron und war in tiefes Nachdenken versunken. Da sah er ein Kauffahrteischiff heranschwimmen und im Hafen gegenüber seinem Palast landen. Die Matrosen machten die weißen Segel fest, ließen einen schweren Schiffsanker ins Meer hinab, warfen die Schiffstreppe aus und schickten sich an, ans Ufer zu gehen. Allen voran schritt der Kaufherr, ein alter Mann mit grauem Bart. Da kam es dem König Archidei in den Sinn: Die fremden Kauffahrer sind erfahrene Leute. Sie segeln auf den Meeren und sehen vielerlei Wunderdinge. Ich will sie fragen, ob sie nicht eine Prinzessin gesehen haben, die ebenso schön und klug ist wie ich selber, der König Archidei. Und der König befahl, die Schiffer in seinen Palast zu rufen. Sie kamen, beteten und begrüßten den König. Der ließ jedem ein Glas grünen Weins einschenken. Die Kauffahrer tranken den Wein, wischten ihre Bärte mit einem Handtuch ab, und König Archidei fing an, mit ihnen zu reden:

»Es ist uns bekannt, ihr fremden Schiffer, daß ihr auf den Meeren fahrt und viele Wunderdinge seht. Ich möchte euch über eine Sache befragen, aber gebt mir wahre, aufrichtige Antwort.«

»Bitte, König Archidei Agejewitsch«, antworteten die Kauffahrer, »wir werden dir die reine Wahrheit sagen, um was auch immer du uns fragen willst.«



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»Also sagt mir: Habt ihr nicht erfahren, ob es nicht bei einem Zaren, einem König, bei starken, hohen Fürsten Töchter gibt, ebenso schön und klug wie ich, der König Archidei selber, daß eine von ihnen meine Gemahlin und Königin meines Reiches werden könnte?«

Die Kauffahrer besannen sich, dachten und dachten, dann sprach der Älteste von ihnen zum König: »Ich habe gehört, daß jenseits des Meeres auf einer Insel, auf Busan, ein großes Königreich liegt und daß der König von Busan eine Tochter hat, die Prinzessin Helena. Sie ist von solcher Schönheit, daß sie sicher nicht schlechter ist als du, und sie ist so klug, daß ein alter weiser Mann ein Rätsel von ihr in drei Jahren nicht herausbringt.«

»Ist es weit zu dieser Insel, und wie führt der Weg dorthin?«

»Diese Insel ist nicht nahe«, sagte der Kauffahrer. »Der Seeweg dorthin dauert von hier aus zehn Jahre. Den Weg zu ihr wissen wir nicht, und wenn wir ihn auch wüßten, so ist doch die Prinzessin Helena für dich, König Archidei, keine Braut.«

König Archidei erzürnte und sagte: »Wie kannst du es wagen, Kaufmann, mir solche Worte zu sagen?«

»Dein königlicher Wille steht über uns; aber bedenke doch selber: Wenn du einen Gesandten zur Insel Busan schickst - er muß dorthin zehn Jahre fahren, und zehn Jahre braucht er zurück, das sind schon zwanzig Jahre. In dieser Zeit wird auch die Prinzessin Helena älter — ist doch alle Mädchenschönheit wie eine vorüberfliegende Schwalbe - sie währt nicht lange.« König Archidei dachte nach.

»Gut«, sagte er zu den Schiffern. »Ich danke euch, meine Gäste, die ihr hergekommen seid, ihr Handelsleute, zieht mit Gott. Handelt in meinem Reich ohne Abgaben und Zölle, ich werde schon selber mit meinen königlichen Gedanken wegen Prinzessin Helena zu einer Lösung kommen.«

Die Kauffahrer verbeugten sich tief vor dem König und gingen aus dem königlichen Palast. Der König Archidei aber saß da und hing seinen Gedanken nach, als wickele er einen Knäuel ab und käme nicht zu Ende damit.

Traurig und unlustig wurde ihm ums Herz. Er ließ seine Falkner und Jäger um sich versammeln.

»Ich will ausreiten und die trüben Gedanken meines Herzens auf



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freiem Feld verjagen«, sagte er. »Ich will mich ergötzen und mich freuen, vielleicht wird so der Morgen klüger als der Abend.« Die Falkner und Jäger bliesen auf ihren goldenen Hörnern, nahmen die Falken auf ihre Hände und ritten mit König Archidei hinaus. Sie schauten, ob nicht irgendwo ein Reiher aufflöge, auf den sie den lichten Falken loslassen könnten.

So ritt der König lange mit seinem königlichen Jagdgefolge umher und kam zu einem grünen Eichenhain. Dahinter war das ganze Land mit Weizen bebaut, voll goldener Ähren. Er hielt an, betrachtete es und ergötzte sich.

»Sieh da«, sagte er, »hier haben offenbar gute Arbeiter das Feld gepflügt und besät. Wenn in meinem Reich alle Felder so bebaut wären, dann vermöchte mein Volk das Brot in Ewigkeit nicht aufzuessen, man könnte es übers Meer schicken und übers Meer her dafür Gold und Silber bringen.«

Der König Archidei befahl zu ermitteln, wem das Feld mit dem Sommerweizen gehöre. Seine Jäger ritten davon, kamen zu den Feldern und sahen sieben Bauern, immer ein strammer Bursche neben dem andern, wie Milch und Blut. Sie aßen gerade zu Mittag nach Bauernart Roggenbrot und Wasser. Sie hatten rote Hemden mit goldenen Streifen an. Von diesen sieben Jungen war einer dem anderen so ähnlich, daß man sie einfach nicht auseinanderhalten konnte.

Da richteten die königlichen Abgesandten die Frage an sie: »Wem gehört das Feld, das mit dem goldährigen Sommerweizen bebaut ist?«

Die sieben jungen Bauern antworteten: »Das ist unser Feld, wir haben es gepflügt und besät.«

»Was seid ihr für Leute?«

»Wir sind Arbeiter des Königs Archidei, Bauern, Feldpflüger, alle Brüder, Kinder eines Vaters und einer Mutter, und man nennt uns die sieben Simeonows.«

Die Abgesandten brachten dem König Archidei die Antwort der Bauern, und der König wünschte diese Bauern, seine guten Feldpflüger und Arbeiter, zu sehen. Also befahl er, sie vor seine überaus hellen königlichen Augen zu führen.

Die sieben tüchtigen Jünglinge kamen, grüßten den König, und er



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fragte sie: »Was seid ihr für Leute? Gehört das Feld, das mit dem goldährigen Sommerweizen besät ist, euch?«

Einer von den sieben wackeren Burschen antwortete ihm:

»Wir sind deine Arbeiter, König Archidei, einfache, ungebildete Bauern, als Pflüger der Felder geboren, Kinder eines Vaters und einer Mutter, und man nennt uns die sieben Simeonows. Unser alter Vater hat uns gelehrt zu beten und dir, o König, zu gehorchen, die Abgaben richtig zu zahlen und unermüdlich den Acker zu pflügen. Er hat uns auch verschiedenes Handwerk gelehrt nach dem alten Sprichwort: Ein Handwerk trägt man nicht auf der Schulter, aber man hat es gut mit ihm. Der Vater hat uns befohlen, das Handwerk für die schwarzen Tage aufzusparen und das heimatliche Feld niemals zu verlassen, friedlich zu leben, zu pflügen und zu eggen und nicht müßig zu gehen. >Wenn ihr die Mutter Erde nicht vergeßt<, hat er gesagt, >sie gut durchpflügt und zur rechten Zeit besät, so wird sie, die Mutter der Heimat, euch hundertfach belohnen und mit Brot nähren. Sie wird euch ein weiches Ruheplätzchen bereiten, wenn ihr dereinst alt geworden seid und euer Leben zu Ende geht.<«

Diese einfache bäuerliche Antwort gefiel dem König Archidei. »Wohl euch, ihr guten Jünglinge -Pflüger der Felder, daß ihr Weizen sät; er wächst bei euch wie Gold. Nun aber sagt mir, welches Handwerk hat euch der Vater gelehrt und was wißt ihr davon?« Da antwortete der erste Simeon: »Mein Handwerk, König Archidei, ist keine Kunst: Wenn du mir Material und Arbeiter gibst, so baue ich dir aus weißen Steinen eine Säule, höher als die Wolken, fast bis zum Himmel hinauf.«

»Gut«, sagte König Archidei. »Und du, zweiter Simeon, was hast du für ein Handwerk gelernt? Sprich!« Der zweite Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist auch keine Kunst: Wenn mein Bruder dir aus weißen Steinen eine Säule baut, so steige ich auf diese Säule bis dicht unter den Himmel und sehe von da aus alle Königreiche unter der Sonne. Ich werde dir dann erzählen, was in jedem Reiche vor sich geht.«

»Gut«, sagte der König Archidei, »und du, dritter Simeon, was für ein Handwerk treibst du?«

Der dritte Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist ein einfaches bäuerliches, gar nicht geheimes. Schiffe, die für dich



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passen, bauen auch deine gelernten Meister, erfahrene Seeleute, mit allen Kunstgriffen, aber wenn du es befiehlst, werde ich sie dir ganz einfach bauen: eins, zwei, drei, und das Schiff ist fertig! Aber meine Schiffe werden nicht wie ein Trog sein, den der Bauer selbst gemacht hat; wo ein Meerschiff ein Jahr braucht, dort fährt das meinige nur eine Stunde, und wo ein Schiff zehn Jahre braucht, da kommt das meinige in einer Woche hin.«

»Gut«, antwortete der König Archidei, »aber du, vierter Simeon, welches Handwerk kannst du?«

Der vierte Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist kein bedeutendes. Wenn dir mein Bruder ein Schiff baut und ich fahre in diesem Schiff, packe ich es, wenn ein Feind es verfolgt oder ein Sturm kommt, bei seiner schwarzen Nase und ziehe es in das Meer hinab, wo es still und unzugänglich tief ist. Wenn dann der Feind verschwunden ist und der Sturm sich beruhigt hat, dann führe ich dich wieder auf das freie, weite Meer.«

»Gut«, sagte König Archidei. »Und du, fünfter Simeon, was weißt du? In welchem Handwerk bist du erfahren?«

Der fünfte Simeon antwortete: »Mein Handwerk, König Archidei, ist keines, bei dem die Hände weiß bleiben, sondern das schwarze Schmiedehandwerk: Lasse mir eine Schmiede einrichten, und ich schmiede dir ein Gewehr. Es gibt keinen Adler unterm Himmel und kein grausames, wildes Tier im Walde, das sich vor diesem Gewehr schützen könnte. Sobald es das Auge gesehen hat, ist es auch schon erschossen.«

»Gut«, sagte König Archidei, »jetzt sage du mir, sechster Simeon, was für ein Handwerk treibst du?«

Der sechste Simeon antwortete: »Es ist fast peinlich, König Archidei, mein Handwerk zu erwähnen. Es besteht darin, daß ich das, was mein Bruder mit seinem Gewehr geschossen hat, sei es im Wald oder unter dem Himmel, nicht auf den Boden fallen lasse, sondern besser als ein Jagdhund erfasse. Fällt es ins Meer, hole ich es aus den Wogen heraus, fällt es in dichten Urwald, finde ich es auch in finsterer Mitternacht, bleibt es an einer Wolke hängen, so hake ich es von der Wolke los.«

Dem König Archidei gefielen die Handwerke der sechs Simeonows sehr. Sie waren einfach, nicht verwickelt und nicht gekünstelt. Er



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fand auch Gefallen an den Reden der Bauern. Daher sagte er zu ihnen: »Ich danke euch, ihr Bauern, Feldpflüger und Arbeiter! Der Vater hat euch die Wahrheit gesagt, daß man ein Handwerk nicht auf den Schultern trägt, daß man aber mit ihm gut fährt. Kommt mit mir in meine königliche Hauptstadt zur Probe! Solche Leute, wie ihr seid, kann ich brauchen. Aber wenn die Zeit für euch kommt, Korn zu mähen und es in Garben zu binden, auf der Tenne zu dreschen und auf den Markt zu bringen, werde ich euch mit meiner königlichen Gnade entlassen.«

Da verneigten sich alle sieben Simeonows tief vor dem König und sagten: »Wie es dein königlicher Wille ist, wir sind deine Arbeiter.« Jetzt erinnerte sich der König, daß er den siebenten Simeonow noch nicht gefragt hatte, und er sagte zu ihm: »Warum schweigst du und sagst nichts zu mir? Welches Handwerk kennst du?«

Der siebte Simeonow antwortete: »Ich habe kein Handwerk, König Archidei, was ich auch zu lernen versuchte, es war alles vergeblich. Und doch kenne ich ein Handwerk, aber es ist ein heimliches, und ich weiß nicht, ob es deiner königlichen Gnade gefällt.«

»Sprich«, sagte der König, »was ist das für ein heimliches Handwerk?«

»Nein, König Archidei, gib mir zuerst dein königliches Wort, daß du mich nicht hinrichten wirst, sondern mich wegen meiner Worte begnadigst, dann will ich dir von meinem Handwerk erzählen.« »Dein Wille geschehe: Ich gebe dir mein königliches, heiliges Wort. Ich werde dich nicht hinrichten lassen, sondern begnadigen.«

Da richtete sich der siebente Simeon auf, sah sich um, räusperte sich und sagte: »Mein Handwerk, König Archidei, ist ein so geheimes, daß man dafür in deinem Reiche hingerichtet wird und kein Erbarmen kennt: Ich bin - im Vertrauen gesagt -ein Meister im Stehlen und kann alles Gestohlene verschwinden lassen. Es gibt kein so versiegeltes Gut, kein Geheimschloß, keine so dicht zugemauerte Vorratskammer, woraus ich nicht alles stehlen könnte, was ich will.« Da empörte sich der König Archidei sehr und ergrimmte: »Nein«, sagte er, »ich begnadige dich nicht, spitzbübischer Dieb! Ich lasse dich auf die schlimmste Art hinrichten, ich lasse dich an eiserne Ketten schmieden und werfe dich in die unterirdische Finsternis bei trockenem Brot und Wasser, bis du dein Handwerk verlernt hast.«



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»König Archidei! Lasse mich nicht hinrichten, laß' mich noch ein Wort sagen«, antwortete der siebente Simeon.

»>Wer nicht erwischt wird, ist kein Dieb<, sagt ein altes Sprichwort, und der ist noch kein Dieb, der stiehlt, aber der ist ein Dieb, der die Diebe beschützt. Wenn ich stehlen wollte, hätte ich dir längst deinen ganzen königlichen Schatz gestohlen, mit deinen Richtern geteilt und mir mit dem Rest einen Palast aus weißen Steinen gebaut. Du siehst also, so ist meine einfache, dumme bäuerliche Natur: Ich kann zwar stehlen, aber ich tue es nicht, und wenn du mich um mein Handwerk gefragt hast, durfte ich dir da nicht die reine Wahrheit sagen? Wenn du mich aber dafür, daß ich die Wahrheit gesagt habe, zum Tode verurteilst, wo bleibt da dein königliches Wort, mich nicht zu verurteilen, sondern zu begnadigen?«

»Gut«, sagte der König Archidei, »ich werde dich nicht zum Tode verurteilen; für dieses Mal begnadige ich dich. Aber von dieser Stunde an wirst du Gottes Welt nicht mehr schauen, die helle Sonne nicht mehr sehen und nicht den silbernen Mond. Du wirst nicht mehr auf dem freien Feld herumwandeln, sondern du wirst mein teuerer Gast in einem solchen Palaste sein, wo kein Strahl der warmen Sonne hinkommt. Ergreift ihn und schmiedet ihn an eiserne Ketten! Führt ihn zu meinem Kerkermeister! Ihr aber, ihr sechs Simeonows, kommt mit mir, ihr habt meine königliche Gnade und bekommt eine große Belohnung. Morgen fangt ihr an, das zu machen, was jeder von euch kann.«

Die sechs Simeonows gingen mit dem König, den siebenten aber packten die Häscher, führten ihn fort und schmiedeten ihn an Ketten. Dann setzten sie ihn in die Finsternis bei Wasser und Brot. Der König Archidei befahl, dem ersten Simeon Zimmerleute, Steinmetzen, Schmiede, Arbeiter, Ziegelsteine, Steine, Eisen, Lehm und Kalk zu geben. Und Simeon baute einen Turm. Nach Bauernart brannte die Arbeit unter seiner Hand, und es ging sehr schnell vorwärts. Er baute aus weißen Steinen einen Turm bis zu den Wolken, unter die größten Sterne, die kleineren Sterne aber zogen unter dem Turm vorüber. Von oben erschienen die Menschen so winzig wie Ameisen, die auf dem Boden hin und her laufen.

Dann stieg der zweite Simeon auf den Turm, schaute, blickte umher, horchte auf alles, was unter dem Himmel vorging, stieg wieder herunter,



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und der König befahl ihm zu erzählen, was er gesehen, betrachtet und von dem gehört hatte, was unter der Sonne vorging. Simeon erzählte ihm, wo ein König mit einem anderen Krieg führte, wo einer einen Krieg im Sinne hatte, wo der Friede geschlossen wurde, und dann sagte er ihm noch allerlei geheime Sachen, daß der König lächelte und die Wojewoden und Räte nach seinem Beispiel ebenfalls in Gelächter ausbrachen.

Jetzt ging der dritte Simeon an seine Arbeit. Er bekreuzte sich, stülpte die Ärmel auf, nahm das Beil in die Hand und: eins, zwei, drei - das Wunderschiff war fertig.

König Archidei fuhr zum Ufer des Meeres und befahl, das Schiff vom Hafen aus vom Stapel zu lassen. Das Schiff schwamm dahin, so schnell wie ein weißgeflügelter Falke, der aus einer Kanone geschossen wird, an den Masten aber waren statt des Takeiwerkes Saiten gespannt, und die Gudokspieler ließen darauf mit ihren Bögen schöne Weisen ertönen.

Als aber das Schiff auf dem freien Meer dahinschwamm, packte es der vierte Simeon beim Schnabel, als ob es gar kein Schiff gewesen wäre, und ging damit unter das Wasser wie ein versinkender Stein. Nach einer Stunde aber zog er es mit der linken Hand wieder aus der Tiefe des Meeres empor, und mit der rechten holte er noch einen großen Fisch heraus, damit für den Tisch des Königs Archidei ein leckerer, gefüllter Pirog gebacken werden konnte.

Während sich König Archidei mit dem Schiff ergötzte, hatte der fünfte Simeon auf dem königlichen Hofe eine Schmiede errichtet. Dort trat er den Blasebalg, machte das Eisen glühend, hämmerte es — und fertigte das Gewehr an.

König Archidei aber begab sich aufs freie Feld und sah hoch am Himmel, gerade unter den Wolken, kaum noch erkennbar, wie ein Punkt auf einem Ass, einen Adler fliegen, der in die Sonne schaute.

»Nun sieh«, sagte der König Archidei zu dem fünften Simeon, »der Adler schaut in die Sonne -schieße ihn. Wenn du ihn triffst, werde ich dich belohnen.«

Da lachte Simeon, stopfte eine silberne Kugel in das Gewehr, legte an und drückte ab. Mit nach oben gekehrten Füßen flog der Adler aus den Wolken, der sechste Simeon ließ ihn aber nicht zu Boden



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fallen - er rannte mit einer Schüssel hin, fing ihn damit auf und brachte ihn dem König Archidei.

»Ich danke euch, ihr wackeren Jünglinge, meine Bauern, Feldpflüger und Arbeiter!« sagte der König. »Ich sehe, daß ihr alle geschickte Handwerksleute seid, und dafür belohne ich euch. Geht jetzt, eßt und ruht euch aus.«

Die sechs Simeonows verneigten sich tief vor dem König, beteten, setzten sich an den Tisch, tranken ein Glas Wein und schickten sich an, eine heiße Kohlsuppe zu essen.

Aber siehe da: Es kam der königliche Narr zu ihnen gelaufen und winkte mit seiner gestreiften Mütze, an der die Schellen erklangen. »Ihr dummen Bauerntölpel«, sagte er, »ihr habt genug Zeit gefunden und denkt nur ans Essen! Macht schnell! Der König Archidei verlangt nach euch!«

Nun liefen die sechs Simeonows in den königlichen Palast. Sie waren ganz bestürzt und dachten: Was mag da für ein Unglück passiert sein?

Sie sahen sich um: An den Türen standen die königlichen Lanzenträger mit langen Schnurrbärten und eisengepanzerten Pferden, im Palast aber waren alle Wojewoden und die weisen Räte versammelt. Der König selbst saß mit finsterer Miene da und sann.

»Hört«, sagte er, »ihr meine Bauern und Arbeiter, ihr tüchtigen Brüder Simeonow! Ich bin mit eurer Handwerkskunst zufrieden. Jetzt aber haben meine Wojewoden und die Räte folgendes ausgedacht: Wenn du, zweiter Simeon, von diesem Turm aus alles, was unter der Sonne ist, sehen kannst, so sollst du jetzt schnell hinaufsteigen und schauen, ob du nicht das Folgende siehst: Es heißt, daß irgendwo hinter dem großen Ozean die Insel Busan liegt und daß auf dieser Insel ein mächtiges Reich ist. In diesem Reich lebt bei dem König Busan eine Tochter, die Prinzessin Helena, die Wunderschöne. «

Der zweite Simeon verneigte sich und lief so schnell davon, daß er seine Mütze im Palast des Königs vergaß. Er stieg auf den Turm, sah sich nach allen Seiten um, stieg wieder herunter und berichtete dem König Archidei: »König Archidei Agejew! Deinen königlichen Befehl habe ich erfüllt. Ich habe über den großen Ozean geschaut und die Insel Busan gesehen. Dort herrscht ein mächtiger König, aber er



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ist sehr stolz und ungnädig. Er sitzt in seinem Palast und spricht folgendes: >Ich habe eine Tochter, die Prinzessin Helena. Niemand in der Welt ist weiser und klüger als sie, und es gibt keinen geeigneten Bräutigam für sie unter der Sonne, weder einen Zaren noch einen Zarewitsch, weder einen König noch einen Prinzen. Daher werde ich meine Prinzessin Helena nicht hergeben, und wer um sie werben wird, gegen den werde ich in den Krieg ziehen, sein Reich zerstören und ihn selber gefangennehmen.<«

»Ist die Stärke des Königs von Busan groß«, fragte König Archidei, »und liegt sein Reich weit von dem meinigen entfernt?«

»So nach dem Augenmaß geschätzt«, antwortete Simeon, »wird man von deinem Reich aus zwei Tage weniger als zehn Jahre fahren müssen, aber wenn ein Sturm kommt, so werden es zehn Jahre und noch ein Schwänzchen dran. Bei dem König von Busan habe ich aber auf dem Felde die Krieger üben sehen. Es sind nicht viel: hunderttausend Lanzenreiter, hunderttausend Panzerreiter, die königliche Leibwache, Tafeldecker, Speisenträger und das sonstige Gesinde macht nochmals hunderttausend. Dazu kommt eine kleine Reserve, eine Leibwache aus Rittern, die aber nirgends hingeht und offenbar nur gehätschelt und gefüttert wird.«

König Archidei fing an nachzudenken. Lange besann er sich und sagte dann: »Meine Wojewoden und Räte! Ich will die Prinzessin Helena zur Frau haben, aber wie soll ich sie erlangen?« Da schwiegen die Wojewoden und Räte, und einer versteckte sich hinter dem anderen. Jetzt fing der dritte Simeon an zu sprechen: »König Archidei! Verzeih meine einfachen, bäuerlichen Worte . . . Wie du zur Insel Busan gelangen sollst, darüber braucht man nicht viel nachzudenken und sich den Kopf zu zerbrechen: Setz dich in mein Schiff. Es ist zwar ganz einfach gebaut, nicht wie ein Oberseeschiff, aber wo ein anderes ein Jahr braucht, da fährt es nur einen Tag, und wo ein anderes zehn Jahre braucht, da kommt es in einer Woche zurück. Deine Räte aber sollen nun überlegen, ob man die Prinzessin mit den Waffen erobern oder auf friedliche Weise holen soll.«

»Jetzt, meine weisen Räte und meine tapferen Wojewoden«, sagte dann König Archidei, »wie entscheidet ihr: Wer von euch fährt hin, um die Prinzessin Helena mit den Waffen zu erobern oder im Frieden zu empfangen? Den, der sie mir bringt, will ich mit Gold und



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Silber überschütten und ihm den höchsten Rang vor den Großen meines Reiches geben!« Wieder schwiegen die Wojewoden und Räte.

Da verfinsterte sich das Antlitz des Königs Archidei, und er wollte schon ein grausames, unbarmherziges Wort aussprechen . . . Auf einmal - es war gerade, als ob man ihn gefragt habe, sprang der königliche Narr unter den klugen Leuten hervor, schwenkte seine gestreifte Mütze und ließ die Schellen erklingen.

»Was habt ihr euch ausgedacht, ihr Wojewoden und Räte«, sagte er, »ihr Großköpfe und Langbärte, steht euch der Verstand still? Was hat dieses Mal eure Hirne vernebelt? Um nach Busan zu fahren und dem König Archidei die Braut zu holen, braucht man kein Gold und keine tapferen Krieger. Habt ihr etwa das alte Sprichwort vergessen: >Es wird keine Suppe so heiß gegessen, wie sie gekocht wird?< Warum laßt ihr den siebenten Simeon nicht kommen? Vielleicht stiehlt er die Prinzessin Helena. Dann kann der König von Busan ruhig mit uns Krieg anfangen - er muß zehn Jahre lang auf dem Meere fahren, bis er zu unserem Reich kommt, aber in zehn Jahren kann bei einem überseeischen König irgendein Weiser ein Pferd sprechen lehren.«

»Ach du, du hast wirklich recht!« sagte König Archidei. »Ich danke dir, du mein gestreifter Narr! Ich werde dich reich belohnen! Ich lasse dir eine neue Narrenkappe nähen und deinen Kindern Lebkuchen geben. Lauft schnell und bringt mir den siebenten Simeon her!

Auf den königlichen Befehl öffneten sich die schweren eisernen Gefängnistüren, und dem siebenten Simeon wurden die sieben Pud schweren Ketten abgenommen. Sie führten ihn zu König Archidei, und der sagte zu ihm: »Höre siebenter Simeon -ich wollte dich bestrafen, wollte dich ewig bei Wasser und Brot im Gefängnis sitzen lassen. Wenn du mir aber jetzt einen Dienst erweist, so soll es damit sein Bewenden haben. Ich entlasse dich aus dem Gefängnis und werde dich überdies aus meinem königlichen Schatz belohnen. Kannst du mir beim König von Busan seine Tochter, die schöne Prinzessin Helena, stehlen?«

»Warum sollte ich sie nicht stehlen können, König Archidei?« antwortete Simeon. »Die Prinzessin Helena zu stehlen -da denke ich



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mir gar nichts dabei. Sie besteht ja nicht aus Perlen, die hinter dreifachen Schlössern verborgen sind! Befiehl nur, daß das Schiff, das mein Bruder, der dritte Simeon, gemacht hat, mit Brokat, Samt, persischen Teppichen, runden Perlen und echten Edelsteinen beladen wird und laß mich mit den vier mittleren Brüdern fahren, die zwei anderen können ruhig als Bürgen bei dir verbleiben.«

Da brannte der König Archidei vor Eifer . . Er ließ das Schiff herrichten und alles einladen. Seine Heerführer und Räte beeilten sich, und im Nu war alles bereit. Auf den königlichen Befehl hin ging es schneller, als man gemähtes Getreide zu einer Garbe binden kann. Das Schiff wurde mit Brokat, Samt, persischen Teppichen, runden Perlen und Edelsteinen beladen. Die fünf Simeons grüßten den König, stiegen ins Schiff, spannten die Segel, und schon konnte man sie nicht mehr sehen.

Das Schiff sauste auf dem hohen Meer dahin, es flog schneller als ein Falke, überholte alle fremden Schiffe, und wo die ein Jahr lang brauchten, fuhr es nur einen Tag. Am Samstag hatten die Simeons vor dem König den Hafen verlassen, und als sie sich am nächsten Samstag umsahen da tauchte aus dem Meer die Insel Busan auf. Die Ufer waren mit Kanonen wie mit Erbsen besät. Männer mit Schnurrbärten gingen steif am Ufer auf und ab. Im königlichen Schloß aber schrie man auf einem hohen Turm mit schallender Stimme durch ein Sprachrohr: »Halt! Werft die Anker! Gebt Antwort! Was seid ihr für Leute?«

Der siebente Simeon antwortete: »Wir sind friedliche Leute, keine Krieger, wir sind fremde Schiffer. Wir haben die Fahrt zu euch auf die Insel Busan gemacht, bringen vielerlei Muster, überseeische Waren, und wollen verkaufen, tauschen, Spitzen für Seife, Zimt für Weizen, und eurem König und eurer Königin wollen wir Geschenke bringen.«

Die Simeonows ließen einen Kahn ins Meer hinab und legten Brokat, Samt, runde Perlen, echte Edelsteine und Perserteppiche hinein. Dann ruderten sie zum Ufer und wollten die Geschenke zum König und zu der schönen Prinzessin Helena bringen. Die saß in ihrem roten Gemach, schön und lieblich. Augen hatte sie wie ein Falke, Augenbrauen wie Zobelfell - und sie schritt wie ein schwimmender Schwan.



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Als die Prinzessin Helena die Simeonows gesehen hatte, rief sie ihre Wärterinnen und Kammerzofen: »Geht, ihr meine Wärterinnen und Kammerzofen, und schaut, was das für Leute sind, die zum königlichen Palaste kommen!«

Die Wärterinnen und Kammerzofen liefen und fragten die Simeonows, der siebente Simeon aber antwortete ihnen: »Wir sind fremde Schiffer, friedsame Handelsleute aus dem Reich des Königs Archidei. Wir sind zum Handeln, Einkaufen, Verkaufen, Tauschen gekommen und bringen dem König und der Königin verschiedene Kleinigkeiten. Vielleicht ist uns der König gnädig und befiehlt, daß wir, wenn auch nur zum Verkauf von Putzsachen an seine Kammerzofen, zugelassen werden.«

Als die Prinzessin Helena diese Worte vernommen hatte, ließ sie die Simeonows zu sich rufen. Sie kamen, verneigten sich vor der Prinzessin und breiteten Brokat und Samt aus, schütteten runde Perlen hin und legten ihr echte Edelsteine vor, wie man sie im Königreich Busan noch nie gesehen und von denen man dort noch niemals gehört hatte.

»Ach! Ach!«schrien die Wärterinnen und Kammerzofen, und auch die Prinzessin war begeistert.

Der siebente Simeon aber hielt folgende Rede: »Prinzessin Helena, du überaus Kluge! Du treibst deinen Scherz mit uns oder verspottest uns: Was sind das hierfür Muster, was für ein Samt, was für Brokat! Laß sie von deinen Kammerzofen fortnehmen, die Perlen können deine Wärterinnen als Halsketten tragen, und mit diesen teueren Steinen können deine Köche anstatt mit Knöchelchen spielen. Aber höre, wenn du es mir zu sagen erlaubst: Auf dem Schiff haben wir vielfarbige Gewebe, Perlen und funkelnde Edelsteine. Wir haben uns aber nicht getraut, sie mitzunehmen, denn wir wußten ja nicht, ob wir vor dir Gefallen fänden. Könntest du dich nicht entschließen, selber zu uns aufs Schiff zu kommen und dir dort auszusuchen, was dir gefällt? Wir verneigen uns tief vor dir allein dafür, daß wir deine hellen, wunderschönen Augen sehen dürfen!«

Diese höflichen Worte gefielen der Prinzessin wohl. Sie ging zu ihrem Vater, dem König von Busan, und sagte: »König und Herr! Da sind zu uns fremde Schiffer gekommen und haben wundervolle Sachen mitgebracht. Erlaube mir, auf ihr Schiff zu gehen und mir auszusuchen,



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was mir gefällt. Auch für dich haben sie reiche Geschenke gebracht!«

Der König von Busan dachte lange nach, runzelte die Stirn und kratzte sich hinterm Ohr.

»Gut«, sagte er, »meine Tochter Prinzessin Helena, du Wunderschöne! Geht, meine Heerführer, und laßt mein königliches Schiff mit hundert Kanonen ausrüsten, dann stellt ihr dort hundert Ritter auf und zu diesen noch tausend Mann aus meiner Leibwache mit Gewehren. Sie sollen die schöne Prinzessin Helena zum Schiff der fremden Kauffahrer bringen.«

Das königliche Schiff fuhr vom Ufer der Insel Busan weg. Viele Leibwachen und Ritter saßen auf ihm, und viele Kanonen waren aufgestellt. Als es zum Schiff der Brüder Simeonow kam, stieg die Prinzessin Helena über eine seidene Treppe hinauf und ging über einen Laufsteg aus Kristall mit ihren Wärterinnen in das Schiff. Der siebente Simeon führte sie umher, erzählte ihnen Märchen und zeigte ihnen die Waren - Prinzessin Helena schaute alles an und hörte eifrig zu. Indessen zögerte der vierte Simeon nicht länger, packte das Schiff an seinem schwarzen Schnabel, und schon waren sie verschwunden: Das Schiff war von der Oberfläche des Meeres hinab in die Tiefe getaucht, dorthin, wo stille, unzugängliche Abgründe sind.

Jetzt fingen die Schiffsleute von Busan ein fürchterliches Geschrei an. Die königliche Leibwache stand da und ließ die Ohren hängen, sie waren wie betrunken, die Ritter aber klapperten nur mit den Augenlidern. Ihr Schiff fuhr zum Ufer zurück, sie gingen zum König und erzählten ihm von dem unerwarteten, unfaßbaren Unglück.

Da tobte und heulte der König von Busan: »Du, meine Tochter, Prinzessin Helena, du Wunderschöne! Gott hat mich für meinen Hochmut bestraft: Ich habe für dich keinen ebenbürtigen Bräutigam gefunden, und nun hast du dich mit dem Abgrund des Meeres vermählt und mich in meinen alten Tagen vereinsamt zurückgelassen.«

Dann aber fuhr er auf die Leibwache und auf seine Ritter los: »Ihr Trottel, wo habt ihr euere Augen gehabt! Allen sollen die Köpfe herunter! Werft sie in eiserne Fesseln und denkt darüber nach, wie



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man sie hinrichten soll, daß Kinder und Enkel noch daran denken!«

Während der König von Busan noch zürnte und grollte, schwamm das Schiff der sieben Simeonows unter dem Meer dahin. Sobald die Insel Busan außer Sicht war, zog es der vierte Simeon aufs Meer empor. Wie eine weißgeflügelte Möwe tauchte es auf.

Auf einmal wurde die Prinzessin Helena nachdenklich: »Ach!«sagte sie zu ihren Wärterinnen, »wir haben alles betrachtet und angeschaut, und es ist schon viel Zeit vergangen -hoffentlich ist mein liebes Väterchen indessen nicht böse und zornig geworden.«

Sie ging auf das Deck des Schiffes. Sie sah sich um -überall spiegelglattes Meer, keine Insel Busan, von dem Busanschen Schiff nichts zu sehen und nichts zu hören!

Die schöne Prinzessin Helena seufzte tief auf, schlug mit den Händen gegen ihre weiße Brust, verwandelte sich in einen weißen Schwan und flog davon in die Lüfte. Aber der fünfte Simeon besann sich keinen Augenblick. Er ergriff sein Gewehr und schoß den weißen Schwan herunter, der sechste Simeon ließ ihn aber nicht ins Meer fallen, sondern brachte ihn aufs Schiff. Kaum wollte er ihn freilassen, da wurde aus dem Schwan ein silbernes Fischlein, das rasch untertauchen wollte. Aber Simeon ließ es nicht dazu kommen. Er packte das Fischlein, aber das Fischlein war schon kein Fischlein mehr, sondern ein schwarzes Mäuslein rannte jetzt auf dem Schiff umher. Aber Simeon ließ sich nicht verblüffen: Das Mäuslein konnte in kein Loch schlüpfen, er sprang schneller als eine Katze dahinter her, fing es - und dann war die Prinzessin Helena wieder da wie früher, ein schönes Mädchen mit weißem, rundem Gesicht, so schön, daß man es sich nicht vorstellen kann, selbst wenn man drei Tage lang nachdenkt.

Eines Tages, am frühen Morgen, saß König Archidei Agejewitsch nachdenklich da, schaute durch das kristallene Fenster und wandte den Blick nicht vom Meer. Er konnte nicht mehr schlafen, sein feuriges Herz war traurig, die königlichen Gastmähler behagten ihm nicht mehr, keine Süßigkeiten schmeckten ihm mehr, der starke Met konnte ihn nicht mehr berauschen. Seine Gedanken waren nur noch bei der Prinzessin Helena, der Wunderschönen. Der König schaute aufs weite Meer hinaus: Was ist dort? Kommt eine weiße Möwe geflogen



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oder bläht der Wind ein Segel? Nein! Keine Möwe ist es, sondern das Schiff der Simeonows fliegt mit vollen Segeln daher, feuert aus Kanonen, und im Takeiwerk spielen sie mit den Bogen Musik. Am Ufer wurde die Signalkanone abgefeuert, vom Schiff ließen sie den schweren Anker fallen, legten den kristallenen Laufsteg ans Ufer-und aus dem Schiff trat Prinzessin Helena, schön wie die niemals untergehende Sonne.

Der König Archidei geriet in Entzücken: »Lauft alle, die ihr in der Nähe seid«, sagte er, »ihr Tafeldecker, Tassenreicher, Hofleute und Speisenträger - schießt aus den Kanonen und schlagt die Pauken, läutet die Glocken und geht der Prinzessin Helena, der Wunderschönen, entgegen!«

Der ganze königliche Hof geriet in Aufregung, alle liefen geschäftig hin und her, breiteten feingewebte Teppiche aus, öffneten die großen Tore und gingen der Prinzessin Helena entgegen. Der König selber schritt auf sie zu, nahm sie bei der weißen Hand und führte sie in seinen Palast.

»Sei wie zu Hause«, sagte er, »Prinzessin Helena, du Wunderschöne! Durch dich ist ein großes Glück über mich gekommen, ich habe nicht zu hoffen gewagt, eine solche Schönheit zu sehen. Aber ich werde mit deinen Eltern keinen Krieg führen: Wenn du es befiehlst, wird man dich mit meinem Schiff wieder in deine Heimat bringen. Wenn du aber in meinem Reich bleiben willst, so sei Königin über mein Reich und über mich selber, den König Archidei!«

Am Ufer wurde die Signalkanone abgefeuert, und vom Schiff ließen sie den schweren Anker fallen. Da sah die Prinzessin Helena den König so an, daß es ihm wurde, als ob die Sonne tanze, der Mond Lieder sänge und die Sterne die Prisadka drehen .

Die Prinzessin Helena aber schrieb einen Brief, mit dem die Brüder Simeonow zum König von Busan fahren sollten. Sie schrieb: »König und Herr, liebes Väterchen! Ich habe für mich einen Bräutigam nach meinem Herzen und nach meinen Wünschen gefunden und bitte um deinen väterlichen Segen. Mein Bräutigam aber, der König Archidei, schickt Bojaren als Gesandte zu dir und bittet dich, zur Hochzeit zu kommen.«



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In dem Augenblick, da das Schiff zur Insel Busan abfuhr, wurden gerade die Ritter und Leibwächter, welche die Prinzessin hätten bewachen sollen und nicht bewacht hatten, in den Zolihafen geführt. Der König hatte befohlen, allen, vom ersten bis zum letzten, die Köpfe abzuschlagen.

»Halt, tu ihnen nichts!« schrie der siebente Simeon vom Schiff aus. »Hier ist ein Brief von Prinzessin Helena.« Der König von Busan war hoch erfreut, las den Brief der Prinzessin und ließ die Dummköpfe nicht hinrichten.

»Ich sehe«, sagte er, »daß alles damals so geschehen mußte, daß meine Tochter dem König Archidei vom Schicksal zubestimmt und für ihn geschmückt war.« Er bewirtete die königlichen Gesandten und die Simeonows und sandte mit ihnen seinen väterlichen Segen. Als die Simeonows zum König Archidei zurückgekommen waren, freuten sich er und die Prinzessin Helena so sehr, daß er alle sieben kommen ließ und zu ihnen sagte: »Ich danke euch, ihr meine Bauern, Feldpflüger und Arbeiter! Nehmt von mir Gold und Silber, soviel ihr wollt, und verlangt, was euer Herz begehrt - alles will ich euch aus meiner mächtigen Hand geben! Wollt ihr Bojaren werden — ich mache euch zu den größten Bojaren! Wollt ihr Wojewoden werden, ich werde jedem eine Stadt geben!«

Da verneigte sich der älteste Simeon vor dem König und sagte: »König Archidei! Wir sind einfache Leute, und unser Tun ist bäuerlich. Wo sollen wir da bei dir Bojaren und Wojewoden sein! Deine Schätze brauchen wir nicht, wir haben das väterliche Feld, davon werden wir Brot zum Leben und Geld fürs Nötige haben. Laß uns gehen und belohne uns mit deinem milden Wort. Wenn du aber schon so gnädig bist, so gib uns einen weißen Schutz- und Freibrief, daß deine Büttel sich nicht mehr auf unserem Feld herumtummeln und deine Richter nicht über uns richten, sondern nur du selber, König Archidei, mit deinem königlichen Urteil, wenn wir schuldig werden. Verzeihe auch dem siebenten Simeon wegen seines Handwerks - er ist ja nicht der erste und nicht der letzte!«

»Euer Wunsch sei erfüllt!« sagte der König. »Ich gebe euch meinen weißen Schutz- und Freibrief. Richter und Büttel dürfen eure Felder nicht betreten, und über eure Schuld richte ich selber, der König Archidei, mit meinem Urteil.«



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Drauf ließ der König Archidei jedem Simeon ein Glas grünen Weines reichen, er selber aber begann die Hochzeit zu rüsten und ließ ein Gastmahl zubereiten.

Und welch ein Gastmahl hat es da gegeben.


Iwan-Kuhsohn

In einem fernen Zarenreich lebte dereinst ein Zar mit seiner Zarin, die hatten keine Kinder. Wie sehr sie sich auch grämten, wie viele Zauberkundige sie befragten, Kinder bekamen sie nicht.

Eines Tages kam nun ein Großmütterchen vom Hinterhof zu ihnen ins Haus.

»Legt Netze aus im Meer«, sprach sie, »es wird sich ein Fischlein Goldflosse drin fangen. Kocht es in sieben Wassern ab und laßt die Zarin davon essen - da wird sie bald guter Hoffnung sein .

Der Zar befahl alsbald Netze zu knüpfen und diese im blauen Meer auszulegen, um das Fischlein Goldflosse zu fangen. Die Fischer warfen Netze aus im blauen Meer und fingen nichts, sie warfen sie ein zweites Mal aus - wieder nichts, beim dritten Mal aber haben sie wahrhaftig das Fischlein Goldflosse gefangen.

Sie nahmen es und brachten es dem Zaren. Der belohnte die Fischer und befahl, das Fischlein in die Küche zu bringen, es in sieben Wassern abzukochen und der Zarin vorzusetzen. Die Köche putzten das Fischlein, wuschen und kochten es, das Brühwasser aber schütteten sie auf den Hof. Da lief gerade eine Kuh über den Hof, die leckte an dem Brühwasser. Die Küchenmagd legte das Fischlein auf eine Platte, um es der Zarin zu bringen; unterwegs aber rupfte sie sich eine kleine Goldflosse ab und kostete davon. Die Zarin verzehrte das ganze Fischlein.

Alle drei wurden am selben Tage guter Hoffnung: die Kuh, die Küchenmagd und die Zarin; und alle drei gebaren zur gleichen Stunde einen Sohn. Die Zarin gebar Iwan-Zarewitsch, die Magd - Iwan-Magdsohn, und auch die Kuh gebar einen Menschen, und dieser wurde Iwan-Kuhsohn genannt.

Die Kinder hatten gleiche Gesichter, gleiche Haare und gleiche Stimmen. Sie wuchsen heran nicht etwa in Tagen, nein, in Stunden:



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wie sich im Hefestück der Teig hebt, so wurden sie größer und immer größer . . . Ob's kurze Zeit, ob's länger gedauert hat, sie mochten so gut an die zehn Jahre zählen, da fingen sie an, sich mit anderen Burschen die Zeit zu vertreiben, wollten mit ihnen spielen und lustig sein. Bald aber arteten die Späße aus, denn faßten sie einen Burschen bloß an der Hand - war dessen Hand ab, faßten sie ihn am Kopf — war der Kopf ab! Klagen über Klagen wurden im Volke laut. Da sprach Iwan-Kuhsohn zu seinen Brüdern: »Statt beim Väterchen Zar herumzusitzen und das Volk zu beunruhigen, wollen wir lieber in ferne Reiche ziehen!«

Iwan-Zarewitsch, Iwan-Magdsohn und Iwan-Kuhsohn gingen zum Zaren und baten, er möge ihnen eiserne Keulen schmieden lassen und ihnen seinen väterlichen Segen geben zur Fahrt in die Fremde, wo sie sich ebenbürtige Gegner suchen wollten.

Der Zar befahl, drei eiserne Keulen zu schmieden. Eine Woche lang schmiedeten die Schmiede. Dann waren die Keulen fertig: niemand konnte sie auch nur an einem Ende anheben. Iwan-Zarewitsch, Iwan-Magdsohn und Iwan-Kuhsohn aber drehten sie zwischen den Fingern, als wären es Gänsefederkiele.

Die Brüder traten jetzt in den weiten Hof hinaus.

»Los, ihr Brüder«, rief Iwan-Zarewitsch, »wir wollen mal unsere Kräfte messen: wer von uns seine Keule am höchsten schleudern kann, soll der Älteste sein!«

»Gut - wirf du als erster!«

Iwan-Zarewitsch schleuderte seine Keule, sie flog hoch -kaum war sie noch mit den Augen zu verfolgen; nach einer Stunde erst fiel sie wieder zur Erde. Nach ihm kam Iwan-Magdsohn an die Reihe: die Keule flog noch höher, war gar nicht mehr zu sehen und erst nach zwei Stunden fiel sie wieder zur Erde. Als aber Iwan-Kuhsohn seine Keule schleuderte, flog sie hoch über die Wolken hinauf und kam erst drei Stunden darauf wieder zur Erde zurück.

»Iwan-Kuhsohn, du sollst nun der Älteste sein!«

Die drei Brüder sattelten ihre Pferde, baten den Zaren um seinen Segen und ritten hinaus, der Ferne entgegen - so weit das Auge reichte!

Sie ritten über Berg und Tal und grüne Wiesen und kamen, nach kürzerer oder längerer Zeit - gar schnell ist ein Märchen erzählt,



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nicht so rasch eine Tat getan - an den Fluß Smorodinà. Eine Holunderbrücke führte über den Fluß, und an den Ufern war fast knietief Menschengebein aufgehäuft.

Die Brüder sahen eine Hütte, gingen hinein und fanden sie leer. Sie beschlossen, da zu rasten. Sie nahmen den Pferden das Zaumzeug ab, aßen und tranken, bis es Abend wurde. Da sprach Iwan-Kuhsohn zu seinen Brüdern: »Wir wollen hier nun jede Nacht abwechselnd Wache halten und aufpassen, wer wohl über diese Brücke reitet.« «

Sie warfen das Los: die erste Nacht sollte Iwan-Zarewitsch Wache stehen, die zweite Iwan-Magdsohn und die dritte Iwan-Kuhsohn. Iwan-Zarewitsch zog sich an und ging auf seinen Posten, zum Flusse Smorodinà, an die Holunderbrücke. Eine Weile ging er dort auf und ab und schlief schließlich ein. Iwan-Kuhsohn in der Hütte aber fand keinen Schlaf. Er drehte und wendete sich, verknüllte das Kissen unterm Kopf- er stand auf, zog sich Schuhe und Kleider an, nahm seine Keule und ging hinaus zur Brücke. Da fand er nun Iwan Zarewitsch in festem Schlaf. Iwan-Kuhsohn faßte den Schlafenden unter die Schultern und trug ihn unter die Brücke, er selber aber setzte die Wache fort .

Da brausten die Wasser auf im Fluß, die Adler auf den Eichen fingen zu schreien an, die Brücke dröhnte - und angeritten kam das Wunderwesen Tschudo-Judo, der sechsköpfige Drache.

Plötzlich stolperte das Roß des Drachen, ein schwarzer Rabe auf seiner Schulter flatterte auf, und der Windhund hinter ihm sträubte sein Fell. Da sprach zu ihnen Tschudo-Judo: »Was stolperst du, Wolfsgezücht? Was flatterst du, Rabengefieder? Und du, Hundefell, was sträubst du dich? Spürt ihr Freund oder Feind?«

»Einen Feind spüren wir.«

»Gelogen ist das, in aller Welt besteht für mich kein Widersacher, es sei denn Iwan-Kuhsohn. Von dem aber hat nicht mal ein Rabe das Gebein hierhergebracht, geschweige denn, daß er selber hier wäre!«

Da sprang Iwan-Kuhsohn unter der Brücke hervor: »Du irrst! Hier bin ich selber!«

»Was führt dich her, Iwan-Kuhsohn? Willst du meine Töchter oder meine Schwestern freien?«



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»Ach, du Wunderwesen, Tschudo-Judo, sechsköpfiger Drache du, im Felde fechten, heißt nicht Sippschaft flechten, wir wollen uns im Kampf messen!«

Sie gingen gegeneinander an, prallten hart aufeinander. Dem Wunderwesen aber war das Glück nicht hold: Iwan-Kuhsohn hieb ihm mit einem Schlag drei Köpfe ab.

»Halt ein, Iwan-Kuhsohn, gewähre mir eine Atempause!«

»Keine Atempause, Tschudo-Judo! Bei mir heißt es: schlagen und schlachten - seiner selbst nicht achten!«

Wieder gingen sie aufeinander los. Tschudo-Judo schlug zu, Iwan-Kuhsohn sank bis an die Knie in die feuchte Erde, hieb aber seinerseits zu und schlug Tschudo-Judo die restlichen drei Köpfe ab; zerhackte den Rumpf und warf die Stücke in den Fluß, die sechs Köpfe aber versteckte er unter der Holunderbrücke. Dann kehrte er in die Hütte zurück.

Frühmorgens kam Iwan-Zarewitsch zurück.

»Na, Bruder, was hast du erspäht? Wer ging, wer ritt über die Holunderbrücke?«

»Ich sah niemanden reiten, niemanden gehen, Brüderlein. Nicht eine Fliege ist an mir vorbeigeflogen.«

Die zweite Nacht zog Iwan-Magdsohn auf die Wache. Eine Weile ging er auf und ab, schlüpfte dann ins Gebüsch und schlief ein. Iwan-Kuhsohn aber in der Hütte fand keinen Schlaf, drehte und wendete sich, das Kissen verknüllte sich ihm unterm Kopf. . . Gegen Mitternacht stand er auf, zog Schuhe und Kleider an, nahm seine Keule, ging hinaus und stellte sich unter die Holunderbrücke.

Da brausten die Wasser auf im Fluß, die Adler auf den Eichen fingen zu schreien an, die Brücke dröhnte -angeritten kam das Wunderwesen Tschudo-Judo, der neunköpfige Drache. Seinem Roß stieg Rauch aus den Ohren, und Flammen schlugen aus seinen Nüstern. Plötzlich stolperte das Roß des Drachen, der schwarze Rabe auf seiner Schulter flatterte auf, der Windhund hinter ihm sträubte sein Fell.

»Was stolperst du, Wolfsgezücht? Was flatterst du, Rabengefieder?

Und du, Hundefell, was sträubst du dich? Spürt ihr Freund oder Feind?«

»Einen Feind spüren wir, ist nicht Iwan-Kuhsohn hier?«



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»Von dem hat nicht mal ein Rabe das Gebein hierhergebracht, geschweige denn, daß er selber hier wäre!« Da sprang Iwan-Kuhsohn unter der Brücke hervor:

»Du lügst, hier bin ich selber!«

»Was führt dich her, Iwan-Kuhsohn? Willst du meine Töchter oder meine Schwestern freien?«

»Ach, du Wunderwesen, du neunköpfiges, im Felde fechten -nicht Sippschaft flechten, kämpfen wollen wir!«

Sie gingen sich hart an, prallten aufeinander, daß rings die Erde aufstöhnte; Iwan-Kuhsohn holte aus mit seiner Keule - schlug Tschudo-Judo drei Köpfe ab, holt nochmals aus -schlug ihm wieder drei Köpfe ab. Tschudo-Judo schlug zu - bis zum Gürtel fuhr Iwan-Kuhsohn in die feuchte Erde.

Iwan Kuhsohn griff eine Handvoll Erde und warf sie Tschudo-Judo in die Augen; ehe dieser sich die Glotzaugen ausgerieben hatte, schlug Iwan-Kuhsohn ihm die restlichen drei Köpfe ab. Den Rumpf hieb er in Stücke und warf diese in den Fluß Smorodinà, die neun Köpfe aber versteckte er unter der Holunderbrücke. Dann ging er in die Hütte zurück und legte sich schlafen. Frühmorgens kam Iwan-Magdsohn zurück.

»Nun, Bruder, was hast du erspäht? Wer ging, wer ritt über die Holunderbrücke?«

»Niemand, Brüderlein, nicht eine Fliege ist an mir vorbeigeflogen, nicht eine Mücke vorbeigesummt!«

Iwan-Kuhsohn führte die Brüder unter die Holunderbrücke, zeigte ihnen die Drachenköpfe und hub an, sie zu schmähen: »Oh, ihr Helden! Zum Kampf taugt ihr nicht -in der Stube müßt ihr hocken, auf dem Ofen liegen!«

In der dritten Nacht machte sich Iwan-Kuhsohn für die Wache fertig. Er stieß ein Messer in die Wand und hing ein weißes Handtuch darüber, auf den Fußboden, unter das Handtuch, stellte er eine Schüssel.

»Ich ziehe in einen schrecklichen Kampf, Brüder! Ihr aber schlaft nicht in dieser Nacht. Gebt gut acht, wenn Blut aus dem Handtuch zu rinnen beginnt: läuft die Schüssel halb voll Blut, so steht es gut um mich; auch wenn sie ganz vollaufen sollte, ist es noch nicht gar so schlimm, läuft sie aber über - dann eilt mir zu Hilfe!«



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Iwan-Kuhsohn stand unter der Holunderbrücke, Mitternacht war grade vorüber. Die Wasser im Fluß brausten auf, die Adler auf den Eichen fingen zu schreien an, die Brücke dröhnte -Tschudo-Judo, der zwölfköpfige Drache, kam angeritten. Seinem Roß stieg Rauch aus den Ohren, Flammen schlugen aus seinen Nüstern, garbenweise schleuderten die Hufe den Ruß hinter sich.

Da stolperte das Roß unter dem Drachen, der Rabe auf seinen Schultern flatterte auf, der Windhund hinter ihm sträubte das Fell. »Was stolperst du, Wolfsgezücht? Was flatterst du, Rabengefieder? Und du, Hundefell, was sträubst du dich? Freund oder Feind, was wittert ihr?«

»Den Feind wittern wir! Iwan-Kuhsohn ist hier!«

»Ihr lügt! Kein Rabe noch hat je sein Gebein hierhergebracht!« »Ach du, Tschudo-Judo, du zwölfköpfiges Wunderwesen, du«, rief da Iwan-Kuhsohn und sprang unter der Brücke hervor, »wohl hat noch kein Rabe je meine Gebeine hierhergebracht, ich selber bin es, der hier vor dir steht!«

»Was willst du hier?«

»Will dich mal näher besehn, du unreine Macht! Deine Kraft erproben will ich in der Schlacht!«

»So warst du es, der meine Brüder umgebracht hat? Und jetzt glaubst du, auch mich besiegen zu können? Ein Schnaufer nur von mir, und es bleibt auch nicht ein Stäubchen von dir übrig!«

»Ich bin nicht zum Märchenanhören hierhergekommen! Laß uns auf Tod und Leben kämpfen!«

Iwan-Kuhsohn holte aus mit seiner Keule und schlug Tschudo-Judo drei Köpfe ab. Tschudo-Judo fing die Köpfe auf, strich sachte mit seinem Feuerfinger darüber -schon waren die Köpfe wieder angewachsen, als wären sie ihm nie von den Schultern gerollt. Tschudo-J udo schlug seinerseits zu und trieb Iwan-Kuhsohn bis zu den Knien in die feuchte Erde.

Da nun stand es schlecht um Iwan-Kuhsohn.

»Halt ein, böse Macht, gib mir eine Atempause!« Tschudo-Judo gab ihm eine Atempause. Iwan-Kuhsohn streifte den rechten Handschuh ab und schleuderte ihn nach der Hütte. Der Handschuh schlug Türen und Fenster ein, die Brüder aber schliefen und merkten nichts.



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Iwan-Kuhsohn holte ein zweites Mal aus, stärker als das erste Mal, und schlug Tschudo-Judo sechs Köpfe ab. Tschudo-Judo fing sie auf, strich mit seinem Feuerfinger leicht darüber -alle Köpfe saßen wieder auf ihrem Platz; nun schlug Tschudo-Judo seinerseits ein zweites Mal zu und jagte Iwan-Kuhsohn bis zum Gürtel in die feuchte Erde.

»Halt an, böse Macht, gib mir eine Atempause!«

Iwan-Kuhsohn streifte den linken Handschuh ab und schleuderte ihn nach der Hütte. Der Handschuh riß das ganze Dach herunter, die Brüder aber schliefen und merkten nichts.

Ein drittes Mal holte Iwan-Kuhsohn aus, mächtiger noch als die beiden ersten Male, und hieb Tschudo-Judo neun Köpfe ab. Tschudo-Judo fing sie auf, strich sachte mit dem Feuerfinger darüber -die Köpfe saßen alle wieder fest. Doch nun jagte Tschudo-Judo Iwan-Kuhsohn bis unter die Schulter in die feuchte Erde.

»Halt ein, böse Macht, gib mir ein drittes Mal eine Atempause!« Iwan-Kuhsohn nahm seine Mütze ab und schleuderte sie nach der Hütte. Von diesem Schlag fiel die ganze Hütte zusammen, und alle Balken rollten durcheinander.

Jetzt fuhren die Brüder aus dem Schlaf auf, sahen sich um: das Handtuch war ganz blutig, auf dem Fußboden lief die Schüssel über von Blut. Erschrocken griffen sie zu ihren Keulen und liefen dem Bruder zu Hilfe.

Inzwischen war es Iwan-Kuhsohn gelungen, Tschudo-Judo den Feuerfinger abzuschlagen. Und nun begannen die Brüder gemeinsam, dem Ungeheuer die Köpfe abzuhauen.

Sie kämpften den ganzen Tag über bis zum hereinbrechenden Abend und überwältigten endlich Tschudo-judo den zwölfköpfigen gefährlichen Drachen, schlugen ihm alle seine Köpfe ab, bis zum letzten, den Leib hieben sie in Stücke und warfen sie in den Fluß Smorodinà.

Ganz früh am anderen Morgen sattelten die Brüder ihre Pferde und ritten weiter. Da sagte plötzlich Iwan-Kuhsohn: »Halt! Ich habe meinen Handschuh vergessen! Reitet langsam weiter, Brüder, ich hole euch bald wieder ein.«

Er ritt etwas abseits, stieg ab, ließ sein Pferd auf einer Wiese weiden, verwandelte sich in einen Sperling und flog über die Holunder-



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brücke, über den Fluß Smorodinà zu dem Gebäude aus weißen Steinen; dort setzte er sich ans offene Fenster und lauschte.

In dem Gebäude aus weißen Steinen aber saß die alte Drachenmutter mit ihren drei Schwiegertöchtern, den Frauen der Tschudo-Judos. Sie berieten, wie sie wohl den bösen Iwan-Kuhsohn mit seinen beiden Brüdern umbringen könnten.

»Ich lasse Hunger über sie kommen«, sagte die jüngste Schwiegertochter, »und verwandle mich selber in einen Apfelbaum voll wunderschöner Äpfel. Jeder von ihnen wird ein Äpfelchen verzehren - da wird es sie in Stücke reißen.«

Die mittlere Schwiegertochter sprach: »Ich lasse Durst über sie kommen und verwandle mich in einen Brunnen - sie sollen es nur probieren, aus mir zu trinken!« Die älteste Schwiegertochter sagte: »Und ich, ich lasse Schlaf über sie kommen, verwandle mich in ein weiches Bett - wer sich auf mich legt, wird lichterloh brennen!«

»Ich werde mich in eine alte Sau verwandeln«, sagte die alte Drachenmutter, »meinen Rachen aufreißen und sie alle drei verschlingen!«

Iwan-Kuhsohn hörte sich das alles an, flog zurück zu den grünen Wiesen, warf sich zur Erde und stand wieder auf als schmucker Bursche. Seine Brüder hatte er bald wieder eingeholt, und so zogen sie weiter ihres Weges. War es lang oder kurz, daß sie so dahinritten —Hunger begann sie zu quälen, und sie hatten nichts zu essen. Doch sieh! Da stand am Weg vor ihnen ein Apfelbaum mit herrlichen Äpfeln an seinen Zweigen. Iwan-Zarewitsch und Iwan-Magdsohn wollten sich gleich daranmachen, Äpfel zu pflücken, Iwan-Kuhsohn aber kam ihnen zuvor und hackte kreuz und quer auf den Baum ein, daß das rote Blut nur so herausspritzte!«

»Da könnt ihr sehn, ihr Brüder, was das für ein Baum ist!«

Sie ritten weiter über Steppen und Wiesen, und immer heißer wurde der Tag, kaum noch auszuhalten. Und nun bekamen sie auch noch Durst. Da sahen sie einen Brunnen, eine frische Quelle. Die jüngeren Brüder stürzten gleich darauf zu, Iwan-Kuhsohn aber sprang vor ihnen vom Pferde und begann auf die Quelle loszuschlagen, daß das Blut nur so spritzte.

»Da könnt ihr sehn, ihr Brüder, was das für eine Quelle ist!« Der Tag wurde nebliger, die Hitze ließ nach, und kein Durst quälte



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sie mehr. Und so ritten sie denn wieder ihres Weges dahin. Die dunkle Nacht brach an, sie konnten sich kaum noch des Schlafes erwehren, sahen schließlich ein Hüttchen, Licht schien aus dem Fenster; im Hüttchen stand eine hölzerne Bettstelle mit Daunenbetten.

»Laß uns hier übernachten, Iwan-Kuhsohn!«

Der aber sprang vor und hackte kreuz und quer auf das Bett los, daß das Blut nur so herumspritzte.

»Da könnt ihr sehn, ihr Brüder, was das für ein Daunenbett ist!« Da war ihnen rasch aller Schlaf vergangen.

Weiter ritten sie ihres Weges und hörten, daß sie verfolgt wurden: die alte Drachenmutter kommt als Sau angebraust, hat ihren Rachen aufgesperrt von der Erde bis hinauf zum Himmel. Iwan-Kuhsohn sieht - es ist schlecht bestellt um ihn und seine Brüder. Wie sollen sie sich retten? Da wirft er der Sau drei Fuder Salz in den Rachen. Die Drachenmutter schlingt alles hinunter, kriegt Durst und läuft zum blauen Meer hinunter.

Bis aber die Drachenmutter fertig war mit Trinken, waren die Brüder weit davongeritten; doch kaum hatte die Drachenmutter ihren Durst gelöscht, als sie auch schon die Verfolgung wieder aufnahm. Die Brüder trieben ihre Rosse an und kamen im Wald an eine Schmiede. Sie gingen hinein: »Auf, ihr Schmiede, schmiedet uns zwölf eiserne Ruten und bringt die Zangen in Rotglut. Eine große Sau wird angerannt kommen und wird zu euch sprechen: >Gebt den Schuldigen heraus!< —Gebt ihr zur Antwort: >Leck doch mit deiner Zunge zwölf eiserne Türen durch und hol ihn dir selber!«

Da kommt auch schon die alte Drachenmutter in Gestalt einer riesigen Sau dahergerannt und schreit: »Schmiede! Schmiede! Gebt mir den Schuldigen heraus!«

Die Schmiede antworten, wie Iwan-Kuhsohn ihnen befohlen hat: »Leck mit der Zunge zwölf eiserne Türen durch, und hol ihn dir selber! «

Das Drachenweib machte sich ans Lecken. Sie leckte alle elf Türen durch und steckte die Zunge durch die zwölfte. Iwan-Kuhsohn packte die Zunge mit der rotglühenden Zange, die Brüder hieben mit den eisernen Ruten auf die Sau los und zerfleischten das Drachenweib bis auf die Knochen. Die tote Drachenmutter verbrannten sie und streuten die Asche in alle Winde.



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Nachher ritten die drei, Iwan-Kuhsohn, Iwan-Magdsohn und Iwan-Zarewitsch, wieder nach Hause.

Dort lebten sie in Saus und Braus, bei Spiel und Festen. Auch ich bin da hineingekommen, Honigbier wurde mir eingeschenkt. Es lief mir nur alles den Schnurrbart entlang -kein Tropfen davon kam mir in den Mund. Sie wollten mich ganz groß bewirten: nahmen dem Ochsen den Zuber, gossen mir Milch hinein. Ich aber aß nicht, ich trank nicht, ich wollte einmal verschnaufen, da fingen sie an, mit mir zu raufen. Ich stülpte mir meine Kappe auf, da kriegte ich selber einen Schlag ins Genick


Die weiße Ente

Ein großmächtiger Fürst heiratete einmal eine ganz wunderschöne Fürstin. Er hatte noch nicht genügend Zeit gefunden, sie zu bewundern, sich mit ihr zu unterhalten und sie anzuhören, da mußte er sich bereits von ihr trennen, eine weite Reise antreten und die junge Frau fremden Händen überlassen. Die Fürstin vergoß viele Tränen. Der Fürst aber gab ihr viele gute Ermahnungen. Er sagte, sie solle ihren hohen Palast nicht verlassen, nicht mit anderen Leuten verkehren, keine fremden Reden anhören und sich vor fremden Weibern hüten.

Die Fürstin versprach, alles zu erfüllen. Der Fürst reiste ab, sie aber schloß sich in ihr Gemach ein. —Dort saß sie und ging nicht hinaus. Eines Tages saß sie wieder am Fenster und weinte. Da kam eine Frau vorbei. Sie schien einfach und gutherzig zu sein. Den Ellenbogen hatte sie auf eine Krücke gestützt und hielt das Kinn in der Hand. Sie sagte einschmeichelnd und zärtlich: »Was bist du immer so traurig, liebe Fürstin? Wenn du nur ein bißchen aus dem Palast gehen und Gottes schöne Welt anschauen wolltest, wenn du dich nur ein wenig im Grünen ergingest, dann würde auch dein Kummer leichter.«

Lange leistete die Fürstin Widerstand und wollte die Reden dieser Frau nicht anhören, aber schließlich dachte sie: >Es wird kein Unglück geschehen, wenn ich ein- oder zweimal im Garten auf und ab gehe.<



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Aber sie erkannte nicht, daß diese Frau eine Hexe war, die sie ins Verderben bringen wollte, weil sie die Fürstin um deren Glück beneidete.

Die Fürstin ging mit ihr im Garten umher und hörte ihre klugen und heimtückischen Worte an. In diesem Garten rieselte auch eine kristallklare Quelle.

»Wie«, sagte die Frau, »heute ist ein so heißer Tag, die Sonne brennt mit aller Kraft, und das Wasser ist so schön kühl und plätschert so lieblich - wollen wir uns nicht hier baden?«

»Ach, nein, nein, ich will nicht!« sagte die Fürstin, dachte aber bei sich: >Warum nicht? Ein Bad kann nicht schaden!<

Sie nahm ihren Sarafan ab und sprang ins Wasser. Kaum war sie hineingesprungen, da versetzte ihr die Frau einen Schlag auf den Rücken und sagte: »Schwimm du jetzt als weiße Ente!«

Sogleich raffte die Hexe alle Kleider der Fürstin zusammen, zog sie an, schminkte sich und setzte sich an ihrer Stelle in den Palast, um den Fürsten zu erwarten. Als dann die Hunde bellten und die Glöckchen ertönten, lief sie ihm entgegen, warf sich ihm an den Hals, küßte und streichelte ihn. Der Fürst war so erfreut, daß er ihr als der ersten die Hand entgegenstreckte. Er dachte, vor ihm stehe seine Frau und nicht die böse Hexe.

Die weiße Ente aber, die in dem hellen Wasser schwamm, legte Eier und brütete Junge aus, zwei kräftige und ein drittes, das sehr schwächlich war. Ihre Kinder wurden größer, schwammen auf dem Flüßchen herum, fingen Goldfischchen, sammelten kleine Lumpen, um sich zu kleiden, und gingen auch ans Ufer, um sich auf der Wiese umzusehen.

Da sagte die Mutter zu ihnen: »Ach Kinder, geht nicht dorthin. Dort lebt eine böse Hexe. Sie hat mich ins Unglück gebracht, sie wird auch euch verderben!«

Die Kinder hörten aber nicht auf die Mutter. Heute liefen sie im Gras herum, morgen jagten sie nach Ameisen, immer weiter und weiter, bis sie endlich zum Hof des Fürsten kamen. Die Hexe erkannte sie sogleich und knirschte vor Wut mit den Zähnen. Sie tat aber recht zärtlich, lockte die Kinder in den Palast, fütterte und tränkte sie und legte sie in ein Bettchen. Ihren Leuten aber befahl sie, auf dem Hof ein Feuer anzuzünden, einen Kessel darüber aufzuhängen



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und die Messer zu wetzen. Die zwei Brüder legten sich hin und schliefen ein -das kümmerliche Entlein aber, das die Brüder unter den Flügeln tragen mußten, damit es sich nicht erkälte, schlief nicht. Es sah und hörte alles. Nachts kam die Hexe an ihre Tür und fragte: »Schlaft ihr, Kinderlein?«

Das kümmerliche Entlein antwortete für die Brüder: »Wir schlafen und schlafen nicht, aber wir denken, daß man uns schlachten will. Es werden glühende Scheiterhaufen aufgerichtet. Kochkessel aufgehängt und stählerne Messer geschliffen!«

Sie schlafen nicht, dachte die Hexe und ging davon weg. Nach einer Weile kam sie wieder und fragte: »Schlaft ihr, Kinder, oder nicht?«

Wieder schrie das Entlein statt der Brüder aus den Kissen heraus: »Wir schlafen und schlafen nicht. Wir denken, daß man uns alle schlachten will. Man richtet glühende Scheiterhaufen auf, hängt Kochkessel darüber und wetzt die stählernen Messer!«

>Das ist ja nur immer eine Stimme<, dachte die Hexe, >da muß ich doch nachsehen!<Sie öffnete leise die Tür und sah -daß die beiden Brüder fest schliefen . . . Da brachte sie alle um.

Am Morgen rief und suchte die weiße Ente ihre Kinder. Aber all ihr Rufen und Suchen war umsonst, sie kamen nicht. Das Unglück preßte ihr das Herz zusammen. Sie schüttelte sich und flog zum Hofe des Prinzen. Dort lagen, weiß wie Taschentücher, wie Fladen, die Brüder nebeneinander. Sie warf sich auf sie, schlug mit den Flügeln und klagte laut:

»Krja, krja, ihr meine Kinderlein!
Krja, krja, ihr meine Lieblinge!
In Nöten habe ich euch geboren!
Mit Tränen habe ich euch getränkt!
Die finstere Nacht habe ich nicht zerstreut,
keine Süßigkeit genossen.«


***
Der Fürst hörte das Klagelied und rief die Hexe zu sich. »Frau, hörst du das? Das ist ja noch nie dagewesen!«

»Das kommt dir nur so vor! Heda, ihr Diener, jagt die Ente vom Hof!«



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Man scheuchte sie fort, aber sie flog im Kreis herum und wieder zu den Kindern hin:

»Krja, kra, meine Kinderlein!
Krja, krja, ihr Lieblinge mein!
Die alte Hexe hat euch umgebracht,
die alte Hexe, die böse Schlange,
sie hat den Vater euch genommen,
den Vater, meinen lieben Mann!
Ins rasch fließende Wasser hat sie euch versetzt,
in weiße Entchen hat sie euch verwandelt.
Sie aber lebt weiter und brüstet sich.«

Jetzt stieg dem Fürsten eine böse Ahnung auf, und er schrie: »Fangt mir die weiße Ente!«

Alle beeilten sich, seinen Befehl auszuführen, aber die weiße Ente flog im Kreis herum und ließ sich von keinem fangen. Schließlich trat der Fürst selber auf die Freitreppe, da flog die Ente auf seine Hand. Er faßte sie vorsichtig bei den Flügeln und sagte: »Stehe als weiße Birke hinter mir, aber als schönes Mädchen vor mir.«

Da verwandelte sich die weiße Ente wieder in die schöne Fürstin. Sie zeigte, wie man aus dem Nest einer Elster ein Fläschchen mit Lebenswasser und Sprechwasser holen konnte, besprengte damit die Kinder, und sie wachten auf. Sie besprengte sie dann auch mit dem Sprechwasser, und sie redeten. Nun stand vor dem Prinzen seine ganze Familie unversehrt da. Alle freuten sich des Lebens und vergaßen das Böse.

Die Hexe aber wurde auf Befehl des Fürsten an einen Roßschweif gebunden und über die Felder geschleift. Ihr Fleisch verzehrten die Aasgeier, und ihre Gebeine wurden vom Winde verweht, so daß von ihr keinerlei Spur und Erinnerung zurückblieb.



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Der tapfere Tagelöhner

Ein Bursche hatte bei einem Müller als Tagelöhner Dienst angenommen. Dieser hatte ihm befohlen, Weizen in den Mahlkasten zu schütten. Da sich aber der Tagelöhner in dieser Arbeit nicht auskannte, ging er hin und schüttete den Weizen auf die Mahisteine. Die Mühle drehte sich, und aller Weizen wurde zerstreut. Als der Müller in die Mühle kam und die Bescherung sah, jagte er den Tagelöhner davon. Der Bursche machte sich auf den Weg nach Hause und dachte bei sich: >In dieser Mühle habe ich nicht viel verdient.<

Überm Gehen kam er vor lauter Nachdenken vom Wege ab, verfehlte sein Heimatdorf und verirrte sich. Er geriet in ein Dickicht, wo er lange umherschweifte, und endlich an einen Fluß, an dem eine leere Mühle stand. Da blieb er, um zu übernachten.

Langsam kam Mitternacht heran. Der Bursche konnte aber in der leeren Mühle nicht schlafen und lauschte ängstlich auf jedes Geräusch. Auf einmal hörte er, wie jemand gefahren kam . . . Vor Schrecken sprang er auf und versteckte sich im Mahlkasten.

Da betraten drei Männer die Mühle. Es waren aber ihrem Aussehen nach keine anständigen Leute, sondern Räuber. Sie machten Feuer an und begannen, eine reiche Beute unter sich zu verteilen.

Ein Räuber sagte zu den anderen: »Ich stecke meine Beute unter den Boden der Mühle.«

Der andere sagte: »Ich verstecke sie unterm Mühlrad.«

Und der dritte sagte: »Ich verstecke sie wohl am besten im Mahikasten.«

Da dachte sich unser Tagelöhner im Mahlkasten: >Zweimal kann man nicht sterben -einmal muß man es! Ich werde sie auf meine Art erschrecken, will es jedenfalls versuchen!<

Er fing an, aus vollem Hals zu brüllen: »Denis! Geh da hinunter, und du, Foka, packe sie von der Seite! Und du, Junge, von da - und ich von dort! Packt sie, daß sie nicht mehr fort können. Haut zu, Leute, besinnt euch nicht lange!«

Die Räuber gerieten in Entsetzen, warfen die Beute von sich und stürzten Hals über Kopf aus der Mühle. Der Tagelöhner aber nahm ihre Schätze an sich und kehrte als ein vermögender Mann nach Hause zurück.



