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INHALT
ZUR EINFÜHRUNG 5
MÄRCHEN AUS ISLAND
Die verspeisten Böcke 11
Thors Fahrt zu Utgarda-Loki 12
Das Märchen von Thorstein Hofkraft 20
Der rollende Rindsmagen 36
Märdöll 37
Die kluge Finna 39
Der Küster von Myrka 43
Das Elbenmädchen 46
Asmud Südfahrer 48
Halla die Bauerntochter 51
Olaf und Helga 55
Bjarni und Salwör 59
Die Kindtaufe 61
Die sprechenden Schiffe 62
Die Mühle, die alles mahlt 63
Die rechte Braut 66
Auf, meine Sechs, in Jesu Namen 72
Ingeborg und ihre gute Stiefmutter 73
Der Mann von Grimsö und der Bär 76
Der Elbenkönig auf Selö 77
Die Riesin im Steinboot 81
Ein toter Mann braucht selten ein Messer 87
Die Kuh Bukolla 87
Der Königssohn Ring und der Hund Snati-Snati 89
Die Frau will was haben für ihren Knopf 100
Der Bräutigam und der Wiedergänger 102
Das Seehundsfell 106
Der Königssohn Thorstein und der dankbare Tote 107
Der Ernteknecht 115
Bangsimon 118
Tritil, Litil und die Vögel 121
Der rote Stier 127
Trunt, Trunt und die Trolle in den Bergen 129
Der Ritter und die Waldfrau 129
Eine Pfarrerstochter mit einem Huldren verheiratet 132
Die Pfarrerstochter von Prestsbakki 134
Graumann 134
Pferd Goldmähne und Schwert Kampffeder 141
Lini, der Königssohn 147
Die Schuhe aus Menschenhaut 150
Jon und die Trollsriesin 152
Sigrid, die Sonne des Inselfjords 158
Das Mädchen von der Alm 167
Die drei Schwestern 171
Sigurd und das Gespenst 174
Von dem Burschen, der sich vor nichts fürchtet 176
Der Knecht und das Seevolk 183
Die Elbenkönigin Hild 186
Gilitrutt 192
Hwekk 194
Kort von Mödruwellir und das Seeungeheuer 196
Das Mädchen von Galtalaek 197
Der Häuslerssohn und seine Katze 198
Das Gespenst zu Hagi 201
Johanna 203
Asmund und Signy 207
Der starke Grettir und der Wiedergänger Glam 209
Das weissagende Meermännlein 221
Grettir und die Trollsriesin 223
Die Geschichte vom Königssohn Hlinur 228
Die Geschichte von Thorstein Stangennarbe 235
Die kleine Geschichte von Gudmund und den Rauchtälern 243
Die kleine Geschichte von Gudmund und der Brautwerbung 247
Thorstein der Gruseler 251
Wie Olaf der Heilige seine Stiefbrüder prüfte, aus denen Harald der Alte kam 254
Der häßliche Fuß 257
MÄRCHEN VON DEN FÄRÖERN
Das Seehundsweibchen 259
Das Loch der Riesin 261
Dulurin 262
Die Hausfrau in Husawik 263
Der Kormoran und der Eidervogel 266
Die Jagd nach dem Monde 266
Die Fahrt im Huldrenboot 267
Die drei Götter und der Bauernsohn 268


Bd-06-003_Titel Einfuehrung. Flip

Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker



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Nach alten Vorlagen ausgewählt

und mit einer Einführung versehen von Karl Rauch

Lizenzausgabe mit Genehmigung von Interbooks, Zürich für Verlag Olde Hansen, Hamburg und Bertelsmann Reinhard Mohn OHG. Gütersloh die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart und die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr &Scheriau, Wien Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch's Verlag Nachf., Berlin -Darmstadt -Wien Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany Buch-Nr. 08698 3



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ZUR EINFÜHRUNG

Tiefer noch als in den Ländern Skandinaviens gelangen wir hier in germanische Urzeit. Das Wunderland Thule tritt uns ins Bewußtsein — und die Sagenwelt der Edda. Islandsaga!

Es ist bekannt, daß die kleine, fernabgelegene Insel im westlichen Norden Europas, von deren wenig über hunderttausend Quadratkilometern nur die knappere Hälfte bewohnbar sind und deren derzeitige Hauptstadt Reykjavik nicht einmal zweihunderttausend Einwohner zählt, ringsum von den Wassern des Atlantischen Ozeans umflossen wird. Unmittelbar südlich vom nördlichen Polarkreis liegt sie dreihundertdreißig Kilometer vom östlichen Grönland entfernt, und gut achthundert Kilometer sind es noch bis zum europäischen Festland. Das Weideland ist spärlich. Weithin ist vulkanischer Boden. Viele Tausende Krater zeugen von vergangenen Eruptionen. Ober Basaltstufen stürzen wilde Ströme und Flüsse zu den Tälern hinab. Riesige Wasserfälle machen das Passieren beschwerlich, und an weiten Strecken bricht das Hochland oft bis zu fünfhundert Meter hohen Wänden ab. Trotz der Nähe des Golfstromes ist es dort rauh und unwirtlich. Ackerbau wird heute nur noch selten betrieben. Die Bevölkerung lebt meist vom Fischfang, von Schafherden und Pferdezucht. Kraftomnibusse regeln den Verkehr - Eisenbahn gibt es nicht, doch besteht ein geregelter Flugverkehr.

Nordländer mischten sich in frühen Zeiten bereits mit Kelten und Ansiedlern aus anderen skandinavischen Stämmen - vornehmlich Wikingern. Uraltes Wissen aus Götter-, Helden- und Riesensagen hat sich dort erhalten. Kurz vor dem Jahre 8oo hat durch irisch-schottische Mönche die Christianisierung begonnen. Wie sich in den altgermanischen Sagen die Welt der heidnischen Götter noch am Leben gehalten hat, so leben in der isländischen Märchenwelt zum Greifen nahe noch die Vorstellungen der alten Elementargeister fort: die Huldren, Elben und auch die bedrohlichen Riesen, ähnlich die den norwegischen und schwedischen Märchen engverwandten Trolle. Sie treiben ihren Schabernack



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mit dem Menschengeschlecht, können zuweilen wohl auch mal einen Spaß verstehen, erweisen sich aber häufig als ingrimmige Gegner und Feinde der Menschen. Öfter auch stehen sie tückisch mit den bösen Stiefmüttern im Bunde, deren es eine recht ansehnliche und vielfach gespenstige Schar gibt. Zuweilen erweisen sich diese auch gütig und hilfsbereit. Varianten sind vielgestaltig, ähneln einander aber häufig sehr. Eine besondere Abart isländischer Märchen sind die zahlreichen Achtermärchen -Achter sind nach isländischer Überlieferung wilde und starke, meist unbändige Einzelgänger, die Gesetz und Brauch übertreten haben, darum verbannt wurden und in anderen, nur sehr schwer zugänglichen Gebieten, in herrenlosen Gefilden das Dasein von Ausgestoßenen und Vertriebenen führen. In vielen isländischen Märchen finden sie sich zu Familien und geordneten Gemeinschaften zusammen. Sie erwählen selbst ihre Anführer und brechen zu festgesetzten Zeiten zu räuberischen Unternehmungen und Überfällen aus. Besonders gern machen sie sich an junge Söhne von Pfarrern heran und entführen mit Vorliebe auffallend schöne Mädchen. Und von denen verstehen sich manche darauf, sie mit allerlei List und Verwegenheit hinters Licht zu führen und ihnen zu entkommen. Von vielen dieser Achter geht etwas aus von der Furcht und dem Grauen, das auch sonst besonders Starke, Räuber und Riesen auszeichnet. Mitunter mischt sich in dieses Grauen auch etwas von übernatürlicher Achtung, die bis zur Hochachtung und schlotternden Verehrung aufsteigen kann. Doch können Achter und Huldren leicht auch zu Unholden werden. Gespenster- und Wiedergänger-Geschichten sind in Island beliebt. Wir begegnen deutlichen Anklängen an das Lenore-Motiv, wie wir es bei uns noch am klarsten in Bürgers Ballade überliefert erhalten haben. Oberhaupt werden wir viele dieser bäurischen und ländlichen Märchen weit eher wohl als Geschichten oder Novellen ansprechen. Sie alle sind der Vertrautheit und Bekanntschaft mit unheimlichen Kräften voll. Greuel und Vernichtung drohen unentwegt. Zur Christnacht - der höchsten Feier der Christenheit -zwischen Eis, Frost und grausigstem Winter feiern Totschlag, Mord und tausendfältiger Spuk die höchsten Triumphe. Finsterster Gegensatz zwischen heidnischem Brauch und christlicher Sitte findet da seinen mehr als nur sinnbildlich zu verstehenden Ausdruck. Schauerliche Bannflüche bringen empfindsame Gemüter schier zum Erzittern; und das unflätige oder hämische Gekreisch und Gezeter der Riesen und Riesinnen endet bei seinen


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Höhepunkten meist in maßlosem Geschlemme und das Blut zum Stocken bringender Menschenfresserei. Ein kleiner Trost nur, daß dem ab und zu auch wackere, sich vor keinem Schrecknis fürchtende Gesellen sich entgegenstellen. Daneben behauptet sich auch eine Art von volkhaft drastischem und durch nichts zu überbietendem, geradezu höllischem Humor. Einmal wird das Gespenst eines Wiedergängers zum Schluß in seinen Sarg zurückgetrieben, muß aber zuvor dem Manne, der es besiegt hat und im Leben vorher sein Freund gewesen ist, seine Untaten beichten und feierlich versprechen, daß es nie wieder erscheinen wird. Es gibt auch den ein Menschenleben überdauernden Haß der Kämpfenden gegeneinander, wie er im Märchen von dem furchtiosen Burschen erwähnt wird. Dieser beobachtet heimlich bei Nacht, wie eine geheimnisvolle Frau aus dem Erdboden heraufsteigt und die im Kampfe Erschlagenen durch Bestreichen der Wunden, die ihnen den Tod gebracht haben, wieder zum Leben und so zu neuem Kampfgetümmel erweckt. Der dessen Zeuge gewesen ist, kann den schier endlos werdenden Wechsel zwischen Leben und Tod nur dadurch zum Abschluß bringen, daß er nun seinerseits dieses unheimliche Weib zum Tode befördert. Aber auch da noch findet in aller schauderhaften Blutbaderei die Lust am Gelächter einen Ausweg und leitet zu versöhnlichem und befriedigtem Ausgang. Die geradezu viehische Gefräßigkeit isländischer Riesen und Riesinnen erinnert mitunter an ostasiatische Gegenstücke.

So ureigen und uralt isländische Märchenüberlieferung immer auch sein mag - es sind Märchenmotive aus aller Welt hier eingedrungen. Seefahrt vermittelte von jeher Wanderung und Austausch. Auch Aschenbrödel und Dornröschen, selbst Rumpelstilzchen haben hier ihre Varianten. Nur ist die Frau des Fischers längst nicht so hochmütig verstiegen wie jene im »Fischer un syner Fru« beim norddeutschen Maler Runge, der das Märchen den Brüdern Grimm weitergegeben hat: sie braucht die Leiter zum Himmel nur, um dort die ihr so überreich verfügbar gewordene Grütze der Jungfrau Maria zum Opfer zu bringen -die Leiter stürzt trotzdem. Der Mann und die Frau fallen herunter, ihre Schädel zerspringen. Aus den Resten der beiden Gehirne und aus den Resten, die vom Grießbrei bleiben, bilden sich weiße und gelbe Flecken auf den am Strand liegenden Steinen. Die isländischen Märchenerzähler pflegen eine derbe und sehr aufrichtige Sprache. Sie machen keine großen Umstände, besitzen auch einen oft trockenen und



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leicht zum Grotesken übergreifenden Witz und Humor. Unerschrockenheit, zäher Mut bis zur verwegenen Draufgängerei paaren sich bei ihnen mit ehrlicher Hilfsbereitschaft, Liebe zur Wahrhaftigkeit und einer inneren Frommheit, die sich mit volkhafter Meinung, die nur irrigerweise mancherorts Aberglaube geheißen wird, sehr wohl verträgt, sich vor Dämonen nicht zu fürchten braucht und durchaus auch Fähigkeiten zu entwickeln vermag, die selbst ein alltäglich geführtes Leben mit dem Wissen um höhere Welten zu vereinen vermögen.

Zu den von Andreas Heusler übersetzten »Kleinen Geschichten«, die wir mit Erlaubnis aus dem erstmals i 91 2 im Georg D. W. Callwey Verlag in München erschienenen »Isländerbuch« von Arthur Bonus entlehnten, sagte der verdienstvolle Übersetzer innerhalb seiner Erläuterungen:

»Die isländischen Prosageschichten soll man im lauten Lesen genießen, nachdem man sich erst den Inhalt vertraut gemacht hat, so daß man jeder Gestalt ihre Tonart geben, für das Wichtige und Nebensächliche den rechten Grad von Herauswölbung und die vielen kleinen Anspielungen und Spitzen zur Geltung bringen kann. Alles ist hier durchaus für mündlichen Vortrag gedacht.«

Die folgenden drei Erzählungen - sie spielen um das Jahr 1000 im nordöstlichen Island -haben den Vorzug, daß sie abgerundete kleine Kompositionen sind; sie werden aus sich selbst verständlich und spinnen ihren Faden zu Ende. Die zweite und die dritte von ihnen bedürfen kaum eines Begleitwortes. Es handelt sich um die Darstellung anspruchsloser Begebenheiten, die durchaus mit dem Anteil für das Seelische angefaßt sind; kleine Charakterstudien: >Wie dem großen Gauhäuptling eine Lehre beigebracht wurde< — so könnte man sie überschreiben. Hier dreht es sich einmal nicht um grimmige Fehden: es ist gemütliche Genrekunst, von Anfang bis zu Ende von einer geheimen Schalkhaftigkeit getragen. Die bäuerliche Umwelt in der Rauchtälergeschichte mutet uns naturfrisch an, als wäre es etwas von gestern. Köstlich kommen in den Reden diese Großbauern heraus, diese sehr erdenhaften Gestalten mit ihrem Menschlich-Allzumenschlichen. Etwas für Feinschmecker ist die Zwiesprache von Gudmund und Thorarin in der letzten Novelette; ein Dialog, der sich so den leisen Gedankenkrümmungen des Alltagslebens anschmiegt, überrascht in einem Werke aus dem Mittelalter. Es wäre verzeihlich, wenn der Leser hier an der Ehrlichkeit des Übersetzers zweifelte! Andern Schlages ist



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die erste Erzählung: ernsthaft, gewichtig, schicksalsvoll. Es ist eine der tausend Abwandelungen des Hauptthemas der altnordischen Dichtung: wie stellt sich ein rechter Mann, wenn die Ehrenpflicht der Rache an ihn tritt? Unsre kleine Saga zeigt die isländische Erzählkunst in ihrer äußersten Verfeinerung, man darf wohl sagen: Vergeistigung. Ein Schritt weiter, und wir befänden uns in Manier und Unklarheit.

Die äußeren Vorfälle sind ungewöhnlich flach angegeben: >gab ihm den Todeshieb<. . . >er läßt sie nun begraben< und ähnliches, ein verwunderlicher Telegrammstil bei den ernstesten Dingen. In wenigen Geschichten tritt das Innenleben so beherrschend hervor. Der Held, sein Vater und der Häuptling, was in diesen drei Männern vorgeht, darauf kommt es an, das Übrige hat nur zu spiegeln.

Aber das Innenleben bekommen wir nur als Zuschauer und Zuhörer zu erschließen. Diese Verschweigungstechnik der isländischen Sagamänner gipfelt wiederum in der kleinen Thorsteinsaga und bringt so Unvergleichliches hervor wie im dritten Abschnitt das Gespräch zwischen Vater und Sohn. Man mache sich klar, wie dies in kunstlos-direkter Weise erzählt worden wäre, das Schweigen des Helden über seine Wunde, die ihn bei der Arbeit hemmt, und wie der Alte die Sache erfährt und seinen Unmut anfangs herunterwürgt, bis er bei Gelegenheit den Jungen zur Rede stellt! Noch mehr verstehendes Hinhorchen verlangt die große Zweikampfszene. Die Hauptsache ist dies: Thorstein in seiner jungen Reckenkraft ist dem bestandenen Häuptling überlegen, aber er muß an sich halten. Sein >Unstern< wäre nicht, selber zu fallen, sondern den Gegner zu erschlagen: denn dann träte Bjarnis ganze Sippschaft auf den Plan und fegte den alten Kotsassen mit alldem Seinigen hinweg. Thorstein zittert für das Leben des Gegners. Daher bringt er ihm das schärfere Schwert; daher führt er die eigene Waffe anfangs nicht mit voller Kraft -dies und anderes müssen wir aus knappen dramatischen Antworten herauslesen. Die Spannung, ob Thorstein aus dem Gleichgewicht kommen und den Gegner beim Wassertrinken und Schuhbinden niederhauen wird, will mitempfunden sein: auch hierfür bringt ein späterer Ausspruch eine Andeutung. Hier heißt es wirklich sich einfühlen, wie in einen Satz alter kunstreicher Musik! Von unmittelbarer Wirkung ist wieder die Meisterszene am Schluß. Man beachte nebenbei, wie mehrmals die langen schleppenden Sätze den Alten kennzeichnen. Und an der üblichen >Einführung< zu Beginn der Saga bemerke man, wie umsichtig sie das Nötige anbringt: Thorarin ist arm,



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aber als alter Seeräuber hält er sich doch gute Waffen: die spielen dann im Zweikampf; und die guten Rosse spielen nachher in der Pferdehatz. Ein feiner Zug ist, wie die Rede des Ungenannten bei den Röstfeuern auf Bjarnis Edelmut vorbereitet.« Dem vorgenannten »Isländerbuch« entstammen auch die Geschichten »Thorstein der Gruseler« und »Wie Olaf der Heilige seine Stiefbrüder prüfte«.

Mit Erlaubnis der Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker e.V. haben wir aus der im Verlag Aschendorff veröffentlichten Sammlung übernommen: »Die Geschichte vom Königssohn Hlinur« in zwei Variationen, die von Frau Gudrun Eyforsdottir und von Frau Elin Briem Jonsson erzählt wurden. Alle übrigen Märchen dieses Landes sind übersetzt von Hans und Ida Neumann und erschienen 1923 im damals noch in Jena wirkenden Eugen Diederichs Verlag, dem wir für die Genehmigung danken, diese Stücke in unsere Reihe aufzunehmen.

Der letzte Abschnitt des Bandes bringt ergänzend noch Märchen von den Färöer-Inseln, jenen 24 vulkanischen Felseninseln zwischen Schottland und Island. Von ihnen sind 17 bewohnt. Sie umfassen insgesamt 1400 Quadratkilometer. Die größte dieser Inseln heißt Strömö, deren Hauptstadt Torshaven mit reichlich 5000 Einwohnern. Eine baumlose Moränendecke über Basaltschichten ist mit Gras und Heide überzogen. Darauf weiden während des ganzen Jahres Schafe und Pferde. Kartoffeln, Gerste und Kohlrüben werden angebaut. Die Bevölkerung ernährt sich von Walfischfang, Schafzucht und Dorschfischerei. Schon zu Anfang des 9. Jahrhunderts gab es dort irische Bevölkerung. In der ersten Hälfte des ii. Jahrhunderts wurde diese durch eindringende Wikinger verdrängt. Um 1035 kamen die Inseln in norwegischen Besitz und fielen 1380 an Dänemark, zu dem sie bis heute gehören.

K. R.



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MÄRCHEN AUS ISLAND


Die verspeisten Böcke

Das ist der Anfang dieser Geschichte, daß Wagen-Thor ausfuhr mit seinen Böcken zu Wagen und mit ihm der Ase, der Loki heißt. Sie kamen gegen Abend zu einem Bauern und besorgten sich dort ein Quartier zur Nacht. Auf den Abend nahm Thor seine Böcke und schlachtete beide; danach wurden sie enthäutet und zum Kessel geschafft. Als sie gesotten waren, setzte sich Thor zum Nachtmahl nieder. Er lud den Bauern, dessen Weib und ihre Kinder ein, mit ihm zu essen. Der Sohn des Bauern hieß Thialfi und seine Tochter Röskwa. Thor legte dabei die Bocksfelle neben dem Feuer zu Boden und sagte dem Bauern und seiner Familie, daß sie die Knochen auf die Bocksfelle werfen sollten.

Thialfi, der Sohn des Bauern, hielt sich an das Schenkelbein des Bockes, spaltete es mit seinem Messer und brach es auf bis zum Mark. Thor blieb die Nacht über dort, aber im Morgengrauen vor Tag schon stand er auf und zog sich an, nahm seinen Hammer Mjöllni, schwang ihn empor und weihte die Bocksfelle. Da standen alsbald die Böcke auf, aber der eine war lahm am hinteren Fuß. Thor sah das und sagte, daß der Hauswirt oder seine Familie nicht behutsam umgegangen seien mit den Knochen des Bockes; er bemerkte auch, daß das Schenkelbein gebrochen war. Kurz und gut, es werden sich alle denken können, wie erschrocken der Bauer sein mußte, als er sah, daß Thor seine Brauen herabsinken ließ über die Augen, und daß er, als er dann zu den Augen sah, glaubte, er müsse allein schon bei dem Anblick zusammenbrechen. Thor preßte seine Hände um den Schaft des Hammers, daß die Knöchel weiß wurden. Und der Bauer und seine Familie taten, wie zu erwarten war: sie riefen ihn inständig an, baten um Schonung und boten zur Buße alles, was sie hatten. Als aber Thor ihren Schrecken sah, wich der



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Zorn von ihm und er besänftigte sich und nahm von ihnen zum Ersatz ihre Kinder Thialfi und Röskwa, diese beiden sind seine Dienstboten geworden und folgen ihm seitdem immer.


Thors Fahrt zu Utgarda-Lolei

Einmal als Thor unterwegs war, hat er seine Böcke zurückgelassen und die Fahrt ostwärts ins Riesenheim zu Fuß unternommen. Er kam bis ans Meer, fuhr hinaus über die hohe See, und als er wieder an Land gekommen war, da ging er hinauf, mit ihm Loki und sein Knecht Thialfi und seine Magd Röskwa. Als sie nun eine kleine Weile gegangen waren, erhob sich vor ihnen ein großer Wald, darin gingen sie fort den ganzen Tag bis zum Abend. Thialfi war aller Männer schnellfüßigster; er trug Thors Ranzen, denn an Nahrung gab es daselbst nichts Gutes. Als es nun dunkel geworden war und sie nach einem Nachtquartier suchten, sahen sie vor sich ein mächtiges Haus. Es war eine Tür an dem einen Ende, ebenso breit wie das ganze Haus. Dort richteten sie ihr Nachtlager her. Aber gegen Mitternacht kam ein gewaltiges Erdbeben, der Boden schwankte unter ihren Füßen und das Haus erbebte. Da stand Thor auf und rief seine Gesellen herbei und sie suchten weiter, bis sie rechts mitten im Hause einen Anbau fanden. Dort hinein gingen sie, und Thor setzte sich in die Tür, die andern aber gingen ganz hinein und waren in Angst. Doch Thor hielt den Hammerschaft und beschloß, sich zu wehren. Da hörten sie ein gewaltiges Gebrause und Getöse. Als es Tag wurde, ging Thor hinaus und sah dicht dabei einen Mann im Walde liegen. Der war nicht gerade klein und schlief und schnarchte gewaltig. Thor glaubte nun zu wissen, was mit dem Lärm gewesen war in der Nacht. Er umspannte sich mit dem Kraftgürtel und es wuchs ihm die Asenkraft -aber im selben Augenblick erwachte der Mann und erhob sich schnell. Es wird auch erzählt, daß da dem Thor dies eine Mal der Mut entsank, ihn mit dem Hammer zu schlagen. Er fragte ihn nun nach dem Namen. Der Mann nannte sich Skrymi; »dich brauche ich«, sagte er, »freilich nicht nach deinem Namen zu fragen; ich weiß, du bist Asa-Thor; aber hast du mir wohl meinen Handschuh weggenommen?« Dabei streckte er seine Hand aus und hob den Handschuh auf; und es merkte nun der Thor, daß er diesen Handschuh in der Nacht für ein Haus gehalten hatte, und der Anbau war der Däumling des Handschuhs



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gewesen. Skrymi fragte, ob Thor mit ihnen zusammen fahren wollte, und Thor antwortete mit »ja«. Da nahm Skrymi seinen Ranzen, machte ihn auf und fing an zu frühstücken. Thor und seine Genossen taten an etwas abgesonderter Stelle desgleichen. Skrymi schlug nun vor, sie sollten unter sich auch die Speisegemeinschaft herstellen, und Thor stimmte zu. Da band Skrymi ihre Reisekost alle zusammen in ein Bündel und nahm's auf den Rücken. Er ging den Tag über voran und holte mächtig aus, und spät am Abend suchte er für sie unter einer großen Eiche ein Nachtquartier. Er sagte zu Thor, daß er sich nun niederlegen wolle und schlafen, »aber ihr mögt den Ranzen nehmen und euer Abendbrot herrichten«. Darauf schlief Skrymi ein und schnarchte mächtig. Thor nahm den Ranzen und wollte ihn öffnen, aber gesagt werden muß nun, obwohl es unglaublich klingt, daß er nicht einen einzigen Knoten auf bekam und kein einziges Riemenende lockerer als zuvor. Und wie er nun sieht, daß die Sache nichts nützt, wird er zornig und ergreift seinen Hammer Mjöllni mit beiden Händen, geht nahe an Skrymi heran und schlägt ihm auf den Kopf. Aber Skrymi erwacht und fragt, ob ihm wohl ein Laubblatt auf den Kopf gefallen sei und ob sie nun mit dem Essen fertig wären und auch schlafen wollten. Thor sagte »ja«, das würden sie nun auch. Sie gehen unter eine andere Eiche, und das muß gesagt werden: sehr behaglich war es dort nicht zu schlafen. Aber um Mitternacht hört Thor, wie Skrymi schnarcht, daß es nur so im Walde dröhnt. Er steht auf und geht zu ihm, holt mit dem Hammer mehrmals mächtig aus und schlägt ihm mitten auf den Wirbel.

Er merkt, wie die Spitze des Hammers tief in den Kopf eindringt, aber Skrymi erwacht und fragt nur: »Was ist denn jetzt wieder los? Es ist mir wohl eine Eichel auf den Kopf gefallen? Und was treibst du denn eigentlich, Thor?«Thor ging schleunigst zurück und sagte, er wäre soeben erwacht - es war um Mitternacht - und es wäre noch Zeit zum Schlafen. Da überlegte Thor bei sich, wenn's ihm glücken möchte, zum drittenmal zuzuhauen, daß jener dann wohl sich niemals wieder erheben sollte. Er liegt nun und paßt auf, ob Skrymi wieder einschläft. Kurz vor Tagesanbruch hört er, daß Skrymi wieder eingeschlafen sein muß, steht auf und läuft zu ihm, schwingt den Hammer mit aller Kraft und schlägt auf die Schläfe, von der er wußte, daß sie nach oben gekehrt, und der Hammer dringt ein bis zum Schaft. Aber Skrymi setzte sich auf, strich sich die Schläfe und sprach: »Es müssen wohl Vögel im Baume über mir sitzen? Mir kam es vor, wie ich erwachte, als ob mir



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ein Stück von einem Zweige auf den Kopf fiele. Wachst du denn, Thor? Es wird wohl Zeit sein, aufzustehen und sich anzuziehen. Doch habt ihr nun keinen weiten Weg mehr bis zu der Burg, die Utgard heißt. Ich habe wohl gehört, wie ihr untereinander gewispert habt, ich wäre kein kleiner Mann von Wuchs, aber dort werdet ihr größere Kerle sehen, wenn ihr nach Utgard kommt. Ich will euch einen guten Rat geben: nehmt euch nur nicht allzuviel heraus dort, denn das werden die Leute Utgarda-Lokis wohl nicht dulden, große Worte von so kleinen Knirpsen. Sonst kehrt lieber um, und das wäre wohl überhaupt das beste für euch. Wollt ihr trotzdem weiter fahren, dann haltet euch nur nach Osten; ich selber muß nun vorwärts zu den Bergen dort, die ihr wohl sehen könnt.« Damit nahm Skrymi seinen Ranzen, warf ihn sich auf den Rücken und schlug sich seitwärts in den Wald; aber es wird nichts davon gesagt, daß die Asen ihm »auf Wiedersehen« gesagt hätten. Thor machte sich auf den Weg zusammen mit seinen Gefährten, und sie marschierten bis Mittag. Da sahen sie eine Burg stehen auf einem Felde und mußten den Hals weit zurückbiegen, damit sie ganz hinaufsehen konnten. Sie gingen zur Burg, aber es war ein Gitter vor dem Burgtor, und das war geschlossen. Thor ging zum Gitter und bekam es nicht auf. Sie gaben sich ernstlich Mühe hineinzukommen, klemmten sich zwischen den Gitterstäben hindurch und kamen so in die Burg. Dort sahen sie eine große Halle und gingen darauf zu; die Tür war offen; sie gingen hinein und sahen viele Männer auf den beiden Bankreihen und die meisten von reichlicher Größe.

Darauf kamen sie vor den König Utgarda-Loki und begrüßten ihn. Der aber sah sie gar nicht gleich an, grinste nur, daß man die Zähne sah, und sprach: »Es ist doch eine mißliche Sache um die Nachrichten von weit her! Oder meint jemand anders? Ist dieser Bursche hier wirklich der Wagen-Thor? Aber vielleicht steckt mehr hinter dir, als es scheint. Auf welche Kunst glaubt ihr euch zu verstehen, ihr Gesellen? Denn es kann keiner bei uns bleiben, der nicht in irgendeiner Art mehr kann oder versteht als andere Leute.«Da antwortete der, der zuletzt ging, und das war Loki: »Ich verstehe mich auf das Kunststück und bin bereit, darauf die Probe zu machen, daß keiner hier drinnen ist, der schneller seine Portion essen kann als ich.«Da sagte Utgarda-Loki: »Das ist in der Tat ein Kunststück, wenn du das kannst; und der Versuch soll sogleich angestellt werden.« Er rief zum Ende der Bank hinab, daß derjenige, der Logi heiße, näher an den Herdplatz heranrücken solle, um sich mit



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Loki zu messen. Ein Trog wurde gebracht und am Herdplatz der Halle niedergesetzt, der gefüllt war mit Fleisch. Es setzte sich Loki ans eine Ende und Logi ans andere, jeder von beiden aß nun so schnell er konnte und sie trafen sich in der Mitte des Trogs. Es hatte da Loki das ganze Fleisch von den Knochen gegessen, aber Logi hatte zu dem Fleisch auch noch die Knochen mitsamt dem Trog verzehrt. Es schien nun allen, als habe Loki das Spiel verloren.

Da fragte Utgarda-Loki, was denn der junge Mann für ein Spiel verstehe. Thialfi sagte, er wolle versuchen, um die Wette zu laufen mit einem, den Utgarda-Loki dazu bestimme. Utgarda-Loki sagte, daß sei wohl eine gute Kunst, aber er meinte, es komme ihm so vor, als müsse er schnell sein, wenn er dieses Kunststück gewinnen wolle. Doch auch hier ließ er sogleich die Probe machen.

Er steht auf und geht hinaus, und es war da eine gute Bahn zum Rennen auf ebenem Feld. Utgarda-Loki wandte sich an einen seiner jungen Burschen, der Hugi genannt war, und hieß ihn, mit Thialfi um die Wette zu laufen. Da machen sie den ersten Lauf, und Hugi ist um so viel voraus, daß er sich am Ende der Bahn bereits wieder wendet, jenem entgegenzulaufen. Da sprach Utgarda-Loki: »Du wirst es nötig haben, Thialfi, dich noch mehr ins Zeug zu legen, wenn du das Spiel gewinnen willst. Aber doch muß man sagen, daß hierher noch niemand gekommen ist, der mir flinker schien.« Nun machten sie sich an den zweiten Lauf, und wie Hugi zum Bahnende kam und wieder umdrehte, da war noch ein ganzer Bogenschuß bis zu Thialfi. Utgarda-Loki sprach: »Gut scheint mir Thialfi zu laufen; doch glaube ich nicht, daß er das Spiel gewinnen wird. Aber wir müssen nun noch probieren, wie sie zum drittenmal laufen.« Sie machten noch einen Lauf. Hugi rannte bis zum Bahnende und drehte um, und da war Thialfi noch nicht bis zur Mitte der Bahn gekommen. Alle sagten, daß diese Probe gemacht sei.

Nun fragte Utgarda-Loki den Thor, was seine Kunststückchen wären, die er sehen lassen wolle vor ihnen, wo doch die Menschen so viel Aufhebens von seinen Großtaten gemacht hätten. Thor antwortete, am liebsten wolle er es im Wetttrinken mit irgendeinem Manne probieren. Utgarda-Loki sagte, das könne wohl geschehen, ging hinein in die Halle und gebot das Horn zu holen, aus dem die Hofleute zur Strafe zu trinken gewohnt waren. Darauf kam ein Mundschenk mit diesem Horn und gab es dem Thor in die Hand. Da sprach Utgarda-Loki: »Aus diesem Horne wird dann gut getrunken, wenn es in einem Zug



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geleert wird; manche freilich brauchen zwei Züge dazu; aber keiner ist ein so schlechter Trinker, der es nicht in drei Zügen leerte.«Thor besah sich das Horn, das ihm nicht groß schien, und wenn es auch lang war, so war er doch sehr durstig. Er nimmt es, schluckt und schlürft gar gewaltig und meint, er wird es nicht nötig haben, zum zweitenmal anzusetzen. Aber als ihm nun der Atem ausging und er absetzen mußte und nachsah, wie's mit dem Trunke ging, kam's ihm so vor, als sei es jetzt nur um einen ganz winzigen Grad niedriger im Horn als vorher. Utgarda-Loki sprach: »Gut getrunken, aber doch eben nicht sehr viel! Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es mir jemand vorher gesagt hätte, daß Asa-Thor keinen größeren Trunk trinken würde. Aber ich weiß, daß du zum zweitenmal wirst ansetzen wollen.« Thor antwortete nicht, setzte das Horn an den Mund, gedachte nun einen größeren Trunk zu tun und strengte sich an mit dem Trunk, solange ihm der Atem reichte. Und doch sieht er, daß die Spitze des Hornes nicht so hoch kommen will, wie er gern möchte. Und wie er das Horn vom Munde absetzt, da schien es ihm, als wäre noch weniger draus geschwunden als beim erstenmal: es war gerade ein Rand geworden, sodaß man das Horn nun gut tragen konnte.

Da sprach Utgarda-Loki: »Wie nun, Thor? Schonst du dich auch zu dem einen Trunk nicht etwa mehr, als du Vorteil davon haben wirst? Sicherlich wird, wenn du auch noch einen dritten Trunk aus dem Horne trinken wirst, dieser als der größte betrachtet werden. Aber keineswegs wirst du bei uns hier ein so großer Mann heißen können, wie die Asen dich nennen, wenn du nicht bei anderen Wettspielen mehr aus dir herausholst, als mich dünkt, daß es bei diesem der Fall ist.«

Da wurde Thor zornig, setzte das Horn an den Mund, trank so gewaltig er konnte und legte sich mächtig ins Zeug, aber als er ins Horn blickte, war eben nur ein gewisser Unterschied erreicht, da gab er das Horn zurück und wollte nicht mehr trinken. Utgarda-Loki sprach: »Man sieht nun leicht, daß deine Kraft nicht so groß ist, wie wir dachten; oder willst du noch weitere Proben ablegen? Denn man sieht ja, daß dir hier nichts mehr helfen wird.« Thor antwortete: »Versuchen kann ich schon noch weitere Proben; aber wunderlich würde es mich dünken, wenn ich daheim bei den Asen wäre und solche Trünke würden so klein genannt. Aber welche Probe wollt ihr mir jetzt anbieten?« Da sagte Utgarda-Loki: »Das machen hier die jungen Burschen, und es wird als keine große Merkwürdigkeit erscheinen, daß sie meine



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Katze von der Erde hochheben. Ich würde es aber nicht über mich bringen, solches zu Asa-Thor zu sagen, wenn ich nicht vorher gesehen hätte, daß du bei weitem schwächer bist, als ich dachte.« Alsbald lief eine graue Katze herein auf den Estrich der Halle, es war eine ziemlich große. Thor ging hinzu, faßte sie mit seiner Hand mitten unter den Bauch und lüpfte sie hoch; aber die Katze machte einen Buckel so hoch, wie Thor seine Hand auf reckte, und Thor mochte sich so hoch strecken, wie er konnte, die Katze hob doch nur einen Fuß, und er konnte auch in dieser Probe nicht mehr zustande bringen.

Da sprach Utgarda-Loki: »Auch diese Probe verlief, wie ich dachte. Die Katze ist ziemlich groß, aber Thor ist kurz und klein neben der Riesenmannschaft, wie ich sie hier habe.« Da sagte Thor: »So klein, wie ihr mich auch nennt, trete nur einer von euch hervor und ringe mit mir, denn jetzt bin ich zornig.« Da sprach Utgarda-Loki und blickte die Bänke entlang: »Ich sehe keinen Mann hier drinnen, dem das nicht eine Kleinigkeit dünkte, mit dir zu ringen«, und weiter sprach er: »Sehen wir erst zu! Man rufe mir das alte Weib herein, meine Ziehmutter Elli, und ringe Thor mit ihr, wenn er will; sie hat schon solche Männer zu Fall gebracht, die mir nicht schwächer zu sein scheinen als Thor.«

Alsbald trat ein altes Weib in die Halle, und Utgarda-Loki sagte zu ihr, daß sie mit Asa-Thor ringen solle. Kurz und gut, auch mit diesem Ringkampf verlief es so: je mehr Thor sich anstrengte, desto fester stand sie. Da wandte die Alte einige Kniffe an, Thor verlor den Halt unter den Füßen, die Bewegungen waren sehr heftig, und es dauerte gar nicht lange, so fiel der Thor auf das eine Knie. Da trat Utgarda-Loki hinzu, hieß sie mit dem Ringkampf aufhören und meinte, Thor würde es nicht nötig haben, auch noch die Männer aus seiner Gefolgschar zum Ringkampf aufzufordern. Inzwischen war es auch Nacht geworden. Utgarda-Loki wies ihm und seinen Gesellen ihre Bänke an, und sie blieben dort die Nacht lang und waren gut aufgehoben.

Aber am nächsten Morgen, sobald es tagte, standen Thor und seine Gesellen auf, kleideten sich an und waren zum Aufbruch bereit. Da kam Utgarda-Loki und ließ ihnen einen Tisch vorsetzen. Es fehlte da nicht an guter Bewirtung, Speise und Trank. Nachdem sie gegessen hatten, wandten sie sich zum Gehen. Utgarda-Loki begleitete sie hinaus und ging mit ihnen bis vor die Burg. Aber beim Abschied sprach er zu Thor und fragte, was er denn nun von seiner ganzen Reise denke und ob er je einen mächtigeren Mann getroffen habe als ihn selber?



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Thor meinte, er könne nicht anders sagen, als daß er große Schmach von ihrem Zusammentreffen erfahren habe, »und ich weiß, daß ihr mich für einen rechten Knirps halten werdet, und damit bin ich übel zufrieden.«

Da sprach Utgarda-Loki: »Jetzt will ich dir die Wahrheit sagen, nachdem du wieder draußen bist aus der Burg, und solange ich lebe und etwas zu sagen habe, sollst du auch niemals wieder hineinkommen, und das ist mal sicher, daß du überhaupt niemals hineingekommen wärest, wenn ich vorher gewußt hätte, über welche große Kraft du verfügst und daß du uns beinahe in rechte Verlegenheit bringen würdest. Ich aber habe dir Blendwerk bereitet. Zuerst, als ich mit euch im Walde zusammentraf und du dann den Ranzen öffnen solltest, da hatte ich ihn mit Eisendraht zugebunden, und du fandest die Stelle nicht, wo er zu lösen war. Sodann schlugst du mich mit deinem Hammer dreimal, und der erste Schlag war der schwächste, und doch war er so stark, daß er mich umgebracht hätte, wenn er auf mich gefallen wäre. Du hast ja dann wohl neben meiner Burg einen Bergkamm gesehen und oben drin drei viereckige Täler, eines davon ganz besonders tief: — das sind deine Hammerspuren! Mit jenem Bergkamm parierte ich deine Schläge, was du nicht bemerkt hast. Und so war's dann auch mit den Kraftproben, die ihr mit meinen Gefolgsleuten angestellt habt. Die erste war ja die, auf die Loki sich einließ. Er war stark ausgehungert und aß eifrig, aber der, welcher Logi heißt, das war das Wildfeuer und verbrannte ebensoschnell den Trog wie das Fleisch. Aber als Thialfi den Wettlauf anstellte mit dem, der Hugi heißt, war das mein Gedanke, und es war natürlich nicht möglich für Thialfi, schnellfüßiger zu sein als der. Und dann, als du selbst aus dem Horne trankst und dir das recht langsam zugehen schien -meiner Treu, da war das ein Wunder, daß ich es nicht für möglich gehalten hätte! Die Spitze des Horns lag nämlich draußen in der See, was du nicht bemerkt hast. Und wenn du jetzt an den Strand kommst, sd wirst du sehen, was für eine Ebbe, sozusagen, du der See angetrunken hast.«

Und weiter sprach er: »Nicht weniger gewaltig schien mir das zu sein, als du die Katze lüpftest, und ich will dir nur gestehen, es erschraken alle, die es sahen, als du sie von der Erde lüpftest mit dem einen Fuß. Denn das war gar keine Katze, wie es dir vorkam, sondern es war die Midgardschlange, die um die ganze Erde herumliegt, und trotzdem reichte ihre Länge nun kaum dazu hin, daß sie mit Schwanz und Kopf



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die Erde berührte, und so mächtig recktest du dich empor, daß sie fast den Himmel berührte. Und auch das mit dem Ringkampf war ein gewaltiges Wunder, als du so lange Widerstand leistetest und fielst dann nur auf das eine Knie und rangst doch mit dem Alter; denn es hat noch keinen gegeben und wird auch keinen geben: wenn sie alt werden, bringt sie das Alter alle zu Fall. Und ich muß nun gestehen, daß wir uns trennen müssen, und es wird für beide Teile besser sein, daß ihr nicht öfter kommt, mich zu besuchen. Ich werde ein andermal meine Burg mit solchen und andern Künsten verteidigen, daß ihr keine Gewalt über mich erlangt.«

Aber als Thor diese Rede hörte, da griff er nach seinem Hammer und schwang ihn hoch empor. Doch wie er zuhauen will, erblickt er den Utgarda-Loki nicht mehr, und da wendet er sich der Burg wieder zu und will sie zerbrechen: da war dort nur noch ein weites und schönes Feld zu sehen, aber keine Burg. Da drehte er sich wieder um und fuhr seinen Weg.


Das Märchen von Thorstein Hofkraft

Zu der Zeit, als Hakon Jarl Sigurdssohn über Norwegen herrschte, wohnte dort ein Bauer im Gaulartal, der Brynjulf hieß und Ufaldi genannt war. Das war ein Lehnsmann und ein großer Kämpe. Sein Weib hieß Dagny und war eine Tochter des Jarnskeggi auf Yrjar. Sie hatten einen Sohn, der Thorstein hieß, der war groß und stark, unbändig und ungebärdig gegen jedermann. Keiner sonst war so groß in Norwegen wie er, und selten fand sich eine Tür, durch die er bequem hätte hindurchgehen können. Darum wurde er Hofkraft genannt, denn er schien allzu groß zu sein für die meisten Häuser. Da er so unerträglich war, gab ihm sein Vater Schiffe und Mannschaft, und Thorstein war nun abwechselnd auf Heerfahrt oder auf Handelsfahrt, und mit beidem hatte er guten Erfolg.

Zu jener Zeit zog König Olaf Tryggwason in Norwegen das Reich an sich, aber dem Hakon Jarl war der Hals abgeschnitten worden von seinem Knechte, der Thormod Kark hieß. Thorstein Hofkraft wurde nun König Olafs Gefolgsmann; dem König schien er ein flinker Bursche zu sein, und dieser hielt viel von ihm; aber bei den andern Hof leuten war er nicht sehr beliebt, er dünkte sie streitsüchtig und unangenehm. Der König gebrauchte ihn besonders gern zu solchen Sendfahrten, um die



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sich die andern gern drückten; aber manchmal fuhr er auch Kauffahrten, um dem König Kleinodien zu erwerben.

Einmal lag Thorstein östlich von Balegard, und da er nicht segeln konnte, ging er bereits am frühen Morgen ans Land, und als die Sonne im Südosten stand, war Thorstein an eine Rodung gekommen, und ein schöner Hügel war auf der Rodung. Er sah einen kahlköpfigen Knaben auf dem Hügel und hörte ihn sagen: »Mutter, gib mir meinen Krummstab heraus und meine Handschuhe, denn ich will auf einen Zauberritt fahren, weil heute Festtag ist in der Unterwelt.« Da wurde aus dem Hügel ein Krummstab herausgeworfen, gleich einem Feuerhaken; jener stieg auf den Stab, zog sich die Handschuhe an und galoppierte davon, so wie es Kinder zu machen pflegen. Thorstein ging auf den Hügel und sprach dieselben Worte wie der Knabe, und sogleich wurde ein Stab und Handschuhe herausgeworfen und jemand fragte: »Wer will denn das?«

»Dein Sohn Bjalfi«, sagte Thorstein; dann stieg er auf den Stab und ritt davon hinter dem Knaben her. Sie kamen an einen Fluß, stürzten sich von oben hinein, und da kam es ihnen vor, als ob sie in Rauch wateten. Dann aber lichtete es sich ihnen vor den Augen, und sie kamen dorthin, wo Wasser aus den Felsen entsprang. Es erblickte dort Thorstein eine weite Siedelung und eine große Burg. Sie treten hinein in die Burg, und die Leute sitzen gerade beim Essen. Sie gehen hinein in die Halle, und die Halle war voll bemannt, und es wurde nur aus Silberbechern getrunken; ein viereckiger Schenktisch stand auf dem Estrich, alles glänzte von Gold, und das einzige Getränk war Wein. Da kam es dem Thorstein vor, als ob niemand sie sähe. Sein Gefährte lief zwischen den Tischen umher und nahm sich alles, was herunterfiel. Der König und die Königin saßen auf dem Hochsitz; die Leute waren froh in der Halle. Darauf sieht Thorstein, wie ein Mann in die Halle kommt, den König begrüßt und sagt, er sei gesandt zu ihm aus Indienland, aus dem Gebirge, das Lukanus heißt, von dem Jan, der darüber herrscht, und er sagt dem König, daß er zum Volk der Elben gehöre. Er brachte ihm einen Goldring, und der König glaubte, niemals einen besseren Ring gesehen zu haben. Der Ring aber machte die Runde in der Halle zum Ansehen, und alle lobten ihn, denn er war an vier Stellen auseinanderzunehmen. Noch ein anderes Kleinod sah Thorstein, das ihm ungemein wertvoll schien, das war ein Tuch auf des Königs Tisch mit goldenen Kanten, und die zwölf allerbesten Edelsteine waren darin befestigt.



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Dies Tuch hätte Thorstein gerne gehabt; es kam ihm auch in den Sinn, sich auf seines Königs Glück zu verlassen und zu probieren, ob er nicht in den Besitz des Ringes gelangen könne.

Nun sieht Thorstein, wie der König im Begriff ist, den Ring über seine Hand zu ziehen, da entriß er ihm den Ring und mit der anderen Hand nahm er das Tuch, und das ganze Essen fiel in den Schmutz. Thorstein rannte zur Tür, aber sein Krummstab blieb in der Halle zurück. In dem großen Tumult stürzten sie alle hinaus, sahen, wo Thorstein läuft, und rannten hinter ihm her. Als er sah, wie sie ihm nahe kamen, sagte er: »Wenn du so gut bist, König Olaf, wie ich mich auf dich verlasse, dann gewähre mir Hilfe.«Und so flink war Thorstein, daß sie ihn nicht eher erreichten, als bis er zu dem Fluß kam und stehenbleiben mußte. Sie schlugen einen Kreis um ihn, aber Thorstein wehrte sich gut und erschlug ihrer Unzählige, bis sein Fahrtgenosse kam und ihm den Stab brachte, und dann warfen sie sich sogleich in den Fluß. Sie kamen dann wieder an denselben Hügel, den wir vorhin erwähnten, als die Sonne im Westen stand. Da warf der Knabe den Stab hinein und einen Kleidersack, den er mit guten Leckerbissen gefüllt hatte, und so machte es Thorstein auch. Der Bursche schlüpfte auch hinein; aber Thorstein blieb an der Öffnung stehen, da sah er zwei Weiber, und die eine webte ein prächtiges Tuch, die andere wiegte ein Kind. Diese sprach: »Wo bleibt dein Bruder Bjalfi?« —»Er hat mich heute nicht begleitet«, sagte jener. »Wer ist denn dann mit dem Krummstab gefahren?« sagte sie. »Das war Thorstein Hof kraft«, sagte der Bursche, »der Gefolgsmann König Olafs. Er brachte uns in große Verlegenheit, denn er nahm aus der Unterwelt solche Dinge mit, derengleichen es nicht in Norwegen geben mag. Und wir waren nahe daran, daß wir sollten erschlagen werden, denn er hatte den Stab in ihren Händen gelassen, und sie jagten ihn bis an den Fluß, da brachte ich ihm den Stab, und sicherlich ist er ein tapferer Mann, denn ich weiß nicht, wie viele er getötet hat.« Da schloß sich der Hügel wieder. Thorstein fuhr nun zu seinen Leuten und segelte von dannen nach Norwegen und traf den König Olaf östlich in Wik. Er brachte ihm jene Kleinodien und erzählte von seinen Fahrten, und es kam den Männern nicht unerheblich vor. Der König wollte dem Thorstein ein großes Lehen geben, aber dieser wollte erst noch eine Reise nach Ostland machen. Er blieb aber beim König den Winter über.

Zum Frühjahr machte Thorstein sein Schiff fertig, er hatte bei sich vierundzwanzig



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Mann. Und als er nach Jämtiand kam und eines Tages im Hafen lag, ging er zur Kurzweil ans Land. Er kam auf eine Rodung, dort war ein großer Stein. Nicht weit davon sah er einen ungemein häßlichen Zwerg, der greinte laut vor sich hin. Dem Thorstein erschien sein Maulwerk bis zu den Ohren aufgerissen und die Nase herabhängend bis zum Kinn. Thorstein fragte ihn, warum er sich so schrecklich gebärde. »Du brauchst dich nicht zu wundern, guter Mann«, sagte er, »siehst du nicht den großen Adler, der dort fliegt? Der hat mir meinen Sohn geraubt, aber ich glaube, daß das Biest von Odin gesandt ist, und ich zerspringe, wenn ich mein Kind verliere.« Thorstein schoß nach dem Adler, traf ihn unter der Schwinge, und der Vogel sank tot nieder. Aber Thorstein ergriff das Zwergenkind in der Luft und brachte es dem Vater. Da war der Zwerg sehr froh und sagte: »Dir haben ich und mein Sohn unser Leben zu danken. Wähle dir nun den Lohn in Gold oder Silber.« — »Heile du nur erst deinen Sohn«, sagte Thorstein, »ich bin nicht gewöhnt, für meine Taten Bezahlung zu nehmen.« — »Dennoch muß ich dich belohnen«, sagte der Zwerg; »mein schafwollenes Hemd wird dir gewiß nicht sehr begehrenswert erscheinen, aber nicht wirst du beim Schwimmen ermüden und keine Wunde empfangen, wenn du es dicht auf dem Leibe trägst.« Thorstein fuhr in das Hemd, und es paßte ihm ganz gut, obschon es dem Zwerg reichlich eng zu sein schien. Er zog auch einen Silberring aus der Tasche und gab ihn dem Thorstein, hieß ihn gut darauf achten, und er sagte ihm, daß er niemals Geldmangel haben würde, solange er den Ring bei sich hätte. Dann nahm er noch einen schwarzen Stein und gab ihn dem Thorstein. »Und wenn du ihn in deiner Hand birgst, sieht dich niemand. Mehr habe ich nicht, was dir nützen könnte. Aber einen Feuerstein will ich dir noch zur Kurzweil geben.« Er nahm daraufhin einen Feuerstein aus seiner Tasche, ferner einen Feuerstahl. Der Stein war dreieckig, weiß in der Mitte, rot an den Seiten und ein goldner Rand war außen herum.

Der Zwerg sagte: »Wenn du mit dem Stahl auf den Stein schlägst, dort wo er weiß ist, so kommt ein Hagelwetter so groß, daß keiner wagt, ihm entgegenzusehen; wenn du nun diesen Schnee auftauen willst, so sollst du dorthin schlagen, wo der Stein golden ist, dann kommt ein Sonnenschein, daß alles brät; aber wenn du dorthin schlägst, wo er rot ist, dann kommen daraus Blitz und Donner und Funkenregen, daß keiner es ansehen kann. Du kannst auch damit treffen, was du willst, mit dem Stahl und dem Stein: er kommt von selbst wieder in deine Hand



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zurück, sobald du rufst. Nun habe ich dir für jetzt nichts weiter zu geben.« «

Thorstein dankte ihm für seine Gaben, fuhr nun zu seinen Leuten zurück, und es war ihm diese Fahrt besser gefahren als nicht gefahren. Bald darauf bekamen sie Wind und segelten nach Ostland. Es kamen nun über sie Finsternis und Irrfahrt und sie wußten nicht mehr, wo sie waren. Einen halben Monat dauerte diese Irrfahrt an.

Das war eines Abends, daß sie wieder Land gewahr wurden; da warfen sie die Anker aus und lagen dort die Nacht. Am Morgen war gutes Wetter und schöner Sonnenschein, sie waren in einen langen Fjord gekommen und sahen dort schöne Berghalden und Wälder. Es war da kein Mann an Bord, der dieses Land kannte. Auch sahen sie nirgends etwas Lebendiges, weder Tier noch Vogel. Sie errichteten nun ein Zelt auf dem Lande und bereiteten alles wohl. Am andern Morgen sagte Thorstein zu seinen Leuten: »Ich will euch jetzt meine Absicht kundtun; ihr sollt hier sechs Tage auf mich warten; ich aber will dieses Land erkunden.«Denen schien das eine große Sache zu sein, und sie wollten mit ihm fahren, aber Thorstein wollte das nicht. »Und wenn ich nicht zurückkomme, bevor sieben Sonnen vom Himmel gegangen sind«, sagte er, »dann sollt ihr heimsegeln und dem König Olaf sagen, daß es mir wohl nicht dürfte beschieden sein, wiederzukommen.« Sie gingen dann mit ihm hinauf bis zum Wald, dann wandte er sich von ihnen, sie aber gingen zum Schiffe zurück und machten es so, wie es Thorstein ihnen geboten hatte. Nun ist von Thorstein zu sagen, daß er den ganzen Tag durch den Wald ging und nichts wurde gewahr, aber bei sinkendem Tage kam er auf einen breiten Weg. Auf diesem Wege ging er bis zum Abend, dann verließ er ihn, ging zu einer großen Eiche und stieg hinauf. Da war Platz genug sich hinzulegen, und er schlief dort die Nacht. Als die Sonne heraufkam, hörte er laute Töne und Menschenstimmen. Dann sah er viele Männer reiten, zweiundzwanzig waren es, die ritten rasch weiter. Thorstein staunte mächtig über ihren Wuchs, niemals hatte er vorher so große Männer gesehen. Er zog sich an und es verging nun der Morgen, bis daß die Sonne im Südosten stand.