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Die Wunderblume

Über einem schönen, reichen Lande strahlte am Tage die Sonne und leuchteten nachts der Mond und die Sterne. Der Acker war gut, und das Korn gedieh prächtig, wenn die Menschen fleißig waren. Sie waren auch fleißig, sie arbeiteten den ganzen Tag und oft bis in die Nacht. Aber sie waren brummig und böse, beschimpften einander und gönnten sich gegenseitig nichts Gutes. Und weil sie so stark und unverträglich waren, schlugen sie sich auch miteinander, und nach dem Streit blieb oft einer blutend am Boden, während der andere noch böser und düsterer heimging. Lachen und Freude kannten sie nicht und konnten nicht fröhlich sein, denn sie hatten die Liebe verloren, waren also trotz allen Reichtums arm und sehr unglücklich.

Es gab nur einen Menschen, der jeden liebte und jeden mit seinen Augen und seinem Mund anlachte. Akulina war die schöne Tochter des alten Iwan Gregorowitsch, der von den Menschen wegen seiner Weisheit und Güte verehrt wurde. Akulina trug langes schwarzes Haar, in das sie sich frühmorgens viele bunte Blumen wand, deren zarter Duft sie umgab. Wenn sie in dem großen Garten spazierenging, sprang ein flinkes kleines Reh neben ihr her, und die Vögel flatterten von den Bäumen herunter.

Jenseits des großen Flusses, der das Land im Norden begrenzte, befand sich das Reich des bösen Eisfürsten. Dort war die Erde ganz weiß, so weit das Auge sehen konnte. Kalte Winde wehten bei Tag und Nacht, und große, schwere Eiszapfen hingen von Bäumen und Felsen. Der Eisfürst lebte in einem Schloß aus Eiskristallen, in dem nie eine Stimme zu hören, nie eine Menschenseele zu sehen war; nur Elfen und Gnome, die den Fürsten bedienten, huschten heimlich durch die Säle.

Die längste Zeit des Jahres hielt der Fürst sich in seinem Reiche verborgen. Zuweilen aber fiel er in das schöne, blühende Land ein. Schneeflocken wirbelten wild und ungestüm hinter ihm her; Menschen und Tiere verkrochen sich angstvoll in ihren Stuben und Höhlen, denn sie fürchteten sich vor ihm.

Wohl hatten die Menschen schon öfter versucht, gegen ihn zu kämpfen, denn sie waren mutig genug. Als sie aber wieder einmal berieten, wer gegen ihn ausziehen sollte, waren sie darauf in Streit



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geraten, daß sie sich gegenseitig erschlugen und viele ihr Leben einbüßten. So hatten sie schließlich den Kampf gegen ihn aufgegeben; seine Macht war geblieben, und sie zitterten oft wieder vor Ängsten und Not.

Eines Tages geschah's, daß der Eisfürst von dem schönen Mädchen erfuhr, von ihren schwarzen Haaren, ihren blauen Augen, von ihrer köstlichen Stimme und von der Wonne ihres Lachens. Er dachte sich: >Dieses Mädchen will ich mir zur Frau nehmen<, denn er war der Einsamkeit müde.

Zusammen mit seinem Schneegefolge machte er sich auf und flog ins Land der strahlenden Sonne. Schnell wurden dort die blühenden Felder weiß, und die Sonne verkroch sich vor Entsetzen. Der Eisfürst flog zum Haus von Iwan Gregorowitsch, das sich auf einem kleinen Hügel befand und von hohen, dunklen Tannen umgeben war. Er trug ein weißes, glitzerndes Gewand und hatte riesige schwarze Flügel. Seine Gesichtszüge waren finster und grausam, seine Augen schauten kalt und düster.

Iwan Gregorowitsch saß in seinem alten Lehnstuhl, und neben ihm saß Akulina. Sie beide sahen dem Eisfürsten voller Schrecken entgegen, der gleich an der Tür stehengeblieben war und sie herrisch anblickte. Der Alte fragte ihn schließlich, was er wolle.

»Deine Tochter will ich zur Frau«, forderte grimmig der Eisfürst. »Meine Tochter?«rief Iwan Gregorowitsch entsetzt. »Nie und nimmer sollst du sie haben!«

»Dann werde ich sie mit Gewalt mit mir nehmen«, bekam er zur Antwort, und die Worte des Eisfürsten klangen wie klirrendes Eis.

Akulina selber antwortete dem Eindringling ganz ruhig: »Nie und nimmer werde ich Eure Gemahlin. Gegen meinen Willen könnt Ihr mich nicht entführen. Denn Ihr wißt genau, daß alle guten Kräfte der Welt mir helfen werden, und denen bleibt Ihr immer unterlegen.

Ich bitte Euch also, daß Ihr in Euer Reich zurückkehrt.«

Der Fürst war, während sie sprach, nur noch bleicher geworden. Eine blasse Wut zog in seinen Augen auf.

»Du hast recht, das muß ich zugeben«, sagte er. »Gewalt kann mir nicht helfen, aber ich lasse dich nicht zufrieden. Du sollst zu Eis erstarren und ohne Leben sein. Ober euer Land werde ich ein weißes Tuch breiten, und alles Leben soll vergehen. Nur allein die Liebe



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kann dich noch retten, aber die kann in dieser Kälte nicht gedeihen.«

Weit breitete er seine Arme aus, blies dem Mädchen den kalten Hauch des Todes ins Gesicht und zog davon.

Akulina versank in den Armen des Alten, schwer wurden ihre Glieder, und alles Leben schien aus ihr entwichen.

Auf Iwan Gregorowitschs Rufen eilten die Mägde herbei. Großes Wehklagen erfüllte das Haus. Akulina wurde auf ihr weiches Bett getragen, das neben dem großen Ofen stand. Kerzen wurden angesteckt. Der Vater saß neben ihr und schluchzte. Auch die alte Wurzelfrau, die bei allen Krankheiten half und die gleich herbeigeholt wurde, rang voller Verzweiflung ihre Hände und wußte nicht zu raten.

Übers ganze Land aber hatte sich indessen der Schnee gelegt. Die Blumen senkten traurig ihre Köpfchen und starben ab. Die Bäume verloren fröstelnd ihre Blätter. Die Bäche erstarben unter der Last des Eises, und die Flüsse und Seen froren zu. Viele Wochen vergingen. Die Sonne wollte nicht mehr scheinen, dunkel und kalt war es im Land, und jeder Tag brachte mehr Jammer und Klagen.

Nahrung mangelte, es gab kein Holz mehr, um die Ofen zu heizen. Krankheiten schlichen in die Hütten. Das Ärgste aber war für die Menschen, daß Akulina wie tot darniederlag und ihr Herz, in dem allein noch die Liebe gewohnt hatte, nicht mehr schlug. Immer feindseliger schauten die Menschen einander an, alle Freude und alles Licht verschwand.

Nur in der kleinen Hütte dicht am Walde gab es noch Wärme und Freude. Dort lebte ein junger Bursche mit seiner Mutter. In ihrem Ofen war das Feuer noch nicht erloschen, weil Aljoscha öfters in den Wald ging, um Holz zu holen. Auch der Hunger war hier noch unbekannt, und wenn die Sonne ihnen auch zu jeder Tageszeit fehlte, so waren sie doch heiter und voll von Hoffnung, denn sie liebten einander, und an dieser Liebe wärmten sie sich. Aljoscha war ein geschickter und fleißiger junger Mann; wenn er einmal ins Dorf kam und die anderen klagen hörte, dann nickte er, sprach aber ein aufmunterndes Wort und ging still seines Wegs. Wieder einmal wollte er zum Holzholen in den Wald gehen.

Über Nacht war Schnee gefallen. Der Schnee lastete schwer auf den



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Bäumen. Die Luft war still und sehr kalt. Aljoscha sammelte den Korb voll Holz, hackte einen kleinen Baum um und legte die Scheite obenauf. Zum Verschnaufen setzte er sich auf einen Baumstamm. Mit einem Male stand ein graues Zwerglein vor ihm, dem die Tränen über seine Runzelbäckchen rannen.

»Nanu«, rief er, »wie kommst denn du Kerlchen hierher, und warum weinst du?«

»Ach«, sagte der Zwerg und zog umständlich ein großes Tuch aus feinen Spinnweben aus seiner Tasche, »es ist ein großes Leid, das der weiße Fürst uns antut. Wir armen Zwerge vermögen es kaum noch, in der Erde zu leben.

Sie ist hartgefroren wie Stein, und wenn das noch lange so weitergeht, müssen wir nächstens noch alle erfrieren.«

Er schluchzte und Aljoscha empfand großes Mitleid für ihn. »Uns Menschen geht's nicht besser«, sagte er, und der Zwerg nickte. Auf dem Heimweg war Aljoscha sehr traurig. Als er wieder daheim war und das Feuer lustig brennen sah, hatte er den Zwerg bald vergessen und zeigte sich wieder zufrieden und froh.

Am nächsten Morgen machte er sich auf, um unterm Schnee nach welkem Gras zu suchen. Die Ziege im Stall hatte nichts mehr zu fressen. Er rückte den Schnee beiseite und rupfte sich eine Tasche voll. Dann setzte er sich unter einen hohen einsamen Baum und schaute weit übers weiße Land. Plötzlich rauschte es über ihm, und ein großer Vogel setzte sich vor ihm in den Schnee. Er schaute ihn mit unsagbar traurigen Augen an und fing an, sein Leid zu klagen. Er krächzte. »Wir armen Vögel finden bald nichts mehr zu fressen, denn der Schnee wird zu hoch, und das Fliegen fällt uns in der kalten Luft immer schwerer.«

Müde schlug er mit den Flügeln. Große Tränen rollten aus seinen Augen.

Aljoscha blickte ihn ratlos an. Warum klagen ihm alle ihr Leid? Er nahm seine Tasche und begab sich langsam zur Hütte zurück. Bald darauf sagte die Mutter zu ihm:

»Aljoscha, mein Junge, hör zu: wir haben kein Wasser mehr. Geh doch zum Fluß, welches zu holen.«

Er nahm seine Axt und griff sich zwei Eimer und ging hinunter zum Fluß, ein kleines Loch in das Eis zu hacken, um Wasser zu schöpfen.



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Das Eis war sehr dick und es kostete ihn ziemliche Mühe. Als er aber endlich Wasser im Eimer hatte, tauchte ein schöner großer Fisch in der Öffnung auf, der erst tüchtig nach Luft schnappte und dann zu sprechen begann: »Ach, es ist große Not hier im Fluß. Wenn der böse Winter sich nicht bald verabschiedet, müssen wir alle sterben. Wenn uns doch bloß jemand helfen könnte.«

»Ja«, sagte Aljoscha und nickte. »Wenn uns nur einer helfen wollte!

Wenn ich's nur könnte, wollte ich's von Herzen gern tun.«

Kaum hatte er so gesprochen, als er hörte, wie über ihm Flügelschlagen ertönte und der große Vogel vor ihm auf dem Eise landete.

»Du kannst's schon«, krächzte er und schlug mit den Flügeln.

»Du kannst es«, rief auch der Fisch und schnappte nach Luft.

»Du kannst es«, sagte es neben Aljoscha noch einmal, und als er. sich umwandte, erkannte er das graue Zwerglein neben sich.

Aljoscha setzte sich auf einen Stein und fragte ungläubig: »Ich sollte helfen können, ich armer dummer Kerl?«

»Ja«, gaben die drei zur Antwort.

»Und was muß ich denn tun?«

Der Zwerg trat geheimnisvoll näher und flüsterte: »Du mußt die rote Wunderblume suchen.«

»Der weiße Fürst hat sie vor langer Zeit geraubt. Wenn du sie wiederbringst, muß er in sein Reich zurück«, rief der Fisch.

Und der Vogel krächzte: »Wenn du sie bringen wirst, sind wir alle erlöst, Tiere und Menschen.«

»Wo aber finde ich die Wunderblume?« wollte Aljoscha wissen.

»Im Reiche des Eisfürsten«, rief der Fisch, und Zwerg und Vogel nickten dazu.

»Erzählt mir mehr davon«, bat sie Aljoscha.

Der Zwerg fing an zu sprechen:

»Jenseits vom großen Flusse, tief in dem weißen, öden Land steht ein dunkler, riesiger Turm. Drei Tiere bewachen ihn: ein Wolf, eine Eule und ein weißer Bär. Sie sind stark und kräftig, und nur ein tapferer Mensch kann sie besiegen.

In dem Turm befindet sich nur ein einziges Gemach und in diesem die Wunderblume. Sie ist in einem Glaskästchen eingeschlossen und weint oft bittere Tränen vor lauter Sehnsucht nach unserem Sonnenland.



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Du mußt wissen: sie ist lange Zeit schon dort eingeschlossen und mit ihr alles Menschenglück.

Sie ist es gewesen, die den Menschen die Freude brachte, die heimliche Freude an allem Schönen, die tief in ihren Herzen saß. Ja, es war eine schöne Zeit, als sie unter uns blühte. Da lachten die Menschen, wo sie sich sahen, und halfen einander, waren gut und verständig, weil sie einander liebten. Eines Tages geschah nun das Unglück. Der Eisfürst zog im Sturm über unser Land, riß sie ab von der Wiese, auf der sie blühte, steckte sie in das Glaskästchen und nahm sie mit sich weg. Kaum aber hatte sie unser Land verlassen, als Mißgunst und Neid unter den Menschen zu herrschen begannen und niemand mehr Liebe verspürte. Wir aber haben sie nicht vergessen, auch nicht die schöne Akulina, und weil auch du ein gutes, reines Herz besitzest, sollst du uns helfen, sie zu befreien.«

»Ich will sie zurückholen«, rief Aljoscha, »ich will sie befreien, was es auch kosten mag.«

»Alle Lebewesen unseres Landes werden dir dafür danken«, krächzte der Vogel. »Denn wir stehen dem Tode schon näher als dem Leben.«

Der Fisch aber schnappte nach Luft und rief:

»Und auch die schöne Akulina wirst du erlösen. Du brauchst ihr nur die Wunderblume zu bringen, dann wird sie die Augen wieder aufschlagen und leben.«

Aljoscha lachte und rief: »Nun tue ich es noch mal so gern.« Er erhob sich und wollte nach den Eimern greifen. Doch der Zwerg hielt ihn noch zurück. »Wenn du Hilfe brauchst, poche nur dreimal auf die Erde und rufe:

>Zwerglein, schnell, kommt zur Stell'<,


***
dann werden alle meine Brüder kommen und dir helfen.« Der Vogel kam dicht zu ihm geflogen und sprach: »Wenn du Hilfe brauchst, rufe nur:
>Vöglein, schnell, kommt zur Stell'<,


***
dann kommen alle meine Brüder und werden dir helfen.«


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Und der Fisch rief: »Wenn du meine Hilfe brauchst, rufe:


>Fischlein, schnell, kommt zur Stell'<,

dann werden alle meine Brüder kommen und dir helfen.« Aljoscha dankte ihnen allen von Herzen und versprach ihnen, sich keine Ruhe zu gönnen, bis er die Wunderblume erlöst habe. Dann ging er mit seinen Eimern nach Hause.

Am nächsten Morgen begab er sich auf den Weg. Bang schaute ihm die Mutter nach. »Daß es ihm doch gelingen möchte«, sagte sie leise. Aljoscha ging zunächst zum alten Iwan Gregorowitsch. Er wollte Akulina sehen und den Alten trösten, denn überall sprachen die Menschen von dem großen Schmerz, der auf ihm lastete. Im Hause war alles still. Die Mägde schlichen auf Zehen durch die Zimmer, und nicht ein lautes Wort war zu hören. Selbst die schönen Hunde hatten den Schwanz eingezogen und waren in die Ecken gekrochen. Das alte Wurzelweibchen führte Aljoscha in das Zimmer, darin der Alte wie jeden Tag am Bett seiner schönen Tochter saß. Völlig weiß geworden vor Kummer war sein Haar und hing ihm jetzt über die Schultern herab.

»Du willst uns helfen?«fragte er leise.

»Ja, Väterchen«, antwortete ihm Aljoscha, »euch, Akulina und allen im Lande.«

»Wenn du meine Tochter wieder zum Leben aufweckst, wirst du sie zur Frau bekommen und nach meinem Tod das Haus dazu.«

Aljoscha freute sich, verneigte sich vor Iwan Gregorowitsch, küßte die starre Hand Akulinas und verließ das Haus.

Viele Tage lang mußte er wandern, bevor er den großen Fluß erreichte. Vielerlei Not und Elend sah er, das Schlimmste aber war der Haß, der die Menschen gegeneinander hetzte. Mit wehem Herzen schaute er sie an und eilte weiter, um rasch zum Ziel zu kommen. Als er endlich den großen Fluß erreicht hatte, blieb er voll Verzagen stehen und überlegte, wie er wohl hinüberkäme. Schwimmen war unmöglich, dazu war der Fluß zu kalt und zu breit. Sollte ich hier schon scheitern? Nie und nimmer. Mit einem Male fiel ihm das Verschen ein, das der Fisch ihm gesagt hatte. Er legte seine Hände an den Mund und rief:



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»Fischlein, schnell, kommt zur Stell'.«


***
Da rauschte es im Wasser, und ehe er sich's versah, glitzerte und schimmerte vor ihm eine unabsehbare Menge von Fischen; ein besonders großer Fisch, der eine goldene Krone auf dem Kopfe trug, schwamm zu ihm und fragte:

»Du hast uns gerufen, was wünschest du?«

»Bringt mich über den Fluß!«

»Setze deine Füße auf uns«, sprach der Fisch, und rasch trugen sie ihn zum anderen Ufer hinüber.

Als Aljoscha an Land sprang, hatte kein einziger Wassertropfen seine Füße berührt. Er bedankte sich bei den Fischen und ging weiter zum Lande des Eisfürsten. Wieder mußte er viele Tage und Nächte wandern. Nirgends sah er ein Wesen, das lebte wie er. Überall sah er nur Schnee und Eis. Wenn einmal ein Baum in den Himmel ragte, war er nicht schön wie die Bäume seiner Heimat, sondern kahl und verkrüppelt. Wie nackte Arme streckte er seine Äste aus, und Aljoscha fürchtete sich sehr, wenn er solchen Gespenstern im einsamen Schneefeld begegnete. Einmal erkannte er am Horizont einen schwarzen Streifen, beim Näherkommen sah er, daß es ein tiefer Graben war, der die Erde weit auseinanderspaltete. Wie komme ich da hinüber, überlegte er und wollte schon hinabklettern, da fiel ihm der Vogel ein. Er legte wieder die Hände an seinen Mund und rief:

»Vöglein, schnell, kommt zur Stell'.«


***
Da rauschte es in der klaren Luft, und der Himmel wurde schier schwarz von Vögeln. Ein Adler ließ sich neben ihm zur Erde und sprach: »Was wünschest du?«

»Bringt mich bitte über diesen Graben«, antwortete Aljoscha, und schon schwebte er hoch in den Lüften und wurde an der anderen Seite sanft zu Boden gesetzt. »Ich danke euch«, rief er, und während er weiterwanderte, flogen die Vögel wieder davon. Endlich, nach weiteren drei Tagen und drei Nächten gelangte er zu dem hohen Turm. Eine mächtige glatte Mauer umgab ihn, und so sehr er sich auch abmühte, nirgends gelang es ihm, ihn zu ersteigen. Da dachte er an den grauen Zwerg, pochte dreimal auf die Erde und rief:



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»Zwerglein, schnell, kommt zur Stell'.«

Da huschte es über die weiße Erde. Ein schmaler Gang wurde sichtbar, der in die Tiefe führte. Ein Zwerglein erschien und winkte Aljoscha zu, ihm zu folgen.

Sie gingen durch den dunklen Gang und kamen in einen glänzenden Saal. Das ganze Zwergenvolk war da versammelt; auf seinem erzenen Thron saß der kleine Zwergenkönig.

»Was willst du von uns?«fragte er.

Aljoscha verneigte sich und antwortete:

»Ich will die rote Wunderblume befreien und bitte euch, mir zu helfen, daß ich in den Turm gelange.«

»Wenn du die Wunderblume willst, wollen wir dir gern jeden Wunsch erfüllen; denn sie dauert uns sehr, und immer, wenn aus ihrem Kelch eine Träne fällt, kommt neuer Jammer in unsere Herzen. Hast du aber auch genug Mut? Die Tiere sind stark, die sie bewachen.«

»Ich habe Mut, zeigt mir nur den Weg in den Turm.«

Der König erhob sich und führte ihn zu einem Gang. »Hier gehe weiter«, sagte er, »dann kommst du auf den Hof, der zwischen Mauer und Turm liegt. Meine Zwerge werden dich dort oben erwarten.«

Aljoscha bedankte sich und stieg nach oben. Als er ins Freie trat, stand er mitten im Hof, und dicht vor ihm lag der Turm. Vor dessen Eingang aber lag der Wolf. Er mußte wohl geschlafen haben, denn er reckte sich und blinzelte mit den Augen. Kaum aber hatte er Aljoscha gesehen, als er auch schon mit großem Geheul auf ihn zusprang. Aljoscha hob die Faust und versetzte ihm einen Schlag auf die Schnauze. Da fiel der Wolf zu Boden, als ob er tot wäre.

Aljoscha ging langsam und vorsichtig auf den Eingang zu. Da hörte er Fauchen und Flügelschlagen, und überm Umwenden sah er, wie sich die riesengroße Eule auf ihn herabstürzte. Ihre Augen glühten wie zwei feurige Kohlen. Sie streckte schon ihre Krallen nach ihm aus. Da griff er zu, packte und schlug ihren Kopf zur Erde. Sie blieb liegen wie tot.

Er wollte sich schon wieder dem Eingang zuwenden, als er ein Brummen hörte, und sein Herz erzitterte. Auf ihn zu kam der weiße



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Bär. Er hatte kleine schwarze Augen und blickte ihn boshaft an. Aljoscha sah sich um. Bei dem konnte gewiß kein Schlag mit der Faust nutzen. Da sah er zur Linken einen schweren Stein liegen, hob ihn auf und schleuderte ihn auf den Bären, gerade als dieser ihn packen wollte. Der Stein traf das Tier vor den Kopf und es fiel zu Boden. Nun konnte Aljoscha ungehindert den Turm betreten. Eine Treppe führte nach oben, und er kam in das einzige Gemach, das zu finden war. Ein wunderbar rotes Licht strahlte ihm entgegen. Süßer Duft hüllte ihn ein. Auf einem glitzernden Eissockel sah er das Glaskästchen mit der Wunderblume stehen. Das Licht spiegelte sich in den Eiskristallen an den Wänden. Es war ein Funkeln, wie er es noch nie gesehen hatte. Nur schwer vermochte er sich von diesem Anblick loszureißen. Schließlich aber ergriff er behutsam das Glaskästchen und eilte die Treppe hinunter.

Die Tiere lagen noch genauso, wie er sie verlassen hatte. Rasch lief er über den Hof, und als er wieder im Gang war, wo die Zwerge auf ihn warteten, fühlte er erst, wie heftig sein Herz klopfte. Die Zwerge führten ihn zum König. »Du bist ein guter und tapferer Mensch«, sagte dieser. »Jetzt aber eile, so schnell du kannst, in deine Heimat zurück, der Eisfürst kann deine Tat schnell erfahren, und wenn er dich einholt, dann wehe dir.«

Aljoscha lief, und die Furcht, daß der Fürst ihm die Blume wieder abnehmen könne, ließ ihn nicht müde werden. Er eilte Tage und Nächte. Oft wandte er sich besorgt um, ob etwa der Böse schon käme. Endlich sah er den Fluß. Schon wollte er vor Freude jubeln, da hörte er hinter sich lärmendes Toben, und als er sich umwandte, erkannte er den Fürsten mit seinem ganzen Schneegefolge. Er preßte das Glaskästchen fest an seine Brust und lief und lief! Er kam zum Fluß, sagte sein Verslein und sprang, als die Fische kamen, auf deren spiegelnde Leiber. Wenige Augenblicke darauf erreichte der Fürst das Ufer.

Aber Aljoscha war ihm entkommen. Zornbebend stand der Eisfürst da und sah dem Fliehenden mit seinen grausamen Augen nach. Aljoscha aber lachte: »Mit deiner Macht ist es vorbei«, rief er, und als er das andere Ufer erklommen hatte, winkte er ihm noch einmal zu. Der böse Eisfürst schäumte vor Wut, drehte sich um und flog in sein Reich zurück.



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Aljoscha wanderte ruhig und glücklich durch sein Land zum Hügelhaus, in dem der Alte lebte.

Wo er auch vorüberkam, schmolzen Schnee und Eis. Das Gras wurde wieder grün und die Blumen begannen zu blühen. Die Menschen kamen aus ihren kalten, dumpfen Wohnungen, sahen seit langer Zeit wieder den blauen Himmel, sahen die Sonne, die Vögel, sahen sich an und fühlten, wie der Haß, der sie gehetzt hatte, verschwand und wie sie einander plötzlich wieder lieb und teuer wurden. Alle wollten die Wunderblume sehen, mit der die Liebe zu ihnen zurückkehrte.

Aljoscha erreichte das Haus und wurde mit Jubel begrüßt. Iwan Gregorowitsch schloß ihn in die Arme und führte ihn dann zu seiner Tochter. Kaum aber war das rote Licht der Blume auf ihr bleiches Gesicht gefallen, als es sich belebte, und nach wenigen Minuten schon schlug Akulina die Augen auf.

Sie feierten eine ganz wunderschöne Hochzeit, zu der auch Aljoschas alte Mutter geladen wurde, und das ganze Land feierte mit ihnen. Die rote Wunderblume aber blieb bei ihnen. Sie hatten sie auf die schönste Wiese gepflanzt, wo sie blühen und gedeihen konnte, und schützten sie nun einträchtig vor aller Gefahr; denn sie hatten erkannt, daß sie ohne sie nicht leben konnten, daß sie allein der Quell war, aus dem jedes Leben, jede Freude, jedes Licht aufstieg.


Das Märchen vom zänkischen Bauern

In einem Dorfe lebte einmal ein zänkischer und sehr eigensinniger Bauer. Er hieß Demjan und war von schroffem, finsterem Wesen. Mit jedem, den er traf, fing er Streit an, weil er hartnäckig immer auf seinem Standpunkt beharrte. Sobald einer nicht ganz so redete oder tat, wie er das wollte, stürzte er gleich mit den Fäusten auf ihn los und fing an zu raufen. Es kam vor, daß er einen Nachbarn zu sich einlud und ihn bewirten wollte. Wenn nun der Nachbar nachdenken wollte oder das Gesicht verzog oder gar absagen wollte, prügelte er ihn gleich und setzte hinzu: »In einem fremden Haus gehorche dem Hausherrn.«



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Eines Tages geschah es, daß zu Demjanuschka ein gewandter junger Bursche zu Gast kam. Unser Bauer bewirtete ihn alsbald und stellte ihm einen ganzen Tisch voller Essen hin. Der junge Bursche aß alles, eine Schüssel nach der anderen, und stopfte sich schweigend die Backen voll. Unser Bauer schaute und schaute. Dann brachte er ihm seinen besten Kaftan und sagte: »Zieh deinen schlechten Kittel aus und zieh dir meinen Kaftan an!«

Bei sich aber dachte er: >Vielleicht lehnt er es ab, dann will ich's ihm zeigen.< Der junge Bursche aber zog den Kaftan an, fuhr mit dem Essen fort, nahm eine würdevolle Haltung ein und sagte nur: »Ei, lieber Onkel! Habe Dank für das neue Gewand! Ich wage es nicht zu widersprechen. In einem fremden Hause muß man dem Hausherrn gehorchen!«

Den Hausherrn überkam die Wut, aber er wollte noch eins versuchen: Er rannte in den Stall, nahm sein bestes Pferd und sagte zu dem Burschen: »Für dich reut mich nichts! Da, setz dich auf mein Pferd! Nimm es mit dir heim!«

Bei sich aber dachte er: >Vielleicht fängt er nun an, mir zu widersprechen? Dann will ich's ihn lehren!<

Der Bursche sagte aber auch diesmal nur: »In einem fremden Hause muß man dem Hausherrn gehorchen.« Und als er auf dem Pferde saß, da rief er dem Bauern Demjan zu: »Leb wohl, Hausherr! Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein!«

Nach diesen Worten ritt er rasch aus dem Hof.

Der Hausherr sah ihm nach, kratzte sich am Kopf und sagte: »Der ist mal an den rechten Mann gekommen!«


Vom Elend

In einem Dorfe lebten zwei Brüder, der eine war reich, der andere arm. Dem Reichen floß alles wie von selber zu, in allem hatte er Glück und Erfolg. Bei dem Armen aber ging alles rückwärts, so sehr er sich auch plagte und arbeitete. Der Reiche hatte in wenigen Jahren schon so viel erworben, daß er in die Stadt übersiedelte, sich dort ein großes Haus baute und sich in die Kaufmannsgilde eintragen ließ. Der Arme aber kam immer weiter herunter, daß oft im ganzen



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Haus kein Stück Brot mehr zu finden war. Ein ganzer Haufen Kinder, eins kleiner als das andere, weinte und jammerte um Essen und Trinken.

Da haderte der Arme mit seinem Schicksal, wurde völlig mutlos und ließ den Kopf immer tiefer hängen. Er ging zu seinem reichen Bruder in die Stadt und sprach: »Hilf mir, ich bin schon ganz kraftlos geworden!«

»Warum soll ich dir nicht helfen?« sagte der Reiche. »Ich kann alles. Nur arbeite du bei mir diese ganze Woche.«

»Einverstanden«, antwortete drauf der Arme und machte sich an die Arbeit. Er kehrte den Hof, putzte die Pferde und spaltete Holz. Nach einer Woche gab ihm der Reiche einen Groschen und einen Laib Brot.

»Ich bin auch für das dankbar!« sagte der Arme zu ihm und wollte wieder nach Hause gehen. Da rührte sich bei dem Bruder das Gewissen, und er sagte: »Wo willst du denn hin? Morgen ist mein Namenstag, bleib da und schmause mit uns zusammen.«

Der Arme blieb zum Schmause bei dem Bruder. Aber zu seinem Unglück erschienen viele reiche Gäste und vornehme Leute, und der Bruder mußte sie eifrig bewirten. Er mußte sich vor ihnen tief verneigen, damit sie gern aßen und tranken und seine Schmeicheleien im Gedächtnis behielten. Dabei dachte er zuletzt gar nicht mehr an den armen Bruder. Der konnte nur von ferne zuschauen, wie all die fremden Leute aßen und tranken und sich an guter Unterhaltung ergötzten. Als das Mahl zu Ende war, standen die Gäste auf und bedankten sich beim Hausherrn und bei der Hausfrau. Auch der Arme verneigte sich bis zum Gürtel. Die Gäste gingen nach Hause und waren sehr lustig. Sie lachten, lärmten und sangen fröhliche Lieder.

Der Arme aber ging voll Hunger nach Hause und dachte dabei: >Ich will auch ein Lied singen! Die Leute sollen dran denken, daß man auch mich am Namenstag des Bruders nicht übersehen und nicht vergessen hat, daß man mich gesättigt und mir ein Räuschlein angehängt hat.<Also fing er an zu singen -doch auf einmal fuhr er zusammen. . . Er hörte deutlich, daß jemand hinter ihm mit dünner Stimme hersang. Wenn er schwieg, dann schwieg auch die andere Stimme, wenn er sang, so wiederholte die Stimme wieder dasselbe...



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»Ja, wer singt denn da - komm vor!« schrie der Arme. Da sah er ein Ungeheuer vor sich - so dünn und gelb, daß es kaum die Seele in sich behalten konnte. Es war völlig mit Lumpen bedeckt, die es mit Lindenbast zusammengebunden hatte; auch die Füße waren mit Bastfasern umwickelt. Der Bauer war vor lauter Schreck ganz eingeschüchtert und redete das Ungeheuer an: »Wer bist du?«

»Ich bin das Elend. Ich habe Mitleid mit dir gehabt und bin dabei, dir beim Singen zu helfen.«

»Gut, Elend, ziehen wir miteinander durch die Welt, Arm in Arm.

Ich sehe, daß ich doch keinen anderen Freund finden kann.«

»Dann komm! Ich verlasse dich auch so nicht!«

»Aber worauf wollen wir denn fahren?«

»Ich weiß nicht, worauf du fahren wirst, ich selber aber werde auf dir reiten . .

Und mit einem Satz schon saß es im Genick des Bauern. Er aber besaß nicht die Kraft, das Elend abzuschütteln. So trottete er denn seines Weges, schleppte das Elend auf seinen Schultern dahin und konnte kaum noch die Beine vorwärtsbringen. Das Ungeheuer aber sang lustig und trieb ihn mit einem Stöckchen an.

»Soll ich dir mein Lieblingsliedchen beibringen? Das mußt du immer singen, wenn du traurig wirst:

Ich bin das traurige Elend!
Mit Lindenbast bin ich umgürtet,
Bastfasern hab' ich als Schuhe.
Mit mir, dem Elend, zusammen leben
heißt ohne Sorgen sein.
Wenn kein Geld da ist -
auf Gelder warten.
Fest eingebunden war ein Groschen
vor den bösen Tagen.


***
Du hast jetzt auch einen Groschen und einen Laib Brot. Komm, laß uns ihn vertrinken und lustig sein!«

Sie gingen und vertranken den Groschen. Dann kamen sie heim, wo Frau und Kinder ohne Brot dasaßen und weinten. Das Elend aber zwang den Bauern zum Tanz. Am folgenden Morgen stöhnte das



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Elend und sagte: »Von dem Rausch tut mir der Schädel weh.« Und abermals rief es den Bauern zum Schnapstrinken.

»Ich habe kein Geld!« sagte der Bauer.

»Ich habe dir doch gesagt, daß, wenn kein Geld da ist, man auf Gelder warten muß. Nimm die Egge und den Pflug, den Schlitten und den Wagen, das alles wollen wir vertrinken, für heute reicht es dann schon!«

Da war nichts zu ändern -der Bauer konnte das Elend nicht loswerden; es hatte sich fest bei ihm eingenistet. So schleppte er sich dahin, trank und bummelte.

Am anderen Tage stöhnte das Elend noch viel mehr und sagte: »Komm, heute werden wir lustig sein und alles vertrinken, alles verpfänden . . . Wir wollen uns zu Leibeigenen machen!«

Der Bauer aber sah seinen Untergang vor sich; deshalb griff er zu einer List. Er sagte zu dem Elend: »Ich habe von alten Leuten gehört, daß in unserer Gegend am Rande des Dorfes seit uralten Tagen ein Schatz vergraben ist. Er liegt aber unter einem so schweren Stein, daß ich nicht die Kraft habe, ihn allein aufzuheben. . . Schön könnten wir miteinander trinken und lustig sein, wenn wir diesen Schatz höben.«

»Was ist dabei, komm, holen wir ihn! Das Elend hat Kraft genug zu allem!«

Sie gingen zum Rande des Dorfes und kamen an einen großen, schweren Stein. Fünf Bauern hätten ihn nicht vom Fleck bringen können, aber unser Bauer und das Elend hoben ihn mit einem Male auf. Sie rissen die Augen weit auf; wirklich war unter dem Stein eine tiefe, finstere Grube, in der ganz unten etwas glitzerte. Der Bauer sprach zu dem Elend: »Steig da in die Grube hinunter und hole das Gold, ich warte einstweilen hier und halte den Stein.« Das Elend stieg hinunter, jauchzte in der Grube vor Freude auf und schrie: »Hier, Bauer, sind Schätze ohne Zahl! Zwölf bauchige Krüge bis zum Rande voll Gold, einer neben dem andern!«

Es reichte dem Bauern einen Krug hinauf. Der nahm ihn an sich, ließ den Stein an seinen alten Platz fallen und begrub so das Elend in der Goldgrube.

>Geh nur zugrunde mitsamt deinem Reichtum<, dachte der Bauer, >mit dir gerät nichts Gutes.<



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Als anderer Mensch ging der Bauer nach Hause. Mit dem Geld aus dem Krug kaufte er Holz, setzte seine Hütte instand, vermehrte seinen Viehstand, arbeitete noch fleißiger als früher, machte Handelsgeschäfte, und es gelang ihm, in einem Jahr so reich zu werden, daß er an Stelle der alten Hütte ein großes Haus erbaute. Dann fuhr er in die Stadt zu seinem Bruder und lud diesen und seine Frau in seinen Neubau ein.

»Da hast du dir was Schönes ausgedacht!« sagte der reiche Bruder lachend, »du selber hungerst und hast nichts zu essen, und hier errichtest du einen Neubau und veranstaltest Schmausereien.«

»Ja, das war einmal, daß ich nichts zu essen hatte, aber jetzt - Gott sei gelobt - lebe ich nicht schlechter als du. Komm und sieh dir's an.«

Am anderen Tag kam der reiche Kaufmann in das Dorf, darin sein Bruder wohnte, sah, daß bei dem armen Schlucker ein neues Haus gebaut war, so groß, wie nicht einmal ein Kaufmann in der Stadt eins hatte. Der arme Schlucker bewirtete den reichen Bruder reichlich und machte ihn betrunken. Aber dann, als seine Zunge locker geworden war, erzählte er ihm ganz aufrichtig, wie er selber reich geworden war. Den Reichen packte der Neid, und er dachte: >Ha, was ist doch mein Bruder für ein Dummkopf! Von den zwölf Krügen hat er sich nur einen genommen! Wenn man Geld hat, ist doch kein Elend zu fürchten! Ich werde hingehen, den Stein aufheben, das Gold nehmen und das Elend wieder herauslassen. Von mir aus soll es dann den Bruder um Haus und Hof bringen.<

Der Reiche verabschiedete sich vom Bruder, fuhr aber nicht heim, sondern gleich zu dem Steine hin. Nach langem Bemühen wälzte er ihn ein wenig zur Seite, um in das Loch hineinzusehen, aber kaum hatte er seinen Kopf hinabgebeugt, da war auch schon das Elend herausgesprungen und saß ihm im Genick. Der Reiche spürte auf seinen Schultern eine schwere Last, sah sich um und erblickte das fürchterliche Ungeheuer. Das Elend aber schrie ihm ins Ohr: »So einer bist du? Du wolltest mich hier umkommen lassen! Aber jetzt gehe ich von dir nicht mehr weg!«

»Närrisches Elend!« sagte der Reiche, »ich habe dich ja überhaupt nicht unter den Stein gesetzt, du darfst doch mich, den Reichen, nicht belästigen! Da, geh zu meinem Bruder und halte dich an ihn!«



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Aber das Elend wollte nichts hören.

»Nein«, schrie es, »du lügst! Einmal hast du mich betrogen, ein zweites Mal soll dir das nicht gelingen!«

Der Reiche brachte das Elend mit sich nach Hause, und all sein Reichtum zerfiel . . . Der arme Bruder aber lebt noch jetzt in Zufriedenheit und singt heitere Lieder.


Der seherische Traum

Einmal war ein Kaufmann, der zwei Söhne hatte: Dimitri und Iwan. Eines Tages verabschiedete sich der Vater von den Söhnen, entließ sie für die Nacht und sagte zu ihnen: »Kinder! Was ihr heute nacht träumen werdet, sollt ihr mir morgen früh erzählen. Wer von euch mir seinen Traum verheimlicht, dem soll es nicht gut ergehen.«

Am Morgen kam der ältere Sohn zum Vater und sprach: »Väterchen, mir hat geträumt, daß der Bruder Iwan mit zwölf Adlern bis hoch unter den Himmel geflogen ist.«

»Gut«, sagte der Vater, »und was hat dir geträumt, Wanja?«

»So etwas Ungereimtes, Väterchen, daß ich es nicht sagen kann.«

»Was soll das heißen? Sprich!«

»Nein, ich will es nicht sagen!«

»Sprich, wenn ich es dir befehle!«

»Nein, ich werde und werde es nicht sagen!«

Da packte den Vater gegen den jüngeren Sohn ein großer Zorn und er nahm sich vor, ihn wegen seines Ungehorsams zu strafen. Er ließ seine Arbeiter kommen und befahl ihnen, Iwan völlig nackt auszuziehen und ihn an einem einsamen Kreuzweg fest an einen Pfahl zu binden. Seinem Befehl wurde gehorcht: Die Arbeiter ergriffen Iwan, führten ihn weit von daheim weg zu einer Kreuzung, wo sieben Wege auseinandergingen, banden ihn mit Händen und Füßen an einen Pfahl und überließen ihn völlig allein seinem Schicksal.

Dem guten Jüngling erging es schlecht: Die Sonne schmorte ihn fast, Mücken und Wespen saugten sein Blut, Hunger und Durst quälten ihn schier zu Tode.

Zu Iwans Glück kam da auf einem der sieben Wege ein junger Prinz vorbei. Er sah den Kaufmannssohn, fühlte Mitleid mit ihm und



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befahl, ihn vom Pfosten loszubinden. Er ließ ihn bekleiden und errettete ihn so vor einem grausamen Tod. Dann nahm er Iwan mit sich auf sein Schloß, gab ihm zu essen und zu trinken und fragte ihn:

»Wer hat dich an den Pfahl gebunden?«

»Meinen leiblichen Vater hat der Zorn auf mich gepackt!«

»Aber warum denn? Sicherlich ist deine Schuld nicht gerade klein gewesen?«

»Ich war ungehorsam gegen ihn, ich habe ihm nicht erzählen wollen, was mir geträumt hat!«

»Und wegen dieser Kleinigkeit hat er dich zu einer so furchtbaren Strafe verurteilt? Ist er etwa verrückt geworden? Was hat dir denn tatsächlich geträumt?«

»Was mir geträumt hat, das will ich auch dir nicht sagen, mein Prinz!«

»Wie, du willst es nicht sagen? Auch mir nicht? Dem Prinzen? Ich habe dich vor dem grausamen Tod bewahrt, und du willst mir diese kleine Gefälligkeit nicht erweisen? Rede auf der Stelle, oder es wird dir nicht gut ergehen!«

»Nein, Prinz! Dem Vater habe ich es nicht gesagt, und dir werde ich es auch nicht sagen!«

Jetzt packte den Prinzen die Wut, er rief seine Diener und Läufer herbei und befahl: »Heda, ihr meine treuen Diener, packt diesen schnöden Grobian, legt ihm kräftige Fesseln an die Hände, schlagt ihm enge Fußklötze an die Beine und werft ihn in mein tiefstes Gefängnis!

Die Diener zögerten nicht lange. Sie ergriffen den Kaufmannssohn Iwan, fesselten ihn an Händen und Füßen und setzten ihn in das steinerne Verlies.

Einige Zeit verging, da beabsichtigte der Prinz, Helena Überklug, die herrlichste Schönheit der ganzen Welt und die Klügste aller Frauen, zu heiraten. Er bereitete sich vor, in das weit entfernte Reich zu reisen und dort um Helena Überklug zu freien.

Kaum war er davongeritten, da geschah es am anderen Tag, daß seine Schwester, die Prinzessin, im Garten spazierenging und an dem Kerker vorüberkam, in dem der Kaufmannssohn Iwan gefangensaß. Er sah die Prinzessin durchs vergitterte Fenster und rief mit lauter



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Stimme: »Mütterchen Prinzessin, ohne meine Hilfe kann dein Bruder nicht heiraten!«

»Was sagst du da? Rede!« antwortete die Prinzessin. Iwan nannte seinen Namen und setzte hinzu: »Ich denke, Prinzessin, du wirst von der List und der Klugheit der Prinzessin Helena Überklug schon gehört haben. Auch ich habe mehr als einmal erfahren, daß sie schon viele Freier in die andere Welt befördert hat. Glaub mir, daß auch dein Bruder ohne mich nicht heiraten kann; vielleicht aber wird er sogar seinen Kopf verlieren.«

»Willst du es denn auf dich nehmen, dem Prinzen zu helfen?«

»Gern würde ich das tun, aber dem Falken sind die Flügel gebunden und alle Wege versperrt.«

Die Prinzessin befahl, Iwan aus dem Gefängnis zu befreien. Sie überließ es seiner freien Entscheidung, alles zu tun, was er wollte, wenn er nur ihrem Bruder zum Heiraten verhalf. Der Kaufmannssohn Iwan suchte sich zunächst Kameraden, einen wackeren Burschen neben dem anderen, die auch äußerlich einander so ähnelten wie Brüder. Er zog ihnen allen die gleichen Kleider an, die nach ein- und demselben Maß genäht waren, verhalf ihnen zu Pferden von gleicher Farbe -gleiche Stimmen, gleiche Haare. Sie saßen auf und ritten davon. Mit dem Kaufmannssohn Iwan zusammen waren es genau zwölf Mann. Sie ritten los und gelangten am dritten Tag in einen finsteren Wald.

Da sagte Iwan: »Halt, Brüder, hier über der Schlucht steht ein hohler alter Baum mit vielen Ästen. Ich muß in die Höhlung hineinschauen, um dort etwas Gutes für mich zu holen.«

Er ritt zu dem Kennzeichen am Baum, griff mit der Hand in die Höhlung und zog eine Tarnkappe daraus hervor. Er verbarg sie an seiner Brust und kehrte zu den Kameraden zurück.

Nachdem sie in das Reich von Helena Ueberklug gekommen waren, ritten sie in die Hauptstadt, suchten den Prinzen auf und baten ihn: »Nimm uns zu dir in Dienst, Prinz, wir werden dir mit reinem Herzen gute Dienste tun.«

Der Prinz überlegte nicht lange und sagte: »Warum soll ich so wackere Burschen nicht in meinen Dienst nehmen, vielleicht können sie mir in der Fremde nützlich werden.«

Dann bestimmte er einem jeden den Dienst; wer Stallbursche und



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wer Koch sein sollte, dem Iwan aber befahl er, ständig bei ihm zu bleiben.

Am anderen Tag zog der Prinz sein Festgewand an und ging zur Prinzessin Helena, um sie zu freien. Sie nahm ihn liebenswürdig auf und bewirtete ihn mit allen möglichen Speisen und köstlichen Getränken.

Dann sprach sie zu ihm: »Ich bin nicht abgeneigt, dich zu heiraten, aber du mußt zunächst drei Aufgaben erfüllen. Wenn du das tust, werde ich dir eine treue Frau sein, wenn aber nicht, so wird dein kühner Kopf nicht auf deinen starken Schultern bleiben.«

»Wozu vorzeitig erschrecken - sage mir die Aufgaben, Helena Überklug!

»Hier hast du meine Aufgaben: Morgen wird bei mir fertig, aber was —sage ich nicht, und zu dem, was du nicht weißt, erdenke und bringe das Deine, daß es ein Paar wird.«

Höchst unlustig ging der Prinz aus dem Palast und ließ den Kopf hängen. Da begegnete ihm Iwan und sagte: »Teile deinen Kummer mit mir, Prinz, es wird für dich leichter sein.«

»Die Prinzessin«, sagte der Prinz, »hat mir eine Aufgabe gegeben, die kein einziger Weiser in der ganzen Welt herausbringen kann.« Und er erzählte Iwan alles der Reihe nach.

»Nun«, sagte Iwan, »das ist noch lange kein so großes Unglück! Bete und lege dich schlafen, der Morgen ist klüger als der Abend, morgen werden wir die Sache überlegen.«

Der Prinz ging schlafen. Der Kaufmannssohn Iwan aber setzte seine Tarnkappe auf und eilte zum Schloß. Dort lief er durch alle Zimmer und schlüpfte endlich ins Schlafgemach der Prinzessin Helena. Da hörte er, wie sie gerade ihrer treuesten Dienerin befahl: »Nimm diesen Goldbrokat und trag ihn zu meinem Schuster. Er soll so rasch wie möglich einen Schuh für meinen Fuß machen.«

Die Dienerin lief -aber Iwan eilte hinter ihr her. Der Meister fing sogleich zu arbeiten an; er arbeitete, so schnell er konnte, klopfte mit dem Hammer, stach mit der Ahle -schnell hatte er den Schuh fertig und stellte ihn ans Fenster. Der Kaufmannssohn Iwan aber nahm den Schuh und verbarg ihn an seiner Brust.

Da wunderte sich der Schuster: »Das ist doch merkwürdig! Auf einmal ist mir meine Arbeit aus den Augen entschwunden!« Er suchte



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und suchte, leuchtete alle Ecken ab - alles umsonst! >Merkwürdig!< dachte er, >hat sich da etwa der Teufel einen Scherz mit mir erlaubt?<

Es war nichts zu machen. Wieder setzte er sich zur Arbeit hin und verfertigte einen Schuh, den er durch die Dienerin an Helena Überklug sandte. Iwan aber ging wieder hinter ihr her und schlich sich mit seiner Tarnkappe wie ein Schatten ins Schloß. Da sah er, wie Prinzessin Helena am Tisch saß, den Schuh mit Gold einsäumte, mit Perlen besetzte und durchwegs mit Edelsteinen besäte. Nun nahm Iwan seinen Schuh heraus und tat flugs das gleiche: Er wählte genau dieselben Steinchen aus wie sie, und wo sie eine Perle hinsetzte, da nahm auch er eine und setzte sie hin. Als Prinzessin Helena den Schuh fertig hatte, betrachtete sie ihn, und er gefiel ihr. Lächelnd dachte sie: >Nun wollen wir sehen, was der Prinz morgen vorzeigt.< Der Kaufmannssohn Iwan aber weckte den Prinzen schon am frühesten Morgen und reichte ihm den Schuh: »Geh zu deiner Erkorenen und zeige ihr diesen Schuh, er enthält die Lösung ihrer ersten Aufgabe!«

Der Prinz wusch sich und kleidete sich an, dann galoppierte er zu seiner Erwählten. Da sah er in ihrem Gemach alle Würdenträger, Bojaren und Ratgeber versammelt. Eine liebliche Musik ertönte. Die Tür zu den inneren Gemächern wurde aufgetan, und die Prinzessin Überklug trat heraus, schritt wie ein Schwan, grüßte nach allen Seiten und begrüßte den Prinzen besonders. Dann nahm sie den Schuh aus der Tasche, der mit Perlen besetzt und mit Edelsteinen besät war. Lächelnd schaute sie den Prinzen an. Alle fremden Bojaren, Würdenträger und Räte, so viele im Palast waren, verschlangen den Prinzen schier mit ihren Augen . . . Der aber sagte zur Prinzessin: »Euer Schuh ist sehr schön, doch wenn der zweite fehlt, ist er zu nichts nutze. Darum schenke ich Euch den anderen dazu, genau den gleichen!«

Er zog seinen Schuh aus der Tasche und stellte ihn neben den ihren. Da schrie die ganze Versammlung vor Staunen und Bewunderung auf! Einstimmig riefen die Würdenträger, Bojaren und Räte: »Heil dem Prinzen! Er hat es erreicht, er wird unsere Prinzessin Helena Überklug heiraten!«

»Wir müssen erst mal sehen, wie er die zweite Aufgabe lösen wird«, sagte drauf die Prinzessin.



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»Ich erwarte dich morgen, Prinz, an dieser Stelle, und hier meine Aufgabe: Zu meinem Unwissenden, Unverständigen, mit Federn und Steinen geschmückt, bringe du das Gegenstück, das gleiche Unwissende, Unvernünftige, mit den gleichen Federn und mit Steinen geschmückt.«

Der Prinz grüßte und ging noch bekümmerter davon als gestern. >Jetzt<, dachte er, >werde ich meinen Kopf nicht mehr lange auf den Schultern tragen!<

Da kam ihm wieder der Kaufmannssohn Iwan entgegen und beruhigte ihn lächelnd: »Laß das Trauern, Prinz! Bete und geh schlafen, der Morgen ist weiser als der Abend!«

Er begleitete den Prinzen zum Schlafen, holte seine Tarnkappe und eilte geschwind ins Schloß. Dort kam er gerade in dem Augenblick an, als die Prinzessin ihrer Lieblingsdienerin den Auftrag gab: »Geh auf den Geflügelhof und bring mir eine Ente!«

Die Dienerin ging - aber Iwan hinter ihr her. Sie nahm eine Ente unter den Arm, während Iwan einen Enterich an seine Brust drückte. Dann gingen sie denselben Weg zurück. Prinzessin Helena setzte sich wieder an ihr Tischchen, nahm die Ente, schmückte ihre Flügel mit Bändchen, das Schöpfchen mit Edelsteinen und hängte ihr ein Perlenkettchen um den Hals. Iwan sah das alles und tat das gleiche mit seinem Enterich.

Am anderen Tag begab sich der Prinz in dasselbe Gemach, wo wieder die Bojaren und Würdenträger versammelt waren. Wieder erklang Musik, die Tür zu den inneren Gemächern ging auf, und die Prinzessin Helena trat herein wie ein Pfau. Hinter ihr trugen die Kammerzofen eine goldene Schüssel herbei, auf der sich unter einem weißen Tuch etwas Lebendiges rührte. Ganz langsam hob die Prinzessin das Tuch auf, ließ die Ente sehen und fragte den Prinzen:

»Hast du meine Aufgabe herausgebracht?«

»Warum sollte ich sie nicht herausbringen?« sagte der Prinz. »Diese Aufgabe erfordert keine Weisheit.«

Er griff in seine Mütze und holte den Enterich hervor. Da schrien alle Bojaren und Würdenträger auf: »Heil dem wackeren jungen Prinzen! Jetzt hat er es erreicht, die Prinzessin Helena für sich zu nehmen!«

Prinzessin Helena Überklug sagte aber mit gerunzelten Augenbrauen:



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»Nein, wartet! Er muß vorher noch meine dritte Aufgabe lösen. Wenn er wirklich ein Held ist, gut, dann soll er mir von meinem Großvater, dem König des Meeres, drei Kopfhaare und drei Barthaare bringen. Dann bin ich gern bereit, ihn zu heiraten.« Der Prinz ging heim, finsterer als eine düstere Herbstnacht, wollte nichts sehen und hören und sprach mit niemandem.

»Laß den Kopf nicht hängen, Prinz!« konnte der Kaufmannssohn Iwan ihm schnell zuflüstern. Er selber aber holte seine Tarnkappe und eilte in den Palast. Da sah er, wie sich die Prinzessin Helena in ihre Kutsche setzte und sich anschickte, ans blaue Meer zu fahren. In seiner Tarnkappe setzte sich Iwan ebenfalls in die Kutsche, und in vollem Galopp ging es mit den schnellen Pferden der Prinzessin zum Meer.

Als sie dort angekommen war, setzte sie sich unter den Felsen am Meeresufer auf einen Stein, wandte ihr Gesicht dem blauen Meer zu und begann ihren Großvater, den Meerkönig, zu rufen. Das blaue Meer erbrauste wie im Sturm. Trotz des hellen Wetters stieg eine hohe, strudelnde Woge auf, brach sich oben in einem schäumenden silbernen Kamm, rollte wie streichelnd zum Ufer und verlief sich leicht im goldfarbenen Ufersand, wo sie sich in kleine kristallene Wasserstrahlen aufteilte, die Perlmuttermuscheln vom Ufer wegtrieben. Jetzt erhob sich der uralte Großvater bis zum Gürtel aus dem Wasser. Auf seinem Kopf standen in dichten Büscheln graue Haare, die in der Sonne glänzten und schillerten wie Silber, die Augenbrauen hingen ihm in Zotten herunter, sein Gesicht aber war wie mit Moos von einem dichten goldenen Bart bedeckt, der einer Welle gleich über die Brust hinunterfloß, sich über die Schultern ausbreitete und den Körper bis zum Gürtel einhüllte.

Der Meergreis stützte sich mit seinen Gänsepfoten auf einen Stein, schaute mit seinen grünen Augen in die Augen von Helena Überklug und sagte: »Guten Tag, liebe Enkelin! Lange habe ich dich nicht gesehen, schon lange hast du mir keine Zärtlichkeiten erwiesen . . Aber jetzt - kratze mir das Köpfchen.«

Mit seinem zottigen Kopf ließ er sich vor der Enkelin auf die Knie nieder und versank in süßen Schlummer.

Helena Überklug aber betrachtete die Haare des Großvaters. Sie wickelte sie um ihre Finger und drehte sie zu Ringeln zusammen,



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sagte dem Großvater zärtliche Worte ins Ohr und sang ihn leise in Schlaf. Sowie sie merkte, daß er eingeschlafen war, riß sie ihm drei silberne Haare aus. Der Kaufmannssohn Iwan aber riß ihm gleich ein ganzes Büschel aus.

Da erwachte der Goßvater, sah die Enkelin an und sagte schläfrig: »Bist du verrückt? Das tut doch weh!«

»Verzeih, Großväterchen«, sagte Helena Ueberklug, »ich habe dir deine Locken schon lange nicht mehr gelegt, sie haben sich alle verwickelt und zerzaust.«

Der Großvater hörte schon nichts mehr, er schnarchte bereits wieder.

Nach einer kurzen Weile riß die Prinzessin drei Haare aus seinem Bart. Da dachte der Kaufmannssohn Iwan: >Das brauche ich ebenfalls<, packte den Großvater beim Bart und riß ihm eine ganze Handvoll Haare aus . . Da wurde der Meer-Großvater aus dem Schlaf gerüttelt, er brüllte auf vor Schmerzen, und -plumps! — verschwand er im Strudel; nur kleine Bläschen blieben oben noch sichtbar.

Am anderen Tag trat die Prinzessin ins Gemach und dachte: >Jetzt ist mir der Prinz gewiß verfallen!<

Sie zeigte ihm die drei goldenen und die drei silbernen Haare und sagte: »Nun, Prinz, hast etwa auch du so etwas Wunderbares erlangt?«

»Aber Prinzessin! Da hast du noch etwas zum Großtun gefunden! Wenn du es willst, schenke ich dir gern je ein ganzes Büschel von diesem Zeug!«

Die Versammlung brüllte vor Erstaunen, als der Prinz alsbald die Haare des Großvaters aus seinem Busen hervorholte. Jetzt wurde die Prinzessin sehr böse. Sie eilte in ihr Schlafgemach, schaute in ihrem Zauberbuch nach und sah, daß nicht der Prinz der Schlaue war, sondern sein Lieblingsdiener, der Kaufmannssohn Iwan. Sie kehrte zu den Gästen zurück und sagte leise und heimlich:

»Du hast meine Aufgaben nicht allein gelöst, Prinz, dein Lieblingsdiener Iwan hat dir dabei geholfen... Ich möchte den wackeren Jüngling gern sehen -schicke ihn geschwind zu mir!«

»Prinzessin, ich habe nicht einen Diener, sondern ganze zwölf.«

»Dann schicke mir den, der Iwan heißt.«



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»Ja, sie heißen alle Iwan.«

»Gut, dann sollen sie alle kommen.«

Bei sich aber dachte die Prinzessin: >Ich werde den Schuldigen schon herausfinden.<

Der Prinz schickte seine Diener: es kamen zwölf wackere Burschen. Alle hatten sie die gleichen Gesichter, waren gleich groß gewachsen, ein Haar glich dem andern, eine Stimme der anderen.

»Wer ist der erste unter euch?«

Da riefen sie alle auf einmal: »Ich bin der erste, ich bin der erste!« >Gut<, dachte die Prinzessin Helena, >habe ich euch so nicht erwischt, so werde ich euch auf andere Art fangen.<

Sie befahl, elf einfache Becher und einen zwölften goldenen zu bringen. Sie goß kostbaren Wein in die Becher und fing an, die Burschen zu bewirten. Keiner aber wollte die einfachen Becher auch nur ansehen, alle streckten die Hände nach dem goldenen aus, einer riß ihn dem anderen aus der Hand. Sie machten einen großen Lärm und verschütteten den Wein. Jetzt sah die Prinzessin, daß auch dieses Mittel keinen Erfolg brachte. Sie befahl den Dienern des Prinzen, im Palast zu übernachten. Am Abend gab sie ihnen reichlich zu essen und zu trinken, und sie legten sich dann auf weichen Federn schlafen. Als sie fest eingeschlafen waren, ging Helena Überklug zu ihnen ins Schlafzimmer, schaute in ihr Zauberbuch und sah sofort, wer von ihnen der Kaufmannssohn Iwan war. Da nahm sie eine Schere und schnitt ihm die Haare an der linken Schläfe ab, denn sie dachte sich: >An diesem Zeichen werde ich ihn morgen erkennen und werde ihn hinrichten lassen.<

Am Morgen erwachte der Kaufmannssohn Iwan vor allen anderen, griff sich an den Kopf und entdeckte, daß seine Haare an der Schläfe abgeschnitten waren!

Schnell sprang er aus dem Bett und weckte die Kameraden: »Nehmt schnell Scheren, Brüder«, sagte er, »und schneidet euch die Haare an der Schläfe ab.«

Nach einer Stunde wurden sie zur Prinzessin Helena gerufen. Die schaute nicht schlecht, denn bei allen waren die Schläfenhaare abgeschnitten. Voller Verdruß nahm sie ihr Zauberbuch und warf es in den Ofen. Dann rief sie den Prinzen zu sich und sagte: »Ich werde dich heiraten! Mache dich zur Hochzeit bereit!«



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Der Prinz ließ nun vor allem seine zwölf braven Jungen kommen und sagte zu Iwan: »Reite zu meiner Schwester und sage ihr, sie solle alles zur Hochzeit vorbereiten.«

Iwan kam zur Prinzessin, erzählte ihr vom Bruder und übergab ihr seinen Befehl.

»Ich danke dir, du braver Jüngling und treuer Diener, für deinen Dienst«, sagte die Prinzessin-Schwester zu Iwan. »Sage mir jetzt, womit soll ich dich belohnen?«

»Womit belohnen?« antwortete der Kaufmannssohn Iwan. »Laß mich wieder an den alten Platz im Kerker setzen.«

Soviel auch die Prinzessin auf ihn einreden mochte, er blieb auf seinem Verlangen bestehen.

Als der Prinz mit seiner Braut ankam, versammelten sich die Würdenträger, Bojaren und fremden Gäste, beglückwünschten ihn zu seinem Erfolg und überreichten ihm Salz und Brot. . . Es war so viel an Volk zusammengeströmt, daß man auf den Köpfen hätte spazierengehen können.

»Aber wo ist denn mein treuer Diener Iwan?« fragte der Prinz, »warum sehe ich ihn nicht hier?«

Da antwortete ihm die Prinzessin: »Du hast doch selbst befohlen, ihn in den Kerker zu setzen.«

»Ist es denn möglich, daß es derselbe ist?«

»Derselbe -ich habe ihn nur vorübergehend zu deiner Hilfe entlassen.«

Da befahl der Prinz, Iwan vor ihn zu führen, umarmte ihn und bat unter Tränen, nichts Böses von ihm zu denken.

»Weißt du, Prinz«, sagte der Kaufmannssohn Iwan, »ich habe dir meinen Traum damals deshalb nicht erzählt, weil ich das alles im Traum vorhergesehen habe, was dir später beschieden war! Jetzt urteile selber, wenn ich dir das alles erzählt hätte -hättest du mich doch sicher für einen halben Verrückten gehalten?«

Der Prinz belohnte Iwan; er erhob ihn zum Angesehensten seines Reiches nach sich selber. Iwan aber ließ seinen Vater und die Brüder kommen, und sie lebten glücklich beisammen und erwarben Reichtümer ohne Zahl.



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Der Zwerg mit dem Schnurrbart

In einem Königreich herrschte einmal ein König, dem ein Stall gehörte, in dem die Pferde mit goldenen Ketten angebunden waren. Eines Nachts nun träumte er, daß in seinem Stall ein wunderbares Pferd angebunden sei, das statt der Haare lauter Silber auf dem Leib hatte und von dessen Stirn der helle Mond selber leuchtete.

Als der König am Morgen erwachte, ließ er im ganzen Lande ausrufen: »Wer mir diesen Traum deutet und das Wunderpferd verschafft, dem gebe ich meine Tochter und mein halbes Königreich zum Lohn.«

Daraufhin versammelten sich alle Fürsten, Grafen und berühmten Persönlichkeiten, um zu beraten. Aber niemand vermochte den Traum zu deuten, und keiner wußte, wie man das Pferd herbringen könnte. Endlich drängte sich ein altes Bäuerlein vor und sprach zum König: »Was du gesehen hast, war gar kein Traum, sondern reine Wirklichkeit. Auf dem Pferde, von dem du glaubst, es im Traum gesehen zu haben, kam diese Nacht ein Zwerg in deine feste Burg. Er hat einen ellenlangen Schnurrbart und wollte deine Tochter rauben.«

»Ich danke dir, guter Mann, für deinen Bericht«, sagte der König. »Kannst du mir jetzt noch sagen, wer mir dieses Pferd verschaffen kann?«

»Ich will es dir sagen, mein König! Ich habe drei Söhne, die großmächtige Helden sind. Alle drei sind von meiner Frau in einer Nacht geboren worden. Der älteste kam am Abend, der mittlere um Mitternacht und der jüngste beim Morgengrauen zur Welt. Wir haben sie auf die Namen Abendröte, Mitternacht und Morgenröte getauft. Keiner in deinem Reich kommt ihnen an Stärke und Tapferkeit gleich -willst du ihnen befehlen, Väterchen König, auszuziehen, um das Wunderpferd herzubringen?«

»Ja, sie sollen gehen, mein guter Alter. Aus meinem Schatz können sie sich nehmen, was immer sie brauchen. Ich aber bleibe bei meinem Versprechen: Wer von ihnen mir das Pferd bringt, dem will ich meine Tochter und mein halbes Königreich geben.«

Am frühen Morgen des nächsten Tages ritten die drei Brüder ins königliche Schloß: Morgenröte, Abendröte und Mitternacht.



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Einer war noch schöner und kräftiger als der andere, es waren ganz herrliche Recken. Sie gingen zum König, beteten vorm Heiligenbild, grüßten nach allen Seiten, beugten das Knie und sagten: »Sei gegrüßt, großer König! Wir sind nicht zum Schmausen und Zechen gekommen, sondern wir wollen die schwere Aufgabe übernehmen, dir aus fernem Lande das Wunderpferd zu holen, das dir im Traum erschienen ist.«

»Möge es euch gelingen!« sagte darauf der König. »Was soll ich euch auf den Weg mitgeben?«

»Wir brauchen nichts, mein König. Nimm nur unsere Eltern zu dir und beschütze sie vor Armut und allen Beschwerden des Alters.« »Wenn es so ist, dann reitet mit Gott und glückliche Reise! Eure Eltern werde ich in mein Schloß bringen lassen. Sie werden am königlichen Tisch essen und trinken und aus meinem königlichen Vorrat beschuht und bekleidet werden. Nichts soll ihnen abgehen.«

Nun machten sich die drei wackeren Jünglinge auf den Weg. Sie ritten einen Tag, dann noch zwei, und ständig war nur der blaue Himmel über ihnen und vor ihnen die unendliche Steppe. Endlich erreichten sie einen dichten Wald, der am Rande der Steppe lag. Darüber freuten sie sich sehr. Auf einer Lichtung stand eine Hütte und hinter ihr ein Stall voller Schafe.

»Endlich«, sagten sie, »haben wir ein Plätzchen gefunden, wo wir uns niederlegen und ausruhen können.«

Sie klopften an die Tür, aber niemand gab Antwort. Sie schauten zum Fenster hinein und sahen, daß die Hütte leer war. Sie gingen hinein, kleideten sich aus und legten sich zum Schlafen nieder.

Am anderen Morgen gingen Morgenröte und Mitternacht in den Wald auf Jagd. Sie sagten zu Abendröte: »Du bleibst zu Hause und bereitest uns das Essen.«

Der älteste Bruder war damit einverstanden. Er brachte die Hütte in Ordnung, ging dann in den Stall, wählte den fettesten Hammel aus, schlachtete ihn, zog ihm das Fell ab und briet ihn zum Mittagessen. Er hatte gerade den Tisch gedeckt und sich ans Fenster gesetzt, um die Brüder zu erwarten, da erklang plötzlich ein großes Getöse aus dem Wald.

Die Hüttentür wurde weit aufgerissen, und ein Zwerg mit einem ellenlangen Schnurrbart trat ein. Sein Bart war so lang, daß er ihn auf



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dem Rücken hinter sich herschleifen mußte. Der Zwerg sah Abendröte finster an und brüllte mit schrecklicher Stimme: »Wie kannst du es wagen, in meiner Hütte zu wohnen? Wie kannst du dich unterstehen, meinen Hammel zu schlachten?«

Abendröte schaute ihn an und sagte lachend: »Ehe du so brüllst, mußt du besser wachsen! Mach rasch, daß du verschwindest, sonst zerkrümle ich dich wie ein Stückchen Brot und pappe dir die Augen zu!« Da sagte der Zwerg: »Ich sehe, du weißt nicht, daß auch ich kühn und stark bin.«

Kaum hatte er das gesagt, da riß er ihn auch schon vom Fenster weg und schleuderte ihn von einer Ecke in die andere. Die Wände zitterten von dem Lärm, und Abendröte lag halbtot da. Dann nahm der Zwerg den Hammel und fraß ihn mitsamt allen Knochen auf. Als die Brüder zurückkamen, fragten sie: »Was ist mit dir geschehen?« Abendröte schämte sich zu erzählen, daß ihn der Zwerg derart zugerichtet hatte, und sagte zu den Brüdern: »Ich habe mir die Finger verbrannt und konnte nicht mehr kochen und braten.«

Am anderen Tage gingen Morgenröte und Abendröte auf Jagd. Mitternacht blieb zurück, um das Essen zu bereiten. Kaum war er damit fertig, da kam auch der Zwerg wieder hereingestürzt, verprügelte Mitternacht, richtete ihn übel zu und warf ihn unters Fenster. Dann verzehrte er das ganze Mittagessen, und fort war er.

Als die Brüder zurückkamen, fragten sie: »Was ist mit dir, Bruder? Warum bist du derart verwundet?«

»Ich habe mich verbrannt, Brüder«, antwortete Mitternacht. »Ich bin am Kopf verletzt und konnte deshalb kein Mittagessen herrichten.«

Am dritten Tag gingen die beiden älteren Brüder auf Jagd, während Morgenröte allein in der Hütte zurückblieb. Er dachte: >Da stimmt doch was nicht! Nicht umsonst haben zwei Tage hintereinander die Brüder über Brandwunden geklagt.<

Er paßte auf, ob nicht jemand käme, der ihm Böses zufügen wollte. Auch er wählte einen Hammel aus, schlachtete und putzte ihn, briet ihn und stellte ihn auf den Tisch. Plötzlich kam lautes Getöse aus dem Wald. Der Zwerg eilte in den Hof. Er hatte ein großes Bündel Heu auf dem Kopf und trug einen Kübel mit Wasser in der einen Hand. Den stellte er mitten auf dem Hof nieder und verstreute das



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Heu. Dann fing er an, die Schafe zu zählen. Als er sah, daß wieder ein Hammelfehlte, wurde er vor Zorn ganz bleich und stampfte mit seinen kleinen Füßen auf den Boden. Sofort eilte er in die Hütte und begann mit Morgenröte zu raufen

Der aber war von anderer Art als seine Brüder. Er packte den Zwerg bei seinem langen Schnurrbart und schleifte ihn auf dem Boden in der Hütte herum. Dabei sage er: »Wenn du das Ufer nicht kennst, dann steige nicht ins Wasser!«

Der Zwerg wand und drehte sich nach allen Seiten und konnte sich schließlich aus den eisenharten Händen von Morgenröte befreien, in denen aber die Enden seines Schnurrbartes hängenblieben. Er rannte davon, so rasch er konnte, Morgenröte hinter ihm her. Der Zwerg aber flog dahin wie eine Daunenfeder, und ehe man sich's versah, war er verschwunden. Der Jüngling ging in die Hütte zurück und setzte sich ans Fenster, um auf seine Brüder zu warten. Als sie kamen, verwunderten sie sich sehr, daß er unverletzt war und das Essen bereit auf dem Tische stand.

Da zog Morgenröte die langen Bartenden, die er dem Ungeheuer ausgerissen hatte, aus dem Gürtel und sprach zu seinen Brüdern: »Da, meine Brüder, ich habe euer Feuer an meinen Gürtel gehängt! Ich sehe, daß ihr weder an Stärke noch Tapferkeit meine Kameraden seid. Ich will das Wunderpferd allein suchen. Ihr aber geht ins Dorf zurück und bebaut den Acker!«

Nachdem er sich von den Brüdern verabschiedet hatte, zog er weiter. Am Waldesrand stieß er auf eine alte Hütte und hörte, wie dort jemand kläglich schrie: »Wer speist und tränkt mich? Ich muß verhungern!«

Der brave Jüngling trat in die Hütte und sah darin einen Menschen ohne Hände und Füße auf dem Ofen liegen.

Der klagte und jammerte und bat um Speise und Trank.

Morgenröte reichte ihm beides und fragte ihn: »Wer bist du?« »Ich war ein Held, nicht schlechter als du«, sagte der Verstümmelte. »Bei dem Zwerg habe ich einen Hammel verzehrt, und er hat mich dafür auf alle Zeit zum Krüppel geschlagen. Aber dafür, daß du mit mir Mitleid gehabt hast, will ich dir sagen, wie du das Wunderpferd bekommen kannst. Merk gut auf, lieber Jüngling! Geh zu dem nahen Fluß und übernimm dort die Fähre. Du mußt ein ganzes Jahr



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Fährmann sein, darfst aber von keinem Menschen Geld annehmen. Dann wirst du selber sehen, was geschieht.«

Morgenröte ging zu dem Fluß hinunter und übernahm die Fähre. Ein volles Jahr lang setzte er alle, die kamen, umsonst über. Eines Tages mußte er drei greise Wanderer über den Fluß bringen. Als sie am anderen Ufer waren, öffneten sie ihre Reisesäcke. Der eine holte zwei Hände voll Gold heraus, der andere runde Perlen und der dritte echte Edelsteine.

»Nimm das für die Überfahrt, braver Junge!« sagten sie.

»Ich kann von euch nichts nehmen«, antwortete Morgenröte, »weil ich nach einem Gelöbnis jeden umsonst übersetze.«

»Was ist das für ein Gelöbnis?«

»Ich suche das Wunderpferd mit dem silbernen Fell, kann es aber nirgendwo finden. Gute Leute haben mir geraten, hier die Fähre zu übernehmen und sagten: >Du wirst schon sehen, was geschieht.« »Wir danken dir, braver Jüngling, daß du so fest bei deinem Gelöbnis bleibst. Wir können dir aber einen Weg zeigen. Stecke diesen Ring hier an deinen kleinen Finger! Wenn du ihn von einer Hand in die andere bringst, gehen dir alle Wünsche in Erfüllung.«

Dann zogen die drei Greise ihres Weges weiter. Morgenröte aber steckte den Ring gleich an die andere Hand und sagte: »Ich will gleich dort sein, wo der Zwerg mit dem langen Schnurrbart wohnt und sein Pferd hütet!«

Sofort ergriff ihn ein Wirbel, und ehe er noch einen Gedanken fassen konnte, stand er schon am Rande einer tiefen Schlucht. Dort sah er auf der anderen Seite den Zwerg und ganz in der Nähe von ihm das Wunderpferd mit dem Silberfell stehen. Auf dessen Stirn leuchtete der Mond, und die Mähne war mit Sternen besät.

»Sei gegrüßt, wackerer Bursche! Was führt dich hierher?« rief ihm der Zwerg zu.

»Ich will dir das Pferd abnehmen!«

»Nein! Kein Mensch wird es mir nehmen. Ich brauche es nur an der Mähne zu packen und an den Rand der Schlucht zu führen, dort wird uns nie jemand finden!«

»Gut, dann tauschen wir!«

»Höre, ich kann mit dir tauschen. Wenn du mir die Tochter des Königs hierher bringst, dann gebe ich dir das Pferd dafür.«



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»Gut«, sagte Morgenröte, und es fiel ihm alsbald ein, wie er den Zwerg überlisten könnte. Er steckte den Ring von einem Finger an den anderen und sagte: »Die schöne Prinzessin soll sofort vor mir erscheinen!« Im nächsten Augenblick stand auch schon die Prinzessin vor ihm. Sie war ganz blaß vor Angst, fiel ihm zu Füßen und flehte: »Guter Jüngling, warum hast du mich von meinem Vater weggerissen? Habe Erbarmen mit meiner Jugend!«

Da flüsterte ihr Morgenröte ins Ohr: »Ich will dieses Ungeheuer überlisten. Ich stelle mich nur so, als ob ich dich gegen das Pferd eintauschen und dich dem Zwerg zur Frau geben wollte. Nimm diesen Ring, und wenn du wieder heim willst, so stecke ihn nur an einen anderen Finger und sage: >Ich will eine Stecknadel werden und unter den Rockkragen von Morgenröte schlüpfen.< Dann wirst du sehen, was geschieht.«

Alles kam genau, wie es Morgenröte mit der Prinzessin besprochen hatte. Er vertauschte die schöne Prinzessin gegen das Wunderpferd, legte ihm den Sattel auf und ritt seines Weges fort. Der Zwerg aber rief ihm höhnisch nach: »Das hast du gut gemacht, mein Lieber, daß du die schöne Prinzessin für das Pferd hergegeben hast!«

Morgenröte war nur eine kurze Strecke weit geritten, da fühlte er, wie etwas unter seinen Kragen fuhr. Er tastete danach und fand die Stecknadel, ließ sie zu Boden fallen, und -siehe da -die schöne Prinzessin stand vor ihm und bat ihn weinend, sie zu ihrem Vater heimzubringen.

Morgenröte setzte das Mädchen aufs Pferd und brachte es in vollem Galopp ins Schloß. Als er kurz danach durch den Schloßhof ritt, begegnete ihm der König, der tiefbetrübt war.

Er sagte zu ihm: »Ich kann mich über deine treuen Dienste gar nicht freuen. Das Wunderpferd nützt mir jetzt nichts mehr, und ich kann dich auch nicht dafür belohnen, daß du es hergebracht hast.« »Warum, Väterchen König?«

»Weil meine Tochter spurlos verschwunden ist, guter Jüngling!« »Du willst deinen Scherz mit mir treiben. Soeben hat mich doch deine Tochter vom Palast aus gegrüßt!«

Da eilte der König ins Gemach der Prinzessin, umarmte sie und führte sie dem Jüngling zu. »Hier hast du deine Belohnung, und ich habe nun meine Ruhe wieder.«



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Der König nahm das Wunderpferd, gab Morgenröte seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich dazu. Die beiden lebten ruhig und glücklich bis an ihr Ende.


Prinzessin Maria Morewna und der böse Zauberer

Prinz Iwan besaß drei Schwestern: die Prinzessin Maria, die Prinzessin Olga und die Prinzessin Anna. Sie hatten schon seit langer Zeit keinen Vater und keine Mutter mehr. Als die Eltern starben, hatten sie dem Sohn befohlen: »Wer zuerst um deine Schwestern freit, dem gib sie - halte die Schwestern nicht lange bei dir.«

Eines Tages ging der Prinz mit seinen Schwestern in den grünen Garten, um dort zu lustwandeln und die trüben Gedanken zu verscheuchen. Plötzlich zog am Himmel eine schwarze Wolke auf, und es brach ein schreckliches Unwetter los.

»Kommt, liebe Schwestern, laßt uns nach Hause gehen!« sagte der Prinz Iwan.

Kaum waren sie im Palast angekommen, da krachte ein Donnerschlag, die Decke über ihren Häuptern spaltete sich, und es kam - niemand wußte woher -ein lichter Falke ins Zimmer geflogen. Als er sich auf dem Boden niedergelassen hatte, verwandelte er sich in einen schönen Jüngling und sagte zum Prinzen Iwan:

»Guten Tag, Prinz Iwan! Ich bin schon früher zu dir als dein Gast gekommen, aber jetzt bin ich als Freier hier; ich möchte deine Schwester, die Prinzessin Maria, heiraten.«

»Wenn du die Schwester liebst, werde ich sie nicht zurückhalten - möge sie mit Gott gehen.«

Die Prinzessin Maria war einverstanden.

Der Falke heiratete sie und trug sie fort in sein Reich. Es verging nicht ganz ein Jahr, und wieder war der Prinz Iwan mit seinen zwei Schwestern im grünen Garten. Wieder kam eine Wolke mit einem Wirbelwind, und wieder rief der Prinz die Schwestern nach Hause zurück, damit sie sich vorm Gewitter schützten. Kaum waren sie im Palast angekommen, da erdröhnte ein Donnerschlag, die Decke des Zimmers spaltete sich, und es kam ein Adler hereingeflogen. Er ließ sich zu Boden nieder und wurde ein schöner Jüngling,



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der um die Prinzessin Olga warb. Die Prinzessin war einverstanden und heiratete den Adler. Der ergriff sie und trug sie fort in sein Reich.

Und wiederum verging ein Jahr, und es ereignete sich das gleiche: Prinz Iwan ging mit der jüngsten Schwester im Garten spazieren, da überfiel sie ein Gewitter und zwang sie, nach Hause zurückzukehren. Kaum waren sie dort angelangt, da krachte der Donner, und ein Rabe kam in den Palast geflogen. Er ließ sich auf dem Boden nieder und verwandelte sich in einen Jüngling. Die beiden ersten waren schön gewesen, aber dieser war der Schönste von allen.

»Prinz Iwan«, sagte er, »gib mir deine Schwester Anna.«

»Ich werde nichts gegen den Willen meiner Schwester tun; wenn du sie lieb hast, so soll sie mit dir gehen.«

Prinzessin Anna heiratete den Raben, und er trug sie fort in sein Reich.

Nun war Prinz Iwan ganz allein. Er lebte ein Jahr für sich ohne die Schwestern und fing an, sich zu langweilen.

»Ich will mich aufmachen«, sagte er, »um zu sehen, wie es meinen verheirateten Schwestern geht.« Dann machte er sich auf den Weg. Er ritt und ritt und kam endlich auf dem freien Feld zu weißen Zelten, in denen ein gewaltig großes Heer lagerte.

Der Prinz fragte: »Wessen Krieger haben hier ihr Lager aufgeschlagen?«

Ihm wurde geantwortet: »Hier lagern die Krieger der schönen Königin Maria Morewna.«

Der Prinz wollte die Königin sehen und ritt zu ihrem Zelt. Die schöne Königin trat heraus und fragte den Prinzen Iwan: »Woher bringt dich der liebe Gott, Prinz? Hast du dich freiwillig oder unfreiwillig auf den Weg gemacht?«

Der Prinz antwortete ihr: »Weißt du nicht, daß tapfere Jünglinge nur freiwillig ausziehen?«

»Nun, wenn deine Sache keine Eile hat, so tritt in mein Zelt und sei mein Gast!«

Prinz Iwan war einverstanden. Er wohnte zwei Tage in ihrem Zelt. Er verliebte sich in Maria Morewna und heiratete sie. Sie ritten zusammen in ihr Königreich und lebten fröhlich und glücklich miteinander.



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Nach einiger Zeit beschloß die Königin, ihr Reich zu besichtigen. Sie übergab ihren ganzen Hof dem Prinzen Iwan und sagte: »Geh überallhin, sieh alles an, nur in dieses eine Gemach hier darfst du nicht hineinsehen. «

An der Türe dieses Gemachs hing ein schweres Schloß, das an großen Ringen befestigt war, die Tür selber aber war mit dicken Eisenplatten beschlagen. Prinz Iwan aber hielt es nicht aus. Kaum war Maria Morewna weggeritten, da eilte er zu dieser Tür, nahm das Schloß ab, schob die schweren Riegel zurück und stieß mit seinem Knie die Tür auf. Die rostigen Angeln knarrten und kreischten, als die fünffach starke Tür aufging . . . Prinz Iwan schaute ins Innere der Kammer und sah, daß dort, unmittelbar unter der Decke, an acht Haken und zwölf Ketten ein furchtbares Ungeheuer hing: Es war ein hinfälliger, knochiger Alter, dünn wie eine Nadel, ohne ein einziges Haar auf dem Kopf, über und über voller Runzeln. An Händen und Füßen hatte er Krallen wie ein wildes Tier und am Rücken Flügel wie eine Fledermaus . . . Seine Augen brannten gleich zwei Kerzen in der Finsternis.

»Wer bist du?«fragte ihn Prinz Iwan.

»Ich bin der unsterbliche Zauberer Koschtschei und leide hier in dem geheimen Gemach bei Maria Morewna schon das zehnte Jahr. Sie hat mich mit starken Zaubersprüchen beschworen und mit Zauberketten gefesselt. Habe Mitleid mit mir, guter Jüngling, und gib mir Wasser zu trinken, meine Kehle ist ganz ausgedörrt.«

Prinz Iwan brachte ihm einen Eimer Wasser. Er trank ihn aus und bat nochmals: »Mit dem einen Eimer kann ich meinen Durst nicht löschen, gib mir noch einen!«

Der Prinz brachte ihm einen zweiten Eimer. Der Zauberer trank ihn aus und verlangte noch einen. Als er aber den dritten Eimer leergetrunken hatte -da hatte er seine ganze Stärke und Kraft wieder zurückgewonnen.

Er riß die Ketten ab, schlug mit den Flügeln derart, daß eine ganze Wand des Gemaches zusammenbrach, und erhob sich wirbelnd bis zu den Wolken empor.

»Ich danke dir, Prinz Iwan«, schrie der Zauberer beim Wegfliegen, »du hast mir Maria Morewna ausgeliefert. Du wirst sie jetzt so wenig mehr sehen wie deine eigenen Ohren.«Unterwegs holte er Maria



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Morewna -die wunderschöne Königin -ein, zerstreute ihr glänzendes Gefolge, ergriff sie und trug sie davon in sein Zauberreich. Prinz Iwan aber weinte bitterlich. Er rüstete sich zur Reise und tat für sich selber das Gelübde: »Was immer mir auch zustoßen mag, ich werde Maria Morewna aufsuchen.«

Er ging einen und noch einen Tag, und am frühen Morgen des dritten Tags sah er einen prächtigen Hof, in dem eine dichtbelaubte Eiche stand. Auf dieser Eiche saß ein lichter Falke. Er flog herunter, und als er die Erde berührt hatte, verwandelte er sich in einen stattlichen jungen Mann, der rief: »Ach, mein lieber Schwager, sei willkommen! Wie geht es dir mit Gottes Hilfe?«

Jetzt kam auch die Königin Maria aus dem Schloß gelaufen, begrüßte den Prinzen Iwan freudig, fragte ihn nach seinem Befinden und erzählte von ihrem Leben. Der Prinz war drei Tage lang bei ihr zu Gast, dann sagte er: »Ich kann nicht länger bleiben ich muß meine Frau Maria Morewna suchen, die wunderschöne Königin.« »Die wirst du schwerlich finden«, sprach der Schwager-Falke. »Auf jeden Fall laß uns deinen silbernen Löffel da, wir werden ihn betrachten und deiner gedenken .

Prinz Iwan tat das und machte sich wieder auf den Weg. Er ging einen, er ging zwei Tage, und im Frühlicht des dritten Tages sah er ein Schloß, das noch schöner war als das erste. Neben diesem Schloß stand eine Eiche, auf der ein Adler saß. Er flog vom Baum herunter, berührte den Boden und verwandelte sich in einen schönen jungen Mann, der rief: »Steht auf, Königin Olga! Empfange unseren lieben Bruder!«

Die Königin eilte aus dem Schloß herbei, umarmte und küßte den Bruder, erzählte von ihrem Leben und Treiben und fragte ihn nach dem seinigen. Prinz Iwan erzählte ihnen von seinem Kummer, blieb drei Tage und machte sich dann wieder reisefertig.

Da sagte der Adler zu ihm: »Maria Morewna wirst du schwerlich auffinden. Laß uns für jeden Fall deinen goldenen Ring da, wenn wir ihn anschauen, werden wir von dir Nachrichten bekommen.« Prinz Iwan tat das und machte sich wieder auf den Weg. Am dritten Tage näherte er sich dem Schloß seines dritten Schwagers, des Raben. Der Schwager und die Schwester freuten sich sehr über seinen Besuch, bewirteten ihn und luden ihn ein, bei ihnen zu bleiben.



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»Nein«, antwortete Prinz Iwan, »ich kann nicht, ich muß meine geliebte Frau suchen.«

Da sagte ihm der Schwager Rabe: »Du wirst sie schwerlich finden. Laß auf jeden Fall deine silberne Pfeife da: Wenn wir sie ansehen, werden wir uns an dich erinnern und von dir eine Nachricht bekommen. Vielleicht haben wir die Möglichkeit, dich aus einer schwierigen Lage zu befreien.«

Prinz Iwan tat das und ritt weiter. Lange, lange wanderte er, schwamm über breite Flüsse, ging um große Seen herum, stieg und kletterte auf hohe Berge, kroch durch tiefe Schluchten, durchschritt den Sternen nach finstere Urwälder und gelangte endlich an die Grenze des Reiches von Koschtschei. Er fand sein hohes, finsteres Gebäude, ging durch die weiten Tore über gekrümmte Übergänge und kam in das Gemach, darin Maria Morewna verborgen war. Als sie ihren Liebsten sah, vergoß sie viele Tränen, warf sich ihm an den Hals und sagte: »Ach, Prinz Iwan! Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum hast du in das geheime Gemach hineingesehen, wo der unsterbliche Zauberer angeschmiedet war?«

»Verzeih, Maria Morewna, denke nicht ans Vergangene, komm lieber mit mir, solange der Zauberer nicht da ist. Vielleicht kann er uns nicht einholen!«

Sie rüsteten sich und gingen davon.

Der Zauberer aber war auf der Jagd gewesen. Als er am Abend nach Hause ritt, stolperte sein Pferd. »Was stolperst du denn, hungrige Mähre? Spürst du etwa irgendein Unglück?«

Das gute Pferd antwortete dem Zauberer: »Prinz Iwan war in deinem Palast und hat Maria Morewna entführt.«

»Kannst du sie einholen?«

»Man kann Weizen mahlen und fünf Laibe Brot backen, dieses Brot essen und dann auf die Suche gehen.« Rascher als ein Wirbelsturm jagte der Zauberer davon, holte den Prinzen Iwan und Maria Morewna ein und sagte: »Das erste Mal verzeih ich dir, weil du mir Wasser zum Trinken gegeben hast. Ich verzeihe dir auch ein zweites Mal, aber vorm dritten Mal hüte dich! Es wird dir nicht gut bekommen!«

Er riß Maria Morewna weg und eilte in sein Reich zurück. Prinz Iwan setzte sich auf einen Stein und weinte. Er vergoß viele Tränen,



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dann aber kehrte er ins Reich des Zauberers zu Maria Morewna zurück.

Wieder bat er: »Gehen wir, Maria Morewna!«

»Ach, Prinz Iwan, was hat es für einen Sinn, wenn wir davonlaufen:

Der Zauberer wird uns auf seinem Pferd wieder einholen.«

»Wenn er uns auch einholt . . . Wir sind wenigstens einige Stunden beisammen.«

Und sie machten sich auf den Weg. Währenddessen kehrte der Zauberer von der Jagd nach Hause zurück, und wieder stolperte sein Pferd. »Spürst du etwa schon wieder ein Unglück?«fragte der Zauberer.

»Der Prinz Iwan ist gekommen und hat Maria Morewna entführt.«

»Kannst du sie einholen?«

»Man kann Gerste dreschen und mahlen, daraus Bier brauen, sich einen Rausch antrinken, ihn bis zum Überdruß ausschlafen und dann auf die Verfolgung gehen - und dann wirst du sie noch einholen.«

Der Zauberer ritt aber spornstreichs davon, holte den Prinzen Iwan ein, nahm ihm Maria Morewna weg und sagte: »Ich habe dir doch gesagt, daß du sie so wenig mehr sehen wirst wie deine Ohren!« Prinz Iwan aber blieb hartnäckig, kehrte wieder zu Maria Morewna zurück und sagte: »Gehen wir!«

»Ach, Prinz Iwan! Sieh, wenn dich der Zauberer dieses Mal einholt, wird er dich sicherlich töten!«

»Mag er es tun! Ohne dich kann ich nicht leben!«

Wieder gingen sie davon, und wieder holte sie der unsterbliche Zauberer ein. Er fiel über den Prinzen Iwan her und zerhieb ihn in lauter kleine Stücke. Die warf er in ein ausgepichtes Faß, versah es mit eisernen Reifen und stieß es ins blaue Meer.

Während das geschah, wurden das Gold und Silber des Prinzen Iwan bei den Schwägern schwarz.

»Ach«, sagten sie, »ihm ist ein Unglück zugestoßen!«

Der Falke Sokolowitsch flog aufs Meer hinaus und ließ einen starken Sturm entstehen, der das Meer so aufwühlte, daß es das Faß ans Ufer spülte. Nun packte der Adler Orlowitsch das Faß mit seinen Krallen, trug es hoch, hoch in die Lüfte bis zu den Wolken hinauf und ließ es von da zur Erde fallen. Das Faß zersprang auf dem Boden



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in tausend Stücke. Da brachte der Rabe Woronowitsch unter seinen Flügeln heilendes Lebenswasser und besprengte damit den Prinzen Iwan. Der Prinz stand auf, reckte sich und sagte: »Wie lange habe ich doch geschlafen?«

»Du hättest noch länger geschlafen, wenn wir nicht gewesen wären!« antworteten die Schwäger, »jetzt wirst du hoffentlich nicht mehr zum Zauberer gehen?«

»Nein, Brüder! Solange ich lebe, werde ich von meinem Gelöbnis nicht ablassen!«

Und wieder ging er zu Maria Morewna. Er erriet eine Zeit, wo der Zauberer nicht zu Hause war, und erschien vor seiner lieben Frau gesund und ohne Schaden. Maria Morewna freute sich sehr. Sie wußte gar nicht, wie sie ihn herzen sollte, und sagte zu ihrem Mann: »Ich habe immer an dich gedacht und den Zauberer oft gefragt, woher er ein so gutes Pferd bekommen hat. Da sagte er mir, daß in einem weit, weit entfernten Königreich an einem feurigen Fluß die Feuerfrau wohnt, die eine Stute besitzt, auf der sie jeden Tag um die ganze Welt herumreitet. Ihr gehören viele solcher wunderbarer Stuten. Der Zauberer hat drei Jahre lang bei ihr als Hirte gedient und keine einzige Stute verlorengehen lassen. Dafür hat ihm die Feuerfrau ein Füllen geschenkt.«

»Aber wie ist er über den Feuerfluß hierhergekommen?«

»Er hat ein Tuch, mit dem er nur dreimal nach rechts zu winken braucht, dann wölbt sich eine hohe, hohe Brücke, so daß das Feuer seine Füße nicht erreichen kann. Dieses Tuch nun habe ich für alle Fälle versteckt.«

Prinz Iwan nahm das Tuch, verabschiedete sich und begab sich in das Königreich, wo der Feuerfluß und die Feuerfrau waren, um sich ein solches Zauberpferd zu beschaffen.

Er ging lange, lange, ohne zu essen oder zu trinken, da traf er unterwegs auf eine Möwe, hinter deren Flügeln eine Schar von Jungen herflog. Prinz Iwan sagte zu sich: >Ich werde eines von diesen Jungen verzehren.<

»Tu's nicht, Prinz Iwan!« bat die Möwe, »es kommt die Zeit, wo ich dir nützlich sein kann.«

Der Prinz ging weiter. Da sah er im Wald an einem hohlen Baum einen Bienenstock.



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>Der kommt mir gerade recht<, sagte sich der Prinz. >Da werde ich wenigstens Honig essen!<

Aber die Bienenkönigin rief aus dem Stock: »Rühr meinen Honig nicht an, Prinz Iwan! Es kommt die Zeit, wo ich dir nützlich sein kann.«

Der Prinz, der schrecklichen Hunger verspürte, ging weiter und kam zu dem Platz, wo das Haus der Feuerfrau stand. Um dieses ganze Haus herum stand ein Zaun, und auf jeden Zaunpfahl war der Kopf eines Helden aufgesteckt. Nur ein einziger Pfahl, ganz nahe beim Tor, war noch leer.

»Guten Tag, Großmütterchen!«

»Guten Tag, Prinz Iwan! Was führt dich hierher?«

»Ich möchte mir bei dir ein Heldenpferd verdienen.«

»Gut, Prinz! Sieh, der Dienst bei mir ist nicht schwer: Du brauchst kein Jahr, sondern nur drei Tage zu dienen. Wenn du meine Pferde richtig weidest, werde ich dir ein Füllen geben. Wenn aber nicht, dann darfst du nicht erzürnen: Dann wird dein Köpfchen auf den letzten Pfahl gesteckt werden.«

Sie gab ihm zu essen und zu trinken und schickte ihn dann an die Arbeit. Kaum hatte er die Stuten ins Freie getrieben, da erhoben sie ihre Schwänze und liefen davon. Bevor der Prinz noch richtig schauen konnte, hatte er jede Spur von ihnen verloren. Da weinte er und eilte bald dahin, bald dorthin, um seine Herde zu suchen. Vor Kummer und Müdigkeit setzte er sich auf einen Stein und schlief ein.

Die Sonne war schon am Untergehen, da kam die Möwe geflogen und weckte den Prinzen auf:

»Steh auf, Prinz Iwan! Deine Stuten sind schon längst heimgetrieben!«

Der Prinz ging und hörte, wie die Feuerfrau ihre Stuten schalt: »Warum seid ihr nach Hause zurückgelaufen?« Die Stuten antworteten:

»Wie sollten wir nicht umkehren, wenn auf einmal von irgendwoher eine Menge Vögel geflogen kamen und uns fast die Augen auspickten.«

»Also gebt acht, morgen rennt ihr nicht auf die grüne Wiese, sondern zerstreut euch im Urwald.«



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Am anderen Morgen trieb Prinz Iwan die Stuten aufs Feld, und genau wie am gestrigen Tag waren sie im Nu aus den Augen verschwunden. Der Prinz wußte schon, daß es vergebliche Mühe war, sie zu suchen, und setzte sich auf einen Stein. Dort weinte er lange und schlief schließlich wieder ein.

Kaum war die Sonne hinter dem Wald niedergegangen, da kam die Bienenkönigin geflogen und sagte: »Steh auf, Prinz! Sammle die Stuten ein! Aber gib acht! Wenn du heimkommst, komme der Feuerfrau nicht unter die Augen. Gehe gleich in den Stall und verbirg dich unter der Krippe. Dort wälzt sich ein einjähriges Füllen auf dem Mist, ein ganz grindiges! Das nimmst du heimlich, und um Mitternacht renne mit ihm auf die andere Seite.« Prinz Iwan tat das.

Kaum hatte er sich unter die Krippe gelegt, da hörte er, wie die Feuerfrau laut auf ihre Stuten losschimpfte: »Warum seid ihr umgekehrt?« «

»Wie hätten wir nicht umkehren sollen, wenn von allen Seiten her Bienen geflogen kamen und uns bis aufs Blut peinigten!«

In der finsteren Mitternacht führte Prinz Iwan das grindige Füllen aus dem Stall, zäumte es auf, schwang sich darauf, und weg war er. Sowie er auf seiner Brücke über den Feuerfluß geritten war, winkte er zweimal mit seinem Tuche nach links, und es blieb über dem Fluß eine hauchdünne Brücke zurück, so schwach, daß sie nicht einmal einen Fußgänger getragen hätte.

Die Feuerfrau aber merkte am nächsten Morgen gleich, daß der Prinz Iwan verschwunden war, und erriet sofort, daß er ihr das grindige Füllen genommen hatte. Sie nahm eiligst die Verfolgung auf, sah aber nicht, daß die Brücke über dem Feuerfluß kaum noch hielt, und wollte darüber galoppieren. Kaum hatte sie jedoch die Mitte erreicht, da brach die Brücke unter ihr zusammen, und plumps lag sie im Fluß, wo sie ein grausames Ende fand.

Prinz Iwan aber fütterte das Füllen auf seinen Wiesen und tränkte es mit Met; da wurde es ein wunderbares Heldenpferd. Auf diesem herrlichen Roß ritt er in das Reich des Zauberers, nahm seine Frau zu sich aufs Pferd, und spornstreichs galoppierten sie nach Hause wie schnelle Vögel. Indessen ritt der Zauberer heimwärts, und das Pferd unter ihm strauchelte.



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»Was stolperst du, Mähre? Spürst du etwa wieder ein Unglück?« »Prinz Iwan ist gekommen und hat die Maria Morewna entführt.«

»Kannst du sie erjagen?«

»Ich weiß es nicht. Sie sitzen jetzt auf einem Pferd, das nicht schlechter ist als das deinige, und wenn es uns auch gelingt, sie einzuholen, so wird dir das nicht gut bekommen.«

»Nein, ich dulde es nicht«, sagte der Zauberer, »ich werde ihnen nachjagen !«

Er holte den Prinzen Iwan ein und wollte ihm gerade mit seinem Säbel den kühnen Kopf abschlagen, da wandte sich das Pferd des Prinzen zu dem des Zauberers und sagte:

»Hast du mich denn nicht erkannt? Ich bin dein jüngerer Bruder, und ich muß mich schämen, daß du einem so heidnischen Ungeheuer dienst! Wirf ihn ab und zerstampfe ihn mit deinen Hufen!«

Der ältere Bruder gehorchte dem jüngeren, warf den Zauberer ab und trampelte ihn tot. Prinz Iwan aber sammelte über dem Zauberer einen großen Scheiterhaufen, zündete ihn an, verbrannte das unreine Ungeheuer darin und zerstreute die Asche auf dem Feld in alle Winde. Dann setzte sich Maria Morewna auf das Pferd des Zauberers, Prinz Iwan auf das seinige, und sie ritten zu den Schwägern auf Besuch. Überall, wo sie hinkamen, war ein Feiertag, überall gab es große Schmausereien, und überall sagten sie: »Prinz Iwan, wir haben dich schon nicht mehr unter den Lebenden geglaubt! Nicht umsonst hast du dich bemüht: Eine solche Schönheit wie Maria Morewna kann man auf der ganzen Welt suchen, man wird keine zweite finden!«

So waren sie beisammen, feierten und schmausten, dann aber ritten die beiden in ihr Königreich und lebten dort lange und glücklich.


Der Eisklumpen

Eine Stiefmutter hatte eine Stieftochter und eine eigene Tochter. Die eigene konnte tun, was sie wollte, immer strich ihr die Mutter sanft übers Köpfchen und sagte: »Du Kluge!« Die Stieftochter aber konnte ihr auch gar nichts recht machen: nichts war so, wie es hätte



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sein sollen, alles war schlecht. Aber, um die Wahrheit zu sagen, es war ein ganz goldiges Mädchen. In guten Händen hätte es gelebt wie die Made im Speck, aber bei der Stiefmutter war sie tagtäglich in Tränen gebadet. Was tun? Wenn auch mal ein Gewitter kommt, schließlich beruhigt sich's wieder, wenn aber ein zänkisches Weib in Zorn gerät, ist es nicht so schnell zu beruhigen; immerzu denkt es sich etwas Arges aus und wetzt die Zähne. Die Stiefmutter hatte beschlossen, die Stieftochter vom Hofe zu verjagen.

»Fort, fort mit ihr, wohin du willst, Alter«, sagte sie zu ihrem Mann, »daß meine Augen sie nicht mehr sehen und meine Ohren nichts mehr von ihr hören! Bloß bring sie nicht in die warme Hütte zu den Verwandten, sondern aufs freie Feld in den knirschenden Frost!« Der alte Mann war sehr traurig und weinte, setzte aber trotzdem die Tochter auf einen Schlitten. Er wollte sie mit einer Pferdedecke einhüllen, aber er wagte sich's nicht. Also brachte er die Verstoßene aufs freie Feld, warf sie auf einen Schneehaufen, bekreuzigte sich und rannte so rasch wie möglich heim, um ihren grausamen Tod nicht ansehen zu müssen.

Das arme Kind blieb am Rande des Waldes zurück und setzte sich unter eine Tanne. Es zitterte an allen Gliedern und betete leise. Auf einmal hörte es: Nicht weit von ihm knisterte auf der Tanne ein Eisklumpen. Er sprang von einem Baum zum anderen, klapperte und schaukelte, schaute auf das schöne Mädchen herunter und sagte schließlich: »Mädchen, Mädchen, ich -bin der Frost mit der roten Nase!«

»Sei mir willkommen, Frost! Also hat Gott dich zu meiner sündigen Seele geschickt!«

»Ist dir auch warm genug, Mädchen?«

»Warm, warm, Väterchen Fröstchen!«

Da ließ sich der Eisklumpen weiter nach unten, knisterte noch stärker, klapperte noch lauter und fragte das Mädchen abermals: »Ist dir warm, Mädchen? Ist dir warm, Schöne? Ist dir warm, Liebchen?«

Das Mädchen war schon völlig erstarrt und konnte kaum flüstern:

»Oh, warm, mein liebes Fröstchen!«

Der Eisklumpen freute sich über ihre zärtlichen Worte. Er spürte Mitleid mit dem armen Ding, hüllte es in Pelze ein und wärmte es mit Decken. Dann brachte er ihm einen großen schweren Koffer voll



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prächtiger Geschenke und gab ihm dazu noch ein mit Silber und Gold geschmücktes Kleid. Sie zog es an- und was für eine Schönheit wurde aus ihr! Was für eine Schönheit! Jetzt saß sie da und sang Lieder. — Die Stiefmutter aber richtete für sie schon den Leichenschmaus her und buk leckere Pfannkuchen.

»Geh, Mann, und hole deine Tochter zum Begräbnis!« Der Alte fuhr fort. Unterm Tisch aber saß der Hund und bellte: »Wau, wau! Die Tochter des Alten werden sie in Gold und Silber bringen, aber die Tochter der Alten wird kein Bräutigam nehmen!«

»Halt 's Maul, du Dummkopf! Da hast du einen Pfannkuchen! Du solltest sagen: Die Tochter der Alten wird viele Freier haben, aber von der Tochter des Alten werden sie nur die Knochen bringen!«

Der Hund fraß den Pfannkuchen auf und fing wieder an: »Wau, wau! Die Tochter des Alten wird man in Gold und Silber herfuhren, aber die Tochter der Alten wird kein Bräutigam nehmen!«

Die Alte gab ihm wiederum Pfannkuchen und schlug ihn auf seinen Pelz, der Hund aber bellte immer wieder: »Die Tochter des Alten wird in Gold und Silber kommen, aber die Tochter der Alten wird kein Bräutigam nehmen!«

Da kreischten die Tore, und die Türen gingen auf. Der große, schwere Koffer wurde gebracht, und die Stieftochter trat in Gold und Silber herein -sie glänzte und leuchtete. Die Stiefmutter schaute sie an und brachte vor Staunen die Hände gar nicht mehr zusammen.

»Alter, Alter, spann andere Pferde ein und fahr rasch meine Tochter fort! Setze sie auf dem gleichen Felde am gleichen Platze ab!« Der Alte brachte die Tochter aufs selbe Feld an denselben Platz. Da erschien wieder der Frost mit seiner roten Nase, schaute seinen Gast an und fragte: »Ist es dir warm, Mädchen?«

»Mach, daß du weiterkommst!«gab ihm die Tochter der Alten zur Antwort. »Bist du denn blind? Siehst du nicht, wie mir Hände und Füße erstarrt sind?«

Da sprang und schaukelte der Eisklumpen, aber er konnte kein einziges gutes Wort erwarten. Da packte ihn der Zorn auf die Stieftochter, und er ließ sie erfrieren . .

»Alter, Alter, geh und hole meine Tochter! Spann flinke Pferde ein,



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aber wirf bloß den Schlitten nicht um, daß du den Koffer nicht verlierst!«

Der Hund unterm Tisch aber bellte: »Wau, wau! Die Tochter des Alten wird ein Bräutigam nehmen, aber von der Tochter der Alten wird man nur noch die Knochen in einem Sack bringen!«

»Lüg nicht! Sage: Die Tochter der Alten wird man in Gold und Silber bringen!«

Da öffneten sich die Tore, und die Alte lief hinaus, um ihre Tochter zu begrüßen, aber an ihrer Stelle konnte sie nur noch einen kalten Körper umarmen. Sie weinte und jammerte. Sie sah ein, daß sie durch ihre Bosheit und ihren Neid die eigene Tochter ins Verderben gebracht hatte.


Die Sprache der Vögel

In einer Stadt lebte ein sehr reicher Kaufmann mit seiner Frau. Die beiden hatten einen Sohn, der für seine Jahre nicht sonderlich aufgeweckt und tüchtig war. Er hieß Iwan. Eines Tages saßen die Eltern beim Essen. Die Nachtigall sang im Käfig über dem Tisch so schmelzend, pfiff und schnalzte in einem so zarten silbernen Wirbel, als wolle sie alle Töne auf einmal verschwenden .

Der Kaufmann horchte und lauschte und konnte es schließlich nicht unterlassen zu sagen: »Wenn sich ein Mensch fände, der mir sagen könnte, was der Vogel singt, wäre ich glatt bereit, ihm die Hälfte meines Vermögens zu geben.«

Diese Worte nahm der Kaufmannssohn Iwan begierig in sich auf. Wo er nun ging und stand, überall war fortan sein einziges Sinnen: wie er die Sprache der Vögel erlernen könne.

Einige Zeit ging dahin, da war der Kaufmannssohn Iwan eines Tages im Wald auf Jagd. Dort überraschte ihn ein furchtbares Unwetter mit Blitz und Donner. Es regnete in Strömen. Um sich vor der Nässe zu schützen, stellte er sich unter einen Baum. Auf diesem Baum sah er ein großes Vogelnest und vier junge Vögel darin. Sie zitterten vor Kälte, waren vom Regen schon ganz durchnäßt und piepsten ganz kläglich. Iwan hatte Mitleid mit ihnen; er stieg auf den Baum und deckte sie mit seinem Rocke zu.



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Als das Gewitter vorüber war, kam ein großer Vogel zu dem Baum geflogen, setzte sich auf einen Ast und sagte mit menschlicher Stimme: »Kaufmannssohn Iwan, du hast meine Jungen vor Kälte und Nässe beschützt, ich fühle mich in deiner Schuld. Verlange von mir, was dein Herz begehrt.«

Iwan antwortete dem Vogel: »Ich brauche von dir nichts, ich habe alles und entbehre nichts. Aber vielleicht könntest du mich die Sprache der Vögel lehren?«

»Freilich kannst du sie erlernen - bleibe nur drei Tage bei mir im Walde, und du wirst alles verstehen können, was die Vögel unter sich sprechen.«

Iwan lebte drei Tage im Wald und verstand nun die Sprache der Vögel. Verständiger kehrte er nach Hause zurück.

Wieder verging einige Zeit, da saß er wieder mit Vater und Mutter am Tisch. Jetzt sang die Nachtigall so traurig und klagend, daß es sogar dem Kaufmann und seiner Frau ganz schwer ums Herz wurde. Iwan aber vergoß bittere Tränen.

»Warum weinst du, lieber Sohn?«fragten die Eltern.

»Ich weine deshalb, weil ich jetzt die Sprache der Vögel verstehe und weil uns die Nachtigall nichts Gutes ankündigt.«

»Was soll das heißen? Sprich geradeheraus!«

»Ach, wäre ich doch nicht auf dieser Welt geboren!«

»Laß das und rede vernünftig, wenn du die Sprache der Vögel verstehst: Was hast du Schlimmes vernommen?«

»Ja, hört ihr's denn nicht, was die Nachtigall singt? —Die Zeit wird kommen, und Iwan wird König sein, sein Vater aber wird als Knecht ihm dienen müssen.«Über diese Worte wurde der Kaufmann zornig und wollte seinem Sohn nicht glauben. Er meinte: >Vermutlich hat er was Böses gegen uns im Sinn, daß er aus dem Gesang der Nachtigall etwas so Schlimmes heraushören kann.<

Der Kaufmann und seine Frau berieten sich miteinander und beschlossen, den Sohn zu entfernen, damit das, was er da gesprochen hatte, nicht eintreten könne. In einer finsteren Herbstnacht gaben sie ihm einen Schlaftrunk ein und brachten ihn zu einem Kahn, setzten drauf ein weißes Segel, stießen den Kahn vom Ufer weg und ließen ihn aufs offene Meer hinausfahren.

Der Kahn trieb weiter aufs offene Meer hinaus und geriet an ein



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Kaufmannsschiff. Beim Zusammenstoß erwachte Iwan. Die Schiffer sahen ihn, erbarmten sich seiner und nahmen ihn auf ihr Schiff. Als sie weiterfuhren, sah Iwan, daß Kraniche hinter dem Schiff herflogen und laut untereinander redeten.

Iwan sagte den Schiffern: »Gebt acht! Hütet euch! Ich höre, was die Kraniche unter sich schwatzen: Ein großer Sturm wird kommen, er wird eure Masten zerbrechen und die Segel zerreißen. Fahrt lieber nicht weiter!«

Doch die Schiffer hörten nicht auf Iwan. Bald aber brach ein furchtbarer Sturm los, zerbrach die Masten, zerriß die Segel und richtete schweren Schaden an. Die Schiffer konnten nur mit Not in den Hafen zurückfahren, um ihr Schiff auszubessern.

Kaum waren sie damit fertig geworden und weitergefahren, da kam hinterm Schiff ein mächtiger Zug von Schwänen geflogen, die bald laut, bald leise untereinander schnatterten.

Iwan sagte zu den Schiffern: »Gebt acht! Hütet euch! Ich höre, was die Schwäne unter sich sprechen: Es wird euch ein Schiff mit Seeräubern begegnen, die euch gefangennehmen und ausplündern wollen. Kehrt lieber in den Hafen zurück.«

Dieses Mal hörten die Schiffer auf den Kaufmannssohn Iwan, und bald sahen sie, wie die Räuber an ihnen vorbeifuhren, andere Schiffe ausraubten und deren Besatzung gefangennahmen.

Die Schiffer warteten so lange, wie das notwendig war, und fuhren dann weiter. In einer entfernten, am Meer gelegenen Stadt machten sie halt. Dort herrschte ein König, vor dessen Palastfenstern schon seit Jahren ein Rabe und ein Rabenweibchen herumflogen und so laut krächzten, daß man bei Tag und Nacht vor ihnen keine Ruhe hatte. Was immer der König tat, um die Raben zu vertreiben -nichts konnte helfen. Nun hatte der König an allen Wegkreuzungen eine Kundmachung anschlagen lassen, in der zu lesen war: »Wer den König von dem Raben und dem Rabenweibchen befreien kann, dem wird er die Hälfte seines Reiches und die jüngste Prinzessin zur Frau geben. Wer es aber auf sich nimmt und nicht auszuführen vermag, —dem kommt der Kopf von den Schultern.«

Iwan ging zum König. Er wollte es übernehmen, ihn vom Raben und Rabenweibchen zu befreien, gab Anordnung, das Fenster zu öffnen, vor dem die Raben hin und her flogen. Dann horchte er auf



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ihr Gekrächze und sagte zum König: »Hier fliegen drei: ein männlicher Rabe, seine Frau - das Rabenweibchen - und ihr Sohn, der junge Rabe. Der Rabenvater und die Rabenmutter streiten seit vielen Jahren, wem der Sohn gehören soll -dem Vater oder der Mutter? Sie können sich in dieser Frage aber auf gar keine Weise einigen und warten auf deine königliche Entscheidung. Sag an, wem sprichst du den Sohn zu?« Der König antwortete: »Dem Vater!«

Kaum hatte er das ausgesprochen, da flog der Rabe mit seinem Sohn nach rechts, das Rabenweibchen aber nach links davon. Nun übergab der König dem Kaufmannssohn Iwan die Hälfte seines Reiches und seine jüngste Tochter zur Frau. Reich und glücklich lebten Iwan und seine Frau viele Jahre in diesem Königreich in Frieden und Eintracht.

Sein Vater aber war inzwischen Witwer geworden und allmählich so völlig verarmt, daß er als Bettler unter den Fenstern um milde Gaben bitten mußte. Er zog von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und kam schließlich auch in die Stadt, wo es dem Kaufmannssohn Iwan beschieden war, sein Glück zu finden. Er kam an den Königshof und bettelte unterm Fenster. Da bemerkte ihn Prinz Iwan und befahl, ihn ins Schloß zu führen. Er gab dem Alten zu essen und trinken und fragte ihn: »Womit kann ich dir helfen, Alter?«

»Wenn du mir eine Gnade erweisen willst, so ordne an, daß ich an deinem Hof bleiben darf. Nimm mich unter deiner Dienerschar auf. Ich bin bereit, dir ehrlich und treu zu dienen.«

»Siehst du, Väterchen, du hast dem traurigen Gesang der Nachtigall nicht glauben wollen -aber nun ist es doch gekommen, daß wir uns so treffen, wie es die Nachtigall in ihrem Lied gesagt hat.« Der Alte erschrak und wollte vor dem prinzlichen Sohn auf die Knie fallen. Der aber ließ das nicht zu. Sie fielen einander in die Arme und weinten vor Freude.

Nachdem der erste Freudenrausch vorüber war, wagte es der Vater, den Sohn Iwan zu fragen: »Wie kommt es, daß du, mein Sohn, damals nicht ertrunken bist, als wir dich schlafend in einen Kahn aufs Meer hinausstießen?«

»Wahrscheinlich, Väterchen, war ich nicht dazu geboren, den Tod des Ertrinkens zu erleiden, sondern eine Prinzessin zu heiraten«, antwortete Iwan.



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Die Zarin Frosch

In einem Königreich lebte einmal ein Zar mit seiner Frau Zarin. Sie hatten drei Söhne. Alle waren sie jung und so kühn, daß man's gar nicht beschreiben kann. Den jüngsten nannten sie Prinz Iwan.

Eines Tages sagte der Vater Zar: »Meine lieben Kinder, nehmt euch jeder einen Pfeil, spannt die Bogen und schießt nach verschiedenen Richtungen. In wessen Hof der Pfeil fallen wird, dorthin sollt ihr euch verheiraten.«

Der älteste Bruder schoß seinen Pfeil ab, und er fiel in den Hof eines Bojaren, genau gegenüber dem Mädchenzimmer. Der mittlere Bruder schoß, und sein Pfeil fiel in den Hof eines Kaufmanns, wo er auf einer roten Freitreppe liegenblieb. Dort aber stand gerade ein liebliches Mädchen, die Tochter des Kaufmanns.

Als letzter ließ der dritte Bruder seinen Pfeil in die Lüfte schnellen, und er fiel in einen schmutzigen Sumpf, wo ihn eine quakende Fröschin fand.

Prinz Iwan sagte zum Vater: »Wie, soll ich eine Fröschin zu mir nehmen? Sie ist meiner nicht würdig!« — »Nimm sie!« antwortete der König. »Es ist dir vom Schicksal so bestimmt.«

Die Prinzen heirateten: der älteste die Bojarentochter, der zweite die Tochter des Kaufmanns und Prinz Iwan die Fröschin.

Eines Tages rief der König seine Söhne zu sich und gebot ihnen: »Eure Frauen sollen mir bis morgen früh schönes weißes Brot backen.«

Prinz Iwan kehrte traurig in sein Heim zurück und ließ den Kopf hängen.

»Quak, quak, Prinz Iwan! Warum bist du so traurig?« fragte die Fröschin. »Hast du von deinem Vater etwa böse Worte hören müssen?« «

»Wie sollte ich nicht traurig sein? Mein Vater, der König, hat dir befohlen, bis morgen früh schönes weißes Brot zu backen.«

»Sei unbesorgt, Prinz! Leg dich schlafen, der Morgen ist klüger als der Abend!«

Sie brachte den Prinzen zu Bett, warf dann ihr Froschkleid ab und verwandelte sich in ein wunderschönes Mädchen, die Prinzessin Wassilissa.



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Sie trat auf die rote Freitreppe und rief mit lauter Stimme: »Ihr Ammen und Wärterinnen, kommt herbei, bereitet ein schönes weißes Brot, so wie ich es bei meinem Väterchen gegessen habe!«

Am Morgen erwachte der Prinz Iwan, und die Fröschin hatte das Brot längst fertig. Es war ein so herrliches Brot, wie es nur im Märchen vorkommt. Es war mit großer Kunst ausgeschmückt, an der Seite waren Städte aus dem Zarenreich mit ihren Schlagbäumen zu sehen.

Der König dankte dem Prinzen Iwan für das Brot und befahl seinen drei Söhnen: »Jede eurer Frauen soll mir in einer einzigen Nacht einen Teppich weben.«

Wieder kam Prinz Iwan traurig nach Hause und ließ den Kopf hängen.

»Quak, quak, quak! Prinz Iwan, warum so mißmutig? Hat es beim Vater etwa böse Worte gegeben?«

»Wie sollte ich nicht traurig sein? Mein Vater, der König, hat dir befohlen, in einer einzigen Nacht einen Teppich zu weben.«

»Sei nicht bekümmert, Prinz! Leg dich schlafen, der Morgen ist klüger als der Abend.«

Sie legte ihn schlafen, warf ihr Froschkleid ab und verwandelte sich wieder in das wunderschöne Mädchen Wassilissa, ging auf die rote Freitreppe und rief: »Herbei, ihr Ammen und Wärterinnen, macht euch bereit, einen seidenen Teppich zu weben, genau wie jener, auf dem ich bei meinem Vater gelegen habe!«

Als der Prinz am anderen Morgen erwachte, war der Teppich der Fröschin längst fertig. Er war märchenhaft schön. Der Rand war mit Gold und Silber bestickt, und alles war bunt gemustert. Der König bedankte sich bei dem Prinzen Iwan für den Teppich. Dann gab er den Befehl, daß alle drei Prinzen zu ihm auf Besuch kommen und dazu ihre Frauen mitbringen sollten.

Der Prinz Iwan kam wieder ganz niedergeschlagen nach Hause. »Quak, quak, quak, Prinz, was bedrückt dich? Hast du dich mit deinem Vater gestritten?«

»Wie sollte ich nicht bekümmert sein? Der König, mein Vater, hat befohlen, daß ich mit dir zu ihm auf Besuch kommen soll. Wie soll ich dich den Leuten zeigen?«

»Sei unbesorgt, mein Prinz! Geh allein zum König als Gast, ich



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werde später nachkommen. Wenn du Pferdegetrappel und Lärm hörst, dann sage nur: >Das ist meine Fröschin, sie kommt in einer Schachtel.«

Die älteren Brüder kamen mit ihren schön gekleideten, geputzten Frauen, standen da und lachten über den Prinzen Iwan: »Was, Bruder, du bist ohne Frau gekommen? Hättest du sie nicht im Taschentuch mitbringen können? Wo hast du denn diese Schönheit gefunden? Ist etwa der ganze Sumpf ausgetrocknet?«

Plötzlich ertönte Lärm und Pferdegetrappel, der ganze Hof zitterte, die Gäste erschraken sehr, rannten auf ihre Plätze und wußten nicht, was sie anfangen sollten.

Prinz Iwan aber sagte: »Erschreckt nicht, meine Herrschaften! Das ist meine Fröschin, die in einer Schachtel herbeigefahren ist.« Zur königlichen Freitreppe aber kam eine vergoldete Kutsche mit sechs Pferden gefahren, und daraus stieg Wassilissa, so anmutig und schön, daß man es gar nicht beschreiben kann.

Sie nahm den Prinzen Iwan bei der Hand und führte ihn zum eichenen Tisch mit dem bunten Tischtuch. Die Gäste begannen zu schmausen und lustig zu sein. Wassilissa trank ihren Wein aus, den Rest aber goß sie sich über die linke Hand, sie aß von einem Schwan und verbarg die Knöchelchen in ihrer rechten Hand. Die Frauen der älteren Brüder sahen das und taten ebenso.

Als dann später Wassilissa mit ihrem Mann zum Tanze ging, winkte sie mit der linken Hand, und sogleich entstand ein See. Sie winkte mit der Rechten, und im Wasser schwammen Schwäne umher. Der König und seine Gäste staunten. Als die älteren Frauen zum Tanze gingen, winkten sie mit den linken Händen, aber sie bespritzten nur die Gäste. Sie winkten mit der Rechten, und ein Knochen fiel dem König unmittelbar ins Auge! Der König wurde sehr zornig und jagte sie mit Schimpf und Schande vom Hofe weg.

Inzwischen war Prinz Iwan nach Hause geeilt, hatte die Froschkleider gefunden und verbrannte sie in einem großen Feuer.

Wassilissa kam und suchte sie. Die Froschhaut war verschwunden. Da wurde sie sehr traurig und weinte: »Ach, Prinz Iwan, was hast du getan! Wenn du nur ein bißchen gewartet hättest, wäre ich auf immer dein gewesen, aber nun leb wohl! Suche mich im Lande, wo der Pfeffer wächst, beim großen Zauberer!«



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Sie verwandelte sich in einen Schwan und flog durch das Fenster davon.

Prinz Iwan weinte bitterlich, betete zu Gott nach allen vier Himmelsrichtungen und ging davon, wohin ihn gerade seine Füße trugen.

Während er so dahin wanderte, traf er auf einen alten Mann, der ihn ansprach: »Lieber junger Mann! Was suchst du, wohin geht der Weg?«

Der Prinz erzählte ihm von seinem Unglück.

»Ach, Prinz Iwan, warum hast du auch die Froschhaut verbrannt? Du hast sie ihr nicht angezogen, du durftest sie auch nicht wegnehmen. Wassilissa ist klüger als ihr Vater zur Welt gekommen. Darüber wurde er böse und hat ihr befohlen, drei Jahre lang als Fröschin zu leben. Hier hast du einen Knäuel. Wohin er rollt, dahin gehe ihm nach!«

Prinz Iwan dankte dem Alten und ging dem Knäuel nach. Er kam auf ein freies Feld und traf einen Bären.

>Den werde ich erlegen<, dachte der Prinz.

Aber der Bär bat ihn: »Töte mich nicht, Prinz. Irgendeinmal werde ich dir nützlich sein!«

Während er weiterzog, flog vor ihm eine Ente auf. Der Prinz spannte seinen Bogen, um den Vogel herunterzuschießen, als dieser plötzlich mit menschlicher Stimme sagte: »Töte mich nicht, Prinz, ich werde dir sehr nützlich sein!«

Er ritt weiter. Da rannte ein krummer Hase daher. Wieder griff der Prinz nach seinem Bogen und zielte, aber der Hase sprach: »Töte mich nicht, Prinz, du wirst mich noch brauchen können.«

Prinz Iwan hatte Mitleid, ritt weiter und kam ans blaue Meer. Dort lag ein Hecht im Sand.

»Ach, Prinz Iwan«, sagte er, »habe Erbarmen mit mir und wirf mich ins Wasser!«

Er warf ihn ins Meer und ging am Ufer entlang.

Nach kurzer Zeit rollte der Knäuel zu einer Hütte. Sie stand auf krummen Pfählen und drehte sich im Kreise. Da rief Prinz Iwan: »Hüttchen, Hüttchen, bleib stehen wie früher, genau wie dich deine Mutter hingestellt hat, zu mir von vorne, aber mit der Rückseite gegens Meer.«



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Die Hütte drehte sich mit der Rückseite zum Meer hin, mit der Vorderseite jedoch zu ihm. Er trat hinein und sah, daß auf dem Ofen, auf dem neunten Ziegel, eine knochige Hexe lag und sich die Zähne schliff.

»Oho, mein Junge! Was führt dich zu mir?«fragte die Hexe den Prinzen.

»Ach, du Alte! Hättest du mir lieber zuerst was zum Essen und Trinken gegeben und mir ein Bad gerichtet, bevor du mit deinen Fragen anfängst.«

Die Hexe gab ihm zu essen und zu trinken, badete ihn, und der Prinz erzählte, daß er auf dem Wege sei, seine Frau zu suchen.

»Ah, ich weiß es«, sagte die Hexe, »sie ist jetzt beim Zauberer. Es wird schwer sein, zu ihr zu kommen, und mit dem Zauberer ist nicht gut verhandeln. Sein Tod sitzt auf der Spitze einer Nadel, und die Nadel steckt in einem Hasen, der wieder in einer Kiste verborgen ist. Diese Kiste aber steht auf einer hohen Eiche, und diesen Baum hütet der Zauberer wie seinen Augapfel.«

Die Hexe zeigte dem Prinzen den Platz, an dem die Eiche stand. Der Prinz ging hin und wußte nicht, was er anfangen sollte. Wie sollte er zu der Kiste gelangen?

Da rannte auf einmal der Bär herbei und riß den Baum mitsamt den Wurzeln aus. Die Kiste fiel herunter und zerbrach in tausend Stücke. Heraus sprang ein Hase und wollte rasch entkommen, doch sieh, ihm jagte der andere Hase nach, erreichte ihn und zerriß ihn in Stücke. Daraus erhob sich eine Ente und flog hoch, hoch in die Luft. Der Enterich aber flog ihr nach, und als er sie traf, ließ sie ein Ei fallen, und dieses Ei fiel ins Meer. Als der Prinz das sah, fing er an zu weinen. Doch auf einmal kam der Hecht ans Ufer und hielt das Ei in seinem Maul. Der Prinz nahm es, schlug es auf, ergriff die Nadel und brach ihr die Spitze ab. Nun mochte sich der Zauberer winden und wehren, es nutzte alles nichts - er mußte sterben!

Prinz Iwan aber ging ins Haus des Zauberers, holte Wassilissa und brachte sie nach Hause. Dort lebten sie noch lange Zeit glücklich und froh.



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Die geschwätzige Frau

Es lebte einmal ein alter Bauer zusammen mit seiner Bäuerin. Die Frau war gar nicht übel, sie hatte nur einen großen Fehler: sie konnte ihre Zunge nicht im Zaume halten. Wenn sie von ihrem Mann etwas hörte oder im Haus etwas vorgefallen war, erzählte sie es gleich im ganzen Dorf herum. Es

kam auch wohl vor, daß sie noch etwas dazu erfand und Dinge erzählte, die gar nicht geschehen waren. Immer wieder hatte der Mann mit seinem Rücken für die Schwatzhaftigkeit seiner Frau büßen müssen.

Eines Tages ging der Bauer in den Wald, um Holz zu holen. Er war noch nicht weit gegangen, da geriet er mit dem Fuß an eine Stelle, wo er sofort einsank.

>Was ist denn da los?<dachte der Mann, >ich will nachgraben, vielleicht daß ich etwas zu meinem Glück entdecke!<Nach nur einigen Spatenstichen brachte er einen Kübel zum Vorschein, der mit Gold und Silber gefüllt war.

»Ei, welch prächtiger Fund! Aber wie mit nach Hause nehmen? Vor meiner Frau kann ich das nicht gut verbergen; sie wird gleich überall im Dorf davon erzählen. Und das gibt dann nur Verdruß!«

Der Bauer saß lange da und überlegte. Schließlich schmiedete er einen Plan. Er grub den Kübel wieder in die Erde, warf Reisig darüber und ging in die Stadt. Dort kaufte er einen lebenden Hecht und einen lebendigen Hasen. Damit kehrte er in den Wald zurück. Den Hecht hängte er an den höchsten Ast eines Baumes. Mit dem Hasen ging er an den Fluß, wo seine Reuse lag, und setzte ihn an einer trockenen Stelle hinein.

Auf dem Heimweg trieb er sein Pferdchen an, und als er sich der Hütte näherte, rief er: »Denk dir nur, Frau, was für ein Glück ich gehabt habe, ich kann dir's gar nicht sagen!«

»Was denn, lieber Mann? Warum kannst du's mir nicht sagen?« »Ja, du wirst es vielleicht überall herumerzählen.«

»Auf mein Wort, ich werde zu niemanden davon sprechen! Wenn du willst, schwöre ich! Gleich will ich das Heiligenbild von der Wand holen und es küssen.«

»Nun gut, wenn es so ist, dann höre, Alte«, er beugte sich ganz dicht



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zu ihrem Ohr und flüsterte: »Ich habe im Wald einen Kübel voll Gold und Silber gefunden.«

»Ja, warum hast du ihn denn nicht gleich mitgebracht?«

»Es ist besser, wir gehen zusammen und holen ihn nach Hause.« Der Bauer und die Bäuerin fuhren miteinander in den Wald. Unterwegs erzählte der Bauer seiner Frau: »Weißt du, was ich gehört habe? Neulich erzählte mir jemand, daß ein Fisch in den Wald gekrochen sei, um zu laichen, und daß jetzt die wilden Tiere in den Flüssen herumschwimmen.«

»Was erzählst du da, Mann? Da haben dir die Leute einen schönen Unsinn aufgeredet.«

»Was, Unsinn? Da, guck doch selber!«

Der Bauer zeigte auf den Baum, an dem der Hecht hing.

»Was für ein Wunder?« rief die Frau. »Wie kommt der Hecht da hinauf? Da haben dir also die Leute doch die Wahrheit erzählt.« Der Mann stand da, schlug die Hände zusammen, zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf und tat, als traue er seinen Augen nicht.

»Was stehst du da?«fragte die Frau. »Klettere schnell auf den Baum und hol den Hecht herunter, der kommt uns gerade recht zum Abendessen.«

Der Mann holte den Hecht herunter. Sie fuhren weiter und kamen an dem Flüßchen vorbei. Da hielt der Bauer sein Pferd an, die Frau aber schrie: »Was guckst du denn wieder, mach, daß wir weiterkommen!

»Da sehe ich, daß sich am Eingang meiner Reuse was rührt. Laß mich rasch nachsehen!«

Er ging hin, griff in die Öffnung der Reuse und zog den Hasen heraus: »Sieh an, Frau, da ist ein Hase in die Reuse gekommen!«

»Wirklich! Die Leute haben also wahr gesprochen! Nimm ihn schnell, den können wir für den kommenden Sonntag brauchen!«

Der Alte nahm den Hasen und fuhr nun geradewegs zu dem Loch. Er nahm das Reisig weg, machte das Loch größer, zog den Kübel heraus, und sie fuhren beide heim.

Jetzt waren der alte Mann und seine Frau reich geworden, und sie ließen sich's gut gehen. Die Frau aber fing an Dummheiten zu machen: Tag für Tag lud sie Gäste ein und veranstaltete solche Schmausereien,



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daß der Mann es zu Hause nicht mehr aushalten konnte. Er suchte ihr die Gastereien auszureden - aber vergebens: sie wollte nicht auf ihn hören.

»Du«, sagte sie, »brauchst mir keine Vorschriften zu machen! Wir haben den Schatz miteinander gefunden, da können wir ihn auch miteinander verbrauchen!«

Der Mann hatte lange Geduld, aber endlich sagte er seiner Frau geradeheraus: »Mach, was du willst, aber ich gebe dir kein Geld mehr, damit du es zum Fenster hinauswerfen kannst!«

Da wetterte die Frau los.

»So einer bist du!« schrie sie. »Du willst mir das ganze Geld aus der Hand nehmen! Nein, du lügst, und ich will dich dahin bringen, wo nicht einmal die Raben ihre Knochen hintragen! Du sollst an all deinem Gold selber keine Freude mehr haben!«

Der Mann suchte sie zu beruhigen, aber sie stieß ihn von sich, ging zum Wojewoden und klagte gegen den Mann: »Ich bin zu Euer Gnaden gekommen, um meinen Kummer darzulegen, den mir mein nichtsnutziger Mann macht. Seitdem er den Schatz gefunden hat, ist es mit ihm kein Leben mehr. Er tut nichts, bummelt immerzu und hat einen Rausch nach dem andern. Du, unser Vater, nimm ihm all das Gold weg - was haben wir schon von dem Gold, wenn darüber der Mensch zugrunde geht!«

Der Wojewode hatte Mitleid mit der Frau und schickte seinen ältesten Schreiber zum Bauern, er solle mit seiner Frau gleich zu ihm kommen.

Der Schreiber versammelte die Gemeindeältesten und sagte zu dem Bauern: »Der Wojewode hat mich zu dir gesandt mit dem Befehl, daß du mir den Schatz aushändigst.«

Der Mann aber zuckte nur die Achseln: »Was für einen Schatz? Ich weiß von keinem Schatz und habe nie einen gesehen.«

»Was, du weißt nichts davon? Deine Frau ist zum Wojewoden gekommen und hat gegen dich geklagt, und du, Bruder, mach mir keine Geschichten, sonst ergeht es dir schlecht.

Wenn du dem Wojewoden den Schatz nicht herausgibst, wirst du dich noch dafür verantworten müssen, daß du den Schatz genommen und es den Behörden nicht angezeigt hast!«

»Ja, meine Herren, was soll denn das für ein Schatz sein? Meine Frau



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hat im Traum einen Schatz gesehen -sie hat euch dummes Zeug erzählt, und ihr glaubt ihr auch noch!«

»Was, dummes Zeug?« brauste die Frau da auf. »Das ist kein dummes Zeug, sondern ein ganzer Kübel voll Gold und Silber!«

»Aber, liebe Frau, du bist ja ganz von Sinnen! Meine Herren, seid einsichtig! Fragt sie genau, wie die Sache war, und wenn sie etwas beweisen kann, dann will ich gern meine Schuld vor aller Welt verantworten!«

»Du glaubst, daß ich dir nichts beweisen kann? Du lügst, das werde ich beweisen! So war die Sache, Herr Sekretär«, fing die Frau an, »ich kann mich genau erinnern. Wir gingen in den Wald, da sah ich auf einem Baum einen Hecht hängen. .

»Was, einen Hecht?« schrie der Sekretär. »Willst du mit mir deinen Scherz treiben?«

»Nein, ich spaße nicht mit Euch, Herr Schreiber, sondern spreche die reine Wahrheit . .

»Nun sehen Sie, meine verehrten Herren«, sagte der Mann, »wie soll man ihr glauben, wenn sie solche Geschichten erzählt?«

»Nein, Mann, ich erzähle keine Geschichten, sondern spreche die Wahrheit. Oder hast du vergessen, wie wir auch den Hasen in der Reuse am Fluß gefangen haben. .

Alle Ältesten schüttelten sich vor Lachen, selbst der Schreiber mußte lächeln und strich sich seinen langen Bart. Der Mann aber sagte zur Frau: »Sieh doch, Frau, alle lachen dich aus! Sie selber, meine Herren, belieben zu sehen, was man meiner Frau glauben kann.«

»Ja«, erklärten da alle Ältesten, »solange wir auf der Welt sind, haben wir es nicht erlebt, daß ein Hase in einem Fluß schwimmt und ein Fisch auf einem Baum klettert.«

Der Schreiber sah, daß in dieser Sache nichts zu verrichten war, winkte mit der Hand und fuhr zum Wojewoden in die Stadt zurück.

Die Frau aber wurde derart ausgelacht, daß sie fortan ihre Zunge im Zaum halten und in allen dem Mann gehorchen mußte. Der kaufte sich für sein Gold vielerlei Waren, reiste in die Stadt und fing dort einen Handel an. Damit verdiente er viel Geld und lebte glücklich und zufrieden.



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Der treue Freund

Es war einmal ein König, der hatte einen einzigen Sohn. Das war der Prinz Peter. Kaum war er zum Jüngling herangewachsen, da starb der Vater.

Prinz Peter dachte: >Bevor ich anfange, in meinem Königreich zu herrschen, will ich auf Reisen gehen und zusehen, wie die Menschen leben.<

Er übergab sein Reich weisen Räten und zog fort. Lange wanderte er in der Welt herum, sah sich alles an, hörte aufmerksam zu und merkte sich vielerlei Weisheiten. Endlich entschloß er sich, wieder heimzufahren. Da kam er in eine große Handelsstadt.

>Die will ich mir auch noch anschauen<, beschloß er, >dann aber soll's heimwärts gehen. Es ist nun an der Zeit!<

Er befahl den Dienern, sein Pferd zu versorgen, und ging durch die Straßen der Stadt. Als er auf den Marktplatz kam, sah er, wie dort ein Mann unbarmherzig mit der Knute geschlagen wurde. Der Geschlagene aber rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Nur den Kopf ließ er hängen. Da wollte der Prinz wissen, warum man den Mann denn so grausam schlage.

»Er hat sich von einem reichen Kaufmann zehntausend Rubel ausgeliehen und sie nicht zur rechten Zeit zurückbezahlt. Dafür wird er jetzt geschlagen.«

Der Prinz hatte Mitleid mit dem Mann, gab das Geld und kaufte ihn von seinem Gläubiger los. Kaum war er weitergegangen, da hörte er, wie jemand hinter ihm herlief. Es war derselbe Mann, den er gerade befreit hatte.

Der Mann rief ihm zu: »Ich danke dir für deine Güte, Prinz! Die Schuld werde ich dir bezahlen.«

Der Prinz sah ihn an und sagte: »Womit kannst du mich denn bezahlen?«

»Womit?«fragte der Mann. »Mein Prinz, du bist schon erwachsen, und es wäre für dich längst Zeit zu heiraten. Ich aber werde dir das schönste und klügste aller Mädchen als Braut zuführen, Wassilissa Kirbitewna.«

»Ich danke dir, mein Lieber«, entgegnete darauf der Prinz. »Wie heißt du?«



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»Nenne mich den >Stählernen<. Ich werde dir nicht weniger treu und aufrichtig dienen als Stahl.«

»Wo wohnt denn meine Braut?«

»Sie wohnt in einem sehr weit entfernten Lande, und ihr Vater, der grausame Zar Kirbit, will sie an den Drachen Goryntscha verheiraten.«

Der Prinz kaufte für den Stählernen ein junges Pferd und eine kostbare Rüstung. Dann ritten sie miteinander in das weit entfernte Königreich. Als sie zum Palast des Zaren Kirbit gekommen waren, zeigte der Stählerne dem Prinzen einen hohen Turm mit goldener Spitze. Dort sah der Prinz an einem vergitterten Fenster das schönste Mädchen. Es weinte jämmerlich.

Der Prinz sagte zu seinem Begleiter: »Komm, wir wollen zu dem Zaren Kirbit gehen, damit wir Wassilissa Kirbitewna kennenlernen.«

»Bist du verrückt geworden, mein Freund?« sagte der Stählerne. »Hast du nicht gehört, daß der Zar Kirbit seine Tochter dem Drachen versprochen hat und von anderen Freiem nichts wissen will? Deshalb weint ja auch das Mädchen, daß die Tränen in Strömen fließen. Nein, wenn du die Prinzessin sehen willst, so werde ich deinen Wunsch erfüllen und sie dir aus dem Turm herausholen.«

»Ach, Freund, wenn du mir diesen Dienst tust, so wirst du mir lieber sein als der eigene Bruder!«

Kaum war die Nacht herangekommen, da schlich sich der Stählerne an den Turm, kletterte flink wie eine Katze an der Wand empor, klopfte ans vergitterte Fenster und sagte zu dem Mädchen: »Fürchte dich nicht, wunderschöne Prinzessin! Ich komme zu dir als Brautwerber für den Prinzen Peter. Er will dich heiraten und von dem Drachen befreien.« —»Ich bin bereit, mit dem Prinzen bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn ich nur von dem Drachen fortkomme.« Der Stählerne nahm sie auf seine starken Schultern, stieg mit ihr vorsichtig über die Mauer hinab und brachte sie zu dem Prinzen. Der Prinz hob sie auf sein Pferd, und die beiden Freunde ritten, so schnell sie konnten, aus dem Reich des Zaren Kirbit fort.

Als der Zar nun am anderen Morgen seine Tochter besuchen wollte, sah er, daß das Fenster eingeschlagen und sie selber aus dem Zimmer entschwunden war. Da wurde er furchtbar zornig und befahl, daß



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man ihr auf allen Wegen nachjagen solle. Unsere beiden Helden waren kaum eine Strecke weit geritten, da hörte der Stählerne in der Ferne Pferdegetrappel.

Er nahm einen Ring von seinem Finger, steckte ihn in die Tasche seines Rockes und sagte zu dem Brautpaar: »Reitet weiter! Ich habe meinen Ring verloren und reite zurück, um ihn zu suchen.«

Da sagte Wassilissa zu ihm: »Wenn du willst, werde ich dir für deinen Ring den meinen geben.«

»Unter keinen Umständen«, antwortete der Stählerne, »denn siehe, mein Ring hat einen unschätzbaren Wert. Meine Mutter hat ihn mir gegeben und gesagt: >Trag ihn, verliere ihn nicht und vergiß mich nicht!<«

Sogleich riß er sein Pferd herum und galoppierte zurück. Er traf auf ein starkes Heer und hieb alle Soldaten nieder. Dann jagte er zum Prinzen zurück und holte ihn ein, als ob nichts gewesen wäre.

Bald wurde es Nacht. Da richteten sie ein Zelt auf und bereiteten dort der Prinzessin ein Nachtlager. Sie selber aber standen Wache. Der Stählerne sagte zum Prinzen: »Ich werde ein wenig schlafen, du aber mußt jetzt die Prinzessin bewachen.«

Er legte sich auf den Boden, nahm den Sattel unter den Kopf und schlief ein. Der Prinz stand längere Zeit da, wurde auch schließlich selber müde, ließ sich neben dem Zelt nieder und versank rasch in süße Träume . . Da kam hoch durch die Lüfte der Drache geflogen. Er umkreiste das Zelt und sah, daß die beiden jungen Männer und auch die Prinzessin schliefen. Er ließ sich zur Erde nieder, öffnete mit einem seiner Flügel das Zelt, warf mit dem anderen das Mädchen auf seinen Rücken und flog mit ihm auf einen eisernen Berg, auf dem sein finsterer Palast stand. Als das Mädchen erwachte, sah es, wie der Drache es auf seinem schuppigen Rücken trug. Seine Flügel waren weit ausgebreitet, und er sah sie mit seinen grünen Augen zärtlich an. In einer tiefen Schlucht ließ er sich mit dem Mädchen nieder. Aus einem hohen Gebäude leuchteten dort die Fenster wie Feuer. Unsere Helden erwachten am frühen Morgen und sahen, daß das Zelt umgestoßen und das Mädchen verschwunden war.

Der Prinz fing an zu weinen, der Stählerne aber sagte: »Die Sache steht nicht gut! Wahrscheinlich hat der Drache deine Braut entführt. Weinen hat keinen Zweck. Komm, wir werden sie aufsuchen.«



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Sie ritten lange dahin und stießen auf eine große Herde mit zwei Hirten.

Sie fragten: »Wem gehört diese Herde?«

»Dem Drachen«, antworteten die Hirten.

Sie fragten weiter: »Wohnt der Drache weit von hier und wie kommt man dahin? Wann treibt ihr die Herde heim und wo bringt ihr sie bei Nacht unter?«

Als ihnen die Hirten alles genau gesagt hatten, stiegen die beiden vom Pferde, packten sie und banden sie an einen Baum. Sie selber zogen die Kleider der Hirten an und trieben die Herde heim. Unterdessen saß die Prinzessin trauernd und weinend im Palast des Drachen und schluchzte immerzu.

Da kam ein Mädchen, das Tschernawuscha hieß, zu ihr und sagte: »Prinzessin! Du hast seit heute früh nichts gegessen! Ich werde dir etwas Milch bringen. Gerade haben die Hirten die Herde hereingetrieben.«

Als sie dann der Prinzessin eine Schale voll Milch reichte, sagte sie lachend: »Die Hirten machen sich über uns lustig und wollen ihren Scherz mit uns treiben. Einer von ihnen hat einen goldenen Ring in die Milch geworfen.«

Die Prinzessin trank die Milch aus und sah auf dem Grunde der Schale den Ring des Prinzen Peter liegen. Da freute sie sich, umarmte das Mädchen und sprach: »Du Liebe, Gute! Hole mir die beiden Hirten hierher!«

Da führte das Mädchen den Prinzen und den Stählernen herein. Als die Prinzessin die beiden erblickte, dachte sie nicht mehr ans Weinen. Sie hieß sie an einem Tisch Platz nehmen und legte ihnen zu essen und trinken vor.

Der Stählerne aber sagte: »Sag uns, Prinzessin, wie sollen wir dich jetzt von dem Drachen befreien?«

Die Prinzessin schwieg. Aber das Mädchen Tschernawuscha mischte sich ins Gespräch und sagte: »Wenn ihr mich von hier fortbringt und in euer Königreich mitnehmt, so will ich euch sagen, wie man den Drachen beseitigen kann.«

»Sprich, schönes Mädchen! Wir sind bereit, alles zu tun.«

»Den Drachen«, sagte Tschernawuscha, »kann nur der töten, der ihm das Schwert bis ins Herz stößt. Er hat gerade gegenüber dem



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Herzen unterm linken Flügel eine Stelle, die nicht mit Schuppen bedeckt ist. Die hütet er wie seinen Augapfel. Deshalb kriecht er, solange er am Boden ist; und wenn er durch die Lüfte fliegt, bedeckt er sie mit seinen Flügeln.«

»Aber wie soll man diese Stelle mit einem Schwert erreichen?«

»Das kann so geschehen: Du, mein lieber Jüngling, mußt auf den schmalen Weg gehen, auf dem der Drache jeden Abend zum Flusse geht, wenn er von der Jagd in seinen Palast zurückkehrt. Auf diesem Weg mußt du ein Loch graben, dich da hineinsetzen und warten, bis er über das Loch hinwegkriecht. Dann stoße ihm dein Schwert bis zum Griff ins Herz, wenn du dazu genug Mut und Tapferkeit aufbringst.« «

Der Stählerne ging fort, grub an dem schmalen Weg ein Loch, setzte sich hinein, hielt das Schwert bereit und wartete auf den Drachen. Kaum fing es zu dunkeln an, da hörte er auch schon, wie der Drache zum Fluß gekrochen kam. Es rauschte, als ob ein ganzer Wagenzug daherkäme. Als der Drache über das Loch hinwegkroch, erkannte der Stählerne die Stelle, die von den Schuppen nicht bedeckt war, und stieß das Schwert bis zum Heft hinein. Schwarzes Blut strömte aus dem Drachen in solcher Menge, daß der Stählerne fast darin ertrunken wäre. Der Drache schlug mit dem Schweif im Grase, wälzte sich im Gebüsch und sagte zum Stählernen: »Ich habe einen Rächer! Wird dich jemand von dem Unvermeidlichen loskaufen?«Nach diesen Worten starb er.

Der Stählerne aber ging in den Palast des Drachen, nahm alle Schätze an sich, setzte das Mädchen Tschernawuscha in den Sattel, und die Entführer ritten weiter. Als es Nacht wurde, schlugen sie ein Zelt auf, richteten einen Scheiterhaufen auf und legten sich schlafen. Nur der Stählerne hielt Wache. Um Mitternacht aber kamen zwölf Tauben geflogen, die sich um den Scheiterhaufen versammelten.

Sie schlugen ihre Flügel aneinander und verwandelten sich in zwölf Mädchen.

»He, Stählerner und Prinz Peter!« sagten sie. »Ihr habt unseren Bruder, den Drachen, getötet und seine Braut, Wassilissa, entführt. Das soll euch nicht gut bekommen! Sobald der Prinz heimkommt und befiehlt, ihm seinen Lieblingshund vorzuführen, wird der Hund von der Leine losspringen und den Prinzen in Stücke reißen.