Da sah Thorstein drei Männer reiten, wohl bewaffnet und so groß, wie er keine vorher gesehen hatte. Der war der größte, der in der Mitte ritt in goldgestickten Kleidern auf einem weißen Pferde, aber die andern beiden ritten auf grauen Hengsten in scharlachroten Kleidern. Aber als sie dorthin kamen, wo Thorstein war, sprach der erste unter ihnen, indem



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er anhielt: »Was ist dort Lebendiges auf der Eiche?« Thorstein ging zu ihnen auf den Weg und begrüßte sie, sie aber brachen in ein lautes Gelächter aus, und jener große Mann sprach: »Selten sehen wir solche Leute. Wie ist dein Name und woher bist du?«Thorstein nannte sich und sagte, er wäre Hofkraft genannt: »Meine Familie ist in Norwegen, und ich bin ein Gefolgsmann des Königs Olaf.« Der große Mann lächelte und sprach: »Da hat man mir viel von seiner Hofherrlichkeit vorgelogen, wenn er keinen Stattlicheren hat. Mir scheint, du solltest eher Hofkind als Hofkraft heißen.«

»Gibst du mir einen Namen, so schenk mir auch was«, sagte Thorstein. Der große Mann zog einen goldenen Fingerring und gab ihn dem Thorstein, der wog drei Ore. Thorstein sprach: »Wie ist dein Name, welchen Standes bist du und in welches Land bin ich gekommen?« »Godmund heiße ich, ich herrsche über das Land, das Gläsiswellir heißt, dazu dient mir das Land, das Riesenland heißt. Ich bin des Königs Sohn, und meine Burschen heißen der eine Vollstark, der andere Allstark. Hast du hier heute morgen vielleicht Leute vorbeireiten sehen?«Thorstein sprach: »Hier ritten zweiundzwanzig Männer und gebärdeten sich nicht gering.« —»Das sind meine Knechte«, sagte Godmund. »Hier zunächst liegt das Land, das Jötunheim heißt. Dort herrscht der König, der Geirröd heißt. Ihm sind wir steuerpflichtig. Mein Vater hieß Ulfhedin der Kühne, aber er wurde Godmund genannt, wie alle, die auf Gläsiswellir gebieten. Aber mein Vater fuhr an Geirröds Gehöft, um dem Könige seine Steuern einzuhändigen, und auf dieser Fahrt kam er ums Leben. Es hat nun der König mir Botschaft geschickt, daß ich sollte das Erbbier trinken für meinen Vater und die gleichen Ehrentitel empfangen, wie mein Vater sie hatte. Doch sind wir übel damit zufrieden, den Jöten zu dienen.«

»Warum ritten denn eure Leute fort?«fragte Thorstein. »Ein großer Fluß scheidet unser Land«, sagte Godmund, »Hemra geheißen; der ist so tief und reißend, daß kein Hengst ihn durchwaten kann, außer denen, die wir drei Kumpane haben. Darum müssen jene um die Quelle des Flusses herumreiten, und am Abend treffen wir uns wieder.«

»Das müßte ein Vergnügen sein, mit euch zu fahren«, sagte Thorstein, »und zu sehen, was es da für Neuigkeiten gibt.« »Ich weiß nicht, wie sich das machen läßt«, sagte Godmund, »denn du wirst wohl ein Christ sein.«

»Dafür bin ich verantwortlich«, sagte Thorstein. »Ich möchte nicht, daß



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dir was zustößt um meinetwillen«, sagte Godmund, »aber wenn König Olaf uns sein Glück mitgeben will, dann würde ich viel Vertrauen darauf setzen, daß du mitfährst.«Thorstein sagte, das wolle er wohl verheißen. Godmund hieß ihn nun, hinter ihm aufzusitzen, und das tat er auch. Sie ritten nun zum Fluß, es war dort ein Haus, wo sie andere Kleider nahmen und sie sich und ihren Pferden anzogen. Diese Kleider waren von solcher Art, daß das Wasser an ihnen nicht haftete, aber das Wasser war so kalt, daß da sogleich der Schlag hineinfuhr, wenn etwas naß wurde. Sie ritten nun über den Fluß, die Hengste wateten stark, Godmunds Hengst stolperte, dem Thorstein wurde dabei die Zehe naß und sogleich fuhr der Schlag hinein. Als sie aus dem Wasser kamen, breiteten sie die Kleider zum Trocknen aus; Thorstein hieb sich die Zehe ab, da schien den andern seine Tapferkeit nicht gering zu sein. Als sie nun weiterritten, bat sie Thorstein, sich nicht zu verstecken: »denn ich versteh mich aufs Tarnkappemachen, daß mich keiner sieht.« Godmund sagte, das seien gute Künste. Sie kamen zur Burg, und die Leute Godmunds kamen ihnen schon entgegen. Sie ritten nun in die Burg und hörten dort allerlei Saitenspiel; aber dem Thorstein dünkte es nicht ganz nach den Regeln der Kunst gespielt. Geirröd, der König, kam ihnen entgegen und empfing sie wohl. Es wurde ihnen auch gleich ein Steinhaus oder eine Halle zum Schlafen angewiesen, und Leute wurden bestimmt, die ihre Pferde in den Stall führen sollten. Godmund wurde in des Königs Halle geleitet.

Der König saß auf dem Hochsitz und neben ihm der Jarl, der Agde hieß, der herrschte über den Bezirk Grundir zwischen Riesenland und Jötunheim. Er hatte seinen Wohnsitz zu Gnipaland und war zauberkundig. Seine Leute waren Trollen ähnlicher als Menschen. Godmund setzte sich auf den Schemel vor dem Hochsitz, dem König gegenüber. Es war ihre Sitte, daß des Königs Sohn nicht eher auf dem Hochsitz sitzen sollte, bevor er nicht den Titel seines Vaters empfangen hätte und der erste Becher getrunken sei. Es erhob sich nun dort das schönste Gelage, und die Männer tranken fröhlich und heiter, bis sie zum Schlafen gingen. Als aber Godmund in sein Haus kam, zeigte sich Thorstein, da lachten sie über ihn. Godmund sagte seinen Leuten, wer er war, bat sie, ihn nicht zum besten zu haben, und so schliefen sie nun die Nacht hindurch. Als nun der Morgen kam, waren sie früh auf den Beinen, und Godmund wurde zu des Königs Halle geleitet. »Wir wollen nun wissen«, sagte der König, »ob du mir auch solchen Gehorsam leisten willst



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wie dein Vater, dann will ich dir deine Würde erhöhen und du sollst Riesenland behalten, mir aber Eide schwören.«Godmund antwortete: »Das ist nicht gesetzlich, von so jungen Leuten Eide zu fordern.«

»Das mag sein«, sagte der König. Dann nahm er einen kostbaren Mantel, hing ihn dem Godmund um und gab ihm den Königsnamen; dann ergriff er ein großes Horn und trank Godmund zu. Dieser nahm das Horn und dankte dem König. Godmund stand auf, stieg auf die Stufe vor den Sitz des Königs und legte ein Gelübde darauf ab, keinem Könige zu dienen noch Gehorsam zu leisten, solange König Geirröd lebte. Der König dankte ihm und sagte, dies dünke ihm mehr wert, als hätte er einen Eid geschworen. Darauf trank Godmund aus seinem Horne, ging zu seinem Sitz, und die Männer waren fröhlich und heiter.

Zwei Männer gehörten zum Aufgebot des Jan Agde, der eine hieß Jökul, der andere Frosti, die waren recht mißgünstig. Jökul nahm einen Ochsenknochen und warf damit unter Godmunds Leute. Thorstein sah das, fing ihn in der Luft auf und sandte ihn zurück, er flog dem an die Nase, der Gust hieß, zerbrach ihm das Nasenbein und schlug ihm alle Zähne aus, daß er in Ohnmacht fiel. König Geirröd wurde zornig und fragte, wer da mit Knochen über seinen Tisch werfe. Er sagte, daß noch erprobt werden solle, wer der Stärkste im Steinwerfen wäre, bevor es zu Ende sei. Dann rief der König zwei Männer, Drött und Hösver: »Geht hin und sucht meine Goldkugel und bringt sie hierher!« Sie gingen und kamen wieder mit einem »Seehundskopf«, der wog wohl gut einen Zentner und war glühend, daß die Funken von ihm wie von einem Schmiedeherd stoben, und das Fett träufelte von ihm ab wie glühendes Pech. Der König sagte: »Nehmt nun die Kugel und werft sie einer zum andern! Wer sie fallen läßt, soll verbannt sein und seine Güter verlieren. Wer sie nicht zu ergreifen wagt, soll ein Lump sein!« Nun warf Drött die Kugel dem Vollstark zu und der ergriff sie mit der einen Hand. Thorstein sah, daß jener nicht stark genug war, und lief unter die Kugel. Dann warfen sie sie dem Frosti zu, denn die Kämpen standen zuvorderst vor beiden Bänken. Frosti stemmte sich stark dagegen, doch kam sie seinem Gesicht so nahe, daß sie ihm das Kinnbein zerbrach. Er warf die Kugel dem Allstark zu, der fing sie mit beiden Händen, aber beinahe wäre er umgefallen, bevor Thorstein ihn stützte. Allstark warf sie zum Jarl Agde, der griff sie mit beiden Händen, aber das Fett kam in seinen Bart, der geriet in Brand, da war ihm daran gelegen,



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die Kugel loszuwerden, und er ließ sie zu König Godmund fliegen, und Godmund warf sie dem König Geirröd zu. Der aber wich aus, und sie traf auf Drött und Hösver, die beide getötet wurden. Die Kugel flog an ein Glasfenster und so hinaus in einen Wassergraben, der um die Burg gegraben war. Es schlug das lohende Feuer auf.

Dies Spiel war nun zu Ende, und die Männer griffen zum Trunk. Der J an Agde sagte, es friere ihm immer sein Herz zusammen, wenn er zu dem Gesinde Godmunds komme. Am Abend gingen Godmund und seine Leute zum Schlafen, da dankten sie dem Thorstein für seinen Beistand, durch den sie schadlos davongekommen waren. Thorstein sagte, das wolle noch gar nichts heißen: »Aber was wird morgen für ein Spaß angestellt?« — »Der König will ringen lassen«, erwiderte Godmund, »und dabei wollen sie sich rächen, denn auf unsere Kraft ist wenig Verlaß.« — »Des Königs Glück wird uns stark machen«, sagte Thorstein, »achtet nur darauf, daß ihr nicht woanders hinkommt, als ich bin.« Da schliefen sie nun die Nacht; aber am Morgen fuhr jeder zu seinem Spiele und die Küchenknechte zum Tischdecken. König Geirröd fragte, ob die Leute nicht ringen wollten, und sie sagten, daß er zu bestimmen habe. Dann zogen sie sich aus und begannen den Ringkampf. Thorstein glaubte, niemals ein solches Aufeinanderlosgehen gesehen zu haben, denn alles erbebte, wenn sie hinfielen, und besonders wurde den Leuten des Jarl Agde mitgespielt. Frosti trat nun vor auf den Estrich und sagte: »Wer nimmt mich an?« — »Dazu wird sich wohl jemand finden«, sagte Vollstark. Sie kamen nun aneinander und gerieten in mächtige Schwingungen, und es zeigt sich Frosti um vieles stärker; so kamen sie bis zu Godmund; da hob Frosti ihn bis an seine Brust empor und legte sich flach hintenüber. Thorstein aber schlug ihn mit seinem Fuß in die Kniekehlen. Da fiel Frosti auf den Rücken und Vollstark oben auf ihn drauf. Nacken und Ellbogen sprangen dem Frosti entzwei, er stand langsam auf und sprach: »Bist du auch allein beim Spiel, ist denn eure Schar so vollzählig?«

»Kurz ist der Weg für die Nase zu erkennen, was aus den Kinnladen kommt«, antwortete Vollstark. Dann erhob sich Jökul, und Allstark nahm ihn an, und sie gingen gewaltig aufeinander los; aber Jökul war der stärkere und trug ihn auf die Bank, dorthin, wo Thorstein war. Jökul wollte den Allstark von den Bänken ziehen und riß mächtig, aber Thorstein hielt ihn fest. Jökul zog so stark, daß er bis zu den Knöcheln in den Estrich der Halle versank, da ließ Thorstein den Allstark los, und



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Jökul fiel auf den Rücken, und der Fuß ging ihm aus dem Gelenke. Allstark ging zur Bank, aber Jökul stand langsam auf und sprach: »Wir sehen nicht alles, was auf der Bank ist.« Nun fragte Geirröd den Godmund, ob er nicht ringen wolle. Der sagte, er habe zwar niemals gerungen, doch wolle er's nicht verweigern. Der König forderte den Jan Agde auf, seine Leute zu rächen. Dieser sagte, er habe zwar lange ausgesetzt, doch habe der König zu bestimmen. Sie zogen sich nun aus, und niemals glaubte Thorstein einen trollenähnlicheren Bauch gesehen zu haben als bei Agde, denn er war schwarz wie Hel. Godmund erhob sich ihm entgegen, er war weiß von Hautfarbe. Der Jan Agde warf sich auf ihn und schlug ihm so heftig die Klauen in seine Seiten, daß sich alles von den Knochen löste, und sie bewegten sich weit umher in der Halle. Als sie dorthin gelangten, wo Thorstein war, schwang Godmund den Jarl beim Ringen und drehte ihn scharf herum. Thorstein legte sich dem Jarl vor die Füße, da fiel er, stieß mit der Nase auf und zerbrach sich das Nasenbein und vier Zähne. Der Jarl stand auf und sprach: »Schwer ist der Fall alter Männer, aber dann am schwersten, wenn drei auf einen gehen.« Dann fuhren sie wieder in ihre Kleider. Danach gingen sie mit dem König zu Tisch; Jan Agde aber und seine Leute sagten, sie müßten einen Trick angewendet haben: »denn es überkommt mich immer eine Hitze, wenn ich zu ihrem Gesinde komme.«

»Wir wollen warten«, sagte der König, »der wird schon kommen, der uns dies kundtut.« Dann griffen die Männer zum Trunk. Es wurden zwei Hörner in den Saal gebracht, kostbare Kleinode, dem Jarl Agde gehörig, die hießen Hwitingar, sie waren zwei Ellen hoch und mit Gold beschlagen. Der König ließ ein Horn an jede Bank gehen: »Und jeder soll es auf einmal austrinken! Aber wer das nicht kann, soll dem Mundschenk ein Or Silber geben!« Keinem gelang dieser Trunk außer den Kämpen, aber Thorstein sorgte dafür, daß von denen, die mit Godmund waren, keiner straffällig ward. Es tranken nun die Männer fröhlich den Rest des Tages, aber am Abend gingen sie zum Schlafen. Godmund dankte dem Thorstein für seinen guten Beistand. Thorstein fragte, wann das Gelage zu Ende sein würde. »Morgen sollen meine Leute reiten«, sagte Godmund; »ich weiß, daß der König jetzt alles aufbieten wird, jetzt werden erst die Kostbarkeiten gezeigt, der König wird nun sein großes Horn bringen lassen, das Grim der Gute genannt ist, das ist ein großes Kleinod, aber voll von Zauberei und mit Gold



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beschlagen. Es ist nämlich ein Menschenkopf an der Trinkhornspitze mit Fleisch und Mund, der mit den Leuten spricht und Dinge voraussagt, die noch nicht eingetreten sind, auch drohende Gefahr weiß er vorher. Es wird aber unser Tod, wenn der König erfährt, daß ein Christ unter uns ist. Wir dürfen dem Grim gegenüber auch nicht geizig sein.« Thorstein meinte, Grim würde nicht mehr sagen, als König Olaf wolle: »aber ich glaube, daß Geirröd zum Tode bestimmt ist; es scheint mir nun ratsam, daß ihr meinen Rat von jetzt ab habt, daher werde ich mich morgen zeigen.«Sie aber nannten das einen gefährlichen Rat. Thorstein sagte, daß Geirröd sie umbringen wolle: »aber was ist sonst noch von Grim dem Guten zu erzählen?«

»Das ist von ihm zu sagen, daß ein mittelgroßer Mann unter seiner Buchtung stehen kann, aber eine Eile breit ist er über der Mündung; der ist der größte Trinker in der Gefolgschaft, der ihn austrinken kann, aber der König trinkt ihn in einem Zuge aus. Jedermann hat dem Grim irgendein Kleinod zu geben; aber die größte Ehre dünkte ihm doch, wenn er auf einmal ausgetrunken wird; ich nun weiß, daß ich ihn zum erstenmal zum Trunke bekomme, aber das kann doch kein Mensch vertragen, ihn auf einmal auszutrinken.«Thorstein sagte: »Du sollst in mein Hemd fahren, dann kann dir nichts schaden und wenn Gift in dem Trunke ist. Nimm die Krone von deinem Haupte und gib sie Grim dem Guten, sag ihm ins Ohr, daß du ihm mehr Ehre erweisen willst als Geirröd, und dann sollst du dich stellen, als ob du trinkst, aber Gift wird im Trunke sein, und du sollst es nahe bei dir niedergießen, es wird dir nichts schaden. Aber wenn der Trunk aus ist, dann laß sogleich deine Leute reiten.«Godmund sagte, er solle bestimmen: »Wenn aber Geirröd stirbt, dann habe ich ganz Jötunheim, wenn er jedoch länger lebt, wird das unser Tod.« Dann schliefen sie die Nacht hindurch.

Am Morgen waren sie schnell auf den Füßen und zogen sich an. Da kam König Geirröd zu ihnen und bat sie, ihr Fahrwohl noch zu trinken. Das taten sie auch. Zuerst wurden die Hwitingarhörner gebracht zum Gedächtnistrunk, und da wurde die Minne Thors und Odins getrunken, dann kam allerhand Saitenspiel herein und zwei Männer, etwas kleiner als Thorstein, die brachten Grim den Guten. Alle standen auf und fielen auf die Knie vor ihm. Aber Grim war verdrießlich. Geirröd sagte zu Godmund: »Nimm Grim den Guten, und das soll dein Gelöbnistrunk sein!« Godmund ging zu Grim, nahm sich die Goldkrone ab, setzte sie ihm auf und raunte ihm ins Ohr, wie Thorstein ihm



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gesagt hatte. Dann ließ er es aus dem Horne von oben in sein Hemd laufen, denn es war Gift darin. Er trank dem König Geirröd zu und küßte die Spitze, und Grim kam lachend von ihm. Dann nahm Geirröd das volle Horn, bat Grim ihm Heil zu bringen und ihm kundzutun, wenn irgendeine Gefahr nahe sei: »Ich habe dich übrigens oft in besserer Stimmung gesehen!«

Er nahm sich dann ein goldenes Halsband ab und gab es dem Grim, dann trank er dem Jan Agde zu; es war, als wenn eine Woge um Klippen brandete, als der Trank ihm im Halse niederrann, und er trank alles aus. Grim schüttelte den Kopf und wurde zum Jan Agde getragen, der gab ihm zwei goldene Ringe, bat ihn um Gnade, trank ihn dann in drei Zügen leer und gab ihn dem Mundschenk. Grim sprach: »Je älter, desto kraftloser!«Dann wurde das Horn wieder gefüllt, und es sollten diese zwei: Jökul und Vollstark trinken. Vollstark trank zuerst, dann nahm Jökul das Horn, blickte hinein, sagte, das sei nach kleiner Männer Art getrunken, und schlug den Vollstark mit dem Horn. Dieser aber hieb dem Jökul mit der Faust auf die Nase, so daß das Nasenbein brach und die Zähne heraussprangen. Da entstand ein großer Auflauf. Geirröd aber bat die Leute, doch das nicht berichten zu lassen, daß sie so übel schieden. Da waren sie sogleich ruhig, und Grim der Gute wurde hinausgetragen.

Wenig später kam ein Mann in die Halle gegangen; sie verwunderten sich alle darüber, wie klein er war. Das war Thorstein Hofkind. Er begab sich zu Godmund und sagte, die Hengste wären gesattelt. Geirröd fragte, was für ein Kind das wäre. Godmund sagte: »Das ist mein Kleinbursche, den mir König Odin gesandt hat. Er ist ein Kleinod für einen König, er versteht viele Kunststückchen, und wenn er euch zu etwas nütze dünkt, will ich ihn euch geben.«

»Das ist ja ein Hauptkerl«, sagte der König, »und seine Kunststücke möcht ich wohl sehen«, und er bat den Thorstein, ein kleines Kunststück zu machen. Thorstein zog Stahl und Stein hervor und klopfte dahin, wo er weiß war. Da kam ein so mächtiges Hagelwetter, daß keiner wagte, es anzublicken, und es entstand ein so großer Schneehaufen in der Halle, daß er bis an die Knöchel ging. Der König lachte dazu. Nun pochte Thorstein an den Stein, wo er golden war, da kam ein so heißer Sonnenschein, daß der Schnee in kurzer Zeit schmolz; dann folgte ein süßer Wohlgeruch, und Geirröd sagte, er wäre ein Künstler. Aber Thorstein sprach noch von einem weiteren Spiel, das heiße Schattenspiel.



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Der König sagte, er wolle es sehen. Thorstein stand auf dem Estrich mitten in der Halle und schlug auf den Stein, wo er rot war, da sprangen Funken heraus. Dann lief er in der Halle umher vor jedem Sitz, und es begannen die Feuerflocken zu wachsen, so daß jedermann seine Augen in acht nehmen mußte. Aber König Geirröd lachte dazu; es begann aber das Feuer zu wachsen, so daß es allen bedenklich schien. Thorstein hatte vorher zu Godmund gesagt, er solle hinausgehen und sich zu Pferde setzen. Nun lief Thorstein zu Geirröd und fragte: »Willst du noch mehr von dem Spiele sehen?« —»Jawohl, Bursche!« sagte er. Da pochte Thorstein noch fester, und es kam dem König Geirröd ins Auge. Thorstein lief zur Türe und warf mit Stein und Stahl, sie flogen dem König Geirröd in seine Augen, so daß er tot auf den Estrich stürzte, aber Thorstein ging hinaus. Da saß Godmund schon zu Pferde. Thorstein sagte, nun müßten sie reiten, »denn nun ist es für Schwächere nicht mehr behaglich hier«. Sie ritten nun zum Fluß, da waren Stein und Stahl zurückgekommen. Thorstein sagte, daß Geirröd tot sei. Sie ritten über den Fluß und dorthin, wo sie sich getroffen hatten. Da sagte Thorstein: »Hier werden wir uns nun trennen; es wird meinen Leuten Zeit dünken, daß ich zu ihnen komme.«

»Fahr mit mir heim«, sagte Godmund, »und ich werde dir deine gute Begleitung lohnen.«

»Später werde ich dich besuchen«, sagte Thorstein, »aber jetzt sollst du mit großer Gefolgschaft zurückfahren in Geirröds Gehöft; sein Land ist jetzt in eurer Gewalt.«

»Du hast über dich zu bestimmen«, sagte Godmund, »aber dem König Olaf selbst sollst du meinen Gruß entbieten.« Dann zog er einen Goldbecher und eine Silberschüssel hervor, dazu zwanzig golddurchwirkte Handtücher und sandte sie dem König. Er bat den Thorstein, ihn zu besuchen, und sie schieden in Freundschaft.

Aber nun sieht Thorstein, wie der Jarl Agde in mächtigem Riesenzorn davonfährt. Er fährt hinter ihm her, und da sieht er denn ein großes Landgut, das dem Agde gehörte. Um den Obstgarten war ein Gitterzaun, daran stand eine Jungfrau, das war die Tochter des Agde, die hieß Godrun, groß war sie und schön. Sie begrüßte ihren Vater und fragte nach Neuigkeiten. »Genug der Neuigkeiten«, sagte er, »König Geirröd ist tot, und Godmund von Gläsiswellir hat uns alle betrogen, er hatte dort einen Christenmann verborgen, der heißt Thorstein Hofkraft. Er hat uns Feuer in die Augen gegossen, aber ich werde jetzte seine Leute



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erschlagen.« Damit warf er die Hörner Hwitingar zu Boden und lief in den Wald wie ein Rasender. Thorstein ging zu Godrun. Sie grüßte ihn und fragte nach seinem Namen. Er sagte, daß er Thorstein Hofkind heiße, ein Gefolgsmann König Olafs. »Groß muß da der Größte sein, wenn du ein Kind bist.«

»Willst du mit mir fahren«, fragte Thorstein, »und den Christenglauben annehmen?«

»Wenig Liebes habe ich hier, von dem ich mich trennen müßte«, sagte sie; »denn meine Mutter ist tot, sie war die Tochter des Jarl Ottar von Holmgard. Die beiden waren sehr ungleich von Gesinnung, denn mein Vater ist voll von Zauberei, und ich sehe, daß er jetzt zum Tode bestimmt ist. Aber wenn du mir hierher zurückfolgen willst, so will ich mit dir fahren.« Dann nahm sie ihre Sachen, aber Thorstein nahm die Hwitingarhörner. Dann gingen sie in den Wald und sahen den Agde laufen. Der heulte gewaltig und hielt sich die Augen. Das war in dem Augenblick gekommen, wie er das Schiff Thorsteins gesehen hatte; da war ein solcher Schmerz in seine Augen gekommen, daß er nichts sah. Es war eben Sonnenuntergang, als sie zum Schiffe kamen. Und Thorsteins Leute waren eben fertig zum Segeln; als sie den Thorstein sahen, waren sie froh. Thorstein bestieg dann das Schiff und sie segelten fort, ohne daß etwas berichtet würde über seine Fahrt, bevor er heim nach Norwegen kam.

Diesen Winter saß König Olaf in Drontheim. Thorstein traf den König zum Julfest und brachte ihm die Kostbarkeiten, die Godmund ihm sandte, und die Hwitingarhörner und noch manche andere Kostbarkeiten. Er erzählte dem König von seinen Fahrten und stellte ihm Godrun vor. Der König dankte ihm, und sie lobten alle seine Tapferkeit und hatten einen großen Eindruck davon. Dann ließ der König Godrun taufen und im Christenglauben unterweisen. Zum Julfest spielte Thorstein sein Schattenspiel, und das dünkte den Männern ein großer Spaß. Die Hwitingar kreisten zum Minnetrunk, und es waren immer zwei Männer für jedes Horn. Aber den Becher, den Godmund dem Könige gesandt hatte, konnte keiner austrinken außer Thorstein Hofkind. Das Handtuch verbrannte nicht, auch wenn man's ins Feuer warf, und es war dann noch reiner als vorher. Thorstein teilte dem König mit, daß er nun wollte mit Godrun Hochzeit halten. Der König erlaubte ihm das, und es ward da ein herrliches Hochzeitsmahl. Und in der ersten Nacht, als sie in einem Bette lagen und der Vorhang niedergelassen



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war, brach ein Dielenbrett auf zu Häupten Thorsteins: da war Jan Agde gekommen und wollte ihn töten. Aber es schlug ihm eine so starke Hitze entgegen, daß er nicht wagte, hineinzugehen, und er machte sich wieder davon. Da kam der König hinzu und stieß ihm mit dem goldbeschlagenen Speer in den Kopf, und er versank schnell in die Erde. Es hielt dann der König Wache die Nacht hindurch, aber am Morgen waren die Hwitingarhörner verschwunden. Das Gastmahl ging weiter; Thorstein blieb den Winter über beim König, und er und Godrun liebten sich sehr. Im Frühling bat Thorstein um Urlaub, nach Ostland zu segeln und König Godmund zu besuchen. Aber der König wollte das nicht erlauben, außer er gelobe, wiederzukommen. Thorstein verhieß das. Der König bat ihn, seinen Glauben wohl zu bewahren, »und lege mehr Wert auf dich als auf die im Osten!« Sie schieden in Freundschaft und sie beteten alle für ihn, denn Thorstein war beliebt geworden. Er segelte nun nach Osten, und es wird nur erzählt, daß die Fahrt gut verlief. Er kam nach Gläsiswellir, und Godmund empfing ihn wohl. Thorstein fragte: »Was habt Ihr erfahren aus Geirröds Gehöft?«

»Dorthin bin ich gefahren«, sagte Godmund, »und sie gaben das ganze Land in meine Gewalt, und es herrscht jetzt Heidrek Ulfham, mein Sohn, darüber.«

»Wo ist Jarl Agde?«fragte Thorstein. »Er ließ sich einen Hügel machen, als ihr abfuhrt«, sagte Godmund, »und ging da hinein mit großem Schatz; aber Jökul und Frosti ertranken im Flusse Hemra, als sie vom Gelage fuhren, und ich habe jetzt die Gewalt über den Bezirk Grundir.«

»Nun hängt sehr viel davon ab«, sagte Thorstein, »wie du dich mit mir auseinandersetzen willst, denn mir scheint Godrun das ganze Erbe ihres Vaters, des Jarl Agde, beanspruchen zu dürfen.«

»Wenn du mein Gefolgsmann sein willst«, sagte Godmund.

»Dann darfst du keine Einwände gegen meinen Glauben erheben«, sagte Thorstein.

»Das will ich«, erwiderte Godmund. Dann fuhren sie nach Grundir, und Thorstein brachte den Bezirk unter sich.

Thorstein baute sich einen Hof in Gnipalund, denn Jarl Agde war wiedergekommen und hatte den Hof zerstört. Thorstein wurde ein großer Häuptling. Godrun gebar bald nachher einen Knaben, der Brynjolf hieß. Dagegen aber gab es keine Sicherheit, daß Jarl Agde nicht dem



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Thorstein zusetzte. Eine Nacht ging Thorstein von seinem Bett, da sah er ihn umgehen: er wagte sich nirgends hinein; denn es war ein Kreuz vor jeder Tür. Thorstein ging zum Hügel, der offen war, ging hinein und nahm die Hwitingarhörner weg. Da kam Jan Agde in den Hügel, aber Thorstein lief an ihm vorbei hinaus und setzte ein Kreuz vor die Tür. Da schloß sich der Hügel, und es ist seitdem mit Jarl Agde nichts wieder geschehen. Im Sommer danach fuhr Thorstein nach Norwegen und brachte dem König Ola die Hwitingarhörner. Dann empfing er Urlaub und segelte wieder heim. Der König gebot ihm, seinen Glauben wohl zu bewahren, und wir haben dann nichts mehr von Thorstein erfahren. Aber als König Olaf auf Orm dem Langen verlorenging, gingen auch die Hwitingarhörner mit verloren. Und damit schließen wir das Märchen von Thorstein Hofkind.


Der rollende Rindsmagen

Es waren einmal ein König und eine Königin in Gautland; er hieß Ring, sie aber Althrud von Ungerland, und sie hatten eine Tochter, die Signy hieß. Nun starb die Königin, und der König trauerte tief um sie. Einmal aber geschah es, daß ein schönes Weib in die Halle des Königs trat mit einem Becher voll Wein. Sie ging auf den König zu, der aber war so bekümmert, daß er sie gar nicht ansah. Da ließ sie einen Tropfen aus dem Becher auf die Lippen des Königs fallen; davon erwachte er, trank nun, vergaß alsbald seine verstorbene Königin und nahm dieses Weib zur Ehe. Sie nannte sich Asa und sagte, sie sei eine Königstochter aus Halogaland. In Wahrheit aber war sie eine Unholdin, und Signy wollte von ihrer Stiefmutter nichts wissen. Einstmals zog der König auf Heerfahrt; die Königin aber ging inzwischen in schlimmer Verhüllung nach der Kammer der Königstochter und verfluchte sie, daß sie zu einem Magen wie dem eines frisch geschlachteten Rindes werden und niemals von diesem Zauber erlöst werden solle. Aber umgekehrt legte auch die Königstochter auf sie den Fluch, daß sie sofort zur Katze werden und sogleich tot niederfallen solle, wenn der König heimkäme, und sie fügte hinzu, daß Schlangen und Stangen, Gras und Grund sie stechen sollten, wenn sie ihren Fluch nicht etwas mildere. Da sagte die Alte, sie wisse zuviel und nannte die Milderung, daß, wenn ein Königssohn sie in dieser Verwünschungsgestalt heiraten und zu sich ins Bett nehmen wolle,



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sie dann wieder erlöst sein solle. Signy aber sagte, ihr Fluch solle ewig dauern, wie er auferlegt sei.

Nun wurde sie zu einem Rindsmagen und wälzte sich fort durch viele Länder. In Holmgard war ein junger unverheirateter König, der regierte sein Land gemeinsam mit seiner Mutter. Da war auch ein alter Mann mit seiner Frau, und die hatten ein paar Kühe. Einmal war der Alte draußen, um seine Kühe zu hüten. Da fand er den schrecklichen Rindsmagen, und zu seiner großen Verwunderung redete dieser ihn an. Er bot sich dem Alten als Kuhhirt an, und darauf ging dieser ein. Nun trieb der Magen die Kühe des Alten auf die Wiesen und Äcker des Königs und ließ sie diese abweiden. Einmal aber kam der König dazu und schalt den Magen sehr, daß er ihm seine Wiesen verderbe. Der aber wurde grob und meinte, früher habe es Könige gegeben, die hätten größere Wiesen gehabt und seien nicht so geizig gewesen wie er.

Da wurde der König zornig und wollte den Magen erschlagen. Aber seine Füße waren wie festgewurzelt im Boden und er konnte sich nicht losmachen. Da wurde er sehr wütend und hieß den Magen ihn loslassen. Der aber antwortete ihm, er werde nie mehr loskommen, wenn er sich nicht entschließe, ihn zu heiraten und zu sich ins Bett zu nehmen. Und zuletzt mußte sich der König zu diesem Versprechen herbeilassen, und der Magen gab ihm zu verstehen, daß, wenn er nicht Wort halte, sein Reich verwüstet werden, er selber aber tot niederfallen solle. Dann machte der Magen den König los und wälzte sich ihm nach in seine Halle. Es wurde Hochzeit gehalten, und die Mutter des Königs brachte den Magen in das goldgeschmückte Bett ihres Sohnes. Dahin kam auch der junge König selbst, und seine Mutter wachte über ihnen beiden. Als sie aber nach einer kleinen Weile wieder hinsah, da lag eine junge Braut in dem Bette des Königs, der schreckliche Magen aber daneben. Den nahm sie und rief ihre Knechte herbei, um ihn zu verbrennen. Der König aber lebte lange mit Signy, und sie erhielten Kinder und Nachkommen.


Märdöll

Es war einmal ein Herzog und eine Herzogin. Die waren lange miteinander verheiratet und liebten sich sehr, aber sie bekamen kein Kind, so gern sie auch eins haben wollten. Darüber waren sie sehr bekümmert. Einmal ging die Herzogin in einem schönen Nußwalde spazieren. Es



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überkam sie eine große Müdigkeit, sie schlief ein, und im Traum begegnete sie drei hochgewachsenen Frauen in schwarzen Kleidern. Sie redete sie an und fragte sie, wie sie hießen. Da nannten sie sich Schwarzröcke und erklärten, sie brauchten nicht zu fragen, wie sie selber heiße, denn sie wüßten sehr gut, wer sie sei und was ihr fehle, und sie seien auch bereit, ihr zu helfen. Sie solle nur an einen bestimmten Bach in der Nachbarschaft gehen und eine Forelle essen, die sie darin finden werde. Davon werde sie ein Kind bekommen, zu dessen Taufe aber wollten sie alle drei sich im voraus eingeladen haben. Dann verschwanden die Frauen, und die Herzogin erwachte.

Sie folgte nun dieser Weisung, ging an den Bach, fand die Forelle, aß sie und fühlte sich auch bald guter Hoffnung. Zur rechten Zeit wurde dann auch das Kind geboren, und es war ein wunderschönes Mädchen. Sofort wurde die Schaffnerin beauftragt, alles zum Empfange der drei Schwestern herzurichten. Aber die war so unachtsam, daß sie nur zwei Gedecke auflegte, und als die Schwarzröcke kamen, mußte die Jüngste leer ausgehen. Die beiden älteren Schwestern gaben dem Kinde sofort den Namen ihrer eigenen Mutter Märdöll und hießen sie so schön werden wie die Sonne und nur pures Gold weinen, wenn ihr die Tränen kommen, und einen Königssohn zum Manne gewinnen. Die dritte aber konnte zwar von dem allen nichts wieder zurücknehmen, aber weil sie erzürnt war, fügte sie den Fluch hinzu, daß sie in der Brautnacht ein Sperling werden und in den ersten drei Nächten nur je eine Stunde die Sperlingshaut ablegen solle. Aber danach sollte sie auf ewig ein Sperling bleiben, wenn ihr nicht in der dritten Nacht jemand die Zauberhaut abnähme und verbrenne. Damit gingen die drei Schwestern von dannen.

Nun erfüllte sich an Märdöll zunächst der Segen der älteren beiden Schwestern. Sie wurde wunderschön, alle ihre Tränen wurden pures Gold. Der Herzog wurde sehr reich, die Sache sprach sich herum, und endlich kam auch ein Königssohn, um sie zu freien. Damit war aber auch die Zeit gekommen, wo der Fluch der dritten Schwester in Erfüllung gehen sollte. Es lebten in der Nähe des Königshof es ein alter Mann und eine alte Frau in einer schlechten Hütte, und diese beiden hatten eine Tochter namens Helga. Die Alte war die Amme der Märdöll gewesen, und Helga hatte ihre Milchschwester sehr lieb. Als nun Märdöll mit dem Königssohn wegziehen sollte, nahm sie ihre Milchschwester mit. Um nun dem bösen Fluch zu entrinnen, versuchte sie es unterwegs zunächst, die Milchschwester dem Königssohn zu unterschieben. Der



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aber schöpfte Verdacht, und um ins klare zu kommen, gab er den beiden Weibern ein paar tüchtige Ohrfeigen. Da weinten beide, aber nur die Tränen der rechten Braut waren von Gold. Inder Nacht aber gelang es den beiden, sich miteinander zu vertauschen. Helga ruhte im Arm des Königssohnes, Märdöll wurde zu einem Sperling und flog davon. Nun aber sollte Helga dem Königssohn über Nacht ein Tuch voll Gold weinen, und das konnte sie nicht. Da stach sie ihm einen Schlafdorn ein und ging hinaus zu dem Hügel und sprach:
»Komme, komme Märdöll,
komme meine Freundin,
komm du schönes Mädchen
auf den Heideweg.
Ich soll Gold geben,
doch ich kann's nicht weinen.«

Da kam nun der Sperling geflogen, nahm seine menschliche Gestalt wieder an und weinte eine Stunde lang pures Gold. Dann verwandelte er sich wieder und flog als Sperling davon. Helga aber legte sich ins Bett zum Königssohn, übergab ihm am Morgen das Gold, und damit war alles gut.

Wie in der ersten Nacht, so ging es nun auch in der zweiten und dritten. In dieser aber hatte Helga den Schlafdorn nicht fest genug eingestochen, der Königssohn war unruhig im Schlafe, und der Dorn fiel ihm aus den Kleidern. Davon erwachte er, und da er seine vermeintliche Frau von sich wegschleichen sah, ging er ihr unbemerkt nach und sah alles, was sich bei der Begegnung mit dem Sperling begab. Da erkannte er den Zusammenhang der ganzen Geschichte, sprang eilends hinzu, erfaßte das abgeworfene Sperlingskleid und verbrannte es. Damit war nun der Zauber gelöst. Es wurde aufs neue Hochzeit gehalten, und alles verlief aufs beste. Fortan lebte Märdöll mit dem Königssohn zusammen. Sie bekamen Kinder und waren lange Zeit glücklich miteinander.


Die kluge Finna

Ein Mann mit Namen Thrand war Richter. Seine Frau war gestorben, er selbst war alt geworden, aber sehr klug. Er hatte zwei Kinder, einen Sohn, der Sigurd hieß, und eine Tochter namens Finna. Diese war



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ebenso klug wie schön, und es ging das Gerede, daß sie mehr wisse als andere Leute. Einmal fuhr ihr Vater zum Thing, da sagte sie zu ihm: »Mir ahnt, Vater, daß jemand auf dieser Fahrt bei dir um mich werben wird, aber du sollst mich keinem versprechen, es hinge denn dein Leben davon ab.« Das versprach ihr der Vater und fuhr zum Thing. Dort baten nun viele vornehme Männer um Finna, aber er schlug es ihnen allen aus. Als das Thing zu Ende war, ritt Thrand der Richter wieder heim, aber da begegnete ihm eines Abends, als er allein und entfernt war von allen seinen Knechten, ein Mann auf einem schwarzen Pferde, der sehr gefährlich aussah. Er stieg ab, nahm Thrands Pferd am Zaum und sprach: »Sei gegrüßt, Richter Thrand!«Thrand erwiderte seinen Gruß und fragte, wie er hieße. Er nannte sich Geir und verlangte nichts andres als Finna zum Weibe. Thrand schlug es ihm ab. Da setzte ihm Geir sein Schwert auf die Brust und ließ ihm nur die Wahl zwischen der Einwilligung und dem augenblicklichen Tod. Da versprach ihm denn Thrand seine Tochter und sagte ihm, er solle nach einem halben Monat kommen, sie abzuholen; dann trennten sie sich.

Als Thrand heimkam, stand Finna draußen, begrüßte ihren Vater und sprach: »Ist es so, wie ich vermute, daß du mich einem Mann versprochen hast?« Er sagte, so sei es und sein Leben habe davon abgehangen. Sie sagte, sie ahne, daß sie werde keine große Freude davon haben. Zur bestimmten Zeit kam Geir, sie abzuholen. Er wurde gut aufgenommen, aber er sagte, er könne nicht lange verweilen, und hieß Finna, sich zum nächsten Morgen fertigzumachen. Sie tat so und nahm nichts als ihren Bruder Sigurd mit auf die Fahrt. Sie grüßten noch Thrand und ritten fort, bis sie zu einer Alm kamen, auf der Rinder grasten. Geir sagte, diese Rinder gehörten niemand anderem als ihm und ihr. Am andern Tag kamen sie zu einer Alm voll Schafen, und Geir sagte wieder, die gehörten niemand anderem als ihm und ihr. Am dritten Tag kamen sie zu einer Alm, die war voller Pferde, und zum drittenmal sagte Geir, sie gehörten niemand anderem als ihm und ihr. Dann ritten sie weiter den ganzen Tag. Am Abend kamen sie zu einem großen Gehöft. Da stieg Geir ab und hieß Finna mit ihm kommen und sagte, hier wäre sein Heim. Finna ward gut aufgenommen und nahm sich sogleich aller Dinge an. Geir kümmerte sich wenig um sie, aber sie achtete darauf nicht viel. Ihrem Bruder Sigurd erging es dort auch ganz gut.

Am Abend vor Weihnachten wollte nun Finna dem Geir den Kopf waschen lassen. Er wurde gesucht, aber man fand ihn nirgends. Nur seine



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Ziehmutter weinte sehr und sagte, schon seit langer Zeit sei er Weihnachten niemals daheim gewesen. Finna verbot nun den Leuten, nach ihm zu suchen, und sagte, er werde schon von selber wiederkommen, wenn seine Zeit gekommen sei. Sie rüstete das Festmahl wie gewöhnlich und achtete nicht auf Geirs Abwesenheit. Als aber nach dem Mahle das ganze Gesinde schlafen gegangen war, stand Finna auf und nahm ihren Bruder Sigurd mit sich. Sie gingen zur See, fanden ein Boot und ruderten zu einer nahen Insel. Sigurd wartete bei dem Boot, aber Finna ging an Land, bis sie zu einem kleinen, schönen Hause kam. Die Tür stand halb offen, ein Licht brannte im Hause und ein schönes Bett war darin. In diesem lag Geir, und er hielt eine fremde Frau im Arm. Finna setzte sich auf den Estrich neben dem Bett und sprach eine Weise, dann ging sie zurück zu ihrem Bruder, bat ihn, ans Land zu rudern und niemandem etwas zu sagen, wo sie gewesen waren. Als Weihnachten vorüber war, ging Finna eines Morgens in ihre eheliche Kammer. Sie fand Geir darin, der auf und ab ging, und in dem Bett lag ein Kind. Geir fragte, wem das Kind gehöre. Da sagte sie, es gehöre niemand anderem als ihr und ihm. Dann nahm sie das Kind und gab es der Ziehmutter Geirs zum Aufziehen. Dann verging das Jahr, aber zu Weihnachten ereignete sich alles genauso wie im Jahre zuvor, nur daß sich Finna auf einen Schemel vor dem Bette setzte, als sie ihre Weise sprach. Und als das dritte Mal zu Weihnachten alles wieder genauso kam wie in den Jahren zuvor und Sigurd mit Finna hinaus nach der Insel ruderte, da bat er sie, sie diesmal an Land begleiten zu dürfen, und sie erlaubte es ihm auch, aber verbot ihm, ein Wort zu reden. Sie bat ihn, draußen vor dem Hause zu warten, und ging hinein. Sie setzte sich auf den Bettpfosten und sprach folgende Weise:
»Hier sitze ich allein auf dem Pfosten,
die Stimmung der Freude ist von mir gewichen.
Getötet hat der kluge Gatte
den Sommer hindurch meine Freude.
Eine andere gewann den, den ich liebe.
Oft bricht die See über die Schiffsrollen.«

Da stand Geir auf und sprach: »Das soll auch nicht länger so dauern.« Aber die Frau, die bei ihm im Bette lag, fiel in Ohnmacht, da träufelte Finna Wein auf ihre Lippen, und als sie erwachte, war sie ein wunder-



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schönes Mädchen. Da sagte Geir zu Finna: »Nun hast du mich aus großen Nöten erlöst; denn das war nun das letzte Jahr, in dem ich erlöst werden konnte. Mein Vater war der König von Gardareich. Und als meine Mutter gestorben war, da hat mein Vater eine Fremde geheiratet. Sie lebten nur eine kurze Zeit zusammen, dann hat sie meinen Vater mit Gift getötet. Und da ich und diese meine Schwester hier, die Ingibjörg heißt, ihr nicht gehorchen wollten, verfluchte sie mich, daß ich mit meiner Schwester drei Kinder haben sollte. Und wenn ich nicht eine Frau bekäme, die von alldem wisse und doch dazu schwiege, so sollte ich zu einer Schlange und meine Schwester zu einem ungezähmten Füllen werden, das mit andern Stuten auf die Weide ginge. Aber jetzt hast du mich aus dieser Not erlöst, und ich will nun diese meine Schwester deinem Bruder Sigurd zum Weibe geben, und dazu will ich ihm das ganze Reich geben, das mein Vater besaß.«

Dann fuhren sie alle ans Land und zum Gehöfte des Geir. Es wurde aufs neue ein Mahl bereitet und zu Thrand, Finnas Vater, geschickt, und es wurde das Verlobungsbier Sigurds und Ingibjörgs getrunken. Dann fuhr Sigurd nach Gardareich und unterwarf es sich ganz. Geirs Stiefmutter wurde ergriffen, zwischen zwei Pferde gebunden und von ihnen in Stücke gerissen. Sigurd und Ingibjörg herrschten lange über Gardareich, aber Geir wurde Richter nach Thrand, und sie hatten Söhne und Töchter.


Der Küster von Myrka

Es war einmal ein Küster zu Myrka im Eyjafjord. Wie er hieß, weiß man nicht, nur daß er eine Liebste hatte, die Gudrun hieß, die war Dienstmagd in ihrem Heimatort Bägisa, jenseits des Hörgbaches, bei dem Pfarrer daselbst, und außerdem ein graumähniges Pferd, das er immer ritt, und das Faxi hieß. Nun geschah es einmal kurz vor Weihnachten, daß der Küster nach Bägisa ritt, um Gudrun zum Weihnachtsfeste nach Myrka einzuladen. Er hatte ihr versprochen, sie zur bestimmten Zeit abzuholen und sie zu dem Fest am Abend vor Weihnachten zu begleiten. Aber in den Tagen vorher, ehe der Küster hingeritten war, hatte es viel Schnee und Eis gegeben, an seinem Reisetage aber war Tauwetter, der Fluß schwoll an, führte Treibeis und war unpassierbar. Der Küster dachte nicht an diese Dinge, ritt über den Ynadalsbach auf einer Brücke, konnte aber über den Hörgbach nicht



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hinüber und ritt an diesem entlang bis nach Saurhof, wo die nächste Brücke war. Wie er aber mitten auf der Brücke war, brach sie und er fiel in den Fluß.

Als der Bauer von Thufnavellir am nächsten Morgen aufstand, sah er ein Pferd mit Reitzeug am Grasgarten stehen, und es war ihm, als ob das der Faxi des Küsters von Myrka wäre. Da er aber den Küster am Tage vorher hatte vorbeireiten sehen, erschrak er und ahnte bald, was geschehen sein mußte. Er ging hinaus, Faxi war ganz naß, und an der Landspitze fand er auch die angetriebene Leiche des Küsters. Am Hinterkopf war er von einer Eisscholle schwer verletzt. Er wurde nach Myrka gebracht und noch in der Vorweihnachtswoche begraben. Nach Bägisa war in der ganzen Zeit wegen des Hochwassers keine Nachricht gekommen, weil aber am Tag vor dem Fest besseres Wetter und in der Nacht das Wasser auch gesunken war, machte sich Gudrun doch Hoffnung auf die Reise. Gegen Abend fing sie an, sich fertigzumachen, und noch ehe sie damit zu Ende war, hörte sie jemanden an die Tür klopfen. Eine andere Magd ging zur Tür, sah aber niemanden draußen. Dabei war es weder hell noch dunkel, denn der Mond war hinter ziehenden Wolken, die ihn zuweilen freiließen.

Als das Mädchen wieder hereinkam und sagte, sie habe nichts gesehen, sagte Gudrun: »Es wird mir gegolten haben, ich will jetzt hinausgehen.« Sie war schon fertig bis auf den Mantel; den nahm sie und fuhr in den einen Ärmel, den andern warf sie sich über die Schulter und hielt ihn fest. Als sie hinauskam, sah sie Faxi vor der Tür stehen und einen Mann daneben, von dem sie meinte, es sei der Küster. Man weiß nicht, ob sie zusammen gesprochen haben, nur daß der Mann Gudrun aufs Pferd gehoben und sich selbst vor sie gesetzt hat. So sind sie eine Weile geritten, ohne miteinander zu sprechen. Sie kamen an den Hörgbach, da waren hohe Eisbänke am Rande, und wie das Pferd über diese Eisbank hineinsprang, lüpfte sich der Hut des Küsters hinten ein wenig, und Gudrun erblickte den verletzten Schädel. In diesem Augenblick wurde der Mond frei, und der Küster sprach:

»Mond der gleitet,
Tod der reitet.
Siehst du nicht den weißen Fleck
in meinem Nacken,
Garun, Garun?«


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Gudrun erschrak heftig und schwieg. Andere erzählen auch, Gudrun habe selber den Hut gelüpft und dabei den weißen Schädel gesehen; da habe sie gesagt: »Ich sehe nun, wie sich's verhält!« Weiter weiß man von ihren Gesprächen und ihrer Fahrt nichts, als daß sie schließlich nach Myrka kamen und vor der Seelenpforte vom Pferde stiegen. Da sagte der Küster:

»Warte nun hier, Garun, Garun,
daß ich führe Faxi, Faxi
weiter hin am Zaune, Zaune.«

Damit führte er das Pferd weg; sie aber schaute in den Kirchhof, erblickte dort ein offenes Grab und erschrak mächtig. Doch kam sie noch auf den Gedanken, den Glockenstrang zu ziehen. Da aber wurde sie von hinten ergriffen, und es war ihr Glück, daß sie nur den einen Mantelärmel hatte anziehen können, denn so heftig war der Griff, daß der Mantel an der Achselnaht des angezogenen Ärmels entzweiriß. Das war nun das Letzte, was sie von dem Küster sah, daß er sich mit dem Mantelfetzen, den er festhielt, von oben in das offene Grab stürzte und die Erde von beiden Seiten über ihn herabgefegt wurde.

Von Gudrun ist bekannt, daß sie in einemfort läutete, bis die Bauern von Myrka kamen und sie fanden. Denn sie war von alledem derart erschrocken, daß sie nicht wegzugehen wagte, noch aufzuhören zu läuten. Sie sah ein, daß sie es hier mit dem Gespenst des Küsters zu tun hatte, obwohl sie von seinem Tod noch nichts wußte. Nun aber erzählten ihr die Leute von Myrka die ganze Geschichte.

In derselben Nacht, als man zur Ruhe gegangen war und die Lichter gelöscht hatte, kam der Küster wieder, suchte Gudrun und bedrängte sie so gewaltig, daß die Leute wieder aufstehen mußten und keiner in dieser Nacht schlafen konnte. Noch einen halben Monat lang konnte sie nicht allein sein, jede Nacht mußte jemand bei ihr wachen. Man weiß sogar, daß der Pfarrer selbst auf ihrem Bettrand sitzen und im Gesangbuch lesen mußte. Dann aber wurde ein Zauberer westlich aus dem Skagafjord geholt. Der ließ oben am Grasgarten einen großen Stein ausgraben und ihn an die Giebelwand des Hauses wälzen. Am Abend, als es dunkelte, kam der Küster und wollte in das Haus hinein, aber der Zauberer erwischte ihn südlich von der Giebeiwand, drückte ihn mit starken Beschwörungen zu Boden und wälzte dann den Stein auf



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ihn. Dort soll der Küster noch heute liegen. Danach hörte der Spuk von Myrka auf, und Gudrun erholte sich wieder. Ein wenig später fuhr sie wieder heim nach Bägisa, aber die Leute sagen, daß sie nie wieder so geworden war wie zuvor.


Das Elbenmädchen

Geir hieß ein Mann, der zu Raudafell wohnte und dort einen guten Hof hatte. Er war jung und hatte erst vor kurzem seine Frau verloren. Einmal als seine Leute beim Heuen waren, sah er, wie ein junges, hübsches Weibsbild kam, und ohne ein Wort mit den Leuten zu sprechen, half sie bei der Arbeit mit, und diese ging sogleich flink vonstatten. Am nächsten Tag kam sie wieder, und so ging es den ganzen Sommer durch; nie sprach sie ein Wort, und niemand wußte, woher sie kam und wohin sie ging. Aber schließlich ging der Bauer zu ihr hin, grüßte sie und dankte ihr für ihre Arbeit. Sie nahm das wohl auf. Sie sprachen lange zusammen, und es kam so, daß der Bauer ihr anbot, bei ihm Haushälterin zu sein. Dann verschwand sie, aber am nächsten Morgen kam sie wieder und hatte nur eine große Truhe bei sich. Die Truhe wurde ins Frauengemach gestellt. Das Mädchen nahm den Haushalt an sich, war flink, stand ihm trefflich vor und gefiel dem Bauern wohl. Aber sie wollte ihm nicht sagen, woher sie kam, und sagte nur, daß sie Una heiße. Niemals ging sie zur Kirche, wie sehr auch der Bauer ihr zuredete. Das war das einzige, was ihm nicht an ihr gefallen wollte, denn er war ein frommer Mann.