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Wer das gehört hat und es dem Prinzen sagt, der wird bis zu den Knien zu Stein werden.«

Dann wurden die Mädchen wieder zu Tauben und flogen davon. Nach einer Stunde kamen wieder zwölf Tauben, ließen sich beim Scheiterhaufen nieder, schlugen die Flügel aneinander und wurden zu zwölf Mädchen.

»He, Stählerner und Prinz«, sagten sie, »ihr habt unseren Bruder, den Drachen, getötet. Das soll euch nicht gut bekommen! Sobald der Prinz heimkommt, wird er der Prinzessin sein Lieblingspferd vorführen lassen. Das aber wird sich von den Knechten losreißen und den Prinzen mit seinen Hufen erschlagen. Wer das gehört hat und es dem Prinzen sagt, der wird bis zum Gürtel zu Stein werden.«

Nach diesen Worten flogen die Mädchen wieder als Tauben davon. Kaum waren sie fort, da kam das dritte Dutzend Tauben geflogen, die sich wieder in Mädchen verwandelten und sagten:

»He, Stählerner und Prinz! Ihr habt unseren Bruder, den Drachen, getötet und seine Braut entführt! Das soll für euch ein böses Ende nehmen! Sobald der Prinz heimkommt, wird er der Prinzessin seine Lieblingskuh vorführen lassen, von der er seit seiner Kindheit die Milch getrunken hat. Die Kuh wird von dem Hirten wegspringen, sich auf den Prinzen stürzen und ihn in kleine Fetzen zertrampeln. Wer das gehört hat und es dem Prinzen sagt, wird ganz zu Stein werden.«

Sobald sie das gesprochen hatten, verwandelten sie sich wieder in Tauben und flogen davon.

Inzwischen war die Nacht vergangen, und es wurde hell. Der Prinz und die Prinzessin waren in ihrem Zelt erwacht und machten sich reisefertig.

Sobald sie im Königreich angekommen waren, wurde die Hochzeit gefeiert. Die Neuvermählten bezogen einen prächtigen Palast aus weißen Steinen.

Nach zwei Tagen sagte der Prinz zu seiner Frau: »Willst du meinen Lieblingshund sehen? Als ich noch klein war, habe ich mit ihm gespielt.«

Der Stählerne hatte das gehört und stellte sich auf die Freitreppe. Die Aufseher führten den Hund herbei. Auf einmal aber sprang er in die Höhe, riß sich los und stürzte auf den Prinzen zu. Da stand aber



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schon der Stählerne bereit und streckte den Hund mit einem Schwertstreich nieder. Der Prinz wurde sehr zornig.

Er gedachte jedoch der guten Dienste, die ihm der Stählerne schon erwiesen hatte, und sagte kein Wort. Am anderen Tage ließ der Prinz sein Lieblingspferd vorführen, um es der Prinzessin zu zeigen.

Er sagte zu seiner Frau: »Schau an, das ist das Pferd, auf dem ich seit meiner Jugend am liebsten reite!«

Auf einmal riß sich das Pferd von der Leine los, sprang vom Knecht weg und gerade auf den Prinzen zu. Der Stählerne aber war auch dieses Mal auf der Hut. Er ließ das Pferd herankommen und schlug ihm mit einem Hieb den Kopf ab.

»Stählerner«, sagte der Prinz, »spiele mir nicht um deinen Kopf. Ich verzeihe dir deine unerhörte Frechheit noch einmal, aber hüte dich für die Zukunft!«

Am dritten Tag ließ der Prinz seiner Frau die Lieblingskuh vorführen.

»Sieh, liebe Frau«, sagte er, »das ist die Kuh, von der ich seit meiner Jugend die Milch getrunken habe.«

Kaum wollte er sie aus seiner Hand füttern, da riß sich die Kuh vom Hirten los, warf sich auf den Prinzen und wollte ihn niedertrampeln. Der Stählerne besann sich aber auch dieses Mal nicht. Er schlug die Kuh mit seinem Schwert mitten auf den Kopf, daß sie tot hinstürzte.

Jetzt wurde der Prinz derart wütend, daß er gar nicht mehr reden konnte . . . Er zitterte am ganzen Leib und schrie den herbeieilenden Dienern zu: »Ergreift diesen Ungehorsamen und werft ihn in den tiefsten Turm! Morgen aber soll er auf die grausamste Weise hingerichtet werden!«

Da sprach der Stählerne: »Warte mit meiner Verurteilung! Ich werde von selber sterben! Ich muß dich nur an drei Reden erinnern!« Jetzt erzählte er dem Prinzen von der Nacht, wo er Wache gestanden hatte. Er erzählte von den ersten zwölf Tauben und wurde bis zu den Knien zu Stein. Als er von den dritten zwölf erzählt hatte, fiel er um; denn er war ganz und gar zu Stein geworden. Da weinten der Prinz und die Prinzessin bitterlich. Der Prinz befahl, den Stein aufzuheben und in einem besonderen Palast aufzustellen. Jeden Tag



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ging er mit seiner Frau gemeinsam dorthin, und immer trauerte er tief um den treuen Stählernen.

So vergingen viele Jahre. Der Prinz und die Prinzessin hatten Kinder bekommen: einen Sohn und eine Tochter. Sie wuchsen heran, wurden gescheit und konnten bereits gehen und sprechen. Die Eltern liebten die Kinder sehr und hatten viele Freude an ihnen. Aber sie konnten den Stählernen nicht vergessen. Eines Tages stand der Prinz wieder vor dem versteinerten Stählernen, dachte an seine treuen Dienste und weinte.

Da vernahm er plötzlich aus dem Stein eine Stimme: »Was weinst du um mich?«

»Warum soll ich nicht weinen? Ich bin doch schuld daran, daß du ins Verderben geraten bist!«

»Du hast mich ins Verderben gebracht«, kam es aus dem Stein, »du kannst mich aber auch wieder erlösen. Du hast zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Geh hin, schneide ihnen die Hände ab und bestreiche mich mit dem Blut, dann werde ich wieder lebendig sein.

Der Prinz erzählte alles der Prinzessin. Sie schnitten den schlafenden Kindern die Hände ab und bestrichen den Stählernen mit dem Blut. Da wurde er sogleich wieder lebendig. Jetzt fragte er den Prinzen und seine Frau: »Wie, tut es euch nicht schrecklich leid, daß ihr um meinetwillen euere Kinder zu Krüppeln gemacht habt?«

»Es ist für uns sehr schmerzlich«, antworteten die Eltern.

»Dann geht ins Schlafzimmer der Kinder und seht, was mit ihnen geschehen ist.«

Vater und Mutter gingen ins Zimmer der Kinder und schauten in ihre Betten. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, daß die Kinder ruhig schliefen, im Traum lächelten und mit den Händchen die Fliegen abwehrten.

Die Freude der Eltern war so groß, daß sie das erste Mal nach ihrer Hochzeit einen großen Schmaus gaben und dazu das ganze Volk einluden.



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Der goldene Berg

Der Sohn eines Kaufmanns hatte in lustiger Gesellschaft sein Vermögen verschwendet. Eines Tages hatte er nichts mehr zu essen. Da nahm er eine Schaufel, ging auf den Marktplatz und wartete, ob ihm jemand Arbeit geben könnte. Auf einmal fuhr da ein reicher Kaufmann in einem vergoldeten Wagen daher. Kaum hatten ihn die herumstehenden Tagelöhner gesehen, da rannten sie alle auseinander und versteckten sich in den Ecken. Einzig der Sohn des Kaufmanns war stehengeblieben.

»Suchst du Arbeit, Bursche? Willst du bei mir eintreten?«fragte der reiche Kaufmann.

»Gerade deshalb bin ich ja auf den Marktplatz gekommen!«

»Was verlangst du?«

»Gib mir jeden Tag hundert Rubel, damit will ich zufrieden sein!«

»Warum denn so teuer?«

»Ja, wenn dir das zu teuer ist, dann suche dir eine billigere Kraft. Sieh, es waren eine Menge Leute hier, und als du hergefahren bist, sind sie alle auf und davon.«

»Nun gut! Komm morgen zum Hafen!«

Am anderen Tag kam der Kaufmannssohn zum Hafen, wo der reiche Kaufmann schon lange auf ihn gewartet hatte. Sie setzten sich in ein Schiff und fuhren aufs Meer hinaus.

Sie fuhren lange, bis schließlich mitten im Meer eine Insel auftauchte. Dort ragten hohe Berge auf, am Ufer selbst aber leuchtete es wie von Feuer.

»Brennt es hier etwa?«fragte der Sohn des Kaufmanns.

»Nein, das ist mein goldener Hof.«

Sie fuhren zur Insel und stiegen ans Ufer. Dem reichen Kaufmann kamen Frau und Tochter entgegen. Die Tochter war so schön, daß niemand es zu beschreiben vermag. Sie begrüßten sich und gingen auf den Hof. Den neuen Arbeiter nahmen sie mit, setzten sich zu Tisch und begannen fröhlich zu schmausen.

»Wo ist der Tag hingekommen?«fragte der Hausherr.

»Nun, heute wollen wir schmausen, aber morgen soll die Arbeit angehen.«

Auch der Kaufmannssohn war ein strammer Bursche: hochgewachsen



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und von schönem Angesicht. Er verliebte sich in das schöne Mädchen.

Sie ging in ein anderes Zimmer, winkte ihn heimlich herbei, gab ihm einen Feuerstein und einen Feuerstahl und sagte: »Nimm das, wenn du in Not kommst, wirst du es gut brauchen können!«

Am anderen Tage machte sich der reiche Kaufmann mit seinem Arbeiter zum goldenen Berge auf. Aber es war ganz unmöglich, da hinaufzusteigen.

»Nun«, sagte der Kaufmann, »trinken wir erst mal ein Gläschen!« Er goß seinem Gehilfen aber einen Schlaftrunk ein. Der Kaufmannssohn trank davon und schlief auch sofort ein. Da nahm der Kaufmann ein Messer, tötete eine alte Mähre, weidete sie aus, legte den jungen Burschen und eine Schaufel hinein und nähte alles zusammen. Er selber aber verbarg sich im Gebüsch. Plötzlich erschienen schwarze Raben mit eisernen Schnäbeln, packten das gefallene Tier und trugen es auf den Berg. Dort fingen sie an zu hacken, fraßen das Pferd auf und wollten sich schon über den Kauf mannssohn hermachen. Der aber erwachte, wehrte die schwarzen Raben von sich ab, schaute umher und fragte: »Wo bin ich?«

Der reiche Kaufmann antwortete: »Auf dem goldenen Berg. Nimm deine Schaufel und grabe Gold!«

Der Kaufmannssohn grub, grub und warf alles nach unten. Der Kaufmann aber sammelte alles in Fuhren. Bis zum Abend hatte er neun Fuhren beisammen.

»Genug!«sagte der reiche Kaufmann. »Hab Dank für deine Arbeit! Leb wohl!«

»Und was soll mit mir geschehen?«

»Daß du es genau weißt! Neunundneunzig von euch habe ich auf dem Berg umkommen lassen, mit dir sind es nun gerade hundert!« So sagte der Kaufmann und fuhr davon.

>Was soll ich jetzt machen?<dachte der Kaufmannssohn. >Vom Berg hinabsteigen ist glatt unmöglich. Ich werde des Hungers sterben müssen!<

Da stand er nun auf dem Berge, und die schwarzen Raben mit ihren eisernen Schnäbeln, die schon ihre Beute witterten, umkreisten ihn. Während er überdachte, was da alles gekommen war, erinnerte er sich plötzlich, wie das schöne Mädchen ihm gewinkt, ihm den Feuerstem



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gegeben und gesagt hatte: »Nimm das, in der Not wird es dir zugute kommen!«

>Das hat sie gewiß nicht umsonst gesagt. Ich will's versuchen!<dachte der Kaufmannssohn, nahm den Feuerstein und den Stahl heraus, schlug einmal an, und gleich erschienen zwei Jünglinge: »Was wünschest du? Was brauchst du?«

»Tragt mich vom Berg ans Ufer des Meeres.«

Kaum hatte er das gesagt, da packten sie ihn und trugen ihn vorsichtig den Berg hinunter. Als der Kaufmannssohn am Ufer entlangging, sah er an der Insel ein Schiff vorbeifahren.

»Heda, ihr guten Schiffersleute! Nehmt mich mit!«

»Nein, Bruder, wir dürfen nicht anhalten. Wir müßten für diesen Aufenthalt hundert Werst weiterfahren.«

Das Schiff fuhr an der Insel vorüber - doch auf einmal erhob sich ein starker Wind, der alsbald zum wilden Sturm wurde.

»Ach, man sieht, daß dies kein gewöhnlicher Mensch war! Laßt uns besser umkehren und ihn ins Schiff nehmen!«

Sie fuhren zur Insel zurück, legten am Ufer an, nahmen den Kaufmannssohn mit und brachten ihn in seine Heimat.

Nach einiger Zeit nahm der Kaufmannssohn wieder seine Schaufel, ging auf den Markt und wartete auf einen Arbeitgeber. Da fuhr wieder der reiche Kaufmann auf seinem vergoldeten Wagen daher. Kaum erblickten ihn die Taglöhner, da liefen sie alle auseinander und versteckten sich in den Ecken. Nur der Kaufmannssohn war stehengeblieben.

»Willst du bei mir arbeiten?« fragte der Kaufmann.

»Wenn du mir für den Tag zweihundert Rubel gibst, ja.«

»Ah, du bist aber teuer!«

»Teuer? Dann suche dir einen billigeren Arbeiter! Hast du nicht gesehen, wie viele Leute hier waren und wie sie alle davongelaufen sind, als du hergefahren bist?«

»Nun gut! Komm morgen zum Hafen!«

Am nächsten Morgen trafen sie sich beim Hafen, setzten sich in den Kahn und fuhren zur Insel. Dort vergnügten sie sich einen Tag lang, dann zogen sie wieder zum goldenen Berg. Als sie dort angekommen waren, holte der reiche Kaufmann ein Schnapsglas hervor. »Trinken wir zuerst einen!«



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»Warte, Herr! Du bist das Familienoberhaupt, du mußt zuerst trinken! Komm, ich gebe dir vom meinigen!«

Der Kaufmannssohn, der bereits geahnt hatte, was wieder kommen sollte, hatte sich einen Schluck von dem Schlaftrunk verschafft und ihn aufgehoben. Er goß das Gläschen voll und gab es dem reichen Kaufmann. Der trank es aus und schlief sofort ein. Da schlachtete der Kaufmannssohn das schlechteste Pferd, weidete es aus, legte seinen Herrn und eine Schaufel hinein, nähte alles wieder zu und verbarg sich im Gebüsch. Wieder kamen die schwarzen Raben mit ihren eisernen Schnäbeln, trugen das tote Pferd auf den Berg und fingen an, es zu zerhacken. Da erwachte der reiche Kaufmann, sah umher und sagte: »Wo bin ich?«

»Auf dem Berge. Nimm die Schaufel und fang an zu graben! Wenn du viel gräbst, werde ich dir zeigen, wie man von dem Berg wieder herunterkommt.«

Der reiche Kaufmann nahm die Schaufel und grub fleißig. Zwölf Fuhren brachte er zusammen.

»So, jetzt ist es genug!« sagte der Kaufmannssohn, »danke für die Arbeit, leb wohl!«

»Und was ist mit mir?«

»Ja, weißt du es nicht? Neunundneunzig solcher Burschen wie du habe ich auf dem Berg umkommen lassen, mit dir sind es gerade hundert!«

Der Kaufmannssohn nahm alle zwölf Fuhren mit sich, fuhr auf den goldenen Hof, heiratete die Tochter des reichen Kaufmanns, dieses wunderschöne Mädchen, nahm dessen gesamten Reichtümer an sich und fuhr mit seiner ganzen Familie in die Hauptstadt, um dort zu wohnen. Der reiche Kaufmann aber mußte auf dem Berge bleiben. Die schwarzen Raben zerhackten ihn mit ihren eisernen Schnäbeln.


Die Blinden

Im blaß-steinernen Moskau lebte ein junger Bursche als Tagelöhner. Eines Tages bekam er Heimweh und wollte im Sommer wieder in sein Dorf zurück zu seinen Angehörigen und ihnen bei der Ernte



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helfen. Er ging zu seinem Herrn und erbat die Abrechnung. Der aber sagte: »Bleibe noch bis zum Herbst!«

Der Bursche bestand aber auf seinem Verlangen.

»Laß mich wieder ins Dorf zurück!«

Da rechnete der Herr mit ihm ab, richtete es aber so, daß der Bursche im ganzen nur einen halben Rubel Lohn erhielt. Er nahm das Geld, steckte ein Stück Brot zu sich, nahm seine Filzstiefel auf den Rücken und verließ Moskau auf der Landstraße. Als er an einen Schlagbaum kam, sah er dort auf einem Erdhaufen einen blinden Bettler sitzen, der um ein Almosen bat: »Ihr rechtgläubigen Christen, gebt einem armen Blinden eine milde Gabe.«

Der Bursche spürte Mitleid, trat zu dem Blinden, gab ihm den halben Rubel und sagte: »Das, guter Alter, ist ein halber Rubel, nimm davon um Christi willen zwei Kopeken und gib mir achtundvierzig heraus.«

Der Blinde nahm den halben Rubel, ließ ihn in seine Tasche gleiten und fing sein Lied wieder an: »Ihr rechtgläubigen Christen, gebt einem armen Blinden eine milde Gabe.«

»Nun, wie steht's, Onkelchen?«sagte der Bursche. »Gib mir schnell heraus. «

Aber der Blinde tat, als habe er nichts gehört, und sagte: »Ich danke dir, du braver Junge, für deine Gabe.«

»Bist du taub, was? Gib mir heraus, alter Tropf! Ich habe heute noch gute vierzig Werst zu marschieren und brauche mein Geld selber auf den Weg!«

Der Blinde stellte sich taub und fing wieder an: »Ihr rechtgläubigen Christen, gebt einem armen Blinden eine milde Gabe.«

Da packte den Burschen ein heftiger Zorn: »Heda, du alter Schelm! Gib heraus, oder ich werde mit dir auf meine Art abrechnen!« Er begann den Alten kräftig herumzuzerren, der aber fing schrecklich an zu brüllen: »Um Gottes willen, man bestiehlt mich! Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Da ließ der Bursche von dem Blinden ab und stieß ihn zurück. >Es ist besser<, dachte er, >die Sünde zu fliehen. Womöglich kommt noch die Polizei, und ich werde wegen eines halben Rubels ins Gefängnis geworfen.<

Er zog seines Weges weiter. Nach etwa zehn Schritten blieb er stehen



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und schaute auf den Blinden zurück. Es tat ihm leid um den letzten Lohngroschen.

Als der Blinde gemerkt hatte, daß der Bursche weggegangen war, machte er sich auf den Heimweg. Er tastete nach seinen Krücken und sagte heiter: »Was meint ihr, meine lieben Krücken! Ist es nicht Zeit heimzugehen ?«

Er machte sich auf den Heimweg, der Bursche aber folgte ihm und ließ ihn nicht aus dem Auge. Nach einer Weile sah er am Saum des Waldes zwei Hütten stehen. Der Blinde machte seinen Gürtel locker, zog daraus einen Schlüssel und öffnete die Tür der einen. Während er mit seinen Krücken und seinem Gürtel hantierte, schlüpfte der Bursche schnell in die Hütte hinein, setzte sich auf eine Bank und hielt den Atem an. Auch der Blinde betrat nun die Hütte, verriegelte die Tür, warf seinen Sack und die Mütze auf den Tisch und kroch unter den Ofen. Dort klapperten eine Bratpfanne und eine Ofengabel. Er zog ein Fäßchen heraus und warf das Geld hinein. Lachend sagte er dabei: »Dank diesem Jungen, der mir heute einen halben Rubel gegeben hat, habe ich jetzt meine fünfhundert voll!«Darüber wurde er so lustig, daß er sich auf den Boden setzte, die Füße ausstreckte und das Fäßchen mit dem Geld vor sich herrollte, zur Wand hin und wieder zurück. Da packte den Burschen die helle Wut. >Wart<, dachte er, >ich will dir die Freude versalzen<. Er beugte sich von der Bank herunter und nahm das Geldfäßchen an sich.

>Jetzt hat es sich unter der Bank verklemmt<, meinte der Blinde und begann auf dem Boden herumzusuchen, aber er fand nichts. Da geriet der alte Schelm in Schrecken. Er öffnete die Tür und rief seinen blinden Kameraden herbei. »Bruder, komm schnell mal herüber!« Der blinde Nachbar kam und fragte: »Was ist denn los?« Da erzählte er ihm von dem Fäßchen.

»Man muß immer Angst vor Dieben haben«, sagte der Nachbar. »Es ist dir eingefallen, mit dem Geld zu spielen, und jetzt weinst du darüber! Wozu auch ein Fäßchen? Hättest du es so gemacht wie ich: Ich habe auch fünfhundert, aber in meiner alten Mütze eingenäht, wer soll sie mir nehmen können?« Kaum hatte unser Bursche diese Worte gehört, da schoß er wie ein Pfeil von der Bank auf, riß dem Blinden die Mütze weg, sprang zur Türe hinaus und lief davon, ohne sich umzusehen. Der blinde Nachbar schalt aber den anderen Blinden:



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»Nein, Bruder«, sagte er, »so kannst du es bei mir doch nicht machen! Du hast dein Geld verloren und möchtest dich jetzt an dem meinigen vergreifen!«

Einer suchte den anderen niederzuringen, sie packten sich bei den Haaren, und es begann eine große Balgerei.

Aber während sie rauften, war der junge Bursche seines Weges gegangen. Er kam nach Hause und lebte dort noch lange. Seinen Enkeln erzählte er noch, wie er es damals den beiden Schelmen gezeigt hatte.


Das Märchen vom Barsch

In einem Gutsteich wohnte einmal ein kleiner, dickbauchiger, klatschsüchtiger Barsch. Es war ihm da sehr langweilig, und er wurde ganz traurig. Da fuhr er auf einem kleinen Schlitten mit drei Pferden zum Rostowschen See.

Als er dort ankam, schrie er mit seiner lauten Stimme: »Ihr Schergen, Lauben, Stichlinge, Nasen und Rotäugelein, laßt mich in eurem See lustwandeln. Ich will nicht lange bei euch bleiben, höchstens für eine Stunde, Salz und Brot mit euch essen und euren Reden zuhören!« Die kleinen Fischlein waren damit einverstanden, daß der Barsch eine Stunde lang in ihrem See herumspaziere. Er fuhr herum, beleidigte aber alle Fische dadurch, daß er sie in den Schlamm und auf das Ufer des Sees jagte.

Der Karpfen fand, daß das ein großes Unrecht sei. Er ging zum Stör, Peter dem Gerechten, und sagte: »Gerechter Peter Stör! Warum beleidigt uns dieser Barsch? Er hat gebeten, eine Stunde bei uns bleiben zu dürfen, und jetzt jagt er uns alle aus dem See. Sprich dein Urteil, Stör, und entscheide, was recht und unrecht ist!«

Der Stör schickte einen kleinen Gründung aus, um den Barsch zu holen. Das Fischlein suchte im ganzen See herum, konnte aber den Barsch nicht finden. Da schickte der Stör einen mittelgroßen Hecht aus, daß er den Barsch aufsuche. Der Hecht tauchte unter, schlug mit seinem Schwanz umher und fand den Barsch im Kiesboden.

»Wie geht's, mein lieber Barsch?«

»Guten Tag, lieber Hecht! Was führt dich hierher?«



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»Ich soll dich zum Stör Peter führen. Dort sollst du dich verantworten. Gib acht, daß du nicht an die Kette kommst, man hat dich angeklagt.«

»Ei, wer klagt denn gegen mich?«

»Alle Fische, die Gründlinge, die Stichlinge, die Lauben und die Rotäugelein. Sogar der Bauer Wels, der mit seinen dicken Backen kaum sprechen kann, hat eine Beschwerde gegen dich eingereicht. Komm, Barsch, wir wollen hören, wie das Gericht entscheidet.« »Nein, lieber Hecht, lassen wir das bleiben! Geh lieber mit mir auf den Bummel!«

Der Hecht war aber nicht damit einverstanden und wollte den Barsch vor den Richter schleppen, damit er rasch abgeurteilt werde. »Höre, Hecht«, sagte der Barsch, »du hast zwar ein Maul und Zähne, den Barsch wirst du aber nicht beim Schwanz packen. Heute ist Samstag und bei meinem Vater Polterabend. Da gibt es ein lustiges Schmausen. Komm mit, wir werden trinken und lustig sein. Morgen, wenn es auch Sonntag ist, gehen wir zum Gericht. Wir sind dann wenigstens nicht hungrig.«

Der Hecht ließ sich überreden und ging mit dem Barsch auf den Bummel. Da machte ihn der Barsch betrunken, warf ihn in einen Brunnen, deckte ein Brett darüber und schlug ihn mit einer Stange tot.

Lange wartete man auf den Hecht, er kam aber nicht mehr zurück. Nun schickte Peter Stör einen großen Wels aus, damit der den Barsch hole. Der Wels tauchte unter, schlug mit seinem Schweif und fand den Barsch im Kies.

»Guten Tag, Schwiegersöhnchen!«

»Guten Tag, Schwiegerväterchen!«

»Komm vor das Gericht, Barsch, es ist eine Klage gegen dich eingereicht worden.« — »So, wer klagt denn?«

»Alle Fische klagen, die Gründlinge, die Stichlinge, die Lauben und die kleinen Rotäugelein!«

Als der Barsch wieder auskneifen wollte, packte ihn der Wels an einer Flosse und führte ihn persönlich dem Richter vor.

»Gerechter Peter Stör«, sagte der Barsch, »warum läßt man mich nicht in Ruhe?«

»Wie soll man dich ungeschoren lassen? Du hast gebeten, daß man



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dich eine Stunde lang im Rostowschen See spazieren läßt, und gleich hast du alle Fische aus dem See verjagt. Da haben sie sich versammelt und gegen dich eine Klage eingereicht. Sie sagten: >Entscheide du, gerechter Peter Stör, ist das recht?«

»Jetzt höre aber auch meine Klage!« sagte der Barsch.

»Diese Fische sind selber alle Beleidiger, Verleumder und Ränkeschmiede. Ich habe das Ufer mit Wasser unterspült, denn ich kam am späten Abend an und hatte es sehr eilig. Da bin ich vom Ufer in den See gefallen und dabei voll Erde geworden. Und nun wollen sie mir an den Kragen! Peter Stör! Laß die herrschaftlichen Fischer mit ihren feinen Netzen kommen und treibe die Fische alle auf eine enge Mündung zusammen, dann wirst du sehen, wer recht und wer unrecht hat. Der Gute wird nicht in dem Netz bleiben, sondern sofort herauskommen.«

Der Stör hörte die Worte des Barsches an, versammelte die Fische in der engen Mündung und ließ die herrschaftlichen Fischer kommen. Gleich am Anfang war der Barsch ins Netz gefallen, aber er wand und drehte sich so geschickt, daß er als erster aus dem Netz schlüpfen konnte.

»Siehst du, Peter Stör, wer schuldig und wer unschuldig ist?«

»Ich sehe es, Barsch. Geh in den See und spaziere dort herum. Niemand wird dich mehr beleidigen. Eher soll der See austrocknen und die Raben dich aus dem Schlamm holen.«

Jetzt fuhr der Barsch im See herum und brüstete sich vor allen: »Nun habt ihr mich gut anzeigen, ihr Gründlinge, Stichlinge, Nasen, Lauben und alle anderen. Auch den kleinen Rotäugelein werde ich das nicht vergessen! Und der dickmaulige Wels! Reden kann er kaum, aber eine Klage gegen mich einreichen, das hat er gekonnt! Allen werde ich es heimzahlen!«

Da ging Ljubom am Ufer entlang. Er konnte das Prahlen des Barsches nicht länger anhören. Auch Sergej kam vorbei mit einem Arm voll Angelruten, und endlich kam Bogdan. Der fing den Barsch und sagte: »Den brate ich mir und esse ihn noch heute abend.« Das war das Ende vom Barsch.



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Tyrkyneku und die schöne Gytinnäu

Es war einmal ein Jüngling namens Tyrkyneku, der liebte über alles die schöne Gytinnäu. Sie war die Freundin seiner Schwester und wohnte auf einer Anhöhe in der Nähe. Oft besuchte Tyrkyneku mit seiner Schwester zusammen Gytinnäu. Er trank Tee mit ihr und schaute das schöne Mädchen die ganze Zeit über voller Bewunderung an. Aber er wagte es nicht, auch nur ein einziges Wort mit ihr zu sprechen.

Tyrkynekus Schwester hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als daß ihr Bruder ihre Freundin zur Frau nähme. Wenn sie aber mit Gytinnäu darüber sprach, gebot ihr diese Schweigen. Oft, wenn Tyrkyneku auf der Jagd war, saßen die beiden Freundinnen beisammen und nähten Kleider für ihn. Sobald aber Gytinnäu den Schritt des Heimkehrenden hörte, lief sie eilig davon.

Tyrkyneku wurde darüber sehr traurig und von Zorn überfallen, weil er den Mut nicht fand, mit der schönen Gytinnäu zu sprechen.

Eines Tages sagte er schließlich zu seiner Schwester: »Pack alle unsere Sachen zusammen! Laß uns an einen anderen Ort ziehen!« Die Schwester tat, wie er's ihr geheißen, und die beiden zogen von dannen. Tyrkyneku schritt voran, und die Herde der Rentiere folgte ihm.

Hinter der Herde fuhr Tyrkynekus Schwester auf einem überdachten Schlitten. Gytinnäu sah sie von dem Hügel aus und stürzte ihnen nach. Bald schon hatte sie die Freundin eingeholt, setzte sich zu ihr auf den Schlitten und sagte:

»Fahr nur nicht zu weit weg! Ich bin so allein ohne dich!«

Tyrkynekus Schwester versprach der Freundin, ihrer Bitte zu gedenken. Beim Abschied schenkte sie ihr ein Armband aus Glasperlen, das Tyrkyneku der Schwester insgeheim zugesteckt hatte. Er wagte es nicht, Gytinnäu die Perlen selber zu geben.

Das Mädchen bedankte sich bei der Freundin und eilte nach Hause. Aber sie konnte den Blick nicht von dem Armband wenden, mußte es immer wieder anschauen. Beim Sehen der bunten Perlen dachte sie an Tyrkyneku.

Und mit einem Male wußte sie genau: Das war gar kein Armband, das war Tyrkyneku selber.



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Sie schleuderte das Perlenband den Hügel hinunter. Zur gleichen Zeit stürzte Tyrkyneku einen Abhang hinab. Gerade noch konnte er einen Strauch erfassen und sich daran festhalten. Mit großer Mühe kletterte er wieder nach oben, holte die Rentierherde ein und gebot der Schwester anzuhalten. Sie stellten ihre Jaranga dicht beim Abhang auf, und Tyrkyneku sagte zu seiner Schwester: »Deine Freundin putzt sich nicht gern. Schenk ihr doch ein Messer oder einen Spieß. Vielleicht liebt sie Waffen mehr.«

Kurze Zeit darauf erschien Gytinnäu bei ihrer Freundin zu Gast und blieb bis tief in die Nacht hinein bei ihr. Zum Abschied gab ihr Tyrkynekus Schwester ein Messer, ein sehr gutes Messer. Fisch konnte man damit schneiden, Holz konnte man damit schnitzen, und leicht ließ es sich auf der Brust verbergen.

Als Gytinnäu sich das Messer daheim noch einmal anschaute, kam ihr der Gedanke: Ob das vielleicht wieder von Tyrkyneku ist? Und sie warf es den Hang hinab.

Tyrkyneku war gerade von der Jagd zurückgekommen und sagte zu seiner Schwester:

»Deine Freundin mag keine Waffen! Wir wollen ihr etwas für ihre Jaranga schenken.«

Wieder besuchte Gytinnäu ihre Freundin. Die Schwester Tyrkynekus bereitete den Tee, stellte ihn auf ein neues hölzernes Tablett und reichte es der Freundin. Es war ein sehr schönes Tablett, das Gytinnäu mit Wohlgefallen betrachtete.

Tyrkynekus Schwester sagte zu ihr:

»Nimm das Tablett, wenn es dir gefällt! Vielleicht kannst du's brauchen.«

Gytinnäu nahm das Tablett.

Am Abend bei sich daheim sah sie sich bewundernd die vielen Muster und Linien an, und plötzlich dachte sie: >Ob das wohl auch wieder von Tyrkyneku ist?<

Sie ergriff das Tablett und warf es ins Feuer.

Als Gytinnäu ihre Freundin wieder einmal besuchte, verließ Tyrkyneku die Jaranga und ging zur Jagd. Das schöne Mädchen wunderte sich darüber, und als sie das nächste Mal kam, ging Tyrkyneku wieder seiner Wege. Das kränkte sie. Und immer, wenn Tyrkyneku das schöne Mädchen kommen sah, ging er aus der Jaranga. Gytinnäu



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fragte die Freundin: »Was hat bloß dein Bruder? Weshalb läuft er jetzt immer davon, wenn er mich sieht?« Tyrkynekus Schwester wußte es nicht.

Die Zeit verstrich, und eines Tages bat Gytinnäu ihre Freundin:

»Sage deinem Bruder, daß ich nun bereit bin, seine Frau zu werden.«

Froh überbrachte die Schwester dann Tyrkyneku diese Botschaft, er aber antwortete: »Sag deiner Freundin Bescheid, meine Liebe zu ihr ist längst im Feuer verbrannt.«


Prinz Iwan und die Harfe

Weit, weit am blauen Meer stand inmitten schönster Fluren eine große Stadt. Dort herrschte ein weiser König mit seiner Königin. Die beiden waren schon lange verheiratet, da wurde ihnen zu ihrer größten Freude eine wunderschöne Prinzessin geboren, der sie den Namen »Unschätzbare«gaben. Im nächsten Jahr kam eine ebenso wunderschöne Prinzessin auf die Welt. Die nannten sie »Preislose«.

Der König freute sich ungemein über seine Töchter. Er war lustig, aß und trank voller Fröhlichkeit. Seinen Kriegern schenkte er dreihundertunddrei Eimer Met und befahl, alle Leute in seinem Reich mit Bier zu bewirten. Jeder konnte trinken, soviel er wollte. Als alle Schmausereien und Lustbarkeiten vorüber waren, dachte der König darüber nach, wie er seine geliebten Töchter speisen und tränken wollte, wie sie heranwachsen und unter eine goldene Krone gelangen sollten. Ja, der König machte sich seiner Töchter wegen allerlei Sorgen. Sie durften nur mit goldenen Löffeln essen, mußten in Daunenbetten schlafen und sich mit Zobelfellen zudecken. Drei Kinderfrauen waren angestellt, um die Fliegen abzuwehren, wenn sich die Prinzessinnen schlafen legten. Der König ließ seine Töchter derart behüten, daß kein Strahl der roten Sonne sie in ihrem Zimmer belästigte, kein kaltes Lüftchen an sie herankam und kein Tröpfchen Tau sie benetzte. Zu ihrer Pflege bestellte der König siebenundsiebzig Kinderfrauen und siebenundsiebzig Wärterinnen. Das hatte ihm ein weiser Mann geraten.



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Friedlich und glücklich lebte so der König mit seiner Königin und den beiden Töchtern. Die Jahre vergingen, die Töchter wuchsen heran und wurden größer und immer schöner. Schon kamen junge Männer an den Königshof und freiten um die Prinzessinnen. Aber der König hatte keinerlei Eile, sie zu verheiraten. Er dachte: >Wenn es vom Schicksal bestimmt ist, daß sie heiraten sollen, dann wird man sie auf dem schnellsten Pferde nicht einholen. Wenn es aber das Schicksal nicht will, so wird man einen Bräutigam auch mit drei Ketten nicht festhalten können.<

Während er so seinen Gedanken nachhing, vernahm er eines Tages plötzlich einen Heidenlärm. Alles rannte auf dem Königshof wirr durcheinander. Die Kinderfrauen weinten, die Wärterinnen schrien, und die Ammen brachen in lautes Klagen aus. Der König lief schnell hinaus und fragte: »Was ist los?«

Da warfen sich ihm die siebenundsiebzig Kinderfrauen und die siebenundsiebzig Wärterinnen zu Füßen und riefen: »Sei uns gnädig! Soeben sind die beiden Prinzessinnen Unschätzbare und Preislose von einem Wirbelwind fortgerissen worden!«

Ein Wunder hatte sich ereignet: Die Prinzessinnen waren im Garten spazierengegangen, hatten bunte Schmetterlinge gefangen, roten Mohn gepflückt und süße Äpfel genascht. Da war plötzlich eine schwarze Wolke gekommen und hatte die beiden Mädchen vor den Augen der Kinderfrauen und Wärterinnen verborgen. Noch ehe sie richtig schauen konnten, war von den beiden Prinzessinnen jede Spur verschwunden. Es war von ihnen nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören.

Jetzt fuhr der König zornig auf: »Ich werde euch dem schlimmsten Tod überliefern! Vor dem Tor lasse ich euch mit Erbsen totschießen oder im Gefängnis zu Tode quälen! Siebenundsiebzig Kinderfrauen und siebenundsiebzig Wärterinnen habe ich, und sie können nicht einmal zwei Prinzessinnen hüten!«

Der Gram und die Trauer des Königs um seine Töchter waren furchtbar. Er aß und trank nicht mehr, er konnte nicht mehr schlafen, und immerzu war er von Schmerz und Kummer erfüllt. Es gab keinen Schmaus mehr an seinem Hofe, man hörte kein Summen und Singen. Nur der Kummer sang hinter ihm sein trauriges Lied wie der Unglücksrabe.



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Aber die Zeit eilte weiter. Das Leben ist immer wie ein bunter Teppich, in den schwarze und rote Fäden eingewebt sind. Es vergingen noch einige Jahre, da wurde dem König keine Prinzessin, sondern ein Sohn geboren. Der König war darüber sehr erfreut. Er nannte ihn Iwan, bestellte für ihn Kinderfrauen und Wächter, weise Lehrer und tapfere Krieger. Prinz Iwan wuchs schnell heran wie der Teig im warmen Ofen und aus ihm wurde ein wunderschöner, starker Jüngling.

Trotzdem bereitete etwas dem König großen Kummer: Prinz Iwan war schön und prächtig anzuschauen, aber er besaß keinen heldenhaften Sinn und keinerlei ritterliche Neigungen.

Er riß keinem Spielkameraden den Kopf ab, brach keinem einen Arm oder ein Bein und liebte es nicht, sich auf starken Pferden zu tummeln. Er mochte nicht mit scharfen Schwertern kämpfen, er baute keine Festungen und pflegte keine Kameradschaft mit den Kriegern. Durch seinen scharfen Verstand setzte Prinz Iwan wohl alle in Erstaunen, aber Freude hatte er nur am Spiel mit der Harfe. Die aber spielte er dermaßen schön, daß alle ihm zuhören mußten. Sobald der Prinz die Saiten auch nur berührte, fingen sie an zu singen und zu klingen, daß selbst die Tauben vor den wehmutsvollen Klängen in Tränen ausbrachen. Spielte er aber lustige Weisen, so fingen sogar die Krüppel zu tanzen an. Musik ist etwas Schönes, aber man kann mit ihr keinen Schatz auffüllen, kein Königreich verteidigen und den Feind nicht von den Toren abwehren.

Deshalb ließ der König den Prinzen eines Tages zu sich kommen und sprach zu ihm: »Mein lieber Sohn! Du bist der Bravste und Schönste, und ich bin mit dir höchst zufrieden. Nur eines macht mir Kummer: Ich sehe an dir kein Streben nach Ruhm und Heldentum. Du tummelst dich nicht auf schnellen Rossen und übst dich nicht im Kampf mit dem scharfen Schwert. Sieh, ich bin alt geworden. Wir besitzen böse Feinde. Sie werden kommen und über uns herfallen, die Krieger und Bojaren töten und mich mit der Königin gefangennehmen. Du aber kannst uns nicht verteidigen.«

Der Prinz hörte die Rede des Vaters an und sagte: »König und Herr, mein liebes Väterchen! Man erobert die Städte nicht mit Gewalt, sondern mit List; man zertrümmert die Tore nicht mit Keulen, sondern durch Schlauheit. Stelle meinen Heldenmut und meine Tapferkeit



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auf eine Probe! Siehe, ich habe gehört, daß ich zwei Schwestern hatte, die von einem Wirbelsturm entführt worden und spurlos verschwunden sind. Rufe alle deine Fürsten, Helden und tapferen Krieger zusammen und verlange von ihnen, sie sollen dir den Dienst erweisen und meine Schwestern aufsuchen. Sie sollen ihre scharfen Schwerter, ihre funken Rosse, geschickte Schützen und unzählige Krieger mitnehmen. Wenn dir einer von ihnen die Prinzessinnen wiederbringt, dann gib diesem mein Königreich.

Mich aber kannst du zu deinem Koch oder Hofnarren machen. Wenn aber keiner unter ihnen ist, der dir diesen Dienst zu erweisen vermag, dann werde ich es tun. Du wirst dann erfahren, daß ein kluger Verstand mehr wert ist als scharfe Schwerter und flinke Rosse.«

Die Worte des Prinzen gefielen dem König. Er versammelte alle seine Bojaren, Krieger und starke Helden um sich und sagte: »Ist der Held unter euch, der die Aufgabe übernimmt, meine Töchter zu suchen? Ich werde dem, der sie mir wiederbringt, die lieblichste von ihnen zur Frau geben und ihm noch dazu die Hälfte meines Königreiches schenken.«

Da schauten die Bojaren, Krieger und Helden einander an. Einer versteckte sich hinter dem anderen, und keiner von ihnen wollte etwas sagen .

Da nun verneigte sich Prinz Iwan vor seinem Vater und sprach: »König Väterchen! Wenn keiner dir diesen wichtigen Dienst erweisen will, so gib mir deinen Segen auf den Weg! Ich werde mich aufmachen und meine Schwestern suchen. Ich brauche aber keine königliche Belohnung dafür.«

»Gut«, sagte der König, »du hast meinen Segen. Nimm Schätze mit dir. Gold, Silber und Edelsteine, Krieger, so viele du willst, und hunderttausend Pferde und hunderttausend Bogenschützen als Leibwache.«

»Ich brauche keine Pferde, kein Gold und kein Silber, brauche weder Schwerter noch Bogenschützen«, sagte der Prinz. »Ich werde nur meine Harfe mit mir nehmen. Du aber, Väterchen König, warte drei Jahre lang auf mich. Wenn ich im vierten Jahr noch nicht zurückgekommen bin, dann suche dir einen anderen Erben.«

Nach diesen Worten empfing Prinz Iwan den väterlichen Segen. Er



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betete, nahm seine Harfe unter den Arm und zog aus, wohin ihn gerade seine Augen führten, um die Schwestern zu suchen.

Nach einer Wanderschaft von mehreren Tagen kam er in einen dichten, finsteren Wald. Da hörte er ein Krachen, als ob jemand die Bäume abbräche. Er ging dem Lärm nach und sah zu seinem Erstaunen zwei Waldgeister, die miteinander kämpften. Der eine schlug mit einer astigen Eiche auf den anderen los. Der hatte eine zehn Meter lange Linde in den Fäusten und schlug seinen Gegner damit in die Rippen.

Die beiden prügelten sich gegenseitig mit einer Kraft, wie sie eben nur Waldgeister besitzen. Prinz Iwan trat näher zu ihnen, setzte sich und begann auf seiner Harfe ein Tanzlied zu spielen. Da blieben die Geister stehen und fingen an, ein Teufelslied zu singen. Dann tanzten sie den Trepak, daß der Staub zum Himmel aufstieg. Sie tanzten, bis sie ermatteten und zu Boden fielen.

Da sprach der Prinz zu ihnen: »Warum rauft ihr miteinander? Ihr seid doch richtige Waldgeister und macht reine Dummheiten wie die Menschen!«

Einer von den Waldgeistern antwortete ihm: »Warum sollen wir nicht raufen? Entscheide selber: Als wir unseres Weges dahinzogen, fanden wir etwas. Ich sagte: >Das gehört mir!<Er aber sprach: >Nein, mir!< Wir wollen teilen, aber es geht nicht!«

»Was habt ihr denn gefunden?«fragte der Prinz.

»Ein Tischtuch für Salz und Brot, Stiefel, die ganz von selber laufen, und eine unsichtbar machende Mütze. Wenn du essen oder trinken willst, so brauchst du nur das Tischtuch auszubreiten. Sogleich kommen zwölf Knaben und zwölf Mädchen, die dir Met, süße Speisen und sonst noch alles bringen, wonach dein Herz begehrt. Marschierst du mit den von selbst laufenden Stiefeln, so machst du bei jedem Schritt sieben Werst. Wenn du aber nur ein wenig schneller läufst, so machst du deren vierzehn. Du gehst so schnell, daß dir kein Vogel mehr nachfliegen, ja nicht einmal der Wind dich einholen kann. Und wenn dir eine unmittelbare Gefahr droht, brauchst du nur die unsichtbar machende Mütze aufzusetzen. Dann bist du verborgen, daß auch der beste Hund dich nicht finden kann.«

»Wenn ihr wollt, schlichte ich euren Streit«, sagte der Prinz. »Was gebt ihr mir als Trinkgeld?«



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Die Waldgeister waren damit einverstanden, und Prinz Iwan sagte zu ihnen: »Rennt auf diesem Wege fort! Wer von euch den anderen überholt, dem sollen das Tischtuch, die Stiefel und die Mütze gehören.« «

»Du hast uns wieder zur Vernunft gebracht«, sagten die beiden. »Nimm alles in Verwahrung. Wir werden rennen.«

Die beiden liefen davon und waren bald schon im Walde verschwunden. Der Prinz aber wartete nicht, bis sie zurückkamen. Er zog die Stiefel an, nahm das Tischtuch unter den Arm, setzte die Mütze auf und weg war er. Die Waldgeister kamen zurückgerannt —aber wo sollten sie den Platz finden, auf dem der Prinz gestanden hatte?

Der Prinz ging, so schnell er konnte, aus dem Wald heraus. Dort sah er, wie die Geister nach ihm suchten, hin und her rannten, nach der Spur schnüffelten. Sie konnten sie aber nicht finden. Prinz Iwan ging immer weiter und kam endlich auf ein freies Feld. Da gingen drei Wege auseinander. An ihrer Kreuzung stand eine Hütte auf Pfählen, die sich immerzu drehte.

Da rief der Prinz: »Hüttlein, bleib mit der Rückseite gegen den Wald, mit der Vorderseite mir zugewandt stehen!«

Als er in die Hütte trat, sah er darin eine Hexe sitzen. »Pfui, pfui, pfui«, rief sie. »Bis heute habe ich keine russische Seele mit Augen gesehen noch mit Ohren gehört, und auf einmal kommt eine zu mir. Was führt dich hierher, du Jüngling?«

»Oh, du dummes Weib!« sagte der Prinz. »Hättest du mir lieber zuerst mal was zu essen gegeben und mich danach erst gefragt.« Da sprang die Hexe auf und holte etwas zum Essen. Nachdem der Prinz gegessen hatte, fragte sie wieder: »Woher kommst du, mein Junge, und wo geht die Reise hin?«

»Ich bin unterwegs, um meine beiden Schwestern, die Prinzessinnen Preislose und Unschätzbare zu suchen«, antwortete der Prinz. »Kannst du mir sagen, Großmütterchen, welchen Weg ich einschlagen muß und wo ich sie finden kann?«

»Wo die Prinzessin Unschätzbare wohnt, das weiß ich«, sagte die Hexe. »Du kommst auf dem mittleren Weg zu ihr. Sie lebt in einem Palast aus lauter weißen Steinen bei einem alten Mann, dem Waldungeheuer. Der Weg dahin ist aber sehr weit und beschwerlich.



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Wenn du wirklich hinkommst, dann tritt nur leise auf, sonst wirst du von dem Ungeheuer aufgefressen.«

»Je nun, Großmütterchen, wenn es mich auch erwischt! Ich bin hager wie alle Russen, und Gott wird es schon fügen, daß mich das Ungeheuer nicht frißt! Leb wohl und hab Dank für Salz und Brot!« Der Prinz ging von der Hexe fort und sah schon bald die weißen Steine des Palastes, darin das Waldungeheuer hauste. Er trat näher und kam zu einem Tor. Davor saß ein kleiner Unhold, der zu ihm sagte: »Ich darf niemanden hineinlassen.«

»Laß mich hinein, lieber Freund«, sagte der Prinz. »Bitte laß mich hinein, ich will dir auch ein schönes Trinkgeld geben.«

Der kleine Teufel nahm das Trinkgeld an, ließ aber den Prinzen doch nicht durchs Tor. Da ging der Prinz rund um den Palast herum und schaute, ob er nicht an einer Wand hochklettern könnte. Der Arme hatte aber nicht bemerkt, daß von oben Saiten herabhingen. Kaum hatte er eine davon mit dem Fuß berührt, so fing es überall zu läuten an. Als er sich umsah, stand auf der Freitreppe seine Schwester, die Prinzessin Unschätzbare, und sagte: »Bist du es, mein lieber Bruder, Prinz Iwan?« Die beiden Geschwister umarmten und küßten sich. »Wie soll ich dich vor dem Waldungeheuer verbergen?« sagte die Prinzessin. »Ich glaube, daß es jetzt bald erscheinen wird.«

»Ja, wohin mit mir?«fragte Prinz Iwan. »Ich bin doch keine Nadel.«

Während die Geschwister noch miteinander sprachen, erhob sich auf einmal ein Sturm, daß die Wände des Palastes zitterten. Das Waldungeheuer war gekommen. Prinz Iwan aber setzte schnell seine Tarnkappe auf und wurde unsichtbar. Das Waldungeheuer sagte: »Wo ist dein Gast, der über die Wand heraufgeklettert ist?«

»Ich habe keinen Gast«, sagte die Prinzessin. »Vielleicht ist ein Sperling vorbeigeflogen und hat mit seinem Flügel die Saiten berührt.« »Was für ein Sperling! Ich spüre deutlich, daß ein Russe hier ist.« »Wieso?« fragte die Prinzessin. »Du rennst auf der ganzen Welt umher und fängst die Seelen. Willst du nun mit mir auch Streit anfangen?«

»Zürne nicht, Prinzessin Unschätzbare, ich will dir nichts Böses zufügen, aber ich verspüre so großen Hunger, daß ich jetzt jenen Flegel fressen möchte«, sagte das Waldungeheuer.



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Da nahm Prinz Iwan seine Mütze ab, grüßte und sprach: »Warum willst du mich fressen? Sieh doch, wie dürr ich bin! Dafür will ich dir ein Frühstück bereiten, wie du noch nie eines gesehen hast. Gib nur acht, daß du deine Zunge nicht mit verschluckst!«

Prinz Iwan breitete sein Tischtuch aus, und sogleich erschienen zwölf Knaben und zwölf Mädchen, die das Waldungeheuer bewirteten. Das aß und trank dermaßen viel, daß es nicht mehr von seinem Platz aufstehen konnte, und schlief ganz fest ein.

»Jetzt leb wohl, liebe Schwester«, sagte der Prinz. »Aber sag mir noch, bevor ich fortgehe, weißt du, wo deine jüngere Schwester, die Prinzessin Preislose, wohnt?«

»Ich weiß es«, sagte die Schwester. »Man muß zu ihr auf das Meer hinausfahren. Sie wohnt auf dem Grunde des Ozeans bei einem alten Mann, dem Seeungeheuer. Der Weg dorthin ist aber sehr beschwerlich. Weit mußt du fahren, und wenn du tatsächlich hinkommst, wird das Meerungeheuer dich fressen.«

»Nun«, sagte der Prinz, »mag er mich getrost kauen, wenn er mich nur nicht verschluckt. Leb wohl, Schwester!«

Der Prinz schritt aus und kam an den Ozean. Ein großes Schiff stand am Ufer, wie es die russischen Handelsleute benutzen, mit Takelwerk von Lindenbast und Segeln von Birkenrinde. Die Schiffer bereiteten sich gerade darauf vor, zu der Salzinsel zu fahren.

»Wollt ihr mich mitnehmen?«fragte Prinz Iwan. »Ich werde euch für die Überfahrt nichts bezahlen, aber ich will euch gerne Märchen erzählen, so daß ihr von der ganzen Fahrt nichts merkt.«

Die Schiffer waren damit einverstanden und fuhren aufs Meer hinaus. Sie kamen an der Salzinsel vorüber und fuhren weiter, immer weiter. Plötzlich erhob sich ein wilder Sturm. Es blitzte und donnerte, und das Schiff krachte in allen Fugen.

»Ach!« riefen die Schiffer, »wir haben dem Märchenerzähler zugehört und gar nicht bemerkt, daß wir auf den Abgrund des Ozeans zufahren. Nun sind wir verloren! Wir werden dem Seeungeheuer ein Opfer bringen müssen. Laßt uns das Los werfen; es wird den Schuldigen treffen.«

Sie warfen das Los, und es traf den Prinzen Iwan. »Was geschehen soll, wird geschehen, Brüder!« sagte der Prinz. »Ich danke euch für Salz und Brot. Lebt wohl und behaltet mich in gutem Andenken!«



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Er nahm seine Stiefel, das Tischtuch und die Mütze, griff zu seiner Harfe und stürzte sich ins Meer. Sogleich beruhigte es sich wieder. Das Schiff aber fuhr weiter, Prinz Iwan war untergegangen wie Blei und stand auf einmal mitten im Palast des Seeungeheuers. Die Prunkgemächer, in denen es hauste, waren ganz wunderbar gemustert. Das Meerungeheuer saß auf seinem Thron und neben ihm die Prinzessin Preislose.

Es sagte: »Schau an, schon lange habe ich kein frisches Fleisch mehr gegessen, und nun fällt es mir plötzlich in die Hände. Guten Tag, mein Freund! Komm her, damit ich sehe, an welchem Ende ich dich anpacken kann.«

Da fing Prinz Iwan an zu reden und sagte, er sei der Bruder der Prinzessin Preislose. Er meinte, man verkehre nicht so miteinander und fresse auch die Menschen nicht.

»Da hört sich doch alles auf!« schrie das Ungeheuer. »Dieser Kerl kommt völlig ungefragt in meinen Palast und will mir Vorschriften machen!«

Da erkannte der Prinz, daß es schlecht für ihn stand. Er nahm seine Harfe und fing an, ein Tanzlied zu spielen. Kaum hatte er die Saiten berührt, da schwieg das Meerungeheuer still. Es begann zu schnauben wie ein Schmiedeblasebalg, weinte und ächzte, als ob es auf einer Nadel säße. Als aber der Prinz das Lied spielte »Schnapsgläschen wandern auf den Tisch«, stemmte alles die Hände in die Seiten, und der Tanz hub an. Das Meerungeheuer schnellte auf und nieder, stampfte mit den Füßen und schnitt mit seiner Fratze derartige Grimassen, daß sämtliche Fische erschienen und sich beim Zuschauen alle halbtot lachten.

Nachdem sich das Meerungeheuer wieder beruhigt hatte, sagte es: »Es wäre gewiß jammerschade, wenn man einen solchen Prachtkerl auffressen wollte. Bleibe also bei uns! Willst du unser Gast sein? Herbei ihr Heringe, Hechte, Brachsen und Barsche! Deckt den Tisch und bewirtet unseren Gast.«

Da saßen nun das Meerungeheuer, die Prinzessin Preislose und der Prinz Iwan beisammen, aßen und tranken und waren recht vergnügt. Ein Walfisch tanzte vor ihnen einen deutschen Tanz, die Heringe sangen Chorlieder und die Karauschen spielten auf verschiedenen Instrumenten.



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Als das Meerungeheuer nach dem Mittagessen zu einem Schläfchen einnickte, sagte die Prinzessin zu ihrem Bruder: »Mein liebster Bruder! Ich freue mich sehr, daß du unser Gast gewesen bist, aber nun gehe du so schnell wie möglich wieder von hier fort. Das Meerungeheuer wird dich fressen, wenn seine böse Stunde kommt.«

»Sage mir, liebe Schwester«, antwortete der Bruder, »wie kann ich dich von dem Meerungeheuer und unsere Schwester Unschätzbare von dem Waldungeheuer befreien?«

»Wenn du willst, kannst du noch alles zu einem glücklichen Ende führen«, antwortete die Schwester, »aber es wird dir kaum gelingen. Im Ozean ist ein großes Königreich. Dort herrscht aber kein König, sondern eine Königin mit Namen Jungfrau Königin. Wenn du in ihr Reich kommst und es dir gelingt, in den Garten zu kommen, so wird sie deine Frau werden. Nur sie allein kann uns befreien und zu unseren Eltern zurückführen. Aber es besteht ein großes Hindernis für jeden, der zu ihr gelangen will: Sie wird äußerst streng bewacht, und niemand kann an das Ufer kommen. Es ist mit Kanonen und Lanzen gespickt, und auf jeder Lanze steckt ein Kopf. Das sind die Köpfe junger Helden, die gekommen waren, um die Jungfrau Königin zu heiraten. Es waren Zaren und Zarewitsche, Könige und Königssöhne, starke und mächtige Helden. Sie waren mit Kriegern und Schiffen gekommen, hatten aber nichts ausrichten können -alle sind sie auf die Lanzen gekommen.«

»Da-muß man sich ja wirklich fürchten!« sagte Prinz Iwan.

»Furchtbar sind die Schrecken des Himmels, aber unendlich ist auch Gottes Barmherzigkeit. Sag mir nur, wie kommt man in das Reich der Jungfrau Königin?«

»Dazu bedarf es keiner großen Weisheit. Ich gebe dir meinen Lieblingsstör. Setze dich auf ihn und fahre durchs Meer. Als Wegweiser wird dir mein Schnelläufer dienen, der langnasige Sterlet.«

Die Geschwister nahmen Abschied voneinander. Dann setzte sich Prinz Iwan auf den Stör und trieb ihn an. Der Sterlet aber zeigte ihnen den Weg. Unterwegs begegneten sie Krebsen, die zum Gruß mit ihren Bärten wackelten und durch Klappern mit ihren Scheren die kleinen Fische aus dem Wege jagten.

Auf dem Meer ist es anders als auf dem Festland. Da gibt es keine Baumstrünke und keine Erdspalten, der Weg ist ganz glatt, und man



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fährt dahin wie auf Butter! So eilte der Prinz weiter, zog seine Tarnkappe an und sah, wie die Wächter die Augen auf sperrten und in die Ferne schauten, ob sie nichts erspähen könnten. Das, was gerade unter ihrer Nase vorging, sahen sie aber nicht. Sie machten ihre Messer scharf und spitzten die Pfeile, um jeden zu töten, der etwa landen wollte.

Der Prinz fuhr ans Ufer heran, und der Stör brachte ihn bis zum Landungsplatz, verneigte sich und erbat sich ein Trinkgeld. Prinz Iwan sprang ans Land, ging ohne Gruß an den Wächtern vorbei und betrat den Garten, als ob dieser ihm gehöre. Dort spazierte er herum, bewunderte alles und aß süße Äpfel.

Nach längerem Warten sah er auf einmal zwölf Tauben heranfliegen. Als sie sich auf die Erde niedergelassen hatten, waren es zwölf Mädchen geworden, schön wie die Sonne, mit Gesichtern wie Milch und Blut.

Mitten unter ihnen war die Jungfrau Königin als Pfau gewesen, und sie sprach jetzt: »Meine lieben Freundinnen! Es ist heiß geworden, seht nur, wie warm die Sonne scheint! Wir wollen baden! Kein böses Auge wird uns hier sehen. Es steht eine so starke Wache für mich am Ufer, daß nicht einmal eine Fliege durchkommen könnte.«

»Keine Fliege kann durchkommen? Hier ist schon eine!« sagte der Prinz, nahm seine unsichtbar machende Kappe ab und verneigte sich vor der Königin. Diese und ihre Freundinnen kreischten vor Schreck, wie es die Mädchen tun. »Ach, ach!« schrien sie durcheinander und gebärdeten sich, als ob sie davonlaufen wollten. Sie stellten sich, als ob sie nichts sehen wollten, schauten aber trotzdem durch ihre Augenlider auf den Prinzen.

»Jungfrau Königin und ihr, schöne Mädchen«, sagte der Prinz, »warum fürchtet ihr mich? Ich bin kein Bär. Ich beiße nicht und raube keinem das Herz, aber wenn jene unter euch ist, die mir das Schicksal zubestimmt hat, will ich ihr Diener sein.«

Da errötete die Jungfrau Königin wie eine Mohnblüte, reichte dem Prinzen ihre weiße Hand und sagte: »Sei willkommen, guter Jüngling! Bist du ein Zar oder ein Zarewitsch, ein König oder ein Königssohn, ich weiß es nicht. Aber wenn du als ein friedlicher Gast gekommen bist, sollst du auch bei uns gut aufgenommen werden. Es waren schon grobe Brautwerber bei mir, die mein Herz mit Gewalt



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rauben wollten. So etwas ist doch in der ganzen Welt noch nicht gehört worden! Komm in mein Haus aus weißen Steinen und in meine kristallenen Zimmer!«

Als das Volk gehört hatte, daß ein Prinz zu seiner Königin gekommen sei, ein Bräutigam nach ihrem Herzen, da liefen jung und alt zu Haufen herbei. Sie lärmten, schrien und tummelten sich lustig auf dem Rasen . . Die Königin befahl, die Keller zu öffnen, die Schellentrommeln und Pauken zu schlagen, die Harfen zu spielen. Am anderen Tage wurde die Hochzeit mit einem großen Gelage gefeiert. Es dauerte drei Tage, und drei Wochen lang war alles lustig.

Dann besprach der Prinz mit seiner Gemahlin, wie er seine Schwestern von den beiden Ungeheuern befreien könnte.

»Mein geliebter Mann«, sagte die Königin, »warum soll ich dir nicht helfen? Holt mir meinen Geheimschreiber, den Barsch, und meine Schreiber, die Sperlinge! Sie sollen an das Waldungeheuer und an das Seeungeheuer den Befehl schreiben, daß sie die Schwestern des Prinzen freilassen müssen. Wenn sie dem Befehl nicht gehorchen, will ich sie dem schlimmsten Tod überliefern!«

Der Befehl wurde geschrieben und fortgeschickt. Den beiden Ungeheuern blieb nichts übrig, als die Prinzessinnen Unschätzbare und Preislose freizulassen.

Prinz Iwan aber schrieb an seinen Vater den folgenden Brief: »Siehst Du, mein König, nicht alles gewinnt man mit Stärke und Tapferkeit, wohl aber mit Verstand und List. Die Harfen taugen manchmal nicht schlechter als die scharfen Schwerter.

Es heißt doch auch im Sprichwort, daß man einen Rücken mit der Peitsche nicht zusammensteppen kann. Komm als mein Gast zu mir, Väterchen, und ich werde mit meiner Frau und den Prinzessinnen zu Dir kommen. Ein reicher Schmaus steht schon bereit. Ich wünsche Dir noch viele Jahre Segen!«

Prinz Iwan lebte mit seiner Königin noch lange und ist ein allezeit milder Herrscher gewesen.



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Der gierige Kaufmann

Es war einmal ein gieriger Kaufmann. Der aß und trank ständig, schlief viel und arbeitete überhaupt nicht. Dafür aber ließ er Tagelöhner für sich arbeiten. Also machte er sich auf die Suche nach einem Weisen, der ihm beibrächte, wie man sich den Tag verlängern könnte. Er suchte und suchte und fand schließlich einen weisen, aber armen Mann mit Namen Lopscho-Pedun.

»Was führt dich in mein Haus, reicher Gast?«fragte Pedun.

»Ich bin mit dem Tag unzufrieden«, antwortete der Kaufmann. »Selbst im Sommer ist er noch kürzer als ein Hasenschwanz. Kaum haben die Arbeiter die Axt in der Hand, schon gehen die Hühner schlafen. Lehre mich, o weiser Mann, wie man den hellen Sommertag verlängern kann.«

Lopscho-Pedun schaute den Kaufmann listig an und sagte: »Lege siebenundsiebzig warme Kleider an, darüber noch einen Pelz! Setz dir eine Pelzmütze auf den Kopf und zieh dir Socken und Filzstiefel an! Auf die Schulter nimm einen Sack mit Essen! Dann nimm eine hölzerne Heugabel, klettere zur höchsten Spitze der hohen Birke, stich mit der Heugabel in die Sonne und halte sie fest wie einen goldenen Eierkuchen! So kann die Sonne nicht untergehen und der Tag nimmer enden.«

Der Kaufmann gab dem Weisen hundert Rubel als Belohnung und ging nach Hause, um den Tag zu verlängern. Er legte siebenundsiebzig warme Kleider an, wie es der Weise geraten hatte, darüber einen Pelz, setzte sich eine Mütze auf den Kopf, zog Socken und Filzstiefel an, nahm einen Sack mit Essen auf die Schultern, ergriff eine Heugabel und kletterte so auf die höchste Spitze der Birke. Er spießte die Sonne auf die Gabel und saß nun da.

»He, liebe Arbeiter«, rief er hinunter, »ohne meinen Befehl hört mit der Arbeit nicht mehr auf!«

So saß der Kaufmann eine Stunde lang. Da wurde es heiß; er saß eine zweite -da war es heißer; er saß eine dritte Stunde -da rann ihm der Schweiß am Körper herab. Müde wurde der Kaufmann und ganz erschöpft, kaum konnte er die Heugabel noch halten.

»He«, rief er von der Birke hinunter, »liebe Arbeiter, heute habt ihr genug gearbeitet. Geht schlafen!«



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Die Arme wurden ihm lahm, die Beine starben ab und er konnte sich gar nicht mehr rühren. Die Gabel entfiel ihm und blieb in den Zweigen hängen. Er wollte hinunterklettern und fiel -bums! — zur Erde. Ein Glück, daß ihn der Sack schützte, ein Glück, daß er siebenundsiebzig Kleider und den Schafpelz anhatte. Ein wenig freilich hat er sich weh getan, aber er hatte ja gelernt, wie man den Tag verlängert. Und so war es ihm recht, und den Arbeitern tat es wohl, und Lopscho-Pedun hat es noch weniger übelgenommen.


Der goldene Karpfen

In längst vergangenen Zeiten, als noch grausame Khane das Land regierten, lebte am Ufer des Meeres ein alter Mann mit seinem Sohne. Ihr Leben lang hatten sie Fische gefangen. Der Rücken des Alten war schon ganz krumm geworden von der schweren Arbeit, aber reich waren sie nicht dadurch geworden. Das einzige, was die beiden besaßen, war ein leckes Boot und ein zerrissenes Netz.

Doch der junge Fischer Tair ließ den Mut nicht sinken. Immer war er lustig und sang schöne Lieder; die Kunde von seinem Gesang ging durch die ganze Welt. Von weither kamen die Menschen, um ihn singen zu hören. Einst warf der Alte das Netz aus, und als er es wieder ans Land zog, zappelte darin ein goldener Karpfen. Er wunderte sich darüber und sagte zu seinem Sohn: »Hüte du den wunderbaren Fisch. Ich aber laufe schnell zum Khan und erzähle ihm von unserem Fang. Sicher wird er uns reich belohnen.«

Der Alte ging davon, Tair aber schaute sich gedankenvoll den goldenen Karpfen an, der sich in dem Netz gefangen hatte. Der prachtvolle Fisch tat ihm leid, und er warf ihn zurück ins Meer. Kaum war der goldene Karpfen in den Fluten verschwunden, da kam auch schon der Khan mit seinem großen Gefolge.

»Na, nun zeig mir mal den seltenen Fisch!«

Tair verneigte sich tief und sprach: »Der goldene Karpfen hat mir leid getan, deshalb habe ich ihn wieder ins Meer zurückgeworfen.«

»Du Lügner!« sagte da der Khan wütend zu dem Alten. »Glaubst du, du kannst deinen Spaß mit mir treiben? Gibt es denn überhaupt



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goldene Karpfen auf der Welt?«fragte er den Ersten Wesir, dessen mächtiger Bart bis zur Erde reichte.

»Ich bin schon über hundert Jahre alt, aber noch nie habe ich von einem solchen Wunder gehört«, erwiderte der weißbärtige Wesir. Der Alte mochte noch so oft beteuern, daß er den goldenen Karpfen tatsächlich gefangen hätte, er vermochte den erzürnten Khan nicht zu überzeugen. Der befahl seinen Dienern, zur Strafe den jungen Fischer zu fesseln und in dem lecken Kahn den Wellen preiszugeben.

Der Khan segelte zu seinem Schloß zurück, der verwaiste Vater aber lief ratlos am Strand hin und her, ohne seinem unglücklichen Sohn helfen zu können.

Doch wie erstaunt war Tair, als sein Boot nicht sank. Endlich tauchte in der Ferne eine einsame Insel auf, und ein paar kräftige Wellen trugen das Boot auf den Strand. Plötzlich trat hinter den Sträuchern ein Jüngling hervor, der genauso aussah wie Tair. Er löste Tairs Fesseln und gab ihm zu essen. Sie fischten zusammen, gingen gemeinsam auf die Jagd, teilten alles redlich miteinander und wurden bald gute Freunde.

Einst trafen sie einen alten Hirten, der eine große Hammelherde vor sich hertrieb. Die Freunde wunderten sich, denn sie hatten geglaubt, daß niemand außer ihnen auf der Insel wohnte.

»Drei Tagereisen von hier«, erzählte der Hirt, »liegen die Güter des allmächtigen Khans. Er ist sehr unglücklich, denn seine einzige, durch ihre Schönheit in aller Welt berühmte Tochter sprach seit ihrer Geburt noch kein einziges Wort. Der Khan hat im ganzen Land verkünden lassen, daß derjenige, der seine Tochter zum Sprechen bringt, seine größte Kostbarkeit zur Belohnung erhält; bleibt sie aber weiter stumm, dann wird der Tollkühne geköpft, der sich vermessen hat, sie heilen zu wollen. Viele Köpfe von jungen Helden sind schon gefallen, aber die Tochter des Khans ist noch immer stumm.«

Als sie das hörten, beschlossen die beiden Freunde, sogleich ihr Glück zu versuchen, und als sie das Schloß des Khans erreicht hatten, sagte der Jüngling zu Tair: »Bitte, laß mich zuerst den Versuch wagen. Gelingt es mir, die Tochter des Khans zu heilen, dann wollen wir uns die Belohnung teilen.«



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Tair war einverstanden, und der Jüngling ging ins Schloß. An der Tür begegneten ihm zwei Dienstmägde. Die eine sagte: »Viele mutige Jünglinge haben wie du versucht, unsere Herrin zu heilen. Jetzt zieren ihre Köpfe die Gitterstangen des Schloßzaunes. Dich erwartet das gleiche Schicksal.«

Der Jüngling lächelte, betrat furchtlos das Gemach der Prinzessin und sagte zu ihr: »O wunderbare Herrin! Laß mich erzählen: Wir waren drei Brüder. Einst schnitzte unser ältester Bruder einen Vogel aus Holz. Dieser Vogel war so kunstvoll gemacht, daß er zu leben schien. Der zweite Bruder sammelte im Wald schöne Federn und schmückte damit den Vogel. Dadurch wurde er noch viel prächtiger. Ich aber fand eine Zauberquelle und tauchte den Vogel in das klare Wasser. Da wurde er lebendig und sang. Von da an aber herrschte Unfriede zwischen uns; jeder behauptete, der Vogel gehöre ihm. Es ist kein Ende unseres Streites abzusehen. Darum habe ich beschlossen, zu dir zu reisen und dich um Rat zu fragen, o wunderbare Herrin!« Die Jungfrau zeigte stumm auf ihren Mund und schüttelte den Kopf. Da rief der Jüngling zornig: »Wenn ich deinetwegen sterben soll, so stirb auch du!« Er zog sein Schwert aus der Scheide. Die Jungfrau duckte sich und schrie angstvoll auf. Dabei entschlüpfte ihrem Mund eine Schlange, die wütend zischte. Doch der Jüngling zertrat sie.

Nun sagte die Tochter des Khans: »Nimm diesen Ring und geh zu meinem Vater! Er wird dich reich belohnen.«

Der Jüngling nahm den Ring und ging zu Tair. Als der Fischer seinen Freund sah, stürzte er ihm voller Freuden entgegen. Der Jüngling zog den Ring vom Finger und sagte: »Es wird Zeit, dir das Geheimnis zu offenbaren. Ich bin der goldene Karpfen, dem du aus Mitleid die Freiheit geschenkt hast. Nimm diesen Ring und geh zum Khan! Er erwartet dich. Solltest du jemals meine Hilfe brauchen, so komm ans Meer und rufe dreimal. Dann werde ich dir helfen.« Mit diesen Worten stürzte sich der Jüngling ins Meer und verschwand alsbald in der Tiefe. Der junge Fischer sah ihm lange nach. Dann ging er zum Khan. Der verneigte sich vor dem Jüngling bis zur Erde und sagte: »Zum Dank für deine Tat gebe ich dir meine größte Kostbarkeit - nimm meine Tochter zur Frau!«

Die Diener brachten dem Fischer schöne Seidengewänder, mit Gold



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und Edelsteinen reich bestickt, und am nächsten Tage wurde die Hochzeit gefeiert. Von nun an lebte der junge Fischer im Schloß. Doch bald schon merkte die Tochter des Khans, daß ihr Mann oft sehnsüchtig zum Meer hinausschaute. Da fragte sie ihn nach dem Grund seiner Sehnsucht, und er antwortete ihr: »Das goldene Schloß des Khans bedrückt mich. Meine Hände sind an Arbeit gewöhnt. Ich mag nicht mehr singen und habe an nichts mehr Freude. Fern, jenseits des Meeres, am Strand einer stillen Bucht, die mit leuchtendweißem Sand bedeckt ist, habe ich meine Kindertage zugebracht. Dort lebt mein lieber alter Vater. Ich bin traurig darüber, daß einmalfremde Menschen ihm die Augen schließen werden. Oh, würdest du dich entschließen, mit mir dorthin zu ziehen, so wäre ich der Glücklichste aller Menschen! Aber in meinem Heimatlande wärst du nicht mehr die Tochter des Kahns, sondern nur die Frau eines armen Fischers. Du müßtest Sorge und Not mit mir teilen.«

»Ich bin bereit!« antwortete seine Frau. »Aber wie kommen wir übers Meer? In unserem Land gibt es keine Schiffe.«

Der junge Fischer ging ans Meer, rief dreimal, und der goldene Karpfen kam ans Ufer geschwommen.

»Ich möchte gern in meine Heimat zurückkehren. Aber ich habe kein Schiff. Das Boot, in dem ich dereinst ankam, ist längst zerborsten.«

»Dir kann leicht geholfen werden«, antwortete der Karpfen. »Sobald es dunkel wird, schicke ich dir den größten Fisch der Erde. Befiehl ihm, seinen Rachen zu öffnen, und tritt furchtlos hinein. Am nächsten Morgen schon bist du daheim.«

»Und der Fisch wird uns nicht verschlucken?«

»Hab nur ja keine Angst! Selbst eine Kinderhand wäre für seine Kehle zu groß. Glück auf den Weg!«

Und bevor der junge Fischer noch Zeit fand, seinem Freunde zu danken, war der goldene Karpfen in die Meerestiefe verschwunden.

Sobald es dunkel wurde, rauschte das Meer auf, und ein riesiger Fisch kam ans Ufer geschwommen. Aus seiner Nase stieg eine Fontäne, und der Schwanz schlug voller Ungeduld die Wellen.

Die Tochter des Khans erschrak.

Aber ihr Mann beruhigte sie, nahm sie auf den Arm und trug sie in



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den Riesenrachen des Fisches. Sobald sie darin waren, schwamm der Fisch eilig mit ihnen übers Meer. Der junge Fischer aber und seine Frau schliefen ein, eingewiegt vom gleichmäßigen Rauschen der Wellen.

Am Morgen kam der wunderbare Fisch zu der stillen Bucht. Der junge Fischer wachte auf und erblickte seinen heimatlichen Strand und die halbzerfallene Hütte, auf deren Schwelle sein alter Vater saß. Tair stürzte sich in seine Arme, und der Alte, der den Sohn tot geglaubt hatte, weinte vor Freude.

»Weine nicht, Vater!« tröstete ihn Tair. »Wir beide, meine Frau und ich, sind jung und gesund. Bis ans Ende unserer Tage wollen wir für dich sorgen. Du bist schon alt, es wird Zeit, daß du dich ausruhst.«

Der Alte trocknete sich die Augen und küßte seinen Sohn.

So lebten sie denn alle drei in der alten Fischerhütte. Der junge Fischer hat seine seltsamen Abenteuer in einem Liede erzählt, und dieses Lied wird auch heute noch in Turkmenien gesungen.


Der Vogelzug

Vor langer, langer Zeit lebten die Vögel, die jeden Sommer zu uns kommen, das ganze Jahr über im Süden. Aber in den Sommermonaten wurde dort die Hitze für sie schier unerträglich. Darum versammelten sich die Vögel eines Tages und überlegten hin und her, was sie tun könnten. Schließlich sprach einer von ihnen:

»Wir alle wissen, daß es im Sommer hier immer sehr heiß wird. Unsere Eier verfaulen in der Hitze, und wir können uns nicht vermehren. Wir möchten aber, daß die Zahl unserer Kinder größer wird. Drum sollten wir zum Sommer in andere Länder ziehen.«

»Das ist richtig«, antwortete ein anderer Vogel. »Aber wir sollten erst mal einen Kundschafter ausschicken, damit er Umschau hält und für uns woanders einen guten Platz erkundet.«

Alle Vögel waren damit einverstanden, und sie bestimmten den Kranich zu ihrem Kundschafter. Er war als klug und vorsichtig bekannt, konnte gut fliegen und dank seiner langen Beine auch gut laufen. Der Kranich sollte durch den Westen, den Norden und den



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Osten fliegen und in drei Jahren zurück sein. Er fühlte sich auch sehr geehrt und machte sich sogleich auf den Weg.

Kaum aber war der Kranich fortgeflogen, machte der Krickenterich der Kranichfrau den Hof. Der Krickenterich war der schönste von allen Vögeln. Er hatte glänzende, leuchtendgrüne Federn und übertraf alle anderen an Beweglichkeit und Fröhlichkeit. Die Kranichfrau fand Gefallen an dem Enterich und lebte mit ihm in Saus und Braus; und es dauerte nicht lange, da zog der Enterich zu der Kranichfrau ins Nest.

Als aber die drei Jahre um waren, kam eines Nachts der Kranich zurück. Der Enterich sah ihn kommen und versteckte sich schnell unter dem Nest.

Der Kranich setzte sich zu seiner Frau und begann sogleich zu erzählen: »Im Norden habe ich wunderbare, große Plätze gefunden, wo es reichlich Nahrung gibt. Dort können wir viele Junge ausbrüten. Wenn aber morgen alle Vögel zusammenkommen, werde ich nichts davon erzählen. Ich bin doch kein Dummkopf! Ich werde ihnen sagen, daß wir im Norden gar nicht leben können. Dann fliegen wir beide allein dorthin und leben herrlich und in Freuden. Niemand wird kommen und uns stören.«

»Krick! Krick!« rief da der Enterich, kam unter dem Nest hervor und flog eilig davon.

»Nanu, was war das?«fragte der Kranich seine Frau.

»Ach, lieber Mann«, antwortete die Kranichfrau, »es ist hier schon lange nicht mehr recht geheuer. Seit du fort warst, habe ich keine Nacht Ruhe gehabt. Immer war etwas los. Es pfiff oder sang, lachte oder weinte hier. Schlimm war das!«

»Ja, ja, das mag wohl sein«, sagte der Kranich. »Ich will doch einmal nachsehen.« Der Krickenterich aber hatte sich schon längst aus dem Staube gemacht. Er war geradenwegs zu der kleinen funken Bogorgono-Ente geflogen. Die war eine Verwandte des Krickenterichs und durch ihre Geschwätzigkeit überall bekannt.

»Weißt du schon? Der Kranich ist zurück!« platzte der Enterich heraus.

»Na, und weiter . . . ?«fragte die kleine Ente.

»Er will unser ganzes Vogelgeschlecht verderben«, sagte der Krickenterich gewichtig.



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»Das glaube ich dir nicht«, entgegnete die Bogorgono-Ente gelassen.

»Ein so kluger und ehrbarer Vogel wie der Kranich tut so etwas nicht!«

»Es ist aber doch so«, rief der Enterich. »Hör mich nur an! Eben belauschte ich heimlich, was der Kranich seiner Frau erzählt hat. Er lobte den Norden, sprach von großen, freien Plätzen und viel Nahrung. Aber morgen, wenn wir alle versammelt sind, will er nur Schlechtes über den Norden sagen, damit er mit der Kranichfrau allein dorthin fliegen kann.«

»Nun sieh einer diesen Halunken an«, rief da die kleine Ente empört. »Aber laß mich nur machen. Ich bin sowieso nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er sich immer vor den andern über meine kurzen Beine lustig macht.«

Am nächsten Tag kamen alle Vögel zusammen, große und kleine.

Alle wollten sie hören, was der Kranich zu berichten hatte.

Der Kranich begann:

»Ich war im Westen, im Osten und im Norden, wie ihr es mich geheißen habt. Im Westen und Osten ist es genauso wie hier. Und an Nahrung fehlt es auch. Im Norden ist es aber schrecklich kalt. Immer ist Winter dort, und meist liegt über den Ländern ein dichter Nebelschleier. Pflanzen gibt es auch keine, aber riesige Raubvögel mit Schnäbeln und Krallen wie Sensen so scharf. Diese Vögel sind grausam und dermaßen gefräßig, daß ihr es euch gar nicht vorstellen könnt. Wenn wir dorthin fliegen, kommt keiner von uns lebend zurück. Ich bin froh, daß es mir gelungen ist, wieder heil zu euch zu kommen.«

»Wie hast du es nur angestellt, daß dich die gefräßigen Vögel nicht verschluckt haben?«fragte plötzlich die Bogorgono-Ente.

Der Kranich sah die kleine Ente ganz wütend an. Diese aber redete ruhig weiter:

»Vögel, glaubt ihm nicht! Er lügt! Seiner Frau hat er in der letzten Nacht etwas ganz anderes erzählt. Er will nur nicht, daß wir alle dorthin fliegen. Er will die großen Plätze und das viele Futter ganz für sich allein und die Kranichfrau haben. Viele Junge soll die Kranichfrau ausbrüten, und wir können hier ruhig des Hungers sterben. Glaubt mir, ich weiß es ganz genau, daß er lügt.«

»Wie kannst du es wagen, du Kurzbeinige du, vor allen meinen



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Freunden so etwas zu behaupten?« schrie der Kranich mit schriller Stimme. Voller Wut sprang er von seinem Platz auf und stürzte sich auf die Ente. Ehe die Vögel sich's versahen, hatte der große Kranich die kleine Bogorgono schon halbtot geschlagen. Und ganz sicher hätte er sie völlig umgebracht, wenn die versammelten Vögel die kleine Ente nicht gerettet hätten.

Da sagen die Vögel zum Kranich:

»Wir sind sehr unzufrieden mit dir. Warum hast du das getan? Wie konntest du, den wir für so klug und ehrbar hielten, ein so kleines Tier wie unsere Bogorgono fast totschlagen? Schäme dich! Wir haben jetzt kein Vertrauen mehr zu dir.«

Beschämt und böse ging der Kranich von dannen. Die Vögel aber sprachen noch lange über das, was geschehen war. »Sicherlich hat der Kranich gelogen«, sagten sie, »denn sonst wäre er nicht so zornig auf die kleine Ente geworden.«

Die Vogelversammlung wählte einen anderen Kundschafter. Diesmal sollte es der kühne Adler sein, der Beherrscher der Lüfte. Weil er nur den Norden besuchen sollte, bekam er ein Jahr Zeit. Dem Kranich aber wurde befohlen, für die kleine Bogorgono-Ente so lange zu sorgen, bis sie wieder gesund wäre. Der Adler flog gen Norden und kehrte genau nach einem Jahr zurück.

Wieder versammelten sich die Vögel. Und der Adler erzählte ihnen, daß es im Norden herrliche große Plätze gäbe. Große gefräßige Vögel hätte er nicht gesehen.

Als die Vögel das hörten, wollten sie keine Zeit mehr verlieren und rüsteten sich sogleich für den Flug nach Norden. Schnell waren sie mit den Vorbereitungen fertig, und die Reise konnte beginnen. Da aber humpelte die kleine Bogorgono-Ente heran und sagte weinend: »Ich möchte noch schnell mit euch sprechen, denn ihr wißt ja, wie der Kranich nach seiner Heimkehr im vorigen Jahr über mich hergefallen ist. Und ihr wißt doch genau, daß ich ganz unschuldig war und nur die reine Wahrheit gesagt habe. Nun wollt ihr davonfliegen. Was soll aber aus mir und meinen Kinderchen werden? Ich bin immer noch krank, und wenn ihr nicht mehr da seid und mir keiner von euch mehr helfen kann, muß ich jämmerlich sterben.« »Recht hat sie«, riefen die Vögel. »Sie ist noch krank. Sicher wird sie umkommen, wenn sie uns nicht mehr hat. Das aber dürfen wir



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nicht zulassen. Der Kranich ist schuld an allem. Er soll als Strafe für alle Zeiten die Bogorgono-Ente auf seinem Rücken tragen, wenn wir gen Norden fliegen. Aber auch wenn wir vom Norden zurückkommen, muß er sie wieder mitnehmen.«

Von jenem Tage an trägt der Kranich die Bogorgono-Ente auf seinem Rücken, wenn die Vögel gen Norden ziehen. Doch wird die Ente dem Kranich auf dem langen Fluge sehr schwer, deshalb fliegt er nur selten bis in den hohen Norden hinauf.


Der Wolf, der Hund und der Kater

Ein Bauer hatte einen Hund. Solange dieser jung war, bewachte er das Haus; aber als er alt wurde, jagte sein Herr ihn vom Hof. Da streunte er durchs weite Feld, fing Mäuse und fraß, was ihm sonst gerade vors Maul kam. Eines Nachts begegnete ihm der Wolf.

»Guten Tag, Bruder Hund!« begrüßte ihn der Wolf.

»Was machst du denn?«

»Ach, als ich jung war, hatte mein Herr mich sehr gern, weil ich den Hof bewachte; aber jetzt, da ich alt geworden bin, hat er mich davongejagt!«

Da packte Mitleid den Wolf.

»Du wirst Hunger haben, wie?«

»Ja«, sagte der Hund, und der Wolf redete weiter: »Komm, wir wollen zusammengehen, ich werde dich schon durchfüttern.« Sie zogen zusammen los. Und als sie eine Weile gegangen waren, sah der Wolf Schafe auf einer Wiese.

»Geh und sieh, was da weidet!«

Der Hund ging, besah sich das Vieh, kam wieder und sagte: »Es sind Schafe.«

»Hol sie der Kuckuck! Wir werden nur in Wolle beißen; sie haben zu wenig Fleisch an den Knochen, das macht uns nicht satt. Komm weiter!

Sie gingen wieder ein Stück, und der Wolf erkannte eine Herde Gänse.

»Geh«, sagte er, »und sieh, was da weidet!«

Und der Hund lief, schaute nach und sprach: »Es sind Gänse.«



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»Hol sie der Kuckuck! Wir kriegen das Maul voll Federn, aber kein Fleisch in den Magen. Komm weiter!«

So gingen sie weiter, der Wolf blickte umher und sah ein Pferd auf der Weide.

»Geh«, sagte er wieder, »und sieh, was da weidet!«

Der Hund sah nach und sagte: »Es ist ein Pferd.«

»Nun, das soll uns schmecken!«

Sie gingen auf das Pferd los, der Wolf scharrte die Erde aus, biß in den Rasen, um sich in Zorn zu bringen, und rief: »Sieh her, hab acht auf meinen Schwanz: Zittert er schon?«

Der Hund besah ihn und sagte: »Ja, er zittert schon.«

»Und tränen nicht auch meine Augen?«

»Ja, sie tränen.«

Da stürzte sich der Wolf auf das Pferd, packte es bei der Mähne und zerfleischte es. Dann fingen sie beide an zu fressen. Der Wolf war noch jung und konnte schnell schlingen, aber der alte Hund -bap! —bap! —, für ihn blieb so gut wie nichts! Zuletzt liefen auch noch andere Hunde herbei und verdrängten ihn völlig.

Da ging unser Hund nun traurig seiner Wege. Bald aber begegnete ihm ein Kater. Der war genauso alt wie er selber. Er lief über die Felder und fing Mäuse.

»Guten Tag, Freund Kater! Wohin des Weges?«

»Ach, ich gehe immer der Nase nach. Als ich noch jung war, fing ich für meinen Herrn Mäuse; aber als ich alt wurde und nur schlecht sah, schaffte ich's nicht mehr; da jagte er mich weg. Nun strolche ich herum.«

»So komm mit, Katerchen! Ich werde dich füttern!«

Der Hund wollte es nämlich auch so machen wie der Wolf!

Sie gingen zu zweit ihres Wegs.

Da sah der Hund die Schafe und schickte den Kater hin: »Lauf, Katerchen, guck einmal, was da weidet!«

Der Kater lief, guckte und sprach: »Es sind Schafe!«

»Ach, der Kuckuck soll sie holen! Wir kriegen nur das Maul voller Wolle, aber kein Fleisch in den Magen. Ziehen wir weiter!«

So gingen sie weiter, und der Hund sah die Gänse: »Geh«, sprach er, »und guck, was da weidet!«

Der Kater lief, guckte und sprach: »Es sind Gänse!«



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»Hol sie der Kuckuck! Da kriegt man vor lauter Federn kein Fleisch in den Schlund!«

Schließlich aber erblickte der Hund ein Pferd.

»Lauf, Brüderchen«, sprach er zum Kater, »und sieh, was da weidet!«

Der Kater ging, sah sich um und sagte: »Es ist ein Pferd!«

»Nun«, sprach der Hund, »das soll uns schmecken, das wollen wir fressen.«

Er biß in die Erde, um in Zorn zu kommen, und rief: »Schau her,

Kater, sieh auf meinen Schwanz, zittert er schon?«

»Nein«, sprach der Kater, »er zittert nicht.«

Wieder scharrte der Hund in der Erde und fragte noch einmal: »Zittert er jetzt? Nun sag schon, daß er zittert!«

Der Kater guckte und sprach: »Ein bißchen fängt er an.«

»Ha-den Teufeisgaul werde ich zerfleischen!«rief der Hund. Dann kratzte er noch einmal im Grase herum und fragte: »Nun, Kater, guck: Tränen meine Augen?«

Aber der Kater sagte: »Nein, sie tränen nicht.«

»Ach, du schwindelst! Sag schon, daß sie tränen!«

»Meinetwegen, sollen sie tränen«, sagte der Kater. Da stürzte sich der Hund wie wild auf das Pferd; aber das war nicht faul und versetzte ihm eins mit dem Huf auf den Schädel. Er streckte gleich alle viere von sich, und die Augen quollen ihm aus den Kopfe. Da rannte der Kater herzu und rief: »Ach, ach, Bruderherz, jetzt tränen deine Augen richtig!«


Die Nachbarn

Einmal zog ein Mann über die Straße von Tobolsk nach Kjachta, wo er Geschäfte abzuwickeln hatte; er ging zu Fuß, weil er wenig besaß und die tagelangen Schlittenfahrten, die er hinter sich hatte, seinem Geldbeutel nicht gut bekamen. Es war Mittagszeit, die Sonne brannte heiß, und der Schnee unter seinen Füßen wurde weich. Auf dem gefrorenen Flusse, den er zu überschreiten hatte, rieselten Bächlein und bildeten sich Spalten, so daß der Marsch recht ermüdend war. Er machte deshalb früher Rast, als er beabsichtigt hatte,



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setzte sich auf einen Stein und untersuchte seine Reisetasche nach etwas Eßbarem. Er fand nichts weiter als trockenes Brot, doch es mundete dem Wanderer ganz vortrefflich, nur hätte er gern etwas dazu getrunken. Auch konnte er sich nicht völlig satt essen, denn sein kleiner Vorrat sollte noch für viele Tage reichen. Er packte daher, als es ihm am besten schmeckte, nicht ohne einen leisen Seufzer alles wieder ein; und als er sich eben anschickte weiterzugehen, entdeckte er am Boden ein Ei von rötlicher Farbe, mit goldglänzenden Punkten. Er hielt es gegen das Licht, und da es ihm frisch schien, schlug er es auf und verzehrte es. Es war sehr schmackhaft und gab dem Ermüdeten eine wunderbare Kraft. Frohgemut schritt er weiter. Kein Haus war weit und breit zu sehen. Die große, nur selten wellig anschwellende Ebene mit ihren hier und da zerstreuten Bäumen war sehr einsam. Nicht das leiseste Geräusch unterbrach die tiefe Stille.

»Wie weit mag's wohl zum nächsten Dorfe sein?«sagte der Wanderer vor sich hin, als langsam die Dämmerung hereinbrach.

»Eine Stunde noch, und wir sind am Ziel«, sprach da ganz deutlich eine Stimme.

Während der Mann sich verwundert umschaute, ohne jedoch jemanden zusehen, fuhr dieselbe Stimme fort: »Verlaß dich auf mich, ich kenne den Weg!«

Jetzt merkte er, daß die Stimme von oben kam, und wie er den Kopf hob, sah er zwei Krähen über seinem Haupte fliegen.

»Seltsam«, murmelte er und folgte der Richtung ihres Fluges.

Mit der Dunkelheit erreichte er ein Gehöft. Schon von weitem hörte er die Hunde bellen, und als er sich näherte, vernahm er die Worte:

»Tritt nicht hier ein! Oh, er ist geizig, unser Herr; er verweigert dir die Lagerstatt und reicht dir keine Scheibe Brot!«

Da merkte der Wanderer, daß er die Sprache der Tiere verstand. Trotz ihrer Mahnung ging er auf die Tür des Hauses zu. Da wieherte ein Pferd im Stall, und er verstand: »Geh nicht hinein! Er ist sehr reich und geizig, unser Herr. Oh, wie er mich schindet und mich hungern läßt!«Eine Henne aber, die oberhalb der Krippe auf einer Stange saß und von der Rede des Pferdes und dem eigenen knurrenden Magen erwachte, rief: »Oh, wie mich hungert! Oh, wie mich



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hungert! Nichts ist im Kropf, und ich lege doch die schönsten Eier! Geh, Fremdling, laß es dir raten! Er ist geizig, unser Herr. Er gibt dir nichts und nimmt dir alles.«

Da wandte sich der Fremdling ab von der Tür des ungastlichen Hauses und setzte seine Wanderung fort. Nicht lange danach drang wieder Hundegebell an sein Ohr, und ein schwacher Lichtschimmer verkündete die Nähe einer Hütte. Bald verstand er das Bellen der Hunde:

»Sei willkommen, Fremdling! Unser Herr ist arm, aber gut. Er gibt dir eine Lagerstatt und teilt sein Mahl mit dir!«

Da zögerte der Fremde nicht lange, er klopfte an die Tür und begehrte Einlaß.

Ein ärmlich gekleideter Mann mit sorgenvollen, ernsten Zügen kam ihm entgegen und führte ihn in das einzige Gemach. Es enthielt nur spärliches Gerät, aber ein lustiges Feuer brannte auf dem Herde und verbreitete mit dem Rauch zugleich eine behagliche Wärme. Der arme Mann bediente den Gast gar freundlich; er half ihm das schwere Reisegepäck ablegen, gab ihm Wasser, damit er sich waschen könne, und bot ihm die Pfeife, die er selbst eben geraucht, nachdem er das Mundstück sorglich gereinigt hatte. Dann setzte er eine Schüssel auf den ungedeckten Tisch, hob ein Kesselchen vom Feuer, und nachdem er mit einer Kelle von seinem Inhalt reichlich ins Feuer gegossen hatte, leerte er es in die Schüssel. Ein Teller wurde herbeigeholt, der einzige, den er besaß; diesen stellte er vor den Fremden.

»Nimm vorlieb«, sagte er und schöpfte die Hälfte der Wassersuppe dem Gast ein; er selber schlürfte aus der Schüssel. »Oh«, sagte er nach dem ersten Schluck, »verzeih, Fremdling. Ich vergaß —Gesellschaft macht den Tag zum Feiertage«, dabei langte er von einem Brett an der Wand ein altes Brot herunter, schnitt zwei Stücke davon ab, reichte eins dem Gast hin, und schaute so vergnügt drein wie ein Kind, das ganz unerwartet Kuchen erhalten hat. Er brach von seinem Brot die Hälfte, bröckelte diese in kleine Stücke und warf sie vor und während der Mahlzeit ins Feuer.

»Warum tust du das?«fragte der Gast.

Der arme Mann sah ihn verwundert an, dann sagte er: »Du bist ein Fremdling, wie ich sehe. Ich opfere dem Herdgeist, der in meinem



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Feuer wohnt und diese Hütte schon vor Krankheit beschützte, als mein Vater noch lebte.«

Der Fremde blickte ins Feuer, und vermöge der ihm gewordenen Wunderkraft sah er, was sonst den Sterblichen zu sehen versagt ist. Ein kleines Männlein mit einem Gesichtchen, rund und rotwangig wie ein Sommerapfel, hockte vergnüglich auf der Asche und verzehrte das Brot. »Es geht ihm besser als dir«, bemerkte der Fremdling, die eingefallenen Backen seines Wirtes betrachtend.

»Pst!« machte der Arme und legte verweisend den Finger auf den Mund. »Ich habe viel Unglück gehabt«, fuhr er nach einer Weile fort. »Meinem Vater gehörten die Felder auf Meilen im Umkreise, jetzt besitze ich nur noch sehr wenig Ackergrund und nur zwei Rentiere.« «

»Und wie kommt das?«fragte teilnehmend der Fremde.

»Ach, das ist eine böse Geschichte«, sagte der Arme traurig. »Ich habe einen reichen Nachbarn, der hat mir alles genommen.«

»Wie kommt das? Habt ihr keine Gerichte?«fragte der Fremde erstaunt.

»Gerade mit Hilfe der Gerichte hat er's getan«, erzählte der Arme weiter. »Seine Rentiere waren elend und hungrig und kamen zu mir, um sich Futter zu holen; mich dauerten die armen Tiere, und ich sorgte für sie wie für meine eigenen. Da starben sechs der elenden Geschöpfe, die er mißhandelt hatte, und er verklagte mich, daß ich sie vergiftet hätte. Ich weiß nicht, wie es kam, ihm wurde recht gegeben, und ich mußte ihm den Schaden ums Zehnfache ersetzen. Mein Mitleid aber läßt sich nicht ersticken. Seine Hofhunde kamen dann und wann zu mir geschlichen, und ich machte sie satt. Da starben auch sie, und die Anklage wiederholte sich. Nun büßte ich einen großen Teil meines Ackers ein. Und doch! —als er verreist war und seine Pferde hungerten, bin ich heimlich in den Stall eingedrungen und habe ihnen die Krippe gefüllt. Ich mußte gleich darauf über Land, und die Pferde sind verhungert. Er aber verklagte mich. Meine Beteuerungen, daß ich unschuldig sei, halfen nichts, und nun bin ich ein armer Mann, er aber ist um so viel reicher. Das täte alles nichts«, fuhr der Arme nach einer kleinen Pause fort, »wär's nicht um mein einzig Kind, die Burja. Diese habe ich fortschicken müssen in fremder Leute Dienst, damit sie sich selbst durchs Leben schlägt.«



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Bei diesen Worten rannen ihm die hellen Tränen über die gefurchten Wangen.

Beide Männer schwiegen; endlich erhob sich der Arme und richtete in einer Ecke des Zimmers aus Fellen und Decken ein Lager. Da tat sich leise die Tür auf, und der Fremde sah, wie ein Männlein hereinhuschte. Seine Wangen waren hohl, die Beine und Arme spindeldürr und das ganze winzige Geschöpfchen von zerbrechlicher Magerkeit. Es sprang in das Herdfeuer und setzte sich zu dem immer noch schmausenden Herdgeist.

»Dir geht's gut«, redete es ihn an, »und dein Herr, der Chatango, ist doch so ein armer Mann. Gib mir zu essen, ich vergehe vor Hunger!«

Gutmütig reichte ihm der Herdgeist, was er noch übrig hatte. Gierig stürzte sich der Kleine darüber her und redete nicht ein Wort, während er aß. Als er fertig war, schnitt er ein grimmiges Gesicht und hub an:

»Meine Geduld ist zu Ende! Nur Ungenießbares opfert mir der reiche Tschito, und auch das nur selten. Heute nacht will ich ihm das Haus überm Kopf anzünden.«

Er erhob sich, ballte drohend die Faust und verließ das Gemach. Der Fremde überlegte, wie er die Gewalttat des Herdgeistes verhindern könnte. Vor allen Dingen beschloß er, Chatango, seinem Wirte, nichts davon zu sagen, damit sein Erscheinen im Hause des Reichen nicht etwa Gelegenheit zu neuer Anklage ergäbe.

Er ließ daher Chatango sich niederlegen, suchte auch selber sein Lager auf und erhob sich erst wieder, als die ruhigen Atemzüge des Armen Kunde von dessen festem Schlaf gaben. Das Herdfeuer, in das Chatango eine Anzahl Holzscheite geworfen hatte, damit es nur ja nicht erlösche, flackerte unruhig hin und her, und der Herdgeist ging nachdenklich mit über der Brust gekreuzten Armen auf und nieder. Nun wollte der Fremde sich hinausschleichen, um den reichen Tschito zu warnen. Doch während er die Haustür öffnete, warf ein heftiger Windstoß sie wieder zu, und jeder erneute Versuch, ins Freie zu gelangen, schlug aus der gleichen Ursache fehl. Ein furchtbares Unwetter tobte draußen; der Sturm heulte, als ob er Welten zerstören wollte; hielt er ein wenig inne, so stürzte wolkenbruchartiger Regen mit lautem Getöse hernieder.



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>Das wird ihn retten!< sagte der Fremde für sich.

Der Herdgeist aber wurde immer unruhiger; sein sonst so freundliches Gesicht zeigte ernste Falten, und schwere Seufzer hoben seine Brust. »Armer Chatango!« stöhnte er. »Guter, armer Chatango!«

Der gute, arme Chatango schlief die ganze Nacht über so fest, daß er von all dem Aufruhr in der Natur nichts vernahm, während der Fremde, dem Herdgeist gleich, sich in angstvoller Sorge verzehrte und erst früh gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer fiel. Daraus schreckte ihn gar bald eine zornige Stimme auf, die unter heftigem Pochen sich an der Tür also vernehmen ließ:

»Offne, Chatango, du Schurke, und stehe mir Rede; öffne, du Hund! Nur ja keine Verstellung, du Bube!« Chatango rieb sich die Augen.

»Was gibt's denn wieder, Tschito?« rief er und legte Holz auf das nur noch matt brennende Feuer. »Ich habe weder deine Pferde noch Hühner gefüttert!«

Der Wütende draußen stieß mit den Füßen gegen die Tür und wäre wohl beinahe auf die Nase gefallen, als Chatango den Riegel zurückschob. Er stolperte in den weiten Raum und gewahrte den Fremden nicht, der halb angekleidet auf seinem Lager saß. Er stürzte sich auf Chatango, packte ihn an der Gurgel und schüttelte ihn hin und her.

»Schurke!«brüllte er. »Du hast mir das Haus angezündet, Elender, während ich schlief; fast wäre ich verbrannt!«

»Wärst du's nur!«sagte der Herdgeist, der trübselig in seinem Feuer saß.

»Diesmal, du gottloser Brandstifter, kommst du nicht so leichten Kaufs davon, so wahr ich Tschito heiße!«

Chatango erblaßte und machte sich frei von seinem Gegner, der kleiner und schmächtiger war als er; dann aber sanken seine Arme schlaff hernieder und er stammelte:

»Dein Haus ist verbrannt? Weiß Gott, ich bin unschuldig!«

»Oh, du Nichtswürdiger!« schrie der andere. »Heute noch reite ich zu den Ältesten und entbiete sie zu Gericht zu unserem Priester, da werden wir sehen . .

»... daß Chatango unschuldig ist!« ergänzte der Fremde und trat zwischen den Reichen und den Armen.



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Tschitos hartes Gesicht verzog sich erstaunt und verdrießlich. »Wer bist du, und was weißt du?«fragte er zweifelnd.

»Ich bin Chatangos Gast und weiß, daß er die ganze Nacht hindurch auf seinem Lager geschlafen hat . . .« ».

. . und sich hinausgeschlichen und das Teufelswerk vollbracht hat, als du schliefst!« höhnte der Reiche.

»Ich habe gewacht«, erklärte der Fremde, »weil ich dich retten wollte.«

»Du wußtest?«fragten der Arme und der Reiche zugleich.

»Ja, ich wußte«, bestätigte der Fremde, »daß dein Herdgeist, habgieriger Tschito, dem du nur Ungenießbares opferst, dir dein Haus über dem Kopf anzünden wollte.«

»Bist du ein Schamane, daß du die Sprache der Geister verstehst?« forschte der Reiche ängstlich.

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Wer sind die Schamanen?«fragte er.

»Unsere Propheten und Zauberer«, entgegnete Tschito und fügte voller Erleichterung noch hinzu: »Oh, ich sehe, daß du ein Fremdling bist.«

»Das bin ich«, bestätigte der Gast, »aber ich verstehe mich auf die Sprache der Geister und der Tiere.«

»Das müßte seltsam zugehen!«höhnte der Reiche. »Komm mit mir hinaus und sage mir, was reden denn da die Krähen?« Er deutete auf eine Krähenschar, die krächzend vorüberzog.

Alle drei traten ins Freie; wie ein blutroter Ball schwebte die Sonne knapp eine Handbreit über dem Horizont.

Der Fremde horchte.

»Sie sagen«, erklärte er, »schnell, schnell zum Selvaberg, der Sohn des Reichen wird heute gehenkt!«

Da erblaßte Tschito, und seine Knie schlotterten. Er hatte einen einzigen Sohn, Jakub, den hatte er verstoßen, weil er sich nicht in des Vaters Untaten fügte. »Ei, siehe, wie du lügst!«sprach Tschito unter heftigem Herzklopfen. »Komm! Wir reiten den Krähen nach, damit ich dich überführe.«

So geschah's auch; und richtig, die Krähen flogen zum Selvaberg, und dem Reichen stockte vor Angst schier das Blut in den Adern. Eine große Volksmenge hatte sich auf dem Berg versammelt.



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»Wen werden die Russen strafen?«fragte Tschito.

»Seht selbst, da kommt er!« lautete die Antwort, und während Tschito angstvoll nach dem Verbrecher ausschaute, sagte ein anderer Nachbar: »Den Barabi, des reichen Turuch Sohn.«

Da schlug Tschitos Stimmung in grenzenlosen Übermut um. »Ich sehe, daß du sehr weise bist«, wandte er sich an den Fremden, »aber die Hütte des Chatango und sein Feld und Vieh bekomme ich doch, und er soll ins Gefängnis, so wahr ich Tschito heiße.«

»Aber ich werde wider dich zeugen«, erwiderte der Fremde, »und glaubt man mir nicht, so gebe ich Beweise meiner Kunst.«

»Sehr schön!« versetzte Tschito und blinzelte den Fremden spöttisch an. »Aber die Aussagen von Fremden gelten nicht, wo wir Einheimischen zu Gericht sitzen.« Das alles wurde auf dem Heimritt gesprochen, denn kaum hatte Tschito sich überzeugt, daß sein Sohn nicht der Unglückliche sei, da war er mit dem Fremden aufgebrochen.

Tschito siegte. Unter einer alten Eiche, die einsam auf weitem Felde stand, versammelten sich die Priester und Ältesten aller Ortschaften, die auf vier Meilen in der Runde lagen. Chatango wurde der Brandstiftung schuldig und all seiner Habe und seines Gutes verlustig erklärt, das dem geschädigten Tschito zugesprochen ward, daneben verdammt, den Russen übergeben zu werden, um sein Verbrechen im Kerker zu büßen. Vergeblich bezeugte der Fremde die Unschuld des Armen und erzählte, was er erlebt hatte; eines Fremden Wort galt nichts bei diesen Gerichten.

Traurig hockte der Herdgeist in seinem Feuer, als Chatango es zum letztenmal schürte und nährte; traurig packte der Fremde sein Bündel, um seine Reise fortzusetzen.

»Wer sagt's nur der Burja«, fragte da der Herdgeist, »der armen Burja, die mit Jakub, dem Sohne Tschitos, beim Barkusin dient? Ach, ihr wird wohl das Herz brechen!«

Da beschloß der Fremde, Burja aufzusuchen und ihr vom Schicksal des Vaters zu berichten. Der Weg war weit, aber da er die Sprache der Tiere verstand, die inniger mit den Menschen leben und über die Menschen sprechen, als wir ahnen und denken, fand er ihn leicht. Vor Barkusins Hütte stand ein kräftiger, stämmiger Bursche, der einen Wagen putzte.



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»Ist Burja daheim?«fragte der Fremde.

»Ja, Herr!« erwiderte der Bursche und wurde dunkelrot. »Sie sitzt drinnen und spinnt.« Der Fremde trat in die Hütte. Barkusin, der Hausherr, saß am Tisch und flickte ein Netz; neben seinem Weibe, das ein Kind auf den Knien schaukelte, saß Burja und spann. »Burja, ich bringe dir Nachricht vom Vater«, begann der Fremde und erzählte nach und nach, was geschehen.

Da riß der Faden in Burjas Händen, und Tränen strömten über ihre Wangen.

»Törichte Dirne!«schalt Barkusin; aber es war nicht böse gemeint, und sein Weib schluchzte heftig.

Burja faßte sich schnell. »Ich bin ein törichtes Weib!« rief sie und sprang auf. »Barkusin, laß mich ziehen, ich muß den Vater befreien!«

»Wie aber?« wollte Barkusin wissen.

»Das bedenke ich mir unterwegs«, sagte Burja, machte sich reisefertig und verließ gleich darauf mit dem Fremden die Hütte.

Jakub schaute ihr lange nach und begann dann heftig zu schluchzen, denn er hatte alles gehört, liebte Burja und war doch Tschitos Sohn.

»Wo wollen wir hin?«fragte der Fremde das Mädchen.

»Zur Hütte meines Vaters, die jetzt der arge Tschito bewohnt«, erwiderte sie.

Aber des Fremden Reise hatte sich schon zu sehr verzögert; er mußte nun endlich nach Kjachta eilen, wenn er nicht allzu große Verluste erleiden wollte. Er teilte das Burja mit, als er sie eine Tagereise weit begleitet hatte, und beide setzten sich auf einen Hügel, um die letzte Mahlzeit miteinander einzunehmen. Sie waren recht schweigsam und schauten beide auf, als zwei Raben dicht über ihren Köpfen dahinflogen. Der eine trug etwas Weißes in seinem Schnabel, und der andere krächzte; der Fremde aber vernahm die Worte:

»Ich habe mein Ei am Fluß verloren!«

Da nun lauschte der Fremde nicht weiter; er sprang auf und lief davon. Die erstaunte Burja verfolgte ihn ängstlich mit den Augen und sah ihn bald wieder zurückkehren, völlig erhitzt vom Laufen, doch höchst freudig erregt.

Er reichte Burja ein Ei und gebot ihr, dieses zu essen. Sie gehorchte und fühlte sich alsbald von nie gekannter Kraft beseelt. Jetzt hieß



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der Fremde sie niedersitzen und legte den Finger auf den Mund. Eine Schar Enten flog vorüber.

»Oho!« rief Burja und sprang auf.

»Was gibt's?«fragte der Fremde.

»Ei nun«, sagte Burja lachend, »mir war's, als erzähle die eine Ente, sie habe des geizigen Tschitos Herdgeist gesehen.«

»Du hast recht gehört«, sprach der Fremde vergnügt, »nun kann ich in Ruhe ziehen, denn du kannst die Sprache der Tiere und Herdgeister verstehen.«

Die Reisegenossen schieden voneinander, und Burja ging mit neuem Mut und neuer Kraft vorwärts. Nur wenige Schritte trennten sie noch von der Hütte ihres Vaters, da erblickte sie ein kleines, jämmerlich aussehendes Männlein, das an allen Gliedern zitterte und kläglich stöhnte.

»Wer bist du?«fragte sie.

»Ach«, erwiderte das Männlein. »Ich war der Herdgeist des Tschito und habe meine Heimstätte verloren.«

»Komm mit mir!« antwortete sie. »Ich werde schon ein Obdach für dich finden.«

Sie setzten sich beide auf die Bank, die vor der Hütte stand, und Burja holte ein grobes Tuch hervor und begann emsig zu nähen. Nicht lange darauf kam Tschito vom Felde heim und fand Burja, die er aber nicht kannte, denn sie war ihm nur selten begegnet; sie hatte sich auch in den zwei Jahren Abwesenheit sehr verändert. Der Herdgeist, den Tschito nicht sehen konnte, wollte sich entfernen, doch Burja gab ihm ein Zeichen, daß er bleibe. Da rutschte er fröstelnd und häßliche Grimassen schneidend zur äußersten Kante der Bank.

»Was machst du hier?«fragte Tschito rauh und sah Burja nicht gerade freundlich an.

»Ich ruhe mich aus«, entgegnete Burja, ohne aufzuschauen und ließ die Arbeit auch nicht einen Augenblick ruhen.

»Das nennst du ausruhen?«fragte er weiter.

»Ich ruhe mich vom Gehen aus«, erklärte sie, »darüber haben die Hände nichts getan, nun müssen sie sich betätigen.«

Ihre Finger zogen immer schneller die Nadel durch das grobe Zeug. Jetzt war sie mit dem Tuche fertig; sie nahm ein zweites aus ihrem



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Beutelchen und fing an, auch dieses zu säumen, ohne auch nur die kleinste Pause zu machen.

Als es zur Hälfte fertig war, kramte sie sich eine trockene Brotkruste aus der Tasche hervor, steckte sie in den Mund wie eine Zigarre und verzehrte sie so allmählich, ohne mit ihrem hastigen Nähen innezuhalten. »Eine karge Mahlzeit«, bemerkte Tschito, der sich nicht von der Stelle gerührt und ihr aufmerksam zugeschaut hatte.

»Wie sie mir zukommt«, erwiderte Burja, »ich bin arm und will reich werden.«

»Du gefällst mir!« sagte Tschito lobend.

Zum erstenmal hob Burja die Augen zu ihm auf. »Du mir auch!« erwiderte sie keck und fest. »Du bist Tschito, ich erkenne dich an deinen schönen Augen.«

So etwas hatte dem schlimmen Manne noch kein Mensch gesagt; er zeigte sich aufrichtig erstaunt. Doch warum sollte er so schönen Lippen nicht glauben, noch dazu den Lippen eines so ernsten und fleißigen Mädchens? Er strich sich schmunzelnd den Bart und fragte: »Wo willst du hin?«

Burja, die wieder einige Stiche getan hatte, sprang auf, lief zum Brunnen und trank aus der hohlen Hand. Dann setzte sie sich wieder und sagte: »Ich suche nach einem Dienst.« Tschito, der ganz entzückt war von ihrer kräftigen Gestalt, wiederholte: »Du gefällst mir!« und fügte noch hinzu: »Bleibe bei mir, ich brauche eine Magd!«

Das war Burja recht, und sie traten miteinander in die Hütte, aus der Tschito Decken holte, um ihr im Stall ein Lager für die Nacht zu bereiten. Als Burja den geliebten Raum wiedersah, in dem sie mit dem Vater gegessen, und auch des Herdgeistes ansichtig wurde, der gar traurig in dem schwachen Feuer saß, wurde sie ganz blaß und zitterte.

»Warum erschrickst du denn?«fragte Tschito.

»Ei nun«, entgegnete sie, »ich wundere mich, daß der reiche Tschito in einem so erbärmlichen Gemache wohnt. Das ist seiner nicht würdig.«

Wieder sah sie ihn keck an, ganz so, als ob sie ihn aufrichtig bewundere.

»Du hast recht«, erwiderte der Geizige geschmeichelt, »aber meine



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Hütte ist vor wenigen Wochen abgebrannt; der böse Chatango hat sie in Brand gesteckt. Zwar habe ich sie aus schönem Eichenholz wieder aufgebaut, aber das Herdfeuer will sich nicht entzünden lassen, und du weißt, ohne dieses zieht Krankheit in unser Haus.«

»Oh«, sagte Burja, »das will ich dir besorgen.«

Unterdessen hatte Tschito eine Suppe auf den Tisch gestellt. Während er sich umsah, opferte Burja davon dem Herdgeist und warf auch aus ihrem Beutelchen Brot ins Feuer. Da brannte es lustig, wie seit Wochen nicht. Als Burja zur Nachtruhe in den Stall ging, redete sie Tschitos Herdgeist an, der immer noch zitternd und bebend auf der Bank vor dem Hause saß, und sprach zu ihm: »Geh hinein und setze dich zu Chatangos Herdgeist ins Feuer, bis ich dich rufe; er ist gut und wird mit dir teilen.«

Am anderen Morgen trat Tschito schon sehr früh vor die Tür seiner Hütte. Da fand er Burja, ein Liedchen singend und seine Netze flikkend. Sie hatte bereits die Rentiere gemolken, die Ställe gereinigt, alles Vieh gefüttert und den Hof gekehrt. Tschito erstaunte und ging, um nach dem Futtervorrat zu sehen. Sie hatte noch weniger davon verbraucht als er, und er war zufrieden. Burja aber hatte zwei Eimer Rentiermilch an die Tiere verteilt, doch das war nicht zu merken, weil unter ihren Händen die Milch reichlicher floß.

Jetzt eilte sie vor Tschito in die Hütte und rief: »Ich will rasch deine Stiefel ölen!« Drinnen opferte sie dem Herdgeist reichlich aus dem Vorrat ihres Reisesäckleins und dazu auch ein Krüglein frische Milch. Nach dem Frühstück ging sie mit Tschito in seine neuerbaute Hütte, um das Herdfeuer zu entzünden, aber es wollte nicht brennen.

Da rief sie: »Hier ist ein Geheimnis, Tschito, das deinen alten Herdgeist die Hütte meiden läßt! Oh, daß ich darum wüßte! Ich würde dir schon ein gutes Feuer beschaffen.« Sie gingen eilig hinaus, weil es Krankheit bringt, in einer Hütte ohne Herdfeuer zu verweilen. Nach einigen Tagen, in denen Burjas Fleiß und Sparsamkeit den Geizigen in helles Erstaunen versetzte, sprach Burja wieder: »Komm, laß uns versuchen, ob ich dir nicht das Herdfeuer in der neuen Hütte entzünden kann!«

Es geschah; aber sosehr sie sich auch mühte, sie konnte kein Feuer machen. »Ach«, sagte sie traurig, »hier ist ein Geheimnis! Warum



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grollt dein Herdgeist, Tschito? Ach, daß ich drum wüßte, ich würde ihn wohl besänftigen, und dein Herdfeuer sollte lustig brennen.« Als sie die Hütte verließen, sagte sie: »Was wir essen, Tschito, sieht niemand, da können wir sparen und geizen, aber deinen Wohnraum lernen viele Leute kennen und urteilen nach ihm über dich.«

Tschitos Wohlstand mehrte sich sichtbar, seit die neue Magd bei ihm weilte; die einst so mageren Tiere erholten sich und gediehen prächtig, das Herdfeuer brannte lustig, und alles war blank und sauber. Schließlich kam dann die Zeit, da Tschito zur Stadt auf den Markt fahren mußte, um Felle zu verkaufen; es war eine Reise, die ihn über eine Woche fernhielt.

Da dachte er bei sich: >Es ist am besten, du heiratest das kluge Mädchen, dann kann es dich nimmer verlassen und wird auch in deiner Abwesenheit treulich nach dem Rechten sehen.<

Burja stand auf dem Hofe. Dort hatte ein fremder Hund sich eingefunden, den hörte sie sprechen: »Jetzt will es der arge Tschito mit meinem Herrn, dem Sejo, ebenso machen wie mit dem armen Chatango. Bald wird er ihn seiner Äcker und seines Viehs beraubt haben. Dann kommt auch Leid über uns.«

Ein Steinwurf aus Tschitos Hand traf den Hund, daß er entfloh, und Burja ging nun zu ihrem Herrn, der sich auf die Bank vor dem Hause gesetzt hatte. Hier eröffnete er ihr seinen Entschluß und sah das hübsche Mädchen erwartungsvoll an.

»Was müßtest du bei deiner Werbung tun, wenn ich noch in meines Vaters Hütte weilte?«fragte Burja.

»Ich müßte mir dich durch einen Brautschatz erkaufen«, gab Tschito zur Antwort.

»Nun wohl«, sagte Burja gebieterisch, »so zahle den Brautschatz an mich!«

»Und der wäre?«fragte Tschito erstaunt.

Burja sprang auf, und ihre schönen Augen funkelten. »Ich will, daß du mir das Gut Sejos, deines Nachbarn, gibst! Ei, mich ärgert's, daß so bald schon die Grenze deiner Felder beginnt; sein Land würde den Wert deiner Äcker noch um das Hundertfache steigern!«

Tschito erstaunte gewaltig, aber es war ein recht freudiger Schreck, der ihn durchfuhr, und er tat ihm wohl wie ein Schluck Branntwein. >Welch ein Mädel!<sprach er zu sich. >Es liest in deiner Seele und



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denkt wie du. Ei, da brauchst du nicht mehr hinter dem Berge zu halten.<

»Komm«, sagte Burja, »laß uns in die neue Hütte gehen; noch einmal will ich versuchen, das Herdfeuer anzuzünden, und gelingt es mir, so soll das ein gutes Zeichen sein. Oh, wenn ich nur das Geheimnis wüßte, dann wäre wohl alles gut!«

Damit ging sie in des Vaters Hütte, um Holz zu holen, und winkte Tschitos Herdgeist, daß er sie begleite.

Unterwegs aber taute Tschito auf. »Es ist besser, sie weiß alles<, dachte er, >und entzündet mir das Herdfeuer.<Da er sie also für eine Gleichgesinnte hielt, erzählte er alles, was er an dem armen Chatango getan, wie er ihn fälschlich verklagt und ihm sein Hab und Gut geraubt hatte.

Burja gingen die Augen über, als sie von ihrem armen, mißhandelten Vater hörte, aber sie zwang sich, aus vollem Halse zu lachen, daß Tschito wähnte, seine lustige Geschichte habe dem Mädchen Tränen der ausgelassenen Freude entlockt.

»Oh, oh«, sagte Burja, während sie stehenblieb und sich die Tränen abwischte, »so habe ich noch nie im Leben gelacht! Der dumme Chatango! Welch ein Spaß! So wollen wir es auch mit Sejo machen!«

Sie traten in die neue Hütte. Diesmal brannte das Herdfeuer, denn der Herdgeist hatte sich auf der neuen Feuerstätte niedergelassen. Da wurde Tschito ganz lustig und toll und erzählte immer weiter, daß er den Schamanen bestochen habe, damit er aussage, die gestorbenen Tiere seien vergiftet, und daß er alle Ältesten getäuscht habe. In der kommenden Nacht, als Burja Tschito im Schlaf wußte, setzte sie sich auf ein Roß und trabte davon. Auf vier Meilen in der Runde klopfte sie an alle Türen der Ältesten und sagte:

»Tschito ruft euch, es ist eine dringliche Sache. Morgen um zwölf Uhr seid alle auf dem Wege, der von ihm zu Sejo führt; dort versteckt euch in dem Stalle, der an der Grenze steht; lugt und lauscht hinaus, aber kommt erst später hervor, wenn ich klatsche.«

Früh am nächsten Morgen saß Burja wie gewöhnlich vor der Hütte, trällerte ein Lied und spann. »Oh, Tschito«, begann sie, als ihr Herr heraustrat, »ich habe eine große Bitte. Heute wollen wir hinüberreiten und Sejos Felder, mein Heiratsgut, anschauen.«



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»Recht so!« entgegnete Tschito.

So ritten sie denn davon, und Burja wußte es so einzurichten, daß sie wenige Minuten nach zwölf an dem Staue waren.

»Hier wollen wir absteigen«, bat sie, und es geschah.

»Ei, Tschito«, hub sie an und setzte sich auf einen Stein an der Stalltür, »mich gelüstet's, recht von Herzen zu lachen. Erzähle mir doch noch einmal, wie du's mit dem dummen Chatango gemacht hast, du Kluger!«

Das schmeichelte dem alten Geizhals, und er erzählte noch viel mehr als am Tage zuvor. Burja aber lachte, fragte und ermunterte ihn durch bewunderndes Lob. So kam nun alles heraus, auch daß er den Schamanen bestochen und die dummen Ältesten zum Narren gehalten hatte.

»Und nun, Schatz, schlachten wir den Sejo ab!« schloß er.

»Gewiß, gewiß!« rief Burja und klatschte in die Hände. Da tat sich die Stalltür auf, und wutschäumend stürzten die Ältesten heraus, fielen über Tschito her und hätten ihn wohl in ihrem Zorn erschlagen, wäre Burja nicht dazwischengetreten.

»Er ist mein«, sagte sie. »Vergeßt nicht, daß ihr meinen Vater einzulösen habt gegen ihn.«

Das leuchtete den Blindwütigen ein. Sie banden den Geizhals und nahmen ihn in ihre Mitte, um ihn ins Gefängnis zu geleiten.

Während dies alles vor sich ging, kam quer über das Feld ein Mann geschritten, geradewegs auf Burja zu. Es war Jakub, dem man erzählt hatte, daß der alte Tschito die Burja heiraten würde. In seiner Herzensnot war er fortgelaufen, um von Burjas Lippen die Wahrheit zu erfahren. Er sah und hörte nun, was tatsächlich geschehen war, und wenngleich er den Vater nie geliebt hatte und sich freute, Burja frei zu wissen, weinte er doch bitterlich.

Da schlang Burja die Arme um ihn und sagte: »Nun bist du arm und verwaist, wie ich es war, und die Schuld deines Vaters macht dein Unglück noch schwerer. Doch getröste dich, wenn ich den Vater erst wiederhabe, dann ziehen wir hin zu dreien und bitten den Tschito frei.«

Nicht lange danach kehrte Chatango heim, und er war jetzt reich, denn das ganze Gut Tschitos gehörte ihm. Er setzte Jakub ein in die Hütte seines Vaters und gab ihm Burja zum Weibe. Am Tage nach



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der Hochzeit aber zogen sie hin, um den Tschito freizubitten. Doch es vergingen noch zwei Jahre, bevor er kam, und da war er zu alt, um noch böse zu sein.

Der böse Schamane aber, der seine Prophetengabe so arg mißbraucht hatte, wurde des Landes verwiesen.


Blendwerk 1

Es war einmal ein alter Mann und eine alte Frau, zu denen kam ein Schifferknecht und bat sie um ein Nachtlager.

Der Alte ließ ihn unter der Bedingung ein, daß er ihm die ganze Nacht Geschichten erzähle.

»Gut, ich werde dir etwas erzählen«, antwortete der Bursche. »Nun, das ist recht.« Der Alte kletterte mit dem Burschen auf den Ofen. Die Frau saß unten und spann Flachs. Der Bursche dachte: >Jetzt will ich mir mit ihnen einen Spaß machen.< Er verwandelte sich in einen Wolf und den Alten in einen Bären und sagte: »Laufen wir fort.« Da liefen sie beide ins freie Feld. Dort sah der Wolf die Stute des Alten weiden und sprach: »Fressen wir sie auf!«»Nein, das ist mein Pferd«, sagte der Bär. »Aber Hunger hast du doch auch!« erwiderte der Wolf. Da fraßen sie beide das Pferd auf und liefen weiter. Bald trafen sie des Alten Weib, und der Wolf sagte wieder: »Fressen wir die Alte!« —»Oho, das ist ja meine Frau«, antwortete der Bär. »Was fällt dir denn ein!« sagte der Wolf. Da fraßen sie das alte Weib und liefen den ganzen Sommer miteinander umher, und dann kam der Winter.

»Setzen wir uns in eine Höhle!« sagte der Wolf zum Bären. »Du kriechst tiefer hinein und ich lege mich vorne hin. Finden uns die Jäger, so werden sie mich zuerst erschießen. Paß auf! Wenn sie mir das Fell abziehen, laufe heraus und spring über meine Haut, dann wirst du wieder ein Mensch.« Sie lagen in ihrer Höhle, bis die Jäger sie fanden. Die erschossen sogleich den Wolf und zogen ihm das Fell ab. Da sprang der Bär auf und machte einen Purzelbaum über das Wolfsfell. Dabei flog der Alte kopfüber vom Ofen auf den Boden herab.

»O weh, o weh, ich habe mir den ganzen Rücken zerschlagen!«



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brüllte er. »Was zum Teufel machst du? Warum fällst du da herunter? Bist du etwa besoffen?« schrie die Alte.

Da erzählte er ihr, wie er und der Schifferknecht als wilde Tiere herumgelaufen waren. »Er als Wolf und ich als Bär«, sagte er. »Einen Sommer und einen Winter sind wir umhergelaufen. Wir fraßen unser Pferd, wir fraßen auch dich.« Da lachte die Alte unbändig und rief: »Ei, da hat der Bursche dich schön angeführt.«


Blendwerk II

In einem Lande, in einem Reiche lebte einmal ein Matrose, der diente dem Zaren treu und ehrlich, und das wußten seine Vorgesetzten auch alle. Einmal bat er um Urlaub, um an Land gehen zu dürfen. Er zog seinen Leinenkittel an und ging in die Stadt ins Wirtshaus. Er setzte sich an einen Tisch, bestellte Wein und Essen und ließ es sich gut gehen. Er hatte vielleicht für zehn Rubel verzehrt und hörte noch immer nicht auf, da fragte ihn der Kellner:

»Höre, Matrose, du forderst sehr viel. Hast du auch Geld, um zu zahlen?« —»Ach, Bruder, Geld? Wie kannst du daran zweifeln? Ich habe so viel, daß die Hühner es nicht aufpicken können.«

Er nahm ein Goldstück aus der Tasche, warf es auf den Tisch und sagte: »Da hast du!«Der Kellner nahm das Geld, rechnete alles zusammen, wie es sich gehört, und brachte ihm den Rest zurück. Aber der Matrose sagte: »Was soll ich denn mit dem Kleingeld? Behalt es dir für Schnaps!«

Am nächsten Tag bat der Matrose wieder um Urlaub, ging in das gleiche Wirtshaus und verjubelte wieder ein Goldstück. Am dritten Tage wieder, und so kam er an jedem Tag, zahlte mit Goldstücken und schenkte dem Kellner das Kleingeld.

Endlich wurde der Wirt selber auf ihn aufmerksam und wurde unruhig. »Was mag das bedeuten? Er scheint ein Matrose zu sein und vergeudet so viel Geld? Er hat einen ganzen Sack Goldstücke hierhergebracht. Sein Lohn, das weiß man, ist nicht derart, daß man so üppig leben kann. Sicher hat er einen Schatz gestohlen, das muß man anzeigen, sonst kann's mir zur Unzeit noch schlecht ergehen, wenn es entdeckt wird, und ich komme gar noch nach Sibirien.«



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Der Wirt meldete es dem Offizier, und dieser sagte es wieder dem General. Der General ließ den Matrosen kommen und sprach: »Sag ehrlich, woher hast du das Gold genommen?« — »Solches Gold findet man auf jedem Misthaufen.« — »Was lügst du da?« —»Nein, Exzellenz, ich lüge nicht, sondern der Wirt. Er soll das Gold herzeigen, das er von mir erhalten hat.«

Sogleich brachte man den Sack und machte ihn auf, da waren lauter Knochen darin.

»Aber Bruder, du zahltest ja mit lauter Gold, und jetzt sind das lauter Knochen! Zeige, wie das geschehen konnte!«

Da rief der Matrose plötzlich: »Ach, Exzellenz, wir müssen sterben!«

Siehe, da strömte bei Türen und Fenstern Wasser herein, stieg immer höher und höher, so daß es ihnen allen bis an die Kehlen ging. »Himmel, was sollen wir da machen? Wohin sollen wir fliehen?« fragte der General ängstlich. »Wenn ihr nicht ertrinken wollt, Exzellenz«, sagte der Matrose, »dann klettert rasch hinter mir den Rauchfang hinauf!« Schnell kletterten die beiden bis auf das Dach, da standen sie nun und schauten umher nach allen Seiten. Die ganze Stadt war überflutet. Das Wasser stand an manchen Stellen so hoch, daß man gar keine Häuser mehr sehen konnte, und das Wasser stieg immer weiter.

»Bruder, wir werden sicherlich auch hier nicht entrinnen«, sagte der General. »Ich weiß nicht, was geschehen wird; was sein muß, wird sein.« — >Mein Tod ist gekommen<, dachte der General außer sich und fing an zu beten.

Plötzlich kam ein Boot dahergeschwommen, blieb an dem Dache hängen und blieb liegen. »Exzellenz«, sagte da der Matrose, »steigen wir schnell in das Boot, vielleicht können wir uns noch retten, sonst kommt das Wasser hierher!« Sie stiegen in das Boot, und der Wind trieb sie über das Wasser. Sie schwammen einen Tag und noch einen, und am dritten sank das Wasser, und zwar so schnell, daß man gar nicht begriff, wohin es abfloß. Als rings um sie alles trocken war, stiegen sie aus und fragten die Leute, wie das Land heiße und wo sie wohl wären. Sie waren bis ins dreimal neunte Land ins dreißigste Reich geschwommen.

Das Volk dort war ihnen völlig fremd und unbekannt. Was sollten



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sie machen, und wie sollten sie wieder in ihre Heimat kommen? Sie hatten keinen einzigen Groschen Geld. Da sagte der Matrose: »Wir müssen uns als Arbeiter verdingen, sonst können wir nicht dran denken, heimzukehren.«

»Das ist gut für dich, Bruder, du bist seit jeher ans Arbeiten gewöhnt, aber ich? Du weißt, ich bin ein General und kann nicht arbeiten.

»Das macht nichts, ich werde schon eine Arbeit finden, bei der man nichts zu können braucht.«

Sie gingen ins Dorf und verdingten sich als Hirten. Die Gemeinde war einverstanden und nahm sie für den ganzen Sommer auf.

Der Matrose war der Hirt und der General der Hüterbub. So hüteten sie bis zum Herbst das Vieh der Gemeinde und sammelten dann von den Bauern das Geld ein. Das teilten sie.

Der Matrose machte zwei gleiche Teile für sich und den General. Als der General sah, daß der Matrose sich ihm gleichstellte, war er beleidigt und sagte: »Wie kannst du nur gleiche Teile machen? Ich bin doch ein General und du bloß ein einfacher Matrose.«

»Ja, ich sollte besser drei Teile machen und mir zwei nehmen; für dich ist ein Drittel auch genug, denn ich war eigentlich der Hirte und du nur der Hüterbub.« Da wurde der General zornig und fing an zu schimpfen. Der Matrose gab nicht nach, hob die Hand und stieß den General an: »Wacht auf, Exzellenz!«

Der General erwachte. Da war alles wie früher. Er war gar nicht aus seinem Zimmer fortgewesen! Er wollte aber nicht mehr über den Matrosen zu Gericht sitzen und ließ ihn frei.

Der Wirt ging nach Hause und hatte nichts erreicht.


Schemjakes Richtsprüche

Irgendwo in einem Lande lebten einmal zwei Brüder. Der eine war reich und der andere arm.

Einmal kam der arme Bruder zum reichen und bat ihn um ein Pferd, damit er Holz aus dem Walde holen könne. Der Reiche lieh ihm ein Pferd. Da bat ihn der Arme auch noch um ein Kummet. Darüber wurde der andere unwillig und schlug es ihm ab.



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Da beschloß der Arme, dem Pferde das Holz an den Schwanz zu binden, und fuhr in den Wald. Er schlug so viel Holz, daß es das Pferd kaum schleppen konnte. Zu Hause machte er das Tor auf, vergaß aber, den Querbalken wegzunehmen. Das Pferd sprang darüber weg, riß sich aber den Schwanz dabei ab. Der arme Bauer brachte dem reichen das Pferd ohne Schwanz zurück.

Als er das Tier so sah, nahm er es nicht gleich an, sondern wollte mit dem Armen erst zu dem Richter Schemjak gehen. Der Arme ging hinter seinem Bruder drein und merkte, daß es schlecht um ihn stehe, daß für ihn das Urteil auf Verbannung lauten werde, denn der Arme ist gezeichnet, weil er nichts geben kann.

Die Brüder kamen zu einem begüterten Bauer, den baten sie um ein Nachtlager.

Der Bauer gab dem Reichen gut zu essen und zu trinken, dem Armen aber gab er gar nichts.

Der Arme lag auf dem Ofen und sah zu, wie die anderen zwei unten vergnügt waren, dabei fiel er herab und erschlug das Kind in der Wiege. Da beschloß der Bauer, mit den Brüdern zu gehen, um auch eine Klage gegen den Armen vorzubringen.

Sie gingen miteinander weiter, der Arme hinterdrein. So kamen sie über eine Brücke. Der Arme überlegte, daß er ohnedies bei Gericht nicht mit dem Leben davonkäme, und sprang von der Brücke, um sich zu töten. Unter der Brücke aber badete gerade ein Sohn seinen kranken Vater. Der Arme fiel auf den Alten und erschlug ihn.

Da ging der Sohn auch mit zu Gericht, um den Armen zu verklagen. Der Reiche klagte vor Gericht, daß der arme Bruder seinem Pferde den Schwanz abgerissen habe.

Der Arme hatte einen Stein aufgehoben und in ein Tuch gewickelt und drohte damit hinter dem Rücken des Bruders dem Richter; dabei dachte er: >Urteilt der Richter gegen mich, will ich ihn totschlagen!<

Der Richter glaubte, der Arme biete ihm hundert Rubel für seine Angelegenheit, und befahl dem Reichen, daß er dem Armen das Pferd so lange überlassen müsse, bis diesem der Schwanz wieder gewachsen wäre.

Dann kam der Bauer und klagte, daß der Arme sein Kind erschlagen habe.



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Der Arme hob wieder drohend denselben Stein gegen den Richter hinterm Rücken des Bauern.

Der Richter, der vermutete, neue hundert Rubel für diesen Fall zu bekommen, befahl dem Bauern, dem Armen seine Frau zu übergeben, bis wieder ein Kind da wäre. »Dann nimm deine Frau und das Kind zurück!«

Jetzt klagte der Sohn, daß der Arme seinen Vater erschlagen hätte. Der Arme nahm wieder seinen Stein aus der Tasche und zeigte ihn dem Richter.

Der Richter meinte, er bekomme hundert Rubel für den Spruch, und befahl dem Sohn, auf die Brücke zu gehen. »Und du, Armer, gehe hin, stelle dich unter die Brücke! Der Sohn soll auf dich springen und dich erschlagen.«

Richter Schemjak sandte seinen Diener zu dem Armen um die dreihundert Rubel.

Der Arme zeigte ihm den Stein und sagte:

»Hätte der Richter nicht für mich entschieden, so hätte ich ihn selber mit diesem Stein hier totgeschlagen.«

Da bekreuzigte sich der Richter und sagte:

»Gott sei Dank, daß ich für ihn entschieden habe!« Der arme Bruder ging zum reichen, sich nach dem Urteilsspruch das Pferd ohne Schwanz zu holen, bis der Schwanz nachwachse. Der Reiche wollte das Pferd nicht hergeben, gab ihm fünf Rubel, drei Viertel Korn und eine Milchziege und schloß für alle Zeit Frieden mit ihm. Da kam der Arme zum Bauern und wollte dem Urteilsspruch gemäß die Frau haben, damit sie bei ihm bleibe, bis wieder ein Kind da wäre. Der Bauer machte Frieden mit dem Armen, gab ihm fünfzig Rubel, eine Kuh und ein Kalb, eine Stute mit einem Füllen und vier Viertel Korn und vertrug sich mit ihm fortan.

Der Arme ging zum Sohn, dem er den Vater erschlagen hatte, und hielt ihm den Richtspruch vor, nach welchem der Sohn von der Brücke auf ihn hinabspringen sollte, um ihn totzuschlagen.

Der Sohn überlegte aber:

>Springe ich, so erschlag ich ihn vielleicht nicht und stürze mich nur selbst zu Tode.<

Er machte Frieden mit dem Armen, gab ihm zweihundert Rubel, ein Pferd, fünf Viertel Korn und vertrug sich mit ihm.



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Der Töpfer

Ein Töpfer fuhr mit seiner Ware des Weges und nickte darüber ein.

Der Zar, Iwan Wassiljewitsch, kam in seinem Wagen an ihm vorbei und sagte:

»Frieden auf den Weg!«

Der Töpfer schaute auf:

»Ich danke ergebenst und wünsche dasselbe.«

»Du hast geschlafen!«

»Ja, Herr, traut dem, der Lieder singt, nicht dem, der schläft!« »Du bist kühn, Töpfer, solche Leute habe ich gern. Kutscher, fahr langsamer! Töpfer, sag an, treibst du dein Gewerbe schon lange?« »Seit meiner Jugend, und ich bin jetzt in den mittleren Jahren.«

»Kannst du deine Kinder damit erhalten?«

»Ja, und doch pflüge ich nicht und mähe nicht und ernte nicht, und kein Frost schadet mir.«

»Schon recht, Töpfer, aber es gibt doch noch Unglück auf der Welt.«

»Ja, ich kenne dreierlei.«

»Was für drei?«

»Das erste ist ein böser Nachbar, das zweite ein böses Weib, das dritte ein schwacher Verstand.«

»Jetzt sage mir, was ist davon das schlimmste Übel?«

»Dem bösen Nachbarn kann man entgehen. Dem bösen Weibe auch, wenn man schon genug Kinder hat, aber vom schwachen Verstand kann man nicht loskommen.«

»Das ist wahr, Töpfer, du bist klug! Hör an, du für mich und ich für dich. Wenn Gänse über Rußland hinfliegen, wirst du ihnen ein Federchen ausrupfen oder wirst du sie in Ruhe fliegen lassen?«

»Paßt es mir, lass' ich sie fliegen, wie es sich schickt, sonst aber rupfe ich sie ganz kahl.«

»Töpfer, halt dein Pferd ein wenig an! Ich will mir dein Geschirr ansehen.«

Der Töpfer blieb stehen und legte seine Ware aus.

Der Zar sah sie an und wählte drei Teller aus Ton.

»Kannst du mir solche Teller machen?«

»Wie viele braucht Ihr?«



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»Zehn Fuhren.«

»Wieviel Zeit gebt Ihr mir?«

»Einen Monat.«

»Ich kann sie schon in zwei Wochen in die Stadt bringen. Ich für dich und du für mich.«

»Danke, Töpfer.«

»Wirst du in der Stadt sein, Herr, wenn ich die Ware bringe?«

»Ja, ich werde beim Kaufmann zu Gast sein.«

Der Zar fuhr in die Stadt und gab Befehl, daß bei allen Gelagen das Geschirr weder aus Silber noch aus Blei, weder aus Kupfer noch aus

Holz, sondern immer nur aus Ton sein dürfe.

Der Töpfer führte des Zaren Bestellung aus und brachte seine Ware in die Stadt. Ein Bojar ritt auf dem Markt zum Töpfer hin und sagte zu ihm:

»Gott mit dir! Töpfer!«

»Danke untertänigst.«

»Verkaufe mir deine ganze Ware!«

»Unmöglich, sie ist bereits bestellt.«

»Was macht das? Nimm mein Geld dafür. Du tust kein Unrecht, solange du keine Angabe für deine Arbeit bekommen hast. Was verlangst du?«

»Jeden Teller mit Geld angefüllt.«

»Hör auf, Töpfer, das ist zu viel!«

»Nun gut, einen voll Geld, einen umsonst. Willst du?«

So wurden sie des Handels einig.

»Du für mich und ich für dich.«

Sie füllten Teller an und leerten sie wieder aus.

Sie füllten so lange Teller an, bis kein Geld mehr da war, aber Teller gab es noch viele. Der Bojar sah, daß es ihm schlecht erging und holte neues Geld von daheim. Sie häuften weiter Teller an, aber das Geld war schnell weg und noch viele Ware vorhanden.

»Was kann man da machen, Töpfer?«

»Weshalb warst du so gierig? Da ist nichts zu machen. Ich achte dich zwar hoch, aber weißt du was? Zieh meinen Wagen ins Schloß, dann gebe ich dir die Ware und außerdem dein Geld zurück.«

Der Bojar wand sich und wand sich - es war aber nichts zu machen, so kamen sie überein.



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Sie spannten das Pferd aus, der Bauer setzte sich in den Wagen, und der Bojar zog an.

Der Töpfer sang ein Lied, und der Bojar zog ihn immer weiter. »Bis wohin muß ich dich ziehen?«

»Bis zu diesem Hof, vor jenem Haus.«

Fröhlich sang der Töpfer und stand vor dem Hause hoch auf im Wagen. Der Zar hörte ihn singen und lief auf die Rampe. Da erkannte er den Töpfer.

»Ha, sei mir willkommen, Töpfer!«

»Danke, Euer Gnaden!«

»Mit was fährst du?«

»Mit der Dummheit.«

»Nun, kluger Töpfer, du hast es verstanden, deine Ware zu verkaufen. Bojar, zieh dein prächtiges Gewand aus und die Stiefel, und du, Töpfer, den Kaftan und die Bastschuhe. Zieh dir den Bauernkittel an, Bojar, und du, Töpfer, das Bojarengewand. Du hast deine Ware gut verkauft, Töpfer. Wenig getan und viel erworben. Aber du, Bojar, konntest deinen Rang nicht bewahren! —Nun, Töpfer, kamen Gänse geflogen?«

»Ja, Herr!«

»Hast du ihnen ein Federlein ausgerupft oder sie in Ruhe gelassen?«

»Herr, ich habe sie ganz kahl gerupft.«


Das kluge Mädchen

Einst fuhr ein Bauer vom Markt nach Hause. Sein Weg führte ihn durch einen dichten, undurchdringlichen Wald, in dem keine lebende Seele zu erblicken war. Die Nacht brach herein, und es war so finster, daß man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Der Bauer beschloß zu halten und zu übernachten. Er zündete ein Feuer an, spannte sein Pferd aus und ließ es weiden. Dann setzte er sich ans Feuer, briet sich ein Stück Speck und aß es. Als er gegessen hatte, legte er sich hin und schlief sogleich ein, denn er war sehr müde von dem weiten Weg.

Als er am anderen Morgen aufwachte und um sich blickte, wollte



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er seinen Augen nicht trauen: Rings um ihn her war ein großer See, und die Wellen wogten, als wollten sie ihn verschlingen. Der Bauer erschrak und wußte nicht, was er machen sollte.

>Ich bin verloren<, dachte er, >von hier gibt es kein Entrinnen!< Und das Wasser stieg und stieg, und die Wellen schlugen immer höher und höher. Plötzlich erblickte der Bauer ein Boot auf dem Wasser und einen Menschen darin. Da wurde er froh und dachte:

>Das Schicksal will nicht, daß ich hier umkomme!<und rief aus Leibeskräften dem Manne im Boot zu: »He! Guter Mann! Führe dein Boot zu mir, sonst muß ich ertrinken!«

Der Mann steuerte sein Boot auf den Bauern zu, doch nicht so dicht heran, daß er es hätte erreichen können.

»Rette mich, Bruder!« bat ihn der Bauer. »Dann gebe ich dir alles, was du willst!«

»Gut!« sagte der Mann im Boot. »Ich will dich retten. Doch nicht umsonst: Gib mir das, was du zu Hause hast und von dem du nicht weißt, daß du es hast!«

Der Bauer dachte lange nach: >Was kann das schon sein, was ich zu Hause habe und von dem ich nichts weiß? So etwas gibt es nicht. Ach, mag kommen, was will, zum Handeln ist jetzt keine Zeit. Ich muß mich fügen.<

»Gut!« sagte er. »Ich gebe dir, was ich zu Hause habe und von dem ich nicht weiß, daß ich es habe. Nur rette mich!«

»Deine Worte allein genügen mir nicht, du könntest später dein Versprechen ableugnen.« »Was soll ich denn tun?«

»Nimm dort von jener Birke ein Stück Rinde, ritze dich in den kleinen Finger und schreibe mir das Versprechen mit deinem Blute auf die Birkenrinde, dann will ich dir glauben.«

Der Bauer tat, wie ihm geheißen, schrieb mit seinem Blute das Versprechen auf das Stück Birkenrinde und warf es in das Boot. Der Mann im Boot nahm die Birkenrinde, lachte höhnisch, und im gleichen Augenblick verschwand das Wasser, als wäre es nie gewesen. Auch der Mann im Boot war verschwunden. Da ahnte der Bauer, daß es kein anderer als der Teufel selber gewesen war. Aber was sollte er tun? Er holte sein Pferd, schirrte es an und fuhr nach Hause.



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Unterwegs wurde ihm derart weh ums Herz und so traurig zumute, daß er zu sterben vermeinte. Er trieb das Pferd zur Eile an, um nur recht schnell nach Hause zu kommen. Als er in seine Hütte trat, ging es da gar lustig zu. Die Stube war voller Gäste, nur seine Frau saß nicht beim Tisch.

»Guten Tag«, sagte der Bauer, »was gibt es denn Neues?«

»Oh, wir haben eine gute Neuigkeit! Deine Frau hat einen Sohn geboren, einen schönen, kräftigen Jungen. Komm und sieh ihn dir an!«

Als der Bauer das hörte, wurde ihm schwarz vor den Augen. Sein ganzes Leben lang war er kinderlos geblieben, und als ihm endlich ein Sohn geboren wurde, hatte er ihn dem Leibhaftigen verschrieben.

Die Gäste blickten auf den Bauern und konnten nicht begreifen, was mit ihm vorging.

»Sicherlich hat er vor Freude den Verstand verloren«, sagten sie. Der Junge bekam den Namen Juri; er wuchs nicht nach Tagen, sondern nach Stunden und wurde ein schöner und stattlicher Bursche. Da schickten ihn seine Eltern zum Lernen, und er war so klug und so geschickt, daß keiner es ihm gleichtun konnte. Wenn ihn die Leute sahen, freuten sie sich an seinem Anblick und beneideten die Eltern um ihren Sohn. Nur der Vater wurde immer finsterer und trauriger. Jun dachte sich, daß ihn etwas bedrückte, drum fragte er ihn eines Tages:

»Sage doch, lieber Vater, bist du mit mir unzufrieden, daß du mich immer so traurig anblickst? Hast du mich nicht mehr lieb, oder habe ich vielleicht etwas Böses getan, wovon ich nichts weiß?« Der Vater seufzte tief und blickte den Sohn traurig an. »Nein, mein Sohn, ich liebe dich über alles, und auch Böses hast du nicht getan, nur-ich habe dich dem Bösen verschrieben, als du noch nicht geboren warst.«

Und er erzählte ihm, wie es dazu gekommen war.