Nun ging der Winter vorbei bis zum Weihnachtsfest. Die Leute gingen zum Abendgesang, Una wollte nicht mitgehen, sondern blieb allein zu Hause, und als die Kirchgänger am Morgen heimkamen, fanden sie sie fertig zu ihrer gewöhnlichen Arbeit. So blieb Una drei Jahre bei dem Bauern und wurde ihm sehr lieb; nur das eine grämte ihn sehr, daß sie nicht zur Kirche ging. Ober ihre Herkunft hatten die Leute verschiedene Ansichten, aber darüber waren sie sich alle einig, daß sonst kein so tüchtiges Frauenzimmer wäre in dem ganzen Bezirk wie Una. Nun kam das dritte Weihnachten heran, und Una blieb wieder daheim. Aber wie die Kirchgänger gerade aufgebrochen waren, da wurde es zufällig einem Knechte übel. Erst legte er sich nieder, aber schließlich ging er wieder zum Gehöft. Da sieht er, wie Una das Gehöft fegt und reinigt



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und sich mächtig mit der Arbeit beeilt. Er versteckte sich, daß sie ihn nicht bemerkte. Als sie mit aller Arbeit fertig war, ging sie ins Frauengemach und schloß ihre Truhe auf, nahm ein wunderschönes Kleid heraus und zog es an. Der Knecht meinte, niemals ein so schönes Frauenzimmer gesehen zu haben.

Auch zog sie eine rote Decke aus der Truhe hervor und nahm sie unter den Arm. Dann verschloß sie die Truhe, ging hinaus, schloß auch das Frauengemach ab, lief den Anger hinab und der Knecht ihr nach. Sie stand nicht eher still, bis sie an ein kleines Moor gekommen war; dort breitete sie die rote Decke aus und stellte sich darauf. Der Knecht kam mit genauer Not noch auf einen Zipfel der Decke. Sogleich sanken sie in die Erde hinab, und das war wie Rauch, als sie da fuhren. Una bemerkte den Mann nicht, und so kamen sie beide auf einen grünen Anger. Da nahm Una das Tuch unter den Arm. Der Knecht erblickte ein prächtiges Gehöft auf dem Anger, dahin ging Una und er hinterher. Dort war eine große Schar von Leuten, die ihr entgegenkamen und sie bei den Händen faßten.

Ein schönes prächtiges Mahl war bereitet. Die Leute setzten sich nieder, und Speise wurde aufgetragen: verschiedene Gerichte und Wein, alles sehr üppig. Der Knecht erwischte ein Rippenstück von gedörrtem Schaffleisch: so fett, wie er in seinem ganzen Leben noch keins gesehen hatte. Nach dem Mahle wurden verschiedene Spiele gespielt, alles kunstvoll und schön. Aber gegen Morgen sagte Una, daß sie nun heimfahren müsse, denn bald käme der Bauer von der Kirche. Sie verabschiedete sich von allen mit großer Freundlichkeit und lief weg. Der Knecht lief hinter ihr her und wieder mit auf die Decke. So kamen sie auf die Erde, zu dem Moor; Una nahm das Tuch, ging heim in die Kammer, schloß Kleid und Decke ein und ging in den Hof. Der Knecht immer hinter ihr her, legte sich dann aber nieder.

Nun kam der Bauer aus der Kirche und fragte den Knecht, wie es ihm ginge. Der sagte, schon um vieles besser. Una empfing sie wohl, und man setzte sich zu Tisch. Es gab auch hier Dörrfleisch nach des Landes Brauch. Da nahm der Bauer eine große Schafseite und sagte: »Hat eins von euch schon mal eine so große Schafseite gesehen?« — »Kann schon sein«, sagte der Knecht und zeigte das Rippenstück vor, das er in der Nacht erwischt hatte. Als aber Una das sah, verfärbte sie sich, lief schweigend fort, und niemand hat sie je wiedergesehen. Der Knecht aber erzählte, wohin er am Tage zuvor gereist war.



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Asmund Südfahrer

Asmund hieß ein Mann. Er stammte aus dem Skagafjord, war flink und tüchtig und zur Zeit dieser Geschichte etwa zwanzig Jahre alt. Da er im Winter immer zum Fischfang mit seinen Genossen nach der Südküste fuhr, wurde er der Südfahrer genannt. Als sie wieder eines Winters südwärts fuhren und zur Nacht auf Melar im Hrutafjord waren, wurde Asmund schwer krank. Seine Gefährten warteten den Tag über auf ihn, aber er hieß sie ihres Weges fahren, denn er werde schon nachkommen. Da fuhren sie weiter, Asmund aber blieb zurück. Tags darauf war er wirklich wieder gesund und machte sich nun allein auf den Weg. Das Wetter war gut, aber als er südwärts mitten auf die Heide gelangte, kam ein großer Schneesturm und Asmund sah nicht mehr, wohin er fuhr. Er verirrte sich, und wie er das merkte, lud er seine Pferde ab, grub sich in einen Schneehaufen ein und baute mit den Gepäckstücken die Tür dieser Schneehütte aus. Die Pferde koppelte er zusammen, kroch selbst in sein Schneehaus und machte sich ein Fenster auf der windstillen Seite, so daß er nach dem Wetter ausschauen konnte. Dann nahm er seinen Proviant und hielt Mahlzeit. Aber da erschien ein braunroter Hund am Eingangsloch und wühlte sich hinein. Der Köter sah bissig und grimmig aus, und wurde mit jedem Bissen, den Asmund aß, wütender. Asmund kümmerte sich um den Hund weiter nicht, gab ihm aber einen großen Schafsschenkelknochen. Mit dem lief der Köter hinaus. Kurz danach trat ein großer ältlicher Mann an die Tür, grüßte Asmund und dankte ihm für sein Hündchen.

»Bist du nicht Asmund Südfahrer?«fragte er. »So nennt man mich«, sagte Asmund. »So laß ich dir zwischen zwei Dingen die Wahl«, sagte der Ankömmling, »entweder mir zu folgen, oder der Schneesturm hört nicht eher auf, bis du tot bist. Denn du mußt wissen, diesen Schneesturm hab ich gemacht und ebenso deine Krankheit. Denn ich wollte dich treffen, weil ich sonst keinen tapfereren Mann im Bezirk kenne!« Asmund sah ein, ihm bliebe gar keine Wahl, und er meinte, er wolle ihn lieber begleiten als in der Schneewehe sterben. »So komm denn!« sagte der Mann. Asmund brach auf, und das Wetter besserte sich. Der Mann ging voraus, und Asmund führte die Pferde; wohin es ging, wußte er nicht, so sehr war er in der Irre. Nach längerer Zeit kamen sie in ein kleines Tal. Ein Wasser lief in der Mitte, und Asmund wunderte sich darüber, daß die Erde auf der einen Seite rot, auf der andern



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ganz weiß von Schnee war. Auch war ein Gehöft auf jeder Seite. Sie gingen zu dem Haus auf der schneeigen Seite. Der Mann zog die Pferde in den Stall und gab ihnen Futter, dann führte er Asmund in die Badestube. Ein altes Weib und ein junges, hübsches Mädchen waren darin, sonst sah er keinen Menschen dort. Er grüßte sie, und die Alte wies ihm seinen Sitzplatz an. Aber alsbald gingen der Mann und das Mädchen hinaus, und Asmund blieb allein mit der Alten. Die Alte brummelte immerfort vor sich hin: »Es ist ein Unglück, wenn man keinen Tabak hat!« Da nahm Asmund ein Stück Tabak aus seiner Tasche und warf es ihr hin; sie fing es auf und war froh. Dann kamen der Mann und das Mädchen wieder herein und sie brachten ihm Essen. Asmund aß, und der Mann unterhielt sich fortwährend mit ihm und war ganz vergnügt! Als aber Asmund mit dem Essen fertig war, gingen der Mann und das Mädchen wieder hinaus. Asmund glaubte, sie würden zusammen ausmachen, wie sie ihn wohl umbringen könnten. Dann kam der Mann wieder zurück und hieß Asmund schlafen gehen. Er war dazu bereit, der Alte führte ihn in die Kammer, darin ein Bett bereit war, bot ihm gute Nacht und ging. Das Mädchen zog ihm die nassen Kleider ab und wollte auch seine Strümpfe und Schuhe mit wegnehmen, aber Asmund bat sie, das nicht zu tun, denn das kam ihm verdächtig vor. Aber das Mädchen beruhigte ihn, küßte ihn und wünschte ihm gute Nacht.

Dem Asmund kam seine Aufnahme in dem Achterhaus seltsam vor, aber der Kuß hatte ihm behagt. Dann schlief er schnell ein und erwachte erst wieder, als es bereits Tag war und der Mann neben ihm stand. Der bot ihm guten Morgen und sagte, er wolle ihn jetzt um das bitten, weswegen er ihn geholt habe. »Die Sache ist die«, sagte er, »vor zwanzig Jahren habe auch ich im Bezirke gewohnt. Dann bekam meine Schwester ein Kind von mir, da mußte ich fliehen und kam hierher. Die Alte von gestern abend ist meine Schwester, das Mädchen aber, das dich bedient hat, ist unser Kind. Als ich hierher kam, waren schon Achter hier, drüben in dem andern Gehöft, zwei Mann, und die wohnen noch heute darin. Sie sind immer meine Feinde gewesen, doch habe ich mich immer vor ihnen erwehren können bis jetzt, nun aber geht es nicht länger, denn jetzt sind sie mächtiger als ich und lassen allen Schnee, der im Tale fällt, auf meine Seite fallen. Ich hatte immer meine Schafe auf ihrer Seite weiden lassen, aber jetzt bin ich dazu nicht mehr Manns genug. Ich möchte dich nun bitten, gleich heute mit meinen Schafen über den Bach zu ziehen und sie drüben zu hüten. Ich weiß, du bist tapfer, aber das



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ist auch not, denn sie werden beide kommen, meine Feinde, und glauben, ich sei selber beim Vieh. Du kannst auch meinen braunroten Hund mitnehmen, der wird dir nützlich sein!«

Asmund stand auf, zog mit den Schafen ab, und der Mann gibt ihm seinen Kapuzenmantel mit, sich darin einzuhüllen, und seine Axt, sich zu wehren. So wie er drüben ist, kommen ihm die beiden Achter entgegengelaufen und rufen: »Jetzt muß er sterben!«, denn sie glauben, es sei der Alte. Als sie dicht bei ihm sind, sagen sie freilich: »Das ist ein anderer, als wir dachten.« Aber sie sprangen doch auf ihn ein und griffen ihn an. Asmund hetzte den Braunen auf den einen und nahm selbst den anderen an. Der Hund zerriß seinem Gegner den Bauch und lief dann gegen den andern: der unterliegt ihnen beiden. Bis zum Abend blieb Asmund nun bei den Schafen, dann trieb er heim und traf den Mann, der ihm entgegenkam, ihm herzlich dankte und sagte, er habe alles mit angesehen. Tags darauf gingen sie beide zum Gehöfte der Achter. Es war ein schönes, geräumiges Hauswesen; viel Gut fanden sie darin, aber keinen Menschen. Sie untersuchten den ganzen Hof, bis sie vor eine Tür gelangten, die sie nicht öffnen konnten. Asmund trat sie ein, da kamen sie in ein kleines Nebenhaus und fanden dort eine Frauensperson, hübsch und anmutig. Mit den Haaren war sie an einen Balken gebunden, ganz bleich und mager geworden. Asmund band sie los und fragte sie, wer sie wäre. Sie sagte, sie sei eine Bauerntochter aus dem Inselfjord, von den Achtern geraubt, die sie hätten zwingen wollen, einen von ihnen zu heiraten. Da sie das nicht wollte, hätten sie sie hier festgebunden und gemeint, so würde sie schon kirre werden. Da erzählte ihr Asmund alles und sagte, sie sei nun bei guten Leuten. Da wurde sie froh und fühlte sich aus aller Gefahr gerettet.

Sie brachten nun alles aus der Hütte des Mannes hinüber nach diesem Hof und blieben hier den Winter über. Alles behagte dem Asmund, der Mann und die Mädchen, besonders des Mannes Tochter. Sie lernte verschiedene Kunstfertigkeiten von dem Mädchen aus dem Inselfjord. Im Frühjahr sagte der Mann zu Asmund, er könne jetzt heimkehren, solle im Herbst aber wiederkommen, denn dann werde er gestorben sein. Er bitte ihn, dann seine Tochter und seine Schwester, wenn sie noch lebe, sowie das Inselfjordmädchen zu sich zu nehmen und ebenso alles, was er hier Kostbares finde. Dann fuhr Asmund fort nordwärts zum Skagafjord.

Die Leute glaubten, er sei von den Toten zurückgekehrt; aber er sagte



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keinem, wo er den Winter über gewesen war. Im Herbst zog er wieder fort und kam zu den Mädchen im Tal. Die empfingen ihn froh, aber die beiden Alten waren inzwischen gestorben und in einem Hügel dort am Abhang begraben worden. Den Winter über blieb er bei ihnen, aber im Frühjahr machte er sich auf und fuhr mit der ganzen beweglichen Habe nordwärts in den Skagafjord. Dort siedelte er sich an und heiratete die Tochter des Alten, das Inselfjordmädchen aber gab er einem andern Mann aus dem Bezirke. Damit endet die Geschichte von Asmund Südfahrer.


Haha, die Bauerntochter

Einmal zogen eine Anzahl Leute aus dem Skagafjord, Männer und Frauen, zur Kräutersuche ins Gebirge und wohnten in Zelten südlich auf der Heide. Eins von den Mädchen hieß Halla. Sie war die Tochter eines Bauern aus dem Fjord, sehr hübsch und eben zwanzig Jahre alt. Nun wurde sie einmal sehr schläfrig bei der Arbeit, legte sich an einem Hügel nieder, die andern waren im großen Umkreis um sie, und bat ein anderes Mädchen, sie bald wieder zu wecken. Sie schlief schnell ein, aber ein starker Nebel fiel, und als sie wieder erwachte, sah sie niemanden. Sie erschrak und wollte zu den Kräutersuchern laufen, schlug aber eine falsche Richtung ein. Sie lief ziemlich lange, dann traf sie einen reitenden Mann, groß und kräftig. Er fragte sie, warum sie so allein sei. Sie erzählte ihm alles: »Hast du etwa meine Leute gesehen?« —»Ja«, sagte er, »eben erst; ich selbst bin auf der Pferdesuche im Gebirge. Soll ich dich zu deinen Leuten bringen?« — »Ja«, sagte sie. — »So setz dich hinter mir aufs Pferd!« Zuerst wollte sie nicht, aus Angst vor dem Mann, sondern lief lange nebenher; dann sagte er, wenn sie aufstiege, würde es flotter gehen. So stieg sie denn auf; nun ließ er sein Pferd laufen und ritt so schnell, wie es ging. Schließlich kommt ihr der Weg viel zu lang vor. Der Mann sagte, sie seien gleich da. Da fügte sie sich in alles, denn sie sah, sie war in seiner Gewalt. Endlich kamen sie in ein großes Tal mit vielen Gehöften, und vor dem größten hielten sie. Darin fanden sie viele Leute, darunter zwei junge, kampftüchtige Männer. Zu denen sprach ihr Entführer: »Nehmt nun das Mädchen und hütet sie nicht schlechter, als ich sie gewonnen habe.« Sie übergaben sie zwei jungen Mädchen, die waren heiter und fröhlich und suchten ihr alles zu Gefallen zu tun, aber sie war so unglücklich und wollte nicht schlafen



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noch essen. Aber sie gaben stark acht auf sie und nahmen sie beim Schlafen in ihre Mitte. Haha bemerkte noch eine alte Frau auf dem Hofe, die sich um nichts kümmerte, was vorging. Im Sommer fuhr Halla mit ins Heu, und eines schönen Tages, als alle mit dem Binden des Heues beschäftigt waren, machte sich die Alte an Haha heran und sprach: »Dir gefällt's hier nicht, Mädchen, begreiflicherweise. Aber ich werde dir helfen, davonzukommen. Du bist nämlich hier im Untatenfelslan'd, das hat sieben Täler. Dies ist das größte und volkreichste und liegt in der Mitte. Die drei Männer, die du gesehen hast, sind hier die höchsten, die wollen in wenigen Tagen mit dir und den beiden Mädchen, die dich im Sommer bewacht haben, Hochzeit halten.

Die Talbauern haben gewettet, daß kein Mädchen hier oben so schön sei wie du, und deshalb haben sie dich geraubt. Es ist aber natürlich, daß es dir hier bei den Achtern nicht gefällt; ich bin auch geraubt und weiß, was das heißt, sich von den Seinigen trennen zu müssen. Jetzt gefällt's mir ganz gut, und ich lebe ja auch nicht mehr lange. Dir aber will ich jetzt raten, wie du davonkommst. Geh heute abend vor allen andern zu Bett und stelle dich gleich schlafend. Dann steh auf, wenn sie schlafen, ich werde dir Proviant und Schuhe geben und den Weg zeigen!« Das gefiel der Halla wohl. Sie war den Tag über wohlgemut, ging am Abend früher heim als die andern, legte sich zu Bett und stellte sich schlafend, als die andern kamen. Die Leute dachten, sie wäre müde; die Mädchen legten sich neben sie und schliefen fest.

Da stand Haha wieder auf und zog sich an. Die Alte gab ihr Proviant und Schuhe und sagte: »Geh hier-ostwärts im Tal und auf den Berg dort zu, südlich an ihm vorbei. Da wirst du auf einen Fußpfad stoßen. Wenn du den gehst, kommst du an einen großen Erdsturz und auf einen breiten, guten Weg, der dich ins bewohnte Land führt. Am Erdsturz bist du, wenn die Sonne aufgeht, und dort sollst du dich morgen verbergen. Denn man wird dir nachspüren, und wenn du nicht gefunden wirst, werden die Talbewohner um ihre Wette kämpfen. Denn dann haben sie dich nicht selbst und wissen nicht, wer gewonnen hat. Fahr nur wohl und gesund, liebe Tochter, leb wohl und flieh recht schnell!« Haha dankte ihr, und sie trennten sich unter Tränen. Halla fuhr nach der Weisung der Alten, und die Alte ging zurück in den Hof.

Halla kam an den Fußpfad, an den Erdsturz, da ging die Sonne auf, und sie verbarg sich hinter einen vorhängenden Stein an dessen Rand. Nach kurzer Zeit hörte sie Geräusch und Männerstimmen. Eine Menge



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Leute ritten vorbei, die hatten es eilig und sprachen von ihr, einige meinten, sie würde wohl südlich über das Lavafeld gelaufen und umgekommen sein. Dann verstrich der Tag. Abends kamen sie zurück. Einer von ihnen stieg ab bei dem Erdsturz, wo Halla lag.

Es war ein junger, hübscher Mann, er sagte: »Hier dürfte sie stecken!« lief über den Erdsturz und schaute unter den Stein. Halla erschrak heftig und verhielt sich ganz still. Der Mann lief wieder zurück und sagte: »Auch hier ist sie nicht!«Dann ritten sie fort, und Haha stand auf und lief weiter. Sie kam ins bewohnte Land und an eine Pfarrei. Dort bat sie den Pfarrer um Aufnahme und erzählte ihm alles. Er nahm sie gern auf den Winter über, und im Sommer blieb sie um Lohn. Der Pfarrer hatte noch eine andere Magd, und die beiden Mägde waren viel zusammen. Da kamen im Sommer zwei Männer zum Pfarrer und baten, sie in Arbeit zu nehmen. Das tat der Pfarrer. Der eine war ältlich, häßlich und böse, der andere jung und hübsch und hieß Björn. Einmal, als Halla ihnen ihr Essen brachte, sagte der ältere: »Gut wäre es zu schlachten, eine Lust wäre es abzustechen«, aber Björn sagte: »Still oder ich erschlag dich!«Halla erschrak und lief heim, erzählte es dem Pfarrer und sagte, sie wage es nicht dazubleiben, solange jene hier seien. Der Pfarrer meinte, man könne dem leicht durch einen Magdtausch abhelfen, und so kam Halla auf das nächste Gehöft. Hier hatte sie mit einer andern Magd zu melken. Nun lag ein großer Felsblock im Gehege zwischen dem Stall und dem Gehöft, so daß man von hier nicht dahin sehen konnte. Einmal nun trug die andere Magd die Milch heim, aber Halla blieb zum Nachmelken zurück. Da kam ein Regenschauer, die Magd kam nicht mehr wieder, und Halla stellte sich an dem Felsen unter. Da kam Björn hinzu und grüßte sie. Sie grüßte wieder, war aber mächtig erschrocken. Björn sagte ihr, er sei es gewesen, der damals über den Erdsturz lief, »und ich sah dich wohl, aber ich wollte nichts sagen. Der Mann, der mich begleitete, wollte dich töten, weil er seinen Sohn in einem Streite verlor, der um deiner Schönheit willen unter den Talbewohnern ausgebrochen war. Ich aber will dich schützen, wenn du mich dafür belohnst, daß ich dich im Erdsturz sah und doch schwieg, und mir Treue gelobst.«Halla getraute sich nicht, nein zu sagen, dann trennten sie sich und trafen sich seitdem öfter. Nach der Heuernte zogen die Arbeiter ab, aber im Winter kam Björn zum Pfarrer und bat um Siedlungsland und eine Haushälterin; Halla hatte dem Pfarrer alles gesagt, auch daß sie ein Kind von Björn unterm Herzen trage. Da



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schlug ihm der Pfarrer die Halla als Haushälterin vor, und es wurde abgemacht, daß er sie im Frühjahr heiraten und einen Hof im Bezirk übernehmen solle. Noch im Winter sollte er die Eltern der Halla von allem benachrichtigen, was vorgefallen war. Björn fuhr in den Skagafjord, richtete alles aus und erhielt die Einwilligung der Eltern. Im Frühjahr kam er wieder zurück, heiratete Halla und siedelte sich dort im Bezirke an. Seine Milchschafe und Hammel holte er im Herbst und Frühjahr aus dem Untatenfeisland. Er hatte zwei Söhne von Haha, aber da€ sind recht unbillige und unfreundliche Männer geworden.


Olaf und Helga

Ein Mann hieß Sigurd, der war ein tüchtiger und angesehener Bauer. Er hatte eine hübsche und kluge Tochter, die Helga hieß. Olaf hieß sein Knecht, ein junger, kluger, braver Mensch. Er war ein Pfarrerssohn, und sein Vater war schon hochbejahrt. Olaf gewann schnell die Zuneigung der Bauerntochter; den Leuten schienen sie gut zueinander zu passen und auch der Bauer hatte nichts dagegen; denn er liebte sie beide sehr. Nun geschah es eines Sommers, daß alles Jungvieh des Bauern verschwand. Man suchte es lange, aber fand es nicht. Im nächsten Sommer verschwanden die Schafe. Auch sie wurden trotz allem Suchen nicht wiedergefunden. Das dünkte dem Olaf ein schwerer Schaden, denn er war ein tüchtiger Haushalter und Wirtschafter. Die Leute dachten an alle möglichen Ursachen, aber der Bauer kümmerte sich wenig darum. So verstrich die nächste Zeit ohne Neuigkeiten.

Nun ging zu Wintersanfang die Bauerntochter eines Abends zum Waschplatz hinaus und kam nicht wieder zurück. Die Leute suchten sie in der ganzen Gegend und fanden sie nirgends; alle traf der Verlust schwer, am meisten Olaf. Er lag voll Sorge auf seinem Lager und mochte weder schlafen noch essen. Aber als er eines Nachts doch in ruhigen Schlaf gefallen war, kam sein Vater im Traum zu ihm und sprach: »Du bist ein rechter Hasenfuß, und das ist keineswegs männlich, sich ratlos ins Bett zu legen, wenn einem etwas die Quere geht. Denkst du etwa, Gott kann dir nicht helfen? Steh auf, nimm dir Proviant und neue Schuhe, halte dich immer nach Süden, bis du an einen kreisrunden Hügel kommst mit Heidehöhen rings herum. Dort ist ein Bach bei dem Hügel; den überschreite. Dann triffst du auf einen Fußsteig, und auf



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ihm sollst du gehen. Verlaß dich nur auf Gott und fürchte weder die Länge des Weges noch eine Beschwerlichkeit.«Sogleich erwachte Olaf, sprang schnell auf, zog sich an und verlangte Proviant und drei Paar neue Lederschuhe. Der Bauer fragte, wohin er wolle, aber Olaf sagte, das wisse er selbst so genau nicht. Der Bauer riet ihm, am besten zu Haus zu bleiben. Er sagte, es würde sein Tod sein, wenn er auch ihn noch verlöre, und er sei nun seine einzige Freude und Altersstütze. Olaf hieß ihn guten Mutes zu sein, und beim Abschied kamen ihm die Tränen in die Augen.

Dann wanderte er, wie es ihm geheißen war, und nach großen Mühen kam er endlich an den Hügel, ging über den Bach, fand auch den Fußsteig, und etwas zuversichtlicher wanderte er weiter, bis er spät am Abend nahe vor sich einen kräftigen Hirtenruf hörte. Er sah einen starken Mann, hoch von Wuchs, mit einer großen Lämmerherde. Eine braunrote Kapuze trug er und einen Schlapphut und eine bloße Axt über der Schulter. Olaf grüßte ihn, aber der andere dankte kaum und fragte, wohin er fahre. Olaf sagte, er suche die Schafe. »Meinst du, daß die hier sind?« sagte der Kapuzenmann. »Aber du brauchst mich nicht anzulügen, denn ich weiß, wie du heißt und was du suchst. Nämlich Helga, die Bauerntochter, und nicht die Schafe. Wisse, daß die hier in der Nähe ist, aber du bekommst sie nie wieder zurück. Kehre so schnell wie möglich wieder um, rate ich dir, oder ich schlag dir die Axt um den Kopf, obwohl das sonst nicht meine Art ist.« — »Das ist kein Kunststück«, sagte Olaf, »einen Waffenlosen und Wegmüden anzugreifen, und es wäre billiger, wir probierten es mit einem Ringkampf.«

Da warf jener die Axt weg, und sie rangen nun ernstlich miteinander. Jener war stärker, und drum hielt sich Olaf in der Verteidigung, bis jener müde wurde; dann ging Olaf zum Angriff vor und warf ihn, weil er geschickter war. Jener sagte, das sei weiter kein Ruhm, denn er zähle erst fünfzehn Jahre. Und als Olaf ihn nun dorthin ziehen wollte, wo die Axt lag, »obwohl das sonst nicht meine Art ist«, bat der Kapuzenmann, ihn nicht zu töten, er wolle ihm auch getreu und dienstbar sein. Da schenkte ihm Olaf das Leben, ließ ihn einen Treueid schwören und fragte ihn, wo er her sei und wer er wäre. Jener sagte, er sei nicht weit von hier daheim, und er sei ein Achter. »Ich heiße Kari, habe alte Eltern und zwei Brüder, viel älter und stärker als ich und richtige Trolle. Der eine hat Helga geholt und will sie heiraten. Sie aber will nicht und fühlt sich sehr unglücklich. Sie wird in Gewahrsam gehalten, und meine



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Schwestern sitzen oft bei ihr, um sie zu trösten, und tun alles, um sie zu erfreuen, aber vergebens. Sie will nicht schlafen noch essen und ist leichenblaß vor Gram und Sorge. Mein Vater ist so zukunftkundig, daß er deine Fahrt vorher wußte, und darum gab er mir heute die Axt mit auf die Weide, die sollte ich in deinem Blute röten. Darum werden sie dich schnell erschlagen, mein Vater und meine Brüder, wenn sie es vermögen. Deshalb schlaf du nur heute nacht im Lämmerstall, ich werde dir schon genug zu essen bringen.«Aber das wollte Olaf nicht, und so führte ihn Kari schließlich nach Hause, willens, mit ihm jedes Schicksal zu teilen. Sie trafen eine kleine Hütte im engen Tal. Ein alter Mann stand draußen, trollartig und böse. Das schien der Vater des Kari zu sein, Olaf grüßte ihn, aber der Alte tat, als höre er nichts, und blickte nur böse auf ihn und Kari. Durch einen langen, niedrigen und finstern Gang kamen sie in die Badstube, zwei hübsche junge Mädchen saßen darin. Olaf verwunderte sich, wie sie so schön wären und ihr Vater so häßlich. Am andern Ende der Stube sah er einen kleinen Anbau, darin saß ein altes, böses Weib. Kari hieß Olaf Platz nehmen, setzte sich neben ihn und besorgte ihm auch Essen und Trinken. Dann kam der Alte herein und ging ins Nebenhaus zu der Alten. Kurz darauf hörte Olaf lauten Lärm und Tritte im Gang. Da kamen die zwei Brüder des Kari herein, diesem sehr unähnlich, eher wie Trolle als wie Menschen anzusehen. Sie gingen zu den Alten hinein, sahen Olaf nicht an und den Kari sehr unfreundlich. Man hörte sie leise miteinander drinnen etwas besprechen, Olaf sprach mit niemandem, und niemand sprach mit ihm; auch Kari saß schweigend neben ihm.

Nach einiger Zeit kam der Alte und sagte: »Ich dächte, es wäre Zeit, jetzt schlafen zu gehen!« Da führte Kari den Olaf durch den Gang in eine Kammer, in der er schlafen sollte. Dann ging er fort. Dunkel war's hier und schien ein unbehagliches Nachtquartier. Nun kam ein Mädchen herein und zog ihm die Regenkleider herab. Sie sprachen nicht zusammen, aber wie sie ihm die Füße abtrocknete, merkte er an ihren Tränen, daß sie weinte, und wie sie hinausging, sagte sie ganz leise: »Sei achtsam auf dich!«Dann kam Kari herein und sagte, er wolle die Nacht über bei Olaf bleiben. Aber dem Olaf schien das nicht ratsam, bat ihn, wachsam zu sein und wieder aufzustehn, legte ihm eine Axt vorne aufs Bett und sagte: »Diese wird dir, wenn's drauf ankommt, eine treue Begleiterin sein, wenn dich auch alles andere verläßt.« Dann ging er hinaus, Olaf aber stand auf und kleidete sich rasch an. Er wickelte sich



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die Bettdecke um Arme und Brust und legte sich dann wieder nieder, die Hand am Axtgriff, aber so, daß man sie nicht sah. Kurze Zeit später hörte er Stimmen und Tritte vor der Kammertür. Er stellte sich schlafend und schnarchte vernehmlich. Da öffnete sich die Tür, und der Alte kam herein mit einem großen Messer in der Hand. Der eine von den älteren Brüdern hielt das Licht in der einen Hand, in der anderen ein Messer. Nachdem sie sich umgesehen hatten, sagte der Alte: »Er schläft!«Zugleich kam er ans Bett und wollte den Olaf herunterziehen. Aber der holte rasch aus und hieb ihm mit der Axt den Kopf ab.

Da kam der Sohn, um den Vater zu rächen. Aber Olaf versetzte auch ihm sogleich einen tödlichen Streich. In dem Augenblick trat auch der andere ältere Bruder herein und war wild und böse. Olaf wollte ihn erschlagen, doch da jener waffenlos war, warf er die Axt weg. Dann rangen sie, und ihre Bewegungen waren so groß, daß das Haus zusammenzustürzen drohte. Olaf war der Schwächere und kam schließlich unten zu liegen. Jener suchte ihn zu der Axt hinzuziehen, um ihn zu töten. Aber da kam Kari herein, sah, wie es stand, packte seinen Bruder und hieß ihn loslassen. »Ich habe dir nicht so viel Gutes zu lohnen«, sagte er, »denn du wolltest mich zu einem grundschlechten Menschen machen.«Da blieb jenem nichts anderes übrig, als von Olaf abzulassen und einen Treueid zu schwören. Olaf dankte dem Kari für seine Hilfe und sagte, er habe ihm nahe Verwandte getötet, aber Kari rechnete ihm das nicht nach. Dann suchten sie Helga auf. Sie lag und weinte, nun aber wandelten sich ihre Tränen in Freudentränen. Sie war die Magd gewesen, die ihn beim Schlafengehen bedient hatte. Aber der Alte hatte hinter der Tür gestanden, um zu hören, was sie zusammen sprechen würden. Er hatte seinen Grimm kühlen und ihren Schmerz vergrößern wollen.

Ein paar Tage blieb Olaf noch da in guter Pflege, dann fuhr er heim und nahm außer Helga auch Kari und die beiden Schwestern mit. Da wollte der Bruder des Kari nicht allein mit der Alten bleiben und fuhr auch mit ihnen. Sie nahmen alles Vieh mit und was sonst an Wert war und brannten das Gehöft zu Asche. Ohne Schaden kamen sie zum Bauern Sigurd zurück. Das gab eine große Begrüßung und ein Freudenfest. Den Winter über blieb Olaf mit seinen Genossen beim Bauern. Aber im Frühling hielt er Hochzeit mit Helga. Er siedelte sich an, baute einen Hof und wurde ein großer Bauer. Er sorgte auch für die Schwestern des Kari und verschaffte ihm selbst eine Frau. Auch der Bruder des Kari



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nahm ein Weib und siedelte sich an. Kari aber und Olaf erreichten ein hohes Alter, waren hoch angesehen und blieben ihr Leben lang die besten Freunde.


Bjarni und Salwör

Ein Bauer im Skagafjord, namens Swein, hatte zwei Kinder, einen Sohn Bjarni und eine Tochter Salwör. Diese waren etwa zwanzig Jahre alt, als die Geschichte sich zutrug, und hingen mit der treuesten Liebe aneinander. Einmal wollten sie um Johanni beide mit den Leuten hinauf in die Berge, um Kräuter zu suchen. Aber in der Nacht zuvor träumte Swein, daß er zwei weiße Vögel besitze, an denen sein ganzes Herz hänge, da kam ihm das Weibchen abhanden, und er vermißte es gar sehr. Swein glaubte, der Traum bedeute den Verlust seiner Tochter und wollte sie nicht mit zum Kräutersammeln ziehen lassen. Sie aber bat so lange, bis der Vater nachgab. Nun sammelten sie im Gebirge den ersten Tag ihre Kräuter wie alle andern, dann aber wurde Salwör plötzlich krank, und Bjarni saß drei Tage bei ihr, am vierten aber überließ er die Hut einem andern, ging allein hinaus und setzte sich betrübt unter einen Stein. Nicht lange, da hörte er Hufschlag und zwei Reiter kamen auf ihn zu, der eine rotgekleidet auf einem Fuchs, der andere dunkel auf einem Braunen. Sie grüßten ihn bei seinem Namen, und der Rotrock fragte ihn nach dem Grund seiner Betrübnis und danach, ob er ihm nicht seine Schwester geben wolle. Und als Bjarni das nicht wollte, zog er eine kostbare Dose hervor und wollte um sie die Schwester kaufen. »Nein«, sagte Bjarni, »ich gebe sie dir nimmermehr, was du mir auch bietest.« Da gab ihm der Rotrock die Dose wenigstens zur Erinnerung, und darauf trennten sie sich.

Am folgenden Tage gingen die Skagafjordleute zurück und die Geschwister blieben allein im Gebirge. Bjarni fürchtete, die beiden Fremden könnten ihm die Schwester stehlen, und wagte es nicht mehr zu schlafen. Aber in der Nacht übermannte ihn die Müdigkeit, er schlief an ihrer Seite ein, indem er sie fest umarmt hielt -aber als er erwachte, war Salwör fort. Und alles Suchen von Bjarni und dann auch von den andern Leuten war und blieb vergebens.

Nach zehn Jahren, als Bjarni längst verheiratet und selbst Bauer geworden war, verschwand einmal im Herbste all sein Vieh. Schließlich ließ sich Bjarni von seiner Frau Proviant und Schuhe geben und machte



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sich selbst auf die Suche. Am Morgen des vierten Tages geriet er in dichten Nebel und verirrte sich gänzlich. Endlich traf er in einem Tale einen schönen großen Hof. Die Leute waren vor der Umhegung mit Mähen beschäftigt, aber ein junges schönes Mädchen, das dem Bjarni gar sehr seiner Schwester Salwör zu ähneln schien, führte ihn in den Hof. In einem großen schönen Zimmer trug sie ihm Wein und Speise auf, führte ihn sodann in ein kleines Haus, wo sein Bett schon bereit stand, zog ihm die Regenkleider ab und wünschte ihm gute Nacht. Am andern Morgen erwachte er durch die Hausandacht, die die Leute über seiner Schlafkammer abhielten, und in einer der singenden Stimmen glaubte er die seiner Schwester Salwör wiederzuerkennen. Dann schlief er wieder ein und erwachte erst wieder, als ihm das Mädchen vom Abend zuvor gute Kleider brachte, weil es heute doch Sonntag sei. Während er sich anzog, kam ein hübsch in grünes Tuch gekleideter Knabe herein, unterhielt sich zutunlich mit ihm und sagte, er müsse heute dableiben, »denn mein Vater gedenkt heut Kirche zu halten«. Der Knabe hieß Swein, aber das Mädchen wies ihn zurecht und brachte dem Bjarni sein Frühstück. Dann führte ihn der Knabe zur Kirche. Bjarni nahm Platz, und wie er sich seinen Nachbar beschaute, so war das der Rotrock. Und der Geistliche war der von dazumal in den dunklen Kleidern. Die Leute in der Kirche waren groß und von üblem Aussehen, meist in Kleidern aus schwarzer Schafwolle. Bjarni zog seine kostbare Dose und bot seinem Nachbarn eine Prise, die nahm dieser an. Vorn in der Kirche saß eine schön geschmückte Frau, und Bjarni meinte, daß das seine Schwester sei. Sie sahen einander an, und es schien ihm, daß sie abwechselnd bald weine, bald lache. Da wußte Bjarni, daß er hier bei seiner Schwester war. Der Gottesdienst ging schön vonstatten, und der Knabe führte den Bjarni wieder hinaus. Ein böser Alter saß vor der Tür und streckte ein Bein vor, so daß Bjarni stolperte. Da holte der Knabe den Rotrock herbei, und der prügelte den Alten tüchtig durch. Den Bjarni führte der Knabe heim.

Nach einiger Zeit kamen der Rotrock und der Schwarzrock und fragten ihn freundlich, ob er sie wiedererkenne. Er sagte ja, da kam auch die Frau herein, die er für die Schwester gehalten hatte, umarmte ihn und sagte: »Im Mutterleibe waren wir zusammen, und weinend wurde ich aus deinem Arme genommen; jetzt komme ich lachend dahin zurück, mein Bruder!« Da geschah nun eine freudige Begrüßung, und der Rotrock sprach: »Ich war es, der deine Schwester dir aus dem Arm



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nahm und sie diesem Schwarzrock gab. Er ist mein Sohn und unser Pfarrer hier im Tale; ich aber bin der Statthalter. Ich habe dein Vieh entführt und dich hierher gelockt, damit ihr Geschwister euch wiedersehen möchtet. Morgen gebe ich dir dein Vieh zurück und werde dich begleiten.«Am andern Morgen schieden die Geschwister voneinander; auch der Schwarzrock begleitete den Bjarni bis an das bewohnte Land. Sie versprachen, einander gute Freundschaft zu halten, und der Schwarzrock sagte, im Frühjahr werde er nach ihm senden, er möge sich um die Zugtage zur Reise rüsten, »denn du sollst hier bei uns im Tale wohnen!«

Bjarni hieß daheim seine Leute über alles schweigen, was er ihnen erzählte. Und wirklich, als im Frühjahr die Zugtage kamen, erschienen drei Männer mit Lastpferden bei Bjarni. Bei Nacht zog er mit seinem ganzen Hauswesen ab, mit Weib und Kind und Eltern. Sie erreichten glücklich das Tal und wurden freudig begrüßt. Lange lebte Bjarni hier. Aber als er alt wurde, kehrte er in den Skagafjord zurück und hat dort vor seinem Tode die ganze Geschichte erzählt.


Die Kindtaufe

Einmal sind auch die Leute von Reykholar zum Kräutersammeln ausgezogen, und es kam ein starker Nebel auf, und ein Mädchen verschwand. Sie wurde auch den ganzen Sommer nicht wiedergefunden. Da baten die Leute einen Hexenmeister, er sollte mit seinen Zauberkünsten ermitteln, wohin das Mädchen geraten sei, und sie wiederbringen. Er brachte es auch zustande, und fortab ließ der Pfarrer, der ihr Dienstherr war, das Mädchen niemals mehr allein bleiben. Aber einmal wurde sie allein zur Kirche geschickt. Dem Pfarrer ahnte nichts Gutes, und wie er kurz darauf nach ihr suchte, war das Mädchen wieder verschwunden. Der Pfarrer schaute sich um. Da sah er einen Mann in rotem Mantel reiten, der hatte das Mädchen hinter sich auf dem Pferde. Die Zeit verging, und niemand hörte etwas von dem Mädchen. Da erschien der Pfarrerin von Reykholar einmal im Traum jener Mann, der das Mädchen entführt hatte. Er sagte ihr, seine Frau ließe sie grüßen und bitte darum, daß das Kind getauft werde, das sie, wenn sie erwacht sei, in einer Wiege vor der Kirchentür finden werde, und das Meßgewand, das über der Wiege liege, solle der Pfarrer als Taufgeld behalten.



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Als die Pfarrerin erwachte, fand sie alles so, wie es ihr der Huldermann im Traum beschrieben hatte: die Wiege mit dem Kind an jener Stelle und ein kostbares Meßgewand nebst einem leinenen Hemd. Der Pfarrer taufte das Kind, dann legten sie es wieder in die Wiege, so wie sie es gefunden hatten. Das Meßgewand behielt der Pfarrer, das leinene Hemd aber legten sie wieder auf die Wiege. Bald darauf war die Wiege mit dem Kinde verschwunden, aber das leinene Hemd war liegengeblieben.


Die sprechenden Schiffe

Zuweilen hört man ein Knarren im Schiff, auch wenn Windstille ist und das Schiff im Schuppen steht. Das ist die Sprache der Schiffe, die können nur wenige verstehen. Aber einmal war ein Mann, der verstand die Schiffssprache. Er kam an die See, wo zwei Schiffe lagen, und da hörte er, wie das eine sagte: »Lange sind wir nun zusammen gewesen, aber morgen wird es dazu kommen, daß wir uns trennen müssen!« — »Das wird niemals geschehen, daß wir uns trennen«, sagte das andere Schiff, »wir sind nun dreißig Jahre zusammen gewesen und sind alt geworden; wenn aber eins untergehen soll, dann werden wir beide untergehen.« — »Und dennoch kommt es nicht so. Gut ist das Wetter heut abend, aber morgen wird es anders sein, und es wird niemand rudern außer deinem Kapitän, ich aber werde zurückbleiben und ebenso alle andern Schiffe. Du aber wirst fahren und niemals wiederkommen, und wir werden hier niemals wieder zusammenliegen.« — »Das wird nicht geschehen, und ich werde mich nicht von der Stelle rühren.« — »Du wirst dich dennoch von der Stelle rühren müssen, und es ist diese Nacht die letzte, die wir hier beisammen sind.« —»Niemals werde ich mich von der Stelle bewegen, außer mit dir zugleich.« —»Das wird dir nichts helfen.« —»Es müßte denn der böse Feind selber hinzukommen!«Danach sprachen die Schiffe so leise, daß der Lauscher an der Wand nichts mehr hören konnte.

Am andern Morgen war das Wetter sehr schlecht, und keiner wollte fahren außer einem Kapitän und seiner Schiffsmannschaft. Sie gingen an den Strand und viele mit ihnen, die aber schließlich lieber nicht fahren wollten. »Eure Lederkleider im Namen Jesu«, sprach der Kapitän, wie es üblich ist. Die Matrosen gehorchten. »Schieben wir das Schiff vorwärts im Namen Jesu«, sprach wiederum der Kapitän, wie man's



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gewöhnt war. Sie griffen zu, aber das Schiff rührte sich nicht vom Fleck. Da rief der Kapitän einige andere Matrosen, die dabei standen, zu Hilfe, aber das nützte nichts. Da rief er alle Leute, die da waren, auf und einer stellte sich hinter den andern, und wieder sprach der Kapitän: »Schieben wir das Schiff«, und fügte die gleiche Bestimmung hinzu wie vorher. Aber das Schiff bewegte sich trotzdem nicht. Da rief der Kapitän ganz laut: »Schiebt das Schiff im Namen des Bösen.« Da lief das Schiff vorwärts, und zwar so mächtig, daß es nicht mehr zu halten war, und hinaus auf die See. Die Schiffsleute hatten Mühe genug; dann fuhren sie los. Aber man hat dieses Schiff niemals mehr wieder gesehen und auch nichts mehr von denen gehört, die darauf waren.


Die Mühle, die alles mahlt

Es wohnte einmal ein reicher Mann auf einem großen Gehöft; er hatte eine Frau und zwei Söhne, die selber schon verheiratet waren zu dieser Zeit. Der eine war reich wie sein Vater und hatte vier Kinder; der andere war arm und lebte meist nur von dem, was er aus der väterlichen Wirtschaft empfing. Da starb der Vater und die Söhne teilten das Erbe. Der reiche nahm den Hof und fast alle andern Güter, denn er meinte, der Bruder habe das Seinige längst schon aufgegessen. Er wohnte nun auf dem Gehöft, und der arme Bruder kam dann und wann aus dem Vorwerk, um sich das Nötigste zu erbitten wie vorher bei den Eltern. Meist gab ihm der Bruder etwas, wenn auch eben nicht gern, und fristete ihm und seinem Weibe so das Leben.

Einmal hatte nun der reiche Bauer einen fetten Ochsen geschlachtet, und der arme freute sich schon, daß er etwas davon bekäme. Sein Weib lachte ihn aus und sagte, er würde nichts anderes als Schimpfworte erhalten. Er ging aber doch hin, der Ochse war schon zerlegt, der reiche Bruder lief auf und ab dabei. Da bat ihn der arme um etwas Suppenfleisch. Der reiche war sehr unwillig und wollte ihm von seinem Ochsen nichts abgeben. Als jener aber gar nicht aufhörte zu betteln, nahm er die eine Ochsenkeule und warf sie ihm zu mit den Worten: »Fahr du zum Teufel mit der Keule da!«Jener nimmt die Keule und geht heim; sein Weib wollte sie gleich in den Topf bringen. Aber der Mann sagte, er müsse damit zum Teufel gehen, erzählte, wie er sie erhalten habe, und erbat Proviant und neue Schuhe für die Reise. Die Frau schalt ihn



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einen Narren, aber schließlich mußte sie ihn ausrüsten, so gut sie konnte. Er wanderte lange, lange, ohne zu wissen wohin. Da kam ein Mann und fragte ihn, wohin er mit der Ochsen keule wolle, und als er es ihm sagte, fragte er ihn wieder, ob er denn wisse, wo der Teufel sei. Da er das nicht wußte, gab ihm der Fremde ein Knäuel, das solle er an dem einen Ende festhalten, dann werde es vor ihm her bis zu einem Hügel laufen. Er gab ihm auch eine Gerte, mit der solle er an den Hügel schlagen. Da werde sich der Hügel öffnen, er solle die Keule hineinwerfen, selber aber der Öffnung nicht zu nahe kommen. Aus der Öffnung würden zwei Handmühlen heraufkommen, die eine weiß, die andere schwarz; die weiße solle er nehmen, die andere aber nicht beachten. Dann solle er wieder den Knäuel vor sich herlaufen lassen und mit der weißen Mühle heimgehen.

Der arme Bruder dankte dem Fremden, wanderte weiter, und es ging nun alles so, wie es jener gesagt hatte. Er warf die Ochsenkeule in die Öffnung des Hügels und sagte dabei: »Hier hast du die Keule, Teufel; mein Bruder schickt sie dir!« Er ging mit der weißen Mühle von dannen, und der Knäuel führte ihn wieder zu dem Fremden. Der sagte ihm, nun müsse er ein schönes Mahlhaus um die Mühle bauen, dann werde sie von selber mahlen, er müsse nur sprechen:

»Mahle du weder Malz noch Salz,
und mahle im Namen des Herrn!«


***
Dann trennten sie sich; es war aber der fremde Mann ein Engel gewesen. —Der arme Bruder kam wieder nach Hause, zimmerte ein prächtiges Mahlhaus, und die Mühle mahlte nun alles, Speisen und was sie sonst zum Leben brauchten. Einmal aber kam der Mann auf den Gedanken, sich Gold mahlen zu lassen. Er sagte den Spruch, und die Mühle mahlte pures Gold. Da wurde er in kurzer Zeit ein reicher Mann, und nun wollte er sein Gold, obwohl sein Weib das für töricht und überflüssig hielt, mit einem Scheffelmaß messen. Da sie selbst keins hatten, ging er zu seinem Bruder, eins zu holen. Der gab es ihm auch, aber des Bruders Frau wollte wissen, was jene zu messen hätten, und hatte vorher Harz hineingeschmiert, und als sie es wieder zurück erhielt, sah sie, daß überall Goldsand hängen geblieben war. Sie sagte das ihrem Mann; dem war auch schon aufgefallen, daß der Bruder solange nicht betteln gekommen war, daß sie wohlgenährt aussähen und sich


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ihre Schafhürden auch schon vergrößert hatten. Er ging zu seinem Bruder, und der erzählte ihm nun alles der Wahrheit gemäß, wie er zu der Mühle gekommen sei.

Da setzten es sich der reiche Bauer und sein Weib in den Kopf, in den Besitz der Mühle zu gelangen. Sie wollten dem armen das ganze Gehöft dafür geben, alsdann sich ein Schiff kaufen und mit der Mühle außer Landes gehen. Schließlich ging der Mann seinem Bruder zuliebe auf den Handel ein und bezog das Gehöft. Jene aber fuhren mit der Mühle auf dem gekauften Schiff ab. Sobald sie ein Stück gefahren waren, wollten sie Speise mahlen lassen, und der Mann sagte den Spruch:

»Mahle du weder Malz noch Salz,
und mahle im Namen des Herrn.«


***
Aber die Mühle stand still, was er auch tat und sprach. Da ward er zornig über die Mühle und sprach voller Wut:
»Mahle du beides, Malz und Salz,
und mahle in des Teufels Namen!«


***
Da fing die Mühle an und mahlte beides, Malz und Salz, bis das Schiff zum Sinken überladen war. Sie ließ sich durch nichts zum Stillstehen bringen, und schließlich ist das Schiff untergegangen mit allem, was darauf war, und ward niemals wiedergesehen. Der Teufel war erfreut über die sechs Seelen, die ihm der Handel eingebracht hatte, aber der andere Bruder führte fortab mit seiner Frau ein frommes und Gott wohlgefälliges Leben.


Die rechte Braut

Einmal regierte ein König über ein Land, niemand kennt seinen Namen und niemand weiß, wie sein Land hieß. Er war verheiratet und hatte eine Tochter, die Isol hieß. Sie war sehr schön. In demselben Reich lebte ein Herzog. Er hatte einen Sohn, der Fertram hieß. Er wuchs auf am Königshof und spielte oft mit Isol, solange sie klein waren, und sie liebten einander sehr. Als sie älter wurden, verlobten sie sich mit Wissen der Eltern.

Aber nun kam das große Unglück: die Königin wurde krank und starb.



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Der König trauerte sehr um sie und saß lange auf ihrem Grabhügel, bis schließlich seine Minister sagten, das führe zu nichts und er müsse auf die Regierung acht geben, sonst gerate im Reiche alles in Unordnung. Auch wollten sie gern auf die Reise gehen und ihm wieder eine passende Frau suchen. Sie beredeten ihn auch schließlich, und er hieß sie, alles in Bereitschaft zu setzen zur Fahrt, und das taten sie auch, so schnell sie nur konnten.

Sie fuhren ab, und der Wind war gut am ersten Tage; dann aber hatten sie starkes Nebelwetter und irrten den ganzen Sommer über herum, bis sie vor dem Steven etwas Schwarzes zu sehen bekamen; dorthin fuhren sie und stiegen ans Land. Sie wanderten weit herum und sahen, daß es eine Insel war. Dort fanden sie auch ein schönes Haus, da war ein Mann an der Tür und spaltete Holz, und zwei Frauen saßen auf Stühlen, eine altere und eine jüngere. Die ältere war gerade dabei, sich ihr goldenes Haar mit goldenem Kamme zu kämmen; sie strich sich das Haar vor den Augen fort, als sie die Männer hörte. Sie begrüßten die Frauen freundlich und fragten, warum so wenig Leute auf der Insel seien. Die ältere der beiden Frauen antwortete ihnen freundlich und fragte, was sie auf ihrer Reise ausrichten wollten. Sie erzählten nun alles, genau wie es war. »Genauso ist es uns ergangen«, sagte die Frau, »gerade kürzlich verlor ich meinen König, da Wikinger ins Land kamen und ihn erschlugen, während ich mit meiner Tochter und meinem Knecht hierher mich flüchtete.« Sie baten sie, mitzufahren und die Frau ihres Königs zu werden, sie aber meinte, ihr König sei ja nur ein ganz kleiner König; der König aber, den sie hatte, habe über zwanzig gekrönte Könige regiert, und so wäre es eine Schande für sie, ihn zu heiraten. Sie baten sie nun desto heftiger, mitzukommen, und schließlich gab sie nach und schenkte dem Knecht das Haus mit allem, was drinnen war.

Daraufhin fuhren die Minister mit ihr und ihrer Tochter ab, sie hatten gutes Wetter und waren nur kurz unterwegs. Als der König sie kommen sah, ließ er sich im goldenen Wagen zum Strande fahren. Die Königin saß neben ihm, und sogleich faßte er große Liebe zu ihr. Sie fuhren heim zur Burg, richteten ein großes Hochzeitsfest und luden alle großen Fürsten ein aus nachbarlichen Ländern und Königreichen. Es wurde viel getrunken und reiche Geschenke bekamen die Gäste, und es fuhren die reich heim, die arm hingekommen waren. Sie kehrten alle wieder in ihre Heimat zurück, und die Königin übernahm alle ihr gebührenden Würden.



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Ihre Tochter hieß Isol, genauso wie die Königstochter, aber sie kam den Leuten nicht so schön vor, und sie nannten sie zum Unterschied von jener, die Isol Blondhaar hieß, Isol Schwarzhaar. Isol Blondhaar, die Königstochter, war in ihrem Frauenhause mit ihren Dienerinnen, von denen nur zwei dem Namen nach bekannt sind, Eya und Meya. Sie gingen immer ganz dicht hinter der Königstochter und begleiteten sie selbst dann, wenn sie in ihrem Obstgarten spazierenging.

Eines Tages -kurze Zeit danach -hatte der König das Bedürfnis, seine Länder zu besuchen, und fuhr mit viel Schiffen ab, so daß nur wenige Leute daheim blieben. Als er fort war, kam die Königin zu Isol Blondhaar und fragte, ob sie mit wolle in den Wald zu einem Spaziergang. Sie sagte ja und kam nebst ihren beiden Dienerinnen, Eya und Meya, mit. Isol Schwarzhaar ging auch mit ihnen. Sie gingen nun weit in den Wald hinein, bis sie zu einer Grube kamen. Sie hatten die Grube im Rücken, und als sie sich dessen am wenigsten versahen, stießen Mutter und Tochter alle drei Mädchen in die Grube, und die war wunders wie tief. Da sagte die Königin zur Königstochter, nun könne sie Fertram zum Manne bekommen. Daraufhin gingen Mutter und Tochter wieder heim zur Burg und die Königin ließ ihre Tochter in die Kleider der Königstochter fahren und sich ins Frauenhaus setzen, sodaß alle dachten, sie sei auch wirklich die Königstochter; nur wenige sagten, man sehe die Tochter der Königin nicht mehr, aber wenige meinten, daß damit etwas Wichtiges verloren wäre.

Es geschah nun nichts, bis der König wieder heimkam von seiner Reise. Da fuhr ihm die Königin entgegen, um ihm zu sagen, man möchte doch die Hochzeit von Fertram und der Königstochter Isol nicht länger hinausschieben. Der König war einverstanden, ließ ein großes Hochzeitsmahl herrichten und lud viele große Fürsten dazu ein.