»Wenn es so ist, Vater, dann lebe wohl«, sagte Jun. »Ich muß nun gehen. Ich weiß nicht, ob wir uns bald wiedersehen. Entweder ich verliere meinen Kopf oder ich löse dein Versprechen.«

Jun nahm einen Kanten Brot und ein Stück Speck und stahl sich heimlich nachts aus dem Haus, um seinen Eltern durch den Abschied



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das Herz nicht schwerzumachen. Er verließ das Haus, ging durch Tannen- und Fichtenwälder und durch Sümpfe, bis er zu einer Hütte kam. Er trat ein. In der Hütte saß ein uraltes Weiblein.

»Guten Tag, Großmütterchen«, sagte Jun.

»Guten Tag, mein Kind, wohin gehst du?«

Jun erzählte ihr, wohin er gehen wollte. Das Weiblein hörte ihm zu und sagte:

»Gut, mein Kind, daß du zu mir gekommen bist. Spute dich, bringe mir Wasser und hacke mir Holz, ich will Pfannkuchen backen. Wenn ich gebacken habe und du dich sattgegessen hast, werde ich dir sagen, welchen Weg du gehen mußt, allein würdest du ihn nicht so bald finden.« J

uri brachte dem alten Weiblein Wasser und hackte Holz, und das Weiblein backte Pfannkuchen, gab ihm zu essen und sagte ihm, welchen Weg er gehen solle.

»Und wenn du zu dem Bösen kommst, dann suche seine Dienstmagd. Sie wird dir helfen können.«

Jun sagte dem alten Weiblein Lebewohl und setzte seinen Weg fort. Er ging durch dunkle Tannenwälder, durch dichte Fichtenwälder und tiefe Sümpfe.

Ober kurz oder lang kam er zu einem Hof, der war auf Bergen erbaut, groß und fest und ringsherum von einer hohen Mauer umgeben. Jun klopfte an das Tor.

»He! Den Herrn des Hofes will ich sehen!« rief er.

Da erschien der Herr des Hofes in kostbare Gewänder gekleidet, an denen das Gold nur so funkelte.

Es war der Böse selber.

»Was willst du hier?«fragte er.

»Ich suche meinen Herrn«, antwortete Jun. »Mein Vater hat mich ihm versprochen, als ich noch nicht geboren war.«

»Ich bin dein Herr«, sagte der Böse. »Schon wollte ich meine Reiter aussenden, dich zu holen, denn es ist soweit. Du bist groß geworden, und du bist, wie ich sehe, von selber gekommen. So muß es auch sein. Dafür will ich dich loben.«

»Sage mir, Herr, hast du noch das Stück Birkenrinde mit dem Versprechen meines Vaters?«

»Ja, das habe ich. Es ist mit Blut auf Birkenrinde geschrieben. Wenn



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du mir treu dienst, werde ich dich freilassen, und du kannst gehen, wohin du willst. Wenn nicht, so lasse ich dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen! Jetzt antworte mir: Gingst du durch Tannenwälder?«

»Ich ging.«

»Gingst du durch Fichtenwälder?«

»Ich ging.«

»Gingst du durch Sümpfe?«

»Auch durch Sümpfe bin ich gegangen.«

»Bist du zu meinem Hof gekommen?«

»Ich bin gekommen.«

»Dann gebe ich dir jetzt deine Arbeit: In dieser Nacht mußt du alle Bäume in meinem Walde fällen und wegschaffen. Dann muß du den Boden pflügen, eggen und Weizen darauf säen. Und der Weizen soll wachsen und reifen, dann mußt du ihn mähen und dreschen und das Korn mahlen. Und aus dem Mehl mußt du mir Piroggen backen und mir morgen früh zum Frühstück bringen. Wenn du es fertigbringst, bist du frei. Die Arbeit ist leicht!«

Nachdem der Böse das gesagt hatte, lachte er höhnisch. Jun verließ seinen Herrn, ließ den Kopf sinken und wußte nicht, was er tun sollte. Er ging über den Hof und dachte: >Das ist eine schwere Aufgabe! Alles habe ich gelernt, aber wie ich das vollbringen soll, weiß ich nicht. Ich bin verloren!<

J uri begann die Dienstmagd des Herrn auf dem Hofe zu suchen. Er suchte und suchte und geriet dabei bis ans Ende des Hofes. Da sah er eine kleine Hütte stehen. Ein Mädchen guckte aus der Hütte, und Juni fragte:

»Bist du die Dienstmagd des Herrn?«

»Ja, mein Junge. Aber warum bist du so traurig? Was bedrückt dich denn?«

»Wie sollte ich nicht traurig sein?« antwortete Jun. »Der Herr hat mir für diese Nacht eine Arbeit aufgetragen, die ich in einem ganzen Jahr nicht schaffen könnte.«

»Was für eine Arbeit hat er dir denn aufgetragen?«

»Er hat mir befohlen, in einer Nacht alle Bäume in seinem Walde zu fällen und wegzuschaffen, dann den Boden zu pflügen, zu eggen und Weizen zu säen. Und der Weizen soll wachsen und reifen. Dann



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muß ich ihn mähen und dreschen und das Korn mahlen, und aus dem Mehl muß ich ihm Piroggen backen und sie ihm morgen früh zum Frühstück bringen.«

Jun gefiel dem Mädchen. Er dauerte sie, und sie dachte: >Er soll nicht umkommen<, zu ihm aber sagte sie: »Sei nicht traurig, lege dich hin und schlafe, ruhe dich nach dem weiten Wege aus! Ich will dir helfen. Ohne mich könntest du deinen Kopf nicht behalten. Hier sind schon viele Menschen umgekommen.«

»Sage mir«, fragte Juni das Mädchen, »lebst du aus freien Stücken bei deinem Herrn?«

»Nie und nimmer. Ich muß so lange hierbleiben, bis mich jemand liebgewinnt und mich von hier wegführt.«

»Ich werde dich wegführen«, sagte Juni, und sie saßen noch lange beisammen und sprachen miteinander.

»Nun ist es aber Zeit für dich, schlafen zu gehen«, sagte das Mädchen.

J uri legte sich hin und schlief auf der Stelle ein, denn er war sehr müde von all dem Wandern durch Wälder und Sümpfe.

Das Mädchen aber ging um Mitternacht auf die Freitreppe, klatschte dreimal in die Hände, und sofort kamen viele Ungeheuer angeflogen.

»Sei gegrüßt, junge Herrin!«

»Seid gegrüßt, schreckliche Ungeheuer!«

»Weshalb hast du uns gerufen?«

»Arbeiten sollt ihr. Geht hin und fällt alle Bäume im Walde unseres Herrn, schafft sie fort und pflügt den Boden, dann sollt ihr ihn eggen und Weizen säen. Und der Weizen soll in einer Nacht wachsen und reifen, dann müßt ihr ihn mähen und dreschen und das Korn mahlen. Und aus dem Mehl sollt ihr mir Piroggen backen und sie morgen früh zu mir bringen!«

Die Ungeheuer stürzten sich sogleich auf die Arbeit. Die einen fällten Bäume, die anderen schafften sie fort, die einen pflügten und die anderen eggten und säten. Kaum daß sie gesät hatten, begann der Weizen zu wachsen und zu reifen.

Die einen mähten und droschen ihn, und die anderen mahlten das Korn zu Mehl und buken Piroggen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als schon alles fertig war.



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»Hier, junge Herrin, alles ist fertig.«

Das Mädchen nahm die Piroggen und sagte:

»Jetzt könnt ihr euch trollen!«

Und im Nu waren die Ungeheuer verschwunden. Das Mädchen aber ging zu Jun und weckte ihn.

»Nun«, sagte sie, »mein Junge, in der Fremde schläft man nicht so lange. In der Fremde muß man früher aufstehen.«

Jun erwachte, und sein erster Gedanke war: >Sind wohl die Piroggen fertig?<

Die Piroggen aber lagen bereits auf dem Tische, goldgelb und herrlich anzuschauen.

»Nimm die Piroggen und bringe sie dem Herrn!«sagte das Mädchen zu ihm.

Sie legte die Piroggen auf eine Schüssel, deckte ein Tuch darüber und schickte Juni zum Herrn. Der Herr trat aus seinen Gemächern, und Juni verneigte sich vor ihm. »Sei gegrüßt, Herr!«

»Sei gegrüßt, mein Junge! Hast du mein Gebot erfüllt?«

»Ich habe es erfüllt, Herr. Wie du befohlen, habe ich alles getan.«

»Laß sehen!«

Der Herr sah die Piroggen an, beroch sie und war damit zufrieden. Und hast du nicht gesehen, hatte er sie auch schon verschlungen. »Du bist ein wackerer Bursche, Juri«, sagte der Böse. »Arbeiten kannst du, wie ich sehe. Einen Dienst hast du mir geleistet; wenn du noch zwei Aufgaben erfüllst, lasse ich dich zu deinem Vater ziehen. Nun geh! Drei Tage darfst du ruhen, und am vierten kommst du und hörst, was ich dir befehle!«

Als Jun das hörte, wurde er traurig und dachte: >Platzen sollst du, du Teufel! Eine Arbeit wird er mir auftragen, sicher noch schwerer als die erste. Was soll ich nur tun? Meine ganze Hoffnung ist das Mädchen!<

Er verließ den Herrn düster und niedergeschlagen. Da sah ihn das Mädchen und fragte:

»Juri, warum bist du so traurig?«

Und Jun antwortete dem Mädchen:

»Wie sollte ich denn fröhlich sein, wenn mir der Herr noch eine neue Arbeit auftragen will?«

»Sei nicht traurig! Die erste Arbeit haben wir vollbracht, und auch



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die zweite werden wir vollbringen. Wenn die Frist um ist, gehe hin zu dem Herrn und höre, was er dir befiehlt!«

Als die drei Tage verstrichen waren, ging Jun zum Herrn.

»Guten Tag, mein Junge.«

»Guten Tag, Herr.«

»Siehst du mein Schloß?«

»Ich sehe es.«

»Siehst du dort den Berg?«

»Ich sehe ihn.«

»Auf diesem Berg erbaue mir in einer Nacht ein steinernes Schloß, viel schöner als dieses, und in dem Schloß sollen so viele Gemächer sein, wie das Jahr Tage hat. Und die Decke soll klar sein wie der blaue Himmel, und die rote Sonne und der helle Mond und die klaren Sterne sollen von ihr herabblinken. Das Dach des Schlosses aber soll mit Mohn gedeckt sein, und jedes Mohnkörnchen soll mit drei goldenen Nägelchen beschlagen sein. Und um das Schloß herum soll ein Fluß fließen und über den Fluß eine Brücke führen, erst ein goldenes Brettchen, dann ein silbernes Brettchen. Und über diese Brücke soll sich ein Regenbogen spannen, der sich mit beiden Enden aufs Wasser stützt. Mit einem Wort: Das Schloß soll so sein, daß man sich nicht schämt, es anderen Leuten zu zeigen. Wenn du mir ein solches Schloß baust, lasse ich dich zu deinem Vater, wenn nicht, lasse ich dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Bei mir ist es so: Wenn ich gnädig bin, lasse ich Gnade walten, doch wenn ich in Zorn gerate, dann bin ich zornig. Und jetzt geh!«

Jun kam zu dem Mädchen und erzählte ihr, was für eine Arbeit ihm sein Herr aufgetragen habe.

»Tröste dich, es wird alles getan werden. Es wird alles rechtzeitig fertig sein«, sagte das Mädchen. »Und jetzt gehe auf den Berg und tue so, als wolltest du die Stelle aussuchen, auf der das Schloß erbaut werden soll.«

Jun tat, wie ihm geheißen. Er ging rund um den Berg, blickte dahin und blickte dorthin, und am Abend kehrte er in die Hütte zurück und legte sich schlafen.

Um Mitternacht trat das Mädchen auf die Freitreppe und klatschte dreimal in die Hände. Wieder kamen viele Ungeheuer angeflogen. »Sei gegrüßt, junge Herrin!«



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»Seid gegrüßt, schreckliche Ungeheuer!«

»Weshalb hast du uns gerufen?«

»Arbeiten sollt ihr. In dieser Nacht sollt ihr auf diesem Berge ein steinernes Schloß erbauen. Und es soll so viele Gemächer haben, wie das Jahr Tage hat.

Und die Decke soll so klar sein wie der blaue Himmel, und die rote Sonne und der helle Mond und die klaren Sterne sollen von ihr herabblinken. Und das Dach soll mit Mohn gedeckt sein und jedes Mohnkörnchen mit drei goldenen Nägelchen beschlagen sein. Und um dieses Schloß soll ein Fluß fließen, und über diesen Fluß soll eine Brücke führen, erst ein goldenes Brettchen, dann ein silbernes Brettchen, dann wieder ein goldenes Brettchen, und wieder ein silbernes Brettchen. Und über die Brücke soll sich ein Regenbogen spannen, der sich mit beiden Enden aufs Wasser stützt.«

Kaum gesagt, stürzten sich die Ungeheuer auf die Arbeit. Die einen trugen Steine, die anderen mauerten, die einen deckten das Dach und die anderen schlugen die Nägelchen ein.

Am Morgen erschienen sie bei dem Mädchen.

»Seid ihr fertig?«

»Ja, junge Herrin, nur dort an jenem Eckchen haben wir ein Mohnkörnchen statt mit dreien nur mit zwei Goldnägelchen beschlagen.«

»Das ist nicht schlimm, und nun könnt ihr euch trollen!«

Die Ungeheuer verschwanden, das Mädchen aber ging in die Hütte und weckte Jun.

»Steh auf und gehe zu deinem Herrn, es ist alles fertig.«

Jun trat aus der Hütte, erblickte das Schloß und kam aus dem Staunen nicht heraus. Da stand ein Schloß, so hoch wie der Himmel, und über ihm schillerte ein Regenbogen, und die Brücke leuchtete wie Feuer. Er trat in das Schloß, blickte zur Decke empor und mußte geblendet die Augen schließen, so glänzte die rote Sonne, so strahlte der helle Mond und so funkelten die klaren Sterne.

J uri stand auf der Brücke und erwartete seinen Herrn. Bald darauf erschien der Teufel. Er besah sich das Schloß, und es gefiel ihm. »Du bist ein Prachtkerl, Juni«, sagte er, »eine gute Arbeit hast du vollbracht, wenn du die selber getan hast. Du hast dir wirklich viel Mühe gegeben. Jetzt bekommst du noch eine Aufgabe, das ist die letzte.



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Schaffst du sie, kehrst du zu deinem Vater zurück. Schaffst du sie aber nicht, verlierst du deinen Kopf: Ich habe ein gutes Pferd, wie es kein besseres gibt. Es ist aber noch nicht zugeritten. Du sollst es mir zureiten.«

»Gut«, antwortete Jun. »Morgen werde ich es dir zureiten.« Bei sich selbst aber dachte er: >Was kann das schon für eine Arbeit sein. Ich kann jedes Pferd zureiten.«

Er ging in die Hütte, erzählte dem Mädchen alles und sagte: »Das ist eine Arbeit, die ich selber kann.«

»Nein«, antwortete das Mädchen, »im voraus sollst du dich nicht loben. Es wird die schwerste Arbeit sein. Du glaubst wohl, es wird ein richtiges Pferd sein? Nein, es wird der Böse selber sein. Er glaubt dir nicht, daß du den Wald gerodet, den Weizen gesät, die Piroggen gebacken und das Schloß erbaut hast. Er will dich prüfen. Aber sei nicht traurig. Ich werde dir auch dieses Mal helfen.«

Am Morgen sagte das Mädchen zu Juni:

»Es ist Zeit, gehe das Pferd zureiten, nimm aber diese Weidengerte mit. Sobald das Pferd bockt und dich abzuwerfen versucht, schlage es mit dieser Gerte zwischen die Ohren. Es wird sofort still und folgsam werden.«

Juni nahm die Weidengerte und ging ins Schloß.

»Wo ist der Herr?«

»Der Herr ist nicht da«, antworteten die Diener, »er hat dir befohlen, in den Stall zu gehen, das Pferd herauszuführen und es zuzureiten.«

Juni ging in den Stall. Da stand ein Pferd mit einem Fell aus Gold und Silber, die Augen blutunterlaufen, und aus den Nüstern schlugen Flammen, und Rauch quoll aus den Ohren. Es war unmöglich, an das Pferd heranzukommen. Juni hieb mit der Weidengerte durch die Luft, und das Feuer konnte ihm nichts anhaben. Er trat an das Pferd heran. Es bäumte sich auf, sprang bis unter die Decke und ließ ihn nicht aufsitzen, und als es wieherte, erbebte der ganze Stall. Aber Jun schlug ihm mit der Weidengerte zwischen die Ohren, daß es auf die Knie fiel. In diesem Augenblick schwang sich Jun auf den Rücken. Abermals bäumte sich das Pferd auf und hätte fast seinen Reiter abgeworfen. Aber Juni nicht faul, schlug ihm die Gerte zwischen die Ohren. Das Pferd raste unter ihm, aber er schlug es immer wieder.



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Und das Pferd trug ihn fort, und es flog dahin, kaum daß es den Boden berührte, und wollte Jun abwerfen und ihn mit den Hufen zermalmen; aber Jun schlug immer wieder zu und ließ die Zügel nicht locker. Im gestreckten Galopp flog das Pferd über Berge und Sümpfe und durch Wälder, bis es am Ende dermaßen erschöpft war, daß es ganz stille wurde. So kehrten sie ins Schloß zurück.

Jun führte das Pferd in den Stall und schlenderte über den Hof. Die Diener des Herrn wandten sich von ihm ab, und keiner wollte mit ihm reden, denn sie hatten alle Angst, daß sie der Herr sehen und glauben könnte, sie seien mit Jun gut Freund. Jun kehrte in die Hütte zu dem Mädchen zurück und erzählte ihr, wie es gewesen war.

»Du hast ihm aber den Kopf gewaschen, deinem Herrn, und selbst bist du heil zurückgekommen. Iß nun und ruhe dich aus, denn du wirst sicherlich sehr müde sein.«

Am nächsten Tage kam ein Diener zu Juni und rief ihn zu seinem Herrn ins Schloß. Jun ging hin. Der Herr empfing ihn mit verbundenem Kopfe.

»Nun«, sagte er, »kenne ich dich nicht mehr, und du kennst mich nicht mehr. Hier, nimm die Birkenrinde mit dem Versprechen deines Vaters und morgen früh geh weg von hier!«

Juni nahm die Rinde, ging in die Hütte zurück und war guter Dinge. Er erzählte alles dem Mädchen, doch sie sagte zu ihm: »Du freust dich zu früh. Der Böse wird dich niemals lebendig von hier fortlassen; wir dürfen nicht bis morgen warten. Sobald es Mitternacht ist, müssen wir uns auf den Weg machen. Gelingt es uns nicht, zu deinen Eltern zu entkommen, bringt der Herr uns beide um.«

Um Mitternacht machten sie sich auf den Weg. Das Mädchen sagte zu Juri, er möge in jeder Ecke der Hütte ausspeien, darauf verschlossen sie die Tür ganz fest und gingen fort.

Als es Morgen wurde, schickte der Herr einen Diener zu Juni, dem er befahl, zu kommen. Der Diener klopfte ans Fenster.

»Wach auf«, rief er, »es ist schon heller Tag.«

»Ich stehe gleich auf«, antwortete der Speichel.

Die Sonne stand schon ganz hoch, als wieder ein Diener kam.

»Steh auf«, rief er, »es ist schon bald Mittag.«

»Ich ziehe mich an«, antwortete der Speichel?



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Und es wurde Mittag. Wieder kam ein Diener und rief nach Jun.

»Ich wasche mich«, antwortete der Speichel.

Der Herr wurde wütend und schickte wieder nach Jun. Die Diener kamen und riefen nach ihm, aber der Speichel war getrocknet, und niemand antwortete. Da brachen sie die Tür auf, aber sie fanden die Hütte leer. Als sie das dem Herrn berichteten, wurde er fast rasend. Vor Wut rannte er mit dem Kopf gegen die Wand, und die Herrin schrie:

»Er selbst ist gegangen, und unsere Dienstmagd hat er entführt. Schnell, schicke ihnen Reiter nach! Ob tot oder lebendig, sie sollen sie bringen. Ihn mag man töten, aber die Dienstmagd brauche ich, denn ein geschickteres Mädchen finde ich nirgendwo wieder.«

Und die Reiter jagten hinterher, so schnell wie ein Pferd eben laufen kann.

Jun aber und das Mädchen liefen, so schnell sie konnten. Da sagte das Mädchen:

»Lege dein Ohr an die Erde und höre, ob nicht der Eichenwald rauscht und der Weg nicht stöhnt und ob nicht die Reiter hinter uns her sind.«

Jun horchte und sagte:

»Laut rauscht der Eichenwald, der Weg stöhnt.«

»Das ist der Böse, der uns seine Verfolger nachschickt. Wir müssen schneller laufen. Sobald sie uns einholen, verwandle ich mich in eine Schafherde und dich in einen Hirten. Und wenn die Reiter dich fragen, ob du nicht einen Burschen und ein Mädchen hier hast vorbeilaufen sehen, dann sage ihnen: Ich sah sie, als ich noch jung war, als ich Hirte wurde und nur zwei Schäfchen hatte. Doch heute bin ich schon ein alter Mann, und aus den zwei Schäfchen ist eine ganze Herde geworden.«

Und das Mädchen verwandelte sich in eine Schafherde, und Jun wurde ein alter Hirt. Da sprengten auch schon die Reiter heran. »He, Alter!« riefen sie. »Hast du nicht einen Burschen und ein Mädchen hier vorbeilaufen sehen?«

»Das habe ich wohl.«

»Wann hast du sie gesehen?«

»Als ich noch jung war und zwei Lämmer weidete. Aber jetzt bin



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ich schon ein alter Mann und von diesen zwei Lämmern habe ich jetzt schon eine ganze Schafherde.«

»Ho, wie sollen wir sie da einholen?« riefen die Reiter. »Hier sind wohl an die tausend Schafe, wieviel Jahre werden vergangen sein, seit sie hier vorbeigelaufen sind!«

Und die Reiter jagten zurück zu ihrem Herrn. Jun aber und das Mädchen nahmen ihre frühere Gestalt an und liefen weiter. Die Reiter kehrten zurück und sagten ihrem Herrn: »Wir haben niemand gesehen. Vielleicht haben wir die Spur verloren, vielleicht sind wir einen falschen Weg geritten? Wir begegneten nur einem alten Hirten und einer Herde Schafe. Der Hirte sagte uns, daß er seit jungen Jahren dort die Herde weide, aber den Burschen und das Mädchen nicht gesehen hätte.«

»Ach, ihr Dummköpfe!«schrie der Herr. »Das waren sie doch! Ihr hättet den Hirten erschlagen und die Schafe hertreiben sollen. Die Dienstmagd hat sich selbst in die Schafherde und den Burschen in den Hirten verwandelt. Jagt los und holt sie ein!«schrie der Herr. »Erschlägt ihn mit euren Äxten, und die Schafe treibt her!«Und die Reiter jagten wieder los. Jun und sein Mädchen aber waren unterdessen ein gutes Stück weitergelaufen. Sie liefen und liefen. Da sagte das Mädchen zu Juni: »Lege dein Ohr an die Erde und höre, ob nicht der Eichenwald rauscht und der Weg nicht stöhnt und ob nicht die Reiter hinter uns her sind.« Juni horchte und sagte:

»Laut rauscht der Eichenwald, der Weg stöhnt. Die Reiter des Bösen sind hinter uns her.«

Da winkte das Mädchen mit einem Tüchlein und verwandelte sich in einen Garten und Juni in einen alten Gärtner. Die Reiter brausten heran und fragten:

»Großvater, hast du nicht einen Burschen und ein Mädchen hier vorbeilaufen sehen?«

»Nein, ich habe niemanden gesehen, obgleich ich schon seit langer Zeit diesen Garten pflege«, antwortete der Gärtner.

»Und einen Hirten mit einer Schafherde hast du auch nicht gesehen?«

»Nein, auch den Hirten habe ich nicht gesehen.«

So mußten die Reiter abermals umkehren.



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Jun aber und das Mädchen liefen weiter. Die Reiter kehrten zurück und berichteten:

»Wir haben sie nicht gefunden. Sie sind wie vom Erdboden verschwunden. Nur einem alten Gärtner in seinem Garten sind wir begegnet; der sagte uns, es sei niemand auf dem Weg vorbeigekommen, und auch den Hirten mit der Schafherde hat er nicht gesehen. Wir sind zurückgekehrt. Sollten wir vielleicht den Wind auf dem Felde einfangen?«

»Ihr Dummköpfe«, schrien der Herr und die Herrin, »ihr hättet die Bäume im Garten fällen und den Gärtner mit euren Äxten erschlagen sollen, denn das waren Jun und unsere Dienstmagd. Auf euch ist kein Verlaß. Wir werden selber hinterherreiten.« Der Herr und die Herrin ritten mit ihren Reitern hinterher. Und sie flogen dahin, daß der Staub wie eine Wolke aufwirbelte, die Erde erbebte und es ringsherum dröhnte. Jun und das Mädchen hörten den Lärm und das Getöse und liefen noch schneller. Sie ahnten, daß diesmal sie der Herr und die Herrin selber verfolgten, um sie mit ihren Reitern einzuholen. Und das Dröhnen wurde immer lauter und lauter.

»Nun«, sagte das Mädchen, »wenngleich es nicht mehr weit bis zu deinem Hause ist, werden wir's doch nicht mehr erreichen. Wir müssen uns retten. Ich werde mich in einen Fluß verwandeln, und du wirst am anderen Ufer stehen.«

Und im nächsten Augenblick war sie in einen Fluß verwandelt, und Jun befand sich am jenseitigen Ufer. Da kamen auch schon der Herr und die Herrin mit den Reitern heran. Kaum sah die Herrin den Fluß, da schrie sie: »Schlagt zu mit euren Äxten, schlagt zu!«

Die Reiter sprangen zum Fluß und schlugen mit ihren Äxten auf ihn ein. Der Fluß stöhnte und färbte sich blutrot. J

uri aber stand am anderen Ufer und konnte nicht helfen. Er wußte auch nicht, was er tun sollte.

»Sterben sollst du, Verfluchte!« riefen der Herr und die Herrin dem Fluß zu. »Und du, Bauernsohn, nimm dich in acht, auch dich kriegen wir noch einmal!«

Sie schrien und drohten, aber sie konnten nichts ausrichten; unverrichteter Dinge mußten sie nach Hause zurückkehren. Jun aber hörte, wie der Fluß stöhnte.

»Ach, wie schwer ist's mir . . . Ich werde noch lange liegen müssen,



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denn die Wunden schmerzen sehr. Wir werden uns lange Zeit nicht sehen. Geh nach Hause, Juri, zu deinem Vater und zu deiner Mutter, nur vergiß mich nicht! Damit du mich aber nicht vergißt, darfst du niemanden küssen; wenn du jemanden küßt, so wirst du mich vergessen. Komm recht oft zu mir her, besuche mich!«

Jun ging traurig und niedergeschlagen nach Hause. Er hatte mit einer jungen Frau zurückkehren wollen, und nun war alles ganz anders geworden.

Sein Vater und seine Mutter wären vor Freude fast gestorben, als sie ihn sahen; sie wunderten sich nur, daß Jun niemanden küssen wollte, selbst sie hatte er nicht ein einziges Mal geküßt. Und Jun lebte wieder im Hause zur Freude seiner Eltern. Sobald es aber Abend wurde, ging er zum Fluß, sprach mit ihm und kehrte dann nach Hause zurück. Und er konnte es kaum erwarten, bis die Wunden des Mädchens verheilten. So

verging eine lange Zeit. Das Wasser im Fluß wurde immer heller, denn die Wunden des Mädchens begannen sich zu schließen. Doch das Unglück kam erst.

Eines Tages war Jun eingeschlafen, da kam ein alter Mann und küßte den Schlafenden. Als Jun erwachte, hatte er das Mädchen vergessen, als ob er es nie gesehen hätte. Nicht lange danach sagte sein Vater zu ihm:

»Warum bist du noch immer ohne Frau? Du solltest heiraten. Wir haben dir schon eine schöne Braut ausgesucht.«

J uri gefiel die Braut, und die Hochzeit wurde vorbereitet. Es war eine fröhliche und laute Hochzeit. Nur Juni konnte nicht fröhlich sein. Sein Herz pochte so schwer und unruhig, er wußte selbst nicht, wieso.

In der Küche bereiteten die Frauen unterdessen den Hochzeitskuchen. Sie waikten den Teig und formten allerlei Figuren. Plötzlich erschien ein fremdes Mädchen in der Küche und sagte:

»Erlaubt mir, liebe Frauen, einen Enterich und eine Ente aus dem Teig zu formen und auf den Hochzeitskuchen zu setzen und ihn dem Brautpaar zu überreichen.«

Und die Frauen erlaubten es gern. Das Mädchen formte aus dem Teig einen Enterich und eine Ente; sie setzte den Enterich auf den Kuchen, die Ente aber behielt sie in der Hand. Dann trat sie ins Zimmer



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und stellte den Kuchen vor das junge Brautpaar. Sie nahm die Ente und stieß mit dem Entenschnabel auf des Enterichs Kopf und sagte dazu. »Hast du vergessen, Enterich, wie ich dich befreite aus der Gewalt des Bösen?« Und sie stieß zum zweiten Male: »Hast du vergessen, wie ich dich bewahrte vor deinem Tod?«

Und ein letztes Mal stieß sie den Enterich: »Hast du vergessen, wie ich die Wunden auf mich nahm?«

Da war es Juri, als erwache er aus einem tiefen Traum. Er erinnerte sich, was mit ihm geschehen war, und er erkannte das Mädchen. Er sprang auf, stürzte zu ihr hin und drückte sie an sein Herz.

»Hier, liebe Eltern, das ist meine liebe Frau, sie hat mich vor dem sicheren Tode bewahrt. Sie hat mich aus der Gewalt des Bösen errettet. Ich liebe nur sie allein und will von keiner anderen etwas wissen.«

Und er setzte sich neben sie hin.

Da feierten sie eine fröhliche Hochzeit, und Jun lebte von nun an mit seiner jungen Frau.

Und sie lebten noch lange und glücklich miteinander.


Das Märchen von der schönen Ajoga

Es war einmal ein Bauer mit Namen La, der lebte mit seiner Frau und seiner wunderschönen Tochter Ajoga im hohen Norden. Alle Leute hatten die schöne Ajoga sehr lieb. Sobald sie des alten La oder seiner Frau ansichtig wurden, sagten sie:

»Was habt ihr doch für eine schöne Tochter! Wir haben eine solche Schönheit noch nie gesehen. Weit und breit ist kein Mädchen, das eurer Ajoga gleicht.«

Als Ajoga die Leute so reden hörte, wurde sie stolz und hoffärtig. Sie betrachtete sich den ganzen Tag über nur noch im Spiegel und konnte sich von ihrem eigenen Anblick gar nicht losreißen. Bald betrachtete sie sich in einer blankgeputzten Kupferschüssel, bald bewunderte sie ihr Spiegelbild im Wasser. Sie tat keine Arbeit mehr, weil sie fürchtete, daß das ihrer Schönheit schaden könnte.

»Faul ist Ajoga geworden«, sagten die Leute.

Der alte Bauer und seine Frau aber mußten alle Arbeit allein besorgen



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und mühten sich vom Morgen bis zum Abend. Einmal sagte die Mutter zu Ajoga:

»Hol mir Wasser, Töchterchen.«

Ajoga aber wollte kein Wasser holen, und so sprachen sie hin und sprachen her.

»Ich will kein Wasser holen, ich könnte in den Fluß fallen, liebe Mutter.«

»Mußt dich am Strauch festhalten, liebes Töchterchen.«

»Der Strauch ist zu schwach, liebe Mutter.«

»Such dir einen starken, liebes Töchterchen.«

»Der zerkratzt mir die Hände, liebe Mutter.«

»Nimm Fausthandschuhe, liebes Töchterchen.«

»Die werden zerreißen, liebes Mütterchen«, antwortete Ajoga, während sie sich wohlgefällig in einer blanken Kupferschüssel betrachtete. >Wie schön bin ich doch, viel zu schön, um Wasser zu holen<, dachte sie.

Und von neuem begann das Hin- und Widerreden.

Die Mutter sagte:

»Wenn der Handschuh ein Loch hat, nimm eine Nadel, liebe Tochter, stopf's zu.«

»Die Nadel wird abbrechen, liebe Mutter.«

»Nimm eine dicke«, sagte der Vater, der dem Streit ein Ende machen wollte.

Ajoga aber redete weiter:

»Da zerstech ich mir die Finger, lieber Vater.«

»Nimm einen Fingerhut aus derbem Leder, liebe Tochter.«

»Der Fingerhut wird zerreißen, lieber Vater«, gab Ajoga zur Antwort. Und sicher wäre das Reden ohne Ende so weitergegangen, wenn nicht auf einmal ein Mädchen, das nebenan wohnte und alles mit anhörte, zu Ajogas Mutter gesagt hätte:

»Komm, laß mich nach Wasser gehen!«

Das Mädchen ging zum Fluß und holte Wasser, soviel wie gebraucht wurde. Die Mutter rührte nun einen Teig an und machte daraus Fladen. Die Fladen wurden auf den glühendheißen Herdsteinen gebacken.

Als Ajoga die Fladen sah, rief sie:

»Gib mir einen Fladen, liebe Mutter!«



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Die Mutter aber wollte der faulen Tochter keinen Fladen geben, und so hub das Reden von neuem an:

»Er ist heiß, liebe Tochter, du wirst dir die Hände verbrennen.«

»Ich zieh mir Fausthandschuhe an, liebe Mutter.«

»Die Fausthandschuhe sind naß, liebe Tochter.«

»Ich werde sie an der Sonne trocknen, liebe Mutter.«

»Sie werden zusammenschrumpfen, liebe Tochter.«

»Ich werde sie tüchtig walken, liebe Mutter.«

»Die Hände werden dir weh tun, liebes Töchterchen. Warum willst du dich mühen und gar deiner Schönheit schaden? Ich gebe den Fladen lieber dem anderen Mädchen, dessen Hände nicht so großer Schonung bedürfen.«

Die Mutter nahm den Fladen und reichte ihn dem fleißigen Mädchen hinüber.

Als Ajoga das sah, wurde sie böse und lief aus dem Hause. Sie rannte zum Fluß und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. Das fleißige Mädchen aber biß in den Fladen und kaute mit Behagen.

Ajoga mußte sich immerzu nach dem kauenden Mädchen umschauen. Ihr Hals wurde lang und immer länger, und das Wasser lief ihr im Munde zusammen.

»Hier, nimm den Fladen!« rief das fleißige Mädchen Ajoga zu. Die aber spie wütend das fleißige Mädchen an, ballte die Fäuste und schlug wild mit den Armen um sich. Da wurden ihre Arme zu Flügeln.

»Ga-ga-gar nichts will ich von dir!« schrie Ajoga. In ihrer wilden Wut achtete sie nicht auf den Uferrand, fiel ins Wasser und wurde zur Gans.

Da schwamm sie nun daher und rief in einem fort:

»Ach, wie bin ich doch schön! Ga-ga-ga.. . Ach, wie bin ich doch schön! Ga-ga-ga!« Sie schwamm hin und schwamm her, sie schwamm so lange, bis sie ihre heimatliche Sprache ganz und gar vergessen hatte. Nur ihren Namen vergaß sie nicht. Jeder sollte wissen, daß sie die schöne Ajoga war.

Und so ruft die Schöne bis auf den heutigen Tag, sobald sie eines Menschen ansichtig wird:

»Ajo-ga-ga-ga! . . . Ajo-ga-ga-ga!«



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Verfolgte Unschuld

Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie hatten zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, mit denen sie froh und zufrieden lebten.

Da starb eines Tages der Vater, und bald darauf folgte ihm die Mutter im Tode nach. Die zwei Geschwister blieben allein als Waisen auf der Erde zurück; doch sie liebten sich innig, lebten einträchtig miteinander, und eines tat dem andern so viel Liebes, als es nur konnte. Als sie erwachsen waren, sagte der Bruder zu seiner Schwester: »Was meinst du, Schwesterchen, wäre es nicht gut und klug, wenn ich heiraten würde? Du hättest dann weniger Arbeit und überdies eine fröhliche Freundin im Haus.«

»Ja, heirate, mein lieber Bruder«, antwortete die Schwester, »ich werde deiner Frau eine gute Freundin sein.« Darauf schickte der Bruder seine Werber aus; die brachten ihm bald ein Mädchen, mit dem er Hochzeit feierte, und nun lebten die drei miteinander. Er liebte sie beide gleich zärtlich; doch nach einiger Zeit wurde seine Frau auf die Schwester eifersüchtig.

Sie begann sie zu hassen, obgleich die Schwester sich redlich mühte, die Liebe der Frau ihres Bruders zu gewinnen und Nächte hindurch für sie arbeitete.

Die Frau verleumdete das Mädchen, erzählte ihrem Mann, seine Schwester sei faul und unordentlich, doch der Bruder glaubte ihr nicht. Nun mußte er einmal eine weite Reise tun. Als er fort war, hackte die Frau seinen Jagdhunden die Pfoten ab, und bei seiner Heimkehr lief sie ihm sogleich entgegen und rief: »Da, sieh nur mal an, was du für eine liebe Schwester hast! Während du fort warst, hackte sie den Jagdhunden die Pfoten ab.«

»Das ist doch nicht gar so schlimm; meine Schwester gilt mir mehr als meine Hunde«, antwortete er.

Der Schwester gegenüber erwähnte er den Vorfall mit keinem Wort. Doch nach einiger Zeit mußte er wieder verreisen, und diesmal hieb die Frau seinem besten Pferd mit einem Säbel die Beine ab.

Als er zurückkehrte, lief sie ihm wieder entgegen: »Du hast wirklich eine liebe Schwester! Nun hat sie deinem Lieblingspferd die Beine abgeschlagen!«



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»Ach, das ist doch nicht gar so schlimm. Meine Schwester ist mir teurer als das Pferd«, erwiderte der Mann. Mit seiner Schwester sprach er darüber wieder kein Wort.

Und er mußte ein drittes Mal verreisen.

Während er fort war, steckte die Frau sein Haus in Brand, so daß er um seine ganze Habe kam, so verblendet war sie in ihrem Haß gegen die Schwester ihres Mannes. Nachdem sie das getan, sandte sie ihrem Manne einen Boten nach und ließ ihn zurückrufen. Höhnisch sprach sie zu ihm: »Du wolltest mir nicht glauben, als ich dir sagte, was für eine liebe Schwester du hast. Jetzt hat sie dich völlig zugrunde gerichtet.«

Da wurde der Bruder furchtbar zornig.

Seine Schwester hörte nicht auf, ihre Unschuld zu beteuern; sie schwur und schluchzte, doch es war alles vergebens; er glaubte ihr nicht.

»Wer anders kann das Feuer gelegt haben als du? Oder willst du sagen, daß meine Frau sich selber ins Elend bringen will?«

Und ohne auf ihre Bitten und Beschwörungen zu hören, übergab er sie dem Gericht. Die Richter berieten lange, was für eine Strafe das Mädchen verdiente.

»Stecken wir sie ihr Leben lang ins Gefängnis«, sagte der eine. »Sie soll für ihre Tat den Tod erleiden«, der andere.

Doch der dritte sprach: »Schmieden wir ihr die verruchten Hände, mit denen sie die Tat beging, auf dem Rücken zusammen und lassen wir sie dann frei.«

So geschah es. Dem armen Mädchen wurden ihre weißen Hände auf den Rücken gelegt, ein eisernes Band wurde darübergeschoben und unlösbar zusammengeschweißt.

Dann jagte man sie in die weite kalte Welt hinaus.

Das arme, unschuldige Mädchen irrte durch die Steppen und Wälder, bis ihre Kräfte sie verließen.

Endlich, nach langem Umherirren, kam sie zu einem großen Garten. Sie schritt durch das offene Tor und erblickte darinnen einen schönen Apfelbaum mit goldenen Früchten. Einer der goldenen Apfel hing ganz niedrig, und da das Mädchen von all dem Leiden und der langen Wanderung sehr hungrig war, pflückte sie ihn mit dem Munde und aß die Frucht.



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Nachdem sie geruht hatte, ging sie einige Schritte weiter, bis sie zu einem Brunnen kam. Als sie sich darüberbeugte, um zu trinken, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte hinein.

Es war aber ein Zauberbrunnen, in den das Mädchen gefallen war, und kaum war sie in dem Wasser, da fielen die Bande von ihr ab und ihre Wunden waren geheilt. Sie kletterte aus dem Brunnen und ging in dem schönen Garten spazieren.

Da sah sie einen ganz wunderschönen Prinzen des Weges kommen; der schritt gerade auf den Apfelbaum zu. Als er bemerkte, daß einer der goldenen Äpfel fehlte, fragte er:

»Wer hat mir meinen goldenen Apfel gestohlen?«

Das Mädchen hatte sich im Gebüsch verborgen gehalten; nun trat es hervor und sagte: »Ich aß deinen goldenen Apfel.«

Da fragte der Prinz: »Wer bist du und wie kommst du hierher?« Da erzählte ihm das Mädchen ihre traurigen Erlebnisse. Während sie sprach, blickte sie der Prinz unverwandt an. Er war entzückt von ihrer Schönheit und Lieblichkeit, und es schien ihm, als sei der ganze Garten in ein helleres und schöneres Licht getaucht, seit sie ihn betreten hatte. »Mädchen«, sagte er schließlich, »willst du meine geliebte Frau werden?«

Beglückt von seiner Güte, willigte sie freudig ein.

Bald darauf feierten sie Hochzeit und lebten ein volles Jahr in Freude und Herrlichkeit.

Da mußte der Prinz einmal in ein fernes, fremdes Land reisen. Während er fort war, gebar seine Frau einen Sohn, der war wunderschön, und auf seiner Stirn erstrahlte ein funkelnder Stern.

Die Mutter war unsagbar glücklich; sofort sandte sie ihrem Gemahl einen Brief nach und schrieb darin:

»Ich bekam einen schönen, herrlichen Sohn, der auf der Stirn einen strahlenden Stern trägt.«

Der Bote mußte unterwegs übernachten. Er war aber zur Hütte des Bruders gekommen, und auf Befragen erzählte er der Frau seinen Auftrag, woher er komme und wohin er gehe.

Da erkannte sie, daß die Gemahlin des Prinzen niemand anders als die Schwester war, und während der Bote schlief, nahm sie ihm seinen Brief und vertauschte ihn mit einem anderen, worin sie schrieb: »Ich bekam einen Sohn mit einem Hundekopf.«



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Am nächsten Morgen reiste der Bote weiter und überbrachte dem Prinzen diesen gefälschten Brief.

Als der Prinz ihn gelesen hatte, packte ihn der Zorn und er schrieb als Antwort:

»Ich befehle, die Mutter samt dem Neugeborenen davonzujagen.« Als die Ältesten des Landes diesen Befehl lasen, schüttelten sie die Köpfe, doch sie mußten ihre Pflicht tun und gehorchen.

So wurde die arme Frau mit ihrem unschuldigen Kinde verstoßen. Die Unglückliche mußte wiederum hinausziehen in die weite Welt. Lange Zeit verdiente sie durch ihrer Hände Arbeit ihr Brot bei fremden Menschen.

Ihr Sohn wuchs indessen fröhlich heran, er war voller Übermut und Heiterkeit.

Der Prinz jedoch hatte nach seiner Rückkehr erfahren, daß sein Sohn gar keinen Hundekopf hätte, sondern vor andern durch einen strahlenden Stern auf der Stirn ausgezeichnet war.

Fortan dachte er an nichts anderes mehr als an seine verstoßene Frau, und er fuhr durch die ganze Welt, um sie zu suchen.

Lange reiste er traurig durch die Lande; von seiner Frau aber war keine Spur zu entdecken. Schließlich kam er auch in das Dorf, wo sie lebte. Er

war müde, wollte ein wenig ruhen und setzte sich in den Schatten einer Hütte. Auf der Dorfstraße tollte eine Schar Knaben umher. Er sah ihnen zu, und einer darunter, ein besonders schöner Junge, fiel ihm auf. Auch der Knabe starrte den Prinzen verwundert an.

Endlich rief er ihn zu sich und fragte ihn:

»Wie heißt dein Vater?«

»Mein Vater ist ein Prinz«, antwortete der Knabe.

»So, etwas anderes weißt du mir nicht aufzubinden? Wo wohnt denn dieser Prinz?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte das Kind, »denn mein Vater hat meine Mutter verstoßen als ich noch ganz klein war.«

»Wie heißt deine Mutter?«

Der Knabe erzählte nun alles, was er gehört hatte: daß man seiner Mutter die Hände auf den Rücken geschmiedet, daß der Prinz sie geheiratet und sie dann aus dem Schlosse hatte jagen lassen. Hierauf strich der Prinz dem Knaben das Haar aus der Stirn, und



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ein Stern blitzte ihm blendend entgegen. Da rief er: »Führe mich zu deiner Mutter!«

Er erkannte sie sofort, und die beiden feierten ein unbeschreibliches Wiedersehen. Der Prinz nahm sie mit sich in die Heimat, wo sie gleich nach ihrer Ankunft den Boten rufen ließen.

Nun erfuhren sie alles.

Der Prinz befahl, den Bruder und seine Frau vor ihn zu bringen. Sie kamen, und als die Frau die verhaßte Schwägerin in ihrem Glücke sah, wurde sie von Neid und Wut so überwältigt, daß sie sich selbst totete.

Der Bruder aber lebte von Stund an bei seiner Schwester, und sie erkannten dankbar, wie glücklich das Schicksal alles für sie gefügt hatte.


Grizko und der Pan

Eines Tages kam der Pan vom Jahrmarkt und überholte Grizko, den Hirten. Der ging seines Weges und blies auf seiner Schalmei.

»Grizko, kommst du vom Jahrmarkt?«

»Tja.«

»Hast du die Schalmei dort gekauft?«

»Tja.«

»Komm, wir gehen zusammen.« »

Hm. «

So gingen sie zusammen. Und als sie so gingen, fanden sie ein gebratenes Ferkel, so ein knusperiges Ferkelchen, mit goldbrauner Kruste, das Bäuchlein mit Hirsebrei gefüllt. Der Pan überlegte, wie er es wohl anstellen könne, das Ferkel allein zu essen. Endlich fiel ihm was ein.

»Grizko, he, Grizko, wie wollen wir denn das Ferkel essen?«

»Na, eben aufschneiden und essen.«

»Ach geh, da esse entweder ich zuviel oder du ißt zuviel. Machen wir es doch lieber so: Wir legen uns schlafen, und wer den schönsten Traum hat, darf das Ferkel allein essen.« — »Na, gut.«

Kaum lagen sie da, als der Pan auch schon schnarchte. Grizko rüttelte ihn leise, aber er schlief ganz fest. Da nahm Grizko dem Pan



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den Brotkanten weg und aß das gebratene Ferkel dazu. Er knabberte alle Knochen ab, aß den Brei auf, wurde satt und immer satter und legte sich endlich schlafen.

Da aber wurde der Pan wach, rieb sich den Schlaf aus den Augen und rüttelte Grizko.

»He, Grizko, was hast du geträumt? Du mußt mir erzählen. Wir haben es so ausgemacht.«

»Ah! Ihr habt mich zur Unzeit geweckt, Pan.«

»Erzähle deinen Traum!«

»Erzählt Ihr zuerst. Wie Ihr mich angestoßen habt, habe ich alles vergessen, muß mich erst wieder darauf besinnen.«

»Nun paß auf, Grizko, ich habe einen schönen Traum gehabt. Es war mir, als wache ich auf. Als ich mich umblickte, sah ich in unserer Nähe ein stattliches Roß grasen, ein schönes Roß — es hatte neues Zaumzeug, silberne Zügel, goldene Steigbügel und ein Daunenkissen auf dem Sattel. Ich stieg auf und ritt los, daß die Funken nur so stoben. So ritt und ritt ich über die Steppe, und so herrlich schön war es, daß ich sogar anfing zu singen. Da sah ich plötzlich einen Pfahl und kletterte die Leiter hoch. Ich kletterte und kletterte hoch und immer höher, und ehe ich richtig hinsah, war ich auch schon im Himmel. Ich ging da ein Weilchen und erblickte schließlich eine kleine Hütte. Ich öffnete ein wenig die Tür - ganz hell war es drinnen. Ich schaute hinein -da saß der liebe Gott höchstpersönlich am Tisch und aß zu Abend. Und um ihn standen Klöße und Kirschen und Spätzle mit saurer Sahne und Nudeln und Knoblauchwurst . . . «

»Ho!«

»Tja. . . Der liebe Gott guckte mich an und sagte: >Komm, Pan, iß mit mir zu Abend.<So hab ich mit Gott in eigener Person zu Abend gegessen. Siehst du, Grizko, welch schönen Traum ich gehabt habe . . . Gib mir das Ferkel! Und hast du vielleicht etwas Salz da?«

»Halt, halt, Pan, hört Euch erst meinen Traum an!«

»Nun erzähl schon, aber mach schnell!«

»Also ich habe auch geträumt, aber ganz anders. Ich wachte auf. Da graste hier eine Schindmähre. Sie hatte Zügel aus Stricken, Steigbügel aus Rutengeflecht, das ganze Zaumzeug war zerrissen und der Gaul selbst voller Ausschlag . . . Ich stieg auf und trottete los. Ich



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trottete und trottete durch die Steppe, daß mir ganz elend zumute wurde. Plötzlich sah ich, daß da ein Pfahl mit einer Leiter stand, und an dem Pfahl war ein Roß gebunden, ein herrliches Roß, mit neuem Zaumzeug, silbernen Zügeln, einem Daunenkissen.

»Das war mein - mein Roß!«

»Tja . . . Ich kletterte also die Leiter hoch. Ich kletterte, kletterte und kletterte hoch und immer höher, bis mir ganz übel wurde. Als ich oben war -schau einer an -, da war ich im Himmel. Na, ich lief da so kreuz und quer umher und kam endlich zu einer kleinen Hütte. Und wie ich die Tür öffnete, da sah ich Euch und den lieben Gott beim Abendessen sitzen. Und um Euch standen Klöße und Kirschen und Spätzle mit saurer Sahne und Nudeln und Knoblauchwurst. Und da winktest du mir ab, Pan, und sagtest: >Geh hinunter, Grizko, und iß das Ferkel, ich esse hier bereits mit dem lieben Gott zu Abend.<Na, da stieg ich wieder herunter, aß das Ferkel und legte mich danach schön schlafen.«

»Hast du wahrhaftig das Ferkel gegessen? Sage, ob du das Ferkel gegessen hast!« ereiferte sich der Pan.

»Aber ja, Pan, sogar alle Knöchelchen noch ausgelutscht. Es war ja auch nur ein ganz junges Ferkelchen!«

»Daß dich der Teufel brate! Daß du krumm und lahm würdest! Ich habe doch bloß geträumt!«

»Das hab ich nicht gewußt. Ihr winktet mir ab, daß ich hinuntersteigen und das Ferkel essen soll.«

»Daß dich . . .! Soll ich jetzt das trockene Brot essen?«

»Zürnt nicht, lieber Pan, Euren Brotkanten habe ich zum Ferkel dazugegessen. Ich dachte, nach den Pfannkuchen würdet Ihr kein Schwarzbrot mehr mögen.«

Da wurde der Pan bitterböse, nahm seine Mütze und lief davon.

Grizko aber lachte und ging seiner Wege.


Assilak und der Drache

Vor langer Zeit wurde das Land von einem Drachen heimgesucht, der die Menschen packte und in sein Reich schleppte, damit sie für ihn arbeiten sollten, denn der Drache besaß unübersehbar viel Land.



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Ein ganzes Heer gehorsamer Diener bewachte die Bauern und ließ ihnen kaum Zeit zum Ausruhen. Und wer nicht genug arbeiten konnte oder krank wurde, den schlugen die Diener des Drachen so lange, bis er tot umfiel.

Die Bauern bearbeiteten das Land des Drachen und düngten es mit den Knochen ihrer toten Brüder. So würde es auch heute noch sein, wäre nicht zu dieser Zeit tief im Walde, inmitten ewiger Sümpfe, Assilak in einer Hütte als Sohn armer Eltern geboren worden. Er wuchs auf wie eine Eiche, groß und gewaltig, und sein Vater erzählte ihm von dem grausamen Drachen und von den Leiden der Bauern in seinem traurigen Reich.

Da entschloß sich Assilak, den Drachen zu bestrafen und die Bauern von ihrer Fron zu befreien. Und da er sich nun einmal dazu entschlossen hatte, rüstete er auch gleich zum Aufbruch. Der Vater aber hielt ihn zurück und sprach: »Wohin willst du denn, mein Sohn? Ist dir dein Leben nicht mehr lieb, daß du so früh in den sicheren Tod gehen willst? Warum lieferst du dich lebendigen Leibes dem Drachen aus?«

»Ich ertrage es nicht, von den Qualen der Bauern zu hören und mit anzusehen, wie die Kinder nach ihren Vätern weinen«, erwiderte Assilak. »Ich will die Menschen von dem Drachen befreien.« »Aber wie willst du ihn denn allein besiegen können, ihn, dem Tausende gehorchen müssen?«

Assilak aber ließ sich nicht beirren. »Wir und unsere Kinder und Kindeskinder können niemals als freie Menschen leben, solange der Drache nicht erschlagen ist.«

»Wenn es so ist«, antwortete der Vater, »mach was du willst. Ich weiß ja selbst, daß die Bauern so nicht länger leben können.« Und Assilak zog aus, um den furchtbaren Drachen zu suchen. Er wanderte lange hin und her, doch nirgends war der Drache zu finden. Es schien als habe die Erde ihn und sein Reich verschlungen. Da begegnete Assilak einem uralten Mann.

»Wohin des Weges, Söhnchen? Vielleicht kann ich dir helfen?« fragte er freundlich. Assilak erzählte ihm, wohin er wolle und was er vorhabe, und klagte ihm, daß er den Drachen nicht finden könne. »Meine Füße sind wund, drei Paar Stiefel habe ich schon durchgelaufen, aber von dem Drachen sehe ich nichts!«



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»Geh nur immer weiter nach Westen«, riet ihm da der uralte Mann, »dann wirst du an eine riesengroße Steinmauer kommen. Dahinter liegt des Drachen Reich. Doch vergiß eins nicht: hast du den Drachen besiegt, so laß ihn nicht wieder los. Er wird dir vieles versprechen -glaub ihm nicht. Gold und Silber wird er dir bieten - nimm es nicht. Denk daran, daß alles mit Bauernschweiß und Bauernblut erworben ist. Hast du den Drachen besiegt, dann schleif ihn in sein Schloß und stecke es an allen vier Ecken in Brand. Das Schloß ist aus lauter Menschenknochen erbaut. Und damit nichts von dem Untier übrigbleibt, streue seine Asche in alle vier Winde.« Assilak bedankte sich für den guten Rat, verabschiedete sich von dem alten Manne und ging weiter nach Westen.

Er durchquerte dichte Wälder, gefahrvolle Sümpfe, schnelle Flüsse und tiefe Seen, ohne daß er zum Reich des Drachen gekommen wäre. Endlich erblickte er am Horizont eine gewaltige Mauer, doch als er sie erreicht hatte, war nirgends eine Pforte zu sehen. Assilak versuchte die Mauer zu erklimmen, aber sie war so glatt, daß seine Hände keinerlei Halt fanden. So beschloß er denn, die Mauer zu umgehen. Drei Tage und drei Nächte wanderte er schon an ihr entlang, und sie nahm kein Ende. Zornig sah Assilak auf die Mauer, dann blieb er stehen, ergriff einen schweren Stein und schleuderte ihn gegen sie. Da erzitterte sie, schwankte und zerfiel, als wäre sie aus Sand gebaut und nicht aus harten Steinen.

Kaum hatte Assilak einen Schritt über die Steine getan, als auch schon der Drache angeflogen kam. Er stürzte sich auf Assilak wie der Geier auf ein Huhn, sperrte seinen Rachen weit auf und wollte ihn verschlingen.

Assilak aber bückte sich, nahm eine Handvoll Sand und warf sie dem Drachen in das eine Auge.

Da brüllte der Drache laut auf, winselte und spuckte und streckte die gewaltige Zunge weit aus dem Maul. Assilak packte ihn bei der Zunge, wand sie sich um den Arm und schleifte den Drachen hinter sich her wie einen morschen Holzklotz. Der Drache aber brüllte wie tausend Wölfe. Assilak ließ seine Zunge los, riß eine Rieseneiche mit der Wurzel aus der Erde und schwang sie über seinem Haupt. Da flehte der Drache mit menschlicher Stimme: »Töte mich nicht, Assilak, schenk mir das Leben! Ich will dir alles geben, was dein Herz



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begehrt. Wenn du es wünschst, gebe ich dir mein halbes Reich und überhäufe dich mit Gold von Kopf bis Fuß.«

Assilak aber lachte und sagte: »Nicht um Gold bin ich zu dir gekommen, Drache, es ist mit Bauernblut erworben. Ich bin zu dir gekommen, um diese armen Bauern endlich aus deiner grausamen Knechtschaft zu befreien und dich für alle deine Missetaten zu strafen.« Da wollte der Drache schnell versprechen, alle Bauern freizugeben, aber er kam nicht mehr dazu. Assilak zerschmetterte ihm den Schädel. Dann packte er ihn an einem Bein und schleifte ihn in sein Schloß. In der Mitte des Palastes ließ er den toten Unhold liegen und legte an allen vier Ecken Feuer an. Wohl kamen die Diener des Drachen gelaufen und wollten ihn daran hindern, aber Assilak ergriff den größten von ihnen an einem Bein und wirbelte ihn um sich, daß der Staub nur so flog. Als er sich dann umsah, war von den anderen Dienern keine Spur mehr zu sehen.

Assilak aber freute sich an dem Feuer, das den Drachenpalast fraß, und ging dann aufs Feld zu den Bauern. Die waren erschrocken zusammengelaufen, standen in Gruppen beieinander, blickten zum brennenden Schloß und redeten leise miteinander: »Das wird wieder eine Arbeit geben, wenn der Drache uns befiehlt, einen neuen Palast zu bauen. Ach, wenn er doch selber dort umkäme!«

Assilak trat zu ihnen. Sie hielten ihn für einen neuen Diener des Drachen und verstummten.

»Warum erschreckt ihr? Ich bin ein Bauer wie ihr, ich heiße Assilak.«

»Dann wirst du auch wie wir bis ans Ende deiner Tage unter dem Joch des Drachen seufzen müssen.«

»Das brauchen wir nicht mehr«, erwiderte Assilak. »Eure Qual ist zu Ende, ihr braucht nicht mehr vor dem Drachen zu zittern. Er lebt nicht mehr. Sogar seine Asche ist mit dem Rauch in alle Winde geflogen. Ihr könnt wieder in eure Heimat gehen.«

Da jauchzten die Bauern, sie umarmten Assilak und sangen und sprangen vor Freude. Dann kehrten sie in ihre Dörfer zurück, um für sich und für ihre Kinder zu arbeiten. Assilak aber zog weiter, in andere Länder, in denen Bauern noch unter der Herrschaft böser Drachen und ihrer Diener stöhnen. Und bald wird nun die Zeit kommen, da alle Bauern frei sein werden.



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Die Katze und das Schaf

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hielten sich eine Katze und ein Schaf. Eines Tages bekamen die beiden Alten große Lust, etwas Fleisch zu essen. Da sprach der Alte zu seiner Frau:

»Komm, wir wollen das Schaf schlachten.«

Die Katze hörte das aber, lief gleich zum Schaf und sagte:

»Laß uns schnell in den Wald laufen, die Alten wollen dich töten!«

Sie liefen fort und kamen in den dunklen Wald, wo viele hohe Zedern standen. Da sagte die Katze zum Schaf:

»Laß uns auf eine Zeder klettern und dort übernachten!« Das Schaf erwiderte:

»Du vermagst es wohl, auf Bäume zu klettern. Wie aber soll ich das fertigbringen!

Die Katze aber rief:

»Wenn du unten bleibst, frißt dich der Bär. Sieh her, wie ich klettere, und mach es mir nach!«

Im Nu war die Katze oben im Baum.

Das Schaf stellte sein rechtes Vorderbein auf den untersten Ast und versuchte mit dem linken einen zweiten zu erlangen. Mit vieler Mühe erklomm es die Zeder und versteckte sich gleichfalls im Geäst. Kaum waren Katze und Schafe verschwunden, kam ein großer Bär dahergestapft. Er legte sich am Fuße der Zeder nieder und war bald eingeschlafen.

Da sprach die Katze leise zum Schaf:

»Schnell, laß dich hinabfallen und mach dabei ein großes Geschrei!« Das Schaf folgte dem Rat der Katze und ließ sich mit lautem »Bäh-Bäh« hinunterfallen. Es plumpste gerade auf den Rücken des mächtigen Bären.

Der vermochte sich vor Schreck nicht von der Stelle zu rühren. Da war auch schon die Katze heruntergesprungen und durchbiß mit ihren scharfen Zähnen die Gurgel des Bären.

Als er nun tot war, sprach die Katze zum Schaf:

»Jetzt setz dich auf den Bären und bewache ihn! Ich will nach Hause laufen und unseren Alten holen.«



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Als die Katze bei den Alten angekommen war, lief sie im Haus unruhig hin und her, miaute und schaute dabei immer nach der Tür. Da sagte die Frau zu ihrem Mann:

»Du solltest einmal mit der Katze gehen, Alter. Sicherlich war sie mit dem Schaf zusammen fort und will dich zu ihm führen.«

Der Mann folgte der Katze, die immer ein Stückchen vor ihm herlief. So kamen sie schließlich in den Wald, wo das Schaf rittlings auf dem toten Bären saß. Es zitterte vor Furcht, daß sein Herr es schlagen könnte. Als aber der Alte den toten Bären und das lebende Schaf sah, freute er sich sehr. Noch am gleichen Tag holten die beiden Alten das Fleisch des Bären auf einem Schlitten heim. Nun konnten sie alle Tage nach Herzenslust Fleisch essen.

Die Katze und das Schaf aber leben noch heute in guter Freundschaft mit dem alten Mann und der alten Frau.


Och

Früher war es nicht so wie jetzt. Früher geschahen noch Wunder auf der Welt, und auch die Welt selbst war nicht so, wie sie jetzt ist. Zu unserer Zeit gibt es von alledem nichts mehr. Ich will euch ein Märchen erzählen von dem Waldkönig Och und berichten, was das für einer war.

Vor langer Zeit einmal, viel früher noch, als unsere Erinnerung zurückreicht -vielleicht waren noch nicht einmal unser Vater und unser Großvater auf der Welt -, vor langer Zeit also lebten einmal ein armer Mann und seine Frau. Sie hatten nur einen einzigen Sohn, aber der war nicht so geraten, wie es sein sollte: Er war so faul, daß Gott erbarm! Nichts tat er, und kaltes Wasser ließ er nicht an sich heran, sondern lag immer nur auf dem Ofen und wühlte in der Asche herum. Er war vielleicht schon zwanzig Jahre alt, saß aber noch immer auf dem Ofen und kroch nie herunter. Gab man ihm zu essen, so aß er, gab man ihm nichts, so war er auch damit zufrieden.

Vater und Mutter aber waren sehr traurig und sagten: »Was sollen wir mit dir anfangen, wo du doch zu nichts zu gebrauchen bist? Andere Kinder helfen ihren Eltern, du aber frißt ganz unnütz unser Brot!«



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Der Sohn aber wollte von Arbeit nichts wissen, saß da und wühlte in der Asche. Vater und Mutter grämten und grämten sich, und schließlich sagte die Mutter:

»Was denkst du, Alter, was wir tun sollen, wo er doch schon erwachsen ist, aber solch ein Nichtsnutz, daß er keinerlei Arbeit versteht? Du solltest ihn irgendwohin geben, vielleicht lernt er etwas bei fremden Leuten.«

So gab der Vater ihn zum Schneider in die Lehre. Dort blieb er wohl drei Tage und lief davon; er kroch auf den Ofen und wühlte wieder in der Asche. Der Vater prügelte ihn, schalt ihn aus und gab ihn dann zu einem Schuster, das Schusterhandwerk zu erlernen. Aber er lief auch dort davon. Der Vater prügelte ihn wieder und tat ihn zu einem Schmied in die Lehre. Doch er blieb auch dort nicht lange und lief fort. Was sollte der Vater noch tun?

»Ich will den Schlingel, den Faulpelz, in ein anderes Land bringen und dem ersten besten in die Lehre geben, vielleicht läuft er dort nicht davon.«

Und er führte ihn fort. Sie wanderten und wanderten und kamen schließlich in einen Wald, der so dunkel war, daß man nur noch Himmel und Erde zu sehen vermochte. Als sie den Wald durchschritten hatten, waren sie müde geworden; am Wege aber stand gerade ein verkohlter Baumstumpf. Da sagte der Vater:

»Ich bin recht müde geworden und will mich setzen und ein wenig erholen.«Und als er sich auf den Baumstumpf niederließ, ächzte er: »Och, wie bin ich doch müde!«

Kaum hatte er das gesagt, als im selben Augenblick aus dem Baumstumpf ein kleiner alter Mann hervorkroch; ganz runzlig war er, und ein grüner Bart hing ihm bis zu den Knien hinab.

»Was willst du von mir, guter Freund?«fragte er.

Der Bauer staunte über das wunderliche Männchen und sagte zu ihm: »Ich habe dich nicht gerufen, geh nur fort!«

»Du hast mich nicht gerufen?« erwiderte das Männlein. »Natürlich hast du's getan!«

»Wer bist du denn?«fragte der Bauer.

»Ich bin der Waldkönig Och. Warum riefst du mich?«

»Geh nur fort, ich habe nicht daran gedacht, dich zu rufen!« sagte der Bauer.



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»Und doch hast du mich gerufen, du hast >Och!< gesagt.«

»Ich war müde, darum hab ich es gesagt.«

»Wohin gehst du denn?«fragte Och.

»Wohin die Augen schauen! Ich will meinen faulen Sohn verdingen, vielleicht bringen ihm fremde Leute Vernunft bei, denn daheim lief er fort, wohin ich ihn auch gab.«

»Verding ihn mir«, sagte Och, »ich will ihn in die Lehre nehmen; aber eine Bedingung stelle ich: Wenn du nach einem Jahr kommst, ihn zu holen, und du erkennst ihn - so nimm ihn mit; erkennst du ihn nicht - muß er mir noch ein Jahr dienen!«

»Schon gut«, sagte der Bauer.

Und sie gaben sich die Hände und tranken eins darauf, wie sich's gehört; der Bauer ging heim. Den Sohn aber nahm Och zu sich. Als der Waldkönig mit ihm fortging, führte er ihn in die andere Welt unter der Erde und brachte ihn in eine grüne Hütte, die war von einem Rohrzaun umgeben. In der Hütte aber war alles grün: die Wände waren grün und die Bänke, Ochs Frau war grün, und die Kinder waren grün, alles, alles.

Und die Wasserweibchen, die bei ihm dienten, waren so grün wie Rauten.

»Na, setz dich«, sagte Och zu seinem Knecht, »und iß etwas!« Die Wasserweibchen brachten ihm Essen, und auch das Essen war grün; und er aß sich satt.

»Jetzt geh auf den Hof«, sagte Och, »schlag Brennholz klein und trag es her!«

Der Knecht ging hinaus. Ob er nun Holz gehauen hat oder nicht, er legte sich drauf und schlief ein. Och kam heran und sah ihn schlafen. Da hob er ihn auf, ließ das Holz zusammentragen, legte den gefesselten Knecht darauf und zündete den Holzstoß an. Der Bursche verbrannte! Dann streute Och die Asche in den Wind, aber eine Kohle fiel aus der Asche heraus. Och besprengte sie mit Lebenswasser, und der Knecht wurde wieder lebendig, aber er war schon ein wenig fleißiger geworden.

Och befahl ihm nochmals, Holz zu hacken, aber er schlief wieder ein. Och zündete das Holz an, verbrannte den Knecht streute die Asche in den Wind, besprengte die Kohle mit Lebenswasser, und der Bursche ward wieder lebendig und so schmuck, wie es keinen



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zweiten gab! Dann verbrannte ihn Och zum drittenmal und besprengte wieder die Kohle mit Lebenswasser, und aus dem faulen Lümmel wurde ein so flinker und schöner Bursche, daß es nicht zu sagen noch zu denken, noch im Märchen zu erzählen ist. Er diente ein Jahr bei dem Waldkönig, und als das Jahr herum war, ging der Vater seinen Sohn holen.

Er kam in den Wald, setzte sich auf den verkohlten Baumstumpf und rief: »Och!«

Da kroch der Waldkönig aus dem Baumstumpf hervor und sprach:

»Guten Tag, Bauer!«

»Guten Tag, Och!«

»Was willst du, Bauer?«

»Ich will meinen Sohn holen.«

»Na, so komm. Erkennst du ihn, so nimm ihn mit dir, erkennst du ihn aber nicht, muß er mir noch ein Jahr dienen.«

Der Bauer ging mit Och, und sie kamen zu seiner Hütte. Och trug ein Maß Hirse hinaus und streute sie umher: Da lief eine Unmenge von Hähnen herbei!

»Na, such ihn dir heraus«, sagte Och, »wo ist denn dein Sohn?« Der Bauer sah sie sich an, doch alle Hähne waren einander gleich, einer wie der andere, und er erkannte seinen Sohn nicht.

»Na, dann geh nur wieder, wenn du ihn nicht erkannt hast; ein Jahr dient dein Sohn noch bei mir.«

Und der Bauer ging nach Hause.

Als das zweite Jahr herum war, ging der Bauer wieder zu Och. Er kam zum Baumstumpf und rief:

»Och!«

Da kroch dieser heraus und sprach:

»Komm, such ihn heraus!«

Er führte den Bauern in die Schafhürde, die war aber voll von Schafen, und eines glich dem andern. Der Bauer suchte und suchte und fand ihn nicht heraus.

»Geh nur heim, wenn's so ist«, sagte Och, »dein Sohn wird noch ein Jahr bei mir bleiben.«

Der Bauer ging fort und grämte sich.

Auch das dritte Jahr ging herum. Der Bauer wanderte wieder zu



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Och. Und wie er so dahinging, begegnete ihm ein alter Mann, der war weiß wie Milch, und auch seine Kleider waren weiß.

»Guten Tag, Bauer!«

»Guten Tag, Alter!«

»Wohin führt dich dein Weg?«

»Ich gehe zu Och, meinen Sohn auslösen.«

»Wie geht das zu?«

»So und so«, sagte der Bauer und erzählte dem weißen Alten, wie er seinen Sohn dem Och gegeben hatte und unter welcher Bedingung.

»Oh, das ist schlecht, Bauer«, sagte der Alte, »der zieht die Sache lange hinaus.«

»Ich seh ja schon selber, daß es schlecht steht«, erwiderte der Bauer, »aber ich weiß nicht, was in aller Welt ich anfangen soll. Weißt du nicht, Alterchen, wie ich meinen Sohn erkennen kann?«

»Ich weiß es wohl!« sagte der Alte.

»Sag es mir doch, Väterchen, ich will mein Lebtag für dich beten. Denn sei es, wie es sei, was für ein Lümmel er auch ist, er ist schließlich mein Sohn, mein eigen Blut!«

»Hör zu«, sagte der Alte, »wenn du zu Och kommst, wird er Tauben herauslassen; dann nimm dir aber keine andere als jene, die nicht fressen, sondern unterm Birnbaum sitzen und sich die Federn glattstreichen wird: Das ist dein Sohn!«

Da dankte der Bauer den Alten und ging weiter.

Er kam zum Baumstumpf und rief: »Och!«

Och kam sogleich heraus und führte ihn in sein Waldreich. Dort schüttete er ein Maß Weizen aus und lockte die Tauben. So viele flogen herbei, daß Gott erbarm! Und eine war genau wie die andere.

»Such deinen Sohn!« sagte Och. »Erkennst du ihn -ist er dein, erkennst du ihn nicht - ist er mein!«

Alle Tauben pickten den Weizen auf, nur eine saß ganz allein unterm Birnbaum, hatte sich aufgeplustert und strich sich die Federn glatt. Da sprach der Bauer: »Das ist mein Sohn!«

»Na, du hast's erraten! So nimm ihn!«

Och verwandelte die Taube, und ein so schmucker Bursche stand da, wie es keinen zweiten mehr auf der Welt gab. Der Vater freute sich



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von Herzen, umarmte ihn und küßte ihn. Sie alle beiden waren froh!

»Komm, mein Sohn, laß uns nach Hause gehn!«

Und sie machten sich auf.

Sie gingen ihres Weges und plauderten miteinander. Der Vater fragte, wie es beim Waldkönig gewesen war, und der Sohn erzählte. Und dann erzählte der Vater, wie elend es ihm gehe, und der Sohn hörte zu. Endlich sagte der Vater:

»Was sollen wir jetzt anfangen, mein Sohn? Ich bin arm, und du bist arm. Drei Jahre hast du gearbeitet und nichts erworben!«

»Gram dich nicht, Vater, alles wird gut werden. Schau, dort jagen die Herren hinter den Füchsen her. Ich will mich in einen Windhund verwandeln und den Fuchs fangen, dann werden die Herren mich kaufen wollen; verkaufe mich für dreihundert Rubel, aber nur ohne Halsband, so werden wir zu Geld kommen und reich werden!«

Und als sie so weitergingen, jagten die Hunde am Waidrande den Fuchs und jagten hart hinterher, daß der Fuchs nicht auskam, doch erreichen konnte ihn kein Hund. Da verwandelte sich der Sohn in einen Windhund, jagte den Fuchs und fing ihn. Die Herren kamen aus dem Walde gesprengt.

»Ist das dein Windhund?«

»Ja, er ist mein!«

»Ein guter Hund! Verkauf ihn uns!«

»Kauft ihn nur!«

»Was willst du für ihn haben?«

»Dreihundert Rubel ohne Halsband.«

»Was sollen wir mit deinem Halsband? Wir wollen ihm ein goldenes machen lassen. Hier hast du hundert Rubel!«

»Nein, dreihundert habe ich gesagt.«

»Na, so nimm das Geld; gib den Hund her!«

Sie zählten ihm das Geld ab, nahmen den Hund mit sich und jagten weiter.

Sie ließen den Windhund auf einen Fuchs los, doch als er hinter dem Fuchs herjagte, lief er in den Wald, verwandelte sich wieder in den

Burschen und kam zum Vater zurück.

Und als sie weitergingen, sprach der Vater:

»Was nützt uns schon das bißchen Geld, mein Sohn, es reicht nur,



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um für die Wirtschaft was anzuschaffen und die Hütte auszubessern.«

»Sorge dich nicht, Vater, es kommt noch mehr zusammen. Dort jagen die Herren mit dem Falken auf Wachteln. Ich will mich in einen Falken verwandeln, die Herren werden mich kaufen wollen, und du verkaufst mich für dreihundert Rubel, aber ohne Kappe.« Sie gingen über ein Feld, und die Herren ließen den Falken auf die Wachteln los; der Falke stieß hinab, aber die Wachtel versteckte sich. Da verwandelte sich der Sohn in einen Falken und stieß sofort auf die Wachtel hinunter. Die Herren sahen es.

»Ist das dein Falke?«

»Ja, er ist mein.«

»Verkauf ihn uns!«

»Kauft ihn nur!«

»Was willst du für ihn haben?«

»Gebt ihr dreihundert Rubel, so nehmt den Falken, aber ohne Kappe.«

»Wir werden ihm eine aus Brokat machen.«

Sie handelten, und schließlich verkaufte der Bauer ihn für dreihundert Rubel. Dann ließen die Herren den Falken auf eine Wachtel, aber er flog fort, weiter und immer weiter, verwandelte sich wieder in den Burschen und kam zum Vater zurück.