Aber an demselben Morgen, als die Hochzeit sein sollte, kam die Tochter der Königin zu ihrer Mutter und sagte, daß es ihr schlecht gehe, denn nun sei es gerade an der Zeit, daß sie ihr Kind bekomme, das sie unter ihrem Herzen trage von dem alten Knecht Kol. »Da weiß ich dir einen guten Rat«, sagte die Königin, »in der Küche ist ein Mädchen namens Näfrakolla; geh zu ihr und bitte sie, sich für dich auf die Brautbank zusetzen.« —»Glaubst du nicht, sie wird schwatzen?«fragte Isol. Die Königin aber sagte, sie werde sich schon darum kümmern, daß sie nicht mehr erzähle, als sie wolle. Sie ging nun in die Küche, fand Näfrakolla dort und bat sie, an ihrer Stelle zur Hochzeit zu gehen, da sie



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selbst nicht könne. Näfrakolla sagte zu und ging auf die Burg zur Königin. Sie fing gleich an, ihr die Brautkleider anzulegen. Als sie sich aber anschickte, ihr die Reitärmel anzuziehen, da sagte Näfrakolla:
»Gut passen die Ärmel
Der, zu der sie gehören.«


***
Die Königin sagte, das wüßten ja alle, daß sie selbst sie genäht habe. Dann wurden ihr die Handschuhe gegeben und sie sagte:
»Wohl kannt ich die Finger,
Die vordem sie genäht.«


***
Da sagte die Königin, was sie vorher gesagt hatte, und sie solle nicht so viel schwatzen über all das. Dann machten sie einen Spazierritt in den Wald, aber als sie an einen Bach kamen, da sagte Näfrakolla:
»Nun bin ich gekommen zu jener Linde,
Da Fertram und Isol Blondhaar
Einst sich Treue geschworen.
Er wird wohl auch heute sie halten.«


***
Und sie ritten noch weiter und kamen zu einer Grube, da sagte wiederum Näfrakolla:
»Hier liegen Eya und Meya,
Meine beiden Dienerinnen,
Ich kam heraus mit der Goldschere meiner Mutter.«


***
Nun kehrten sie wieder um, und das Pferd der Braut ging durch. Da sagte sie:
»Schüttle dich, schüttle dich, Skurbein!
Allein wirst du schlafen heut nacht,
Und so wird's auch dem jungen König ergehn.«


***
Sie kamen zur Burg. Isol war inzwischen niedergekommen, sie wechselte wieder ihre Kleider mit Näfrakolla, und nur die Königin wußte


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davon. Sie fragte ihre Tochter, was sie mit dem Kinde gemacht habe. »Ich habe es gegessen, meine Mutter«, sagte sie. »Das war recht, meine Tochter«, sagte die Königin. Am Abend gingen die Leute schlafen, der Bräutigam hatte sich schon niedergelegt, und die Braut wollte sich eben entkleiden, da fragte er sie, was sie denn gesagt habe, als ihr die Ärmel angezogen wurden. »Ich wüßte nicht, daß ich etwas Wichtiges gesagt habe, ich weiß es nicht mehr«, sagte Isol, »aber ich kann ja die Königin mal danach fragen.«Sie ging fragen, was denn das niederträchtige Ding gesagt habe, als sie die Ärmel angezogen bekam vor dem Ritt in den Wald. Da sagte die Königin, sie habe gesagt:
»Gut passen die Ärmel
Der, zu der sie gehören.«


***
Sie ging und sagte die Worte dem Bräutigam und zog sich weiter aus. Da fragte er wieder, was sie denn beim Anziehen der Handschuhe gesagt habe. »Das wird nichts Wichtiges gewesen sein«, sagte sie. »Aber du wirst es mir sagen«, sagte er, »sonst kommst du nicht ins Bett hinauf.« Da ging sie wieder zur Mutter und fragte, was das Mädchen gesagt habe, als sie die Handschuhe anzog. Sie sagte:
»Wohl kannt ich die Finger,
Die vordem sie genäht.«


***
Sie ging nun wiederum zu ihm und sagte ihm das und zog sich weiter aus, er aber fragte zum drittenmal, was sie denn gesagt habe bei der Linde und bei der Grube und an der dritten Stelle, da, wo das Pferd durchging. »Das weiß ich nicht mehr«, sagte sie, »es kann nichts Wichtiges gewesen sein.« — »Du wirst mir das alles sagen«, sagte er. Sie lief wieder zu ihrer Mutter und fragte sie nach alledem. Die sagte es ihr: »Als sie zur Linde kam, hat sie gesagt:
>Nun bin ich gekommen zu jener Linde,
da Fertram und Isol Blondhaar
Einst sich Treue geschworen.
Er wird wohl auch heute sie halten.«


***
Als sie zur Grube kam, hat sie gesagt:


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'Hier liegen Eya und Meya,
Meine beiden Dienerinnen.
Ich kam heraus mit der Goldschere meiner Mutter.<


***
Beim drittenmal, als das Pferd durchging, hat sie gesagt:
>Schüttle dich, schüttle dich, Skurbein!
Allein wirst du schlafen heut nacht,
Und so wird's auch dem jungen König ergehn.<«


***
Nun kam sie zurück und sagte ihm das alles und dachte, sie dürfe nun ins Bett. Da nahm er sein Schwert, das oben am Bettpfosten hing, durchstieß sie damit und sagte, das solle so sein, daß er heute nacht allein schlafe. Da kam die Königin dazu und sah, was da geschah. Sie wurde eine Unholdin, da erschlug er auch sie schnell mit seinem Schwerte. Dann schickte er gleich nach Näfrakolla und sie mußte alles erzählen, wie es gewesen war. Da freute sich der König sehr, daß er die Unholdin los war, und das Festmahl fing noch einmal von vorne an:
»Da gab's auf den Tischen
Pfauen in Pfeffer,
Gesalzenen Seefisch,
Minyan und Tinyan
Und viel Gutes.
Da ward getrunken
Primet und Klaret
Und Garganuswein.
Goldkisten zog man auf den Estrich
Und beschenkte die Gäste;
Reich zogen sie heim,
Die arm gekommen waren.
Fertram wurde König, als dieser starb;
Sie hatten Kinder und Nachkommen,
Gruben Wurzeln und Kräuter,
Und nun geht das Märchen nicht mehr weiter.«


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Auf, meine sechs, in Jesu Namen!

An einem Herbsttag fuhren sechs Mann auf Schafsuche, ihr Anführer war stark und beherzt. Als sie ganz weit entfernt waren, überfiel sie ein Unwetter, sie verirrten sich und wußten nicht mehr, wo sie waren. Nach langer Zeit merkten sie, daß es bergab ging. Sie kamen in ein kleines Tal, stießen auf einen Hof und klopften an die Tür. Ein alter Mann kam heraus, häßlich und böse von Ansehen. Er sagte, das sei etwas Neues, daß Leute herkamen und herumspionierten, und sah sie unfreundlich an. Ihr Anführer sagte, wie es sich mit ihrer Reise verhielt, drängte hinein und seine Gefährten mit ihm, ohne daß der Alte es erlauben oder verbieten konnte. Nachdem sie eine Zeitlang gesessen hatten, wurde ihnen Fleisch auf Schüsseln gebracht von einer Frau, die jung war, aber sehr traurig aussah. Der Alte stand inzwischen in der Zimmertür. Sie sagte ganz leise: »Eßt von der abgewendeten Seite!« Es schien ihnen Hammelfleisch auf der einen, auf der andern Seite aber Menschenfleisch zu sein. Dann räumte das Mädchen ab und zog ihnen die Regenkleider aus. Dabei sagte sie wieder ganz leise: »Nehmt euch in acht, behaltet die Unterkleider an und schlaft nicht!«

In der Nacht schien der Mond. Der Anführer lag in einem Bett, auf das der Schatten fiel. Er sagte zu seinen Gesellen, sie sollten sich nicht rühren, was auch vorfallen möge, bevor er sie rufe. Nach einer kleinen Weile kam der Alte herein, ging zu dem Bett des einen, befühlte ihn an der Brust und sagte: »Magere Brust, kraftlos!« Er befühlte sie alle und murmelte immer das gleiche. Zuletzt kam er zu dem Anführer, befühlte ihn und sagte: »Fette Brust, wacker!« Dann griff er schnell nach einer Axt im Winkel und drehte sich wieder nach dem Bett des Anführers. Dieser sah alles kommen, wand sich aus dem Bett herunter, und der Alte hieb in das Bett statt in ihn. Da packte der Mann die Axt und entriß sie dem Alten. Da schrie der Alte: »Auf, meine zwölf, in des Teufels Namen!«Aber der Mann schlug ihm die Axt in den Kopf, daß sie im Hirne stak und er fiel, und er rief: »Auf, meine sechs, in Jesu Namen!«Da öffnete sich die Tür im Estrich und ein Mannskopf tauchte auf. Er hieb ihn ab und tötete so alle zwölf in der Kellertür. Dann holten sie das Mädchen. Sie war eine Bauerntochter aus dem Eyafjord, der Alte hatte sie gestohlen und sie hatte seinen ältesten Sohn heiraten sollen. Sie aber hatte nicht gewollt, weil sie Menschenfresser waren. Viel Schätze fanden sich dort und viel Schafe im Tal. Der Anführer blieb mit



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dem einen Mann den Winter über da, um das Vieh zu pflegen. Im Frühjahr brachten sie alles fort, und der Anführer gründete eine große Wirtschaft im Norden und das Mädchen nahm er zur Frau. Sie lebten glücklich und lange.


Ingeborg und ihre gute Stiefmutter

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder und wünschten sich doch so sehr, Kinder zu haben. Da ging die Königin einmal spazieren, und es lag viel flockiger Schnee draußen. Sie blutete aus der Nase, und da wünschte sie sich ein Töchterlein, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Beim König war ein Knecht mit Namen Surt. Er hörte, was die Königin gesagt hatte und legte ihrem Wunsch die Zauberworte bei: »und du sollst einen tödlichen Haß auf sie haben!« Die Zeit verstrich und es geschah nichts Besonderes. Bald aber merkte die Königin, daß sie mit einem Kinde ging. Als die Zeit der Geburt heranrückte, bat sie ihren Mann, ihr zu versprechen, das Kind zu beseitigen, sobald es geboren sei. »Deine Bitte soll dir nie erfüllt werden«, sagte der König. Die Königin gebar alsbald ein Kindlein, und es war ein bildschönes Mädchen und wurde Ingeborg genannt. Der König ließ ihr ein Frauenhaus bauen, gab ihr eine Pflegemutter, der er das Kind anvertraute. Das nun gefiel der Königin gar nicht. Das Mägdlein wuchs auf und ward so schön, daß die Leute nie etwas Schöneres gesehen hatten. Eines Tages wurde die Königin krank, und da sie an ihrem Aufkommen zweifelte, ließ sie ihre Tochter rufen und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was keiner hören konnte. Danach starb die Königin, sie wurde im Hügel beigesetzt, und der König trauerte gar sehr um sie. Ingeborg aber ging in ihr Kämmerlein und weinte immerfort.

Nun erzählt das Märchen von einem Jan, der nicht weit von dem Königreich auf einer Insel wohnte. Er hatte eine Tochter, die hieß Hild. Der König warb um diese Jaristochter, bekam sie und feierte in seiner Halle ein schönes Hochzeitsfest, aber Ingeborg war nicht dabei. Sie saß in ihrem Kämmerlein und weinte.

Einmal ging die junge Königin zur Kammer Ingeborgs, klopfte an die Türe und bat sie aufzuschließen. Das tat diese auch. Die Königin bat sie, mit ihr hinaus in den Wald zu gehen. Ingeborg war nicht dafür, und erst nach langer Bedrängnis kam es so weit, daß sie beide in den Wald



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gingen. »Nun, bitte, sag' mir«, sagte die Königin, »was dir Kummer macht und dich so sehr bedrückt.« Ingeborg wollte es ihr durchaus nicht sagen, so oft auch die Königin danach fragte. Schließlich kamen sie zu einem großen Fluß, und da sagte die Königin: »Wenn du mir nicht sagst, warum du immerfort weinen mußt, dann werde ich dich in den Fluß stoßen.« Da war der Ingeborg doch ihr Leben lieber und sie erzählte, ihre Mutter habe sie dazu verflucht, daß sie im Hause ihres Vaters ein Kind bekommen, einen Mann töten und ihres Vaters Schloß verbrennen solle. »Das soll dir keinen Kummer mehr machen«, sagte die Königin, »ich werde dir aus dieser Not helfen. Sage dem Knecht Surt, du hättest eine schöne Pflanze auf der Meeresklippe gesehen und er möge sie dir holen. Wenn er so hoch auf die Klippe gekommen ist, daß er nicht weiter hinauf kann, dann laß das Seil los, so daß er ins Meer fällt.«

Ingeborg hörte auf den Rat und tötete so den Surt, dann ging sie heim. Als die Königin mit dem König ins Gespräch kam, sagte sie: »Du sitzest immer seelenruhig in deiner Burg, König, und gehst nie in den Wald spazieren, wie das andere Könige machen.« Der König sagte, er wolle gern in den Wald gehen, wenn sie das so wünsche, und ging auch mit all seinen Leuten eines Tages hinaus. Die Königin teilte dies der Ingeborg mit, ließ ihr helfen, alle Kostbarkeiten aus der Königshalle hinauszuschaffen und legte dann Feuer an die Burg. Dann gab sie der Ingeborg ein Knäuel. Das solle sie in den Wald hinausrollen lassen, es werde vor der Tür einer Hütte haltmachen. Wenn sie dahin komme, solle sie dafür sorgen, daß sie den Bewohner der Hütte eher sehe als er sie. »Aber wenn du von mir träumst, dann komme ganz schnell zu mir«, sagte die Königin. Nun ging Ingeborg in den Wald und kam schließlich zur Hütte, sie trat hinein und stellte sich hinter die Tür. Nach einer geraumen Weile kam ein großer Riese in die Hütte. Er trug einen Bären auf dem Rücken und warf ihn auf den Estrich. Da sah er Ingeborg, sie stand aber so, daß sie ihn zuerst gesehen hatte. Ingeborg bat den Riesen im Namen ihrer Stiefmutter, sie einige Nächte hierbleiben zu lassen. Er erlaubte es und sagte, sie solle nur weiter in die Hütte hereinkommen. Sie sah nun ein riesengroßes aufgedecktes Bett und ein kleines darunter, und dieses war kreisrund.

Der Riese fragte sie, ob sie lieber bei ihm oder bei seinem Hunde schlafen wolle. Sie wollte lieber beim Hunde schlafen und blieb nun dort einige Nächte in der Hütte. Eines Nachts wachte sie auf und hörte ein



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heftiges Dröhnen, das war so schrecklich, daß man hätte denken können, die Erde springe auseinander. Dann sah sie ein großes Ungeheuer in Menschengestalt in die Hütte kommen; dieses hatte eine Haube aus Ochsenhaut, steckte in Hosen von Pferdehaut und hatte eine Weste an aus der Haut eines Eishaifisches. Sein Schädel war häßlich geformt, er hatte eine krumme und schiefe Nase, kohlpechrabenschwarzes Haar und ebensolche Haut. Der Rachen war ganz schief, und ein großer Zahn ragte daraus hervor. Ober dieses furchtbare Gesicht war Ingeborg so erschrocken, daß sie in das Bett des Riesen hineinsprang.

Dann träumte sie von der Königin und der Riese weckte sie; sie ging sofort aus der Hütte fort und eilte zur Königsburg hin. Als sie dahin kam, sah sie die Königin in einem seidenen Hemd auf einem Scheiterhaufen sitzen. Da sprang sie zum Scheiterhaufen hin, stieß einige Knechte auf den Scheiterhaufen zu, nahm die Königin bei der Hand und führte sie aufs Schloß. Sie schalt ihren Vater und sagte, er lohne es der Königin schlecht, da sie ihr in ihrer Not habe helfen wollen, sie von ihrem schicksalsschweren Zauber zu lösen. Da sagte der König, das habe er nicht gewußt, er habe im Gegenteil geglaubt, die Königin habe sie mit dem Schlosse verbrannt. Es verging nun einige Zeit.

Da kam eines Tages ein prächtig gekleideter Mann auf rotem Pferd zur Burg geritten, hielt um Ingeborg an und bekam sie auch. Dann wurde ein schönes Hochzeitsfest gefeiert.

Kurz darauf gebar sie ein Kindlein, und nun wußte sie, daß ihr Mann der Vater ihres Kindleins und der Riese in der Hütte war. Er war dort verzaubert gewesen und war der Bruder der Königin. Sie liebten einander bis in ihr hohes Alter und bekamen nach dem Tod des Königs das Reich und allen Reichtum.


Der Mann von Grimsö und der Bär

Einmal verlosch auf der Insel Grimsö im Winter das Feuer, so daß man in keinem Hofe mehr solches hatte. Der Winter war windstill und sehr kalt, der Sund zugefroren, und man glaubte, daß das Eis trage. Da sandte man drei tüchtige Leute nach dem Festland, um Feuer zu holen. Frühmorgens zogen sie bei klarem Wetter, von vielen bis aufs Eis begleitet, los, bis sie mitten auf dem Sund an eine offene Stelle kamen,



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die war so lang, daß man ihr Ende nicht sehen konnte. Zwei sprangen mit knapper Not hinüber, aber der dritte getraute sich's nicht. Sie rieten ihm heimzukehren und gingen weiter, er aber wollte nicht unverrichteter Sache zurückkehren und ging an der Wake entlang, eine schmälere Stelle suchend. Gegen Abend wurde es trübe, Sturm und Regen kamen von Süden. Das Eis brach, und der Mann stand zuletzt auf einer Scholle, die dem Meere zutrieb. Schließlich trieb sie an einen großen Eisberg an, und der Mann stieg hinauf. Da sah er eine Bärin vor sich, die auf ihren Jungen lag. Hungrig und müde wie er war, gab er nicht mehr viel um sein Leben. Die Bärin stand auf, ging auf ihn zu und um ihn herum und machte ihm ein Zeichen, sich auf das Lager zu den Jungen zu legen. Als er's voller Furcht tat, breitete sie sich über ihn und ließ ihn mit den Jungen saugen. Am Morgen winkte sie den Mann hinaus auf das Eis und machte ihm ein Zeichen, sich auf ihren Rücken zu setzen. Als er das getan hatte, stand sie auf und schüttelte sich, bis er herunterfiel. Dabei ließ sie es diesmal bewenden, der Mann aber wunderte sich. So ging es drei Tage und nachts säugte sie ihn immer mit den Jungen. Am vierten Tage aber fiel er nicht mehr herunter, wie sehr sich die Bärin auch schüttelte. Da schwamm sie gegen Abend mit ihm nach der Insel. Wie sie ans Land kamen, gab nun der Mann der Bärin ein Zeichen, ihm nachzukommen. Er ging zu seinem Hof, ließ die beste Kuh melken und gab dem Tier soviel Milch zu trinken, wie es nur wollte. Dann ging er zum Schafstall und die Bärin hinter ihm her, da ließ er die beiden besten Hammel schlachten, band sie an den Hörnern zusammen und hing sie ihr quer über den Rücken. Dann ging sie zum Meere zurück und schwamm zu ihren Jungen hinaus. Und während die Grimsöer noch mit Verwunderung dem Bären nachschauten, sahen sie ein Schiff vom Festland mit gutem Winde zur Insel segeln. Und darin würden wohl die beiden andern Boten mit dem Feuer sein.


Der Elbenkönig auf Selö

Eines Sommers konnten die Leute von Holmar, die zum Fischen auf Selö waren, nicht alle getrockneten Fische nach dem Festlande bringen, weil das Wetter zu schlecht wurde. Erst im Herbste wurde das Seewetter wieder gut, und sie holten den Rest. Dabei ging einer von ihnen, und zwar der Knecht des Pfarrers, nach der andern Seite der Insel, zu



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sehen, ob dort vielleicht etwas an den Strand gespült worden sei. Da schlug das Wetter wieder um, jene glaubten sehen zu müssen, daß sie heimkamen, und ließen den Mann zurück. Nasser Schnee fiel, der Mann ging zur Fischerhütte, hatte nichts zu essen, gab sein Leben verloren und kam aus der Hütte wieder heraus. Da sah er vor sich einen freundlichen Stern. Aber er sagte sich, ein Stern könne das bei diesem Schneewetter nicht sein, und er hielt es für ein erleuchtetes Fenster. Er lief hin und kam an ein Haus, so prächtig wie eine Königshalle. Da hörte er, wie drinnen jemand sagte: »Ja, denkt euch, ihr Mädchen, da ist jetzt der arme Kerl, den sie heute auf der Insel zurückgelassen haben, an unser Haus gekommen; geht, holt ihn herein!«

Da kam ein junges Mädchen heraus, führte ihn hinein und hieß ihn die Schneekleider ablegen. Sie gingen eine hohe Treppe hinauf in einen schönen gold- und edelsteingeschmückten Saal. Da saßen viele Frauen und eine war die schönste von allen. Er begrüßte sie höflich und sie antworteten freundlich. Dann führte ihn das schöne Mädchen in eine kleine prächtige Kammer, brachte ihm Wein und Speisen und ging wieder fort. Wo sein Schlaflager war, wird nicht erzählt. Am Morgen kam das Mädchen, sagte, sie könne ihm nicht selber Gesellschaft leisten, brachte ihm aber allerhand Dinge zum Zeitvertreib.

So verstrich der Winter bis Weihnachten. Am heiligen Abend kam das schöne Mädchen zu ihm und sagte, er möge ihr nun eine Bitte erfüllen, wenn er glaube, daß sie ihm je etwas Gutes erwiesen habe. Morgen werde Tanz sein, ihr Vater werde sie zum Zuschauen hinausrufen. Da dürfe er nicht neugierig sein und nicht zum Fenster hinaussehen, er würde drinnen Kurzweil genug haben. Das versprach er ihr auch. Und am Weihnachtsmorgen brachte sie ihm Speisen und Wein und allerhand Dinge zum Zeitvertreib und dann ging sie wieder.

Nun hörte er alsbald Gesang und Saitenspiel. Er dachte sich, das müsse ein großes Vergnügen sein, konnte nicht lange widerstehen, kletterte zum Fenster hinauf und sah hinaus. Eine große Menge Leute tanzten und spielten allerhand Saitenspiel. Mitten darin saß ein königlicher Mann mit einer Krone auf dem Kopf, rechts und links von ihm eine Frauengestalt. Er meinte, dies sei der König nebst Gemahlin und Tochter, und diese erkannte er gut. Dann verließ er das Fenster, der Tanz dauerte bis zur Nacht. Aber als das Mädchen am Abend zu ihm kam, war sie ungewöhnlich still, sagte, er habe sein Versprechen nicht gehalten, doch habe zum Glück ihr Vater nichts davon gemerkt.



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Nun ging es so bis Neujahr, und am Silvesterabend sagte sie ihm wieder, morgen gehe sie mit ihrem Vater zum Tanz und er sollte nun an sein Versprechen denken. Er versprach es ihr hoch und teuer, sie brachte ihm Wein und Speisen und allerhand Kurzweil und verließ ihn dann. Am Morgen begann ein noch größerer Festjubel als zu Weihnachten. Erst saß er lange Zeit ruhig da, aber dann konnte er nicht länger widerstehen und sah hinaus. Der Tanz war noch schöner und viele prächtige Ritter bewegten sich vor dem Königspaar. Dann verließ er das Fenster schnell und glaubte, es habe ihn niemand gesehen. Als die Königstochter aber am Abend kam, war sie sehr unwillig und machte ihm heftige Vorwürfe. Doch blieb sie so gut zu ihm wie zuvor.

So verstrich der Winter bis zum Osterfest. Am Ostersonnabend bat sie ihn freundlich, doch ja nicht neugierig zu sein, auch wenn die Freude draußen noch so groß wäre. Denn wenn ihr Vater merke, daß sie einen Mann bei sich habe, sei ihr Leben verloren. Am Ostermorgen brachte sie ihm wieder alles, was er sich nur wünschen konnte. Das Fest fing laut und fröhlich an wie früher. Schließlich wurde ihm die Einsamkeit langweilig und er ging in das nächste Zimmer. Wenn er dort hinausblickte, glaubte er, werde sie es nicht merken. Er sah schnell hinaus und sah dasselbe wie zu Neujahr. Dann hielt er sich in seiner Kammer, bis das Mädchen zu ihm kam. Sie aber war zornig und sagte, er hätte sie betrogen wie noch jedesmal. Wieviel ihr Vater wüßte, wisse sie nicht, aber schon sei er unfreundlicher gegen sie als sonst. »Ich dachte nicht, daß du so wenig treu sein könntest; aber du wirst es später in andern Dingen gewiß ebenfalls sein.«

Nun ging es auf den Sommer zu, und am letzten Winterabend kam sie zu ihm und sagte, morgen würden die Leute vom Festland kommen, um ihn zu holen, und deshalb solle er zu der Fischerhütte gehen. Und wenn er ihr ein wenig dankbar dafür sei, daß sie ihm das Leben im Winter gefristet habe, so wolle sie ihn nur um das eine bitten, daß er das Kind anerkenne, das sie jetzt von ihm unter dem Herzen trage. Sonst sei ihr Leben verloren und der König lasse sie töten, wenn sie dem Kinde keinen Vater geben könne; andernfalls würde er ihr das Leben schenken. Um nichts anderes und nur um dies eine bitte sie ihn, daß er doch hierin treu sein möge. Der Mann versprach es hoch und teuer, auch mache ihm dies ja nichts weiter aus.

Sie nahmen nun Abschied und er dankte ihr für alles und ging. Als er sich kurz danach umsah, war die Halle verschwunden. Nur steinige



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Hügel und Felsblöcke waren da und er ging nach der Fischerhütte. Es war gutes Wetter, und bald sah er ein Schiff kommen. Als die Leute gelandet waren, ging er ihnen entgegen. Sie fürchteten sich, wie sie ihn erblickten, denn er war dick und rund, und sie glaubten daher, daß es sein Gespenst sei, weil sie meinten, er sei im Winter gestorben. Sie wagten nicht mit ihm zu reden oder zu ihm zu gehen. Schließlich stieg der Vormann ans Land und fragte ihn, ob er ein lebendiger Mensch oder ein Wiedergänger sei oder ob er der Mann sei, den sie im Herbst auf der Insel zurückgelassen hätten. Er sagte, er sei der nämliche Mann. Ja, wieso er denn nicht verhungert sei? Nun, der Seetang von Selö sei auch nicht schlechter als die Wassergrütze von Holmar, sagte der Inselmann. Mehr wollte er nicht erzählen, ging an Bord, und sie ruderten heim. Alle verwunderten sich, daß er noch am Leben war, aber die Leute bekamen nichts aus ihm heraus.

Eines schönen Sonntags spät im Sommer waren viele Leute zur Kirche gekommen, und auch der Knecht war beim Gottesdienst. Aber wie sie alle in der Kirche beisammen waren, der Pfarrer mit der ganzen Gemeinde, stand plötzlich eine Kinderwiege vor dem Altar und eine goldgestickte Decke war über das Kind gebreitet. Kein Mensch war dabei zu sehen, nur eine schöne Frauenhand ruhte auf dem Wiegenrand. Darüber verwunderten sich alle und sahen einander an. Der Pfarrer aber ergriff das Wort und sagte, daß dies Kind getauft werden wolle, und es werde wohl irgend jemand hier in der Kirche sein, dem es zugehöre, und am ehesten würde wohl der Knecht das sein und ob man es ihm nicht von Selö jetzt hergeschickt habe? Der Knecht aber leugnete alles ab. Der Pfarrer wollte es trotzdem auf den Namen des Knechtes taufen, der aber wies das auf das entschiedenste von sich und sagte, er habe mit der Angelegenheit nichts zu tun. Der Pfarrer meinte, ohne irgendeine menschliche Hilfe könne er auf der Insel doch nicht überwintert haben. Der Knecht aber sagte, daß er das Kind nun und nimmer als das seinige anerkennen werde, und er verbot dem Pfarrer, es auf seinen Namen zu taufen.

Da verschwand die Wiege, ein lautes Weinen war vernehmbar, und man hörte, wie es sich aus der Kirche entfernte. Der Pfarrer und alle Leute gingen hinter dem Weinen her. Da hörten sie, wie es sich in der Richtung nach der See zu verlor. Die kostbare Decke aber lag auf dem Boden und war dann auf Holmar noch lange Zeit im Gebrauch.

Die Leute wunderten sich alle über den Vorfall, und am meisten war



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der Pfarrer davon bewegt. Der Knecht ist später in Schwermut verfallen. Und als ihn der Pfarrer nach der Ursache fragte, erzählte er ihm die ganze Geschichte, wie er den Winter über bei einem König und seiner Tochter geweilt und wie es ihn sein Leben lang gereuen würde, daß er das Kind nicht anerkannt habe. Der Knecht wurde niemals wieder derselbe wie früher und damit schließt die Geschichte vom Elbenkönig auf Selö.


Die Riesin im Steinboot

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten einen Sohn mit Namen Sigurd. Er war schon als Knabe stark, geschickt bei Turnen und Spiel und schön von Angesicht. Als der Vater infolge seines hohen Alters anfing, schwerfällig zu werden, besprach er sich mit seinem Sohn und sagte, es sei nun wohl an der Zeit, sich nach einer passenden Frau umzusehen, denn er könne ihm wohl nicht mehr lange von Nutzen sein; seine Ehre aber würde dann wohl erst in voller Blüte stehen, wenn er eine passende Frau gefunden habe.

Sigurd war damit einverstanden und fragte seinen Vater, wo er seine Braut am besten suchen solle. Der König sagte, im Ausland - er zeigte ihm, wo es war -wohne ein König, der habe eine schöne und liebliche Tochter. Wenn Sigurd sie zur Frau bekommen könne, sei dies wohl die beste Heirat für ihn. Vater und Sohn gingen auseinander und Sigurd machte sich auf zur Fahrt, wohin sein Vater ihn geschickt hatte. Er ging zum König und bat ihn um die Hand seiner Tochter. Der König versprach sie ihm gern, aber Sigurd mußte sich bereit erklären, solange wie möglich im Reiche zu bleiben, denn der König war sehr elend und fast unfähig zu regieren. Sigurd sagte ja und stellte die Bedingung, daß er heimfahren dürfe, wenn er die Nachricht vom Tode seines Vaters bekäme, denn der sei ganz altersschwach.

Dann feierte Sigurd seine Hochzeit mit der Königstochter und teilte sich mit seinem Schwiegervater in die Regierung. Er und seine Frau liebten sich gar sehr und ihr Zusammensein wurde noch inniger, als sie nach einem Jahr ein schönes und liebliches Söhnlein gebar. Danach verstrich die Zeit, bis der Junge zwei Jahre alt war und Sigurd Nachricht bekam, daß sein Vater gestorben sei. Sigurd machte sich mit Frau und Kind auf die Reise und segelte auf einem Schiff davon. Als sie eine Tagesfahrt von daheim fort waren, trat Windstille ein und das Schiff



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lag ruhig auf dem Meer. Beide, Sigurd und seine Frau, waren allein auf dem Verdeck, denn fast alle hatten sich unten schlafen gelegt. Sie saßen und sprachen lange Zeit miteinander und hatten ihr Söhnlein bei sich. Da wurde nach kurzer Zeit Sigurd so schläfrig, daß auch er nicht mehr aufbleiben konnte. Er ging deshalb hinab und legte sich schlafen. Die Königin war nun allein auf dem Verdeck mit ihrem Kind und spielte mit ihm.

Kurz nachdem König Sigurd hinabgegangen war, erkannte die Königin etwas Schwarzes an einer Stelle in der See und sah, daß es immer näher sich herbewegte. Als es dem Schiffe näher kam, konnte sie deutlich sehen, daß es ein Boot sei und daß es gerudert wurde, denn sie sah im Boote etwas Menschliches. Dann legte das Boot an ihrem Schiff an und die Königin sah, daß es ein Steinboot war, und alsbald kam auch ein häßliches böses Riesenweib auf das Schiff. Die Königin war. so erschrocken, daß sie weder sprechen noch sich bewegen konnte, um den König und seine Leute zu wecken.

Die Riesin ging auf die Königin zu, nahm ihr das Kind weg und setzte es auf das Verdeck; dann zog sie die Königin aus und nahm ihr alle kostbaren Kleider, so daß sie nur noch in einem leinenen Unterkleid dastand. Sie zog selbst die Kleider an und nahm menschliches Aussehen an. Dann nahm sie die Königin, setzte sie in das Steinboot und sagte: »Ich zaubere, daß du sollst mäßigen nicht Fahrt und nicht Flug, bis du zu meinem Bruder in die Unterwelt kommst.« Die Königin saß ganz teilnahmslos und ohnmächtig da; das Steinboot unter ihr trieb sogleich vom Schiffe ab und es dauerte nicht lange, so war es aus dem Gesichtskreis des Schiffes verschwunden.

Als das Steinboot nicht mehr zu sehen war, fing der kleine Königssohn an zu weinen, und so sehr auch die Riesin sich Mühe gab und anstrengte, ihn zu beruhigen, es half nichts.

Da ging sie mit dem Kind im Arm hinunter, wo der König schlief und weckte ihn mit Schimpfreden, daß er sich gar nicht um sie kümmere und sie mit ihrem Kind allein auf dem Verdeck oben lasse; inzwischen schlafe und schnarche er mit all seinen Leuten. Sie sagte, das sei sehr leichtsinnig und rücksichtslos von ihm, nicht einmal jemand oben bei ihr wachen zu lassen, denn wenig könne man dann berichten, was inzwischen geschehen sei. So sei es auch gekommen, daß sie ihr Kind nicht mehr beruhigen könne, und deshalb habe sie sich entschlossen herunterzukommen mit ihm dahin, wo es hingehöre, und es könne nun



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auch wieder ans Werk geschritten werden, da ja nun günstiger Fahrwind sei. Dem König Sigurd kam es ganz unerwartet, daß die Königin so laut und böse mit ihm sprach, da sie nie so mit ihm früher geredet hatte, aber er nahm ihre harten Worte freundlich hin und es machte großen Eindruck auf ihn, daß sie so jammerte, deshalb gab er sich auch Mühe, den Kleinen zu beruhigen, aber es half nichts.

Er weckte nun seine Leute und hieß sie die Segel hissen, da ja nun der Fahrwind günstig war. Sie segelten so schnell sie konnten und es ist von der Fahrt nichts zu berichten, bis sie in das Land kamen, wo Sigurd zu herrschen hatte. Er ging zu seinen Hofleuten. Sie waren noch in Trauer um ihren verstorbenen König, freuten sich aber, daß Sigurd wohlbehalten zurückgekommen war, und gaben ihm den Königstitel. Da übernahm er die Regierung.

Der kleine Königssohn aber hörte gar nicht mehr auf mit Weinen, wenn er bei seiner vermeintlichen Mutter war, obwohl er vorher ein ruhiges und friedliches Kind gewesen war. Der König nahm daher aus seinem Hofgesinde eine Pflegerin für ihn, und sobald der Junge bei ihr war, hörte er sofort auf zu schreien und war so friedlich wie vorher. Nach der Seereise kam es dem König so vor, als habe seine Frau sich nicht gerade nach der guten Seite hin verändert. Er fand sie vor allem so trotzig, böse und streitsüchtig, wie er es vorher gar nicht an ihr gewohnt gewesen war. So sehr sie auch Wert legte auf ein höfliches Benehmen, fiel doch auch den meisten andern außer dem König ihre schlimme Sinnesart auf.

Bei Hofe waren zwei junge Männer von achtzehn und neunzehn Jahren. Sie spielten leidenschaftlich gern das Brettspiel und saßen deshalb oft noch spät dabei. Ihr Zimmer war gleich neben dem der Königin und es kam oft vor, daß sie hinüberhorchten. Eines Tages lauschten sie aufmerksamer als sonst. Sie legten das Ohr an eine Ritze in der Türmitte und hörten deutlich, wie die Königin sage: »Wenn ich nur ein klein wenig gähne, dann bin ich eine kleine zierliche Jungfrau; wenn ich halb gähne, bin ich eine Haibriesin; wenn ich aber stark gähne, dann bin ich eine große Riesin.« Als die Königin das sagte, mußte sie zu ihrem Unheil so heftig gähnen, daß sie eine schreckliche Riesin wurde; aus dem Fußboden kam ein dreiköpfiger Riese mit einem Trog voller Fleisch; er begrüßte seine Schwester, die Königin, und setzte den Trog vor sie hin. Sie machte sich nun darüber her und hörte nicht eher auf, bis alles verschlungen war.



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Die beiden jungen Männer sahen dies ganze Gehaben, sie konnten aber nicht verstehen, was die Geschwister miteinander sprachen. Sie waren erstaunt, wie mächtig sie schlang und wie gewaltig sie in den Trog langte; und zwar waren sie um so verwunderter darüber, weil sie immer nur ganz wenig zulangte, wenn sie mit dem König bei Tische saß. Als sie mit dem Essen im Trog fertig war, verschwand der Riese wieder genauso, wie er gekommen war, und die Königin nahm wieder Menschengestalt an.

Das Söhnlein des Königs hatte also inzwischen eine Pflegerin bekommen. Eines Abends, als sie eben Licht gemacht hatte und das Kind im Arm hielt, sprangen im Zimmer aus dem Fußboden einige Dielen auf und gleich kam eine schöne Frau darunter zum Vorschein in einem leinenen Unterkleide, wie es die Frauen auf dem nackten Körper tragen. Sie war in der Mitte festgehalten mit einer Eisenkette, deren Ende so lang herunterhing, wie man sehen konnte. Die Frau ging auf die Wärterin zu, nahm ihr das Kind aus dem Arm, drückte es zärtlich an ihre Brust und gab es ihr dann wieder zurück. Dann verschwand sie genauso, wie sie gekommen war, und der Boden schloß sich wieder über ihrem Kopf. Dabei kam kein Wort aus ihrem Munde. Die Pflegerin war sehr erschrocken, sprach aber zu niemand darüber. Am andern Tage ging es genau wie vorher: die weißgekleidete Frau kam genauso wie den Tag zuvor, nahm das Kind, drückte es zärtlich an ihre Brust und gab es der Wärterin wieder. Als sie wegging, sagte sie voller Kummer: »Zweimal vorbei; nur einmal noch, dann niemals mehr.« Dann verschwand sie wieder im Fußboden. Nun war die Wärterin noch mehr voll Angst als zuvor, da sie die Frau diese Worte hatte sprechen hören. Sie fürchtete, dem Kinde drohe Gefahr, obwohl ihr die fremde Frau gut vorkam und sich auch dem Kinde gegenüber benommen hatte, als ob es ihr gehöre. Seltsam war es ihr, daß sie gesagt hatte: >Nur einmal noch, dann niemals mehr.<Sie hatte damit wohl sagen wollen, daß von den drei Tagen, die ihr zu kommen erlaubt waren, nur noch einer übrig sei, da sie nun schon zweimal dagewesen wäre. Sie beschloß deshalb, zum König zu gehen und ihm alles zu erzählen und bat ihn, er möchte selbst in ihr Zimmer kommen am nächsten Tage zu der Zeit, wo die Frau gewöhnlich erschiene. Der König versprach auch zu kommen.

Am folgenden Tage kam der König kurz vor der bestimmten Zeit ins Zimmer der Wärterin, setzte sich auf einen Stuhl und zog sein Schwert. Da sprangen die Dielen aus dem Fußboden wie früher auch und die



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weißgekleidete Frau mit Ring und Kette kam herauf wie die beiden Tage zuvor. Der König erkannte sofort seine Frau, und gleich kam ihm der Gedanke, die Eisenkette, die vom Eisenring herunterhing, zu durchhauen. Da entstand ein solches Dröhnen und Getöse unter der Erde, daß die ganze Königsburg ins Wanken geriet, und jeder dachte, alle Häuser müßten einstürzen und zusammenfallen. Schließlich hörte der unterirdische Lärm auf und die Leute kamen wieder zur Besinnung.

Da fielen sich der König und die Königin in die Arme und nun erzählte sie ihm alles, was sie erlebt hatte: wie die Riesin im Steinboot zum Schiff gekommen sei, als alle schliefen, wie sie ihr die Kleider ausgezogen und sie sich selbst angelegt und sie verzaubert hätte. Als sie in dem Steinboot, das von selbst fuhr, das Schiff nicht mehr sehen konnte, hatte sie bemerkt, daß es nach etwas Dunklem hinfuhr, bis es zu einem dreiköpfigen Riesen kam. Der wollte sofort bei ihr schlafen. Sie aber wehrte sich mit aller Macht dagegen. Da sperrte der Riese sie eine Weile in ein einsames Haus und drohte ihr, sie nie wieder herauszulassen, wenn sie ihm nicht zu Willen wäre. So kam er jeden zweiten Tag und drohte und bat. Während dieser Zeit überlegte sie, wie sie den Händen des Riesen entkommen könne. Da sagte sie, sie wolle bei ihm schlafen, wenn sie drei Tage hintereinander ihren Sohn über der Erde sehen dürfe; er erlaubte es, band ihr aber die Kette um den Leib und das andere Ende um sich, und das große Dröhnen, als der König die Fessel durchhauen hatte, kam wohl daher, daß der Riese lang hinschlug, als die Kette so schnell nachgab; denn die Wohnung des Riesen lag gerade unter der Burg. Bei dem großen Lärm, der entstand als er hinschlug, wird er sich wohl den Schädel zerschlagen haben beim Hinfallen, und als die Burg ins Wanken geriet, lag er wohl im Todeskampf. Die Königin sagte, sie habe deshalb drei Tage ihren Sohn sehen wollen, damit sich dabei eine Gelegenheit fände zur Erlösung, wie es ja nun auch gekommen sei. Nun war dem König ganz klar, warum ihm die Frau, mit der er einige Zeit zusammengewesen war, so unfreundlich vorgekommen war. Er ließ ihr einen Sack über den Kopf ziehen und sie steinigen; dann wurde ihre Leiche zwischen zwei wilde Pferde gebunden und in Stücke gerissen.

Jetzt erst erzählten auch die jungen Leute, was sie gesehen hatten, denn vorher hatten sie es nicht gewagt aus Angst vor der Macht der falschen Königin.



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Nun wurde die wirkliche Königin wieder in ihre königlichen Würden eingesetzt und sie gefiel allen gar wohl. Die Wärterin verheirateten sie an einen Großhäuptling und gaben ihr eine prächtige Ausstattung mit.


Ein toter Mann braucht selten ein Messer

Einst wohnte im Norden ein fleißiges Ehepaar. Der Mann war mehr hinter dem Erwerbe her als die Frau; daher reiste er im Herbst nach dem Süden und wollte als Teilhaber an einem Boote die ganze Fischzeit über mit ausrudern. Davon versprach er sich mehr Gewinn, als wenn er zu Hause säße. Es wird nun nichts weiter berichtet über die Leute von der Abfahrt des Bauern bis zur Thorlaksmesse vor Weihnachten; es hatte aber die Frau soeben einen geräucherten Hammeirumpf zum Weihnachtsfeste gekocht. Sie stellte ihn in einem Trog in der Vorratskammer auf ein Brett. Dann verließ sie für einen Augenblick die Kammer und ging entweder in die Wohnstube oder anderswohin. Als sie aber wieder in die Vorratskammer kam, sah sie, daß ihr Mann unterdessen nach Hause gekommen war. Er stand vor dem Brett mit dem Fleischtrog, hielt eine Hammelkeule in der Hand und riß mit den Zähnen das Fleisch vom Knochen herunter. Sie begrüßten einander, allein der Frau kam das sonderbar vor, sie fand es häßlich und wenig fein, wie der Bauer so aus der Hand aß und nagte, und fragte ihn: »Willst du nicht ein Messer haben, Mann?« Da antwortete er: »Ein toter Mann braucht selten ein Messer, sondern er steht und reißt mit den Zähnen.« Und in dem Augenblick verschwand der Mann, so daß die Frau nichts mehr von ihm sah. Als sie aber nach diesem Ereignis die erste Nachricht aus dem Süden bekam, erfuhr sie den Tod ihres Mannes und daß er kurz vor Weihnachten ertrunken sei.


Die Kuh Bukolla

Einmal lebte ein alter Mann und sein altes Weib in einer ärmlichen Hütte. Sie hatten einen Sohn, aber von ihm erwartete man wenig Gutes. Mehr Leute waren nicht in der Hütte als eben diese drei. Eine Kuh hatten die beiden alten Leute, das war ihr ganzer Viehbestand. Diese Kuh hieß Bukolla. Einmal bekam die Kuh ein Kalb und das alte Weib half



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der Kuh in ihrer schweren Stunde. Als die Geburt vorüber und alles gut abgelaufen war, ging die Alte in die Hütte. Als sie kurz danach zurückkam, rückkam, um zu sehen, wie es der Kuh ginge, da war sie verschwunden. Nun gingen die beiden Alten die Kuh zu suchen und suchten weit und breit, kamen aber genauso zurück, wie sie ausgezogen waren -ohne die Kuh. Nun waren sie ganz traurig und hießen ihren Sohn, fortzugehen und nicht wiederzukommen vor ihre Augen, ehe er nicht mit der Kuh zusammen heimkomme.

Sie versahen den Jungen mit Proviant und neuen Schuhen und er machte sich auf die Reise ins Blaue hinein. Er ging lange, lange, dann setzte er sich hin und fing an zu essen. Und danach rief er:

»Brülle du nun, meine Bukolla, wenn anders du noch am Leben bist!« Da hörte er die Kuh aus weiter, weiter Ferne antworten und nun ging er wieder lange, lange weiter. Dann setzte er sich wieder hin und aß und rief:

»Brülle du nun, meine Bukolla, wenn anders du noch am Leben bist.« Da hörte er Bukolla wieder antworten, und zwar etwas näher als beim vorigen Mal. Und nun ging er wieder lange, ach so lange weiter, bis er auf einen großen Felsen kam. Da setzte er sich wieder hin zum Essen und rief: »Brülle, meine Bukolla, wenn du noch am Leben bist.« Da hörte er die Kuh unter seinen Füßen brüllen. Er kletterte den Felsen hinab und sah darin eine gar große Höhle. Er ging hinein und fand die Bukolla an einen Balken festgebunden. Er machte sie los, zog sie hinter sich her und ging heimwärts. Als er eine Weile gegangen war, sah er eine unheimlich große Riesin hinter ihm herkommen und eine kleinere war noch bei ihr. Er sah, wie die große Riesin so mächtig daherkam, daß sie ihn bald einholen würde. Da sagte er: »Was sollen wir nur machen, meine Bukolla?«Sie sagte: »Zieh ein Haar aus meinem Schwanz und lege es auf die Erde.« Er tat's und die Kuh sagte zum Haar: »Ich zaubere und sage, du sollst ein so großer Fluß werden, daß keiner darüber kommt als nur ein fliegender Vogel.« Und sogleich ward ein nesengroßer Fluß aus dem Haar.

Als aber die Riesin zum Fluß kam, sagte sie: »Das soll dir nichts helfen, Schurke!« —»Mach daß du heimkommst, Mädchen«, sagte sie zur Kleinen, »und hole den großen Ochsen meines Vaters.« Das Mädchen lief und kam mit dem mächtigen Ochsen wieder. Der trank mit einemmal den ganzen Fluß aus. Da sah der Bauernsohn, daß ihn die Riesin gleich kriegen konnte, weil sie so tüchtig ausholte beim Gehen. Wiederum



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sagte er zur Kuh: »Was sollen wir nur machen, liebe Bukolla?« —»Zieh wieder ein Haar aus meinem Schwanz und lege es zur Erde«, sagte sie. Er tat's und sie sagte: »Ich zaubere und sage, du sollst zu einem so großen brennenden Scheiterhaufen werden, daß keiner darüber kommt als nur ein fliegender Vogel.«Und sogleich ward das Haar zum Scheiterhaufen. Als nun die Riesin zum Scheiterhaufen kam, sagte sie: »Das soll dir wieder nichts helfen, du Schurke. —Geh und hole noch einmal den großen Ochsen meines Vaters, Mädchen.«Und sie ging und kam mit dem Ochsen. Dieser gab das ganze Wasser, das er aus dem Flusse getrunken hatte, von sich und löschte damit den Scheiterhaufen.

Nun sah der Bauernsohn, daß ihn die Riesin sofort erreichen würde, weil sie so große Schritte machte, und er sagte: »Was sollen wir nur machen, liebe Bukolla?« —»Zieh ein Haar aus meinem Schwanz und leg's zur Erde«, sagte sie. Und dann sprach sie: »Ich zaubere und sage, du sollst ein so großer Berg werden, daß niemand darüber kann als nur ein fliegender Vogel.«Da ward das Haar zu einem Berg, so hoch, daß der Bauernsohn nichts sonst als nur noch den heiteren Himmel darüber sehen konnte. Als die Riesin zum Berge kam, sagte sie: »Das soll dir nichts helfen, Schurke«; und zum Mädchen sagte sie: »Geh und hol mir meines Vaters Bohreisen.« Das Mädchen lief und kam damit zurück. Da bohrte das Riesenweib ein Loch in den Felsen und es ging recht langsam, bis sie endlich durchsehen konnte. Dann kroch sie schnell ins Loch hinein. Das war aber so eng, daß sie drin feststecken blieb und schließlich im Loch zu Stein wurde und dort steckt sie noch heute. Der Bauernsohn aber kam heim mit seiner Bukolla, und der Alte und seine Frau waren darüber voller Glück und Freude.


Der Königssohn Ring und der Hund Snati-Snati

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten eine Tochter mit Namen Ingeborg und einen Sohn, der hieß Ring; er war weniger mutig, als es sonst bei großen Herren üblich war, auch hatte er kein Verständnis für tüchtige Künste und Geschicklichkeiten. Als er zwölf Jahre alt war, ritt er mit seinen Leuten an einem schönen Tage in den Wald, um sich zu vergnügen. Sie waren schon lange unterwegs, als sie eine Hindin erblickten mit einem Goldring um das Geweih. Der Königssohn wollte sie haben, wenn es irgendwie möglich wäre. Sie jagten und ritten so



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lange hinter ihr her, bis alle ihre Pferde totgeritten waren und zum Schluß auch das Pferd des Königssohns zusammenbrach.

Da kam ein dichter Nebel und sie konnten die Hindin nicht mehr sehen. Sie waren weit abgekommen von jeder menschlichen Behausung und wollten nun zusehen, daß sie wieder heimkamen -aber sie hatten sich verirrt. Sie gingen zunächst alle miteinander, bis sie uneins wurden und ein jeder den Weg ging, den er für richtig befand. Sie trennten sich und jeder zog seine Straße fürbaß.

Als nun der Königssohn da und dort herumirrte und nicht aus noch ein wußte, kam er nicht weit vom Meer zu einem freien Platz im Walde. Da sah er eine Frau auf einem Stuhle sitzen mit einem großen Faß vor sich. Der Königssohn begrüßte die Frau höflich, ging auf sie zu und auch sie erwiderte seinen Gruß freundlich. Da sah er in das Faß und erblickte auf dem Boden des Fasses einen überaus schönen Goldring, ihn überkam eine heftige Lust, den zu besitzen. Das sah die Frau und sagte, sie merke wohl, daß sein Sinn nach dem Ringe stehe. Er sagte, so sei es auch. Er könne ihn bekommen, sagte sie, wenn er ihn aus dem Fasse heraushole. Er dankte und sagte, das Herausholen sei das wenigste; er beugte sich auch gleich über das Faß, das ihm gar nicht tief vorkam. Er wollte den Ring schnell fassen, aber das Faß wurde immer tiefer, je mehr er sich ausstreckte. Als er halb überm Rande des Fasses hing, stand die Frau auf, stieß ihn kopfüber in das Faß hinein und sagte, hier drinnen möge er nun als Gast weilen. Dann verschloß sie das Faß und wälzte es ins Meer hinaus.

Dem Königssohn kam das wenig behaglich vor. Er merkte wohl, daß das Faß vom Land wegkam und von den Wogen getrieben wurde; er wußte nicht, wie viele Tage lang das dauerte, bis er endlich merkte, daß es gegen einen Felsen stieß. Der Königssohn war voller Freude darüber, denn er war der festen Hoffnung, daß er nun an Land und nicht auf eine Klippe gestoßen sei. Er kam auf den guten Gedanken, den Versuch zu machen, ob er nicht den Boden des Fasses austreten könne, denn er verstand sich aufs Schwimmen. Er entschloß sich auch dazu, obwohl er befürchten mußte, auf diesem Wege nicht an Land zu kommen; da aber flache und niedrige Felsen ins Meer hingen, so ging es doch, und es glückte ihm auch, hinüberzukommen. Hier waren nun hohe Berge, und wollte er etwas ins Land hineinkommen, so kam ihm das schwierig vor; trotzdem ging er eine Weile am Fuße der Berge dahin und begann dann hinaufzuklettern, was ihm auch gelang. Als er oben



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war, schaute er sich um und sah, daß er auf eine Insel geraten war. Sie war mit Wald bewachsen und fruchtbar. Er sah da gute Äpfel zum Essen wachsen; und es kam ihm da vergnüglich vor, wohin er gekommen war.

Als er einige Tage dort gewesen war, hörte er auf einmal ein starkes Dröhnen im Walde; er erschrak so furchtbar, daß er in den Wald lief und sich verstecken wollte. Da sah er einen Riesen auf großem Schlitten daherkommen und auf ihn zusteuern. Da wußte er sich keinen andern Rat, als sich dort niederzuwerfen, wo er gerade stand. Als der Riese ihn fand, blieb er eine Weile stillstehen und sah ihn an, dann nahm er ihn in seine Arme, trug ihn zu sich heim und war ungewöhnlich gut zu ihm; dann gab er ihn seiner Frau, die krank und bettlägerig war.

Er sagte, er habe dieses Kind hier im Walde gefunden, sie dürfe es nun eine ganze Woche lang um sich haben. Der Frau kam dies vor wie ein schöner erfüllter Wunsch, sie streichelte den Königssohn und sprach freundlich mit ihm. Er blieb bei ihnen, war willig und fügsam in allem, was sie von ihm verlangten, und darum waren sie von Tag zu Tag lieber zu ihm.

Eines Tages zeigte ihm der Riese alle seine Räume, nur nicht den Wohn- und Küchenraum; da wurde der Königssohn neugierig, auch in diesen Raum zu sehen, weil er dachte, dort seien große Kostbarkeiten verborgen. Als einmal der Riese im Walde war, versuchte er in den Raum zu kommen, bekam aber die Türe nur halb auf; er sah, daß etwas Lebendiges sich schüttelte, im Zimmer hin und her lief und etwas sagte; der Königssohn jagte rückwärts zur Tür hinaus, schlug sie zu, und vor Angst wurden seine Hosen naß. Als dann die Angst von ihm gewichen war, unternahm er's noch einmal, denn er wollte doch gerne hören, was es sagte, aber es kam wieder so wie beim erstenmal. Nun war er ärgerlich auf sich selbst und wollte sich zusammennehmen, so gut er konnte. Er versuchte es zum drittenmal, schloß das Zimmer auf und brachte es fertig, stehenzubleiben; da sah er, daß es ein zottiger Hund war, der zu ihm gesprochen hatte, und sagte: »Wähle du mich, Königssohn Ring!« Er machte sich schnell wieder davon, war ganz erschreckt und dachte bei sich: »Das ist kein kostbares Kleinod«, aber die Worte, die er in dem Raume gehört hatte, blieben ihm trotzdem im Gedächtnis.

Es wird nicht erzählt, wie lange er noch beim Riesen war, aber einmal kam der Riese zu ihm und sagte, er wolle ihn von der Insel aufs Land bringen, denn er werde dort nicht mehr lange zu leben haben; er dankte



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dem Königssohn auch für seine guten Dienste und sagte, er möge sich etwas von seinem Eigentum auswählen und solle sofort bekommen, was er gern haben möchte. Ring dankte ihm herzlich und sagte, sein Dienst sei keines Lohnes wert, aber wenn er ihm unbedingt etwas geben wolle, so wähle er für sich das, was im Wohn- und Küchenraum sei. Da war der Riese traurig und sagte: »Da wählst du die rechte Hand meiner alten Frau, aber ich mag dennoch mein Wort nicht brechen.«

Dann ging er und holte den Hund. Als der Hund mit großer Freude und gewaltigen Sprüngen herzukam, bekam der Königssohn einen solchen Schreck, daß er kaum wieder Mut fassen und sich davon erholen konnte. Dann ging der Riese mit ihm zum Meer hinab; da sah er ein Steinboot, das kaum so groß war, um sie beide samt dem Hunde aufzunehmen. Als sie ans Land kamen, sprach der Riese freundlich mit Ring und sagte, es solle ihm alles gehören, was auf der Insel sei, als Erbe, und er solle sich's im Verlauf eines halben Monats holen, denn da seien sie beide, er und seine Frau, tot. Der Königssohn dankte ihm herzlich für dies und alles andere. Der Riese fuhr nun wieder heim, und der Königssohn ging landeinwärts. Er wußte nicht, was das für ein Land war, und wagte es auch nicht, den Hund anzureden.

Als sie eine Weile schweigend dahingegangen waren, sprach der Hund zu ihm und sagte: »Du scheinst nicht neugierig zu sein, da du mich nicht nach meinem Namen fragst.« Der Königssohn sagte: »Wie heißt du denn?« Der Hund sagte: »Am besten nennst du mich Snati-Snati. Und nun kommen wir in ein Königreich und den König dort sollst du bitten, daß er dich den Winter über da bleiben läßt und dir ein kleines Zimmer gebe für uns beide.«

Dem Königssohn schwand nun die Angst vor dem Hund ein wenig. Er kam in das Königreich, bat den König, bei ihm bleiben zu dürfen den Winter über, und der König erlaubte es ihm gern. Als die Leute des Königs den Hund sahen, fingen sie an zu lachen und den Hund zu hänseln. Als der Königssohn das sah, sagte er: »Ich rate euch, meinen Hund nicht zu reizen, sonst könnte es euch schlecht bekommen.« Sie machten sich über die beiden lustig. Ring blieb nun beim König, und sein Rat wurde beachtet. Als er schon einige Zeit dort war, schien es dem König zu gefallen, daß er gekommen sei, und er zeichnete ihn vor den andern aus.

Ein Ratgeber des Königs hieß Raud. Als er sah, daß der König den Ring andern vorzog, packte ihn der Neid.



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Eines Tages sprach Raud mit dem König und sagte, er verstehe nicht, was die Freundlichkeit bedeuten solle, die er jenem Manne, dem Fremdling, erweise, er habe sich doch durch keinerlei Kunst und Fertigkeit vor den andern hervorgetan. Der König meinte, er sei ja auch noch gar nicht lange da. Raud machte nun den Vorschlag, er solle sie beide am andern Morgen in den Wald schicken und Bäume fällen heißen und da werde es sich zeigen, wer von den beiden der Tüchtigere sei. Dies hörte Snati-Snati und erzählte es dem Ring; dann riet er ihm, den König um zwei Äxte zu bitten, damit er bei sich die andere habe für den Fall, daß die eine entzweigehe.

Am andern Morgen schickte der König Ring und Raud in den Wald zum Bäumefällen. Sie waren beide einverstanden. Ring bekam zwei Äxte, und dann ging jeder seines Wegs. Als Ring in den Wald gekommen war, nahm Snati eine Axt und fing an, mit dem Königssohn Bäume zufällen. Am Abend kam der König, um sich das Tagewerk der beiden anzusehen, wie Raud es auch vorgeschlagen hatte; da war Rings Holzhaufen mehr als halbmal so hoch. Der König sagte: »Es war mir doch so, als sei Ring nicht gerade ein Schwächung. Ich habe noch nie eine solche Leistung an einem Tage gesehen.«

Ring genoß nun noch immer höheres Ansehen beim König als zuvor, aber Raud konnte das nur widerwillig mit ansehen. Eines Tages ging er denn auch wieder zum König und sagte: »Da Ring ein solcher Held ist, so bitte ihn doch, die Opferstiere draußen im Walde zu töten, sie abzuziehen und dir am Abend Hörner und Haut zu bringen.« Der König sagte: »Dünkt dir das nicht ein gefährlicher Auftrag? Das bedeutet den Verlust dieses Mannes, denn noch keiner kam wieder, der es wagte, auf die Stiere loszugehen.« Raud aber sagte: er habe nur einmal sein Leben zu verlieren und es sei doch eine Lust und Genugtuung, eine Mannesprobe zu machen, und der König habe dann hinterher desto mehr Ursache, ihn zu ehren, wenn er auch diese Heldentat vollbracht habe. Da ließ der König sich nun doch beschwatzen von Rauds beharrlichem Gerede, obwohl er's nur sehr ungern tat, und eines Tages bat er den Ring, für ihn die Stiere zu erschlagen im Walde und ihm am Abend Hörner und Haut herzubringen.

Ring wußte nicht, wie wild die Stiere waren, und wollte gern dem König zu Willen sein; er ging auch gleich hinaus in den Wald: Raud war froh, denn nun durfte er Ring bereits zu den Toten zählen. Als nun Ring den Stieren zu Gesicht kam, stürzten sie brüllend auf ihn



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los; der eine war mächtig groß, der andere kleiner. Ring geriet in furchtbare Angst und Snati sagte: »Wie gefällt dir das jetzt?« — »Schlecht«,, sagte der Königssohn. Snati sagte: »Es bleibt uns beiden nichts anderes übrig, als auf sie loszugehen, wenn es gut ausgehen soll, also geh du auf den kleineren los, ich auf den andern.« Zur selben Zeit lief Snati schon auf den mächtigen Bullen los, und es dauerte nicht lange, da hatte er ihn überwältigt. Der Königssohn ging schlotternd auf den kleineren Stier los, und als Snati kam, hatte der Stier auch schon den Ring zu Boden geworfen; da war er nun nicht faul und half seinem Herrn. Dann machten sie sich fix über ihre Stiere her, und als Snati schon fertig war mit dem großen Stier, hatte Ring dem kleinen Stier erst zur Hälfte die Haut abgezogen. Am Abend, als sie dann fertig waren, traute sich Ring nicht zu, alle die Hörner und beide Häute zu tragen. Snati sagte, er solle sie nur auf seinen Rücken werfen, er werde sie schon heimwärts bis zum Burgtor tragen. Der Königssohn nahm dies Anerbieten gerne an und überließ alles dem Hunde bis auf die Haut vom kleinen Stier; mit ihr schleppte er sich selber. Vor dem Burgtor ließ er alles zurück, ging zum König, bat ihn, mit ihm vors Tor zu gehen, und gab ihm Hörner und Häute von beiden Stieren.

Der König bewunderte aufs höchste seinen Heldenmut, sagte, es gebe nicht seinesgleichen und dankte ihm aufs innigste für seine Heldentat. Daraufhin ließ er ihn an seiner Seite sitzen. Es ehrten ihn alle sehr und hielten ihn alle für den größten Helden. Selbst Raud konnte nichts dagegen sagen, wälzte aber noch immer den Gedanken, ihn beiseite zu schaffen.

Und so kam ihm auch eines Tages ein guter Gedanke. Er ging zum König und sagte, er habe mit ihm etwas zu besprechen. Der König fragte, was das denn sei; da sagte er, der gute Goldmantel, das gute goldene Brettspiel und das gute leuchtende Gold seien ihm wieder eingefallen, die dem König doch vor Jahresfrist fortgekommen seien. Der König bat ihn, doch daran nicht zu erinnern, aber Raud fragte, ob ihm denn nicht derselbe Gedanke schon gekommen sei wie ihm. Der König fragte, was das denn für ein Gedanke sein solle. Raud sagte, man sehe, daß Ring ein ganz besonders großer Held sei, und er glaube, daß Ring alles fertigbringe; da sei ihm nun der Gedanke gekommen, dem König zu raten, er solle doch Ring bitten, ihm diese Kostbarkeiten zu suchen und sie ihm noch vor Weihnachten zu bringen; er solle ihm dafür auch seine Tochter versprechen. Der König aber sagte, es komme ihm recht



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unpassend vor, an Ring eine solche Bitte zu richten, da er ihm auch nicht einmal andeuten könne, wo die Dinge etwa sein könnten. Raud aber tat, als höre er alle Ausreden des Königs gar nicht, und beschwatzte ihn so lange, bis der König auf sein Gerede hörte.

Ein Monat vor Weihnachten war's gerade, da kam einmal der König mit Ring ins Gespräch und sagte, er habe eine gar große Bitte an ihn. Ring fragte, was es denn sei. Der König sagte: »Dies ist die Bitte, daß du den guten goldenen Mantel, das gute goldene Brettspiel und das gute leuchtende Gold wiederfinden möchtest, das mir vor Jahresfrist gestohlen worden ist, und wenn du mir das alles vor Weihnachten wiederbringst, will ich dir meine Tochter zur Frau geben.« Ring sagte: »Wo könnte ich am besten nach diesen Dingen suchen?« Der König sagte: »Das mußt du dir alleine sagen, denn ich weiß das nicht.«

Ring ging nun fort vom König und war schweigsam, denn es kam ihm vor, als sei er auf Schwierigkeiten gestoßen, und doch wäre es ihm herrlich vorgekommen, wenn er die Königstochter hätte gewinnen können. Snati sah, daß sein Herr ratlos war und sagte, er solle sich nicht grämen um die Bitte, die der König an ihn gerichtet habe, er möge nur auf ihn hören, sonst gehe es ihm ganz schlimm. Der Königssohn hörte darauf und fing an, sich zur Abfahrt zu rüsten. Dann ging er hinein zum König und sprach mit ihm. Als Ring sich vom König verabschiedet hatte, sagte Snati zu ihm: »Nun sollst du zunächst in der Umgegend herumfahren und soviel Salz holen, wie du bekommen kannst.« Der Königssohn tat dies auch und bekam soviel Salz, daß er's gar nicht tragen konnte. Snati sagte, er solle es nur ihm auf seinen Rücken laden. Das tat Ring auch. Nun war's nahe an Weihnachten. Der Hund rannte so lange immer vor dem Königssohne her, bis sie zu einem Berge kamen. »Hier geht's hinauf«, sagte Snati. »Das wird nicht leicht sein«, sagte der Königssohn. »Halte du dich an meinem Schwanze fest«, sagte Snati. Dann sprang Snati mit Ring am Schwanze auf die niedrigste Stelle, da wurde Ring schwindlig. Dann sprang Snati mit ihm auf eine höhere Stelle, da war Ring nahe daran, bewußtlos zu werden. Beim drittenmal sprang er mit ihm ganz hinauf auf den Berg; da war Ring völlig bewußtlos. Als er nach einer Weile wieder zu sich gekommen war, gingen sie eine Zeitlang auf ebenen Wegen, bis sie zu einer Höhle kamen. Es war dies am Weihnachtsabend. Sie gingen zur Höhle hinauf und fanden ein Fensterloch. Da hinein schauten sie und entdeckten vier Riesen, die am Feuer lagen und schliefen. Über dem Feuer hing ein großer Kessel mit



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Grütze. »Wirf nun alles Salz in den Grützetopf«, sagte Snati. Ring tat's und alsbald wachten die Riesen auf. Eine alte Riesin, die allerhäßlichste von ihnen, fing nun zuerst an, die Grütze zu kosten, und sagte: »Die Grütze ist ganz versalzen, wie kommt das nur? Ich zauberte gestern die Milch aus vier Königreichen herbei, damit wir Grütze zu schlecken hätten, und nun ist sie salzig.« Alle fingen an, sich hinter die Grütze zu machen, und sie schmeckte ihnen gut. Als sie fertig waren, bekam das Riesenweib einen solchen Durst, daß sie's nicht mehr aushalten konnte; sie bat ihre Tochter, ihr am Fluß Wasser zu holen, der ja nahe bei der Höhle vorbeifloß. »Ich gehe nicht«, sagte die Tochter, »wenn du mir nicht das schöne, glänzende Gold zum Spielen gibst.« — »Bevor ich umkomme, kriegst du's nicht.« — »Nun, dann komm eben um«, sagte das Riesenmädchen. »Da nimm's, du dummes Ding, und mach schnell mit dem Wasser.« Das Mädchen nahm das Gold und lief damit hinaus; da glänzte die ganze Ebene. Als sie zum Fluß kam, legte sie sich über das Wasser hin und fing an zu trinken. Da liefen Ring und Snati vom Fensterloch herab und stießen sie mit dem Kopf in den Fluß hinein. Der alten Riesin fing's nun an, unerträglich zu werden, daß das Mädchen mit dem Wasser zum Trinken solange nicht kam, und sie sagte: »Sicher hüpft sie mit dem Gold draußen herum.« Sie bat ihren Sohn um einen Schluck Wasser. »Ich hole keins«, sagte er, »wenn ich nicht den schönen Goldmantel kriege.« — »Bevor ich nicht umkomme, bekommst du ihn nicht.« — »Dann komm eben um«, gab er zur Antwort. »Dann nimm ihn, du häßlicher Sohn, geh und mach schnell mit dem Wasser«, sagte das alte Riesenweib. Er nahm nun den Mantel, und als er damit herauskam, leuchtete es so, daß er gut den Weg finden konnte. Er kam zum Fluß und fing an zu trinken, wie schon seine Schwester getan hatte. Da liefen Ring und Snati zu ihm hin, zogen ihm den Mantel aus und warfen ihn in den Fluß.

Das alte Riesenweib konnte es nun vor Durst nicht mehr aushalten und bat ihren Mann, ihr was zum Trinken zu holen; »sicher spielen die Kinder draußen, das ahnte ich gleich, als ich ihrem Betteln zum Unheil nachgab.« — »Ich gehe aber nicht«, sagte der alte Riese, »wenn du mir nicht das goldene Brettspiel gibst.« — »Eher sterb ich, als daß ich das tue«, sagte sie. »Nun, dann stirb, wenn du mir nicht diesen kleinen Wunsch erfüllen willst«, sagte der Riese. »Da nimm es, du Unmensch, du bist genauso einfältig wie die beiden Gören.«

Der Riese ging nun hinaus mit seinem Brettspiel, ging zum Fluß, wollte



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trinken, da kamen die beiden, nahmen ihm das Brettspiel weg und warfen ihn in den Fluß. Noch ehe sie wieder zur Höhle zurückgekommen waren, kam der tote Riese als Wiedergänger aus dem Wasser. Snati lief ihm sofort entgegen, Ring tat genauso, wenn auch der Mut ihm versagte, und nach schwerem Ringkampf besiegten sie ihn zum zweitenmal.

Als sie aber zum Fenster zurückkamen, sahen sie das alte Riesenweib gerade aus der Höhle herauskriechen. Da sagte Snati: »Nun bleibt uns nur übrig hineinzugehen und zu versuchen, mit ihr fertig zu werden; denn wenn sie erst draußen ist, dann können wir nicht Herr über sie werden. Sie ist das übelste Riesenweib, das es gibt, und kein Eisen beißt sie. Der eine von uns muß sie mit heißer Grütze aus dem Kessel begießen, der andere muß sie mit glühenden Eisen zwicken.«

Darauf gingen sie in die Höhle. Als das alte Weib Snati sah, sprach sie mit ihm und sagte: »Du bist hierhergekommen, Königssohn Ring, du hast wohl meinen Mann und meine Kinder gesehen.«

Snati merkte gleich, daß die Alte im Sinn hatte, einen Zauber auszusprechen, und ging mit glühendem Eisen auf sie los, Ring begoß sie dauernd mit der heißen Grütze und so brachten sie sie schließlich ums Leben. Dann verbrannten sie den Riesen und sie zu Asche, untersuchten die Höhle und fanden noch mancherlei Gold und Kostbares. Das Beste nahmen sie mit und gingen davon. Dann beeilten sie sich, mit den Kostbarkeiten zum König zu kommen.

Spät am Weihnachtsabend kam nun Ring in die Halle und gab dem König die drei Kostbarkeiten. Da war der König ganz außer sich vor Freude und höchst erstaunt, wie tüchtig Ring sich bei jeder Aufgabe erwies, wo es auf Stärke und Schlauheit ankam. Nun war er ihm nur noch freundlicher gesinnt als je zuvor, versprach ihm seine Tochter, und die Hochzeit sollte noch zur Festzeit gefeiert werden.

Ring dankte dem König in höfischer Weise für alles Gute, was er ihm erwiesen hatte, und nachdem er in der Halle gegessen und getrunken hatte, ging er in seine Stube, um sich schlafen zu legen. Da sagte Snati, er wolle ihn um die Erlaubnis bitten, heute nacht in seinem Bett schlafen zu dürfen, und er solle unten bleiben auf seinem Hundelager. Ring sagte, das tue er gern, und er dürfe wohl mehr von ihm verlangen als nur dies. Snati stieg nun ins Bett hinauf. Kurz danach kam er wieder herunter und sagte, der Königssohn möge nun hinaufsteigen, aber er solle daran denken, daß er sich im Bett nicht im geringsten bewegen



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dürfe. Nun erzählt das Märchen von Raud, daß er in die Halle kam und dem König seinen rechten Arm zeigte, an dem die Hand fehlte. Er sagte, der König solle nun selbst sehen, was sein Schwiegersohn für Gewohnheiten habe, dies habe er ihm angetan, und zwar ohne jeden triftigen Grund.

Da war der König sehr zornig und sagte, die Wahrheit müsse gleich herauskommen und wenn Ring ihm, ohne daß er etwas getan hätte, die Hand abgehauen habe, so solle er gehängt werden; wenn dem aber nicht so sei, dann müsse Raud sterben.

Der König rief Ring vor sich und fragte ihn, wie es komme, daß er dem Raud habe müssen die Hand abhauen, ob denn Raud nicht schuldlos gewesen sei. Snati hatte dem Ring erzählt, wer schuldig war, als es sich zutrug in der Nacht; er bat deshalb den König, mit ihm zu gehen und sagte, er wolle ihm ein Merkmal zeigen. Der König ging mit Ring in seine Schlafstube und sah da eine Männerhand im Bett liegen, die ein Schwert festhielt. Ring sagte, eben diese Hand sei zur Nacht durch die Wand gekommen und habe ihn im Bett ermorden wollen; da habe er sein Schwert gezogen und sich gewehrt. Der König sagte, ihn treffe keine Schuld, er habe sich nur seiner Haut gewehrt, aber Raud habe sich sein eigenes Grab gegraben und müsse sterben. Raud wurde gehängt, und Ring hielt Hochzeit mit der Königstochter.

In der ersten Nacht, als sie zusammen schliefen, bat Snati den Ring um die Erlaubnis, zu seinen Füßen liegen zu dürfen. Ring gewährte ihm gern diese Bitte. Nun ging das Brautpaar zu Bett, und Snati schlief zu ihren Füßen. In der Nacht hörte Ring ein furchtbares Geheul und Gelärme neben sich. Er machte schnell Licht und sah da eine ungewöhnlich häßliche Hundehaut auf der Diele liegen, aber im Bett lag ein schöner Königssohn. Er nahm die Haut und verbrannte sie. Den Königssohn, der bewußtlos dalag, brachte er mit Wasser zur Besinnung. Der Bräutigam fragte ihn dann, wie er heiße, und er sagte, er heiße Ring und sei ein Königssohn.

Er erzählte, er habe als kleines Kind seine Mutter verloren, und sein Vater habe eine Riesin geheiratet. Diese habe ihn verzaubert, daß er ein Hund werden und nie wieder von der Verzauberung loskommen solle, wenn nicht ein gleichnamiger Königssohn ihn in seiner Hochzeitsnacht zu seinen Füßen schlafen lasse.

Und so fuhr er fort: »Da sie wußte, daß ich an dir einen gleichnamigen Königssohn finden und durch dich erlöst werden könnte, wollte sie



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dich aus dem Wege schaffen. Sie war die Hindin, die du mit deinen Gefährten erjagen wolltest, sie war die Frau, die du an der Waldlichtung bei der Tonne sitzen sahst, und sie war auch das üble Riesenweib, das wir in der Höhle erschlagen haben.«

Als die Hochzeit vorüber war, fuhren die beiden Namensbrüder zum Berg und brachten alles Kostbare in die Königshalle. Dann fuhren sie auch zur Insel, wo Ring bei den guten Riesen geweilt hatte. Dort holten sie, was an Kostbarem vorhanden war.

Ring gab seinem Namensbruder, der nun von seinem Zauber erlöst war, seine Schwester Ingeborg zur Frau und sein Vatererbe als Regierungssitz. Er selbst blieb beim König, seinem Schwiegervater, und teilte sich mit ihm in das Königreich. Nach dem Tode des Königs regierte er allein.


Die Frau will was haben für ihren Knopf

Es lebte einmal ein alter Mann mit seiner alten Frau in einer ärmlichen Hütte. Sie waren so arm, daß sie nichts Wertvolles besaßen außer einem goldenen Knopf an der Spindel der Frau. Gewöhnlich fuhr der Mann jeden Tag zur Jagd oder zum Fischfang, um für sie beide Lebensunterhalt zu schaffen. Nahe bei der Hütte des Bauern war ein großer Hügel, und die Leute glaubten, da drinnen wohne ein Eib mit Namen Kidhus, dem man großes Mißtrauen entgegenbrachte.

Eines Tages nun kam es, wie schon oft, daß der Bauer auf die Jagd fuhr und die Frau wie gewöhnlich zu Hause saß. Da es schönes Wetter war, setzte sie sich ins Freie mit ihrer Spindel und spann eine Weile. Da fiel der goldene Knopf von der Spindel und rollte fort, so daß die Frau ihn aus den Augen verlor. Sie war recht wütend darüber und suchte ihn vor der Tür und dem Haus; aber er kam durchaus nicht wieder zum Vorschein; sie konnte ihn nirgends mehr finden.

Als der Mann heimkam, erzählte sie ihm von dem Unheil, das sie betroffen hatte. Da meinte der Bauer, gewiß habe Kidhus den Knopf genommen, das sei so ganz seine Art. Er machte sich wieder von Hause auf und sagte seiner Frau, er wolle zu Kidhus gehen und den Knopf zurückverlangen oder etwas anderes dafür haben. Das kam ihr sonderbar vor. Der Mann ging nun dem Wege nach zum Hügel des Kidhus und klopfte da lange und fest mit einem Prügel. Schließlich fragte Kidhus:



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***
»Wer klopft an mein Haus?«

Der Bauer sagte:



***
»Der alte Bauer ist's, lieber Kidhus, Die Frau will was haben für ihren Knopf.«


***
Kidhus fragte, was er denn dafür haben wolle. Da bat ihn der Bauer um eine Kuh, die jedesmal ein Viertelfaß Milch gebe beim Melken, und Kidhus gewährte ihm diese Bitte. Der Bauer fuhr mit der Kuh heimwärts zu seiner Frau. Als am andern Tage die Bäuerin am Abend und am Morgen gemolken und all ihre Gefäße mit Milch gefüllt hatte, fiel ihr ein, sie könne Grütze kochen, aber da erinnerte sie sich, daß sie kein Mehl zur Grütze habe. Sie ging zu ihrem Mann und bat ihn, zu Kidhus zu gehen und ihn um Mehl zu bitten. Da ging der Mann auch zu Kidhus und klopfte wie vorher mit dem Stock an den Hügel. Da sagte Kidhus:
»Wer klopft an mein Haus?«


***
Der Bauer antwortete:
»Der alte Bauer ist's, lieber Kidhus,
Die Frau will was haben für ihren Knopf.«


***
Kidhus fragte ihn, was er denn wolle. Da bat ihn der Bauer um Mehl in seinen Topf, da seine Frau Grütze kochen wolle. Kidhus gab ihm eine Tonne Mehl. Der Bauer fuhr wiederum heim mit der Tonne, und seine Frau kochte die Grütze.

Als die Grütze gekocht war, setzten sie sich hin und aßen. Als sie sich satt gegessen hatten, hatten sie immer noch eine Menge übrig und fingen an zu überlegen, was sie denn mit den Oberresten tun sollten; es schien ihnen das beste, sie der heiligen Maria zu bringen. Aber sie sahen bald ein, daß es nicht gar leicht war, zu ihr hinaufzukommen in den Himmel. Deshalb beschlossen sie, noch einmal den Kidhus um eine Leiter zu bitten, die bis zum Himmel reiche, und sie glaubten, das dürften sie schon noch verlangen für den goldenen Knopf. Der Bauer ging nun und klopfte wiederum bei Kidhus an den Hügel. Kidhus fragte wie vorher:

»Wer klopft an mein Haus?«


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***
Da gab der Bauer zur Antwort:
»Der alte Bauer ist's, lieber Kidhus,
Die Frau will was haben für ihren Knopf.«


***
Da wurde Kidhus böse und sagte: »Ist denn der lumpige Knopf noch immer nicht bezahlt?«Aber der Bauer bat ihn nur um so herzlicher und sagte ihm, er möchte doch der Jungfrau Maria die Grützereste bringen. Und Kidhus ließ sich bewegen, gab ihm die Leiter, richtete sie ihm sogar noch auf. Da war der Bauer voller Freude und ging heim zu seiner Frau. Sie machten sich zur Fahrt fertig und nahmen die Grützeschüsseln mit. Als sie aber schon ziemlich hoch auf der Leiter hinaufgekommen waren, fingen sie an schwindlig zu werden. Sie verloren die Besinnung, stürzten von oben herunter, und ihre Schädel sprangen entzwei. Da flogen die Gehirnteile und die Breireste überall hin. Wo aber die Gehirnteile der beiden auf die Steine fielen, da entstanden weiße Flecken, und wo die Breireste hinfielen, da entstanden gelbe Fiekken, und diese beiden Arten Flecken sind noch heute im Gestein zu sehen.


Der Bräutigam und der Wiedergänger

Auf dem Kirchhofe zu Reykholar waren einmal vier Männer dabei, für eine Leiche ein Grab zu graben, lauter lustige Gesellen, namentlich einer war besonders übermütig und jung. Wie sie tiefer kamen, stießen sie auf Menschenknochen, besonders ein ungeheuer großes Oberschenkelbein kam zum Vorschein. Der Übermütige nahm ihn auf, besah ihn sich von allen Seiten, stellte ihn neben sich zum Vergleiche, wobei ihm der Knochen von unten bis zur Hüfte gereicht haben soll, obwohl er auch nicht gerade klein war, und sagte zum Spaß: »Das muß ein verdammt kräftiger Bursche im Ringen gewesen sein, den möcht ich zum Jux zu meiner eigenen Hochzeit einladen!« Die andern stimmten zu, verhielten sich aber stiller, und der Knochen kam wieder zu den übrigen.

Fünf Jahre später nahm der junge Mann eine Braut, und schon hatte das zweite Aufgebot stattgefunden. Da träumte der Braut drei Nächte hintereinander, wie ein ungeheuer großer Mann an ihr Bett käme und



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sie fragte, ob ihr Bräutigam wohl daran gedenke, was er ihm vor einigen Jahren im Übermut zugesagt hätte, und in der dritten Nacht fügte er hinzu, er würde ganz sicherlich bei der Hochzeit als Tischgast erscheinen. Das Mädchen entsetzte sich darüber, sagte ihrem Bräutigam aber erst nach dem drittenmal etwas davon, indem sie fragte: »Wen hast du denn eigentlich vor, zu unserer Hochzeit einzuladen, Lieber?« — »Ich weiß es noch gar nicht, Liebe«, sagte er, »ich wollte noch erst das dritte Aufgebot abwarten.« —»Du hast also noch gar niemanden eingeladen?« fragte sie. Es kam ihm sonderbar vor, daß sie ihn so eindringlich fragte. Er begann nachzudenken, und schließlich sagte er: er müsse zugeben, daß er vor einigen Jahren zu dem Schenkeiknochen eines Toten gesagt habe, er möchte einen so großen Mann zum Jux zur eigenen Hochzeit einladen. Aber das könne man doch eigentlich keine Einladung nennen. Der Braut wurde ziemlich ernst zumute dabei, und sie sagte, mit Totengebeinen treibe man keinen Spaß. »Und das kann ich dir nun sagen, daß der Mann, den du so geneckt hast, ernstlich daran denkt, zu unserer Hochzeit zu kommen.«Sie erzählte ihm nun ihre Träume. Der Bräutigam erschrak nicht wenig darüber und meinte auch, der Spaß wäre wohl besser unterblieben.

Als er abends wie gewöhnlich schlafen ging, erschien ihm in der Nacht ein ungeheurer Mann, groß wie ein Riese, bösen Angesichts, und fragte ihn, ob er's nun wahr haben wolle, daß er bei der Hochzeit sein Tischgast sei.

Der Bräutigam erschrak und sagte, dabei müsse es nun wohl bleiben. Jener erwiderte, daß es in der Tat unabänderlich sei, wie es ihm auch behage; er habe es gar nicht nötig gehabt, sich mit seinen Knochen zu befassen und nun möge er merken, was es mit solchen Dingen auf sich habe. Dann verschwand der Wiedergänger, und der Bräutigam erzählte am Morgen den Traum seiner Braut. Sie sagte, er möge sich Bauholz und Zimmerleute nehmen und möge schnellstens ein Haus bauen lassen, groß genug für den Mann zum Aufrechtstehen. Jede Wand sollte genauso lang wie hoch sein. Teppiche möge er darin aufhängen lassen wie gewöhnlich in einem Hochzeitssaal. Den Tisch dieses Geistes solle er mit einem weißen Tuch decken, eine Schüssel mit geweihter Erde und eine Flasche mit Wasser darauf setzen, denn andere Speisen würde jener nicht nehmen; neben dem Tisch müsse ein Stuhl stehen, und auch ein Bett müsse da sein, damit er ruhen könne, wenn er wolle; drei Kerzen müßten auf dem Tische stehen. Er selbst müsse den Gast zu dem



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Hause begleiten, dürfe aber nicht vor ihm hergehen oder mit ihm unter dasselbe Dach kommen. Auch solle er keinerlei Einladung von ihm annehmen und möglichst wenig mit ihm reden. Das Haus müsse er verschließen und fortgehen, sobald er ihm angeboten habe, was auf dem Tisch stehe. —Und der Bräutigam tat in allem genau, wie die Braut ihm geraten hatte.

Als der Hochzeitstag kam, wurde die Trauung auf die übliche Weise vollzogen. Dann setzte man sich zu Tische, und als es dunkel geworden war, stand man wieder vom Tische auf, ohne daß etwas Besonderes geschehen wäre. Die einen Gäste gingen im Hochzeitssaal auf und ab, die andern saßen beim Trunk und unterhielten einander. Das Brautpaar war nach der Sitte noch ruhig sitzengeblieben. Da pochten starke Schläge an die Tür. Keiner hatte besondere Eile aufzumachen; die Braut stieß den Bräutigam leise an, der aber war leichenblaß geworden. Als so eine kleine Weile vergangen war, wurde noch heftiger gepocht. Da nahm die Braut den jungen Ehemann bei der Hand, führte den Widerstrebenden zur Tür und öffnete. Da stand ein ungeheuer großer Mann vor ihnen und sagte, er sei jetzt als Hochzeitsgast gekommen. Da schob die Braut ihren Bräutigam aus dem Hause hinaus, damit er den Gast empfinge, schloß die Türe hinter ihm und bat Gott, ihn zu stärken.

Nun begab sich der Bräutigam mit dem Manne zu jenem Hause und wies ihn hinein. Jener wollte, er solle vorangehen; aber er weigerte sich. Schließlich ging der Fremde voran, sagte aber dabei, der Bräutigam möge sich von nun ab hüten, sich jemals wieder mit den Knochen eines Toten einzulassen. Der Bräutigam tat, als höre er das nicht, und bat ihn, sich an den aufgetischten Speisen gütlich zu tun und zu entschuldigen, daß er nicht bei ihm bleiben könne. Der Fremde bat den Bräutigam, doch einen Augenblick hereinzukommen; aber das verweigerte dieser wieder. Da sagte der Wiedergänger: »Da du nun diesmal nicht bei mir bleiben oder zu mir hereinkommen kannst, so hoffe ich, du wirst mir dafür den Gefallen erweisen, einer Einladung zu mir Folge zu leisten.«

Aber der Bräutigam lehnte auch dies auf das entschiedenste ab und warf die Tür ins Schloß. Dann ging er zum Hochzeitsmahl zurück, wo es ganz still und den Gästen sehr bange geworden war. Nur die Braut saß heiter da. Dann verabschiedeten sich die Gäste allmählich, und das Ehepaar ging zu Bett und schlief bis zum Morgen.

Am Morgen wollte der Mann nach dem späten Gast sehen, aber die



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junge Frau ließ ihn keinen Schritt dorthin alleine tun. Sie ging vielmehr voran und schloß auf; da war der Gast verschwunden, das Wasser war ausgetrunken, die Erde von der Schüssel aber über den ganzen Boden verstreut. »Das habe ich geahnt«, sagte die junge Frau, »wärest du vor mir hineingegangen und hättest auch nur mit einem Fuße auf diese Erde getreten, so wärest du dadurch in die Gewalt des Wiedergängers geraten und hättest nie mehr zu den Menschen zurückkehren können. Mir aber schadet es nichts, wenn ich hineingehe; ich will nun das Haus auskehren und reinigen.«

Andere wieder erzählen, daß der Wiedergänger, als er sich davon gemacht habe, am Hochzeitshaus oder an der Schlafkammer gesprochen habe:

»Meinen Dank verdient ihr nicht
Für das Hochzeitsfestgericht:
Erde nur und Wasser blank,
Dafür gibt es keinen Dank.«


***
Seitdem ist der Wiedergänger nicht mehr erschienen; und die Eheleute lebten in Glück und Liebe beisammen.


Das Seehundsfell

Ganz früh am Morgen ging einmal ein Mann aus Myrdal im Osten am Felsen vorbei und kam zu einer Höhle. Da hörte er drinnen Tanz und Lärm, draußen aber sah er eine Menge Seehundsfelle liegen. Eins davon hob er auf, nahm's mit nach Hause und verschloß es in seiner Truhe. Als er später wieder dort vorbeikam, saß da ein schönes nacktes Mädchen und weinte bitterlich. Das war der Seehund, dessen Fell der Mann in seiner Truhe verschlossen hatte.

Er tröstete das Mädchen, gab ihm Kleider und nahm es mit sich nach Hause. Da sie ihn sehr lieb gewann, nahm er sie zur Frau. Sie lebten gut miteinander und hatten viele Kinder. Aber oft saß sie da und schaute über die See hinaus.

Den Schlüssel der Truhe trug der Bauer immer bei sich. Einmal aber, nach vielen Jahren, ruderte er hinaus, um Fische zu fangen -da vergaß er den Schlüssel zu Hause unter seinem Kopfkissen. Als er am Abend heimkam, war die Truhe offen und die Frau mitsamt dem Fell verschwunden.



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Die Frau hatte nämlich den Schlüssel gefunden, aus Neugierde in der Truhe herumgestöbert und dabei ihr Seehundsfell gefunden. Und nun hielt es sie nicht mehr länger, sie sagte ihren Kindern Lebewohl, fuhr in das Fell und verschwand in der See.

Ehe die Frau in die See sprang, sagte sie:

»Mir ist so froh und ist so weh,
Hab' sieben Kinder in der See,
Und sieben auf dem Lande.«

Der Bauer war sehr traurig darüber. Wenn er nachher zum Angeln hinausruderte, schwamm der Seehund oft um sein Boot herum, und es war, als liefen ihm dicke Tränen aus den Augen. Seit dieser Zeit hatte er Glück beim Fischfang und in allen Dingen. Wenn die Kinder an den Strand gingen, dann begleitete sie der Seehund und warf ihnen bunte Fische und hübsche Muscheln hinauf. Aber ihre Mutter kam nie wieder zu ihnen.


Wie die Seehunde entstanden sind

Es wird davon erzählt, daß der König Pharao aus Ägypten, als er Moses und die Juden verfolgte und dabei im Roten Meer ertrank, und all seine Leute zu Seehunden wurden. Daher sehen auch die Knochen der Seehunde denen der Menschen so sehr ähnlich. Seit dieser Zeit auch leben die Seehunde wie eine Familie für sich auf dem Meeresboden, haben aber unter ihrem Fell ganz die Gestalt, Natur und Eigenschaften der Menschen bewahrt.

Jede Johannisnacht dürfen sie aus ihren Fellen kriechen; dann gehen sie an Land, nehmen ihre menschliche Gestalt an, singen und tanzen wie die Menschen.


Der Königssohn Thorstein und der dankbare Tote

Es war einmal ein König und eine Königin. Ihr Sohn hieß Thorstein. Er war schon als Kind stark und kräftig, und jedermann hatte ihn lieb wegen seiner Güte und Freigebigkeit. Aber seine Lust zum Schenken schien ins Maßlose zu gehen, und seine Mutter machte ihm die schärfsten



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Vorwürfe deswegen. Sie wandte die größten Vorsichtsmaßregeln an gegen diese Verschwendungssucht, wie sie's nannte, aber er blieb, wie er war und gab, soviel er kriegen konnte.

Als seine Mutter tot war, dachte er, nun könne er ohne Gefahr geben und war froh darüber, daß er nun nicht mehr ihren Rat hören mußte, sondern sich selbst beraten durfte. Er glaubte ganz bestimmt, daß sein Vater genauso denke wie er, weil er ihn nie zurechtgewiesen hatte. Aber es kam ganz anders; der König tadelte ihn auch wegen seiner Freigebigkeit, genauso wie das die Königin immer getan hatte. Er versuchte seinem Sohne begreiflich zu machen, daß solche Verschwendung sich nicht für ihn passe und er dadurch arm werde und schließlich gar nichts mehr in Händen habe. Aber keine Mahnungen halfen. Thorstein blieb, wie er war, gab alles weg, wenn er etwas hatte.

Nun geschah es, daß auch noch sein Vater starb. Jetzt war er ganz glücklich, denn nun war er allein und konnte tun, wie's ihm gefiel. Er gab jedem Geld, der etwas haben wollte, und es kamen ziemlich viel, so daß der Reichtum, den er von seinem Vater geerbt hatte und der recht groß war, bald zu schwinden begann. Es bedarf keiner langen Berichte, es kam eben so, daß alles Eigentum Thorsteins draufging, so daß ihm weiter gar nichts mehr übrigblieb als nur das bloße nackte Königreich. Da wollte er schließlich das Königreich verkaufen, um Geld in die Hand zu bekommen, das er verschenken könne. Zum Schluß glückte ihm auch das, und er bekam für sein Königreich ein mit Gold und Silber beladenes Pferd.

Als Thorstein den Kauf abgeschlossen hatte, fingen seine Freunde an sich zu verziehen. Sie kehrten ihm alle den Rücken, da sie sahen, daß da kein fettes Schwein mehr war, dem sie hätten weiterhin können die Haut abziehen. Nun erst erkannte Thorstein, in welch traurige Lage er gekommen war, und beschloß, die treulosen Freunde zu verlassen. Er machte sich auf mit allem, was er noch hatte, und lud es einem Pferde auf; er selbst ritt seinen Roten. Dies Pferd wollte er nie verkaufen wegen seiner guten Eigenschaften, die es hatte, obwohl sie in diesem Märchen nicht weiter erwähnt werden.

Thorstein ritt nun lange, lange über öde Strecken und Heide, ohne zu wissen, wo er war, noch wohin er kam. Er ließ die Pferde grasen, wo er Gras fand in dieser öden Gegend. Sonst hielt er sich nirgends auf. Einmal, als er wieder die Pferde grasen ließ, war er gar sehr traurig; ihm war, als sei es gewiß, daß er auf dieser Fahrt sein Leben verlieren müsse.



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Zugleich sah er aber auch ein, daß ihm nichts weiter übrigblieb als weiter zuwandern, wohin er auch immer käme. Da stieß er auf ein Gehöft und war sehr froh, denn er hatte schon lange keinen Menschen mehr getroffen. Er bat nun, auf dem Hof bleiben zu dürfen, und bekam ohne weiteres die Erlaubnis. Er schlief dort in der Nacht, aber als er früh aufwachte, war kein Mensch auf dem ganzen Hofe zu sehen. Er wunderte sich und dachte, daß da irgendein Betrug dahinter stecke. Er machte sich auf die Beine und lief aus dem Hofe hinaus. Da sah er, wie der Bauer mit all seinem Gesinde eifrigst damit beschäftigt war, einen Grabhügel nicht weit vom Hofe auszugraben.

Thorstein fragte den Bauer, weshalb er denn solch merkwürdige Dinge treibe, und war einigermaßen erstaunt über sein Gebaren. Aber der Bauer sagte, er tue dies nicht aus Gewinnsucht; in diesem Hügel liege ein Mann begraben, der ihm zweihundert Reichstaler schuldig geblieben sei und sie ihm nie bezahlt habe.

Der Königssohn suchte ihm begreiflich zu machen, daß er auf diese Weise doch nie seine Schuld bezahlt bekomme, sondern daß er damit doch nur noch mehr Zeit vergeude. Der Bauer sagte, das kümmere ihn nicht; er sei zufrieden, wenn der Tote in seinem Grabe weder Frieden noch Ruhe finden könne, und er sagte noch, nie werde er aufhören damit, solange er lebe. Da fragte der Königssohn den Bauern, ob er nicht damit einverstanden sei, daß ein anderer ihm die Schulden des Toten bezahle. Der Bauer sagte ja, damit sei er wohl einverstanden. Da gab ihm der Königssohn seine letzten Pfennige.

Der Bauer ließ nun davon ab, das Grab zu zerwühlen, und gelobte ihm, daß er's auch nie wieder tun wolle.

Der Königssohn fragte den Bauern nach einem Weg in bewohnte Gegend, wo viele Menschen seien. Der Bauer zeigte ihm einen und sagte, wenn er eine Zeitlang auf dem Weg gegangen sei, der von seinem Hof wegführe, dann komme er zu einer Wegkreuzung und dort solle er sich hüten, den Weg nach Osten einzuschlagen und lieber den andern gehen.

Der Königssohn dankte für den Bescheid und ging. Er kam nun dahin, wo die Wege sich kreuzen, und ging westwärts. Als er aber ein Weilchen dahinritt, dachte er bei sich, es wäre doch spaßig zu wissen, ob es denn auf dem andern Weg gefährlich sei.

Er ging zurück, kam zur Kreuzung und ritt ostwärts, bis er zu einem prächtigen Hof kam, der von allen Seiten umschlossen war, von Natur



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und von Menschenhand. Er fand einen Fußweg, der zum Gehöft führte. Er ließ die Pferde draußen stehen und ging hinein.

Er kam in ein Haus, das stand offen, und kein Mensch war draußen. Er erblickte sieben Betten, alle sehr schön, aber eins davon war ganz prächtig. Ein Tisch stand an dem ganzen Haus entlang mitten auf dem Estrich, und darauf standen Teller. Aber er sah auch da keinen Menschen.

Dann ging er hinaus, nach seinen Pferden zu sehen, denn er wollte hier übernachten, obgleich es ihm etwas gefährlich vorkam. Er sattelte die Pferde ab und ließ sie auf die Weide gehen. Aus seinem Reisegepäck nahm er heraus, was er nötig brauchte. So nahm er auch sein Schwert zu sich, das außer seinem Roten sein teuerstes Kleinod war.

Hierauf ging er zum Hof zurück und ging in jedes Haus, in das er hinein konnte. In einem fand er einen Vorrat an Speisen. Er nahm etwas davon und gab auf jeden Teller eine große Portion, dann machte er mit kluger Sorgfalt alle Betten zurecht. Wenn er auch dachte, er könne sich nun Ruhe gönnen, so wagte er's doch nicht, sich in Gefahr zu bringen. Er suchte sich deshalb einen Schlupfwinkel, um aufpassen zu können, und fand schließlich auch einen ganz hinten mitten an der Wand.

Es dauerte nicht lange, da hörte Thorstein ein großes Dröhnen von unten. Die Haustüre wurde aufgestoßen und jemand kam herein. Er hörte wie einer sagte: »Es ist jemand hereingekommen, dem wollen wir die Zeit vertreiben.« —»Nein«, sagte ein anderer, »das wird nichts werden, ich nehme ihn in meinen Schutz; ich habe hier soviel zu sagen, daß ich über ein Menschenleben bestimmen kann. Er hat sich aus Bereitwilligkeit uns dienstbar erwiesen, unsere Betten zurecht gemacht und Speisen aufgetragen und alles in Ordnung gebracht. Wenn er zum Vorschein kommt, soll ihm kein Leid geschehen.«

Bei diesen Worten atmete der Königssohn auf und beruhigte sich. Die Burschen schienen ihm recht groß zu sein und eher Trollen zu gleichen als Menschen, namentlich der Anführer war ein gewaltig großer Riese. Thorstein blieb die Nacht über bei ihnen. Am Morgen baten sie ihn, er möge doch eine Woche dableiben. Sie sagten, er habe nichts anderes zu tun, als für sie das Essen zu richten und ihre Betten zurechtzumachen. Der Königssohn sagte das zu und blieb noch eine Woche. Weil er aber den Bewohnern des Hofes gut gefiel, drangen sie in ihn, daß er doch noch ein ganzes Jahr bei ihnen bleiben möge. Auch dazu sagte der Königssohn ja, obwohl es ihm recht langweilig war.



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Der große Riese versprach ihm reichlichen Lohn und gab ihm alle Schlüssel bis auf einen. Den trug er selbst um den Hals an einer Schnur. Der Königssohn ging nun in alle Zimmer des Hofes, nur in dies eine nicht, zu dem der Riese den Schlüssel zurückbehalten hatte. Ein anderer Schlüssel paßte nicht; er versuchte, die Türe zu sprengen, auch das ging nicht.

Thorstein bemerkte, wie der große Riese jeden Abend und jeden Morgen in dies Zimmer ging. Als er schon länger auf dem Hofe war, fragte er einmal den großen Riesen, warum er ihm diesen einen Schlüssel nicht gegeben habe. Er sagte, wenn er in dem, was ihm bisher anvertraut worden sei, treu befunden wäre, so würde er's auch in bezug auf das sein, was in diesem Zimmer wäre.

Der Riese sagte, es sei gar nichts weiter, das solle er nur glauben; er sei wirklich als treu befunden worden, wo es sich um Großes gehandelt habe und damit schloß diese Unterredung.

Um es kurz zu sagen, der Königssohn war nun schon vier Jahre in Ruhe auf dem Hofe und bekam dafür reichlichen Lohn. Es gefiel ihm gut und die Riesen waren von Tag zu Tag zufriedener mit ihm. Was ihn aber am meisten bewog, solange dortzubleiben, war dies, dahinterzukommen, was denn in dem geheimnisvollen Zimmer wäre.

Eines Morgens dachte er wieder darüber nach, wie er's oft schon getan hatte. Da kam ihm ein Gedanke. Er schlug heftig an die Haustür, lief dann atemlos und tat ganz ängstlich vor den Riesen, dabei hatte er noch Teig in den Händen, denn er war gerade mit Kneten beschäftigt gewesen. Er fragte die Riesen, ob sie denn nichts gehört hätten. Sie sagten, sie hätten's wohl gehört, sich aber gedacht, er habe bei seiner Arbeit Lärm gemacht. Er sagte, dem sei nicht so, und er habe es nicht gewagt, die Türe zu öffnen, es habe gewiß jemand geklopft.

Sie sagten, da habe er ganz gut daran getan, nicht aufzuschließen. Sie fuhren aus ihren Betten, standen kaum auf den Füßen, als sie auch schon halb angekleidet zur Tür rannten. Der große Riese hatte seine Schlüssel unter dem Kopfkissen liegen lassen, und Thorstein drückte ihn schnell in seinem Kuchenteig ab.

Die Riesen kamen nun wütend wieder zurück, denn sie hatten niemand gesehen. Sie sagten, Thorstein habe sie nur an der Nase herumführen wollen. Er aber blieb dabei und sagte, dann habe eben ein Geist an die Tür geklopft. Der Königssohn fing nun an, sich einen Schlüssel nach dem Kuchenteigmuster zu machen. Lange glückte es ihm nicht, aber



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schließlich gelang es ihm doch nach langer Mühe. Er kam ins Zimmer, da war's stockduster. Er brannte Licht an und guckte sich überall um. Da sah er ein Mädchen, das an den Haaren festgebunden war. Er band sie sofort los und fragte sie, wer ihr Vater sei und wo sie herstamme. Da erfuhr er, daß sie eine Königstochter war, die der große Riese entführt hatte, und daß er sie zwingen wolle, seine Frau zu werden; aber das wolle sie auf keinen Fall und deshalb quäle er sie so.

Sie war fast nur noch Haut und Knochen, denn der Riese ließ sie hungern. Der Königssohn gab ihr zu essen, und am Abend band er sie wieder an den Haaren fest, daß keiner etwas merken konnte. Danach besuchte Thorstein das Mädchen jeden Tag und gab ihr genug zu essen, und am Abend, bevor die Riesen heimkamen, band er sie wieder an den Haaren fest, so daß keiner etwas merkte und niemand etwas ahnen konnte. Als nun auch das fünfte Jahr vorüber war, wollte er endlich fort, aber die Riesen wollten ihn durchaus dabehalten. Da sagte Thorstein, er bliebe noch ein Jahr, wenn der große Riese ihm das als Lohn verspreche, was im letzten Zimmer sei, in das er nicht hineindürfe, was es auch immer sein möge.

Der Riese riet ihm ab, um etwas zu bitten, was doch nichts sei, und er solle lieber seinen Lohn nehmen. Aber der Königssohn ließ sich nicht abbringen und sagte, es sei sein Schade oder Nutzen, er wolle nun einmal nichts anderes. Sie stritten sich so lange darüber herum, bis der Riese ihm dies als Lohn versprach.

Wie sorglich der Königssohn die Königstochter pflegte in diesem Jahr, braucht wohl nicht erst erzählt zu werden. Als das Jahr vorüber war, schloß der Riese das Zimmer auf, denn der Königssohn wollte nicht länger dableiben. Der Riese kam mit dem Mädchen heraus und wunderte sich, wie gut und wohlgenährt sie aussah; er legte der Sache aber weiter keinen Wert bei und gab sie dem Thorstein.

Thorstein rüstete sich zur Abfahrt, holte seine Pferde, die er die ganze Zeit über gut besorgt hatte, und brachte all sein Reisegepäck in Ordnung. Aber mit dem Lohn war seine Habe inzwischen wieder so groß geworden, daß er dachte, er könne nicht alles mit fortbringen.

Die Königstochter sagte ihm, er solle sich in acht nehmen, die Riesen wollten ihn unterwegs erschlagen. Deshalb nahm er sein gutes Schwert zur Hand und zog seine Rüstung an. Und es kam genauso, wie die Königstochter gesagt hatte. Sie waren kaum unterwegs, da kamen auch schon drei Riesen und griffen Thorstein an. Er wehrte sich gewaltig und



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erschlug sie schließlich alle. Er war noch ganz matt, da kamen schon wieder drei, und er erschlug auch sie. Aber nun kamen noch einmal zwei, der große Riese und sein Bruder. Sie kamen voll Wut und Zorn und gingen auf Thorstein mächtig los. Er erschlug den Bruder des großen Riesen, darüber wurde der Riese rasend, warf die Waffen weg, warf sich auf den Königssohn, und sie fingen an, miteinander zu ringen. Der Königssohn konnte nun nicht mehr weiter ringen, fiel zu Boden und der Riese auf ihn.

Als die Königstochter sah, wie übel es dem Thorstein erging, nahm sie ein kurzes Schwert, das einem Riesen gehört hatte, und durchbohrte damit den Riesen. Dann half sie Thorstein, das Ungetüm von sich herunterzuwälzen.

Nach alledem wagte es Thorstein nicht mehr, die Fahrt fortzusetzen, und ging deshalb zurück zur Riesenwohnung, und wenn sie's auch nicht gern taten, so hielten sie's doch für gut, dort auf ein Schiff zu warten, denn das Gehöft lag dicht am Meere. Sie wollten auch möglichst viel von den Schätzen der Riesen mitnehmen.

Kurz danach sahen sie auch ein Schiff an Land kommen, und sie gingen hin, um mit den Leuten zu sprechen. Der Kapitän des Schiffes hieß Raud und war der Minister des Vaters der Königstochter. Der König hatte ihm seine Tochter zur Frau versprochen, wenn er sie fände und mit ihr wiederkäme.

Die Schiffsleute waren freundlich zu Thorstein und der Königstochter und brachten alle ihre Schätze auf die Schiffe, und das war ein großer Reichtum. Dann bestiegen sie das Schiff und fuhren ab. Als man auf die hohe See gekommen war, ließ Raud den Königssohn in einem Boot aussetzen. Dann ließ er die Schiffsleute einen Eid schwören, daß sie nichts von Thorstein erzählen und sagen sollten, er selbst habe die Riesen erschlagen und die Königstochter befreit. Sie selbst aber brachte er weder mit guten noch mit bösen Worten dazu, einen Eid zu schwören. Raud glaubte nun alles in schönster Ordnung und segelte heimwärts.

Mit Thorstein trieb das Boot auf den Wellen umher, und er war in großer Furcht, da hörte er jemand sagen: »Sei nicht in Sorge, wenn du auch auf dem Meer herumgetrieben wirst, ich werde dir helfen.« Das Boot flog so schnell dahin, als wenn es geführt würde, und es kam ebenso schnell ans Land wie das Schiff, nur an einer andern Stelle. Der aber, der das Boot ans Land gebracht hatte, war der Tote, für den Thorstein die Schulden bezahlt hatte. Er sagte zu Thorstein, er sei nun ins Land



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des Vaters der Königstochter gekommen und solle da Pferdebursche werden. Er solle die roten Pferde des Königs hüten und es solle ihm das gehören, was unter ihrer Krippe liege. Dann gingen sie auseinander.

Thorstein ging nun zur Burg und wurde des Königs Pferdebursche. Er hatte seinen Roten vom Schiff herunterbringen lassen, und nun wurde der den roten Pferden des Königs beigegeben. Es durfte ihm niemand zu nahe kommen außer der Königstochter und dem Pferdeburschen. Als der König seine Tochter wiedergefunden hatte, wurde er so froh, wie man's kaum sagen kann, und ließ ein großes Freudenfest feiern. Bald sollte auch Raud Hochzeit halten mit der Königstochter. Sie wollte das aber nicht, sondern bat ihren Vater darum, daß der Pferdebursche seine Lebensgeschichte erzählen dürfe. Der König erlaubte es gern, und da kam nun die Wahrheit ans Licht.

Da wurde nun Raud erschlagen, und die Schiffsleute wurden gepeinigt. Dem Thorstein aber gab der König seine Tochter zur Frau und mit ihr die Hälfte des Königreichs. Unter den Pferdekrippen fand Thorstein eine Unmenge von Kostbarkeiten aller Art.

Nach dem Tode des Königs erbte Thorstein das ganze Königreich. Er lebte lange und glücklich, er schien ihnen allen der trefflichste König zu sein, und sie liebten ihn alle bis in sein hohes Alter.