Jetzt sind wir schon ein wenig reicher geworden«, sagte der Vater. Und der Sohn sagte: »Warte nur, Vater, wenn wir auf den Jahrmarkt kommen, will ich mich in ein Pferd verwandeln, und du verkaufst mich. Man wird dir tausend Rubel für mich geben, aber verkaufe mich nur ohne Halfter.«

Und als sie in den nächsten Ort kamen, war dort gerade Jahrmarkt. Der Sohn verwandelte sich in ein Pferd, und es war feurig wie ein Drache, so daß man Furcht hatte, heranzutreten! Der Vater führte das Pferd am Halfter, und es bäumte sich und stampfte die Erde mit den Hufen!

Da stellten sich die Händler ein und feilschten.

»Für tausend ohne Halfter«, sagte der Vater, »dann sollt ihr es haben.«

»Was brauchen wir einen Halfter, wir machen ihm einen Zaum, der wird aus Silber sein und vergoldet!«



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Fünfhundert gaben sie.

»Nein, dafür bekommt ihr's nicht!«

Da kam ein Zigeuner heran, der war auf einem Auge blind.

»Was willst du, Bauer, für das Pferd?«

»Tausend, ohne Halfter.«

»He, teuer bist du, mein Lieber! Nimm fünfhundert mit dem Halfter.«

»Nein, das paßt mir nicht«, sagte der Vater.

»Na, sechshundert - hier!«

Aber der Zigeuner mochte noch so sehr handeln, der Bauer gab nicht nach.

»Gut, ich gebe dir's, Alter, aber mit dem Halfter.«

»He, nein, Zigeuner! Der Halfter ist mein.«

»Guter Freund, hast du schon einmal gesehen, daß man ein Pferd ohne Zaum verkauft? Man kann es ja so nicht einmal dem anderen in die Hände geben.«

»Wie du willst, aber der Halfter ist mein!« sagte der Bauer.

»Dann will ich dir noch fünf Rubel zulegen, Alter - aber mit dem Halfter.«

Der Bauer überlegte sich's: Der Zaum war vielleicht seine drei Silberlinge wert, der Zigeuner aber gab fünf Rubel! Da gab er ihm Roß und Halfter. Sie tranken eins drauf, und dann steckte der Bauer sein Geld ein und ging nach Hause. Der Zigeuner aber saß auf und ritt davon. Es war Och, der sich in einen Zigeuner verwandelt hatte. Das Pferd trug den Och weit fort, trug ihn höher als die Bäume und niedriger als die Wolken. Endlich ließen sie sich in dem Walde nieder und kehrten heim zu Och; er ließ das Pferd auf der Weide und ging selbst in die Hütte.

»Er ist mir nun doch nicht entschlüpft, der Lümmel!« sagte er zu seiner Frau.

Zur Mittagzeit aber führte Och das Pferd am Zügel zur Tränke an den Fluß. Kaum hatte er es herangeführt und sich zum Saufen niederbeugen lassen, als es sich in einen Barsch verwandelte und davonschwamm. Och besann sich nicht lange, verwandelte sich in einen Hecht und verfolgte den Barsch. Und fast hätte er ihn schon eingefangen, aber da schlug der Barsch mit den Flossen und wendete so flink mit dem Schwanz, daß der Hecht ihn nicht zu fassen kriegte.



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Schließlich rief der Hecht:

»Barschlein, Barschlein,
dreh dein Köpfchen her zu mir geschwind
und plaudere mit mir!«

»Willst du, Gevatter, mit mir plaudern«, sprach der Barsch zum Hecht, »so hör ich dich auch so.« Und wieder hatte der Hecht ihn fast erreicht und rief:

»Barschlein, Barschlein,
dreh dein Köpfchen her zu mir geschwind
und plaudere mit mir!«

Doch der Barsch schlug mit den Flossen und sagte: »Willst du das, Gevatter, dann hör ich dich auch so.«

Lange jagte der Hecht ihm nach, aber vergebens. Endlich schwamm der Barsch ans Ufer; dort wusch gerade die Zarentochter ihre Wäsche. Der Barsch verwandelte sich in einen Granatring mit goldener Fassung, den erblickte die Zarentochter und hob ihn aus dem Wasser. Sie brachte ihn heim und sagte: »Schau, was für einen schönen Ring ich gefunden habe, Väterchen!«

Dem Zaren gefiel der Ring, aber die Zarentochter wußte gar nicht, an welchen Finger sie ihn stecken sollte, so schön war er!

Als einige Zeit vergangen war, meldete man dem Zaren, daß ein Kaufmann gekommen sei - es war aber Och, der sich verwandelt hatte. Der Zar ging hinaus und fragte:

»Was willst du, Alterchen?«

»So und so«, sagte der, »ich bin auf dem Schiff übers Meer gefahren und brachte für den Zaren in meiner Heimat einen Granatring mit, aber ich ließ ihn ins Wasser fallen. Hat nicht vielleicht einer von Euren Dienern den Ring gefunden?«

»Nein«, sagte der Zar, »aber meine Tochter hat ihn gefunden.«

Und er rief sie herbei. Och bat sie flehentlich, sie möge ihm den Ring zurückgeben.

»Ich kann nicht länger leben«, sagte er, »wenn ich den Ring nicht mitbringe.«



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Sie gab ihn aber nicht her, um keinen Preis. Da sagte aber der Zar: »Gib ihn her, Töchterchen, sonst kommt der Arme durch uns ins

Unglück; gib ihn nur!«

Und Och bat sie: »Was Ihr nur wollt, nehmt von mir, aber gebt mir nur den Ring wieder!«

»Wenn es so ist«, sagte die Zarentochter, »soll er nicht mein sein und nicht dein!«

Und sie warf den Ring auf die Erde. Da zerfiel der Ring in Weizenkörner, und sie kollerten überall herum. Och besann sich nicht lange, verwandelte sich in einen Hahn und begann eilends, die Körner aufzupicken. Er pickte und pickte und hatte schon fast alle aufgepickt. Ein Korn aber war unter den Fuß der Zarentochter gerollt, und das hatte er nicht gefunden. Als Och mit Picken fertig war, flog er durchs Fenster davon.

Das Weizenkorn aber verwandelte sich in einen Burschen, der war so schmuck, daß die Zarentochter sich sofort in ihn verliebte, als sie ihn sah. Und gleich bat sie auch den Zaren und die Zarin, sie möchten ihn ihr zum Manne geben.

»Mit keinem anderen werd' ich glücklich sein«, sagte sie, »bei ihm ist mein Glück!«

Der Zar runzelte wohl die Stirn darüber, daß er die Tochter einem einfachen Bauern geben sollte; aber schließlich war er's zufrieden. Und sie segneten die beiden und verheirateten sie und feierten eine solche Hochzeit, daß alle Welt zusammenlief.

Dort war auch ich, Met und Wein trank ich, und kam auch nichts in den Mund, so floß es doch übern Bart - und davon bin ich so weiß geworden.


Das Winterlager der Tiere

Ein Alter und eine Alte hatten einen Ochsen, einen Hammel, eine Gans, einen Hahn und ein Schwein.

Da sagte einmal der Alte zu seiner Alten: »Wozu brauchen wir einen Hahn, Alte, wollen wir ihn nicht zum Fest schlachten?«

»Warum auch nicht, meinetwegen kann er in den Topf!« antwortete die Alte.



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Das hörte der Hahn und lief des Nachts davon in den Wald. Anderntags suchte der Alte seinen Hahn - und konnte ihn nirgends finden. Am Abend sprach er wieder zu der Alten:

»Ich habe den Hahn nicht finden können, wir werden das Schwein schlachten müssen!«

»Gut, schlachte das Schwein!«

Das hörte das Schwein und lief in der Nacht fort in den Wald. Der Alte suchte und suchte -konnte aber das Schwein nicht finden.

»Wir werden wohl den Hammel schlachten müssen!«

»Meinetwegen, schlacht ihn!«

Der Hammel hörte das und sprach zur Gans:

»Komm, wir wollen in den Wald laufen, sonst schlachten sie uns beide!«

Und auch der Hammel und die Gans liefen fort in den Wald.

Der Alte kam in den Hof - und sah weder Hammel noch Gans. Er suchte und suchte - fand sie aber nicht:

»So ein Wunder, das ganze Viehzeug ist weg, nur der Ochse ist uns noch geblieben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen den

Ochsen schlachten.«

»Da schlachte ihn halt!«

Das hörte der Ochse und lief auch in den Wald

Im Sommer ist es herrlich im Walde. Die Ausreißer leben einen guten Tag und kennen keine Not. Doch der Sommer war bald vorüber, und rasch kam der Winter.

Da ging der Ochse zum Hammel:

»Was meinst du, Bruder? Die kalte Zeit bricht an -wir müssen uns ein Haus bauen.«

Der Hammel gab ihm zur Antwort:

»Ich habe einen warmen Pelz, kann auch so überwintern!«

Der Ochse ging zum Schwein:

»Laß uns ein Haus bauen!«

»Wenn's nach mir geht, kann der Frost noch so arg sein - ich habe keine Angst; ich wühle mich in die Erde - komme auch ohne Haus durch den Winter.«

Der Ochse ging zur Gans:

»Komm, Gans, laß uns ein Haus bauen!«

»Nein, ich brauche keines! Ich breite den einen Flügel unter mich,



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mit dem anderen decke ich mich zu -kein Frost kann mir etwas anhaben. «

Da ging der Ochse zum Hahn:

»Laß uns ein Haus bauen!«

»Nein, ich mag nicht! Ich bleibe den Winter über unter einer Fichte sitzen.«

Der Ochse sah - er muß allein für sich sorgen.

»Macht was ihr wollt«, sagt er, »ich stelle mir ein Haus auf!«

Und er baut sich ganz allein eine Hütte, macht sich Feuer im Ofen und liegt nun da und wärmt sich.

Es wurde ein strenger Winter -der Frost knackte nur so! Der Hammel lief hin und lief her, konnte sich aber nicht erwärmen und kam zum Ochsen:

»Mä-äh! Mä-äh! Laß mich ein ins Haus!«

»Nein, Hammel! Ich hatte dich gebeten, mit mir Holz für ein Haus zu schlagen, du meintest aber, dir genüge dein Pelz, du könntest auch so überwintern.«

»Wenn du mich nicht einläßt, nehme ich Anlauf und stoße dir die

Türe ein, dann mußt du auch frieren!«

Der Ochse überlegte und meinte dann - >ich will ihn doch lieber 'reinlassen, sonst kühlt mir die Stube aus.< »Komm schon 'rein!«

Der Hammel kam ins Haus und legte sich auf die Bank vor dem Ofen. Es dauerte nicht lange, da kam das Schwein zu ihnen:

»Müff -müff! Laß mich ein, Ochse, ich will mich bloß mal ein bißchen aufwärmen!«

»Nein, Schwein! Ich hatte dich zum Holzschlagen gerufen, du aber hast gesagt, dir könnte kein Frost etwas anhaben, denn du wühltest dich in die Erde ein.«

»Wenn du mich nicht einläßt, werde ich mit meinem Rüssel die vier Ecken deines Hauses unterwühlen und dein Haus umwerfen!«

Der Ochse überlegte hin und her - >es wird mir meine Hütte unterwühlen und sie umwerfen!<

»Also komm schon 'rein!«

Das Schwein kam herein und verkroch sich gleich unter den Dielen.

Nach dem Schwein kam die Gans angeflogen:

»Gagack! Gagack! Ochse, laß mich ein, mich aufzuwärmen!«

»Nein, Gans, ich lasse dich nicht ein! Du hast ja zwei Flügel, den



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einen breitest du unter dich, den anderen über dich - und kommst so durch den Winter.«

»Wenn du mich nicht einläßt, werde ich dir das ganze Moos aus den Wänden zupfen!«

Der Ochse überlegte und ließ die Gans dann ein. Sie kam in die Stube und setzte sich auf den Herd vor den Ofen.

Kurz darauf kam der Hahn:

»Ki-ke-ri-ki! Ochse, laß mich in dein Haus!«

»Nein! Ich lasse dich nicht herein, überwintre im Wald unter der Fichte!«

»Wenn du mich nicht einläßt, fliege ich aufs Dach, scharre dort die ganze Erde weg und lasse dir die Kälte in die Stube.«

Da ließ der Ochse auch den Hahn herein. Der Hahn flog ins Haus und setzte sich auf den Querbalken.

Und so lebten sie denn zu fünft ein recht beschauliches Leben

Das erfuhren der Wolf und der Bär.

»Komm«, sagten sie zueinander, »wir wollen zum Häuschen gehen — wollen sie auffressen und dann selber in dem Häuschen wohnen.«

Sie machten sich auf den Weg und kamen zum Haus. Da spricht der Wolf zum Bären:

»Geh du voran, du bist der Stärkere.«

»Nein, ich bin zu faul, du aber bist gewandter als ich, drum gehe du voran.«

Der Wolf geht ins Haus. Kaum aber ist er drin, hat ihn der Ochse auch schon mit den Hörnern an die Wand gedrückt. Der Hammel nahm Anlauf und - ruins, ruins - stieß er den Wolf in die Seiten.

Das Schwein aber unter den Dielen schrie:

»Müff-müff! Ich wetze die Messer und auch die Beile, den lebenden Wolf zu verspeisen, habe ich die größte Eile!«

Die Gans rupfte ihm die Seiten, der Hahn aber rannte auf seinen Querbalken hin und her und schrie unentwegt:

»Gager-di-gack! Reicht ihn mir doch herauf! Habe ein Messer, habe 'ne Leine! Hier will ich ihn schlachten, hier ihn auch gleich hängen!«

Der Bär hörte den Lärm und das Geschrei und eilte davon. Dem Wolf aber war es nach langem Zerren endlich gelungen, sich loszureißen



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und zu entkommen. Er holte den Bären ein und erzählte ihm:

»Oh, wie ist es mir ergangen! Fast totgeschlagen haben sie mich Ein Riese von einem Kerl, in schwarzem Pelz, hat mich mit der Ofengabel an die Wand gestemmt. Ein kleinerer Kerl, in grauem Pelz, stieß mir mit einem Beil in die Seiten. Und noch ein kleinerer, in einem weißen Kleid, zwickte mich unentwegt mit einer Zange. Das kleinste Männlein aber in einem roten Fräcklein lief auf dem Balken entlang und sang: >Gager-di-gack! Reicht ihn mir doch hier herauf! Ich habe ein Messer, habe 'ne Leine! Hier werde ich ihn schlachten, hier ihn auch gleich hängen!< Und unter den Dielen, da brüllte es laut: >Ich wetze die Messer und auch die Beile, den lebenden Wolf zu verspeisen, habe ich die größte Eile!«

Von dem Tage an ließen sich weder Wolf noch Bär in der Nähe des Hauses sehen.

Der Ochse aber, der Hammel, die Gans, der Hahn und das Schwein leben heute noch dort und kennen keinerlei Not.


Der Axt brei

Ein Soldat, der lange Jahre in der Armee des Zaren gedient hatte, wanderte dereinst in sein Heimatdorf zurück. Seine Füße waren müde vom weiten Weg, sein Magen knurrte, und an der ersten Hütte eines Dorfes klopfte er ermattet an.

Eine alte Frau öffnete die Tür und forderte ihn auf, einzutreten. »Hast du wohl was zu essen für mich, Bäuerin?«fragte er.

Die Frau war geizig von Gemüt und wollte ihm nichts geben. Sie gab ihm wehklagend zur Antwort: »Ach, lieber Mann, ich habe selber heute noch keinen Bissen gegessen, ich habe nichts!«

»Das ist freilich schlimm, da ist nichts zu machen«, entgegnete der Soldat.

Doch entdeckte er eine Axt ohne Stiel, die unter der Küchenbank lag.

»Wenn man sonst nichts hat, läßt sich auch aus einer Axt Brei kochen«, sagte er, und die Bäuerin schlug staunend die Hände zusamen



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»Aus einer Axt?! So etwas habe ich noch nie gehört.«

»Gleich werde ich's dir zeigen. Gib nur einen Topf her!«

Die Alte brachte einen Topf. Der Soldat wusch die Axt schön sauber, legte sie in den Topf, goß Wasser hinein und stellte ihn aufs Feuer. Mit weitoffenen Augen sah ihm die Bäuerin zu.

Der Soldat holte seinen Löffel aus dem Ranzen, rührte im Topf um und kostete ab.

»Bald wird's fertig sein«, sagte der Soldat. »Nur schade, daß kein Salz dran ist.«

»Salz hab' ich hier, nimm nur«, rief da die Bäuerin.

Der Soldat salzte und kostete wieder.

»Ein wenig Graupen sollten noch hinein«, sagte er.

Die Alte brachte ein Säckchen Graupen aus der Kammer und meinte: »Nimm nur soviel du brauchst!«

Der Soldat ließ Axt, Wasser und Graupen kochen und rührte von Zeit zu Zeit um. Dann schmeckte er wieder ab.

Die Alte guckte ihn neugierig an.

»Gut ist der Brei«, lobte der Soldat. »Ein bißchen Fett noch, und man könnte sich die Finger ablecken.«

Die Bäuerin hatte auch Fett im Spind.

Sie tat eine große Menge davon in den Topf.

»Nun, lange nur zu, Bäuerin!«

Der Soldat und die Bäuerin löffelten den Brei, und er schmeckte ihnen vortrefflich.

»Nie hätte ich gedacht, daß man aus einer Axt solch einen schmackhaften Brei kochen könnte«, verwunderte sich die Alte.

Der Soldat aber führte fleißig den Löffel zum Mund und schmunzelte listig in seinen Bart.


Rollerbslein

Es war einmal ein Mann, der hatte sechs Söhne und eine Tochter.

Die Söhne gingen auf den Acker pflügen und trugen der Schwester auf, ihnen das Essen zu bringen. Sie fragte:

»Wo werdet ihr pflügen? Ich weiß es nicht.«

Drauf sagten sie ihr:



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»Wir ziehen eine Furche von unserm Haus bis zu jener Breite, wo wir pflügen werden. Geh du nur immer an der Furche entlang.« Und sie zogen los.

Doch nicht weit von jenem Feld hauste im Wald ein Drache. Der schüttete kurzerhand die Furche zu und zog eine andere, geradewegs bis zu seiner Behausung. Als nun das Mädchen ihren Brüdern das Essen hintrug, ging sie an dieser Furche entlang. Und sie ging so lange, bis sie schließlich zum Drachenhof kam. Dort packte sie der Drache.

Abends kehrten die Söhne vom Felde heim und sprachen zur Mutter:

»Wir haben geackert den lieben langen Tag, und du hast uns nicht mal was zu essen geschickt.«

»Wieso denn? Aljonka brachte euch das Essen hin. Ich glaubte, sie käme mit euch zurück. Ob sie sich etwa gar verirrt hat?«

Da sagten die Brüder:

»Wir wollen sie suchen.«

Und sie schritten zu sechst an der Furche entlang, und die führte sie zu jenem Drachenhof, wo ihre Schwester gefangen saß. Sie kamen und schauten -ja, dort war sie.

»Meine lieben Brüderlein, wo soll ich euch verstecken? Sobald der Drache kommt, wird er euch fressen.«

Doch schon kam der Drache angeflogen.

»Fu-fu-fu«, fauchte er. »Es riecht nach Menschenfleisch. He, Burschen, wollt ihr richten oder schlichten?«

»Nein«, riefen die Brüder. »Wir wollen richten.«

»Dann kommt mit auf die Eisentenne.«

Und sie gingen auf die Eisentenne, den Kampf auszutragen. Doch nicht lange rangen sie. Der Drache schlug zu und hieb sie gleich in den eisernen Boden ein. Drauf nahm er die Halbtoten und warf sie in ein tiefes Verlies.

Vater und Mutter warteten zu Haus, sie warteten tagaus, tagein, aber vergeblich, die Söhne kehrten nicht heim.

Ging einst die Frau zum Fluß Wäsche spülen. Schaut sie und sieht — kommt doch ein Erbslein den Weg dahergerollt. Sie nahm das Erbslein und verzehrte es. So geschah es, daß ihr ein Sohn geboren ward; und sie nannten ihn Rollerbslein.



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Der Sohn wuchs heran, wurde groß, immer größer, obgleich er an Jahren noch ein Kind.

Eines Tages machten sich Vater und Sohn daran, einen Brunnen zu graben. Und wie sie so gruben, stießen sie auf einen mächtigen Stein. Der Vater ging Leute rufen, damit sie ihm helfen, den Stein zu heben.

Doch während er fort war, holte Rollerbslein selber den mächtigen Brocken heraus. Die Leute, als sie kamen, rissen vor Staunen die Augen auf. Sie erschraken sehr, weil Rollerbslein solche Kraft besaß, und beschlossen, ihn umzubringen. Er aber warf den Stein in die Luft und fing ihn auf. Als die Leute das sahen, liefen sie Hals über Kopf davon.

Vater und Sohn machten sich neuerlich an die Arbeit. Bald klirrte ihr Spaten an einem großen Stück Eisen. Das klaubte Rollerbslein heraus und versteckte es.

Eines schönen Tages fragte Rollerbslein die Eltern: »Sagt, hatte ich nicht Brüder und eine Schwester?«

»Ach, liebes Söhnchen«, antworteten diese, »du hattest eine Schwester und sechs Brüder, doch es kam so . . .

Und sie erzählten ihm alles.

»Hm«, sagte er. »Ich will sie suchen.«

Die Eltern begannen ihm abzureden:

»Tu das nicht, Söhnlein. Sechs gingen hin und kamen nicht wieder.

Du allein wirst gewiß dein Leben lassen.«

»Nein, ich gehe. Wie denn anders? Ich muß mein eigen Fleisch und Blut befreien.«

Er nahm das Eisen, das er ausgegraben, und trug es zum Schmied. »Mach mir ein Schwert«, sagte er. »Recht groß soll es sein.«

Und der Schmied machte ihm ein Schwert; das war so groß und schwer, daß man es kaum aus der Schmiede tragen konnte. Dies Schwert nun nahm Rollerbslein in die Hand, schwang es und warf's in die Luft. Zum Vater sagte er:

»Ich gehe jetzt schlafen. Weck mich, wenn das Schwert herunterkommt, in zwölf Tagen.«

Und er legte sich aufs Ohr. Am dreizehnten Tag war ein Sausen in der Luft, da kam das Schwert angeflogen. Der Vater weckte den Sohn. Der sprang auf, streckte die Faust aus, und wie das Schwert



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auf die Faust prallte, zersprang es in zwei Stücke. Sprach der Sohn zum Vater:

»Nein, mit diesem Schwert kann ich meine Geschwister nicht suchen. Ich muß ein anderes haben.«

Und er trug das Schwert in die Schmiede zurück.

»Da, nimm es«, sagte er. »Schmiede es mir neu zurecht, damit es mir gut sei.«

Der Schmied machte ein Schwert, noch besser als das erste. Roherbslein warf auch dieses Schwert in die Luft und legte sich für zwölf Tage schlafen. Am dreizehnten kam das Schwert zurück, es sauste, daß die Erde zitterte. Rollerbslein sprang auf, hielt die Faust hin, das Schwert prallte auf und verbog sich nur ein bißchen.

»Na, das geht an, mit diesem Schwert werde ich meine Brüder und die Schwester suchen. Backe Brot, Mutter, und mach Zwieback, ich gehe fort.«

Und er nahm das Schwert, packte Zwiebacke in den Sack, verabschiedete sich von seinen lieben Eltern und machte sich auf den Weg.

An der Furche ging er entlang, an der alten, die kaum noch sichtbar war, und die führte ihn in den Wald. Lange ging er durch den Wald, lange, bis er an ein großes Anwesen kam. Er trat durchs Tor, trat in die Gemächer; der Drache war fort, nur die Schwester Aljonka war da.

»Guten Tag, schönes Mädchen«, sprach Rollerbslein.

»Guten Tag, wackrer Jüngling. Was suchst du hier? Wenn der Drache kommt, frißt er dich.«

Und Rollerbslein antwortete:

»Vielleicht auch nicht. Wer bist du?«

»War die einzige Tochter meiner Eltern, doch der Drache raubte mich. Meine sechs Brüder wollten mich befreien, doch sie befreiten mich nicht.«

»Wo sind deine Brüder?«

»Im tiefen Verhies, weiß nicht, ob sie noch leben.«

»So werd' ich dich befreien«, sprach Rollerbslein.

»Wo denkst du hin! Sechs konnten es nicht, und du bist allein.«

»Macht nichts«, erwiderte Rollerbslein.

Er setzte sich ans Fenster und wartete.



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Gerade um diese Zeit kam der Drache angeflogen. Wie der Wind fuhr er ins Haus und schnüffelte mit der Nase.

»Hm, hm, hier riecht's nach Menschenfleisch.«

»Gewiß«, erwiderte Rollerbslein, »denn ich bin hier.«

»Oho, Bursche! Was ist dein Begehr - richten oder schlichten?«

»Schlichten? So siehst du aus! Richten!«sprach Rollerbslein.

»Dann komm mit auf die Eisentenne.«

»Schön.«

Und sie gingen. Der Drache sprach:

»Du hast den ersten Schlag.«

»Nein«, erwiderte Rollerbslein. »Fang du an.«

Der Drache schlug zu, bis zum Fußgelenk schlug er Rollerbslein in den eisernen Boden ein. Der zog die Füße heraus, schwang sein Schwert und ließ es auf den Drachen niedersausen. Bis ans Knie sank der Drache ein. Doch er riß sich los, schlug abermals zu und trieb Rollerbslein ebenfalls bis an die Knie in den Boden. Rollerbslein hieb zum andernmal, schlug den Drachen bis an die Hüfte in die Eisentenne, und als er zum drittenmal zuschlug, gab der Drache seinen Geist auf.

Da ging er in den Keller, ins finstere Verlies, öffnete Riegel und Schloß und ließ die Brüder heraus, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Er nahm sie mit, auch sein Schwesterlein Aljonka nebst dem ganzen Gold und Silber des Drachen, und sie zogen zusammen nach Haus.

Während sie so ihres Weges gingen, verriet jedoch Rollerbslein nicht, daß er ihr Bruder war. Ober kurz oder lang machten sie unter einem jungen Eichenbaum Rast. Rollerbslein müde vom Kampf, war bald in tiefen Schlaf gesunken. Die sechs Brüder aber hielten Rat: »Die Leute werden uns ja auslachen. Zu sechs sind wir mit dem Drachen nicht fertiggeworden, und er allein hat ihn getötet. Und die ganzen Schätze des Drachen wird er auch behalten.«

Sie berieten lange, und dann beschlossen sie: Er schläft und merkt nichts, wir werden ihn mit Bast fest an die Eiche binden, da kann er sich nicht losmachen. Die wilden Tiere werden ihn zerreißen. Gesagt, getan, sie banden ihn an die Eiche und schlichen sich davon. Rollerbslein aber schlief und merkte nichts. Er schlief einen Tag, eine Nacht, und als er erwachte, sah er, daß er angebunden war. Da



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ruckte er, und er ruckte so gewaltig, daß die Eiche samt der Wurzel aus dem Boden sprang. Den Baum lud er auf die Schulter und wanderte heimwärts. Bald kam er zu dem Häuschen seiner Eltern. Schon von weitem hörte er, daß die Brüder da waren. Sie fragten die Mutter:

»Sagt, Mütterchen, hattet ihr noch Kinder?«

»Gewiß doch! Einen Sohn hatte ich, Rollerbslein hieß er und zog aus, um euch zu befreien.« Darauf einer der Brüder:

»Ach, das war sicher der, den wir angebunden haben. Wir werden ihn losbinden.«

Vor Zorn ließ Rollerbslein den Eichenstamm auf das Dach niederkrachen, es fehlte nicht viel und das Haus wäre eingestürzt. »Bleibt hier, wenn ihr so schlechte Kerle seid!«sprach er. »Ich aber ziehe in die Welt hinaus.«

Warf sein Schwert über die Schulter und schritt von dannen. Und wie er so seines Weges dahinwandert, sieht er: Da steht ein Berg, dort steht ein Berg, und in der Mitte liegt ein Mann, der sie mit Händen und Füßen auseinanderstemmt.

»Schön guten Tag«, sagte Rollerbslein.

»Schön guten Tag.«

»Was machst du denn, guter Mann?«

»Ich schiebe die Berge auseinander, damit man hindurch kann.«

»Und wohin gehst du?«

»Mein Glück suchen.«

»Das gleiche tue ich. Wie heißt du?«

»Schiebeberg. Und du?«

»Rollerbslein. Laß uns zusammen weiterziehen.«

»Ist recht.«

Und sie gingen weiter, lange, lange . . . Plötzlich sahen sie einen

Mann im Walde stehen, und jedesmal, wenn er den Arm schwenkte, fielen die Eichen mitsamt der Wurzel um.

»Schön guten Tag.«

»Schön guten Tag.«

»Was machst du, guter Mann?«

»Ich reiße Bäume aus, damit man besser durch den Wald gehen kann.«



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»Und wohin gehst du?«

»Mein Glück suchen.«

»Wir tun das gleiche. Wie heißt du?«

»Dreheiche. Und ihr?«

»Rollerbslein und Schiebeberg. Komm mit.«

»Ist recht.«

Und sie wanderten zu dritt weiter, lange, sehr lange . . . Plötzlich sahen sie - steht doch ein Mann im Fluß, hat einen mächtigen Schnurrbart, den zwirbelt er, und davon tritt das Wasser zurück, so daß man trockenen Fußes über den Grund gehen kann. Sie begrüßten ihn:

»Schön guten Tag.«

»Schön guten Tag.«

»Was machst du, guter Mann?«

»Ich halte das Wasser auf, damit man über den Fluß kommt.«

»Und wohin gehst du?«

»Ich suche mein Glück!«

»Wir tun das gleiche. Wie heißt du?«

»Krutius. Und ihr?«

»Rollerbslein, Schiebeberg und Dreheiche. Komm mit.«

»Ist recht.«

Und sie wanderten weiter, es war eine Lust. Wo ein Berg war, schob ihn Schiebeberg fort, wo ein Wald, riß Dreheiche die Bäume aus, und wo ein Fluß, hielt Krutius das Wasser zurück.

Schließlich kamen sie in einen dunklen Wald. Dort stand ein Häuschen. Sie traten ein, doch es war leer. Rollerbslein sagte:

»Hier wollen wir übernachten.«

Und so taten sie. Am anderen Morgen in der Früh sprach Rollerbslein:

»Bleib hier, Schiebeberg, und mach das Mittagessen, wir drei gehen auf die Jagd.«

Und sie gingen fort. Schiebeberg aber kochte und briet, dann legte er sich schlafen. Plötzlich klopfte es an der Tür:

»Mach auf!«

»Seid kein großer Herr, könnt wohl selbst aufsperren«, antwortete Schiebeberg.



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Die Tür sprang auf und jemand rief:

»Heb mich über die Schwelle!«

»Seid kein großes Tier, kommt wohl selbst allhier!« Und da sah er -kommt doch ein winziges altes Großväterchen über die Schwelle gekrochen, mit einem Bart, der ellenlang hinterherschleift. Das Männlein nahm Schiebeberg beim Schopf und hängte ihn flugs an einen Nagel an der Wand. Alles aber, was Schiebeberg gekocht und gebraten hatte, aß es auf, schnitt noch zu guter Letzt aus Schiebebergs Rücken einen Riemen Haut und machte sich aus dem Staub. Schiebeberg zappelte und machte sich mit Müh und Not frei, wobei er einen Busch Haare aus seinem Schopf riß. Schnell begann er von neuem zu kochen. Die Freunde kamen, er aber stand noch am Herd.

»Warum ist das Essen nicht fertig?«

»Ich hab' ein bißchen geduselt.«

Sie aßen und legten sich schlafen. Am anderen Morgen standen sie auf. Rollerbslein sagte:

»So, Dreheiche, heut bleibst du zu Haus, und wir gehen auf die Jagd.«

Und sie gingen fort. Dreheiche kochte und briet und legte sich sodann aufs Ohr. Da klopfte jemand an die Tür.

»Mach auf!«

»Seid kein großer Herr, könnt wohl selbst aufsperren.«

»Heb mich über die Schwelle.«

»Seid kein großes Tier, kommt wohl selbst allhier.«

Und wieder kam das alte Männlein hereingekrochen, und sein Bart schleifte ellenlang hinternach. Packt den Dreheiche beim Schopf, hängt ihn an den Nagel, ißt und trinkt, was gebraten und gesotten war, schneidet einen Riemen Haut aus Dreheiches Rücken und macht sich aus dem Staub. Dreheiche zappelte aus Leibeskräften und hatte seine liebe Not, bis er vom Nagel loskam. Schnell begann er neues Essen zu kochen.

Die Freunde kamen heim.

»Warum bist du mit dem Mittagessen nicht fertig?«

»Ich habe gedöst«, sagte er. »Ein bißchen.«

Schiebeberg aber hielt schön den Mund, er erriet, was sich zugetragen hatte.



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Am nächsten Tag blieb Kurtius zu Haus, und auch mit ihm wiederholte sich dieselbe Geschichte. Da sagte Rollerbslein:

»Ihr seid faul und saumselig. Morgen geht ihr auf die Jagd, und ich bleibe zu Haus.«

Und so machten sie es. Die drei gingen auf die Jagd, und Rollerbslein hütete das Haus.

Bald war das Essen fertig, und er legte sich aufs Ohr. Da klopfte es an die Tür: »Mach auf!«

»Wart einen Augenblick, ich mache auf«, erwiderte Rollerbslein. Er sperrte auf. Vor der Tür stand ein altes Hutzelmännchen, und sein ellenlanger Bart schleifte hinter ihm her.

»Heb mich über die Schwelle.«

Rollerbslein tat, wie ihm geheißen. Doch der Alte ließ ihn nicht in Ruhe.

»Was willst du?«fragte Rollerbslein.

»Das wirst du gleich sehen«, versetzte der Alte und streckte die Hand nach Rollerbsleins Schopf aus. Doch eh' er noch zugreifen konnte, rief Rollerbslein:

»Wer bist du?« Und schon hatte er ihn am Bart gepackt.

Er nahm die Axt, schleppte den Alten zu einer Eiche, die spaltete er und klemmte den Bart in die Kerbe.

»Wenn du so einer bist, daß du es auf meinen Schopf abgesehen hast, dann sitz hier, solang es mir gefällt.« Und er ging ins Haus zurück, denn die Freunde waren schon von der Jagd gekommen.

»Ist das Essen fertig?«

»Schon lange.«

Sie aßen. Dann sagte Rollerbslein:

»Kommt mit, ich will euch ein merkwürdiges Ding zeigen.«

Sie gingen zur Eiche, doch sie fanden weder die Eiche noch den Alten. Der hatte den Baum ausgerissen und mitgezogen. Rollerbslein erzählte nun, was ihm widerfahren, und die Freunde gestanden auch, was mit ihnen geschehen war-daß der Alte sie am Schopf aufgehängt und Riemen aus ihrer Haut geschnitten hatte.

»He«, sagte Rollerbslein, »so einer ist er! Dann gehen wir ihn suchen.«

Wo der Alte den Baum geschleift hatte, war das Gras zerdrückt. Dieser Spur gingen sie nach.



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Nach langer Zeit gelangten sie zu einer Grube, die war so tief, daß der Boden nicht zu sehen war. Rollerbslein sagte:

»Kriech hinein, Schiebeberg!«

»Ach, hol ihn der Teufel.«

»Und du, Dreheiche?«

Aber Dreheiche und Krutius hatten ebenfalls keine Lust.

»Na, dann steig ich eben selber hinab«, sprach Rollerbslein. »Wir wollen nun Stricke drehen.« Sie drehten Stricke. Rollerbslein schlang das eine Ende um seinen Arm und sagte:

»Laßt mich hinab.«

Sie ließen ihn an dem Strick hinab, lange, sehr lange. Schließlich erreichte er aber doch den Boden der Grube, das war schon in jener Welt.

Und so spazierte denn Rollerbslein dort herum, plötzlich sah er einen herrlichen Palast stehen. Der blitzte und funkelte von Gold und Edelsteinen. Rollerbslein trat ein. Und wie er so durch die Gemächer wandelte, kam eine Prinzessin auf ihn zugelaufen und war so wunderschön, daß man's nicht im Märchen erzählen noch mit der Feder beschreiben kann.

»Ach, guter Mann«, sagte sie. »Warum bist du bloß hergekommen?«

»Ich heiße Rollerbslein«, entgegnete er darauf, »und suche einen kleinen alten Mann mit langem Bart.«

»Oh«, sagte sie, »der Alte zieht gerade seinen Bart aus der Kerbe im Eichbaum. Geh nicht zu ihm, er tötet dich. Er hat schon viele Menschen umgebracht.«

»Mich tötet er nicht«, erwiderte Rollerbslein. »Ich habe ihm den Bart eingeklemmt. Was machst du hier?«

»Ich bin eine Prinzessin, der Alte hat mich geraubt und hält mich hier gefangen.«

»So werde ich dich befreien. Führe mich zu ihm.«

Und sie führte ihn hin. Saß doch wirklich der Alte da und hatte schon den ganzen Bart aus der Kerbe gezogen. Wie er Rollerbslein sah, brüllte er:

»Was willst du hier. Richten oder schlichten?«

»Nein, schlichten will ich nicht, ich will mit dir kämpfen.«



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Und sie begannen den Kampf. Lange schlugen sie sich, sehr lange, schließlich tötete Rollerbslein den Alten mit seinem Schwert. Darauf packten er und die Prinzessin all das Gold und die Edelsteine in drei Säcke und gingen zu der Grube, durch die er herabgestiegen war.

Als sie hinkamen, rief er:

»He, Brüder, seid ihr noch da?«

»Ja, wir sind hier.«

Da band er den einen Sack an den Strick und ließ ihn hochziehen.

»Der ist euer!«

Sie zogen ihn herauf und warfen den Strick abermals herab. Er band den zweiten Sack an.

»Der ist auch euer.«

Auch den dritten Sack schenkte er ihnen, alles, was er erbeutet hatte.

Doch dann band er die Prinzessin an und rief:

»Das gehört mir!«

Und die drei zogen die Prinzessin aus der Grube. Nun mußten sie Rollerbslein emporziehen. Da überlegten sie: »Wozu sollen wir ihn heraufziehen? Lieber behalten wir die Prinzessin auch für uns. Wir werden ein bißchen ziehen und dann loslassen, so stürzt er ab und zerschlägt sich alle Knochen.«

Rollerbslein aber ahnte, was sie im Schilde führten. Er nahm einen großen Stein, band ihn an den Strick und rief:

»Holt mich 'rauf!«

Sie zogen ihn fast bis oben, aber dann ließen sie los, der Stein fiel krachend in die Tiefe.

»Na so was«, sagte Rollerbslein. »Soll es so sein?«

Und er machte sich in jener Welt auf die Wanderung. Er ging lange, sehr lange, doch da ballten sich Wolken am Himmel zusammen, und ein starker Regen, vermischt mit Hagel, prasselte hernieder. Rollerbslein stellte sich unter eine Eiche. Plötzlich hörte er, wie auf der Eiche ein paar Adlerjunge in ihrem Nest piepsten. Er stieg auf den Baum und deckte die Jungen mit seinem Mantel zu. Es regnete weiter. Da kam ein großer Vogel geflogen, es war der Adler, der Vater der Kleinen. Er sah, daß die Kinderchen zugedeckt waren, und fragte:

»Wer hat euch zugedeckt?«

Und die Kinder gaben zur Antwort:



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»Friß ihn nicht auf, so sagen wir's.«

»Nein, ich fresse ihn nicht.«

»Dort sitzt ein Mann unterm Baum, der hat uns zugedeckt.«

Der Adler flog zu Rollerbslein und sprach:

»Sag mir, was du wünscht, ich gebe dir alles. Zum erstenmal sind meine Jungen lebendig geblieben. Immer, wenn ich wegfliege, fängt ein furchtbarer Regen an, und sie ersaufen im Nest.«

»Trag mich in die obere Welt«, bat Rollerbslein.

»Da hast du mir aber eine schwere Aufgabe gegeben! Nichts zu machen, ich werde fliegen müssen. Wir nehmen sechs Fäßchen Fleisch und sechs Fäßchen Wasser mit. Wenn ich den Kopf im Flug nach rechts drehe, wirfst du mir ein Stück Fleisch in den Schnabel, wenn ich ihn nach links drehe, gibst du mir ein bißchen Wasser. Sonst halte ich nicht aus und falle hinunter.«

Sie nahmen sechs Fäßchen Fleisch und sechs Fäßchen Wasser. Rollerbslein setzte sich auf den Rücken des Adlers, und sie flogen los. Lange flogen sie, sehr lange. Der Adler drehte den Kopf nach rechts, und Rollerbslein warf ihm ein Stück Fleisch zu, er drehte ihn nach links, und Rollerbslein gab ihm Wasser zu trinken. Sie waren schon beinah am Ziel. Da drehte der Adler wieder den Kopf nach rechts, doch in dem Fäßlein war kein Fleisch mehr. Rollerbslein schnitt ein Stück aus seinem Bein und warf es dem Adler in den Schnabel. Oben angekommen, fragte der Adler:

»Was war das für ein leckrer Happen?«

Rollerbslein wies auf sein Bein:

»Da hab' ich's hergenommen.«

Da spie der Adler das Fleisch aus, flog fort und kam mit heilendem Wasser zurück. Er legte das Stück ans Bein, tröpfelte das Wasser darauf, und es wuchs wieder an.

So getan, flog der Adler nach Hause, Rollerbslein aber machte sich auf die Suche nach seinen Gefährten. Die waren bereits beim Vater der Prinzessin zu Besuch und zankten sich in einem fort, weil jeder von ihnen die Prinzessin heimführen wollte. Sie konnten sich gar nicht einig werden.

Als plötzlich Rollerbslein auftauchte, erschraken sie sehr, denn sie dachten, er werde sie töten.

Er aber sprach:



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»Meine leiblichen Brüder haben mich verraten, was soll ich von euch verlangen. Ich muß euch verzeihen.« Und er verzieh ihnen. Dann heiratete er die Prinzessin, und sie leben herrlich und in Freuden.


Hund, Wolf und Kater als Gesellen

Es war einmal ein Mann, der hatte einen Hund. Solange er jung und stark war, bewachte der Hund das Haus seines Herrn, als er aber alt und schwach wurde, jagte ihn der Bauer vom Hof. Der Hund lungerte nun in der Steppe herum, fing Mäuse oder was ihm sonst unter die Schnauze kam; so fristete er sein Leben.

Eines Nachts begegnete der Hund einem Wolf, der sprach zu ihm:

»Guten Abend, Hund!«

Der Hund grüßte seinerseits. Dann fragte der Wolf:

»Wohin des Wegs, Hund?«

»Solange ich jung war, hat mich mein Herr gern gehalten, ich bewachte ihm ja die Wirtschaft. Als ich aber alt wurde, jagte er mich davon.«

Der Wolf fragte weiter:

»Sicher willst du essen, Hund?«

»Und wie!« lautete die Antwort.

Darauf der Wolf:

»Komm mit mir, ich geb' dir zu essen.«

Und so zogen sie zusammen weiter. Sie strolchten durch die Steppe.

Da sah der Wolf Schafe und schickte den Hund dorthin.

»Lauf geschwind und schau nach, was für Tiere dort weiden.«

Der Hund sprang hin, sah sich die Herde an, kam zurück und sagte:

»Das sind Schafe.«

»Soll sie der Kuckuck holen. Wir stopfen uns bloß das Maul mit Wolle voll und kriegen nichts Ordentliches in den Magen. Von denen werden wir nicht satt. Komm weiter, Hund.«

Sie machten sich wieder auf den Weg. Da sah der Wolf Gänse.

»Komm schnell«, sagte er zum Hund. »Sieh mal nach, was für Tiere dort auf der Wiese sind.«

Der Hund ging hin, schaute nach, kam zurück und sagte:



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»Das sind Gänse.«

»Soll sie der Kuckuck holen. Wir kriegen bloß Federn ins Maul und werden nicht satt. Gehen wir weiter.«

Und sie zogen weiter. Der Wolf lugte aus und entdeckte ein Pferd.

»Geh näher, Hund«, sagte er, »und schau nach, was für ein Tier dort weidet.«

Als der Hund zurückkam, meldete er:

»Ein Pferd.«

»Das ist das Richtige für uns«, erklärte der Wolf.

Sie gingen näher zu dem Pferd heran. Der Wolf scharrte den Boden und biß in die Erde, um sich ordentlich in Wut zu bringen. Dann fragte er:

»Schau her, Hund, schwingt mein Schwanz drohend hin und her?«

Der Hund entgegnete:

»Ja, er schwingt drohend hin und her.«

»Jetzt guck noch mal«, sagte der Wolf. »Sind meine Augen gierig aufgerissen?«

»Ja, sie sind gierig aufgerissen«, erwiderte der Hund. Da stürzte sich der Wolf auf das Pferd. Er packte es an der Mähne, warf es zu Boden und riß es in Stücke. Nun taten sie sich gütlich. Der Wolf war jung und fraß sich schnell satt. Der alte Hund aber kaute eifrig, doch es war nicht viel, was er in den Magen bekam. Derweil liefen andere Hunde herbei und scheuchten ihn fort.

Nun ging der Hund wieder einsam seiner Wege. Da begegnete ihm ein Kater, auch so ein betagtes Tier wie er, das in der Steppe herumzog und Mäuse fing.

»Guten Tag, Katerchen. Wohin des Wegs?«

»Ich wandere umher, ganz gleich, wohin. Solang ich jung war, hab' ich meinem Herrn gedient und Mäuse gefangen, aber seit ich alt und schwach auf den Augen bin, hab ich die Mäuse nicht mehr richtig gesehen. Da hat mein Herr mich nicht mehr gefüttert, und schließlich jagte er mich fort. Und so lauf ich bald hierhin, bald dorthin.« Da sagte der Hund zu ihm:

»Nun wenn's so ist, Katerherz, ich werd' dich füttern.«

Doch dabei hatte er vor, es geradeso wie der Wolf zu machen.

Und so wanderten sie zu zweit.

Der Hund sah Schafe und schickte den Kater hin.



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»Lauf hin, Brüderchen, sieh mal nach, was dort auf der Weide ist.«

Der Kater lief hin, sah sich die Tiere an und sagte:

»Das sind Schafe.«

»Sollen sie sich zum Kuckuck scheren. Wir stopfen uns nur den Mund voll Wolle, kriegen wenig Bissen in den Magen und bleiben hungrig. Komm, marschieren wir weiter, Kater.« Nach einer Weile sah der Hund Gänse.

»Ach, geh doch mal hin, Brüderlein, und sieh nach, was dort weidet.«

Der Kater lief hin, sah sich die Tiere an und sagte:

»Das sind Gänse.«

»Sollen sie zur Hölle fahren. Wir kriegen nur Federn in den Mund und werden nicht satt.«

Und sie setzten ihren Weg fort.

Plötzlich sah der Hund ein Pferd.

»Lauf hin, Brüderchen«, sprach der Hund zum Kater, »sieh mal nach, wer dort weidet.«

Der Kater lief hin, vergewisserte sich und sagte:

»Ein Pferd.«

»Nun«, sagte der Hund, »das soll unser sein. Da werden wir wohl mal nach Herzenslust schmausen.«

Der Hund scharrte den Boden und biß in den Sand, um sich Wut zu machen. Dann fragte er den Kater:

»Schau mal her, Katerchen, schwingt mein Schwanz drohend hin und her?«

»Nein«, erwiderte der Kater, »er schwingt nicht.«

Da scharrte der Hund tiefer die Erde auf, damit die Wut größer werde, und fragte abermals:

»Schwingt er immer noch nicht? Nun sag schon ja! Jetzt machen wir gleich dem verflixten Pferd den Garaus!«plusterte sich der Hund auf.

Und er kratzte noch flinker die Erde, dann fragte er:

»Schau her, Bruderherz, sind meine Augen wild aufgerissen?«

Der Kater antwortete: »Nein.«

»Jetzt schwindelst du aber. Sag schon, sie sind aufgerissen!«

»Na, meinetwegen, sollen sie aufgerissen sein«, ließ sich der Kater herbei.



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Da sprang der Hund mit aller Wut, die er hatte, das Pferd an. Das aber schlug ihm mit dem Huf auf den Kopf. Da fiel der Hund hin, seine Augen weiteten sich. Der kleine Kater lief herbei und sprach zu ihm:

»Oh, Brüderchen, jetzt sind deine Äuglein wild aufgerissen!«


Wie der Bauer mit dem hochmütigen Gutsherrn zu Mittag aß

Es war einmal ein Gutsherr, der war reich und sehr hochmütig. Niemand war ihm gut genug. Die Bauern aber sah er überhaupt nicht als Menschen an. Ein übler Geruch geht von ihnen aus, sagte er, sie riechen nach Erde. Und er befahl seinen Dienern, keinen Bauern in seine Nähe zu lassen.

Standen eines Tags die Bauern beisammen und schwatzten über ihren Herrn. Der eine sagte:

»Ich hab' unsern Herrn ganz nah gesehen, auf dem Feld traf ich ihn.«

Der zweite prahlte:

»Und ich hab' gestern durchs Gitter gelugt und sah, wie der Herr auf dem Balkon Kaffee trank.«

Da kam das ärmste Bäuerlein herzu. Es hörte ein Weilchen, was sie sprachen, und fing an zu lachen.

»Ach, ihr seid mir gut!« sagte das Bäuerlein. »Ich gucke nicht übern Zaun auf den Pan. Wenn ich will, speise ich mit ihm zu Mittag.« »Wie kannst du mit dem Herrn zusammen zu Mittag essen? Wenn er dich nur sieht, läßt er dich am Kragen hinauswerfen, du kommst nicht mal bis an seine Tür.«

Sie stritten also und redeten durcheinander.

»Du lügst«, schrien sie.

»Nein, ich lüg' aber nicht.«

»Na schön. Wenn du wirklich mit dem Pan zu Mittag ißt, bekommst du von uns drei Säcke Weizen und noch dazu zwei Ochsen. Wenn nicht, mußt du alles tun, was wir von dir verlangen!«

»Gemacht«, antwortete das Bäuerlein.

Und er ging sogleich zum Herrenhaus. Wie ihn die Diener von weitem sahen, liefen sie auf ihn zu und wollten ihn fortjagen.



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»Hört mich an«, sagte das Bäuerlein. »Ich habe für euern Pan eine gute Nachricht.«

»Was für eine Nachricht?«

»Das sag' ich niemandem, nur dem Pan.«

Da gingen die Diener zum Gutsherrn und berichteten ihm, was los war. Der Pan wurde neugierig. Das Bäuerlein kam nicht mit einer Bitte zu ihm, sondern mit einer Nachricht! Vielleicht würde er davon einen Nutzen haben. . . Und er befahl den Dienern:

»Laßt den Bauern herein!«

Die Diener riefen den armen Bauern ins Haus. Der Gutsherr kam ihm höflich entgegen.

»Was hast du für eine Nachricht?«fragte er.

Der Bauer warf einen Blick auf die Diener und sagte:

»Ich muß mit dir, Herr, unter vier Augen sprechen!«

Da entbrannte die Neugier im Gutsherrn noch stärker. >Was soll das heißen?< dachte er und schickte die Diener hinaus.

Als sie allein geblieben waren, sprach der Bauer leise: »Sag mir, gnädiger Herr, was kostet wohl ein Stück Gold so groß wie ein Pferdekopf?«

»Wozu fragst du das?« forschte der Gutsherr.

»Ich muß es wissen.«

Dem Gutsherrn funkelten die Augen vor Habgier, seine Hände zitterten. >Ach<, denkt er, >der Bauer fragt nicht einfach so, sicher hat er einen Schatz gefunden.<

Und er begann ihn auszufragen:

»Sag mal, Bäuerlein, wozu mußt du das wissen?«

Da seufzte der Bauer schwer und erwiderte:

»Nun, du sagst es mir nicht -wie du willst. Ich muß jetzt nach Hause gehen und zu Mittag essen.«

Der Gutsherr vergaß seinen Hochmut. Er zitterte am ganzen Leib vor Gier nach dem Gold.

>Diesen Bauern hau ich übers Ohr, ich nehm ihm sein Gold ab!<Und er sagte zum Bauern:

»Hör mal, Bäuerlein, warum eilst du eigentlich nach Haus? Wenn du Hunger hast, kannst du ja mit mir zu Mittag essen.« Seinen Dienern rief er zu: »Deckt flink den Tisch und vergeßt auch die Schnapsflaschen nicht!«



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Eins, zwei, drei hatten die Diener allerhand leckere Speisen und Schnäpse aufgetischt.

Der Gutsherr forderte den Bauern immerzu auf:

»So trink doch, Bäuerlein. Iß, Bäuerlein, iß, soviel du willst. Genier dich nicht!«

Der Bauer ließ sich nicht lange bitten, er aß und trank nach Herzenslust. Der Gutsherr aber legte ihm immerfort neue Speisen auf und schenkte ihm ein.

Nachdem der Bauer sich den Bauch vollgeschlagen hatte, sprach der Gutsherr:

»So, und jetzt lauf schnell nach Haus und bring mir das Gold so groß wie ein Pferdekopf! Ich kann besser damit umgehen. Und als Belohnung schenk' ich dir einen Dukaten.«

»Nein, Herr, das Gold bring' ich dir nicht.«

»Ja, warum denn, Bäuerlein?«

»Weil ich's nicht habe.«

»Wieso hast du's nicht? Warum hast du mich dann gefragt, wieviel es kostet?«

»Einfach so, weil's mich interessierte!«

Da schäumte der Gutsherr vor Wut, sein Gesicht färbte sich blaurot.

Mit den Füßen aufstampfend, schrie er: »'raus mit dir, Tölpel!«

Aber der Bauer gab ihm zur Antwort:

»Ach, lieber, gütiger Herr! Ich hab' meinen Spaß mit dir getrieben und dabei noch drei Säcke Weizen samt zwei steilhörnigen Ochsen in der Wette gewonnen. Ein Tölpel hat dazu nicht den Verstand!« Das sagte er dem Gutsherrn und ging seines Weges.


Der Zauberspielmann

Es war einmal ein Spielmann. Der fing schon als kleiner Knabe zu spielen an. Manchmal, wenn er die Ochsen weidete, schnitt er sich einen Rebenzweig, machte ein Pfeifchen draus und spielte so wunderschön, daß die Tiere aufhörten, das Gras zu zupfen, die Ohren spitzten und verwundert lauschten. Das Zwitschern der Vögel verstummte, selbst die Frösche im Sumpf ließen ihr Quaken sein.



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Nachts auf der Weide, da ging es lustig zu. Die Burschen und Mädchen sangen und lachten. So ist es auf der Welt, das junge Blut schäumt. Die Nacht ist lind und lau. Herrlich!

Da nimmt der Spielmann sein Pfeifchen und fängt zu spielen an. Mit einem Schlag wird es still, das junge Volk schwatzt und lacht nicht mehr. Süßer Wohllaut dringt allen ins Herz, eine wundersame Kraft ergreift jeden und trägt ihn empor bis in den dunklen Nachthimmel zu den klaren Sternen.

Die Hirten sitzen da und rühren sich nicht. Sie haben vergessen, daß ihre Arme und Beine von der schweren Arbeit schmerzen, daß der Hunger sie plagt.

Still sitzen sie und lauschen.

Das ganze Leben lang möchten sie so den Weisen des Spielmanns zuhören.

Da verstummt das Spiel. Aber keiner wagt, sich zu rühren, um nicht die Zaubermelodie zu verscheuchen, die über Wald und Hain, bis hinauf in den Himmel schwebt.

Dann ertönt von neuem die Schalmei, aber sie klingt trüb und traurig. Da sinken Kummer und Schwermut in aller Herz . . . Spät zur Nachtzeit kommen die Frauen und Männer müde von der Fronarbeit heim. Doch sobald die Musik erklingt, bleiben sie stehen und hören gebannt zu.

Vor ihren Augen rollt gleichsam ihr ganzes Leben ab - Armut und Kummer, der grausame Pan, der Richter und die Gutsverwalter. Und ihr Herz krampft sich vor Leid zusammen, sie möchten weinen und klagen wie an einem Totenbett oder als ob die Söhne zu den Soldaten gingen.

Doch da läßt der Spielmann eine lustige Weise erklingen. Die Frauen und Männer werfen die Sensen, Rechen und Heugabeln hin, stemmen die Hände in die Hüften und beginnen zu tanzen.

Und es tanzen die Menschen, es tanzen die Pferde, es tanzen die Bäume im Eichenwald, es tanzen die Wölkchen und die Sterne am Himmel, alles auf der Welt tanzt und freut sich.

Solche Wunderkraft besaß sein Spiel - was er wollte, das konnte er mit den Menschenherzen tun.

Als er heranwuchs, zimmerte sich unser Spielmann eine Fiedel und zog mit ihr in die weite Welt hinaus. Wo er hinkam, gab man ihm



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Speise und Trank, empfing ihn wie einen lang ersehnten Gast, ja er zog sogar mit vollen Taschen von dannen.

Lange Zeit wanderte der Fiedelmann in der Welt herum, spielte zu Lust und Freud guten Menschen auf; den grausamen Gutsherren aber zerschnitt er das Herz ohne Messer. Wo immer er sich zeigte, wollten die Knechte nicht mehr dem Herrn gehorchen. So ward der Fiedelmann den Reichen ein Dorn im Auge, und sie wollten ihn aus dem Wege schaffen.

Die Gutsherren zerbrachen sich die Köpfe, wie sie das tun sollten. Sie überredeten den und jenen, den Spielmann zu erschlagen oder ins Wasser zu werfen. Aber niemand wollte das tun. Die armen Leute liebten ihn sehr; und die Gutsverwalter fürchteten ihn, denn sie glaubten, er wäre ein Zauberer.

Da riefen die Gutsherren die Teufel zu Hilfe, denn Herren und Teufelspack gehören all in einen Sack.

Eines Tags wanderte der Spielmann durch einen Wald, da hetzten die Teufel zwölf hungrige Wölfe auf ihn. Die stellten sich quer überm Weg auf und warteten, daß er käme. Ihr Zähne knirschten vor Gier, ihre Augen glühten wie glimmende Kohlen. Der Spielmann aber hatte nichts weiter bei sich als die Fiedel im Ranzen. >Jetzt schlägt mein letztes Stündlein<, dachte er.

Er nahm die Fiedel, um vor dem Tod noch ein letztes Mal aufzuspielen, lehnte sich an einen Baum und strich mit dem Bogen über die Saiten. Und da sang und klang seine Fiedel, ein Raunen ging durch den Wald. Strauch und Baum standen wie gebannt, kein Blättchen rührte sich. Und auch die Wölfe mit ihren aufgerissenen Rachen blieben wie erstarrt auf der Stelle stehen.

Sie hörten zu, die Ohren gespitzt, und vergaßen sogar ihren Wolfshunger.

Und als der Spielmann aufhörte, da trollten sich die Wölfe wie schlaftrunken in den Wald zurück.

Er setzte seinen Weg fort. Die Sonne war schon hinter den Bäumen untergegangen, nur ihre Wipfel erglänzten noch in goldenem Schein. Still war's ringsum, man konnte ein Blatt vom Baum fallen hören. An einem Fluß setzte sich unser Spielmann hin, nahm die Geige aus dem Ränzlein und begann zu fiedeln. Und so wunderbar war sein Spiel, daß Himmel und Erde lauschten. Doch als er eine Polka auf-



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spielte, begann alles ringsum zu tanzen. Die Sterne kreisten wie wirbelnder Schnee, die Wolken drehten sich am Himmelszelt, und die Fische hupften ausgelassen aus dem Wasser, so daß der Fluß zu kochen schien.

Sogar der Wasserkönig konnte nicht widerstehen - auch er schloß sich dem Tanz an. Und er schwang so ungestüm das Bein, daß der Fluß aus seinen Ufern trat. Die Teufel bekamen es mit der Angst zu tun und machten sich aus dem Staub. Erzgrimmig waren sie, fletschten die Zähne, aber sie konnten dem Spielmann nichts anhaben. Der aber sah, daß der Wasserkönig den Menschen viel Unheil zugefügt hatte, waren doch die Felder und Gärten überschwemmt. Da stellte er sein Spiel ein, legte die Fiedel in den Ranzen und machte sich neuerlich auf die Wanderung.

Wie er so seines Wegs ging, kamen zwei junge Gutsherren auf ihn zugelaufen.

»Wir haben heute ein Fest«, redeten sie dem Musikanten zu. »Spiel uns auf, Herr Musikant. Wir werden dich reichlich belohnen.« Der Spielmann überlegte - bald brach die Nacht an, er aber hatte kein Dach überm Kopf und keinen Heller in der Tasche.

»Na schön«, meinte er, »ich spiel' euch auf.«

Da führten ihn die Herrchen in ein schönes Schloß. Dort waren feine junge Herren und Fräulein versammelt, so viele wie Bienen im Korb. Auf dem Tisch stand eine große, tiefe Schüssel. Die Gäste liefen der Reihe nach zum Tisch, tauchten einen Finger in die Schüssel und strichen damit über die Augen.

Da ging auch der Spielmann zu der Schüssel, benetzte den Finger und fuhr damit über die Augen. Kaum hatte er das getan, da sah er, daß hier keine Herren und Fräulein waren, sondern samt und sonders Teufel nebst Teufelinnen, und das Schloß war kein Schloß, sondern eine finstere Hölle.

>Ach so<, dachte der Spielmann. >Zu so einem Fest haben sie mich geladen! Na schön! Ich werd' ihnen jetzt eins aufspielen!< Er stimmte seine Fiedel, strich mit dem Bogen über die Saiten, da zerfiel die ganze Hölle in Staub und Asche, die Teufel und Teufelinnen aber liefen davon.



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Warum der Dachs und der Fuchs in Höhlen wohnen

Vor langer, langer Zeit, so wird erzählt, hatten die wilden Tiere und das Hausvieh keinen Schwanz. Nur der König der Tiere -der Löwe — besaß einen.

Schwer war das Leben der Tiere ohne Schwanz. Im Winter ging's noch einigermaßen, aber wenn der Sommer kam, wußten sie sich einfach gar nicht vor den Fliegen und Mücken zu retten. Womit sollten sie die Quälgeister verscheuchen? So manches Tier wurde über Sommer von den Schmeißfliegen und Bremsen zu Tode gestochen. Und nichts blieb übrig, als Zeter und Mordio zu schreien, wenn sie über einen herfielen.

Der König der Tiere erfuhr von dem Unglück und erließ einen Befehl, daß alle Tiere bei ihm antreten und sich einen Schwanz holen sollten.

Die Boten des Königs eilten durchs ganze Land, um alle Tiere zusammenzurufen. Sie flogen wie der Wind, stießen in Hörner, schlugen die Trommel und schreckten alle aus dem Schlaf. Unterwegs trafen sie einen Wolf und übergaben ihm den Königsbefehl. Dann sahen sie einen Stier und taten desgleichen. Auch den Dachs luden sie ein. Mardern, Hasen, Füchsen, Eichen, Wildebern -allen sagten sie Bescheid.

Nur dem Bären nicht. Lange suchten ihn die Boten. Endlich fanden sie ihn schlafend in seiner Höhle, weckten ihn, erklärten, worum es ging, und befahlen ihm, er solle sich schleunigst seinen Schwanz abholen.

Aber wer hat es je erlebt, daß ein Bär sich beeilt hätte. Gemächlich trottet er, schaut sich rund um und schnuppert nach Honig. Plötzlich entdeckt er im Astloch einer Linde einen Bienenstock. >Der Weg zum König ist weit<, denkt er, >ich will mich erst stärken.<

Klettert der Bär auf die Linde, und dort gibt es Honig in Hülle und Fülle. Vor Freude brummend, greift der Bär in den Bienenstock, holt den Honig heraus und stopft sich beide Backen voll. Wie er sich sattgefressen hat, guckt er an sich herunter; das ganze Fell klebt von Honig und Mulm!>. . . Na, das geht doch nicht<, denkt er, >kann ich in solchen Aufzug vor die Augen des Königs treten?<

Nun ging der Bär an den Fluß, wusch sein Fell hübsch rein und legte



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sich am Ufer zum Trocknen hin. Aber die Sonne schien so schön warm, und eh' er sich's versah, war er wieder in süßen Schlummer gesunken. Um diese Zeit versammelten sich die Tiere beim König. Als erster kam der Fuchs herbeigeflitzt. Er sah sich um - vor dem Königsschloß lag ein großer Haufen von Schwänzen, langen, kurzen, kahlen und dichtbehaarten

Verneigte sich der Fuchs vor dem König und sprach:

»Hochehrwürdiger Herr König! Ich habe mich als erster auf deinen königlichen Befehl eingestellt. Gestatte deshalb, mir einen Schwanz nach meinem Geschmack auszusuchen.«

Dem König aber war es höchst egal, welchen Schwanz er dem Fuchs gab. »Na schön«, sagte er, »such dir einen Schwanz nach deinem Geschmack aus.«

Der schlaue Fuchs durchwühlte den ganzen Haufen und suchte sich den schönsten Schwanz heraus -lang und buschig war er. Dann lief er schnell davon, bevor der König es sich anders überlegt.

Nach dem Fuchs kam das Eichhörnchen angehüpft und nahm sich ebenfalls einen schönen Schwanz, nur ein bißchen kürzer. Auch der Marder ging mit einem prächtigen Schwanz heim.

Der Elch erkor sich den allerlängsten Schwanz, der in einem dichten Wedel endete, mit dem konnte er die Schmeißfliegen und Bremsen gut verjagen. Der Dachs griff einen buschigen Schwanz aus dem Haufen heraus.

Dem Roß gefiel ein Schwanz aus lauter Haaren; es befestigte ihn an seinem Pferdeleib, probierte ihn über die rechte Flanke zu schwenken, dann über die linke -der Schwanz schlug kräftig zu. »Tod den Fliegen!« wieherte das Pferd erfreut und trabte auf die Wiese. Als letzter kam der Hase angesprungen.

»Wo bleibst du denn so lange?«fragte der König. »Siehst du, es ist nur noch ein kleines Schwänzchen übrig.«

»Macht nichts, mir genügt's«, rief der Hase vergnügt. »Mit ihm kann ich besser vor Wölfen und Hunden ausreißen.«

Der Hase befestigte sich das Schwänzchen, wo es hingehört, tat ein paar Luftsprünge und lief zufrieden nach Hause. Als der König der Tiere alle Schwänze verteilt hatte, legte er sich zur Ruhe.

Der Bär aber wachte erst gegen Abend auf. Da fiel ihm ein, daß er ja wegen des Schwanzes zum König der Tiere eilen müsse. Schon



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wollte die Sonne hinterm Wald untergehen. Er setzte seine tapsigen Bärenbeine in Galopp, hoppelte und hoppelte, der Schweiß tropfte ihm nur so von der Stirn. Atemlos kam er vor des Königs Schloß, dort sah er weder Schwänze noch Tiere.

>. . . Was soll ich jetzt machen?<überlegte der Bär. >Alle Tiere werden Schwänze haben, nur ich hab' keinen.<Der Brummbär machte kehrt und trollte sich bitterböse in seinen Wald zurück. Wie er so seines Weges tapste, sah er plötzlich, wie ein Dachs auf einem Baumstumpf sich hin und her drehte und sich an seinem hübschen Schwanz nicht satt sehen konnte.

»Hör mal, Dachs«, rief ihm der Meister Petz zu, »wozu brauchst du eigentlich einen Schwanz? Gib ihn mir!«

»Was fällt dir ein, Onkel Bär«, antwortete der Dachs erstaunt. »Ich werde doch nicht auf so einen herrlichen Schwanz verzichten!«

»Gibst du ihn nicht freiwillig, so nehm' ich ihn mir«, brummte der Bär grimmig und legte seine schwere Pranke auf den Dachs.

»Ich geb' ihn nicht«, brüllte der Dachs, riß sich los und flitzte davon.

Da sah der Bär auf seine Tatze - an den Krallen war ein Stückchen Dachsfell und das Ende vom Schwanz hängengeblieben. Das Stückchen Fell warf der Bär weg, das Schwanzende aber klebte er sich an und trollte sich zu dem Bienenstock, um den Honig zu schlecken.

Von der Zeit an kann der Dachs nirgends Ruhe finden. Wo er sich auch versteckt, immer ist es ihm, als ob der Bär gleich kommt und ihm noch den Rest vom Schwanz wegnimmt. Deshalb scharrte er eine tiefe Höhle in die Erde und verkroch sich dort. Die Wunde am Rücken verheilte gut, aber ein dunkler Streifen blieb zurück. Bis auf den heutigen Tag ist der Streifen nicht heller geworden.

Eines Tags lief der Fuchs durch den Wald. Plötzlich sah er eine Höhle. Und in der Höhle schnarchte jemand so laut, als hätt' er eins über den Durst getrunken. Kroch der Fuchs in die Höhle und fand dort den schlafenden Dachs.

»Ist die Welt oben zu eng für dich, lieber Nachbar, warum hausest du unter der Erde?« staunte der Fuchs. »Ja, ja, Füchslein«, stöhnte der Dachs, »du hast ganz recht - zu eng ist's oben! Müßt' ich nicht Futter suchen, würd' ich auch nachts nicht hinauskriechen!«



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Und der Dachs erzählte dem Fuchs, warum es ihm auf der Erde zu eng war. >O weh<, überlegte der Fuchs, >wenn es der Bär schon auf den Dachsschwanz abgesehen hat, so ist meiner ja noch tausendmal schöner.<

Und nun suchte sich auch der Fuchs ein Versteck vor dem Bär. Die ganze Nacht rannte er überall herum, aber nirgends fand er einen Unterschlupf. Gegen Morgen grub er schließlich eine Höhle wie der Daths, schlüpfte hinein, deckte sich mit seinem buschigen Schwanz zu und schlummerte süß.

Seit dieser Zeit wohnen der Dachs und der Fuchs in Höhlen, der Bär aber hat bis auf den heutigen Tag keinen ordentlichen Schwanz.


Wie Wassil den Drachen tötete

Ob es wahr ist oder nicht, das soll uns nicht scheren - hört lieber zu, was die alten Märchen erzählen!

Also paßt auf! Da kam einst ein schrecklicher Drache ins Land geflogen, grub eine tiefe Höhle am Berghang im Wald und legte sich schlafen. Ob er lange ruhte oder kurz, weiß niemand mehr zu melden, doch als er sich vom Schlaf erhob, brüllte er gleich mit Donnerstimme, auf daß es alle ringsum vernahmen:

»He, ihr Leute, Männer und Weiber, alte und junge, bringt mir jeden Tag ein Opfer, der eine eine Kuh, der andere ein Schaf, der dritte ein Schwein! Wer mir Gaben bringt, bleibt am Leben, wer nicht, den verschling' ich!«

Da brach eine große Angst unter den Menschen aus, und sie opferten dem Drachen, was er verlangte.

Lange Zeit brachten sie ihm ihre Gaben, bis sie eines Tages gewahr wurden, daß sie nichts mehr besaßen. Bettelarm waren sie geworden. Doch der Drache war so gierig, daß er nicht einen Tag ohne Fleisch leben konnte. Und so flog er in Dörfer, packte irgendeinen Menschen und schleppte ihn in seine Höhle.

Die Menschen gingen wie zum Tode verurteilt herum, suchten eine Rettung und wußten nicht, wie sie sich von dem grausamen Drachen befreien sollten.

Zu dieser Zeit kam ein Mann ins Land, der hieß Wassil. Er sah, daß



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hier die Menschen bedrückt einherschlichen, hilflos die Hände rangen und klagten.

»Was gibt's denn bei euch für ein Unglück, warum jammert ihr?«

Da erzählten ihm die Leute von ihrer Plage.

»Seid unverzagt«, tröstete sie Wassil. »Ich will versuchen, euch von dem furchtbaren Übel zu befreien.«

Er nahm einen dicken Knüppel und ging in den Wald, wo das Ungeheuer hauste.

Der Drache sah ihn kommen. Er riß die grünen Riesenaugen auf und fragte:

»Was willst du hier mit diesem Knüppel?«

»Dich totschlagen!« erwiderte Wassil.

»Sieh mal an«, wunderte sich der Drache. »Lauf lieber davon, solang du noch auf den Beinen stehst. Wenn ich dich nur anhauche oder anpfeife, fliegst du drei Werst weit.«

Doch Wassil lächelte höhnisch und sprach:

»Prahl doch nicht, alte Vogelscheuche, ich habe schon andere als dich gesehen! Wir wollen erst mal probieren, wer von uns stärker pfeift. Nun, fang an!«

Der Drache pfiff so laut, daß die Blätter von den Bäumen fielen und Wassil auf die Knie sank. Doch er sprang gleich auf und sprach: »Dummheit! So pfeift man doch nicht. Da lachen ja die Hühner. Nun, jetzt mach' ich's mal, aber binde dir die Augen zu, sonst werden sie dir aus den Höhlen treten!«

Der Drache band sich die Augen mit einem Tuch zu. Wassil aber trat dicht heran und ließ seinen Knüppel über den Kopf des Drachen sausen, daß ihm rote Funken aus den Augen stoben.

»Nicht möglich, daß du stärker bist«, staunte der Drache. »Wollen wir noch mal unsere Kräfte messen. Wer von uns zerdrückt schneller einen Stein?«

Das Ungeheuer nahm einen Stein, der wohl an die hundert Pud wog, und zerquetschte ihn mit seinen Pranken. Eine hohe Staubsäule stieg auf.

»Nichts Besonderes«, lachte Wassil. »Drück mal so stark, daß Wasser aus dem Stein fließt.«

Da erschrak der Drache sehr, denn er sah, daß Wassil tatsächlich der Stärkere war. Auf Wassils Knüppel schielend, sagte er:



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»Verlange von mir, was du willst, ich werde dir jede Bitte erfüllen!«

»Ich brauche nichts«, erwiderte Wassil. »Zu Haus habe ich alles, was ich brauche, mehr als du!«

»Soso«, meinte der Drache ungläubig.

»Du glaubst mir nicht? Komm mit und schau dir's an!«

Sie setzten sich auf einen Wagen und fuhren los.

Unterwegs bekam der Drache Hunger. Und als er eine Ochsenherde am Waldsaum sah, sagte er zu Wassil:

»Geh, fang mir einen Ochsen als kleine Vorspeise!«

Wassil ging in den Wald und schnitt Lindenbast ab. Der Drache wartete inzwischen, und als es ihm zu lang wurde, kam er selber zu Wassil.

»Was machst du denn hier so lange?«

»Ich reiße Bast ab.«

»Wozu brauchst du ihn?«

»Ich will einen Strick drehen und zum Mittagessen fünf Ochsen fangen.«

»Wozu brauchen wir gleich fünf? Einer ist genug.«

Der Drache packte einen Ochsen am Genick und schleppte ihn in den Wagen.

»Ach du«, sagte er zu Wassil. »Bringe Holz, wir werden den Ochsen braten.«

Wassil ging in den Wald, setzte sich unter einen Eichbaum und rauchte sein Pfeifchen.

Wieder wartete der Drache, bis daß er die Geduld verlor. Schließlich ging er zu Wassil und fragte:

»Was machst du hier so lange?«

»Ich will dir ein Dutzend Eichen bringen und suche die dicksten aus.«

»Wozu brauchen wir ein Dutzend Eichen? Ein Baum genügt.«Und er riß mit einem Ruck den dicksten Eichbaum mit den Wurzeln aus. Der Drache briet den Ochsen und lud Wassil zum Essen ein.