Der Erntekenecht

Einmal zog ein junger Mann von den Südlanden nach dem Nordland, um bei der Erntearbeit zu helfen. Plötzlich überfiel ihn dichter Nebel und er verirrte sich. Große Kälte trat ein, und es fing an zu schneien, so daß der Mann nicht weiter konnte und sich ein Zelt aufschlug. Als er eben von seinem Reisevorrat zu essen begann, kam ein verwahrloster, verhungerter, roter Hund in sein Zelt. Der Südländer war erstaunt, plötzlich so unerwartet einen Hund zu sehen an einem Ort, wo er gar nicht erwartet hatte, ein Tier zu Gesicht zu bekommen.

Der Hund war so häßlich und merkwürdig, daß ihm etwas bange wurde, aber trotzdem gab er ihm soviel zu fressen, wie er wollte. Der Hund fraß gierig und lief dann hinaus in Nacht und Nebel. Als der Südländer gegessen hatte, legte er sich schlafen.

Er träumte, eine Frau komme zu ihm ins Zelt und sagte, sie danke ihm



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ihrer Tochter wegen und belohne ihn für seine Freundlichkeit und Freigebigkeit mit einer alten Sense, die gleich gut schneide, wohin sie auch immer treffe; aber er dürfe sie nie im Feuer glühen, sondern nur an einem Stein wetzen.

Als er aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel und der Nebel war verschwunden. Er packte nun alles zusammen, aber als er seinen Sattel aufhob, auf dem er geschlafen hatte, fand er darunter eine halb abgenutzte Sense mit Rostflecken. Da besann er sich auf seinen Traum, verwahrte die Sense gut und zog weiter. Alles ging gut, er fand den Weg bald und ging nun bewohnten Gegenden zu.

Als er aber nach dem Nordland kam, da hatten schon alle ihre Ernteleute gedungen.

Da hörte er von einer Frau, die noch keinen Ernteknecht angenommen hatte. Sie war reich und nahm gewöhnlich keine Ernteleute. Sie begann in der Regel ihr Heu ein oder zwei Wochen nach den andern zu mähen und war doch meist ebenso schnell fertig wie die übrigen mit ihrem Heimacker. Wenn sie aber wirklich mal einen Knecht in Dienst genommen hatte, dann behielt sie ihn nie länger als eine Woche und gab ihm keinen Lohn.

Man erzählte ihm von der Frau, wie sie war, und weil er nirgends anderswo Arbeit finden konnte, ging er hin und bot sich an, ihr das Heu zu mähen. Sie war freundlich zu ihm und sagte, er möge für eine Woche dableiben. »Aber Lohn gebe ich dir nicht«, sagte sie, »es müßte denn sein, du hast soviel Heu gemäht, daß ich's am Sonnabend nicht alle zusammenharken kann.«Das erschien ihm eine ganz gute Vereinbarung, und er machte sich an die Arbeit.

Er nahm nun die Sense, die ihm die Huldrenfrau geschenkt hatte, und fand, sie schnitt gut. Er brauchte sie nie zu schärfen, und so mähte er ununterbrochen fünf Tage lang. Es gefiel ihm, und die Frau war gut zu ihm. Einmal kam er in die Schmiede und sah dort eine ungezählte Menge Sensenschäfte, Harken und Sensen. Er wunderte sich und fand, die Frau habe nicht gerade Mangel an Erntegerät.

Als er sich am Freitag zu Bett gelegt hatte, träumte ihm, die Huldrenfrau komme wieder zu ihm und sage: »Viel Heu hast du schon gemäht, aber deine Herrin wird nicht viel Zeit brauchen, um es zusammenzuharken, und dann jagt sie dich fort, wenn sie dich morgen überholt. Darum geh in die Schmiede, wenn du denkst, daß das Heu, was du gemäht hast, nicht ausreicht, und nimm soviele Sensenschäfte, wie du für



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gut hältst, befestige Sensen daran, trage sie aufs Feld und sieh zu, wie es dann geht.«

Dann ging die Huldrenfrau fort, der Ernteknecht wachte auf und fing an zu mähen. Am Morgen kam die Herrin hinaus mit fünf Harken. Sie sagte: »Viel Heu hast du gemäht, viel mehr, als ich geglaubt hätte.«

Dann legte sie die Harken hier und dort auf die Wiese und fing selbst an zu barken. Da sah der Ernteknecht, daß sie viel Heu zusammenharken konnte, und die andern Harken brachten nicht weniger zusammen, obwohl er keinen Menschen bei ihnen sah.

Als die Mittagszeit näher rückte und er sah, daß das gern ähte Heu nicht ausreichen würde, ging er in die Schmiede, holte einige Sensenschäfte und befestigte Sensen daran. Dann ging er wieder hinaus und verteilte diese Sensen auf der ungemähten Wiese. Sie alle fingen an zu mähen, und augenblicklich wurde der Fleck größer. Das ging nun den ganzen Tag so und das gemähte Heu reichte aus. Am Abend aber ging die Frau nach Hause und nahm ihre Harken mit. Sie bat den Ernteknecht, er möge mitkommen, und sagte, sie sei zufrieden mit ihm und er könne nun bei ihr bleiben, solange er wolle.

Erblich und sie kamen gut miteinander aus. Sie ernteten viel Heu, und nach der Ernte gab sie ihm einen sehr großen Lohn. Damit zog er nach dem Südlande. Im nächsten Sommer, und immer zur Erntezeit, nahm er Dienst bei ihr. Dann übernahm er selbst einen Hof auf dem Südlande und war ein tüchtiger Mann, geschickt zu allem, und ein flinker Seemann dazu. Sein Heu mähte er immer allein und nahm dazu nie eine andere Sense als die, welche ihm die Huldrenfrau geschenkt hatte, und trotzdem wurde er mit seinem Heimacker geradeso schnell fertig wie andere Leute.

An einem Sommertag ruderte er zum Fischen hinaus, da kam sein Nachbar zu seiner Frau wegen einer Sense, denn seine Sense hätte er zerbrochen und wisse sich nun nicht zu helfen. Da suchte die Frau nach und fand keine andere als nur die gute alte Sense. Die gab sie dem Bauern, sagte aber, er dürfe sie nicht im Feuer glühen. Das versprach er auch und ging heim.

Er konnte aber keinen einzigen Strohhalm schneiden mit der Sense. Da wurde er böse und fing an, sie zu wetzen, und als auch das nichts half, ging er in die Schmiede. Dort fing er an, sie zu hämmern, und wollte sie auch im Feuer glühen.

Aber sowie sie ins Feuer kam, schmolz sie wie Wachs und wurde zu



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lauter Eisenschlacke. Da ging er zur Frau und erzählte ihr das. Nun geriet sie in Angst vor ihrem Mann, weil sie wußte, daß er sehr zornig sein würde. Und das war er auch, aber man hörte nicht, daß er sich sehr lange darüber geärgert hätte. Er gab seiner Frau eine Tracht Prügel und das war das erste und letzte Mal, daß sie welche bekam.


Bangsimon

Es waren einmal ein König und eine Königin. Sie hatten einen Sohn, der hieß Sigurd. In einer einfachen Hütte, gleich daneben, wohnte ein Bauer und seine Frau. Er hieß Bangsimon. Sie hatten eine Tochter mit Namen Helga. Sie war geradeso alt wie Sigurd, der Königssohn, und sie spielten oft und gern miteinander.

Da geschah es, daß der König seine Königin verlor. Er trauerte sehr um sie, saß oft auf ihrem Grabhügel und kümmerte sich nicht um die Regierung in seinem Königreich. Seinen Ministern und Gefolgsleuten schien das ein großer Schaden zu sein. Sie gingen zum König mit der Bitte, doch seinen Kummer fahren zu lassen, und erboten sich, ihm eine andere Frau zu suchen.

Ihm gefiel der Vorschlag gut, aber er bat sie, kein dummes Inseiweib noch auch eine Frau, wie sie auf Landspitzen sich oft aufhalten, zu bringen, und auch keine von denen, die in Wäldern wohnen. Sie versprachen's ihm so, wie er's wollte, und machten sich fertig zur Fahrt.

Sie verirrten sich und kamen nur langsam vom Fleck. Schließlich sahen sie etwas großes Schwarzes vor dem Steven und merkten, daß es eine Insel war. Sie gingen an Land und kamen schließlich zu einem Zelt. Dort sahen sie eine schöne Frau; sie saß auf einem Stuhle und kämmte sich ihr Haar mit einem goldenen Kamm. Sie frug nach ihrem Wege und nach ihrem Geschäft, und sie erzählten alles, wie es sich in Wahrheit verhielt. Da sagte sie: »Da ist es eurem König genau ergangen wie mir, auch ich habe meinen Mann verloren. Er war Oberkönig über zwanzig Kleinkönige; Wikinger überfielen das Land, der König fiel und ich flüchtete mich hierher.«

Sie baten daraufhin um ihre Einwilligung, des Königs Frau zu werden, und sie nahm ihre Werbung mit Freuden an. Dann bestiegen sie alle die Schiffe und hatten gute Fahrt heimwärts.

Als der König sie herankommen sah, ließ er sich in seinem Wagen zum



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Strande fahren und forderte die Königin auf, zu ihm in den Wagen zu steigen, und so fuhren sie beide ins Schloß. Dabei gefiel sie dem König so gut, daß er selber noch einmal um ihre Hand anhielt, und sie gab ihm gerne ihr Jawort. Dann ließ er ein großes Festgelage herrichten und feierte mit ihr seine Hochzeit.

Der Königssohn Sigurd kam sehr selten zu seiner Stiefmutter und wollte möglichst wenig mit ihr zu tun haben.

Nach einiger Zeit wurde die Königin krank, und der König befürchtete Schlimmes. Er fragte die Königin auch, ob es eine tödliche oder eine kurze Krankheit sein werde. Sie ließ ihn wissen, daß es eine tödliche Krankheit sei, und bat dabei den König, er möchte doch in den drei ersten Nächten nach ihrem Tode seinen Sohn bei ihr wachen lassen.

Es geschah nun wirklich so, wie die Königin gesagt hatte, daß die Krankheit tödlich verlief und der König ließ ihre Leiche in das Zimmer bringen, das sie ihm bestimmt hatte, und kümmerte sich um die Erfüllung ihrer Wünsche. So hat er auch seinen Sohn, bei ihrer Leiche zu wachen, der aber weigerte sich zunächst; doch als der König zornig wurde und ihm befahl, zu tun, was er sage, wagte er nicht mehr zu widersprechen. Da er aber im Dunkeln sich fürchtete und vor Leichen Angst hatte, ging er zu Helga, der Bauerntochter, und bat sie, ihren Vater Bangsimon zu bitten, daß er dort wache. Aber auch Bangsimon hatte zunächst keine Lust zu der Leichenwache, ließ sich aber schließlich doch von Helga dazu überreden, die erste Nacht dort zu wachen; er ging gegen Abend in das Zimmer, wo die Leiche lag. Als er hereinkam, fragte die Königin: »Wer ist da?« — »Bangsimon, der Bauer aus der ärmlichen Hütte«, gab er zur Antwort. »Scher dich, du Schandbube; du hast nicht bei mir zu wachen, sondern der Königssohn Sigurd hat hier zu sein. Sind meine Füße fahl?«frug sie dann. »Fahl wie ein Strohhalm.« —»Dann ist es am besten auf dich loszugehen«, sagte sie. Dabei stand sie von der Leichenbahre auf und stürzte sich auf Bangsimon. So rangen sie miteinander, bis der Tag anbrach. Bei Tagesanbruch legte sie sich wie früher auf ihre Leichenbahre, und der Bauer ging in seine Hütte. Genauso ging es in der zweiten Nacht, und danach weigerte sich der Bauer aus Leibeskräften, auch noch die dritte Nacht bei ihr zu wachen, verstand sich aber auf die Bitten seiner Tochter doch dazu, auch die letzte Nacht, die noch übrig war, dort hinzugehen. Aber bevor er fortging, sagte er zu Sigurd und Helga, sie sollten einander heiraten, wenn er nach drei Jahren noch nicht zurückgekommen sei.



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Dann ging er wieder ins Königsschloß und in das Zimmer, wo die Leiche lag, und wechselte mit der Königin dieselben Worte wie früher. Sie rangen, bis es Tag wurde. Bei Tagesanbruch wurde sie ein Geier und Bangsimon ein fliegender Drachen; sie flogen beide in die Luft und flogen über Land und Meer, bis sie zu einem Land kamen, wo die Königin im Kampf überwunden wurde und der Bauer ihr die Kehle durchbeißen wollte. Sie bat um Frieden und beschwor den Bauer, ihr das Leben zu lassen, sie wollte es ihm auch lohnen, wenn sie erst Königstochter sei in diesem Königreich. »Wie willst du denn das fertigbringen?«sagte der Bauer. »Ich mache mich zu einem kleinen Kind und laß den König mich finden auf der Jagd«, sagte sie. Der Bauer ließ sie nun los, und sie lief in einen großen Wald in der Nähe.

Am andern Tag ging der König zur Jagd und fand im Walde ein schönes Kind, ein Mädchen. Er nahm es mit sich nach Hause und zog es auf wie seine eigene Tochter, denn er hatte mit seiner Königin keine Kinder. Das Mädchen wuchs so schnell heran, daß es wie ein Wunder schien.

Der Bauer Bangsimon war zur Königshalle gekommen und hielt sich dort auf; man ließ ihn Fische klopfen und ähnliche Arbeiten verrichten. Nach einiger Zeit geschah es, daß sich die Königstochter in den Finger biß, so daß er blutete; sie sagte, der Bauer, der da sei, gehe so mit ihr um.

Der König und die Königin waren ärgerlich auf den Bauer, jagten ihn aber nicht fort.

Einmal, als die Königstochter allein spazierenging, fragte Bangsimon, wann sie es ihm eigentlich lohne, daß er sie am Leben gelassen habe. Sie sagte, sie wolle es schon tun, wenn sie in diesem Reich des Königs Frau geworden sei. »Wie gedenkst du denn das zu tun?« sagte der Bauer. »Ich gedenke die Königin zu bitten, mir ihre Kleinodiensammlung zu zeigen, denn sie schlägt mir keine Bitte ab. Dann will ich sie vor mir die Treppe hinaufgehen lassen, die dahin führt. Ich selbst gehe hinter ihr, und sowie sie auf der obersten Stufe steht, breche ich die Stiege unter ihr, daß sie sich den Hals bricht, begrabe sie unter der Stiege, fahre in ihre Kleider. So glaubt dann der König, ich sei seine Frau.« Dann gingen sie auseinander.

Kurz darauf vermißte der König seine Tochter, und da sagte die Königin, es sei sehr wahrscheinlich, daß der Fischmann, der sie schon einmal mißhandelt habe, ihr etwas angetan.



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Gleich wurde Bangsimon ergriffen und sollte auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, so sehr er auch den Verdacht von sich wies, daß er die Königstochter ums Leben gebracht habe.

Er wurde zum Scheiterhaufen geführt, und der König und die Königin waren dabei, um zuzuschauen. Da bat der Bauer den König, er möchte ihm eine Bitte gewähren, ehe er auf den Scheiterhaufen geworfen werde, er verlange nicht, am Leben bleiben zu dürfen. Der König gewährte ihm die Bitte. Da bat der Bauer, die Königin solle ihre Lebensgeschichte erzählen. Sie sagte, das sei ein kurzes Gewähren, sie sei eine Königstochter gewesen und später sei sie dem König zur Frau gegeben worden, was sie noch jetzt sei; und was sich seitdem ereignet, das wisse jedermann.

Da erzählte nun Bangsimon laut ihre ganze Lebensgeschichte von dem Zeitpunkt an, da sie in dies Land gekommen war. Alsbald verwandelte sie sich in einen fliegenden Drachen und flog auf den Bauern los. Der aber holte unter seinem Mantel einen Sack hervor und warf ihn ihr über den Kopf, so daß sie auf den Scheiterhaufen fiel und verbrannte.

Der Bauer riet dem König, unter der Stiege nachgraben zu lassen, die zu der Kleinodienkammer führe. Das geschah auch, und es war alles so, wie es Bangsimon gesagt hatte.

Da dankte der König dem alten Bangsimon mit gar herzlichen Worten, daß er ihn von diesem Ungeheuer befreit habe; er gab ihm ein Schiff und Leute dazu, und Bangsimon fuhr nach Hause.

Von Sigurd ist zu erzählen, daß er während Bangsimons Fortsein seinen Vater verloren hatte und selbst König geworden war. Als aber Bangsimon wieder heimkam, feierte Sigurd seine Hochzeit mit Helga, denn es waren drei Jahre verstrichen, seitdem Bangsimon von Hause fortgegangen war; da war große Wiedersehensfreude.

Das Ehepaar lebte noch lange zusammen, geehrt und geachtet, und so endet das Märchen von Bangsimon.


Tritil, Litil und die Vögel

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reich und ein alter Häusler und sein Weib in ihrer Hütte. Der König hatte eine einzige Tochter, die er zärtlich liebte. Aber es widerfuhr ihm der Schmerz, daß die Tochter verschwand und nirgends gefunden wurde, so sehr



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man auch nach ihr suchte. Da gelobte der König, daß derjenige sie heiraten sollte, der sie ihm wiederbringe. Viele wollten wohl die gute Heirat machen, aber keiner fand sie, und alle kamen unverrichteter Dinge zurück.

Von dem alten Mann ist zu sagen, daß er drei Söhne hatte, von denen er die zwei älteren zärtlich liebte, aber der jüngere wurde von Eltern und Brüdern allenthalben zurückgesetzt. Als die Häuslerssöhne herangewachsen waren, sagte der älteste Bruder, er wolle nun hinaus in die weite Welt und sich Reichtum und Ehre erwerben. Die Eltern waren es zufrieden, er erhielt Proviant und neue Schuhe und wanderte lange, lange, bis er zu einem Hügel kam. Hier machte er Rast, um zu essen. Wie er nun so aß, trat ein winzig kleines Männlein zu ihm und bat ihn um einen Bissen. Aber der Häuslerssohn gönnte ihm nichts und jagte ihn weg. Dann wanderte er wieder lange, lange, bis er zu einem zweiten Hügel kam. Hier machte er Rast, um wieder zu essen. Da kam ein noch kleineres und sonderbareres Männchen herangetrippelt, das ihn wieder um einen Bissen bat. Aber der Häuslerssohn verweigerte es ihm wieder und jagte ihn fort. Und als er nun wieder lange, lange gewandert war, kam er zu einer Lichtung im Wald und machte Rast, um zu essen. Und wie er eben dabei war, kam eine Vogelschar und rückte ganz dicht an ihn heran. Er aber wurde zornig über die Vögel und verjagte auch diese.

Schließlich kam der Häuslerssohn an eine große Höhle. Er ging hinein, konnte aber nichts Lebendes drin erblicken. Da wollte er warten, bis der Höhlenbewohner zurückkäme. Und am Abend kam eine ungeheuer große Riesin in die Höhle. Er bat sie um die Erlaubnis, dableiben zu dürfen, sie verlangte aber, daß er dafür andern Tages die Arbeit verrichte, die sie ihm aufgeben werde. Das gefiel ihm und nun blieb er die Nacht da; aber am Morgen befahl ihm die Riesin, den Mist aus der Höhle zu schaffen -bis zum Abend, sonst brächte sie ihn um. Darauf ging sie fort. Wie nun der Sohn des Häuslers den Spaten nahm und einstieß, blieb er im Boden der Höhle stecken und war nicht mehr herauszubringen. Und am Abend, als die Riesin heimkam, war die Höhle natürlich nicht gereinigt, wie man sich leicht denken kann. Da fackelte sie nicht lange, nahm den Häuslerssohn und erschlug ihn, und er kommt in der Geschichte nicht weiter vor.

Nun wendet sich die Geschichte zu dem alten Häusler und seinem Weib zurück. Auch der zweite Sohn wollte jetzt fortziehen, um sich



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Reichtum und Ehre zu erwerben. Er sagte, es gefiele ihm nicht mehr daheim, seit sein älterer Bruder sicherlich ein großer Herr bei irgendeinem König geworden sei. Die Eltern waren es zufrieden und gaben ihm Proviant und neue Schuhe. Es ist nichts anderes über ihn zu berichten, als daß es mit ihm genauso ging wie mit dem ältesten Bruder.

Nun war also noch der jüngste der Häuslerssöhne übrig, und er hatte es nicht eben besser bei den Alten gehabt, obschon er jetzt ganz allein war. Der bat nun die Eltern ebenfalls, ihn ziehen zu lassen. »Reichtum und Ehre will ich mir gar nicht suchen«, sagte er, »ich will nur versuchen, mich irgendwie durchzuschlagen, damit ich euch nicht länger zur Last liege wie bisher.« Die Alten waren's zufrieden und gaben ihm Proviant und Schuhe, wenn es auch etwas bescheidener ausfiel als bei den Brüdern. So brach er auf und fuhr zufällig denselben Weg wie seine Brüder. Als er zum ersten Hügel kam, sagte er: »Hier haben meine Brüder gerastet; ich will das gleichfalls tun!« Er setzte sich hin und fing an zu essen. Da kam das kleine Männchen und bat um einen Bissen. Der Häuslerssohn begrüßte es freundlich, hieß es sich bei ihm niederzusetzen und mit ihm zu essen, soviel es wolle. Als sie fertig waren, sagte das Männlein: »Ruf mich, wenn du mal in Not bist! Ich heiße Tritil.« Dann trippelte es davon und verschwand.

Der Häuslerssohn ging weiter, bis er zu dem andern Hügel kam, da sagte er: »Hier haben meine Brüder gerastet; hier will ich das gleichfalls tun.« Er fing nun an zu essen, und wie er gerade dabei war, kam der winzig kleine Knirps zu ihm und bat ihn um einen Bissen. Der Häuslerssohn begrüßte ihn freundlich, hieß ihn, sich bei ihm niederzusetzen und mit ihm zu essen, soviel er wolle. Als sie fertig waren, sagte das Männlein: »Ruf mich, wenn du mal in Not bist! Ich heiße Litil.« Dann ging es davon und verschwand.

Nun setzte der Häuslerssohn seine Reise fort und kam auf die Waldlichtung. Da sagte er: »Hier haben meine Brüder gerastet; hier will ich das gleichfalls tun.« Er setzte sich nieder und fing an zu essen. Da kam eine überaus große Vogelschar zu ihm und gebärdete sich sehr hungrig. Er zerrieb etwas Brot mit der Hand und warf die Krümel unter die Vögel. Die pickten sie auf und aßen sie. Als sie damit fertig waren, sagte einer von den Vögeln: »Ruf du uns, wenn du einmal in Not bist, und nenne uns deine Vögel!« Dann flogen sie fort und verschwanden.

Der Häuslerssohn ging weiter, bis er endlich zu der Höhle kam, wie seine Brüder vorher. Er ging hinein, sah aber nichts Lebendes darin;



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wohl aber sah er die Leichen seiner Brüder, die hingen von der Decke herab, dicht am Eingang. Der Anblick dünkte ihm nicht gut, doch beschloß er, auf den Höhlenbewohner zu warten. Es dauerte nicht lange, bis die große Riesin kam, der die Höhle gehörte. Der Häuslerssohn bat sie, da bleiben zu dürfen. Sie sagte, das solle geschehen, wenn er das täte, was sie ihm sage. Er willigte ein und blieb die Nacht in der Höhle. Am Morgen befahl ihm die Riesin, die Höhle auszumisten und wenn er damit bis zum Abend, wo sie heimkäme, nicht fertig sei, so werde sie ihn töten. Dann ging sie fort.

Der Häuslerssohn nahm nun die Schaufel, um die Höhle auszumisten, aber als er sie einstieß, stak sie im Boden fest, daß er sie nicht mehr bewegen konnte. Da erkannte der Häuslerssohn sein böses Geschick und rief voller Angst: »Lieber Tritil, komm her!« Im selben Augenblick kam Tritil und fragte ihn, was er wolle. Er sagte ihm, wie es mit ihm stünde. Da sagte Tritil: »Hacke du Hacke und grabe du Spaten!« Da hackte die Hacke und grub der Spaten und in kurzer Zeit war die Höhle ausgemistet und blitzeblank. Dann ging Tritil fort. Als die Riesin am Abend heimkam und sah, wie es stand, sagte sie zu dem Häuslerssohn: »Du bist nicht allein im Spiele, Bursche, Bursche! Aber ich will's hingehen lassen!«

Dann schliefen sie in der Nacht, aber am Morgen befahl ihm die Riesin, ihr Bettzeug zu sommern, alle Federn aus den Kissen zu nehmen, sie zu sonnen und wieder hineinzutun. Aber wenn am Abend auch nur eine einzige Feder fehlte, so wolle sie ihn töten. Dann ging sie fort. Der Häuslerssohn breitete nun das Bettzeug aus. Es waren drei Kissen im Bette der Riesin, und da es windstill war und die Sonne schien, trennte er die Kissen auf und breitete die Federn aus. Aber auf einmal, als er es am wenigsten erwartete, erhob sich ein Wirbelwind, so groß, daß die Federn alle in der Luft herumwirbelten und auch nicht eine einzige zurückblieb. Da erkannte der Häuslerssohn sein Mißgeschick und in der Verzweiflung rief er laut: »Lieber Tritil, lieber Litil und ihr alle meine Vögel, kommt her!« Sogleich kamen Tritil und Litil und die ganze Vogelschar mitsamt allen Federn. Tritil und Litil halfen dem Häuslerssohn, die Federn in die Kissen zu füllen und sie wieder zuzunähen. Sie nahmen je eine Feder aus jedem Kissen, knüpften sie zusammen und sagten zu dem Häuslerssohn, wenn die Riesin diese vermißte, dann sollte er sie ihr in die Nase stecken. Dann machten sie sich davon: Tritil, Litil und die Vögel.



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Sogleich als die Riesin abends heimkam, warf sie sich auf ihr Bett, daß die ganze Höhle erbebte. Dann fuhr sie mit den Händen um die Kissen herum und sagte zu dem Häuslerssohn, sie würde ihn nun töten, denn es fehle eine Feder in jedem Kissen. Da zog er die Federn aus seiner Tasche, steckte sie ihr in die Nase und sagte, da habe sie ihre Federn. Die Riesin war's zufrieden und sagte: »Du bist nicht allein im Spiele, Bursche, Bursche! Aber ich will's hingehen lassen!«

Es verging nun auch diese Nacht, und der Häuslerssohn war bei der Riesin in der Höhle. Am Morgen sagte sie zu ihm, daß er heute einen ihrer Ochsen zu schlachten habe, sein Eingeweide zu kochen, die Haut zu scheren, aus den Hörnern Löffel zu schnitzen und mit dem allen bis zum Abend fertig zu sein. Sie habe fünfzig Ochsen, sagte sie; einen von diesen wolle sie schlachten lassen, aber er müsse selber erraten, welchen sie meine. »Wenn du bis zum Abend fertig wirst«, sagte sie, »dann kannst du morgen fahren, wohin du willst, und dir außerdem drei Dinge aus meinem Besitz zur Belohnung aussuchen, welche du willst. Wenn du aber nicht fertig wirst, oder den falschen Ochsen schlachtest, dann töte ich dich!«Dann ging die Riesin fort, wie sie es gewöhnt war.

Nun stand der Häuslerssohn verlegen und ratlos da, dann rief er: »Lieber Tritil, lieber Litil, kommt nun alle beide!« Schon sieht er sie auch beide kommen und einen ungeheuer großen Ochsen mit sich führen. Den schlachten sie nun sogleich. Dann kocht der Häuslerssohn die Eingeweide, Tritil saß nieder und schor die Haut, aber Litil schnitzte Löffel aus den Hörnern. Es ging alles flott vorwärts und war fertig zur rechten Zeit. Der Häuslerssohn erzählte den beiden Alten, was ihm die Riesin versprochen hatte, wenn er mit der Arbeit bis zum Abend fertig werde. Da rieten sie ihm, er solle sich das wählen, was sich über dem Bette der Riesin befinde, sodann das Kistchen, das neben ihrem Bette stehe, und schließlich das, was unter den Höhlenwänden wäre. Der Häuslerssohn versprach das auch. Die beiden Alten gingen weg, und er grüßte sie freundlich.

Am Abend kam die Riesin heim, sah, daß er alles fertig hatte und sagte: »Du bist nicht allein im Spiele, Bursche, Bursche! Aber ich will es hingehen lassen!« Dann schliefen sie in der Nacht.

Am Morgen hieß sie ihn, sich nun den Lohn zu wählen, den sie ihm versprochen hatte; und es stehe ihm nun frei, zu fahren, wohin er wolle. »Dann wähle ich, was über deinem Bette ist«, sagte er, »ferner das Kistchen neben deinem Bette und schließlich das, was unter den Höhlen-



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wänden ist.« —»Du bist nicht allein im Spiele, Bursche, Bursche!« sagte die Alte, »aber ich will es hingehen lassen!« Dann gab sie ihm seinen Lohn. Aber was über dem Bette war, das war die verschwundene Königstochter; das Kistchen am Bett war eine ungeheuer große Kiste voll von Gold und Kleinodien, und das, was unter den Höhlenwänden war, war ein seetüchtiges Schiff mit Rahen und Segeln, und das fuhr von selbst, wohin man wollte. Als ihm die Riesin seinen Lohn gegeben hatte, verabschiedete sie sich von ihm und sagte, er werde der allerglücklichste Mann werden. Dann ging sie fort, wie sie es gewöhnt war. Der Häuslerssohn brachte die Kiste aufs Schiff und stieg selbst mit der Königstochter hinein. Dann zog er die Segel auf und segelte heim in das Reich des Königs, des Vaters der Jungfrau. Er brachte ihm seine Tochter und erzählte ihm alles, wie es gegangen war. Der König wunderte sich sehr über die Abenteuer des Häuslerssohnes und freute sich natürlich auch, daß er seine Tochter wiederhatte. Er ließ für sie und ihren Befreier ein großes Freudenmahl bereiten, und dies endete mit der Hochzeit der Königstochter und des Häuslerssohnes. Der Häuslerssohn wurde zuerst der Landbeschützer und Minister des Königs, und nach dem Tode seines Schwiegervaters erbte er das ganze Königreich und regierte darinnen lang und gut bis an sein Lebensende.


Der rote Stier

Als Herr Thomas Skulason auf Grenjadarstad war, hielt er zwei Hofknechte; der eine hieß Bjarni, der andere Martin. Sie schliefen beide miteinander in einer Kammer auf dem Gehöft. Bjarni war früher verheiratet gewesen, hatte sich aber von seiner Frau getrennt, und weil er nun ein Mädchen aus der Nachbarschaft liebhatte, wollte er vor allen Dingen seine Frau los werden. Er kam deshalb auf den Gedanken, einen Mann aus dem Nordland zu bestimmen, ihn zu unterrichten, wie man könne Gespenster -aufwecken. Die wollte er dann zu seiner Frau schicken, sie umzubringen.

Bjarni machte sich daran, das Gespenst aufzuwecken, und leckte ihm den Totengeifer vom Gesicht, wie es die Vorschrift verlangt. Aber als er das getan hatte, machte sich das Gespenst über ihn selber her, und es kam so, daß Bjarni dem Gespenst unterlegen war und nur mit knapper Not mit dem Leben davonkam. Weiterhin ging es so, daß das



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Gespenst dem Bjarni gar nichts nütze war zu dem, was er gewollt hatte, sondern es suchte ihn heim im Wachen und Schlafen, so daß er darüber beinahe von Sinnen gekommen wäre; deshalb konnten Martin und Bjarni oft nicht schlafen in ihrer Kammer, weil das Gespenst unermüdlich daran klopfte und sie wach hielt, bis Bjarni aufstand und für längere oder kürzere Zeit in der Nacht draußen blieb. Die Leute wußten nichts von dem, was sich draußen abspielte, außer was er selbst davon erzählte, wenn er wieder zu Martin hereinkam.

Als dies eine Weile so weiterging und Bjarni fast um seinen Verstand gekommen war, bat er in seinem Unglück einen zauberkundigen Mann um Rat, wie er sich vor den Verfolgungen dieses Wiedergängers retten könne. Der Mann gab ihm ein Blatt mit einigen Schriftzeichen darauf und sagte ihm, er solle eines Nachts in die Kirche von Grenjadarstad gehen, sich alle Meßgewänder umhängen und so geschmückt hinter den Schranken vor dem Altar stehenbleiben; er solle sich ja nicht vom Fleck rühren, was sich auch zutragen möge oder was ihn auch anzusprechen scheine, denn man wolle ihn nur von den Schranken fortlocken, und dann sei es aus mit ihm. Er sagte, ein ungeheuer großer Stier würde kommen und der lange mit der Zunge zwischen ihn und den Altar und dabei gehe es um sein Leben, so geschickt zu sein, daß er den Zettel ihm auf die Zunge legen könne, und wenn ihm das glücke, dann brauche ihm nicht mehr bange zu sein vor den Heimsuchungen der Gespenster. Daraufhin ging Bjarni eines Nachts in die Kirche und machte alles so, wie es ihm gesagt worden war. Da kam eine große Menschenmenge nach der andern um die Schranken herum; er kannte nur wenige von ihnen. Sie umwarben ihn in verschiedener Weise und baten ihn freundlich und streng vom Altar weg und zu ihnen herzugehen. Einer von denen, die Bjarni zu erkennen glaubte, war Herr Halgrim Scheving, der Großvater Doktor Schevings, und er zerrte an Bjarni, um ihn aus den Schranken herauszubekommen. Aber eine Schar nach der andern verschwand wieder, da es ihnen auf keine Weise gelang, den Bjarni vom Altar wegzubringen. Schließlich kam ein roter Stier zu Bjarni, der streckte die Zunge über die Schranken weg und wollte sie zwischen Bjarni und dem Altar hin und her bewegen so, als habe er im Sinn, ihn von dort herauszuschleudern. Da gelang es Bjarni, ihm den Zettel auf die Zunge zulegen. Daraufhin verschwand der Stier, und Bjarni merkte nichts mehr in der Kirche, und er wurde auch von dem Gespenst nicht mehr heimgesucht.



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Trunt, Trunt und die Trolle in den Bergen

Einmal waren zwei Männer in den Bergen, um Kräuter zu sammeln. Eines Nachts lagen sie beide in ihrem Zelte zusammen. Der eine schlief, der andere war wach. Da sah der, der wachte, wie der, der schlief, hinausging. Er ging hinterher und folgte ihm, aber er konnte kaum so schnell laufen, daß der Abstand zwischen ihnen nicht größer wurde. Der Mann steuerte auf die Gletscher zu. Da sah der andere eine große Riesin auf einer Gletscherspitze sitzen. Sie hatte die Gebärde, daß sie ihre Hände abwechselnd von sich streckte und wieder heran an die Brust zog, und damit zauberte sie den Mann an sich heran. Der Mann lief ihr gerade in die Arme, und sie machte sich mit ihm davon.

Ein Jahr später waren die Leute aus jener Gegend wieder an der gleichen Stelle zum Kräutersammeln. Da kam er zu ihnen, war aber so still und verschlossen, daß man kaum ein Wort aus ihm herausbekam. Die Leute fragten ihn, an wen er glaube, und er sagte, er glaube an Got( Im zweiten Jahre kam er wieder zu dem Kräutervolk. Aber da war er so trollenhaft geworden, daß sie sich vor ihm fürchteten. Als er gefragt wurde, an wen er glaube, antwortete er nichts. Und diesmal blieb er kürzere Zeit da als zuvor.

Im dritten Jahr kam er wieder, da war er ein richtiger Troll geworden und sah fürchterlich aus. Einer aber wagte ihn doch zu fragen, an was er glaube; da sagte er, er glaube an »Trunt, Trunt und die Trolle in den Bergen«und verschwand rasch. Seitdem hat man nichts mehr von ihm gesehen, und es getraute sich auf lange Jahre niemand mehr, an diesem Orte Kräuter zu suchen.


Der Ritter und die Waldfrau

In Deutschland war ein Ritter, dem sein Vater ein Erbe hinterlassen hatte. Er war unverheiratet, aber reich. Er war nicht sehr vorsichtig, und in kurzer Zeit war alles vertan. Zwar wußte er nicht, wie er sich helfen solle, aber seine verschwenderische Lebensweise aufgeben, das wollte er auch nicht. Da beschloß er, seine Verwandten und Freunde um Unterstützung zu bitten. Diese willfahrten auch seiner Bitte, und eine Zeitlang konnte er nun wieder seine gewohnte Lebensweise fortsetzen, aber nicht lange, so war wiederum alles vertan. Da machte er



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sich von neuem auf, seine Verwandten zu besuchen und sie um Unterstützung zu bitten.

Er ritt einsam, bis er zu einem Walde kam, ritt dann den Heerweg, bis er zu einem schmalen Pfade gelangte, und auf diesem Pfade ritt er entlang, bis er zu einer Lichtung kam. Dort erblickte er einen lieblichen Bach, und eine schöne geschmückte Frau saß an dem Bache. Sie grüßte ihn und fragte, wohin er fahre. Er grüßte sie wieder, aber eine Antwort auf ihre Frage gab er ihr nicht. Da sagte sie: »Ich weiß schon, daß du deine Verwandten besuchen und sie um Unterstützung bitten willst; das wird aber keinen Erfolg haben, denn es wird ihnen wie den meisten andern gehen, daß sie sich vorsehen, ihr Geld wegzugeben ohne jede Gegenleistung. Es wäre viel ratsamer für dich, um eine Frau zu werben und auf diese Weise zu Gelde zu kommen.« Er sagte: »Ich weiß nicht, wo eine solche Frau ist, daß ich es daraufhin wagen könnte.«

Sie sagte: »Willst du mich haben, wenn ich dir genug Geld mitbringe?«

»Ich weiß nicht, ob es ratsam ist«, sagte er.

»Mach, wie dir's gefällt«, sagte sie.

»Ja«, sagte er, »zuerst will ich meine Verwandten besuchen und sehen, was sie sagen.«

Sie bat ihn zu tun, wie er wolle, meinte aber, er werde wenig Nutzen davon haben. »Wo kann ich auf dich warten«, sagte er, »falls ich deinen Antrag annehme?«

»Hier an dieser Stelle, wenn du heimreitest, und bringe ein lediges Pferd mit, damit ich mit dir nach Hause reiten kann.«

Dann trennten sie sich, und er ritt zu seinen Verwandten. Es ging, wie die Frau vermutet hatte, und er empfing keine Unterstützung von ihnen. Da erzählte er ihnen von der Frau, die er getroffen hatte, und was sie ihm angetragen, und sagte noch dazu, er habe einen bestimmten Argwohn, wer die Frau sei. Sie sprachen: »Was für eine Frau es auch sein mag, es scheint uns nichts anderes ratsam, als den Antrag anzunehmen.« Damit fuhr er heim, bis er wieder zu der Lichtung kam, wo er die Frau am Bache sitzen sah. Sie grüßte ihn und fragte, wie es gegangen sei. »Genau wie du vermutest hast«, sagte er.

»Das war zu erwarten«, sagte die Frau, »was wirst du nun tun?«

Er antwortete: »Ich weiß nicht recht, wozu ich mich entschließen soll.«

Da sagte sie: »Du mußt eine Frau mit Geld heiraten. Es steht nun bereit, was ich dir angeboten habe: wenn du mich nimmst, so soll es dir



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niemals an Geld fehlen, sooft du welches von mir verlangst. Was sagten denn deine Verwandten dazu, als du ihnen meinen Antrag mitteiltest?«

»Sie haben mir nicht widerraten, Geld zu erlangen, woher es auch sei.«

»Das war vernünftig gesprochen«, sagte sie, »denn jedermann wird nach seinem Vermögen gemessen. Ist das Pferd fertig, daß ich darauf reiten kann?«

»Hier steht es«, sagte er.

»Dann mußt du dich nun entscheiden«, sagte sie, »ich würde sogleich mit dir heimreiten und die Verbindung unter uns eingehen.«

»Das wird nun so werden«, sagte er.

Dann nahm er die Pferde und hob die Frau auf das eine. Und als sie näher nach Hause kamen, sagte die Frau: »Wir müssen unser Verbbungsbier trinken, sobald wir heimgekommen sind.«

»Ich weiß nicht, ob die Mittel dazu da sind«, sagte er.

»Ich werde mich schon darum kümmern«, sagte sie, »daß nichts fehlt«, nahm einen großen Geldbeutel unter dem Mantel hervor und gab-ihn ihm. »Nimm zunächst dies«, sagte sie, »und wenn es zu Ende ist, so sage es mir, dann gebe ich dir mehr.«

Er nahm das Geld, und als sie heimkamen, richtete er sogleich das Verlobungsbier aus, und wenig später heiratete er sie. Sie waren nun viele Jahre zusammen und hatten vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Sie war eine freundliche und freigebige Frau und sehr beliebt bei den andern Leuten schon wegen des Geldes. Auch hielt sie, was sie dem Hausherrn versprochen hatte; wenn er kein Geld hatte, um etwas zu kaufen, wonach ihn gelüstete, gab sie ihm gleich, soviel er wollte. So ging nun die Zeit hin, in der sie zusammen waren, und er war mit seinen Verhältnissen recht zufrieden. Die Frau war freundlich und wohlgefällig und ging auch zur Kirche wie andere Leute und wohnte auch den Gebeten bei außer der Messe: sie wußte immer irgendeinen Vorwand zu finden, die Messe zu verlassen; wenn das Evangelium verlesen oder der stille Gesang erhoben oder die Hostie hoch gehoben wurde, dann war sie gerade niemals in der Kirche. Darüber wunderten sich die Leute und redeten viel davon. So sagte es ihr Mann auch seinem Bruder, der Diakon dort in der Nähe war und schon alles erfahren hatte. Er beeilte sich, seinen Bruder zu besuchen, brach mit seinen Knechten auf und kam zum Gehöft, als die Frau nur allein daheim, der Hausherr aber abwesend war.



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Sie nahm ihn und seine Leute mit größter Freundlichkeit auf, richtete ihnen Quartier und gab ihnen zu trinken, bewirtete sie am Abend köstlich und setzte sich selbst zu ihm. Der Diakon unterhielt sich ausgezeichnet mit ihr und schlief dort die Nacht. Am Morgen früh las er seine Gebete und ließ sich dann auch eine Messe lesen in seinem Quartier, aber vorher ließ er die Frau zu sich rufen und lud sie ein, erst an der Messe teilzunehmen und dann mit ihm zu speisen. Sie war einverstanden, und es wurde die Messe verlesen bis zum Evangelium. Sie standen beide zusammen, als das Evangelium begann. Da schickte sie sich an wegzugehen, und er fragte sie, was sie denn vorhabe. Sie sagte, sie habe eine Besorgung zu machen. Er bat sie ruhig dazubleiben, und sie war einverstanden. Sie blieb nun bei der Messe bis zum stillen Gesang, aber ehe der noch begann, wollte sie weggehen. Er hieß sie ruhig dableiben, als aber das Sanktus beendet war, wurde sie unruhig und wollte durchaus fort. Da nahm er sie und ließ sie nicht fort von der Messe, nahm eine Stola, die er bei sich hatte, und warf sie ihr über die Schultern. Oben darüber befand sich ein Schornstein, aus dem der Rauch aus der Stube abziehen sollte. Im selben Augenblick wurde die Hostie emporgehoben. Da legte sie ihre Hände auf ihre beiden Töchter, und man sah sie da aus dem Schornstein hinausfliegen und ihre beiden Töchter mit ihr. Sie wurde seitdem nicht wieder gesehen, und keiner wußte, was aus ihr geworden war. Ihre beiden Söhne waren zurückgeblieben und wurden brave, christliche Männer, reich und angesehen. Ihr Vater nahm sich später eine andere Frau. Es wird nicht erwähnt, daß ihm irgendein Unheil zugestoßen sei.


Eine Pfarrerstochter mit einem Huldren verheiratet

Ein Pfarrer irgendwo hatte eine heiratsfähige Tochter. Einmal war die Rede von den Huldrenleuten oder Elben; da sagte die Pfarrerstochter: »Das gälte mir gleich, ob ich einen Elbenmann bekäm, wär's nur ein hübscher Kerl!«Der Pfarrer gab seiner Tochter eins auf den Mund und sagte, sie schwätze Unsinn.

Kurz danach sah ein Kind des Pfarrhofs einen Mann an die Haustür reiten, absteigen, hineingehen und die Pfarrerstochter bei der Hand nehmen, sie hinausführen, sie auf das Pferd setzen und mit ihr davonreiten. Sie wurde dann an allen nur erdenkbaren Orten gesucht, aber



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nirgends gefunden. —Dann wird erzählt, wie drei Winter später der Schafhirt, der schon lange beim Pfarrer war und der die Tochter ins Herz geschlossen hatte, sich mit der ganzen Herde verirrte, in ein Schneegestöber kam und alle Schafe verlor. Er selbst kam zuletzt an eine Bauernhoftür, die er nur undeutlich erkannte. Ein starker Mann stand vorn an der Tür und bot ihm Quartier an. Der Knecht sagte, er wolle es nehmen, jammerte aber sehr über die verlorenen Schafe. Der Bauer meinte, die würden sich schon wiederfinden, und führte den Gast hinauf in die geheizte Wohnstube. Dort sah er einen alten Mann und eine alte Frau, und zwei Kinder spielten auf dem Boden. Dann erblickte er auch die Pfarrerstochter, und sie schien ihm die Frau des Bauern zu sein, der ihm das Quartier geboten hatte. Er wurde aufs beste bewirtet und zuletzt in den Hausraum unter der Wohnstube geführt.

Dort kam die Pfarrerstochter zu ihm, bat ihn, sie nicht zu verraten und ihrer Mutter einige Schmucksachen in einem ledernen Beutel zu überbringen und ihr zu sagen, daß sie hier jeden Abend ihre Gebete sprechen dürfe. Da fragte sie der Knecht, ob sie denn auch jemals in die Kirche komme. Sie sagte, da komme sie ebensooft hin wie er selbst, sie habe da den vordersten Platz an der Kanzel, und ihr Mann sitze zunächst dem Altare. Da fragte der Schafhirt, wie dies denn möglich sei, da sie doch keiner bemerke. Sie sagte, das komme daher, daß sie immer schon vor dem Segen die Kirche verließen. Indessen bat sie inständig, dies alles niemand zu sagen und nur der Mutter den Beutel zu geben, sonst würde er großes Unglück davon haben.

Er versprach das, und am Morgen brachte ihm der Bauer all sein Vieh zurück, das er in der Nacht zum Heu hineingetrieben hatte. Auf Irrwegen kam er mit seinen Schafen wieder heim, doch war der Weg diesmal nicht sehr weit.

Aber er hielt da sein Versprechen nicht besser, als daß er alles sofort haarklein erzählte, was er auf seiner Fahrt erfahren hatte. Der Pfarrer aber faßte den Entschluß, seine Gemeinde zu warnen, daß sie sich nicht wundern möchten, wenn er am nächsten Sonntag den Segen eher spräche als gewöhnlich; denn er wollte auf diese Weise versuchen, seine Tochter wiederzugewinnen.

Es wird berichtet, daß ihm das auch geglückt sei, aber auf ihre innigen Bitten habe er sie wieder loslassen müssen, da sie sagte, es würde nur schlimmes Unheil daraus entstehen. Auch sei ihr Mann zu ihr so



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freundlich, daß es ihr der größte Schmerz sein würde, seine Liebe zu missen. Aus dem Schafhirten aber soll ein sehr unglücklicher Mensch geworden sein.


Die Pfarrerstochter von Prestsbakki

Auf Prestsbakki war einmal ein Pfarrer, der Einar hieß. Er war ein sehr reicher Mann und hatte viele Kinder. Er hegte große Verachtung vor den Huidrensagen und sagte, daß es ein Huldrenvolk niemals gegeben habe. Er meinte, sie könnten ihn ja besuchen, und fragte höhnisch, ob er denn so schwer zu finden sei.

Eines Nachts aber träumte er, daß ein Mann an sein Bett kam und spräche: »Von jetzt ab wirst du nicht mehr leugnen, daß es ein Huldrenvolk gibt, ich werde nun deine älteste Tochter holen, und du wirst sie niemals wiedersehen. Du hast uns Elben lange genug geärgert.« — Am Morgen war die älteste Tochter des Pfarrers verschwunden, sie war zwölf Jahre alt. Man suchte sie überall, aber man fand sie nirgends. Als aber ihre Geschwisterchen am Hofzaun beim Spielen waren, kam sie noch einmal zu ihnen und spielte mit ihnen. Sie wollten sie mit heimnehmen, aber da verschwand sie für immer. Sie sagte ihren Geschwisterchen auch, daß es ihr gutgehe, dort wo sie sei.

Ihr Vater träumte beständig von ihr, und sie teilte ihm genau dasselbe mit, was sie ihren Geschwistern gesagt hatte, und dies noch dazu, daß sie für den Pfarrerssohn des Huidrenvolkes bestimmt sei. Dann verstrich die Zeit, bis sie wieder erschien und dem Vater sagte, sie verlange danach, ihn zum Hochzeitsmahl morgen bei sich zu sehen, denn dies solle nun vor sich gehen. Von da ab hat er niemals mehr von ihr geträumt.


Graumann

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche und ein alter Mann mit seinem alten Weibe in ihrer Hütte. Der König war sehr reich an Vieh, aber an Kindern hatte er nur eine einzige Tochter und diese wohnte mit ihren Mägden in einem schönen Frauenhaus. Der alte Mann war sehr arm; Kinder hatte er keine, und er bezog den Lebensunterhalt für sich und seine Alte nur von einer einzigen Kuh, die sie



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besaßen. Einmal ging der alte Mann wie öfter in die Kirche, da sprach der Pfarrer gerade von der Mildherzigkeit und ihren guten Folgen. Als er aus der Kirche heimkam, fragte ihn sein Weib, was er Schönes in der Predigt gelernt habe. Der Alte war sehr heiter gestimmt und sagte, es sei gut gewesen, heute dem Pfarrer zuzuhören, denn er habe gesagt, daß dem, der gäbe, tausendfältig wiedergegeben werde. Die Alte meinte, das sei wohl nicht so ganz wörtlich zu nehmen und der Mann habe den Pfarrer wohl nicht ganz richtig verstanden. Der Alte blieb fest bei seiner Sache, und sie stritten sich eine Stunde lang, aber jedes blieb bei seiner Meinung.

Am Tage darauf mietete der Alte eine Menge Arbeiter und baute einen Stall für tausend Kühe. Die Alte erboste sich mächtig über seine Dummheit, wie sie es nannte, konnte es aber nicht hindern. Als der Stall fertig war, überlegte der Alte, wem er seine Kuh geben solle. Er wußte zwar keinen, der so reich war, daß er ihm hätte tausend Kühe wiedergeben können, außer dem König, aber zu dem zu gehen, konnte er sich nicht entschließen. So beschloß er, zum Pfarrer zu gehen; er wußte, daß der Pfarrer reich war, und dachte, daß der wohl am wenigsten seine eigenen Worte zuschanden werden ließe. Er machte sich nun mit seinem Vieh zum Pfarrer auf den Weg, wie sehr die Alte sich auch widersetzte.

Er kam also zum Pfarrer und gab ihm die Kuh. Der Pfarrer wunderte sich und fragte, was das bedeuten solle. Der Alte erklärte ihm alles; da wurde der Pfarrer wütend, schalt ihn aus, daß er die Predigt so falsch verstanden habe, und trieb ihn wieder heim mit seiner Kuh. Der Alte nahm seine Kuh und ihm schien die Reise übel ausgegangen. Da erhob sich ein rabenschwarzes Unwetter von Norden und Frost. Er konnte nichts mehr sehen und glaubte, er würde die Kuh bald verlieren, um selbst heil davonzukommen. Und wie er so nachdenklich stand in seinem Unglück, begegnete ihm ein Mann mit einem großen Sack auf dem Rücken. Der fragte ihn, wie es käme, daß er bei solchem Wetter mit seiner Kuh unterwegs sei. Der Alte erzählte ihm alles. Jener meinte, es sei sicher, daß er noch seine Kuh verliere, unsicher, ob er nicht auch noch selber umkomme. »Und es ist deshalb besser, mein Lieber, du gibst mir die Kuh für den Sack, den ich trage. Mit dem kommst du noch leidlich vorwärts, und es ist Fleisch und Bein darin.«

Ob sie nun länger oder kürzer darüber redeten, schließlich wurden sie handelseinig. Der Mann verschwand mit der Kuh, und der Alte machte



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sich mit dem Sack davon, der ihm schwer vorkam. Daheim sagte er der Alten, wie's mit der Kuh gegangen sei, und tat gar wichtig mit dem Sacke. Die Alte war außer sich, aber er bat sie, schnell einen Topf mit Wasser aufzusetzen. Sie nahm den größten, den sie hatte, und füllte ihn mit Wasser. Als es siedete, wollte der Alte den Sack öffnen, es lebte und bewegte sich in dem Sack, und wie er ihn öffnete, sprang da ein lebendiger Mann heraus, ganz grau vom Wirbel bis zur Zeh. Der sagte, wenn sie etwa sieden wollten, sollten sie etwas anderes dazu nehmen als ihn.

Der Alte war ganz verdutzt, die Alte schimpfte und sagte, soweit sei's nun gekommen mit seiner Dummheit. »Zuerst bringst du uns um unsern einzigen Lebensunterhalt«, sagte sie, »und dann bringst du noch einen fremden Menschen mit, den wir füttern sollen.« So zankten sie sich noch eine gute Weile, bis der Graue sagte, das führe zu nichts, er wolle hinausgehen und sehen, ob er nicht etwas für sie alle zum Essen finde. Und schon war er hinaus in der Finsternis, schon aber kam er wieder herein mit einem alten feisten Hammel, hieß ihn schlachten und zubereiten. Sie waren zuerst etwas bedenklich dabei, denn sie wußten natürlich, daß der Hammel gestohlen war. Schließlich aber gingen sie doch darauf ein, und sie lebten nun fröhlich in der Hütte, bis der Hammel zu Ende war, dann holte der Graue einen anderen, einen dritten, einen vierten, einen fünften. Es schien nun den Alten nicht schlecht, daß sie den Grauen zu Gast bekommen hatten, und sie lebten in Überfluß von Schaffleisch.

Nun geht die Geschichte wieder zurück an den Königshof. Der Hirt des Königs merkte, daß ihm ab und zu ein Stück aus der Herde abhanden kam. Er konnte sich das gar nicht erklären, und beim fünften Schafe meldete er's dem Könige und sagte, es müsse ein Dieb in der Nachbarschaft sein. Der König forschte nach, ob irgendein Neuankömmling in der Gegend sei, und erfuhr schließlich von dem Fremdling bei den beiden Alten, den niemand kenne. Er schickte einen Boten zu ihm, er solle an den Königshof kommen. Der Graue ging auch gleich mit, aber die Alten waren zu Tode erschrocken. Sie glaubten, er würde als Dieb gehängt und sie ihres Ernährers beraubt werden.

Als der Graue in den Königshof kam, fragte ihn der König, ob er es sei, der ihm seine fünf alten fehlenden Schafe gestohlen habe. Der Graue sagte: »Ja, Herr, das habe ich getan!« Der König fragte, warum er das getan habe. Da sagte der Graue: »Wegen der beiden Alten da draußen, die nichts zu essen haben; aber du, König, hast's im Überfluß,



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mehr als du brauchst oder selber essen kannst. Und es schien mir nun nicht unbillig, daß die Alten etwas von dem bekämen, was du gar nicht brauchst und im Überfluß hast.« Der König war sehr erstaunt und fragte, ob denn das seine einzige und beste Kunst sei zu stehlen. Der Graue ließ sich wenig darüber aus. Da sagte der König, er würde ihm die Strafe erlassen, wenn er ihm morgen seinen fünfjährigen Ochsen stehlen könne, den er mit seinen Leuten hinaus in den Wald zu schicken gedenke. Aber wenn er das nicht könne, so würde er gehängt. Der Graue sagte, das würde wohl unmöglich sein, denn der König würde den Ochsen gut bewachen lassen. Da müsse er selbst zusehen, sagte der König.

Nun ging der Graue heim, und die Alten empfingen ihn wohl. Er sagte dem Alten, er solle ihm einen Strick beschaffen, da er ihn morgen früh brauche. Das tat der Alte, und dann schliefen sie in der Nacht. Früh am Morgen stand der Graue auf, nahm den Strick und ging fort. Er ging hinaus in den Wald, wo er wußte, daß die Leute mit dem Ochsen vorüberkommen müßten. Er stieg auf eine große Eiche dicht am Wege, machte sich den Strick um den Hals und hing sich an die Eiche. Kurz danach kamen die Königsleute mit dem Ochsen. Sie sahen den Grauen an der Eiche hängen und meinten, er habe auch wohl noch andere Leute bestohlen als nur den König allein; diese hätten ihn da gehängt und er würde es nun wohl bleiben lassen, ihnen den Ochsen zu stehlen. Sie setzten ihren Weg bald fort, und als sie verschwunden waren, ließ sich der Graue herab, überholte die Königsleute auf einem kürzeren Waldpfad und hing sich von neuem an einer Eiche dicht am Wege auf. Als die Königsleute ihn sahen, waren sie über die Maßen verblüfft und meinten, hier sei Zauberei im Spiele. »Gibt es denn zwei so verfluchte Graue?« sagten sie. »Das wäre jetzt ein Spaß, hier Bescheid zu wissen. Laufen wir schnell zurück und sehen wir, ob das derselbe ist!«

Sie banden ihren Ochsen an die Eiche und kehrten um. Schnell stieg der Graue herab, band den Ochsen los, führte ihn schleunigst nach der Hütte, hieß die Alten den Ochsen schlachten, ihm die Haut ganz abziehen und aus dem Talg Kerzen gießen. Da war nun die Hütte voller Lust und Freude. Die Königsleute aber fanden natürlich den Grauen an der ersten Eiche nicht mehr, und wie sie wieder zur zweiten kamen, da war auch dort der Graue mitsamt dem Ochsen verschwunden. Da merkten sie, daß sie übertölpelt waren, fuhren heim und erzählten es dem König. Dieser ließ ihn allsogleich holen; die Alten waren zu Tode erschrocken,



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sie meinten, nun würde er unverzüglich gehängt werden. Aber der Graue war guten Mutes und ging sogleich mit.

Der König sagte: »Hast du meinen Ochsen gestohlen?« »Ja, Herr«, sagte er, »um mein Leben zu retten.« — »Ich will dir auch das verzeihen«, sagte der König, »wenn du heut nacht mir und meiner Königin die Bettüchter unterm Leibe wegstehlen kannst.« —»Das kann keiner«, sagte der Graue, »wie soll man in den Königshof kommen und dann dies tun?« — »Da siehe du zu«, sagte der König.

Als der Graue heimkam, meinten die Alten, er sei von den Toten auferstanden, und begrüßten ihn froh. Er nahm einige Töpfe voll Mehl und hieß die Alte einen dicken Grützebrei kochen. Der Graue tat ihn in eine kleine Schüssel und bedeckte sie, damit er nicht auskühle. Dann schlich er sich damit zum Königshof, kam auch unbemerkt gegen Abend hinein und versteckte sich in einem dunklen Winkel. Dann ward der Königshof fest verschlossen, damit der Graue nicht hineinkäme. Als der Graue nun merkte, daß sie alle fest schliefen, auch der König und die Königin, ging er leise in ihre Schlafkammer, deckte sie von den Füßen bis zur Mitte auf und ließ die Grütze vorsichtig zwischen sie beide tröpfeln. Dann ging er schnell wieder in sein Versteck.

Die Königin erwachte, als sie den warmen Brei fühlte. Sie ward böse, weckte den König und sagte: »Was ist denn das? Du hast ja ins Bett gemacht, mein Liebster!«Der König wollte das nicht zugeben, bezichtigte seinerseits die Königin, und so stritten sie eine Zeitlang. Schließlich nahmen sie die Bettücher und warfen sie mit allem, was darin war, auf den Estrich. Dann schliefen sie wieder ein. Der Graue nahm die Bettücher, wickelte sie zusammen, trug sie zu den Alten in die Hütte, gab sie ihnen, ließ sie von der Grütze reinigen und für ihr eigenes Bett benutzen.

Am Morgen sahen der König und die Königin, daß ihre Bettücher verschwunden waren. Der König dachte nun sogleich an den Grauen und ließ ihn holen. Und nun wußten die beiden Alten genau, daß er ganz bestimmt gehängt werden würde, und nahmen schmerzlichen Abschied von ihm. Der Graue ging wohlgemut in den Hof, und der König fragte: »Hast du heute nacht mir und meiner Königin die Bettücher unter dem Leibe weggestohlen?« —»Ja, Herr, um mein Leben zu retten.« —»Ich will dir alles verzeihen, wenn du heute nacht uns beide, mich und meine Königin selber, aus unserm Bette stiehlst. Wenn du das nicht kannst, wirst du ohne Gnade gehängt.« —»Das kann keiner«,



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sagte der Graue. »Da siehe du zu«, sagte der König. Dann trennten sie sich, und daheim empfingen die beiden Alten ihren Grauen, als ob er wirklich von den Toten wieder auferstanden sei.

Am Abend, als es dunkel war, nahm der Graue einen großen, hohen, breitkrämpigen Hut, der dem Alten gehörte, machte viele Löcher hinein und steckte da hinein die Kerzen aus Ochsentaig. Auch an sich selber brachte er von oben bis unten viele Kerzen an. Dann setzte er den Hut auf, nahm den Ochsen Haig und ging in die Kirche des Königshof es. Hier legte er den Balg vor dem Altar nieder, zündete alle Kerzen an und begann die Glocken zu läuten. Der König und die Königin wachten von dem ungewöhnlichen Läuten auf und blickten zum Fenster hinaus, um zu sehen, was los sei. Da sahen sie eine leuchtende Gestalt an der Kirchentür stehen, die strahlte nach allen Seiten. Sie waren erstaunt über dieses Gesicht und meinten nicht anders, als ein Engel sei vom Himmel gekommen, auf die Erde eine Botschaft zu bringen. Man müsse einen solchen Gast ehrfürchtig empfangen, sagten sie und ihn um Barmherzigkeit bitten. Sie zogen schnell ihre königlichen Kleider an und gingen hinaus zu dem Engel. Sie fielen vor ihm auf die Knie und baten ihn um Gnade und um Vergebung ihrer Sünden. Er aber sagte, er würde ihre Bitte nirgends erhören, es sei denn drinnen in der Kirche vor dem Altar.

Als sie nun dem Engel dorthin gefolgt waren, sagte er, es würden ihnen ihre Sünden vergeben, aber nur unter einer Bedingung. Sie fragten, welche Bedingung das sei. Er sagte: diese, daß sie beide in den Balg kriechen müßten, der dort am Altar liege. Das dünkte sie weiter nicht schlimm, und so krochen sie beide in den Balg hinein. Aber sie waren kaum drin, da band der Engel oben den Balg fest zusammen. Der König fragte, was das bedeuten solle. Da sagte der Engel und schüttelte dabei alle Lichter ab: »Ich bin kein Engel, mein König«, und schleifte den Baig schleunigst über den Kirchenestrich, »sondern ich bin dein guter Bekannter, der Graue aus der Hütte da draußen. Da habe ich nun dich mitsamt deiner Königin gestohlen, wie du es mir gestern abend befohlen hast, und du sollst auch deine Sündenvergebung haben, indem ich euch beide erschlage, außer du erfüllst mir meine einzige Bitte und schwörst mir einen Eid darauf, bevor ich euch wieder herauslasse.« Der König konnte nichts anderes tun als alles versprechen, was der Graue wollte, und er beschwor ihm die Erfüllung jeder Bitte. Da ließ der Graue die beiden frei und sagte dem König, er bitte ihn um seine Tochter



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und das halbe Königreich und um die Erlaubnis, die beiden Alten zu sich zu nehmen. Der König gab alles zu.

Dann ging der Graue zu den Alten und war nun nicht wenig stolz auf sich selbst, er hieß sie sich etwas herausstaffieren, denn sie sollten nun in eine andere Wohnung. Die Alten staunten mächtig, als sie das hörten und als der Graue erzählte, wie sich das alles verhielt. Andern Tags nahm er sie mit sich in den Königshof, und sie wurden gut aufgenommen. Er bekam die Königstochter und das halbe Reich dazu. Aber beim Hochzeitsmahl teilte der Graue zur Unterhaltung mit, daß er der Sohn des Nachbarkönigs sei. Er habe von dem Plane des armen Häuslers gehört und sei dann mit dem Pfarrer des Königs übereingekommen, dessen Worte nach dem Glauben des Alten in Erfüllung gehen zu lassen. Und damit könne der Alte nun wohl zufrieden sein.

Der Graue lebte lange und glücklich mit seiner Königin. Nach dem Tode des Königs erbte er das ganze Reich, und er regierte es klug und weise bis in sein Alter. Aber die Alten lebten noch bei ihm bis zu ihrem Tode in allem Überfluß. Und damit schließt die Geschichte vom Grauen.


Pferd Goldmähne und Schwert Kampffeder

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche. Sie hatten einen Sohn, der Sigurd hieß. Als er zehn Jahre alt war, wurde die Königin krank und starb. Der König ließ ihre Leiche nach alter Sitte in einem Grabhügel bestatten, auf dem er oftmals saß und um sie trauerte. Eines Tages saß er wieder dort, da erblickte er eine vornehm gekleidete Frau. Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie nannte sich Ingibjörg und verwunderte sich, daß er so allein da sitze. Da erzählte ihr der König alles, und die Frau wiederum erzählte dem König, daß sie gestern gerade ihren Mann verloren habe, und fügte hinzu, am besten zögen sie beide wohl zusammen. Dem König gefiel sie, er lud sie an seinen Hof, und schon kurz danach fand die Hochzeit statt.

Der König war wieder fröhlich geworden und ritt oft auf die Jagd. Sigurd aber liebte seine Stiefmutter sehr und blieb immer bei ihr daheim. Eines Abends sagte sie zu ihm: »Morgen mußt du mit deinem Vater auf die Jagd!« Er sagte, er wolle lieber bei ihr bleiben, und als der König am Morgen davonritt, war Sigurd nicht zu bewegen, ihn zu



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begleiten. Da sagte die Stiefmutter, er würde seinen Ungehorsam schon noch bereuen und tue besser, ihr zu gehorchen. Sie steckte ihn unter ihr Bett und sagte, dort solle er bleiben, bis sie ihn rufe. Darauf geschah ein mächtiges Dröhnen, der Boden bebte, und ein Riesenweib, bis zu den Knöcheln in der Erde watend, kam ins Zimmer. Sie sagte: »Sei gegrüßt, Schwester Ingibjörg! Ist Königssohn Sigurd daheim?«

»Nein«, sagte Ingibjörg, »er ist mit seinem Vater in den Wald zur Jagd.«Sie deckte dann für ihre Schwester den Tisch und setzte ihr Speisen vor. Als sie beide gegessen hatten, sagte die Riesin: »Ich danke dir für den besten Leckerbissen, das beste Lamm, die beste Kanne Bier und den besten Trank. Ist der Königssohn Sigurd daheim?«

Ingibjörg verneinte das, da nahm die Riesin Abschied und ging fort. Ingibjörg rief den Königssohn hervor. Der König kam abends von der Jagd zurück und wußte von alledem nichts. Am andern Morgen bat sie Sigurd, er solle nun seinen Vater begleiten, allein er sagte, er wolle lieber bei seiner Stiefmutter bleiben. Der König ritt wieder allein auf die Jagd. Ingibjörg verbarg den Knaben unter dem Tisch und war sehr ungehalten über ihn. Der Boden erbebte, die Riesin kam, bis zu den Waden im Boden watend, ins Zimmer. »Sei gegrüßt, Schwester Ingibjörg, ist der Königssohn Sigurd daheim?« —»Nein, er ist mit seinem Vater davongeritten.«Wieder deckte sie für ihre Schwester den Tisch, und als sie sich satt gegessen hatten, erhob sich die Riesin und sagte: »Ich danke dir für den besten Leckerbissen, das beste Lamm, die beste Kanne Bier und den besten Trank. Ist der Königssohn Sigurd daheim?«

Ingibjörg verneinte dies, und darauf nahm sie Abschied. Sigurd kroch hervor. Ingibjörg sagte, es sei von größter Wichtigkeit, daß er morgen nicht zu Hause bleibe; aber Sigurd meinte, daß ihm dies wohl niemals Schaden bringen werde. Am nächsten Morgen bat sie ihn flehentlich, den Vater zu begleiten. Aber Sigurd wollte durchaus nicht.

Als der König fort war, verbarg sie ihn zwischen Getäfel und Wand. Alles ging wie bisher, und Ingibjörg sagte, der Königssohn sei draußen mit seinem Vater im Wald. »Das ist gelogen«, schrie die Riesin, und sie zankten sich, bis Ingibjörg sich hoch und teuer verschwor, er sei nicht zu Hause. Dann speisten sie, und alles verlief wie bisher, aber als Ingibjörg wieder gesagt hatte, der Knabe sei mit dem Vater in den Wald, da schrie die Riesin mit Donnerstimme:

»Ist er so nahe, daß er meine Worte hört, so lege ich den Fluch auf ihn,



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daß er halb verdorrt und halb verbrannt werde und nicht früher zu Rast oder Ruhe komme, bevor er mich findet.« Dann ging sie fort, und als Ingibjörg den Knaben hervorholte, war er schon halb verbrannt und halb verdorrt. »Da siehst du's nun«, sagte sie, »aber jetzt heißt es schnell machen, ehe der Vater kommt.«

Sie nahm ein Knäuel und drei goldene Ringe aus einer Kiste und sagte zu ihm: »Wenn du diesen Knäuel fallen läßt, so rollt er bis zu ein paar Felsen. Aus denen kommt eine Riesin heraus; das ist meine erste Schwester. Sie wird zu dir herunterrufen und sagen: >Das ist herrlich, da kommt der Königssohn Sigurd, der soll heut abend in meinen Topf!< Aber du mußt deshalb keine Angst haben. Sie wird dich sodann mit einem Bootshaken zu sich hinaufziehen. Grüße sie von mir und gib ihr den kleinsten von den goldenen Ringen. Sie wird seelenvergnügt sein, wenn sie das Gold sieht, und dich zu einem Ringkampf auffordern. Wenn du dann ermattet bist, so wird sie dir anbieten, aus einem Horne zu trinken, bis du so stark wirst, daß du sie überwindest. Dann wird sie dich bis zum nächsten Morgen bei sich behalten. Ebenso werden's auch meine beiden andern Schwestern mit dir machen. Besonders aber mußt du dir merken: Wenn mein Hund zu dir kommt und legt seine Pfoten auf dich und es laufen ihm Tränen über seine Schnauze, so beeile dich heimzukommen, denn dann ist mein Leben in Gefahr; dann vergiß deine Stiefmutter nicht!«

Dann ließ Ingibjörg den Knäuel zur Erde fallen, und Sigurd nahm rührenden Abschied von ihr. Am Abend blieb der Knäuel bei dem ersten Felsen liegen, und Sigurd sah, wie eine Riesin hervorkam. Als sie ihn erblickte, rief sie: »Das ist herrlich, da ist der Königssohn Sigurd gekommen, der soll heute abend in meinen Topf! Herauf mit dir, Kamerad! Komm und ringe mit mir!«Dabei zog sie ihn mit dem Bootshaken zu sich hinauf. Sigurd grüßte sie von der Schwester und gab ihr den kleinsten der Goldringe. Da wurde sie seelenvergnügt und forderte ihn zum Ringkampf auf. Als sie merkte, daß er ermattete, ließ sie ihn aus dem Horn trinken, bis er die richtige Stärke erhielt. —Am nächsten Tage warf er wieder den Knäuel auf die Erde, der lief, bis er am Abend wieder vor einigen Felsen liegenblieb. Eine noch größere Riesin kam heraus, alles verlief wie beim erstenmal. Wie Sigurd aus dem Horn trank, wurde er so stark, daß er die Riesin mit einer Hand zu Boden werfen konnte. — Am dritten Tage verlief mit der dritten Riesin das gleiche. Als Sigurd aus dem Horn getrunken hatte, brachte er sie dahin, daß sie



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auf die Knie fiel. Da sagte die Riesin zu ihm: »Nicht weit von hier ist ein See; geh dorthin; du wirst dort ein kleines Mädchen sehen, das mit einem Kahne spielt. Mit diesem Mädchen freunde dich an. Hier hast du einen kleinen goldenen Ring. Den gib ihr, das wird dir nützlich sein. Du hast ja deine Kräfte wiedergewonnen, und nun wird dir alles gut gelingen.«

Dann trennten sie sich; Sigurd ging, bis er zu dem See kam, traf dort das Mädchen und fragte es nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Helga, und ihre Eltern wohnten nicht weit von hier. Er schenkte ihr den Ring, und sie spielten nun dort den Rest des Tages zusammen. Als Helga abends heimging, wollte er gern mit ihr gehen. Aber sie sagte, kein Fremder könne in das Haus kommen, ohne daß ihr Vater es merke. Doch nahm sie ihn mit, aber ehe sie zur Türe hineinging, hielt sie ihren Handschuh über ihn und verwandelte ihn sogleich in ein Büschel Wolle, trug es hinein und warf es in ihr Bett hinauf. Da stürmte auch schon ihr Vater herein, roch und suchte in allen Winkeln und schrie: »Es riecht hier nach Mensch! Was hast du da auf das Bett geworfen, meine Tochter?« —»Es war nur ein Wollbüschel«, sagte sie. »Vielleicht war es dann das«, sagte der Alte.

Am Morgen, als Helga zum Spielen fortging, nahm sie das Wollbüschel mit. Am See hielt sie ihren Handschuh darüber, und Sigurd bekam wieder seine frühere Gestalt. Sie unterhielten sich nun zusammen den ganzen Tag über. Am Abend sagte Helga zu Sigurd, ehe sie ihn wieder in ein Wollbüschel verwandelte: »Morgen werden wir mehr Freiheit zum Spielen haben, denn mein Vater geht in die Kirche, und wir können daheim bleiben.« —Am nächsten Morgen ging der Vater zur Kirche, und als Sigurd wieder in seine natürliche Gestalt verwandelt war, zeigte ihm Helga alle Zimmer, denn der Vater hatte ihr alle Schlüssel übergeben. Aber Sigurd bemerkte, daß sie einen von den Schlüsseln nicht gebrauchte, und fragte, für welches Zimmer dieser Schlüssel sei. Sie sagte, damit habe es seine besondere Bewandtnis. Da fiel sein Blick auf eine eiserne Tür, und er bat sie dringend, ihm auch dieses Zimmer zu zeigen. Helga sagte, das sei verboten, und schließlich wollte sie sie ein ganz klein wenig öffnen. Sigurd sagte, dies würde auch genügen, und stieß sie dann ganz auf. Da sah er ein prächtig gesatteltes Pferd in dem Zimmer und ein goldverziertes Schwert, und auf dessen Griff waren folgende Worte eingeritzt: »Wer auf diesem Rosse sitzt und sich mit diesem Schwerte umgürtet, dem wird das Glück folgen.«



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Sigurd bat Helga, auf diesem Roß und mit diesem Schwert einmal um das Haus herumreiten zu dürfen. Helga sagte, das sei unmöglich; aber endlich gab sie seinen schmeichelnden Bitten nach. Sie sagte ihm nun auch, daß das Pferd Goldmähne und das Schwert Kampffeder hieße, und fügte hinzu: »Hier sind ein Zweig, ein Stein und ein Stock, die noch dazugehören. Wenn man auf dem Pferde sitzt und verfolgt wird, braucht man nur den Zweig hinter sich zu werfen, so verwandelt er sich in einen großen Wald. Und wenn der Verfolger trotzdem näher kommt, braucht man nur mit dem Stock auf die weiße Seite des Steines zu klopfen, dann kommt ein so großes Hagelwetter, daß der Verfolger darin umkommt.«

Sie erlaubte ihm auf sein dringendes Bitten, mit all den Dingen nur ein einziges Mal um das Haus herumzureiten. Als aber Sigurd einmal herumgeritten war, sprengte er davon.

Bald darauf kam Helgas Vater heim und sah, daß seine Tochter weinte. Er fragte sie nach dem Grunde, und sie erzählte alles. Da begann er sogleich aus allen Kräften dem Jüngling nachzulaufen. Wie Sigurd sich umsah, sah er den Riesen hinter sich. Da warf er den Zweig hinter sich, und sogleich schoß ein ungeheurer und dichter Wald zwischen ihm und dem Riesen empor. Da mußte dieser um eine Axt heim laufen, um sich durch den dichten Wald durchzuhauen.

Als Sigurd sich zum zweitenmal umsah, war der Riese schon wieder so dicht hinter ihm, daß er fast schon den Schwanz des Pferdes berührte. Da wandte er sich um und stieß mit dem Stock auf die weiße Seite des Steines, und ein so heftiges Hagelwetter brach los, daß der Riese darin umkam. Hätte Sigurd sich aber nicht umgewandt, so wäre es ihm ins Gesicht gekommen und hätte ihn selber getötet.

Als Sigurd nun weiterritt, kam die Hündin seiner Stiefmutter auf ihn zu, und es rannen ihr die Tränen über die Schnauze. Da ritt er aus allen Kräften heim und fand seine Stiefmutter von neun Knechten an einem Holzpflock festgebunden, daran sie sie verbrennen wollten. Mit dem Schwert Kampffeder tötete er die Knechte alle, befreite seine Stiefmutter und ritt mit ihr zum Vater. Der lag vor Kummer krank und ohne essen zu wollen im Bett; wie er aber den Sohn erblickte, war er ganz außer sich vor Freude. Sigurd erzählte ihm alles, aber der König hatte geglaubt, die Stiefmutter habe ihn umgebracht.

Dann ritt Sigurd fort, um Helga zu holen, und später ist er König und sie seine Königin geworden.



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Sie lebten lange und glücklich, Hatten Kinder und Kindeskinder, Gruben Wurzeln und Kräuter, Und nun weiß ich die Geschichte nicht mehr weiter.


Lini, der Königssohn

Es waren einmal ein König und eine Königin in ihrem Reiche. Er hieß Ring, aber wie sie hieß, wird nicht erwähnt. Sie hatten einen Sohn, der Lini hieß. Früh schon schien er mächtig und ein großer Kämpe. Außerdem wird erzählt, daß da ein alter Mann mit seinem alten Weibe in einer schlechten Hütte lebte; sie hatten eine Tochter, die Signy hieß.

Eines Tages ging der Königssohn mit den Hofleuten seines Vaters auf die Jagd. Wie sie abends wieder heimwollen, fiel ein dichter Nebel, und die Hofleute verloren den Königssohn. Sie suchten ihn lange, fanden ihn nicht, kehrten ohne ihn heim und erzählten die Sache dem König in der Halle. Der war sehr betrübt und ließ viele Leute suchen, drei Tage hindurch, aber immer vergebens. Da wurde er vor Kummer so krank, daß er sich zu Bett legte. Auch ließ er verkündigen, wer ihm den Sohn wiederbringe, bekäme das halbe Königreich. Davon hörte auch Signy; sie ließ sich von ihren Eltern Proviant und neue Schuhe geben und machte sich auf den Weg.

Nach mehreren Tagen kam sie zu einer Höhle, darin sie zwei Betten fand, das eine hatte eine silberdurchwirkte, das andere eine golddurchwirkte Decke. Dann entdeckte sie, daß der Königssohn in dem Bett mit der golddurchwirkten Decke lag. Sie wollte ihn wecken, aber es gelang ihr nicht. Einige Runen waren in das Bettgestell geritzt, aber sie konnte sie nicht lesen.

Da versteckte sie sich am Eingang hinter der Tür. Nun ward auch schon von draußen ein starkes Dröhnen laut, und zwei ungeheure Riesinnen kamen herein. Die eine von ihnen sagte sogleich: »Pfui, Teufel, hier ist Menschengeruch.« Die andere sagte, das käme von dem Königssohn. Dann gingen sie an dessen Bett und sagten:

»Singet, singet, mein Schwäne,
Daß Lini erwache!«


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***
Da sangen die Schwäne, und Lini erwachte. Die jüngere Riesin fragte ihn, ob er essen wolle. Er sagte nein. Dann fragte sie ihn, ob er sie nicht zum Weibe haben wolle. Er sagte standhaft nein. Da schrie sie auf und sagte:
»Singet, singet, meine Schwäne,
Daß Lini einschlafe!«

Die Schwäne sangen, und er schlief ein. Dann legten sie sich selbst in das Bett mit der Silberdecke. Am Morgen weckten sie Lini und boten ihm Speise an; er aber wollte keine. Darauf fragte ihn die jüngere, ob er sie nicht haben wolle; aber er verneinte das wie vorher. Da schläferten sie ihn wieder ein und verließen die Höhle.

Als sie ein Weilchen weg waren, kam Signy aus ihrem Versteck und weckte den Königssohn, so wie sie es von den Riesinnen gelernt hatte. Sie begrüßten sich freundlich, und er fragte sie nach Neuigkeiten. Signy erzählte ihm alles und auch von dem Schmerz seines Vaters um ihn. Dann fragte sie, was denn mit ihm geschehen sei. Er sagte, kurz nach der Trennung von dem Hofgesinde seien zwei Riesinnen gekommen und hätten ihn in ihre Höhle geschleppt. Die eine hätte ihn zwingen wollen, sie zu heiraten, wie sie ja wisse; er aber habe es immer verweigert. »Nun sollst du«, sagte Signy, »wenn die Riesin dich heute abend wieder fragt, ob du sie haben willst, dein Jawort geben unter der Bedingung, daß sie dir sagen, was auf den Betten steht und was sie den Tag über treiben.« Das dünkte dem Königssohn nicht schlecht; dann brachte er ein Brettspiel, und sie spielten Schach bis zum Abend. Als es dunkel wurde, schläferte sie ihn ein und ging wieder in ihr Versteck.

Kurz danach hörte sie die Riesinnen kommen, sie zündeten ein Feuer an, die ältere machte das Essen, die jüngere ging zum Bette, weckte Lini und fragte ihn, ob er essen wolle. Er sagte ja. Als er mit Essen fertig war, fragte sie ihn, ob er sie nicht haben wolle. Er sagte ja, falls sie ihm sage, was die Runen auf dem Bette bedeuten. Sie sagte, es stände darauf:

»Renne, renne, mein Bett,
Renne, wohin man will.«


***
Er war froh darüber, sagte aber, sie müsse ihm noch sagen, was sie tagsüber im Walde trieben. Sie jagten Wild und Vögel, sagte sie, und zwischendrin setzten sie sich unter eine Eiche und spielten Ball mit ihrem


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Lebensei. Er fragte, ob das etwas sei, womit man vorsichtig umgehen müsse. Sie sagte, das Ei dürfe nicht zerbrochen werden, sonst müßten sie beide sterben. Der Königssohn gab sich damit zufrieden, sagte aber, nun wolle er noch bis morgen ruhen. Die Riesin war damit einverstanden und schläferte ihn wieder ein. Am Morgen weckte sie ihn zum Essen, und er nahm es an. Auch fragte sie ihn, ob er heute nicht mit ihnen in den Wald hinauskommen wolle. Er sagte, er bliebe lieber daheim. Dann nahm die Riesin von ihm Abschied, schläferte ihn ein, und hierauf verließen sie beide die Höhle.

Nach einer Weile trat Signy zum Bette, weckte den Königssohn und bat ihn, aufzustehen. »Wir werden jetzt«, sagte sie, »in den Wald hinausgehen, dahin, wo die Riesinnen sind. Du sollst deinen Spieß mitnehmen, und sobald sie mit ihrem Lebensei Ball spielen, sollst du den Spieß nach dem Ei werfen. Aber dein Leben hängt davon ab, daß du es triffst.«Dem Königssohn schien das nicht schlecht geraten; sie stiegen nun beide zusammen in das Bett und sprachen:

»Renne, renne, mein Bettchen,
Hinaus in den Wald.«


***
Da rannte das Bett mit ihnen davon in den Wald und machte erst an der Eiche halt. Da hörten sie lautes Lachen. Signy hieß ihn nun auf die Eiche klettern, und er tat das auch. Da sah er die beiden Riesinnen unter der Eiche sitzen und Ball spielen mit einem goldenen Ei, das sie einander zuwarfen. Er warf seinen Spieß und traf das Ei im Flug, daß es zerbrach. Da sanken die Riesinnen tot um, und Geifer trat ihen aus dem Munde.

Sie fuhren nun mit dem Bett in die Höhle, beluden beide Betten mit den Kostbarkeiten der Riesinnen, fuhren auf ihnen heim zur Hütte der Alten, wo sie wohl empfangen wurden, und blieben die Nacht. Am Morgen ging Signy zum König und verlangte die ausgesetzte Belohnung. Der König bezweifelte stark, daß die Häuslerstochter seinen Sohn gefunden habe, sagte aber die Belohnung schließlich zu. Da holte Signy den Königssohn. Der König war froh, ließ sich alles erzählen, gab dem Sohne das Mädchen zur Frau und rüstete ein großes Hochzeitsmahl. Lini und Signy aber lebten lange zusammen und liebten einander sehr.



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Die Schuhe aus Menschenhaut

Es war einmal ein Bauer auf seinem Hofe; man redete über ihn allerlei. Man sprach schlecht von ihm, weil er sein Gesinde übel behandelte, und die Knechte erzählten Schlimmes über ihn, sei es wegen des schlechten Essens oder der schlechten Behandlung, oder aber deshalb, weil er zuviel von ihnen verlangte. Jedenfalls kam es schließlich so, daß keiner mehr als Knecht zum Bauern gehen wollte, und beinahe wäre es noch so weit gekommen, daß er alle Knechtsarbeit allein verrichten mußte. Da geschah es, daß ein Mann aus der Gegend, der, obgleich er ein tüchtiger Kerl war, arbeitslos herumlief, zum Bauer kam. Der Bauer empfing ihn mit offenen Armen; er führte ihn in die Stube und sprach mit ihm über dies und jenes. Da kamen sie auch auf Gesindewirtschaft und Knechtssachen zu sprechen, und dabei forderte ihn der Bauer auf, fürs nächste Jahr als Knecht bei ihm zu bleiben. Der Mann verstand sich nur ungern dazu wegen des Geredes, das über den Bauer umging. Aber der Bauer bat ihn, bei ihm zu bleiben, und wenn es auch nicht länger sei, als bis er ein Paar Schuhe abgelaufen habe. Der Mann dachte bei sich, daß Schuhe vergänglich seien und sich nach einer gewissen Zeit ablaufen müssen, und es also nur eine kurze Weile sein würde, die er beim Bauern zubringe, und keine Ewigkeit. So schloß denn seine Überlegung damit, daß er dem Bauern zusagte. Zur Kreuzmesse kam dann der Mann, und der Bauer gab ihm ein Paar neue, nicht sehr derbe Schuhe und sagte ihm, wenn die Schuhe abgelaufen seien, dann solle seine Dienstzeit aus sein, wenn er's so wolle. Das aber bestimmte der Bauer, daß er zum Kirchgang andere Schuhe anziehen solle, und darauf ging der Knecht auch willig ein.

Nun verstrich eine geraume Zeit, und man sah nach Verlauf dieses Jahres nicht mehr Abnutzung an den Schuhen, als wenn er sie am Tag vorher angezogen hätte. Da wurde er traurig über sein gegebenes Wort, und dennoch kam es ihm schändlich vor, fortzugehen, obwohl ihm das Leben beim Bauern leid und verhaßt war. So blieb er noch das nächste Jahr, und man sah immer noch keine Abnutzung an den Schuhen, obwohl er die beiden Jahre niemals andere Schuhe angehabt hatte, außer wenn er zur Kirche ging. Der Mann wunderte sich sehr darüber und glaubte nun zu wissen, daß das nicht mit rechten Dingen zuging, wußte aber nicht, welcher Zauberei er zum Opfer gefallen war.

Eines Sonntags, als er eben das dritte Jahr angefangen hatte, war er zu



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Hause geblieben und nicht zur Kirche gegangen; deshalb bekam er auch keine Kirchenschuhe, wie dies gewöhnlich geschah, wenn er ins Gotteshaus gehen wollte.

Als der Bauer und all sein Gesinde zur Kirche gegangen waren, dachte der Mann über seine schlimme Lage nach und darüber, wie lange wohl noch dies sein Elend beim Bauern dauern solle. Als er noch darüber nachsann, kam ein Mann herein. Der Fremde merkte, daß der Knecht bekümmert war, fragte ihn, weshalb und warum er denn nicht zur Kirche gegangen sei heute mit all dem andern Gesinde. Der Knecht sagte, er habe keine Lust gehabt, er überdenke sein Mißgeschick. Der Fremde sagte, das sei keine Entschuldigung dafür, daß er nicht zur Kirche gegangen sei, wenn er auch an sein Unglück denken wolle, denn alle Menschen hätten ihr Kreuz zu tragen, und sein Unglück würde dadurch keineswegs geringer, daß er vom Kirchgang wegbleibe. Er solle nur gleich zur Kirche gehen, denn noch sei die Zeit nicht soweit vorgerückt, daß er nicht zur Messe noch zurecht käme; auch sei etwas später angefangen worden, denn vor der Messe sei ein Begräbnis gewesen, und da habe man sich in der Zeit verspätet. Der Knecht sagte, er könne nicht gehen, da er keine Kirchenschuhe bekommen habe. Der Fremde sagte, er könne ruhig in den Schuhen gehen, die er anhabe, aber der Knecht sagte drauf: »Nein, ich habe es versprechen müssen, in ihnen nicht zum Gottesdienst zu gehen, wie lange ich auch in diesem herrlichen Dienstverhältnis bleibe, und ich habe dazu immer andere Schuhe bekommen; heute morgen aber wollte ich keine, weil ich nicht zur Kirche gehen wollte. «

Der Fremde fragte ihn, wie lange er denn schon in diesem Dienst sei. »Viel zu lange«, sagte der Knecht, »das dritte Jahr hat nun begonnen«, und er seufzte dazu. »Gefällt es dir nicht?«fragte der Fremde. »Weit gefehlt«, sagte der Knecht, »das ist mein größtes Unglück, daß ich solange hiergeblieben bin.« »Was bindet dich denn?«fragte der Fremde. »Mein Versprechen«, sagte der Knecht und erzählte ihm, wie alles gekommen war.

Als der Fremde dies gehört hatte, sagte er zu ihm, daß er nun gerade in ebendiesen Schuhen zur Kirche gehen solle, er solle nur vorher zum Grab gehen, das heute aufgeworfen sei, damit in die geweihte Erde fahren und abwarten, was geschehe, denn die Schuhe, die er nun bereits das dritte Jahr trage, seien aus den Rückenstreifen einer Altweiberhaut, und die würden halten in alle Ewigkeit, wenn es ihm bestimmt sei, so



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alt zu werden. Der Knecht dankte dem Fremdling für den guten Rat, sagte ihm »Auf Wiedersehen« und lief fort zur Kirche. Als er auf den Kirchhof kam, merkte er, daß die Schuhe an den Nähten aufsprangen, und als er in geweihter Erde stand, lösten sie sich von seinen Füßen, so daß nichts übrigblieb als Einfassung und Spannbänder. Und so ging er mit den Schuhfetzen an den Knöcheln in die Kirche hinein, wo der Pfarrer soeben die Kanzel bestiegen hatte. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging der Knecht zum Bauern und zeigte ihm, wie's mit den Schuhen stand und daß nichts mehr von ihnen übrig war als nur die Einfassung, und kündigte ihm gleichzeitig den Dienst.

Der Bauer sagte weiter nichts als dies: »Umsonst bist du also heute morgen nicht vom Kirchgang weggeblieben.«


Jon und die Trollsriesin

Im Nordland wohnte ein Bauer, der fuhr im Herbst und im Winter nach den Westmännerinseln zum Fischen. Er hatte einen erwachsenen Sohn. Der hieß Jon und war vielversprechend.

Einmal nahm der Bauer seinen Sohn mit auf seinen Fischfang nach den Inseln. Sie zogen geradeswegs; und es ist von der Fahrt nicht viel zu berichten.

Im nächsten Herbst zog Jon allein südwärts nach dem Fischplatz, denn sein Vater war alt und schwach geworden. Aber ehe er hinausruderte, bat ihn der Bauer, nur ja nicht unter den hohen Felsen am Bergabhang zu verweilen. Jon mußte ihm das ernstlich versprechen, das unter gar keinen Umständen zu tun.

Dann zog Jon fort; er hatte zwei Packpferde und ein Reitpferd mit. Die Pferde wollte er während des Winters auf den Landinseln einstellen, wie sein Vater das auch getan hatte. Seine Fahrt verlief nach Wunsch, er kam an den Bergabhang und zog eine Zeitlang an ihm hin. Der Tag war fast vorüber, und Jon versuchte am Abhang vorbeizukommen, wie er's seinem Vater versprochen hatte. Aber kaum war er in der Nähe der Felsen, von denen sein Vater gesprochen hatte, da überfiel ihn ein furchtbares Unwetter mit Sturm und Regen. Er war an hohe Felsen gekommen und kam zu einem Halteplatz, so schön, wie er ihn sich nur wünschen konnte, auf einer Anhöhe unter den Felsen. Er war reich mit Gras bewachsen und bot Schutz gegen den Regen. Es gefiel ihm gut,



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und er konnte nicht begreifen, was denn Schlimmes dabei sei, hier zu rasten, und so blieb er denn da. Er zäumte die Pferde ab und band sie fest. Er erblickte eine Höhle in dem Felsen. Dorthin trug er sein Gepäck, legte es an die eine Seite der Höhle nicht weit von der Türe; dann machte er es sich in seinen Sachen bequem und begann zu essen.

Es war dunkel in der Höhle. Als er eben im besten Essen war, hörte er ein langgezogenes Geheule in der Höhle; er erschrak etwas darüber, faßte aber bald wieder Mut. Er nahm einen riesigen Fisch aus seinem Proviant heraus, riß die Haut so herunter, daß sie ganz blieb, bestrich den ganzen Fisch dick mit Butter und legte die Haut wieder darüber. Dann schleuderte er den Fisch möglichst tief in die Höhle hinein und sagte, daß die da drinnen sich vor dem in acht nehmen sollten, der ihnen dies sende, daß sie's aber behalten könnten, wenn sie wollten. Da hörte Jon nun, daß bald darauf das Geheul verstummte und jemand begann den Fisch zu zerreißen. Als er fertig gegessen hatte, wollte er sich schlafen legen, aber da hörte er ein Geräusch im Geröll und daß jemand schweren Schrittes auf den Eingang zukam. Gleich darauf sah er eine große und mächtige Riesin kommen, und es war so, als leuchte ihre ganze Gestalt draußen im Dunkeln, da wurde es Jon bang. Als sie in die Türe der Höhle kam, sagte sie: »Menschengeruch ist in meiner Höhle.«Dann ging sie weit ausschreitend hinein und legte ihre Bürde auf den Estrich. Es entstand ein so großes Getöse, daß die Höhle erdröhnte. Da hörte Jon die Alte mit jemand sprechen und verstand auch, wie sie sagte: »Besser getan als nicht getan, und es wäre schlimm, wenn es nicht belohnt würde.«

Und dann sah er, wie die Riesin mit einem Licht in der Hand auf ihn zukam. Sie begrüßte Jon mit Namen, dankte ihm für ihre Kinder und bat ihn, mit in die Höhle zu kommen. Er bedankte sich, und die Alte steckte ihre beiden kleinen Finger in die Ösen seines Gepäcks, das mit Stricken festgebunden war, und nahm es mit hinein. Als sie hineinkamen, sah Jon zwei Betten, in dem einen lagen die beiden Kinder; es waren die, deren Geheule er gehört hatte und die den Fisch gegessen hatten. Auf dem Estrich lag eine Menge Forellen, die die Alte am Abend geangelt und auf dem Rücken heimgebracht hatte, und davon hatte ihre ganze Gestalt im Dunkeln so geleuchtet.

Die Alte frug nun Jon, ob er lieber in ihrem Bett oder in dem der Kinder schlafen wolle, und da er das der Kinder vorzog, bettete sie die Kinder auf den Estrich, bezog sein Bett neu und sorgte für seine Schlafstätte.



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Dann fing Jon an zu schlafen und wachte wieder auf, als die alte Riesin ihm gekochte Forellen zu essen brachte. Er dankte ihr dafür, und während er aß, saß die alte Riesin bei ihm, erzählte und war sehr vergnügt. Sie fragte ihn, wohin er rudern wolle, und er sagte es ihr. Da fragte sie ihn, ob er sich schon einen Platz bei jemand gesichert habe, er aber sagte nein. Da sagte sie ihm, daß alle Bootsplätze auf der Insel besetzt seien und keines mehr jemanden aufnähme, und daß er keine Wohnung finden werde außer bei einem alten Fischer, der kaum eine Gräte aus dem Wasser mehr angeln könne und der nur ein fast unbrauchbares Boot habe und auch nur untaugliche Burschen, weil er keine ordentlichen Leute mehr kriegen könne. »Ich rate dir«, sagte sie, »dir einen Platz bei ihm zu sichern; er wird sich zwar weigern, dich zu nehmen, aber du sollst nicht ruhen, bis er nachgibt. Ich kann dir jetzt nicht so belohnen, was du an meinen Kindern getan hast, wie ich gern wollte«, sagte die alte Riesin, »aber hier sind zwei Angelhaken, die ich dir schenken will. Den einen sollst du nehmen und der Alte den andern. Ihr sollt immer allein sein beim Angeln, ich hoffe, die Haken werden sich brauchbar zeigen. Immer sollt ihr als die letzten von allen ausrudern und als erste am Abend heimkommen. Ihr sollt auch nicht weiter rudern als bis an den Felsen, der gerade vor dem Landungsplatz steht. Wenn du nach Landinselsand kommst, werden die letzten Inselboote fahrtbereit sein. Fahre mit ihnen nach den Inseln, binde deine Pferde am Strand zusammen, bitte keinen, für sie zu sorgen, und kümmere dich auch nicht weiter um sie. Ich werde mich im Winter etwas um sie kümmern. Und wenn es wirklich so kommen sollte, daß du im Winter Glück hast beim Fischen, da wäre es mir lieb, wenn ich deinen Pferden mein Pferd könnte folgen lassen, um mir ein paar Fische zu holen, denn Dörrfisch schmeckt mir herrlich.«Jon sagte ihr das zu und versprach ihr, in allen Dingen ihrem Rat zu folgen.

Am Morgen ging Jon aus der Höhle und trennte sich in Freundschaft von der Alten. Erzählt wird nichts von der Reise Jons, bis er nach Landinselsand kam. Dort lagen die letzten Inselboote fahrtbereit. Jon schirrte seine Pferde ab und band sie am Strand zusammen, ohne jemand zu bitten, für sie zu sorgen. Die andern machten sich lustig über Jon deshalb und sagten, die Pferde würden wohl gut imstande sein am Ende der Fischzeit. Jon aber kümmerte sich nicht um ihren Spott, tat vielmehr, als höre er nichts, und zog mit ihnen nach den Inseln. Als er dahin kam, suchte er sich einen Bootsplatz, fand aber keinen, denn



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überall war alles vollbesetzt. Schließlich kam er zu dem alten Fischer, zu dem die Alte ihn geschickt hatte. Er bat ihn, ihn aufzunehmen. Aber der alte Mann wollte nicht und sagte, er wolle solch tüchtigem Manne keinen Schaden antun. »Ich angle nie auch nur eine Gräte aus dem Wasser«, sagte der alte Fischer, »und ich habe nur untaugliche Burschen für mein elendes Boot. Ich kann nur bei bestem und ruhigstem Wetter rudern«, sagte er, »und es ist nicht angesehen für einen tüchtigen Mann, sich an meine Untüchtigkeit zu binden.«Jon sagte, das müßte ja sein eigener Schade sein, und bat den Alten so lange, bis er ihn nahm. Jon zog nun beim Alten ein, und die Männer fanden nicht, daß er dabei gut beraten gewesen sei, und verspotteten ihn.

Nun kam die Fischzeit. Eines Morgens wachten Jon und die Seinen davon auf, daß alle Fischer auf den Inseln bei schönstem und ruhigstem Wetter hinausruderten. Da sagte der Alte: »Ich weiß nicht, ob ich auch hinausrudern soll. Ich glaube, es wird nicht viel dabei herauskommen.« j on sagte, es sei keine Gefahr dabei, es auch zu versuchen. Dann zogen sie sich ihre Lederanzüge an und fuhren hinaus. Als sie aber gerade gegenüber der eigentlichen Landungsstelle waren, glaubte Jon den Felsen zu erkennen, den die Riesin gemeint hatte. Er sagte, er wolle nur spaßeshalber hier an dieser Stelle seine Schnur auswerfen, und kaum hatte er's getan, als er schon einen Fisch heraufzog. Da gab er dem Alten den andern Angelhaken, der Riesin Geschenk. An diesem Tage hatten sie dreimal das Boot voll an dieser Stelle, fuhren heim, lange ehe die andern kamen, und dann waren sie bald mit der Zubereitung fertig. Alle waren verwundert über den Fischfang des Alten. Sie fragten ihn, wo es soviel gäbe, und er sagte es ihnen. Sie ruderten am andern Tage auch dahin, sahen aber an dieser Stelle nichts Lebendiges und ruderten darum weiter hinaus. Jon und der Alte fuhren erst nachher hinaus, und es ging genauso wie am Tage zuvor. Und so ruderten sie den ganzen Winter nach dem Felsen, und jeder fing zwölfhundert Fische, und sie waren die Glücklichsten beim Fischfang. Am vorletzten Tage ruderten sie zum letztenmal hinaus, und da waren, als sie die Leinen aufzogen, beide Angelhaken verschwunden, und es schien, als seien sie losgemacht worden, aber es bekümmerte sie nicht, und sie fuhren heim. Nun zog Jon mit dem Fisch nach dem Festland und wurde auf demselben Boot übergesetzt, mit dem er im Herbst hinübergefahren war. Unterwegs spotteten die Leute darüber, daß seine wohlgenährten Pferde nun gewiß den Dörrfisch nach dem Nordland tragen könnten.



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Als sie an den Strand kamen, sahen sie seine Pferde noch genauso festgebunden, wie er sie verlassen hatte. Und als sie sich die Pferde näher ansahen, fanden sie sie zu ihrer Überraschung, als seien sie im Winter gemästet worden. Aber außer seinen Pferden stand noch ein Pferd da mit einem Saumsattel, braun und stark gebaut. Die Genossen bekamen nun beinahe Angst vor ihm und hielten ihn für einen großen Zauberer wegen des guten Fischfangs und wegen seiner Pferde, die in so gutem Stande waren, als habe eines für sie gesorgt. Jon band den Dörrfisch auf die Pferde und lud ebenso viele auf das braune Pferd allein wie auf seine zwei. Dann ritt er nordwärts.

Die Riesin empfing ihn freundlich, und er blieb ein paar Tage bei ihr und gab ihr alle Fische, die der Braune getragen hatte. Sie erzählte ihm viel und auch, daß ihre Kinder im Winter gestorben seien und sie sie unter dem Felsen neben ihrem Manne begraben habe; sie habe auch die Haken von den Angelschnüren genommen und die Pferde an den Strand gebracht. Als sie ihn fragte, ob er von Hause etwas gehört habe, und er dies verneinte, da erzählte sie ihm, sein Vater sei im Winter gestorben, und als einziges Kind müsse er nun die Wirtschaft übernehmen. Er selbst würde auf den Hof ziehen, sich im Sommer eine Frau nehmen und sehr glücklich werden.

Und dann bat sie ihn noch um die Erfüllung einer Bitte. Sie sagte, sie habe nun nicht mehr viel Zeit, und wenn er von ihr träume, dann möge er möglichst bald herkommen und sie neben ihrem Manne und ihren Kindern begraben. Sie zeigte ihm die Stelle, wo diese begraben waren. Dann öffnete sie eine Seitenhöhle, wo zwei Truhen standen mit Gold und allerlei Schätzen gefüllt. Diese Truhen solle er dann erben und ebenso das braune Pferd, sagte sie. Sie würde die Truhen schon zusammenbinden und hinaussetzen, bevor sie sterbe, und sie würde auch schon etwas darunterstellen, so daß er nur das Pferd dazwischenführen und die Ösen am Sattel festzubinden brauche. Der Braune könne auf seinem Saumsattel bequem die Truhen tragen, ohne daß er selber es nötig habe, sich darum zu kümmern, bis er nach dem Norden käme. Dann trennten sie sich in großer Herzlichkeit, Jon und die Riesin. Die Reise ging gut vonstatten bis ins Nordland. Dort fand er alles so, wie die Riesin gesagt hatte, und alles kam auch so. Jon wurde seines Vaters Erbe und heiratete eine Bauerntochter aus der Umgegend. Nun ging es auf die Zeit des Mähens, da träumte Jon eines Nachts von der Riesin. Sofort dachte er an ihre Bitte und stand sogleich auf. Draußen stürmte



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es und regnete. Jon ließ den Reitknecht beide Reitpferde holen. Der Knecht gehorchte, und Jon beeilte sich mit seinem Ritt. Seiner Frau wollte er nichts darüber sagen, bat sie a'ber, unbesorgt zu sein, auch wenn er ein paar Tage fortbleibe. Dann ritt er, so schnell er konnte, kam an die Höhle, und die Riesin, die draußen stand, konnte nur noch kurz mit ihm sprechen. Er blieb bei ihr, bis sie gestorben war, und begrub sie dann an der von ihr selbst gewählten Stelle. Dann nahm er das braune Pferd mit dem Saumsattel. Vor der Höhle standen zwei Truhen mit Ösen daran. Er stellte das Pferd dazwischen, band die Ösen am Sattel fest und zog mit allem fort. Er ritt glücklich heim, blieb auf seinem Hof und wurde ein sehr reicher Mann. Er wohnte lange und zufrieden auf seinem vom Vater ererbten Hof, hatte in allem Glück und war angesehen bei allen Leuten.


Sigrid, die Sonne des Inselfjords

In Mödrufell im Inselfjord wohnte einmal ein reiches Ehepaar, aber ihre Namen sind nicht bekannt. Sie hatten nur eine einzige Tochter mit Namen Sigrid. Sie war aller Frauen schönste, und man nannte sie deshalb die Sonne des Inselfjords. Sie war ebenso tugendhaft, wie sie schön war.

Als sie herangewachsen war, kamen viele Freier, gelehrte und ungelehrte, aber der Vater wies sie alle ab, auch dann, wenn sie gern einen davon genommen hätte.

Damals war es allgemeine Sitte, in der Christnacht zur Kirche zu gehen, aber nie wollte einer auf dem Gehöft allein daheim bleiben. Nun sprach man unter dem Gesinde auf Mödrufell davon, wer wohl am Weihnachtsabend zu Hause bleiben wolle. Da kam Sigrid gerade dazu und fragte, was sie ihr geben wollten, wenn sie dabliebe und dann alle andern zur Kirche gehen könnten. Alle waren der Meinung, daß, wenn sie nur irgend etwas besäßen, sie es ihr von Herzen gern gäben. Sie sagte aber gleich, das sei nur ein Scherz gewesen, sie wolle ja von niemandem etwas haben, wolle aber gern für sie zu Hause bleiben, wenn sie das wünschten. Die Leute meinten jedoch, ihr Vater werde es ihr nicht erlauben. Sie bat nun ihren Vater, aber dem Vater war's durchaus nicht recht und er fand es wunderlich, daß sie zu Hause bleiben und nicht wie sonst mit ihnen gehen wollte. Er sagte, es ahne ihm, daß ihr irgendein



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Unglück bevorstehe, da sie so großes Verlangen danach habe, zu Hause zu bleiben. Da sie aber gewiß sagte, ihr werde nichts geschehen, gab er ihr endlich nach und sagte den Dienstleuten, sie könnten gehen, da Sigrid daheim bleiben wolle. Die Leute waren froh darüber.

Als nun der Heilige Abend herankam, machten sich die Leute voller Freude fertig. Das Wetter war schön, die Erde schneefrei und gefroren, aber kein Mondschein. Als die Leute fertig waren, sagte der Bauer, sie möchten Sigrid Lebewohl sagen, er selbst wolle sich zuletzt von ihr verabschieden und das Haus gut verwahren, ehe er fortginge.

Sie begleitete nun die andern hinaus, und dann trennten sie sich. Ihr Vater sagte noch, sie dürfe heute nacht ja niemand hereinlassen, wenn das etwa versucht werden sollte. Auch dürfe sie zu niemandem hinausgehen und solle sich nicht darum kümmern, falls etwa geklopft oder nach ihr gerufen würde. Dann trennten sie sich, und er sagte, es würde niemand hineinkommen, wenn das Haus gut verschlossen bliebe.

Die Leute gingen nun fort, das Mädchen aber ging wieder hinein und zog sich an. Dann zündete sie ein Licht an, nahm ein Buch und setzte sich in die Schlafkammer der Eltern, um zu lesen. Bis Mitternacht ereignete sich nichts Besonderes. Da pochte es plötzlich an die Tür, aber das Mädchen blieb ganz still. Es klopfte noch einmal und ein drittes Mal und diesmal so stark, daß das Haus eingestürzt wäre, wäre es nicht so fest gebaut gewesen. Das Mädchen aber blieb noch immer still. Kurz danach hörte sie, wie jemand am Haus hinaufging und oben entlang bis an das Fenster über ihr. Es rief am Fenster und begrüßte sie. Sie dankte und sah durch das Fenster. Obwohl es draußen dunkel war, bemerkte sie doch das Gesicht eines Mannes, so schön, wie sie noch nie eines gesehen hatte. Er bat sie hinauszukommen. Aber sie sagte, das könne sie nicht und dürfe es nicht. Er bat sie noch mehr und nur für eine kleine Weile, aber sie sagte, das sei ganz gleich, sie käme nicht hinaus, und er solle am Fenster ihr sagen, was er zu sagen habe. Er meinte, das könne er nicht, und sie müsse ihm auch einen Trunk reichen. Sie sagte, er solle den Schöpfeimer draußen an der Wand nehmen und damit aus dem Bach trinken, der am Gehöft vorbeifließe, einen andern Trunk bekäme er nicht. Er sagte, klares Wasser könne er nicht trinken, und sie antwortete, dann könne sie ihm nicht helfen. Er meinte nun, wenn es sich so verhielte, müsse er sie unverrichteter Sache verlassen, aber das müsse er ihr noch sagen, daß einst die Zeit kommen werde, wo es ihr im tiefsten Herzen so heiß werden würde wie jetzt ihm. Sie sagte: »Das wird



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geschehen, wie es mir bestimmt ist.« Dann ging er fort, und sonst geschah in dieser Nacht nichts weiter.