»Iß selber«, lehnte Wassil ab. »Ich werde mich schon zu Haus stärken. Weshalb soll ich mich mit einem einzigen Ochsen abgeben, das reicht mir gerade auf einen hohlen Zahn.«

Fraß der Drache den Ochsen auf, leckte sich das Maul ab, dann fuhren sie weiter. Bald näherten sie sich dem Haus, wo Wassil und die



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Seinen wohnten. Als die Kinder den Vater kommen sahen, schrien sie vor Freude:

»Vater ist da! Vater ist da!«

Der Drache verstand nicht und fragte:

»Was schreien die Kinder dort?«

»Sie freuen sich, daß ich dich als Mittagsschmaus heimbringe. Die Kinder sind nämlich gerade sehr hungrig!«

Da sprang der Drache erschrocken aus dem Wagen und rannte davon. Doch vor Schreck achtete er nicht auf den Weg und geriet in einen Sumpf, der bodenlos war. Immer tiefer versank der Drache im Sumpf, bis er erstickte. So fand er einen kläglichen Tod.


Pilipka, das Söhnchen

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten keine Kinder. Und die Frau klagte: »Habe kein Kind in der Wiege zu schaukeln, darf kein Kleinchen ans Herz mir drücken.« Da ging der Mann eines Tages in den Wald, hackte ein Erlenscheit, brachte es seinem Weib und sagte: »Hier hast du, tu's in die Wiege und schaukle es.«

Die Frau legte das Scheit in die Wiege, schaukelte es hin und her und sang dazu:

»Schlaf, schlaf, Söhnchen, mit den weißen Schulterchen und den schwarzen Augelchen . . .«

Und sie schaukelte die Wiege einen Tag, einen zweiten, am dritten Tag aber lag ein Knäblein in der Wiege.

Da freuten sich der Mann und die Frau über die Maßen. Sie nannten das Söhnchen Pilipka und ließen ihm die beste Pflege angedeihen. Pilipka wuchs heran. Eines Tages sagte er zu seinem Vater:

»Vater, mach mir einen goldenen Kahn und ein silbernes Ruder, ich will Fische fangen.«

Der Vater machte ihm einen goldenen Kahn und ein silbernes Ruder und schickte ihn auf die See, Fische zu fangen.

Der Sohn aber, so war es, konnte gar nicht mehr aufhören. Tag um Tag saß er im Kahn, sogar nachts angelte er und ging nicht nach Haus, so gut bissen die Fische an. Die Mutter brachte ihm das Mittagessen. Wenn sie an den See kam, rief sie:



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»Pilipka, komm an das Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Dann ruderte Pilipka ans Ufer, warf die Fische aus dem Kahn, aß ein Küchlein und fuhr sogleich wieder auf den See hinaus.

Hörte doch die alte Hexe Baba Jaga, die ja alle kennen, wie die Mutter Pilipka rief. Sie beschloß, ihn aus der Welt zu schaffen. Einen Sack nahm sie und einen Schürhaken, humpelte zum See und fing an zu rufen:

»Pilipka, komm an das Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Pilipka dachte, es sei die Mutter, und fuhr hin. Die alte Jaga aber faßte den Kahn mit dem Schürhaken, zog ihn ans Ufer, packte Pilipka und steckte ihn in den Sack.

»So«, murmelte sie, »nun wirst du keine Fische mehr fangen.« Den Sack über der Schulter, humpelte sie heimwärts in den tiefen Wald.

Lange schleppte sie die schwere Last, und als sie schon ganz matt und müde war, setzte sie sich hin, um zu verschnaufen. Da fielen ihr die Augen zu. Pilipka aber schlüpfte flink aus dem Sack, legte schwere Steine hinein und lief wieder an den See.

Die Baba Jaga erwachte, lud den Sack mit den Steinen auf den Buckel und trug ihn ächzend und krächzend nach Haus.

Daheim angekommen, sagte sie zu ihrer Tochter:

»Brat mir zu Mittag den Fischer hier.«

Und sie schüttete den Sack aus, aber heraus purzelten lauter Steine .

Da packte die Baba Jaga eine grimmige Wut, und sie schrie, daß die ganze Hütte wackelte:

»Ich werd's dir schon zeigen, was es heißt, mich hinters Licht zu führen!«

Sie lief abermals an den See und rief:

»Pilipka, komm ans Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Pilipka hörte die Stimme.

»Nein, du bist meine Mutter nicht. Meine Mutter hat eine feinere Stimme.«

Wie lange die Hexe auch rief, Pilipka kam nicht.



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>Na schön<, dachte sie, >ich werde mir eben eine feinere Stimme zulegen.<

Und sie lief zum Schmied. »Schmied«, sagte sie, »schlag mir doch die Zunge dünn!«

»Gut«, sagte der Schmied, »werd' ich machen. Leg sie auf den Amboß.«

Und die Baba Jaga legte ihre lange Zunge auf den Amboß. Nahm der Schmied seinen Hammer und begann, ihr die Zunge zurechtzuschmieden. Er schlug so lange, bis sie fadendünn war.

Läuft die Baba Jaga an den See und ruft Pilipka mit einem ganz feinen Stimmchen:

»Pilipka, komm ans Ufer geschwind, Küchlein essen, mein liebes Kind!«

Pilipka hörte es und dachte, daß seine Mutter ihn rufe. Er ruderte ans Ufer, dort schnappte ihn die Hexe und steckte ihn flugs in den Sack.

»Jetzt wirst du mich nicht mehr betrügen«, frohlockte sie. Ohne zu verschnaufen, trug sie den Sack schnurstracks nach Haus. Schüttete ihn auf dem Boden aus und sagte zu der Tochter:

»Da ist er, der Schwindler! Heiz den Ofen und brat ihn mir gut. Daß er mir zum Mittagessen fertig ist.«

So sprach sie und ging hinaus. Die Tochter heizte den Ofen, dann nahm sie eine Schaufel und sagte zu Pilipka:

»Leg dich auf die Schaufel, ich will dich in den Ofen stecken.«

Pilipka tat, wie gesagt, doch er hob die Beine hoch.

»Nicht so«, schrie die Hexentochter. »So kann ich dich doch nicht in den Ofen schieben!«

Da ließ Pilipka die Beine hängen.

»So auch nicht«, schrie die Hexentochter wieder.

»Zeig's mir doch«, fragte Pilipka.

»Bist du aber dumm«, schimpfte die Hexentochter. »So muß man's machen. Schau!«

Und sie streckte sich auf der Schaufel aus. Flink nahm Pilipka die Schaufel und schob sie ins Ofenloch. Und das Ofentürchen verrammelte er noch mit dem Mörser der Hexe, damit die Tochter nicht etwa aus dem heißen Ofen sprang.

Kaum war er aus der Hütte, sah er schon die Baba Jaga ankommen.



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Da sprang er mit einem Satz auf einen hohen dichten Bergahornbaum und versteckte sich in seinem Gezweig.

Die alte Jaga trat in die Küche. Sie schnupperte mit der Nase, weil es gar so lecker nach gebratenem Fleisch roch.

Aus dem Ofen nahm sie den Braten, aß sich am Fleisch satt, warf die Knochen auf den Hof, wälzte sich auf ihnen herum; dabei murmelte sie:

»Ich wende und rolle mich. Pilipkas Fleisch aß ich, sein Blut trank ich.«

Pilipka aber rief vom Ahornbaum:

»Wend dich nur und rolle dich, deiner Tochter Fleisch aßest du, deiner Tochter Blut trankest du!«

Als die Hexe dies vernahm, wurde sie vor Wut kohlschwarz. Sie lief zum Baum und fing an, mit ihren Zähnen an seiner Rinde zu nagen. Sie nagte und nagte, bis sie sich alle Zähne ausbrach, der starke Baum aber stand wie zuvor.

Lief die Baba Jaga zum Schmied.

»Schmied, lieber Schmied, mach mir eine stählerne Axt, sonst fresse ich deine Kinder.«

Erschrak der Schmied und machte ihr die Axt.

Lief die Baba Jaga wieder zum Ahornbaum und begann auf ihn einzuhauen. Pilipka aber rief vom Baum: »Nicht in den Stamm, in den Stein!«

Die Hexe erwiderte zornig:

»Nicht in den Stein, in den Stamm!«

Pilipka abermals:

»Nicht in den Stamm, in den Stein!«

Und da schlug die Axt auf Stein und wurde ganz schartig.

Vor Wut und Bosheit kreischte die alte Hexe auf, packte die Axt und lief abermals zum Schmied.

Doch da merkte Pilipka, daß der Baum schon wackelte. Die Hexe hatte den Stamm halb durchgeschlagen. Er mußte sich retten, bevor es zu spat war.

Am Himmel flog ein Schwarm wilder Gänse vorüber. Pilipka rief ihnen zu:

»Gänse, liebe Gänse, werft mir jede ein Federchen ab. Ich fliege mit euch zu Vater und Mutter, dort werd' ich euch belohnen!«



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Und jede Gans warf ihm ein Federchen zu.

Doch mit diesen Federn konnte Pilipka nur einen halben Flügel machen.

Als ein zweiter Schwarm am Himmel daherkam, bat Pilipka abermals:

»Gänse, liebe Gänse, werft mir jede ein Federchen ab, ich fliege mit euch zu Vater und Mutter .

Und wieder warf ihm jede Wildgans ein Federchen zu. Flog ein dritter und vierter Gänseschwarm über Pilipka hin, und alle Gänse opferten ihm ein Federchen. Pilipka machte sich Flügel aus den Federn und flog den Gänsen nach.

Kam die Hexe vom Schmied angelaufen, hieb auf den Ahornbaum ein, daß die Späne nur so flogen.

Ein Hieb folgt dem andern, und plötzlich -pardauz -fällt doch der Baum auf die Hexe und erschlägt sie.

Pilipka aber flog mit den Gänsen nach Haus. Wie freuten sich Vater und Mutter, als sie Pilipka wieder bei sich hatten. Sie gaben den Gänsen Hafer, setzten sich fröhlich zum Schmaus, und damit ist das Märchen aus.


Das Mädchen und der Mond

Es lebte einmal im Tschuktschenland ein Mann, der hatte eine Tochter. Das Mädchen war die beste Stütze seines Alters. Jeden Sommer hütete sie die Herden weit von der Nomadensiedlung, und im Winter zog sie mit dem Vieh in noch abgelegenere Gegenden. Nur manchmal fuhr sie mit ihrem Rentiergespann heim, um Nahrung zu holen.

Eines Nachts hob das eine Rentier den Kopf, sah zum Himmel und sprach:

»Schau hin, schau hin!«

Das Mädchen blickte zum Himmel empor, und da sah sie, wie der Mond auf einem Schlitten mit zwei Rentieren zur Erde niederfuhr.

»Wohin will er, und was hat er vor?«fragte das Mädchen.

»Dich will er rauben«, gab das Rentier zur Antwort.

Da bekam das Mädchen große Angst.



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»Was soll ich tun? Er nimmt mich mit.«

Das Rentier scharrte mit den Hufen ein Loch in den Schnee. Dann sprach es:

»Setz dich flink hier hinein.«

So tat das Mädchen. Das Rentier deckte es mit Schnee zu. Kein Mädchen war mehr da, nur ein Schneehäufchen wölbte sich an der Stelle. Der Mond kam vom Himmel auf die Erde, hielt seine Zugtiere an und stieg vom Schlitten. Er ging umher, schaute aufmerksam überall hin, aber das Mädchen war nicht zu sehen. Nirgends konnte er sie finden! Dann kam er zu dem Schneehaufen, sah wohl die Wölbung, aber erriet nicht, was darunter war.

»Wie ist das möglich?« sagte der Mond. »Wohin ist bloß das Mädchen verschwunden? Ich kann sie nicht finden! Jetzt fahre ich wieder zum Himmel, aber später komme ich noch mal, dann finde ich sie bestimmt und entführe sie in mein Mondland.«

Er setzte sich in seinen Schlitten, und die Rentiere trugen ihn hirnmelwärts.

Kaum war der Mond fort, da scharrte das Rentier den Schnee weg. Das Mädchen schlüpfte hervor und sagte:

»Komm rasch in die Siedlung, sonst sieht mich der Mond und fährt wieder zur Erde. Dann gibt's kein Verstecken mehr!«

Auf den Schlitten setzte sie sich, und dann trabte das Rentier, so schnell es nur konnte. In der Siedlung lief das Mädchen gleich ins Zelt. Doch der Vater war nicht da. Wer half ihr nun? .

Das Rentier sprach:

»Versteck dich rasch, sonst kommt der Mond hinter uns her.«

»Wo soll ich mich verstecken?«

»Ich werde dich verwandeln. Willst du - in einen Steinblock?«

»Er wird es erraten!«

»Dann in einen Hammer?«

»Er wird es erraten!«

»Vielleicht in eine Stange am Zelt?«

»Er wird es erraten!«

»Vielleicht in ein Fädchen in der Matte?«

»Er wird es erraten, er wird es erraten!«

»Was soll ich machen? Ich verwandle dich in ein Ollämpchen!«

»Gut. Das ist recht!«



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»Setz dich.«

Das Mädchen setzte sich hin. Das Rentier stampfte mit dem Huf auf, und da verwandelte sich das Mädchen in ein Ollämpchen. Das brannte gar hell und erleuchtete das ganze Zelt.

Kaum war das Mädchen zu einem Ollämpchen geworden, da kam der Mond schon wieder vom Himmel herab, suchte sie überall bei ihrer Herde und eilte sodann in die Siedlung. Seine Rentiere band er an und trat ins Zelt. Er suchte hier und dort, doch er fand sie nicht. Zwischen den Stangen sah er nach, durchschnüffelte den ganzen Hausrat, jedes Härchen an den Fellen, jedes Stäubchen unter den Betten, jedes Krümchen Erde rundum prüfte er, doch nirgends war das Mädchen.

Nur das Ollämpchen bemerkte er nicht, weil es ebenso hell schien wie der Mond.

»Was sind das für wunderliche Dinge?« sprach der Mond vor sich hin. »Wo kann sie denn stecken? Ich muß wohl unverrichteter Dinge wieder zum Himmel fahren.«

Er ging aus dem Zelt, band die Rentiere los und setzte sich auf den Schlitten. Doch als er gerade losfahren wollte, hob das Mädchen die Matte am Zelteingang, steckte den Kopf heraus und rief lachend: »Hier bin ich! Hier bin ich!«

Der Mond ließ die Tiere stehen und rannte ins Zelt. Aber das Mädchen hatte sich schon wieder in ein Ollämpchen verwandelt.

Da begann der Mond neuerlich mit seinem Suchen. Er suchte zwischen Stangen und dem dürren Laub der Betten und den Härchen der Felle und den Sandkörnchen auf dem Boden -aber das Mädchen fand er nicht.

»Wie merkwürdig! Wo ist sie denn? Ich werde wohl unverrichteter Dinge zum Himmel fahren!«

Kaum war er aus dem Zelt und band die Tiere los, da guckte das Mädchen abermals bis zum Gürtel aus der Zeltöffnung und rief lachend:

»Hier bin ich! Hier bin ich!«

Der Mond sauste ins Zelt und suchte wieder jeden Winkel ab. Lange suchte er, alles wühlte er durch, kehrte das Unterste zuoberst, doch er fand sie nicht . .

Vom Suchen müde und matt, wurde er zusehends magerer und kam



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ganz von Kräften. Er konnte kaum noch die Beine setzen und die Arme heben.

Da fürchtete sich das Mädchen nicht mehr vor ihm. Sie nahm ihre wahre Gestalt an, lief aus dem Zelt, sprang dem Mond auf den Rücken und band ihm Arme und Beine.

»Oh«, sagte der Mond, »du willst mich töten. Nun wohl, schlag zu! Ich bin selber schuld, wollte ich dich doch von der Erde rauben. Nur leg mich vor meinem Tod ins Zelt, laß mich ein wenig warm werden, denn ich friere sehr . . «

Das Mädchen fragte verwundert:

»Wieso frierst du? Du ziehst doch ewig im Freien umher, hast kein Zelt, kein Obdach. Bleib auch jetzt hier draußen! Was willst du im Zelt? Das gibt's nicht.

Da begann der Mond das Mädchen zu bitten:

»Wenn ich schon ewig heimatlos bin, dann laß mich fort. Ich werde deinem Volk zu Lust und Freude dienen. Ja, laß mich frei -ich mache die Nacht zum Tag. Laß mich frei -ich werde deinem Volk das Jahr messen. Zuerst bin ich der Monat des alten Stiers, dann der Monat des Kälbchenwurfs, dann der Monat der großen Wasser, dann der Monat der Blätter, dann der Monat der Wärme, dann der Monat des Hörnerwechsels, dann der Monat der Liebe bei den wilden Rentieren, dann der erste Wintermonat . .

»Wenn ich dich freilasse und du wieder kräftig bist und deine Arme und Beine erstarkt sind, wirst du mich dann wieder rauben wollen?«

»O nein, nie mehr! Für mich bist du zu gescheit. Ich bleib' jetzt droben auf meiner Himmelsbahn. Laß mich frei, ich will euch leuchten.«

Das Mädchen ließ den Mond frei, und seither schickt er sein helles Licht auf die Erde.


Der Löwe und der Hase

In einem Walde pflegten sich die Tiere zu versammeln. Und jedesmal erschien ein Löwe unter ihnen, riß ein Tier aus ihrer Mitte und fraß es auf der Stelle. So hielt er die Armen in ständiger Furcht. Da



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taten sie sich eines Tags zusammen und hielten Rat, was zu tun sei, um sich von dieser ewigen Angst zu befreien. Lange gingen sie zu Rate, lange stritten sie, überlegten hin und her. Schließlich beschlossen sie, dem Löwen lebenslang freiwillig ein Opfer zu bringen, als Entgelt dafür aber von ihm zu fordern, daß er sie von dem dauernden Schrecken befreie. Sie gingen also hin und trugen dem Löwen ihren Entschluß vor.

Der Löwe war einverstanden, nur stellte er die Bedingung, daß die Abgabe pünktlich zur genau bestimmten Stunde entrichtet werde. »Wenn nicht, fress' ich euch allesamt«, schloß er.

Und so brachten die Tiere dem Löwen tagtäglich einen der Ihren zum Opfer dar.

Schließlich kam der Hase an die Reihe; die Tiere wollten ihn dem Löwen zum Fraße bringen.

»Was kann man da machen?« sagte der Hase. »Ich bin eben an der Reihe. Nur kommt bitte nicht mit. Ich will allein hingehen und versuchen, mit dem Löwen fertig zu werden. Vielleicht rette ich mich und euch alle von der Bedrängnis.«

Da lachten die Tiere.

»Guckt mal an, wie der feige Hase sich aufspielt!«

Der Löwe hatte gerade großen Appetit, der Hase aber kam absichtlich zu spät. Mit funkelnden Augen und knirschenden Zähnen wartete der Löwe auf sein Opfer und schickte sich schon an, allen Tieren den Garaus zu machen, als plötzlich der Hase vor ihn trat. Der Löwe blickte ihn grimmig an und fragte:

»Du erdreistest dich, zu spät zu kommen?«

»Allmächtiger Herr und Gebieter«, flüsterte der Hase zaghaft.

»Mir wurde aufgetragen, Euch einen Hasen zum Fraß zu bringen. Ich führte ihn hierher, doch unterwegs überfiel uns ein anderer Löwe, nahm den für Euch bestimmten Hasen und schleppte ihn in ein tiefes Loch.«

»Zeig es mir auf der Stelle«, brüllte der Löwe.

Der Hase führte ihn zu einem Brunnen und sagte:

»So, mein Herr und Gebieter, hier ist es, aber ich fürchte mich, allein hinabzusehen, nehmt mich in Eure Pfoten; ich zeig' Euch den Räuber.«

Der Löwe nahm den Hasen in seine Pfoten, und sie blickten zusammen



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in den Brunnen. Tief unten im Brunnengrund aber lag auf dem Wasser ihr Spiegelbild. Ein Löwe, der einen Hasen in seinen Klauen hielt, sah von unten nach oben.

Da ward der Löwe zornig. Er warf den Hasen zur Seite und stürzte sich in den Brunnen, um den Rivalen zu töten und ihm seine Beute zu entreißen. Aber das Wasser im Brunnen war tief, und der Löwe ertrank.

Als die Tiere im Wald dies vernahmen, gerieten sie vor Freude ganz aus dem Häuschen. Nun waren sie den argen Feind los, und sie dankten dem Hasen von ganzem Herzen.


Wie der Bär das Teilen lehrte

Ein Bär, ein Wolf und ein Fuchs begegneten sich einst und begannen einander ihr Leid zu klagen -wie das Leben doch so schwer sei und wie sie oft tagelang mit knurrendem Magen herumirrten. Sie jaulten sich gegenseitig etwas vor, dann gingen sie daran, Brüderschaft zu schließen. Alles, was sie erbeuteten, wollten sie von nun an brüderlich teilen. So schworen sie es sich und zogen gemeinsam auf Fang aus.

Sie wanderten also und schnüffelten überall, wo es etwas zu fressen gäbe.

Schließlich fanden sie ein krankes Reh. Dem drehten sie flugs den Hals um und setzten sich in den Schatten, um die Beute zu teilen. Der Bär sagte zum Wolf, dem vor Hunger schon die Zähne knirschten: »Teil du!«

»Den Kopf kriegst du«, murmelte der Wolf, »denn du bist unser Herr und Meister, den Rumpf nehme ich mir, und die Beine kriegt der Fuchs, der so gerne läuft.«

Doch der Wolf hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hieb ihm der Bär mit der Tatze auf den Kopf, daß es von den Bergen widerhallte. Der Wolf brüllte und sprang mit einem Riesensatz beiseite. Der Bär drehte sich zum Fuchs um und sagte:

»So, lieber Fuchs, jetzt ist's an dir, zu teilen.«

Der schlaue Fuchs stellte sich hin und flötete mit schmeichelnder Stimme:



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»Den Kopf bekommst du als unser Herr und Meister, den Rumpf kriegst du auch, weil du immer so väterlich gütig zu uns bist, und die Beine sollst du auch haben, denn auf allen Wegen bist du um unser Wohl besorgt.«

»Ach, mein gescheites Füchslein«, sagte gerührt der Bär, »wo hast du nur so klug und gerecht zu teilen gelernt?«

»Von dir, Herr und Meister«, erwiderte der Fuchs, »als ich sah, wie du den Wolf belehrtest.«


Der listige Bauer

Einst lebte eine alte Frau, die hatte zwei Söhne. Einer von ihnen starb, der andere reiste in ferne Länder. Drei Tage nach der Abreise des Sohnes kam ein Soldat zu der alten Frau und sprach zu ihr:

»Gute Alte, erlaubt mir, die Nacht bei dir zu verbringen.«

»Gut, mein Freund! Aber wo kommst du her?«

»Ich, Frau, ich bin ein aus dem Jenseits wiedergekommener Nikonist.

»Ah! Mein Freund! Mein Sohn ist gerade kürzlich gestorben; hast du ihn vielleicht gesehen?«

»Ja, ich habe ihn gesehen: wir bewohnten das gleiche Zimmer.«

»Ist das auch wahr?«

»Ja. Er führt im Jenseits die Lerchen auf die Weide.«

»Ah! Guter Freund! Sicherlich machen sie ihm manchen Verdruß?«

»Sehr: die Lerchen nehmen immer Reißaus in die Büsche.«

»Sind denn wohl gar schon seine Kleider zerrissen?«

»Er ist völlig verlumpt.«

»Ich besitze, mein Freund, etwa vierzig Ellen Leinen und einige zehn Rubel. Bring sie bitte meinem Sohn!«

»Gern, meine gute Alte!«

Nach ich weiß nicht wie langer Zeit kommt der Sohn von seiner Reise zurück:

»Guten Tag, Mutter!«

»Während du fort warst, ist ein aus dem Jenseits wiedergekommener Nikonist bei mir gewesen; er brachte mir Nachrichten von meinem verstorbenen Sohn, deinem Bruder. Sie haben da drüben das



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gleiche Zimmer bewohnt. Ich habe ihm - durch seine Vermittlung — Leinen hingeschickt und zehn Rubel.«

»Wenn das die Wahrheit ist«, sagte der Sohn zornig, »dann leb wohl, Mutter! Ich werde eine lange Reise rund um die Welt unternehmen; wenn ich irgendeinen finde, der noch dümmer ist als du, dann werde ich dich ernähren und pflegen; wenn nicht, komme ich nicht wieder nach Hause.« Dann drehte er auf der Stelle um und machte sich auf den Weg.

Er langte in einem großen und ansehnlichen Dorf an und blieb nahe bei dem Hofe des Herrensitzes stehen, wo eine Muttersau mit ihren Kleinen umherirrte. Der Bauer ging in die Knie und grüßte die Sau ganz ehrerbietig. Die Herrin des Hauses sah ihn vom Fenster aus und sagte zu ihrer Dienerin:

»Geh doch und frage mir diesen Bauern, warum er so ehrerbietig grüßt?«

Da ging das Mädchen und fragte den Mann:

»Bauer, warum gehst du in die Knie und warum grüßt du die Sau so ehrerbietig?«

»Meine Liebe, sage deiner Herrin, daß dieses Schwein ganz reizend ist; das ist der Bruder meiner Frau, und da mein Sohn sich morgen verheiratet, lade ich es zur Hochzeit ein. Vielleicht wird deine Herrin ihm erlauben, Trauzeuge zu sein, und den kleinen Schweinchen, sie zu begleiten.«

Sobald die Schloßherrin das gehört hatte, sagte sie zu ihrer Dienerin:

»Wie dumm er doch ist! Er lädt das Schwein zur Hochzeit ein und die kleinen Schweinchen dazu. Na schön! Leisten wir uns einen Spaß mit ihm! Zieh rasch dem Schwein meinen Pelzmantel an; laß die Pferde an die Karosse anspannen: es braucht nicht zu Fuß zu der Hochzeit zu gehen.«

Die Pferde wurden vor die Kutsche gespannt, das sonntäglich herausgeputzte Schwein mit seinen Kleinen hineingesetzt und alles zusammen dem Bauern übergeben, der damit fortfuhr.

Kurz darauf kam der Schloßherr nach Haus zurück; er war auf der Jagd gewesen. Mit lautem Gelächter ging die Schloßherrin ihm entgegen.

»Ah! Mein Freund! Du warst nicht da, ich hatte niemanden hier, der



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mit mir zusammen lachen konnte. Ein Bauer ist gekommen und hat begonnen, das Schwein zu grüßen: >Es ist reizend<, sagte er; >dieses Schwein ist der Bruder meiner Frau.<Und er hat es als Trauzeugen zur Hochzeit seines Sohnes eingeladen, mit all den kleinen Schweinchen, damit sie an dem Festzug teilnehmen sollen.«

»Ich weiß«, sagte der Schloßherr, »und du hast sie ihm gegeben.«

»Ich habe das Schwein mit meinem Pelzmantel ausstaffiert und es in die mit zwei Pferden bespannte Kutsche gesetzt.«

»Aber woher kam denn dieser Bauer?«

»Ich weiß nicht . .

»Dann ist nicht der Bauer dumm, sondern du bist erzdumm!« Der Schloßherr war wütend, weil man seine Frau so angeführt hatte. Er verließ das Haus, bestieg sein Pferd und setzte an, den Bauern zu verfolgen. Als dieser sah, daß der Schloßherr ihn bald erreichen würde, führte er die Pferde und die Kutsche weg und versteckte sie in einem dichten Wald, nahm seinen Hut ab, legte ihn an die Erde und setzte sich daneben. »He! Bauernlümmel«, rief der Herr, »hast du hier nicht einen mit zwei Pferden vorbeikommen sehen? Er hatte in der Kutsche ein Schwein und dessen Ferkel.«

»Ja, den habe ich vorbeifahren sehen, schon vor langer Zeit.«

»Wohin denn? Welchen Weg muß man nehmen, um ihn einzuholen?«

»Es ist nicht schwierig, ihn zu erreichen; aber die Straße macht viele Bogen, man kann sich leicht verirren!«

»Mein Freund, verfolge diesen Bauern für mich!«

»Nein, Herr, das ist ganz unmöglich: ein Falke steckt hier unter meinem Hut.«

»Das macht nichts; ich werde dir gern deinen Falken hüten.«

»Aber gibt mir gut acht, er könnte dir entwischen; es ist ein sehr teurer Vogel, und mein Meister würde mich glatt totschlagen.«

»Wieviel kostet er?«

»Ich glaube, er kostet dreihundert Rubel.«

»Na schön, falls ich ihn entwischen lasse, will ich ihn dir bezahlen.«

»Verzeih, Herr; aber Versprechen geben und Versprechen halten sind leider zweierlei Dinge.«

»Was für ein Ungläubiger! Sieh, da hast du -auf jeden Fall -deine dreihundert Rubel.«



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Der Bauer nahm das Geld, bestieg das Pferd und trabte durch den Wald davon, während der Schloßherr den leeren Hut hütete. Er wartete lange Zeit; die Sonne versank hinterm Horizont, und der Bauer kam nicht wieder.

»Ich will doch nachsehen, ob ein Falke unter dem Hut steckt! Ist einer drunter, wird er wiederkommen; wenn nicht, ist es unnütz zu warten.«

Er hob den Hut an: darunter befand sich nichts.

»Ist das ein Spitzbube! Das ist bestimmt derselbe Bauer, der meine Frau betrogen hat.«

Der Schloßherr stampfte vor Ärger mit den Füßen und kehrte nach Hause zurück. Unterwegs hatte er Zeit zum Nachdenken, und als ihn seine Frau begrüßte, bat er sie um Verzeihung, weil er sie gescholten hatte.

Der Bauer aber war mit seiner Beute inzwischen zu seiner Mutter heim geritten.

»Schon gut, Mutter«, sagte er, »ich bleibe bei dir: es gibt viele Dumme in der Welt. Man hat mir ganz umsonst drei Pferde mit einer Karosse, dreihundert Rubel und ein Schwein mitsamt seinen Ferkeln geschenkt.«


Marco der Reiche und Wasili der Unglückliche

In einem Lande, in einem Königreich, lebte einst ein Kaufmann Marco mit dem Beinamen der Reiche. Marco besaß ungeheure Reichtümer, aber er war geizig und hart zu den Armen. Er mochte sie nicht, und sobald er einen von ihnen auch nur von ferne gewahrte, gab er Anweisung an seine Diener, seine Hunde gegen ihn loszulassen, um ihn vom Hofe zu jagen.

Einmal, schon spät bei Anbruch der Nacht, kamen zwei alte graubärtige Männer in seinen Hof und baten um Obdach.

»Im Namen des Himmels, Marco, gewähre uns Quartier während der dunklen Nacht!«

Die Greise baten ihn so flehentlich und derart inständig, daß Marco, um ihre lästigen Klagen loszuwerden, sie in den Stall hineinließ. In einer Nebenkammer lag zu dieser Stunde seine Tante. Sie war



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schwer krank, und jedermann befürchtete, sie könne im nächsten Augenblick schon sterben. Tags darauf fand Marco mit höchstem Verwundern seine Tante völlig wiederhergestellt.

»Wer hat dich denn wieder gesund gemacht?«fragte er erstaunt.

»Ah! Marco der Reiche«, antwortete ihm seine Tante, »ich träumte —war's Traum oder Wirklichkeit, ich weiß es nicht genau -, daß zwei alte Männer mit grauem Barte die Nacht im Stall zubrachten; um Mitternacht klopfte jemand ans Fenster und sagte:

>In diesem Weiler hier ist dem ärmsten Bauern des Dorfes soeben ein Kind geboren. Welchen Namen gebt ihr ihm, was für ein Vermögen wollt ihr ihm zuteilen?<

Die beiden Alten antworteten:

>Wir werden ihn Wasili nennen, und er wird den Beinamen der Unglückliche erhalten, und als Geschenk teilen wir ihm das Vermögen von Marco zu, unter dessen Dach wir diese Nacht zubringen .<«

Und Marco unterbrach sie:

»Nichts weiter als das?«

»Es muß diese einzigartige Wohltat hinzugefügt werden, daß ich selber gänzlich wiederhergestellt erwacht bin, wie du siehst.«

»Das ist schon recht«, sagte Marco, »nur wäre es höchst sonderbar, daß der Sohn von wer weiß welchem armseligen Kerl das gesamte Vermögen von Marco erhalten sollte.«

Marco der Reiche begann nachzudenken, und es kam ihm die Idee, sich zu erkundigen, ob und wo ein gewisser Wasili geboren wäre. Er gab Befehl, eine Karosse anzuspannen, suchte den Popen des Weilers auf und befragte ihn:

»Habt Ihr an diesem und diesem Datum eine Geburt zu verzeichnen gehabt?«

»Ja«, antwortete der Pope, »beim ärmsten Bauern der Gemeinde ist ein Kind geboren worden; ich habe ihm den Namen Wasili der Unglückliche gegeben. Die Taufe hat noch nicht stattgefunden, weil niemand Pate oder Patin eines Armen sein möchte.«

Marco trieb sein angebliches Wohlwollen so weit, daß er sich selber als Taufpate anbot. Er bat auch die Frau des Popen, Patin zu sein, und ließ ein reichliches Mahl anrichten. Das Kind wurde hergebracht und getauft. Man aß und trank gut und reichlich bis weit in die Nacht.



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Am Tage darauf ließ Marco der Reiche den armen Bauern zu sich kommen, überhäufte ihn mit Schmeicheleien und sagte zu ihm: »Höre, mein Freund, du bist arm, du bist nicht imstande, deinen Sohn zu erziehen; gib ihn mir, ich werde ihn unterrichten lassen, ich werde ihn in der Welt vorwärtsbringen und dir während deines ganzen Lebens eine jährliche Rente von tausend Rubeln auszahlen.« Der Bauer zögerte nicht, dieses verlockende Angebot anzunehmen.

Marco nahm das Kind, wickelte es in seinen Umhang aus Fuchspelz, legte es in seine Karosse und fuhr davon. Es war mitten im Winter. Nachdem Marco der Reiche mehrere Werst gefahren war, ließ er die Karosse anhalten, übergab das Kind seinem Knecht und erteilte ihm den Befehl, es bei den Füßen zu packen und in einen nahe gelegenen Gebirgsbach zu werfen. Der Gehilfe führte den Befehl seines Dienstherrn aus und warf das Kind in eine tiefe Schlucht. Marco lächelte und sagte: »Da unten kannst du gern meine Reichtümer genießen.« «

Zwei Tage danach kamen Kaufleute auf demselben Weg vorüber. Sie hatten zwölftausend Rubel bei sich, um Marco dem Reichen eine Schuld zu bezahlen. Als sie am Rande der Schlucht ankamen, hörten sie das Quäken und Schreien eines kleinen Kindes. Sie blieben stehen, spitzten die Ohren und schickten ihren Diener aus, um zu sehen, was es da gäbe.

Der Diener stieg bis auf den Grund der Schlucht hinab. Er sah vor sich eine grüne Wiese und inmitten der Wiese ein Kindlein liegen, das mit Blumen spielte. Der Diener kam zu seinen Herren zurück und berichtete, was er gesehen hatte. Sie liefen, um eine solches Wunder zu bestaunen; einer von ihnen nahm das Kind an sich, wickelte es in seinen Pelzmantel, stieg in den Schlitten, und sie machten sich wieder auf den Weg.

Bei Marco dem Reichen erzählten die Kaufleute ausführlich, welches merkwürdige Erlebnis sie gehabt hatten, und Marco erfaßt sogleich, daß dies Was III der Unglückliche war, sein Patenkind. Er bewirtete die Kaufleute mit den besten Speisen und Getränken und bat sie sodann, ihm ihr Findelkind abzutreten. Die Kaufleute lehnten zuerst ab; aber als Marco ihnen zum Tausch den Erlaß ihrer Schuld anbot, willigten sie auf der Stelle ein und überließen ihm das Kind.



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Ein Tag verging und ein weiterer; am dritten Tag nahm Marco Wasili den Unglücklichen, legte ihn in eine mit Harz überstrichene Tonne, und hoch vom Uferdamm schleuderte er sie ins Meer.

Die Tonne, von den Wellen davongetragen, landete nahe bei einem Kloster. Gerade in diesem Augenblick kam ein Mönch heran, um Wasser zu schöpfen. Er hörte den Schrei eines Kindes bis zu sich herüberschallen. Ohne Zögern sprang er in ein Boot, ergriff die Tonne, löste die Ringe und schaute ins Innere. Er sah darin das Kind, nahm es mit und brachte es zum Kloster. Der Prior nannte das Kind Wasili und gab ihm den Beinamen der Unglückliche.

Wasili verbrachte nun volle achtzehn Jahre im Kloster, lernte etliche Wissenschaften, auch die Kunst zu lesen und zu schreiben und im Chor zu singen. Der Prior schloß ihn in sein Herz und übertrug ihm das Amt des Mesners.

Eines Tages hatte Marco der Reiche eine Reise in fremde Länder zu tun, um dort Schulden einzuziehen. Auf seinem Wege hielt er in diesem Kloster an. Als er darin den jungen Kirchendiener bemerkte, begann ihn eine sonderbare Unruhe und Furcht zu plagen, und er zog über ihn Erkundigungen ein: Lebt er schon seit langem im Kloster? Woher kam er?«

Der Prior erzählte alle Einzelheiten und sagte genau alles, was er wußte: wie ein Fäßchen von den Wassern bis in die Nähe des Klosters getrieben worden war, wie man darin das Kind gefunden hatte, und wie viele Jahre seit jener Zeit verflossen waren.

Marco dachte nach und kam zu dem Schluß, daß dieser junge Mann sein Patenkind sein müsse. Und er bat den Prior:

»Wenn ich zu meinen Diensten einen derart geschickten Mann hätte, würde ich ihn zu meinem Nachfolger machen. Überlaßt ihn mir!« Der Prior widerstand lange, aber Marco der Reiche ging so weit, daß er der Kasse des Klosters eine Spende von fünfundzwanzigtausend Rubel versprach. Der Prior zog die Brüder zu Rate, und einstimmig beschlossen diese, das Geld anzunehmen und Wasili den Unglücklichen fortgehen zu lassen.

Marco schickte Wasili den Unglücklichen zu sich nach Hause mit einem Brief an seine Frau, der diese Zeilen enthielt:

»Liebe Frau, bei Erhalt dieses Briefes geh sofort mit dem Überbringer in unsere Seifenfabrik und gib den Arbeitern den Befehl, ihn in



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den großen Siedekessel hinunterzustürzen! Achte wohl darauf, mein Anweisungen genau auszuführen: dieser junge Mann ist mein Todfeind seit langem!«

Wasili der Unglückliche machte sich auf den Weg. Unterwegs begegnete er einem alten Mann, der fragte:

»Wohin gehst du, Wasili der Unglückliche?«

»Ich gehe zu dem Hause Marcos des Reichen; mein Dienstherr schickt mich mit einem Brief dorthin.«

»Zeige mir den Brief!«

Wasili zeigte ihm den Brief; der alte Mann erbrach das Siegel und sagte: »Da, lies!« Wasili las ihn und begann zu weinen:

»Was für Übles habe ich denn diesem Manne getan, daß er mich zu einer so grausamen Todesstrafe verdammt?«

»Gräme dich nicht und fürchte nichts«, antwortete ihm der alte Mann. »Der Himmel wird dich nicht verlassen.«

Er blies leicht über den Brief, und die beiden Enden des Siegels fügten sich wieder glatt zusammen, als wäre der Brief nie offen gewesen.

»Geh jetzt unbesorgt und vertraue deinen Brief den Händen der Frau von Marco dem Reichen ruhig an!«

Wasili kam zum Hause Marcos, verlangte nach der Herrin und übergab ihr den Brief. Diese überflog ihn, rief sogleich ihre Tochter Anastasia und ließ sie lesen, was der Brief des Vaters enthielt. Hier ist's, was da zu lesen stand:

»Liebe Frau, bei Erhalt dieses Briefes wirst du sogleich die Hochzeit unsrer Tochter mit seinem Überbringer feiern lassen. Trage Sorge, dich genau nach meinen Anweisungen zu richten! Solches ist mein Wille!«

Reiche Leute brauchen nicht erst das Bier zu brauen noch den Wein gären zu lassen, alles ist bei ihnen immer fertig und zur Hand. Es brauchte nur das Mahl gerichtet zu werden, und die Hochzeitsfeier hob an. Wasili erhielt eine nagelneue festliche Bluse, wurde Anastasia vorgestellt und gefiel ihr. Sie wurden zur Kirche geführt, und die Hochzeit wurde vollzogen.

Eines schönen Morgens kündigte man der Frau Marcos des Reichen die Rückkehr ihres Gatten an, und in Begleitung ihrer schönen Tochter und ihres Schwiegersohns fuhr sie ihm entgegen. Marco,



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sobald er Was iii den Unglücklichen erkannt hatte, geriet in heftigen Zorn und schrie seine Frau an: »Wie konntest du es wagen, ihn mit unserer Tochter zu verheiraten?«

»Aber ich bin doch nur genau deinen Anweisungen gefolgt!« antwortete die Frau.

Marco befahl, den Brief zu zeigen, las ihn mit eigenen Augen und mußte sich überzeugen, daß er von seiner Hand geschrieben war. Zwei oder drei Monate danach rief Marco der Reiche seinen Schwiegersohn zu sich und sagte ihm:

»Geh in das Königreich, das sich hundert Meilen von hier befindet, zum Schlangenkönig. Du wirst die Steuer eintreiben, die er mir für zwölf Jahre schuldet, und du wirst dich nach dem Los meiner zwölf Schiffe erkundigen, die seit drei Jahren verschwunden sind. Gleich morgen, bei Tagesanbruch, machst du dich auf den Weg.«

In aller Herrgottsfrühe stand Wasili der Unglückliche auf, nahm Abschied von seiner jungen Frau, versah sich mit einem großen Sack mit Zwiebäcken und zog los. Ich weiß nicht, wie lange Zeit er wanderte und ob er schon weit gereist war -irgendwann also sprach eine Stimme von der Seite her:

»Wasili der Unglückliche, wohin gehst du?«

Er drehte sich um: »Wer ruft mich da?«fragte er.

»Ich bin's, die Eiche, die dich fragt: wohin gehst du?«

»Ich gehe zum Schlangenkönig, um von ihm seinen Tribut für zwölf Jahre zu fordern.«

Die Eiche sagte zu ihm: »Wenn du dort ankommst, erinnere dich an mich! Ich stehe hier schon seit dreihundert Jahren. Erkundige dich, ob ich noch lange Zeit an diesem Platze bleiben muß!«

Wasili der Unglückliche versprach es und setzte seinen Weg fort. Er traf auf einen breiten Fluß und schiffte sich auf einem Floß ein. Der Fährmann fragte ihn:

»Wo gehst du hin, Wasili der Unglückliche?«

»Ich gehe zum Schlangenkönig, um von ihm den Tribut von zwölf Jahren zu fordern.«

»Wenn du dort ankommst, vergiß nicht, den König zu fragen, ob ich mich noch lange Zeit hier um die Überfahrt zu kümmern habe. Ich tue diesen Dienst nun seit gut dreißig Jahren.«

»Gut«, antwortete Wasili. Und er setzte seinen Weg fort. Er wanderte



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weiter, bis er ans Blaue Meer kam. In diesem Meer lag ein riesiger Walfisch; Fußgänger und Reiter marschierten auf ihm wie auf einer Brücke.

Sobald Wasili den Fuß auf ihn setzte, öffnete der Walfisch den Mund und sagte: »Wohin gehst du, Wasili der Unglückliche?«

»Ich gehe zum Schlangenkönig, um von ihm den Tribut zu fordern, den er seit zwölf Jahren schuldet.«

»Nun gut, wenn du dort ankommst, erinnere dich an mich! Es gibt da einen Walfisch, der verbindet die beiden Ufer des Blauen Meeres miteinander; die Fußgänger und die Reiter haben ihm derart den Leib zerschunden, daß die Rippen schier bloßliegen. Erkundige dich, ob er noch lange Zeit die gleiche Stellung einnehmen und den Menschen als Brücke dienen muß!«

»Gut, ich werde es nicht vergessen«, antwortete Wasili. Und er nahm seinen Weg zum Schlangenkönig wieder auf.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit er gewandert ist, aber schließlich kam er auf einer grünen Wiese an: mitten auf dieser Wiese erhob sich ein mächtiger Palast. Wasili der Unglückliche erklomm die Freitreppe und wanderte durch eine Flucht von Sälen und Fluren; die Säle waren ganz unvergleichlich ausgeschmückt, einer immer noch schöner als der andere.

Im entlegensten Gemach fand er ein schönes junges Mädchen auf einem Bett hingestreckt und ganz in Tränen. Als sie den Fremden bemerkte, sprang sie auf und rief:

»Wer bist du, tapferer junger Mann? Welcher Zufall hat dich an diese verworfene Stätte geführt?«

»Ich heiße Wasili der, Unglückliche; ich bin von Marco dem Reichen hierher gesandt worden, der mir den Befehl erteilt hat, den Schlangenkönig aufzusuchen und von ihm den Tribut zu fordern, den er seit zwölf Jahren schuldet.«

»Ah! Wasili der Unglückliche, du bist hierher geschickt worden, nicht um diese Steuer einzuziehen, sondern um von der Schlange verschlungen zu werden. Welchen Weg hast du genommen, um hierher zu langen? Hast du auf deinem Wege nichts gesehen, nichts gehört?«

Wasili erzählte ihr nun seine Begegnungen mit der alten Eiche, dem Bootsmann und dem Walfisch.



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Kaum hatte er Zeit gehabt, das alles zu erzählen, als ein Sturmgewitter losbrach, die Erde erzitterte und der Palast bis in seine Grundmauern erschüttert wurde.

Das schöne junge Mädchen hieß Wasili, sich unter ihrem Lager zu verstecken, und schärfte ihm ein: »Höre gut zu, was ich jetzt sagen werde!«

In diesem Augenblick trat der Schlangenkönig ins Zimmer.

»Woher kommt das Russenwesen, das ich hier rieche?«fragte er. »Wo könnte der Geruch denn herkommen?« antwortete das junge Mädchen. »Du bist selber ganz davon durchtränkt nach der Reise, die du soeben quer durchs weite Rußland gemacht hast.«

»Oh! Wie erschöpft bin ich! Willst du mir wohl den Kopf streicheln?« sagte der Schlangenkönig und streckte sich auf dem Bett aus. Das junge Mädchen gehorchte, und während es ihm den Kopf streichelte, erzählte es:

»In deiner Abwesenheit hatte ich einen Traum. Ich ging die Straße entlang, und plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit von den Rufen einer Eiche angezogen, die zu mir sagte: >Frage deinen König, wann meine Mühe und Pein ihr Ende haben wird.<«

»Jene Eiche«, antwortete die Schlange, »wird ihr Leben weiterschleppen müssen, bis ein junger Mann kommt und ihr bei Sonnenaufgang einen Fußtritt versetzt. Davon wird die Eiche entwurzelt werden, und an ihrem Fuße wird man eine solche Menge Gold und Silber finden - nicht einmal Marco der Reiche besitzt soviel.«

»Danach habe ich geträumt, ich käme an einen großen Strom; ein Floß diente zur Überfahrt; der Bootsmann fragte mich, ob er noch lange dableiben und die Leute übersetzen müsse.«

»Jener Bootsmann muß nur schlau sein. Er braucht nur den ersten von denen, die zu ihm kommen werden, an seinen Platz zu setzen, sodann das Floß weit vom Ufer wegzustoßen, und dann wird dieser es sein, der ihm als Fährmann nachfolgen wird, bis zum Ende der Zeiten.«

»Ich habe noch geträumt«, begann sie von neuem, »ich wanderte auf dem Körper eines Walfisches, der die beiden Küsten des Blauen Meeres miteinander verband: er fragte mich, wie viele Jahre er noch dazu verdammt sei, dort als Brücke zu dienen.«

»Jener Walfisch muß das noch so lange tun, bis er sich's einfallen



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läßt, die zwölf Schiffe von Marco dem Reichen, die er verschlungen hat, auszuspeien; gleich danach wird es ihm möglich werden, wieder in die Fluten unterzutauchen, und seine Wunden werden heilen.« Nach diesen Worten fiel der Schlangenkönig in einen tiefen Schlaf. Da rief das junge Mädchen Wasili den Unglücklichen hervor, hieß ihn heimwandern und erteilte ihm diesen Rat:

»Was du soeben aus dem Munde der Schlange erfahren hast, wiederhole es dem Bootsmann und auch dem Walfisch nicht vor Erreichen des anderen Ufers, sondern erst dann, wenn du deinen Fuß auf das Ufer gesetzt hast.«

Wasili der Unglückliche dankte dem jungen Mädchen und brach auf. Ich weiß nicht, wieviel Zeit er brauchte, um das Blaue Meer zu erreichen. Als der Walfisch ihn bemerkte, fragte er ihn:

»Hast du mit dem Schlangenkönig von mir gesprochen?«

»Ja! warte nur, bis ich das andere Ufer erreicht habe, dann werde ich dir seine Antwort sagen.«

Als er das Meer überquert hatte, sagte er: »Spei die zwölf Schiffe von Marco dem Reichen aus!«

Der Walfisch gehorchte, und die zwölf Schiffe erschienen auf der Oberfläche des Meeres. Sie fuhren mit dem Wind, der ihre Segel blähte, so ruhig dahin, als ob ihnen nichts Außergewöhnliches geschehen wäre, und sie waren völlig unversehrt. Wasili befahl zwölf Matrosen, ihm zu folgen.

Dann setzte er seinen Weg fort und kam zu dem Fährmann.

»Hast du mit dem Schlangenkönig über mich gesprochen?«fragte ihn dieser.

»Ja - Warte ein wenig! Bring mich zuerst ans andere Ufer. Dann werde ich sprechen.« Dort angelangt, sagte Wasili: »Den ersten, der bei dir erscheinen wird, stelle sogleich an deinen Platz, stoße die Fähre weit vom Ufer ab und geh davon in dein Haus.«

Endlich langte er bei der alten Eiche an. Zur Stunde, da die Sonne aufging, versetzte er ihr einen Tritt mit dem Fuß: die Eiche fiel in ihrer ganzen Länge hin, und an ihrem Fuße fand sich eine ungeheure Menge Gold, Silber und kostbare Edelsteine.

Die Matrosen brachten diese ungeheure Menge Gold, Silber und Edelstein zurück zu den Schiffen; sobald diese Arbeit beendet war, lichteten sie die Anker, und Wasili fuhr mit ihnen. Marco dem Reichen



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wurde die Botschaft gebracht, sein Schwiegersohn werde in aller Kürze mit zwölf Schiffen landen und die Schlange habe ihm ungeheure Reichtümer zum Geschenk gemacht.

Er geriet in tobenden Zorn, ließ seine Karosse anspannen und fuhr selber zu dem Schlangenkönig, um von ihm das Mittel zu erfragen, wie er sich seines Todfeindes entledigen könne. Er langte am Ufer des Stroms an, wo das Floß lag, und wollte sich übersetzen lassen. Der Bootsmann aber sprang heraus und stieß das Floß wieder ab, und seitdem war nun Marco dazu verurteilt, die Leute vom einen Ufer an das andere überzusetzen.

Indessen war Wasili bei seiner Frau und seiner Schwiegermutter angekommen. Er trieb Handel auf eigene Rechnung, wurde reich und noch reicher, half den Armen, stand allen Waisenkindern bei, und nach der Weissagung jener alten Männer nahm er selber Besitz von allen Gütern Marcos des Reichen.


Zwitscher hin und zwitscher her

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, sie waren sehr arm und hatten weder Holz noch Späne.

Die Frau schickte den Mann weg, damit er in den Wald fahre und Holz schlage.

Der Alte tut das auch, sucht sich im Wald einen Baum aus, und klipp, klapp schlägt die Axt an den Stamm.

Da springt ein Vöglein aus dem Baum heraus und ruft:

»Zwitscher hin und zwitscher her, sag mir, was ist dein Begehr?«

»Meine Frau braucht Holz und Späne.«

»Geh nur heim, du hast Holz und Späne genug.«

Der alte Mann ist's zufrieden und läßt von dem Baum ab. Wie er nach Hause kommt -liegt sein ganzer Hof voll Holz und Späne. Er erzählt der Frau von dem Vöglein, und sie antwortet ihm:

»Unser Haus ist gar so schlecht und erbärmlich, geh wieder in den Wald, Alter, vielleicht, daß das Vöglein uns das Haus etwas richtet.« «

Der alte Mann gehorcht. Er kommt in den Wald und findet auch den Baum wieder. Er nimmt die Axt und fängt an zu schlagen.



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Wieder springt das Vöglein heraus:

»Zwitscher hin und zwitscher her, sag mir, was ist dein Begehr?«

»Ach, Vöglein, mein Haus ist gar schlecht und erbärmlich, könntest du es nicht etwas richten?«

»Geh nur heim, du hast ein neues Haus und Überfluß an allem, was du brauchst.«

Der alte Mann kommt heim und traut seinen Augen nicht: Im Hof steht ein ganz funkelnagelneues Haus. Auch Brot ist da, soviel man denken kann; die Menge der Kühe, Pferde und Schafe aber ist gar nicht zu zählen!

Eine Weile lebten sie so, das Wohlleben macht die alte Frau übermütig, und sie spricht zum Alten:

»Von allem haben wir genug, aber doch sind wir bloß Bauern, kein Mensch hat Achtung vor uns. Geh mal hin, Alter, und bitte das Vöglein, vielleicht macht es dich zum Beamten, dann bin ich Beamtenfrau.«

Der Alte nimmt die Axt. Er kommt in den Wald, findet den Baum und fängt an zu schlagen. Wieder hüpft das Vöglein heraus:

»Zwitscher hin und zwitscher her, sag mir, was ist dein Begehr?«

»Ach, liebes Vöglein, kannst du mich nicht zum Beamten machen, damit meine Frau Beamtenfrau wird?«

»Geh heim, du sollst Beamter sein und deine Alte Beamtenfrau.« Er kommt zurück. Schon auf der Fahrt durchs Dorf nehmen alle, auf die er trifft, vor ihm die Mütze ab, alle fürchten sie ihn. Der Hof ist voller Gesinde und die alte Frau aufgeputzt wie eine Herrin. Wieder leben sie eine Weile in Ruhe, doch bald will die Frau noch höher hinaus.

»Was ist da schon Großes dran, ein Beamter zu sein! Fällt es dem Zaren gerade mal ein, läßt er dich und mich einsperren! Geh mal zum Vöglein, Alter, und bitt recht schön, ob es dich nicht zum Zaren und mich zur Zarin machen könnte.«

Was soll der alte Mann tun? Er holt wieder die Axt, fährt in den Wald zu dem Baum und fängt an zu schlagen.

Das kleine Vöglein kommt herausgesprungen:

»Zwitscher hin und zwitscher her, sag mir, was ist dein Begehr?«

»Ja, sag, mein liebes, teures Vöglein, würdest du mich nicht zum Zaren und meine Alte zur Zarin machen?«



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»Geh heim, du sollst Zar und deine Alte Zarin sein.«

Er fährt nach Hause. Da kommen ihm schon Boten entgegen.

»Der Zar ist gestorben, du bist zu seinem Nachfolger gewählt!«

Nur eine kurze Zeit ist es dem Alten vergönnt, zu regieren -da erscheint es der Frau zu gering, Zarin zu sein.

»Was ist schon ein Zar! Wenn es Gott gefällt, schickt er den Tod zu dir, und sie scharren dich ein in die kühle Erde. Geh mal zum Vöglein, Alter, und bitte, es möchte dich selber den Herrgott werden lassen und mich die Mutter Maria . .

Der Alte greift zur Axt, geht zum Baum und fängt an zu schlagen. Das kleine Vöglein kommt herausgesprungen:

»Zwitscher hin und zwitscher her, sag mir, was ist dein Begehr?«

»Hab die Güte, Vöglein, laß mich selber zum Herrgott werden.«

»Gut, geh heim, sollst ein Ochse sein, deine Alte ein Schwein.«

Und der alte Mann wird auf der Stelle zum Ochsen. Er kommt heim und sieht - seine Alte: im Stall ist sie ein Schwein geworden.


Der Vogel Kachka

Es war einmal ein alter Fischer. An jedem Morgen in aller Frühe ging er an den Fluß, saß dort bis zum späten Abend und fing mit der Angel ein paar kleine Fische. Die verkaufte er, und von dem Erlös fristeten er und seine Frau kümmerlich ihr Leben.

Eines Tages nun, als er wieder wie gewohnt zum Fluß ging und sich gerade am Ufer hingesetzt hatte, kam ein großer, schöner Vogel geflogen und setzte sich dort auf einen Baum.

Das aber war kein gewöhnlicher Vogel, sondern der Wundervogel Kachka.

Der Vogel schaute dem Fischer zu, der dasaß und angelte, aber kein Fisch wollte anbeißen. Lange saß der Fischer so, bis er endlich ein kleines Fischlein herauszog. Da sagte der Vogel Kachka zu ihm:

»Ach, Väterchen, was willst du mit diesem kleinen Fischlein beginnen?«

»Ich werde es auf dem Markt verkaufen und mit dem Geld für mich und meine Frau ein bißchen Brot kaufen.«

Dem Vogel tat der alte Mann leid, und er sagte:



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»Ich will nicht, daß du dich so abmühst und dabei noch am Hungertuche nagst! Von jetzt an werde ich dir jede Nacht einen großen Fisch bringen. Für den großen Fisch bekommst du viel Geld, und du und deine Frau, ihr werdet keine Not mehr leiden!«

Da freute sich der alte Fischer, dankte dem Vogel und ging nach Hause.

Um Mitternacht kam der Vogel Kachka mit einem riesigen Fisch geflogen und warf ihn dem alten Mann in den Hof.

Am nächsten Morgen schnitt der Alte den Fisch in Stücke, briet diese, brachte sie zum Markt und verkaufte sie. An diesem Tage hatten die beiden Fischersleute zum erstenmal seit langem genug zu essen.

Von da an brachte der Vogel Kachka dem Fischer jede Nacht einen großen Fisch und warf ihn in den Hof.

Der alte Fischer war ein armer Mann, nun aber wurde er reich. Er konnte sich zuletzt sogar ein Haus mit einem Garten kaufen.

Wieder einmal ging er auf den Markt und verkaufte seinen Fisch. Plötzlich erschien dort der Ausrufer des Padischahs und rief:

»Wer dem Padischah sagen kann, wo der Vogel Kachka zu finden ist, der bekommt die Hälfte des Königreiches und die Tochter des Padischahs dazu!«

Der alte Fischer erhob sich von seinem Platz und wollte schon sagen, daß er wisse, wo man den Vogel Kachka finden kann, aber dann besann er sich:

>Nein, ich werde es nicht sagen, denn dieser Vogel hat mich vor dem Hunger gerettet!< So dachte er und setzte sich wieder an seinen Platz.

>Aber es wäre doch schön, das halbe Reich zu bekommen<, überlegte er weiter und stand wieder auf.

So stand er drei-, viermal von seinem Platz auf und setzte sich wieder.

Der Ausrufer merkte das. Er ergriff den Alten und schleppte ihn zum Padischah:

»Dieser alte Mann weiß, wo der Vogel Kachka ist«, sagte er.

Der Padischah sagte zu dem Alten:

»Wenn du etwas vom Vogel Kachka weißt, dann sage mir, wo ich ihn finden kann. Ich bin plötzlich erblindet, und kein Heilmittel



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vermag mir das Augenlicht wiederzugeben. Ein weiser Mann aber hat mir gesagt, daß ich wieder sehend werde, wenn ich meine Augen mit dem Blüt des Vogels Kachka wasche. Hilf mir ihn fangen, dann gebe ich dir die Hälfte meines Reiches!« Der alte Fischer antwortete:

»Jede Nacht kommt der Vogel Kachka zu mir und bringt mir einen großen Fisch.«

Der Padischah freute sich: »So fange du ihn!«

»Nein«, antwortete der Alte, »der Vogel Kachka ist groß und stark. Allein werde ich mit ihm nicht fertig. Hundert Mann werden nicht genügen, um ihn zu greifen und festzuhalten.«

»Ich werde vierhundert meiner Diener zu dir schicken. Verstecke sie unter dem Baum, auf dem sich der Vogel Kachka niederläßt. Sie werden ihn schon packen und festhalten können!«

»Nein«, erwiderte der Alte, »so kann man den Vogel Kachka nicht fangen. Ich werde eine gute Mahlzeit zubereiten, und wenn er zu mir geflogen kommt, werde ich ihn überreden, auf die Erde herunterzufliegen und zu fressen. Und dabei können wir ihn dann greifen!«

Der Padischah schickte dem Alten vierhundert seiner Diener. Der Fischer führte sie unter den Baum, auf dem sich der Vogel Kachka immer niederließ, und versteckte sie unter den Zweigen. Dort saßen die Diener nun, ohne sich zu rühren.

Der Alte aber breitete auf einem Teppich unter dem Baum reichliche Nahrung aus und wartete auf den Vogel Kachka. Sobald dieser nun angeflogen kam und sich auf den Baum gesetzt hatte, sagte der Alte:

»Lieber Vogel Kachka! Dir verdanke ich es, daß ich reich und glücklich geworden bin, aber bis heute habe ich dich noch nicht einmal zu Gast geladen! Fliege jetzt zu mir herunter und nimm an meiner Mahlzeit teil!«

Und er bat den Vogel Kachka so inständig, daß dieser von dem Baum herunterflog. Wohl überlegte er dabei einen Augenblick: >Wenn nun der alte Mann Böses im Sinne hat?<Aber dann sagte er sich: >Ach, was soll dieser alte, schwache Mann mir schon antun!< So flog also der Vogel Kachka vom Baum herunter und setzte sich zu dem Alten. Der stellte die Speisen vor ihn hin und bewirtete ihn.



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Doch kaum hatte der Vogel Kachka begonnen, mit dem Schnabel von der Nahrung zu picken, da packte ihn der Alte an beiden Beinen und schrie:

»Kommt schnell herzu! Rasch!«

Die vierhundert Diener des Padischahs sprangen aus ihrem Versteck hervor und stürzten sich auf den Vogel. Der Vogel Kachka aber öffnete seine mächtigen Schwingen und flog empor in die Lüfte. Der Alte hielt ihn noch immer an den Beinen fest und schrie:

»Ich halte ihn! Ich halte ihn!«

Der Vogel Kachka jedoch erhob sich höher und höher. Einer der Diener des Padischahs sprang hoch und packte den alten Mann an den Beinen, um den Vogel aufzuhalten. Ein zweiter Diener sah, wie die beiden sich von der Erde lösten, und packte den ersten Diener an den Beinen. Den zweiten packte ein dritter, den dritten ein vierter, den vierten ein fünfter . . . und so taten es alle.

Der alte Mann und die vierhundert Diener des Padischahs klammerten sich aneinander, erhoben sich hinter dem Vogel Kachka hoch hinauf bis zu den Wolken und hingen wie eine Kette in der Luft. Da schaute der Alte hinunter zur Erde, aber die Erde war schon nicht mehr zu sehen. Es wurde ihm schwarz vor den Augen vor Angst, er löste die Finger und stürzte hinab in die Tiefe. Und mit ihm alle vierhundert Diener des Padischahs. Sie fielen auf Felsen und Steine und blieben dort allesamt zerschmettert liegen.


Der kranke Spatz

Der Spatz hatte sich über seine Frau geärgert. Er lag im Nest, aß nicht, trank nicht und redete mit niemand ein Wort.

Den Nachbarn wurde es langweilig ohne den Spatzen, und der Hahn kam: »Tuk, tuk, tuk! Gevatterin, ist der Spatz zu Hause?«

»Zu Hause ist er schon, liegt aber krank im Nest«, sagte die Spätzin.

»Wo tut es ihm denn weh?«

»Das Kehichen schmerzt ihn.«

»Da solltet ihr rasch zur Tenne fliegen und ein Haferkorn holen. Ein Mehlbrei wärmt ihm die Kehle.«



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»Das hab' ich ihm schon gegeben, Gevatterchen. Die Wärme hilft ihm nicht, sie bringt ihm nur neue Schmerzen.«

Da flog die Krähe herbei:

»Gevatterin, ist der Spatz zu Haus?«

»Zu Hause schon, aber er ist krank.«

»Was tut ihm denn weh?«

»Im Rücken sitzt es, nagt und schmerzt!«

»Fliegt doch zum Gemüsegarten, Gevatterin, wo Wermut wächst. Ihr solltet Wermutblätter pflücken und ihm damit den Rücken wärmen!«

»Gewärmt hab' ich ja schon, Gevatterin. Aber es hat nicht genützt; jetzt tut ihm auch noch die Seite weh!«

Das Rebhühnchen kam: »Gevatterin, ist der Spatz zu Haus?«

»Zu Hause schon, aber er ist krank.«

»Was tut ihm denn weh?«

»Die Füßchen.«

»Fliegt doch zum Gemüsegarten, Gevatterin, wo Pfefferminze wächst. Die Pfefferminze müßt ihr brühen und ihm damit die Füßchen wärmen!«

»Hab' sie gewärmt, Gevatterin, hab's ja schon. Die Wärme hilft nicht, bringt ihm nur neue Schmerzen.«

Da wurde es dem Spatz zu langweilig, böse zu sein, und auch das Wärmen hatte er ganz gründlich satt. Aufs Dach also spazierte der Spatz hinaus, setzte sich ganz oben hin und schrie: »Ich bin ganz munter, tschiep, tschiep, ich bin mit allem zufrieden, piep, piep. Der Spatz ist nicht krank, dem Spatzen geht's gut.«


Schneeflöckchen

Fast am Ende des Dorfes lebte dereinst in einem Häuschen ein schon älteres Ehepaar. Die beiden waren in Liebe und Eintracht alt geworden, aber ihr sehnlichster Wunsch war ihnen unerfüllt geblieben - Gott hatte ihnen keine Kinder geschenkt.

Zuweilen saßen sie beim Fenster ihres Häuschens, sahen den Spielen der Dorfkinder zu, und es war ihnen traurig ums Herz. »Ach, wenn wir doch auch ein Kindlein hätten!« seufzten sie dann.



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Einmal, als es wieder Winter wurde und der frisch gefallene Schnee Felder und Fluren weithin bedeckte, liefen die Kinder voller Jauchzen aus den Häusern, um im Schnee zu spielen. Die beiden Alten saßen wie so oft in ihrer warmen Stube beim Fenster und sahen dem lustigen Treiben zu. Die Kinder erfanden sich allerlei heitere Spiele, vollführten Schneeballschlachten und fingen schließlich an, einen Schneemann zu bauen. Da sagte der alte Mann zu seiner Frau:

»Komm, Frau, laß doch auch uns einen Schneemann bauen!«

»Warum denn einen Schneemann? Warum nicht gleich ein Schneekind, da uns der liebe Gott kein wirkliches Kindchen beschert hat«, antwortete still lächelnd die Frau.

»Da hast du völlig recht«, rief der Mann, »laß uns miteinander in den Garten gehen.« Sie kleideten sich warm an und stapften in den Schnee hinaus, machten sich auch gleich ans Werk, formten den kleinen Körper mit Ärmchen und Beinchen und setzten ihm eine Schneekugel als Köpfchen auf.

»Helf' euch Gott«, riefen die Nachbarn, die gerade des Wegs kamen.

»Vergelt's Gott«, antwortete der Mann.

»Gottes Hilfe ist stets erbeten«, fügte die Frau hinzu.

»Was macht ihr denn da eigentlich?«

»Seht's selber!« lachten die beiden Alten, »wir machen uns ein Schneekind, unsere kleine Schneeflocke!«

Und sie steckten voller Vergnügen ein feines Näschen an, formten das Kinn voller Liebe, drückten zwei kleine Grübchen an die Stelle der Augen, und als der Mann anschließend das Mündchen andeutete, erschien's ihm mit einemmal, als ob warmer Atem daraus entströme. Fast erschrocken zog er seine Hand zurück.

Da bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß die Grübchen unter der Stirne sich gefüllt hatten und zwei klare blaue Äuglein ihn anschauten. Das Mündchen war rot wie eine Beere und fing an zu lächeln. Das Schneekind strampelte mit Ärmchen und Beinchen, wie ein richtiges Kindlein das in der Wiege tut.

Vor Freude wußten sich die beiden Alten nicht zu lassen. Die Frau weinte und lachte zugleich und rief: »Ach, Liebster, endlich hat Gott uns erhört und uns doch noch ein Kind beschert!«

Sie nahm das Schneekind auf und trug es ins Häuschen. Dort fiel al



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ler Schnee von ihm ab, so wie die Eierschale von einem soeben ausgekrochenen Hühnchen, und die Mutter hielt voller Staunen ein richtig lebendiges kleines Mädchen im Arm.

Und Schneeflöckchen, denn so nannten sie ihre kleine Tochter, wuchs und gedieh und wurde von Tag zu Tag schöner. Die Nachbarskinder kamen, um mit ihr zu spielen, und herzten und verwöhnten sie, als ob sie ein kleines Püppchen sei. Sie umtanzten sie, sangen ihr Liedchen vor, erzählten ihr Märchen und belehrten sie über alles, was sie selber wußten.

Als der Winter zu Ende ging, war Schneeflocke schon so groß, als ob sie bereits dreizehn Jahre alt wäre. Sie war auffallend klug, zeigte Verständnis für jedermann und wußte über alle Dinge Bescheid. Sie war weiß wie Schnee, ihre Augen leuchteten wie kleine blaue Vergißmeinnichtblüten, und das blonde Haar fiel ihr in goldenen Löckchen fast bis zu den Hüften. Zwar zeigte sich keine liebliche Röte in ihren Wangen, und es schien, als sei kein Tröpfchen roten Blutes in ihrem Körper. Dennoch war sie so schön, daß man nur mit Mühe den Blick von ihr wenden konnte, und so gut und freundlich war sie, daß bei ihrem Anblick jedem Menschen das Herz in der Brust lachte. Und alle überhäuften sie mit Liebe. War sie denn nicht auch der reine Sonnenstrahl im Leben der beiden Alten?

»Oh, Liebster«, hörte man die alte Frau öfter sagen, »Gott hat uns wahrlich viel Freude in unseren alten Tagen gewährt!«

Und der Mann antwortete ihr:

»Ehre sei Gott in der Höhe! Hier unten währt die Freude nicht ewig, aber auch der Kummer ist nie ohne Ende.«

Der Winter verging so rasch, wie er gekommen war, und die Sonne fing an, mit ihren Strahlen die Erde zu erwärmen. Bald schon zeigte sich frisches grünes Gras auf den vom Schnee befreiten Wiesen, und oben in den blauen Lüften jubilierte die Lerche. Im Dorfe sammelten sich junge Mädchen, faßten sich bei den Händen und sangen frohe Frühlingslieder. Schneeflöckchen aber schien zu welken und ward trauriger von einem Tag zum andern.

»Was fehlt dir denn, mein Herzkind, du wirst mir doch nicht krank werden?«fragte die Frau sie immerzu.

»Seid ohne alle Sorge, Mütterchen, ich fühle mich gesund und kräftig«, beruhigte sie Schneeflöckchen.



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Unter den warmen Strahlen der Sonne schmolz bald schon der letzte Schnee. Auf den Wiesen und in den Gärten blühten alle Blumen wieder, und Gottes ganze Wunderwelt war frühlingsfrisch und heiter. Doch Schneeflöckchen schien immer müder und trauriger. Sie wich ihren Spielgenossen aus und versteckte sich ständig vor den Strahlen der Sonne.

Sie liebte es, an kühleren Plätzen zu spielen, und das leise murmelnde Bächlein, das unter schattigen Weidensträuchern friedlich dahinfloß, wurde ihr bester Freund. Wenn es regnete und die Sonne sich hinter dunklen Wolken verbarg, dann lachte und sang Schneeflöckchen wieder wie zuvor.

Als einmal ein schweres Gewitter von Hagel begleitet niederging, klatschte sie gar in die Hände, jauchzte vor Freude und sammelte die Hagelkörner vom Boden auf, als ob es lauter Edelsteine wären. Als diese aber langsam auftauten, begann sie zu weinen, und die alten Leute konnten sie nur mit Mühe beruhigen.

Als der Frühling sich zum Sommer wandelte und der Tag des heiligen Johannes näherrückte, versammelten sich die Dorfkinder, um gemeinsam im Walde sein Fest in der Jahresmitte zu feiern. Sie klopften auch an die Haustüre des alten Paares und baten: »Laßt Schneeflöckchen mit uns in den Wald ziehen!«

Die alte Frau zögerte, und auch Schneeflöckchen wollte davon nichts hören; sie wäre lieber zu Hause geblieben. Aber als die Kinder in ihrem Drängen nicht nachlassen wollten, willigten sie schließlich ein.

»Gebt gut acht auf meine kleine Schneeflocke«, bat die alte Frau; »ihr wißt, daß ich sie mehr liebe als mein Augenlicht.«

»Wir werden schon auf sie aufpassen und sie dir heil zurückbringen«, versprachen die Kinder, nahmen Schneeflöckchen an der Hand und liefen mit ihr dem Walde zu. Dort pflückten sie Blumen, wanden Sträuße und Kränze und sangen dazu ihre lustigen und ihre wehmütigen Lieder. Schneeflöckchen folgte genau den Anweisungen ihrer Spielgenossen und tat voller Vergnügen überall mit.

Als die Sonne unterging und es Abend wurde, entzündeten die Kinder aus Gras, trockenen Zweigen und Blättern ein Feuerchen. Sie stellten sich in Reih und Glied, eins hinter das andere, und wiesen Schneeflöckchen den letzten Platz in der Reihe an.



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»Sieh gut zu, wie wir nun laufen und springen werden«, riefen sie, »und folge dann unserem Beispiel! Aber bleib ja nicht zurück!« Und sie sprangen jubelnd und jauchzend, eins nach dem andern, über das hellflackernde und prasselnde Feuerchen, zuletzt auch Schneeflöckchen. Plötzlich hörten sie ein Zischen und ein schmerzliches Stöhnen. Ihr Lachen verstummte, und sie sahen einander fragend an. Da entdeckten sie, daß Schneeflöckchen nicht mehr unter ihnen war.

»Vielleicht hat sie sich versteckt!«riefen sie und zerstoben nach allen Seiten, um nach ihr zu suchen. Sie riefen und schrien, baten sie, zurückzukommen - doch all ihr Bemühen blieb vergebens.

»Sicher ist sie schon nach Hause gelaufen«, meinten sie schließlich und eilten dem Dorfe zu. Doch auch hier war Schneeflöckchen nicht. Sie suchten den ganzen Rest des Tages und auch noch am zweiten und dritten Tag, sie schauten unter jeden Busch und Strauch, aber sie fanden sie nicht. Die arme alte Frau lief immer wieder zum Walde zurück -aber kein Rufen und Klagen konnte helfen: Schneeflöckchen blieb unauffindbar.

»Wohin ist sie wohl verschwunden? Hat etwa ein wildes Tier sie verschleppt oder ein Raubvogel sie entführt?«

Nichts dergleichen war geschehen -kein wildes Tier und auch kein Raubvogel hatten Schneeflöckchen davongetragen! Aber als sie dem Beispiel der Kinder gefolgt und übers Johannisfeuer gesprungen war, war das ganze Schneekind zerschmolzen - und nur ein dünnes, federleichtes Wölkchen war langsam zum Himmel emporgeschwebt.