Am Morgen kamen die Leute heim, und gleich nach der Begrüßung fragte sie der Vater, ob sie nichts erlebt habe in der Nacht. Sie sagte nein; er aber sagte, es sei gar nicht nötig, daß sie es sage, er sähe es ihr sowieso an, und drang heftig in sie, bis sie ihm alles erzählte. Er fragte sie, ob sie dem Fremdling aufgeschlossen habe, was sie verneinte. Er sagte, das sei recht so gewesen. Aber sie meinte, das wüßte sie noch nicht und es würde sich wohl erst später zeigen, ob es ihr Glück bringen würde, daß sie ihm folgsam gewesen sei. Und dann wurde davon nicht weiter gesprochen.

Beim nächsten Weihnachtsfest handelte es sich wieder darum, wer daheim bleiben solle. Sigrid sagte, sie sei auch diesmal dazu bereit, und demgemäß wurde beschlossen. Am Heiligen Abend war das Wetter wieder schön und dazu Mondschein. Da aber wurde plötzlich die Mutter krank und wollte nicht reisen, und Sigrid sagte, es würden nun mehr Leute daheim bleiben, als vorauszusehen war, denn auch der Vater würde jetzt kaum mitgehen. Die Leute rüsteten zum Kirchgang und brachen auf, aber Sigrid blieb mit ihren Eltern zurück. Der Bauer verschloß selbst das Haus und fing dann an zu lesen. Nahe um Mitternacht, wie er aufgehört hatte, klopfte es stark an die Türe. Sigrid fragte den Vater, ob sie an die Tür gehen solle. Er verbot es, er wolle selber den Ankömmlingen entgegengehen, denn ihn wollten sie zuerst und allein sprechen. Damit ging er hinaus und blieb so lange, daß Mutter und Tochter ängstlich wurden. Schließlich fragte Sigrid, ob sie nicht einmal nach dem Vater sehen solle. Aber die Mutter wollte das nicht, falls die bösen Geister den Vater geholt hätten, so würde es nicht besser, wenn sie nun auch die Tochter holten. Nach einer Weile wollte Sigrid nun doch hinaus, aber da kam der Bauer sehr aufgeregt herein. Er hieß Sigrid, sich so schnell wie möglich fertig zu machen, denn jetzt sei der gekommen, für den er sie schon lange bestimmt habe. Sie war vor Schrecken fast sprachlos und konnte nur fragen, wer das sei und wohin sie denn solle. Der Vater sagte, das würde sie später erfahren, jetzt solle sie sich beeilen, denn der Mann wolle nicht warten. Die Mutter fragte, was das alles zu bedeuten habe, wem er sie denn überliefere, und sagte, das sei etwas sonderbar von ihm. Aber der Bauer sagte, sie sollten sich nicht darum kümmern. Dann zog sie sich an, und der Vater hieß sie Abschied nehmen von der Mutter. Das tat sie auch, aber man kann sich



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denken, in welcher Stimmung sie schieden. Die Mutter sagte, sie habe immer auf ein besseres Los ihrer Tochter gehofft, aber nun schiene das nicht mehr möglich zu sein. Dann brachte der Bauer seine Tochter hinaus. Draußen sah sie auf dem Platz vor dem Hause drei Männer stehen, Trollen ähnlicher als menschlichen Wesen. Einer war besonders groß und häßlich und sah so boshaft aus, daß es Sigrid schauderte. Vier Pferde standen da, darunter Sigrids Reitpferd, und das war gesattelt. Da kam der Häßlichste auf sie zu und hob sie in den Sattel. Dann verabschiedeten sich die Männer von dem Bauern auf sehr höfliche Weise, besonders der eine, und Sigrid sagte ihm auch Lebewohl.

Dann ritten sie davon, voran der Häßlichste, und den hielt sie für den Freier. Zuerst ritten sie den Fjord entlang, dann auf die Berge, und nun wußte sie nicht mehr, wohin es ging. Sie sprachen nicht mit ihr und auch nicht untereinander. Das Mädchen wurde müde und wankte im Sattel. So ritten sie weiter, dreimal zwölf Stunden, wie sie meinte, und gegen Abend kamen sie auf einen schmalen Weg. Hier stiegen sie ab. Jener eine kam auf sie zu, riß sie aus dem Sattel und hieß sie kurz, bergab zu Fuße zu gehen. Sie führten die Pferde am Zügel, sie selbst ging hinterdrein, aber der Weg war so schmal, daß sie sich am Bein ihres Pferdes festhalten mußte, das zuletzt ging. Unten kamen sie in ein tiefes Tal. Sie stiegen wieder auf, und der Mann setzte sie auf grobe Art in den Sattel, ohne mit ihr zu reden. Sie ritten das Tal entlang; Gras wuchs da, und das Tal war blutrot bis zu den Spitzen der Felsen. Ein Fluß lief hindurch; nirgends war ein Werk von Menschenhand. Aber bei froher Stimmung hätte sie das Tal gewiß lieblich und schön gefunden. Schweigend ritten sie weiter, bis sie eine große Herde von Pferden sahen, in allen Farben und Lebensaltern.

Jener eine rief sie an und fragte sie, ob sie nicht den zum Manne haben möchte, dem dies alles gehöre. Sie sagte: »Besser ist Freude als Reichtum!« Dann ritten sie weiter, bis sie eine Ochsenherde sahen, ebenso groß und mit Tieren verschiedenen Alters. Er fragte sie wieder, und sie antwortete wieder das gleiche.

Dann trafen sie auf eine ungeheuer große Schafherde; es schienen ihr mehr zu sein als sämtliche Schafe aus dem Inselfjord zusammengenommen. Wieder fragte er sie, und wieder antwortete sie das gleiche. Nach einer Weile sahen sie ein großes prächtiges Gehöft, gut und fest gebaut, wie es ihr schien. Sonst sah sie weiter keine Höfe. Sie kamen auf einen weiten umzäunten Grasplatz mit einem Tor, und ein eingehegter Weg



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führte hindurch zu den Häusern. Der Grasgarten war glatt und mit vielen schönen Kräutern bewachsen.

Sie ritten bis auf den Platz vor den Häusern. Dort stand eine kleine hübsche Kirche, die ihr kostbarer schien als alles andere. Sie stiegen ab; jener hob sie aus dem Sattel und fragte sie: »Was wünschest du dir jetzt?« — »In die Kirche zu gehen«, sagte sie. Er sprach: »Da mußt du mit mir gehen!«Erzog den Schlüssel hervor, schloß die Kirche auf und hieß sie hineingehen und solange darinnen verweilen, wie sie wolle, dann solle sie auf den Hofplatz zurückkommen. Sie ging hinein bis zu dem hintersten Platz, setzte sich dort nieder, betete und schlief ein, und da träumte ihr, wie eine blaugekleidete Frau aus dem Estrich des Chores zu ihr träte; die ging bis an die Chortür und sprach: »Da bist du also auch da, Sigrid, du Sonne des Inselfjords. Dein Vater hat dich nicht umsonst solange zurückbehalten. Dieser Mann hat schon zwei Frauen gehabt, ich bin die zweite, und er hat uns beiden den Tod bereitet. Das hängt aber so zusammen. Hier sind drei Brüder, die stehen alle unter einem Zauberbann. Am ersten Abend, als wir schlafen gehen wollten, legte er uns einige Fragen vor, und als wir sie nicht beantworten konnten, da durchbohrte er uns. Aber jetzt weiß ich, was wir hätten antworten müssen, und dir will ich es sagen, weil ich dir ein längeres Zusammenleben mit ihm wünsche, als uns vergönnt war.«

Sie sprach ihr nun die Fragen dreimal vor, ließ sie sie wiederholen und sich ganz genau einprägen. Sie müsse jede Frage beantworten, sobald er sie gestellt habe, und dürfe sich nicht fürchten, auch wenn es ihr scheine, seine häßlichste Gestalt angenommen zu haben. Es war ihr im Traum, als wiederhole sie dreimal die vorgesprochenen Worte. Dann wachte sie auf, und da schien ihr die Frau zu verschwinden. Die Worte wußte sie noch und sagte sie sich immer wieder leise vor. Dann ging sie hinaus auf den Hof. Ein schönes Mädchen stand in der Haustür, grüßte Sigrid und führte sie hinein. Sie sagte, sie sei die Schwester der drei Brüder, und unterhielt sie freundlich und heiter. Sie führte sie durch das ganze Haus von oben bis unten, und Sigrid war erstaunt über die Ordnung und Pracht überall. Es zeigte sich ein großer Reichtum in allen Dingen, aber außer den Brüdern und der Schwester war kein Mensch zu sehen.

Ein halber Monat verging; da sagte ihr die Schwester, nun sei der Hochzeitstag nahe, aber Sigrid war darüber wenig erfreut. Die Vorbereitungen wurden mit großer Pracht getroffen. Als der Tag herangekommen



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war, erschien ein Pfarrer mit einigen andern Leuten. Das Paar wurde zusammengegeben und ein Festmahl gehalten, und es fehlte an nichts, weder an Wein noch allem übrigen. Nach dem Festmahl machten sich die Gäste möglichst schnell von dannen; aber die Brüder waren derart betrunken, daß sie besinnungslos waren und sich wie die schlimmsten Trolle aufführten. Neben der Wohnstube war noch eine kleine Kammer, in dieser blieben sie in ihrem betrunkenen Zustande und durchschwärmten die ganze Nacht. Dann sagte die Schwester zu Sigrid, sie solle nun zu Bett gehen, und führte sie in ein kleines Seitengemach, das dem Brautpaar zur Schlafkammer bestimmt und sehr prächtig war. Darin waren sie nun beide mit sehr traurigem Sinn. Das Mädchen sagte zu Sigrid, sie solle sich niederlegen, er werde gleich kommen. Sigrid tat wie ihr geheißen. Kurz danach verließen die Brüder die kleine Kammer und gingen zu ihren Schlafstellen, der Bräutigam kam zu Sigrid hinein, setzte sich auf die Bettkante und sah sehr böse aus. Er legte ihr nun die Fragen vor, und zugleich schien er unten am Bettrande etwas zu suchen. Aber so wie er die Fragen stellte, hatte sie sie auch schon richtig beantwortet, wie sie von jener Frau belehrt worden war. Da stürzte er ohnmächtig zu Boden, und es war auf einmal der schönste Mann aus ihm geworden. Ebenso geschah es auch mit seinen Brüdern. Und nun kamen viele Leute herbei, um den Brüdern zu helfen. Sigrid aber sah die Heirat nun viel freundlicher an, denn der Mann kam ihr so schön vor wie jener, der damals in der Weihnachtsnacht an ihrem Fenster stand. Als er wieder zur Besinnung gekommen war, gingen sie schlafen, und die drei Brüder waren fortan freundliche und gute Menschen, und die Eheleute liebten sich sehr.

Am andern Morgen ging Sigrid ins Freie und schaute sich um. Da erblickte sie Gehöfte und Menschen zu beiden Seiten des Tales, und auch auf ihrem eigenen Gehöft waren viele Männer und Frauen. Nun war Sigrid wohlversorgt; sie hatte alles in Menge und durfte schalten und walten nach Herzenslust, denn ihr Mann war sehr gut zu ihr.

Nach einem Jahre bekamen sie eine Tochter, die auch wieder Sigrid hieß. Das Mädchen wurde ganz das Ebenbild der Mutter. Die Leute des Tales reisten jeden Sommer nach einem Handelsplatz alle zusammen und blieben immer drei Wochen fort. Einmal riet Sigrids Mann ihr, doch zum Vergnügen mitzureisen. Aber das wollte sie nicht wegen des Kindes, das sie kürzlich bekommen hatte. Nun reiste der Mann allein, und als er heimkam, brachte er seiner Frau einen Brief von ihrem



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Vater mit, der schrieb darin, daß die Mutter gestorben sei, und sie solle ihre Erbschaft aus dem Inselfjord holen. Als aber ihr Mann nächsten Sommer wieder hinreiste, schickte sie ihrem Vater einen Brief mit, er solle das Erbe unter die armen Leute des Inselfjords verteilen, denn sie sei reich genug.

Im dritten Sommer, als das kleine Mädchen drei Jahr alt war, mußte eines Tages Heu gebunden werden bei schönem Wetter draußen auf der Wiese. Alle waren draußen, nur Sigrid mit dem Kind war daheim. Da pochte es an die Tür. Sie ging hin mit dem Kinde und erblickte einen schönen Mann in vornehmer Kleidung mit einem schönen gesattelten Pferd. Er trat heran, grüßte und bat um einen Trunk. Sie grüßte freundlich wieder, ging hinein, holte Milch und gab sie ihm. Er trank und gab ihr das Gefäß zurück. Sie ging wieder hinein, um es nochmals zu füllen. Wie sie aber wieder herauskam, war er mitsamt dem Kinde spurlos verschwunden, das zum Spielen draußen geblieben war. Da erschrak sie und verwunderte sich, daß sie ihn auch in der Ferne nicht mehr sehen konnte und er so unglaublich schnell verschwunden war. Sie suchte überall und rief nach dem Kinde, aber das half ihr nichts. Da kam ein Knecht mit einem Zug heubeladener Pferde heim. Sie befahl ihm, schleunigst das Heu abzuladen, auf dem schnellsten Pferde zu ihrem Manne zu reiten und ihm zu sagen, ihr Leben hinge davon ab, daß sie ihn so bald wie möglich spreche. Das tat der Knecht. Der Bauer kam sogleich heim und erfuhr von Sigrid alles. Er war sehr betrübt, aber er beherrschte sich um seines Weibes willen. Er rief alle Leute vom Heu weg und die übrigen Talbewohner, um suchen zu helfen. Drei Tage suchten sie umsonst nach allen Richtungen. Sigrid wurde krank und legte sich und alle glaubten, daß sie sterben würde. Ihr Mann tröstete sie, so gut er konnte. Aber erst nach einem halben Jahr stand sie wieder auf, blieb aber immerfort traurig und blaß.

Nun verging die Zeit, und oft lud er sie ein, mit ihm an den Handelsplatz zu reisen, aber sie sagte immer, das mache ihr kein Vergnügen. Zwölf Jahre vergingen, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Einmal nun wieder im Sommer rüsteten sich die Brüder gerade zur Abreise, da sprach Sigrid davon, daß sie auch etwas Lust verspüre mitzureisen und daß dies etwas bedeuten müsse. Der Bauer ging freudig darauf ein, denn erhoffte, nun werde sie ihren Verlust überwinden. Sie bekam das allerbeste Pferd, und so brachen sie auf. Es wird nun von dieser Reise weiter nichts erzählt, als daß sie eines Abends ankamen



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und in der Nähe des Ortes abluden. Am andern Morgen lud der Mann Sigrid ein, mit ihm zu einem Kaufmannsladen zu gehen, weil es dort viel zu sehen gäbe. Es gäbe hier wohl viele Kaufleute, aber er handle immer nur mit dem einen. Auf dem Wege überraschte sie aber ein so heftiger Regenschauer, daß sie in ein Haus treten mußten. Darinnen saß ein Kaufmann und war gerade beim Schreiben. Sie begrüßten einander, und außer dem Kaufmann war niemand in der Stube. Er bat nun den Kaufmann, er möge seiner Frau erlauben, hier drinnen zu sitzen, bis das Wetter vorüber sei. Der Kaufmann hieß sie willkommen, stellte einen Stuhl an das andere Tischende und bat sie, sich zu setzen. Der Bergbewohner ging wieder hinaus, und Sigrid blieb zurück.

Der Kaufmann saß und schrieb. Er sprach nicht mit Sigrid, allein sie merkte doch, wie er sie von Zeit zu Zeit ansah. Es kam ihr so vor, als habe sie sein Gesicht schon irgendwann einmal gesehen. Endlich fing der Kaufmann an mit ihr zu sprechen und fragte sie, ob sie schon früher einmal in der Handelsstadt gewesen sei. Sie sagte nein. Er wunderte sich sehr darüber, daß sie ihren Mann niemals begleitet hätte, und sagte, ihr Mann sei ihm wohlbekannt. Da sagte sie, sie habe niemals Lust verspürt zu der Reise, die ihr sonst wohl erlaubt worden sei, außer jetzt zum erstenmal. Er meinte, es sei sehr gut, daß sie diesmal mitgekommen sei; dabei hörte er auf zu schreiben und fragte, ob sie denn kein Kind hätten, sie und ihr Mann. Sie verneinte das und wurde ganz blaß. Als er das sah, lächelte er und meinte, er glaube nicht, daß sie da die Wahrheit sage. Sie sagte, er möge glauben, was er wolle, ein Kind aber besäßen sie nicht. Er meinte, da sei er reicher als sie, denn er habe ein junges Mädchen, und das wolle er ihr zur Kurzweil jetzt zeigen.

Er stand auf, ging in eine Kammer hinter der Stube und kam alsbald mit einem Mädchen zurück, das, wie Sigrid meinte, so ungefähr fünfzehn bis sechzehn Jahre alt war. Sie grüßte es und sah, daß es schön und blühend und prächtig gekleidet war. Der Kaufmann sagte, dies sei das Mädchen, das er gemeint habe. Sigrid konnte sich nicht sattsehen an ihr und betrachtete sie genau. Der Kaufmann hatte sich wieder hingesetzt und sah, wie sie wiederum ganz blaß geworden war. Da fragte er Sigrid, ob sie nicht aus dem Inselfjord stamme. Das bejahte sie. Und ob sie nicht in Mödrufell gewohnt habe? Sie bejahte auch das, ihre Eltern hätten da gewohnt. Ob sie sich nicht erinnere, daß sie in einer Weihnacht allein zu Hause geblieben sei? Sie sagte, sie erinnere sich. Ob sie sich auch erinnere, daß ein Mann am Fenster mit ihr gesprochen



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habe? Sie sagte, auch daran erinnere sie sich. Ob sie noch wisse, was sie damals zusammen gesprochen hätten? Sie bejahte auch das. Ob sie nicht finde, daß es nun so gekommen sei, wie ihr jener Mann beim Abschied gesagt habe? Sie sagte, gewiß fände sie, daß es nun so gekommen sei. Da sagte der Kaufmann, jetzt könne er sich nicht länger vor ihr verstecken, und sprach: »Ich bin nämlich eben jener Mann, der mit dir gesprochen hat, und ich gestehe, daß ich dich entführt hätte, wenn du mir damals geöffnet hättest. Aber das mißglückte, und da wuchs in mir die Lust, Unheil zu stiften, und da habe ich das Verschwinden deiner Tochter bewerkstelligt. Das war vor zwölf Jahren, als sie drei Jahre alt war. Sie ist es, die ich hier bei mir habe, und ich habe sie wie meine eigene Tochter gehalten. Sie hat alle weiblichen Kunstfertigkeiten erlernt und ist so gut wie möglich unterrichtet worden. Aber ich habe das Mädchen deshalb zu mir genommen, weil ich ein Abbild von dir selber haben wollte, so sehr liebte ich dich. Nun habe ich dir alles gestanden und nun hängt es von dir oder von euch Eheleuten ab, ob mir mein Plan gelingt. Gewiß wirst du mit Recht zornig auf mich sein, trotzdem erbitte ich von euch das Mädchen zu meiner Frau.«

Sigrid sagte, sicherlich hätte sie ihre Tochter nicht so gut ausbilden lassen können, aber sie könne allein über die Heirat keine Entscheidung treffen. Der Kaufmann meinte, wegen ihres Mannes sei er keineswegs in Sorge, denn sie beide seien gute Bekannte. Da kam ein Knecht herein, und Sigrid befahl ihm, ihren Mann zu holen, sie habe mit ihm zu sprechen. Der kam alsbald, Sigrid erzählte ihm alles, und es herrschte nun große Freude. Der Kaufmann warb bei den Eltern um das Mädchen und sagte, dieses selber sei ihm wohlgeneigt. So kam es zur Verlobung, und der Kaufmann sagte, das Mädchen könne nun vorerst drei Jahre bei den Eltern verbringen. Er wolle sie nicht heiraten, bevor sie achtzehn Jahre alt sei. Aber das Mädchen wollte sich auch nicht einen Tag von dem Manne trennen, so sehr liebte sie ihn. Und die Eltern waren nun auch beruhigt, denn sie wußten sie ja nun gut aufgehoben. Nach drei Jahren reisten sie wieder in die Handelsstadt, und da feierte der Kaufmann seine Hochzeit mit großer Pracht. Sie wurden ein glückliches Paar und lebten lange und froh miteinander. Sigrid aber reiste jetzt jedes Jahr mit in die Handelsstadt, um da ihre Tochter zu besuchen. Auch sie lebte mit ihrem Manne bis in ihr hohes Alter in dem Tale. Und so schließen wir die Geschichte von Sigrid, der Sonne des Inselfjord.



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Das Mädchen von der Alm

Einmal wohnte in Nordland ein Pfarrer, der ein Mädchen zu sich genommen und aufgezogen hatte. Weit davon entfernt hoch oben in den Bergen lag die Almwirtschaft des Pfarrers, wohin er im Sommer gern sein Vieh nebst Hirt und Sennerin schickte. Als die Pflegetochter herangewachsen war, wurde sie die Sennerin und erledigte die Haushaltung dort so gut wie jede andere Arbeit, denn sie war eine vortreffliche Wirtin, klug, hübsch und gar behende. Es warben viele reiche Freier um sie, denn es gab nicht ihresgleichen in der ganzen Gegend. Sie aber wies alle ab. Zwar sprach der Pfarrer einmal darüber mit seiner Pflegetochter und riet ihr, sich zu verheiraten, denn er sei alt und könne nicht immer für sie sorgen. Sie aber hörte gar nicht darauf; ihr stünde der Sinn gar nicht nach solchen Dingen; sie sei zufrieden damit, wie es sei, und nicht jeder werde in der Ehe glücklich. Von da absprachen sie vorläufig nicht weiter darüber.

Als ein gut Teil des Winters vorbei war, war es so, als beginne die Sennerin dicker zu werden unter dem Gürtel, und die Leute sahen, daß dies mit der Zeit zunahm. Im Frühjahr stellte der Pflegevater sie zur Rede und bat sie, ihm die Wahrheit zu sagen, und wenn sie ein Kind erwarte, dann solle sie besser in diesem Sommer nicht auf die Alm gehen. Sie sagte, sie bekomme kein Kind und sei ganz munter, ihren Dienst auf der Alm könne sie in diesem Sommer genauso gut versehen wie früher auch. Der Pfarrer sah, daß er ihr nicht beikommen konnte, und ließ sie gewähren. Er sagte aber den Sennern, sie sollten sie nicht ein einziges Mal allein lassen, und das versprachen sie auch.

Sie zogen nun auf die Alm, und die Sennerin war sehr fröhlich. So verging eine Zeit, und nichts geschah. Die Leute behüteten das Mädchen und ließen es nie allein. Da geschah es, daß eines Abends dem Hirten alle Schafe und Kühe verlorengingen, so daß alle mitsuchen mußten und nur die Sennerin allein zurückblieb. Das Suchen war schwierig, denn es war dichter Nebel, und deshalb fand man die Herde erst gegen Morgen. Als sie heimkamen, war die Sennerin aufgestanden und sehr fröhlich, und die Leute merkten auch, daß ihre Dickigkeit jetzt wieder verschwunden war. Sie konnten nicht verstehen, wie das zugegangen war.

Als sie im Herbst wieder heimwärts zogen von der Alm, da sah auch der Pfarrer, daß das Mädchen wieder schlanker geworden war. Er frug



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nun die Senner, ob sie denn nicht seinen Befehl ausgeführt und das Mädchen etwa allein gelassen hätten. Da erzählten sie ihm, wie es gewesen war und daß sie sie nur ein einziges Mal allein gelassen hätten, weil alles Milchvieh abhanden gekommen sei. Da war der Pfarrer sehr zornig und verwünschte sie und sagte, das habe er schon gewußt, als das Mädchen im Frühjahr auf die Alm zog.

Im Winter darauf hielt ein Mann um das Mädchen an, sie wies ihn jedoch ab. Der Pfarrer aber sagte ihr, das dürfe nicht sein, sie solle ihn heiraten, er sei ein guter Mann und aus gutem Hause. Er hatte im Frühjahr nach des Vaters Tod die Wirtschaft übernommen, und seine Mutter lebte mit ihm auf dem Hofe. Die Heirat kam also zustande, ob es der Sennerin nun lieb war oder leid. Im Frühjahr war die Hochzeit beim Pfarrer. Ehe aber das Mädchen sein Brautkleid anzog, sagte es zu seinem Bräutigam: »Das verlange ich, da du mich ohne meinen Willen zur Frau bekommst, daß du nie einen Wintergast beherbergst, ohne mich zu fragen; du würdest es bereuen.« Der Bauer versprach ihr das. Das Festmahl war vorüber, und sie zog mit ihrem Mann auf seinen Hof und versah das Hauswesen. Aber sie tat alles ohne rechten Frohsinn, sie war nicht glücklich, obwohl ihr Mann alles tat, was er ihr Liebes tun konnte, und kaum zuließ, daß sie auch nur eine Hand in kaltes Wasser tauchte. Jeden Sommer bei der Heuernte blieb sie mit ihrer Schwiegermutter daheim und diese half ihr kochen. Sie strickten und fingen an zu spinnen, und die Schwiegermutter erzählte ihr allerhand Geschichten.

Einmal nun, als die Alte wieder erzählt hatte, bat sie auch ihre Schwiegertochter um eine Geschichte. Sie sagte, sie wisse keine, und als die Alte sie so sehr darum bat, versprach sie, ihr die einzige Geschichte erzählen zu wollen, die sie wisse, und sie begann: »Auf einem Hofe war eine Sennerin. Nicht weit von der Sennhütte waren große Felsen, an denen sie oft vorüberging, und da drinnen wohnte ein Huldrenmann. Er war fein und schön, und sie lernten sich kennen und hatten sich inniglich lieb. Er war so gut, daß er dem Mädchen alles Liebe tat, was er nur konnte. So ging es eine Zeitlang, und schließlich fing sie an elend zu werden, so daß der Hausherr sie zur Rede stellte, als sie wieder zur Sennhütte hinauf wollte. Sie aber wehrte sich gegen jeden Verdacht und zog wieder auf die Alm. Der Hausherr befahl aber den Sennen, das Mädchen gut zu behüten und sie nie allein zu lassen, und sie versprachen es auch. Aber sie gingen doch einmal alle fort, um die Herde zu



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suchen, und da wurde sie von einem Knäblein entbunden. Jener Huldrenmann, der sie liebte, kam zu ihr, stand ihr bei, badete das Kindlein und wickelte es. Aber bevor er mit dem Kindlein von dannen ging, gab er ihr etwas zu trinken aus einem Glase, und das war das Süßeste, was ich jemals« . . . und in diesem Augenblick verlor sie ihren Knäuel zum Stricken, sie bückte sich und hob ihn auf - >was sie jemals gekostet hatte<, wollte ich sagen, und wurde von Stund an wieder frisch und gesund. Seither sahen sie sich nie wieder. Sie mußte einen andern Mann heiraten, sehnte sich aber nach ihrem Geliebten, so daß sie nie mehr froh sein konnte. Und so schließt die Geschichte.« Die Schwiegermutter dankte ihr und behielt die Geschichte in ihrem Herzen.

So verstrich eine Zeit, ohne daß etwas geschah, die Frau war wie immer bekümmert, war aber immer gut zu ihrem Mann. Da, als die Heuernte fast vorbei war, kamen zwei Männer zum Bauer, ein größerer und ein Knabe. Beide trugen tief herabhängende Hüte, so daß man ihre Gesichter kaum erkennen konnte. Der größere bat den Bauer um Winterherberge, der aber sagte, er nehme niemand, ohne seine Frau zu fragen, und wolle erst mit ihr darüber sprechen. Der größere sagte, das sei unwürdig, wenn ein Häuptling wie er sich so von seiner Frau beherrschen lasse, daß er sie nicht einmal ohne ihr Wissen einen Winter lang beköstigen dürfe. Da machten sie denn aus, daß er ihnen Herberge gebe, ohne sie gefragt zu haben. Abends kamen die Fremden ins Haus, er gab ihnen ein Zimmer vorn im Hause und bat sie dazubleiben. Dann ging er zu seiner Frau und erzählte ihr davon. Sie war böse und sagte, es sei wohl ihre erste und zugleich letzte Bitte gewesen. Da er allein die Männer aufgenommen habe, möge er sehen, was daraus werde. Nun ging alles wie immer, bis die Hausfrau im Herbst mit ihrem Mann zum Abendmahl gehen wollte.

Damals war es Sitte, wie noch heute ab und zu auf Island, daß die, die das Abendmahl nehmen wollten, zu jedem im Hause gingen, ihn küßten und ihm Abbitte leisteten für etwaige Kränkungen.

Bis jetzt hatte die Hausfrau sich nie vor den Wintergästen sehen lassen, und so nahm sie auch keinen Abschied von ihnen. Der Bauer und seine Frau machten sich auf den Weg, und als sie eben aus dem Grasgarten heraus waren, da sagte der Bauer: »Du hast doch den Wintergästen auch Lebewohl gesagt?« Und als sie das verneinte, bat er sie, doch so etwas Gottloses nicht zu tun, davonzugehen ohne Lebewohl zu sagen. »Du scheinst mich wenig zu achten, wie du in allem zeigst, da du erst



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die Leute ohne meinen Willen aufnahmst und nun mich noch zwingst, sie zu küssen. Aber ich will dir gehorchen, du wirst es zu büßen haben, denn es geht um mein Leben und sicher auch um das deine.« Sie ging zurück, und als sie allzu lange drinnen blieb, ging der Bauer auch dorthin, wo er die Wintergäste vermutete, und dort fand er sie auch. Er sah den größeren der beiden Männer mit seiner Frau in zärtlichster Umarmung tot daliegen. Vor Gram war ihnen das Herz gebrochen. Der andere aber stand weinend über sie gebeugt. Als der Bauer hereinkam, verschwand er alsbald, und niemand wußte, was aus ihm geworden war. Es wußten aber nun alle aus der Geschichte, die die Hausfrau ihrer Schwiegermutter erzählt hatte, daß jener Größere der Huldrenmann gewesen war, der die Hausfrau auf der Alm kennengelernt hatte, und der Kleinere, Entschwundene ihr Sohn.


Die drei Schwestern

Es lebten einmal ein Bauer und seine Frau in ihrer Hütte, und sie hatten drei Töchter. Die ältere hieß Signy, die zweite Vigny und die jüngste hieß Helga. Diese wurde ihren Schwestern sehr nachgesetzt und mußte darum immer in der Asche liegen. Einmal ging in der Hütte das Feuer aus. Da ward Signy fortgeschickt, um Feuer zu holen. Sie kam an einer Frau vorbei, die Brot buk, und sagte:

»Es backe die Frau ihr Brot,
Sie backe es schlecht.
Und jedes andre Werk soll ihr noch schlechter gelingen,
Aber ich will Feuer haben.«


***
Da antwortet die Frau am Backofen:
»So werde dein eines Auge
So groß wie mein größtes Brot.
Und geh du nur weiter!«


***
Signy ging weiter und kam nun zu einer Frau, die ein Gewebe webte, und Signy sagte:


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»Es webe die Frau ihr Tuch,
Aber sie webe es schlecht.
Und jedes andre Werk soll ihr noch schlechter gelingen,
Aber ich will Feuer haben.«


***
Darauf sagte die Frau am Webstuhl:
»Niemals sollst du Feuer bekommen.
Aber es werde die Nase an dir
So groß wie mein Webeschiff.
Und geh du nur weiter!«


***
Signy ging weiter, und sie kam nun zu einer Frau, die einen Saum säumte, und Signy sprach:
»Es säume die Frau den Saum,
Aber sie säume ihn schlecht.
Und jedes andre Werk soll ihr noch schlechter gelingen,
Aber ich will Feuer haben.«


***
Darauf antwortete die Frau:
»Niemals sollst du Feuer bekommen.
Aber es werde dein anderes Auge
So klein wie mein kleinstes Nadelöhr.
Und fahr du nun heim!«


***
So kam Signy unverrichteter Dinge nach Hause und brachte kein Feuer mit, und die Eltern waren entsetzt über ihre Häßlichkeit. Sie schickten nun die zweite Tochter Vigny aus, um Feuer zu holen. Aber ihr erging es nicht besser, und es verlief alles genauso wie das erstemal. Schließlich machte sich Helga auf den Weg, und wie sie zu der Frau kam, die Brot buk, da sagte sie freundlich:
»Es backe die Frau ihr Brot
Und sie backe es gut.
Und jedes andre Werk soll ihr noch besser gelingen,
Aber ich will Feuer haben.«


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***
Da sagte die Frau am Backofen:
»Gerne sollst du es haben,
Aber geh nur weiter.«


***
Da ging Helga weiter und kam zu einer Frau, die ein Gewebe webte, und Helga sagte zu ihr:
»Es webe die Frau ihr Tuch
Und sie webe es gut.
Und jedes andre Werk soll ihr noch besser gelingen,
Aber ich will Feuer haben.«


***
Da sagte die Frau am Webstuhl:
»Gerne sollst du es haben,
Aber geh du nur weiter.«


***
Da ging Helga weiter und kam zu einer Frau, die einen Saum säumte, und Helga sprach:
»Es säume die Frau den Saum,
Und sie säume ihn gut.
Und jedes andre Werk soll ihr noch besser gelingen,
Aber ich will Feuer haben.«


***
Da gab ihr die Frau das Feuer und zugleich auch einen Kasten. Den sollte sie daheim sorgfältig verstecken und erst am Hochzeitstage aufmachen. Und die Frau sagte ferner, daß Helga sie und die beiden andern Frauen, die ihre Schwestern seien, durch ihre Freundlichkeit von einem schweren Fluche erlöst habe. Und zum Lohne würde ihr Bruder, der ein mächtiger König sei, dereinst kommen und sie heiraten.

Nun ging Helga mit dem Feuer heim, aber sie ward daheim noch schlechter als sonst behandelt. Es ging nun ein Jahr dahin, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet hätte. Da kam eines Tages ein wunderschöner König zu der Hütte des Bauern und fragte den Alten nach seinen Töchtern. Der Mann führte die beiden ältesten Mädchen, Signy und Vigny, zu dem König in die Stube. Aber der König war über ihre



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Häßlichkeit so entsetzt, daß er sie zum Zimmer hinauswies. Dann fragte er nach der jüngsten Tochter, und wie sehr auch der Bauer sich sträubte, er mußte sie hereinrufen. Helga aber hatte den Kasten geöffnet und herrliche Kleider darin gefunden und kam nun in fürstlichem Gewande herein. Da setzte der König sie auf sein Knie und erklärte sie für seine Braut.


Sigurd und das Gespenst

Einst lebte ein Bauer auf einem Hofe; er hatte einen Sohn, welcher Sigurd hieß. Die Leute hielten ihn alle für einen wunderlichen Gesellen, und er war wenig beliebt. Es war auch wirklich nicht gut mit ihm auszukommen.

Nun kam einmal ein Mann zu diesem Gehöft, der auch Sigurd hieß. Er bat den Bauern um Winterquartier, und dies wurde ihm auch bewilligt. Er verstand weiter nichts als die Harfe zu spielen. Aber zwischen den beiden Namensvettern entstand eine so innige Freundschaft, daß es dem Bauernsohn bald nirgend mehr gefiel außer bei dem Fremden.

Der Winter verging, und zum Frühjahr zog der Wintergast wieder von dannen. Als er fort war, grämte sich der Bauernsohn so, daß es ihn nirgends mehr litt, und im Herbst zog er fort, um den Wintergast Sigurd zu suchen. Er zog von Hof zu Hof, von Kirchspiel zu Kirchspiel und von Bezirk zu Bezirk und erkundigte sich überall nach seinem Namensvetter Sigurd. Schließlich kam er zu einem Pfarrhof und fragte dort gleichfalls nach ihm. Es wußte niemand etwas von ihm, aber das erfuhr er doch, daß neulich ein Mann mit Namen Sigurd dagewesen sei. Der sei aber vor kurzem gestorben. Sigurd fragte, wo er liege. Da sagten sie, er liege draußen in der Kirche und sei soeben erst in den Sarg gelegt. Er bat, daß man ihn dorthin lassen möge, und nachdem ihm das auch erlaubt worden war, blieb er die ganze Nacht hindurch an dem Sarge sitzen. In der Nacht stieg Sigurd aus dem Sarge, ging hinaus und blieb lange fort. Aber der Bauernsohn Sigurd blieb unterdessen am Sarge sitzen.

Nun hatte es sich aber so getroffen, daß die Frau des Pfarrers soeben ein Kind geboren hatte. Gegen Morgen kam das Gespenst Sigurd zurück und wollte wieder in den Sarg. Der Bauernsohn aber sagte, das dürfe er nicht, wenn er ihm nicht vorher erzähle, was er so lange getrieben habe. »Ich habe nur mit meinem Gelde gespielt«, sagte das



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Gespenst, »und jetzt will ich wieder in meinen Sarg.« — »Nicht eher, als bis du mir sagst, wo das Geld liegt«, erwiderte Sigurd. »Das wirst du nicht erfahren!« sagte das Gespenst. »Dann kommst du auch nicht in den Sarg«, erwiderte Sigurd. Da sagte das Gespenst, daß das Geld unter einer Ecke der Badestube liege. »Wieviel ist es denn?« fragte Sigurd. »Eine Vierteltonnc«, sagte das Gespenst. »Hast du denn weiter nichts gemacht in der Nacht?« fragte Sigurd. »Nein«, sagte das Gespenst. »Du hast sicher noch mehr angestellt«, sagte Sigurd, »und ich lasse dich nicht eher in deinen Sarg, bis du es mir gesagt hast.« — »Ich habe die Pfarrersfrau getötet«, sagte das Gespenst. »Warum hast du das getan?«fragte Sigurd. »Ich wollte ihre Zuneigung gewinnen, als sie noch lebte«, erwiderte das Gespenst, »aber sie hat mich abgewiesen.« — »Wie hast du sie denn umgebracht?«fragte Sigurd. »Ich habe alles Leben aus ihr heraus in ihren kleinen Finger hineingestrichen«, sagte das Gespenst. »Kann man sie nun nicht wieder lebendig machen?« fragte Sigurd. »Ja«, sagte das Gespenst, »wenn man den Faden, den ich ihr um den kleinen Finger gebunden habe, so vorsichtig löst, daß kein Tropfen Blut fließt. Nun aber will ich endlich in meinen Sarg!« —»Nicht eher, als bis du mir versprichst, nie wieder aus deinem Sarge herauszukommen«, sagte Sigurd. Und schließlich versprach das Gespenst auch, nie wieder aus dem Sarge herauskommen zu wollen. Da ließ Sigurd es hinein in den Sarg, und dieser schloß sich nun wieder.

Am Morgen ging Sigurd in den Pfarrhof, und da waren die Leute alle in großer Trauer. Sigurd fragte, was denn geschehen sei, und da erzählten sie ihm, die Pfarrersfrau sei in der Nacht gestorben. Er bat um die Erlaubnis, sie sehen zu dürfen, und man führte ihn auch dorthin, wo sie lag. Er löste nun den Faden von ihrem kleinen Finger und strich ihren ganzen Leib, und davon begann sie allmählich wieder aufzuleben. Dann erzählte er dem Pfarrer seine ganze Unterhandlung mit dem Gespenst und zeigte ihm auch das Geld zum Beweise der Wahrheit. Dadurch kam er nun bei dem Pfarrer in große Gunst, und der Pfarrer nahm ihn in seinen Dienst. Es wird auch erzählt, daß der Pfarrer einen sehr tüchtigen Mann aus ihm gemacht haben soll und Sigurd habe sich seitdem immer sehr gut gehalten.



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Von dem Burschen, der sich vor nichts fürchtet

Es war einmal ein sehr kecker Bursche, dem vor nichts bange war. Alle, die ihm nahestanden, die Eltern und sonstige Verwandte, waren darüber sehr bekümmert, denn was sie auch mit ihm anstellten, Bangemachen galt bei ihm nicht. Schließlich gaben sie es auf und brachten ihn beim Pfarrer des Kirchspiels unter, weil sie den für besonders geeignet hielten, etwas aus ihm zu machen und ihm Furcht beizubringen.

Aber wie der Bursche nun zum Pfarrer kam, da zeigte sich bald, daß ihm auch hier keine Furcht beizubringen war, der Pfarrer mochte es anstellen, wie er wollte. Trotz und Frechheit legte er übrigens dem Pfarrer gegenüber ebensowenig an den Tag wie denjenigen, bei denen er früher gewesen war. So verging nun die Zeit, und der Pfarrer bemühte sich immer vergeblich, ihm bangezumachen.

Einmal im Winter waren drei Leichen, die begraben werden sollten, in die Kirche gebracht worden. Weil sie so spät am Abend gekommen waren, hatte man sie in die Kirche gestellt, und die Beerdigung sollte am andern Tage sein. Damals war es aber noch Sitte hierzulande, die Leichen ohne Sarg zu begraben, und so waren auch diese Leichen nur in Totenlaken gehüllt. Als die Leichen in die Kirche gebracht worden waren, ließ der Pfarrer sie vorn in der Kirche quer über den Gang zwischen den Kirchenstühlen niederlegen, eine neben der andern mit kleinen Zwischenräumen. Wie man nun abends im Pfarrhof beisammensaß, sagte der Pfarrer zu dem Burschen: »Lauf einmal schnell in die Kirche hinüber, mein Sohn, und hol mir das Buch, das auf dem Altar liegt!«

Der Bursche war nicht ungefällig, wenn er auch keck war, und gehorchte sogleich. Er ging nach der Kirche, schloß sie auf und wollte auf dem Gange entlanggehen. Nach ein paar Schritten fiel er lang über etwas hin, an das er mit dem Fuße gestoßen war. Er erschrak keineswegs, tastete um sich herum und merkte, daß er über eine der Leichen gefallen war. Er nahm sie und schmiß sie zwischen die Kirchenstühle auf der einen Seite. Dann ging er weiter und stolperte über die zweite Leiche. Mit ihr verfuhr er nicht anders als mit der ersten, ging weiter und fiel über die dritte, auch die schmiß er vom Gange weg zwischen die Bänke. Dann ging er bis zum Altar, nahm das Buch, verschloß die Kirche wieder und brachte das Buch dem Pfarrer. Der nahm es und fragte ihn, ob er nichts Besonderes bemerkt habe. Der Bursche sagte nein, und man sah ihm auch nichts weiter an. Der Pfarrer fragte: »Hast du denn nicht



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die Leichen in der Kirche bemerkt, die in dem Gange lagen? Ich vergaß es dir zu sagen.« Der Bursche sagte: »Ja so die Leichen, die habe ich wohl bemerkt; ich wußte nur nicht gleich, was Ihr meintet, Herr Pfarrer.« — »Nun und wie hast du sie denn bemerkt?«fragte der Pfarrer, »lagen sie dir nicht im Weg?« —»Ach, das war weiter nichts!«sagte der Bursche. »Wie kamst du denn nun darüber hinweg und durch die Kirche hindurch?« —»Ich habe sie aus dem Gang weg zwischen die Stühle geschmissen, und da liegen sie jetzt.« Da schüttelte der Pfarrer den Kopf und wollte weiter nichts von der Sache wissen. Aber am Morgen, als man aufgestanden war, sagte er zu dem Burschen: »Du mußt nun fort von hier; ich will dich nicht länger in meinem Hause haben, da du so gottlos bist, daß du dich nicht scheust, die Ruhe der Toten zu stören.« Der Bursche hatte nichts dagegen und verabschiedete sich sehr höflich von dem Pfarrer und seinen Leuten.

Nun wanderte er eine Zeitlang umher und wußte nicht, wo er bleiben solle. Auf einem Hof aber, auf dem er einmal über Nacht blieb, erfuhr er, daß der Bischof von Skalholt gestorben wäre. Da machte er einen kleinen Abstecher nach Skalholt. Er kam gegen Abend an und bat um Nachtquartier. Man sagte, das solle er haben, aber für seine Sicherheit müsse er selber sorgen. Er fragte, was denn da Schlimmes los sei. Die Leute sagten ihm, seit dem Tode des Bischofs sei es hier nicht mehr geheuer; sobald es dunkel würde, könne es niemand mehr aushalten vor Spuk, und deshalb müßten jetzt jede Nacht alle Leute den Hof verlassen. »Um so lieber bleibe ich hier«, sagte der Bursche. Die Leute baten ihn, doch nicht dergleichen zu reden; es sei wahrhaftig kein Spaß, hierzubleiben. Als es dunkel wurde, verließen die Leute den Hof; sie verabschiedeten sich schweren Herzens von dem Burschen, denn sie glaubten ihn nicht mehr wiederzusehen.

Der Bursche blieb allein zurück und war sehr vergnügt. Als es finster war, zündete er Licht an und sah sich im ganzen Hause um. Zuletzt kam er in die Küche. Es war eine reiche Wirtschaft, fette Schafsrümpfe hingen da aneinandergereiht, und auch sonst war alles im Überfluß vorhanden. Der Bursche hatte lange kein Dörrfleisch mehr gegessen und bekam Lust dazu, weil es hier in solcher Menge vorhanden war. Schlafen wollte er lieber nicht, um den Spuk ja nicht etwa zu versäumen. Daher zerkleinerte er Holz, machte sich Feuer, setzte einen Topf mit Wasser auf und zerschnitt einen Schafsrumpf hinein. Bis dahin hatte er von Spuk nichts bemerkt. Als aber alles im Topfe war, hörte er, wie



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oben im Schornstein mit dumpfer Stimme gesagt wurde: »Darf ich fallen?« —»Warum sollst du nicht fallen dürfen?«erwiderte er. Da fiel der obere Teil eines Mannes durch den Schornstein, ein Kopf mit Schultern und Armen und Händen daran, und dieses Stück blieb eine Weile ohne sich zu bewegen auf dem Fußboden liegen. Da hörte der Bursche, wie oben im Schornstein wiederum gefragt wurde: »Darf ich fallen?« Und wiederum sagte er: »Warum solltest du nicht fallen dürfen?« Da fiel aus dem Schornstein der mittlere Teil eines Mannes bis zu den Schenkeln herab, fiel neben das erste Stück und blieb regungslos liegen. Da hörte der Bursche noch einmal, wie oben im Schornstein gefragt wurde: »Darf ich fallen?« Er antwortete auch diesmal: »Warum solltest du nicht fallen dürfen? Du mußt doch etwas haben, worauf du stehen kannst!«Da kamen die Beine eines Mannes herab; die waren ungeheuer groß, wie auch die andern Teile, die zuerst heruntergefallen waren. Als nun alles unten war, lagen die Stücke eine Weile ruhig da. Aber dem Burschen wurde das zu langweilig, er trat an sie heran und sprach: »Da du nun ganz und gar beisammen bist, wär's am besten, wenn du ein wenig herumkrauchtest.« Da setzten sich die Stücke zusammen, und es wurde ein fürchterlich großer Mann daraus. Er sprach kein Wort mit dem Burschen und ging aus der Küche heraus ins Vorderhaus.

Der Bursche ging dem großen Mann auf Schritt und Tritt nach. Er ging in ein großes Zimmer vorn im Haus und an eine große Kiste. Die schloß er auf, und der Bursche sah, daß sie voller Geld war. Nun nahm der große Mann aus der Kiste eine Handvoll Geld nach der andern und warf sie rückwärts über seinen Kopf, daß sie zu Boden fielen. So trieb er es die ganze Nacht hindurch, bis die Kiste leer war. Dann griff er in den Haufen, der nun hinter ihm lag, und warf ihn wieder über seinen Kopf weg in die Kiste hinein. Der Bursche stand während des ganzen Spieles dabei und sah, wie die Goldstücke auf dem Estrich umherrollten. Das Gespenst arbeitete nun mächtig, das Geld wieder in die Kiste zu werfen, und kehrte mit den Händen die beiseite gerollten Münzen eifrig zusammen. Da verstand der Bursche, daß es glaubte, der Morgen sei nicht mehr fern und daß es sich deshalb so sputete. Als nun alles Geld wieder in der Kiste war, wollte das Gespenst sich eiligst entfernen. Der Bursche sagte, dazu sei doch kein Grund. »Wohl«, sagte das Gespenst, denn der Tag sei nun nah. Es wollte an dem Burschen vorbei, der aber hielt es fest und wollte es hindern. Da ward das Gespenst böse, packte den Burschen und sagte, das solle ihm übel bekommen, daß er



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ihm das Hinausgehen verwehren wolle. Der Bursche merkte bald, daß er schwächer war als das Gespenst, deshalb begnügte er sich damit, vor den allzu schweren Hieben auszuweichen und womöglich nicht hinzufallen, und so ging es eine Weile fort. Die Zimmertür stand dabei offen, und einmal, als das Gespenst ihr den Rücken zuwandte, wollte es den Burschen an seine Brust emporheben, um ihn dann heftiger niederzuwerfen. Der Bursche merkte, was vorgehen sollte, und daß dies sein Tod sein würde. Da wandte er eine List an und warf sich selber dem Gespenst so heftig entgegen, daß es rücklings niederstürzte und die Schwelle ihm mitten unter den Rücken geriet und der Bursche obenauf lag. Und in dem Augenblick, als das Gespenst mit dem Kopf zur Türe hinausflog, schien ihm das Tageslicht in die Augen. Da sank es in zwei Teilen rechts und links von der Schwelle in die Erde hinab und verschwand. Der Bursche war wohl ein wenig steif und zerschlagen von den harten Griffen, machte aber doch sogleich zwei Kreuze aus Holz und steckte sie dort in den Boden, wo die beiden Teile verschwunden waren, eins innerhalb, eins außerhalb der Zimmertür. Dann legte er sich hin und schlief, bis die Bischofsleute am Morgen heimkehrten und es hellichter Tag war.

Als sie ihn lebendig wiedersahen, begrüßten sie ihn freudiger als beim Abschied am Abend vorher und fragten ihn, ob er denn keinen Spuk in der Nacht bemerkt habe. Er sagte, er hätte keinen bemerkt, aber was er auch sagte, so wollten sie es ihm doch nicht glauben.

Er blieb nun diesen Tag ruhig auf dem Hofe, denn erstens war er noch müde von dem Kampf mit dem Gespenst, und zweitens wollten ihn die Leute nicht fortlassen, weil sie sich an ihm ermutigten. Als sie am Abend wieder fortgehen wollten, versuchte er auf jede Weise, ihnen das auszureden, und versicherte, daß der Spuk ihnen keinen Schaden bringen würde. Aber es half nichts, sie machten sich davon, waren aber wenigstens nicht mehr so sehr in Sorge um ihn. Er selber schlief die Nacht durch ungestört bis zum Morgen. Als die Leute zurückkamen, fragten sie ihn wieder nach dem Spuk, er aber sagte, er habe nichts davon gemerkt und sie hätten in Zukunft auch nichts mehr zu befürchten. Dann erzählte er ihnen die ganze Geschichte, zeigte ihnen die Kreuze im Fußboden und die Kiste mit Gold. Sie dankten dem Burschen höflich für seine Tapferkeit, und baten ihn, sich zu wünschen, was er wolle, Geld oder Gut, und stellten ihm frei, auf Skalholt zu bleiben, solange er wolle. Er dankte ihnen, sagte aber, daß er weder das eine noch das



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andere wolle und nur noch bis morgen bleibe. In dieser Nacht schliefen alle Leute wieder auf dem Hof und merkten nichts mehr von Spuk. Morgens machte sich der Bursche zum Aufbruch fertig, wie sehr ihn die Leute auch halten wollten. Er sagte, er sei hier nun überflüssig, verließ Skalholt und wandte sich nördlich auf die Sommerweideplätze zu.

Es ereignete sich nun eine Zeitlang nichts Besonderes, bis er eines Tages an eine Höhle kam. Er ging hinein und sah keinen Menschen, aber in einer Seitenhöhle standen zwölf Betten, immer sechs in einer Reihe sich gegenüber. Die Betten waren noch nicht gemacht, und da es noch nicht ganz Abend war und die Höhlenbewohner noch nicht sogleich zu erwarten waren, ging er daran, alle Betten zu machen. Dann legte er sich selbst in das äußerste Bett der einen Seite, deckte sich gut zu und schlief ein. Nach einer Weile wurde er durch lautes Umhergehen in der Höhle geweckt und hörte, daß viele Männer gekommen waren, die sich darüber verwunderten, wer wohl gekommen sei und ihnen den Dienst erwiesen habe, ihre Betten zu machen. Dafür verdiene er ihren Dank, wie sie sagten. Nach dem Essen, schien es ihm, gingen sie alle zu Bett. Als aber der, dem das äußerste Bett der einen Reihe gehörte, die Decke zurückschlug, erblickte er den Burschen. Nun dankten sie ihm für seinen Dienst und baten ihn, immer zu ihrer Hilfe dazubleiben. Sie selbst müßten früh bei Sonnenaufgang täglich die Höhle verlassen, sonst kämen ihre Feinde, um sie dort zu bekämpfen, und deshalb hätten sie gar keine Zeit für ihre eigene Wirtschaft.

Der Bursche ging darauf ein, fürs erste bei ihnen zu bleiben. Dann fragte er sie, wie es denn käme, daß sie Tag für Tag einen so schweren Kampf kämpfen müßten, der niemals ein Ende nähme. Die Höhlenbewohner sagten, jene Männer seien ihre Feinde, und sie hätten schon früher manch schlimmen Streit mit ihnen gehabt. Sie selber seien immer die Sieger gewesen, und auch jetzt noch würden jene Abend für Abend von ihnen besiegt und getötet. Aber nun verhalte es sich so, daß des Morgens die Feinde immer wieder von neuem lebendig und noch wilder und böser seien denn je zuvor, und sicherlich würden die Feinde sie hier in ihrer eigenen Höhle überfallen, wenn sie nicht bei Sonnenaufgang schon bereit auf dem Kampfplatz stünden. Dann legten sie sich nieder und schliefen bis zum nächsten Morgen.

Als die Sonne aufging, zogen die Höhlenmänner schwer bewaffnet von dannen, baten aber zuvor den Burschen, sich um die Höhle und um die Wirtschaft zu kümmern, was er ihnen gern versprach. Aber am Tage



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ging der Bursche in einen Nußwald, der in der Richtung lag, wo er sie hatte am Morgen verschwinden sehen, denn er wollte erfahren, wo jener Kampf sich abspiele. Als er das Kampffeld ermittelt hatte, eilte er wieder in die Höhle zurück. Dann machte er die Betten , fegte die ganze Höhle und tat alles, was sonst noch zu besorgen war. Am Abend kamen die Höhlenbewohner matt und müde heim und waren froh, daß der Bursche alles so gut besorgt hatte, so daß sie selbst nur zu essen und danach sich schlafen zu legen brauchten. Sie schliefen auch alle sogleich ein außer dem Burschen. Der lag wach und überlegte, wie es zugehen könne, daß die Feinde der Höhlenmänner nachts wieder lebendig würden. Und wie er nun merkte, daß sie alle schliefen, stand er auf, nahm unter ihren Waffen die, die ihm am besten gefielen, und nahm sie mit. Dann machte er sich auf den Weg nach dem Kampfplatz und erreichte ihn kurz nach Mitternacht. Hier war nichts zu sehen außer den Leibern der Gefallenen und ihren abgeschlagenen Köpfen.

Er wartete nun dort eine Weile. Da sah er bei Tagesgrauen, wie ein Hügel nicht weit von dem Kampfplatz sich auftat und daraus eine Frau hervorkam, die hatte einen blauen Mantel an und trug in der Hand eine Büchse. Er sah sie geradeswegs nach dem Kampfplatz gehen, bis sie zu einem der Gefallenen kam. Da strich sie mit der Hand etwas aus der Büchse auf das Halsende am Rumpfe des Toten und auf das Halsende am Kopfe und setzte dann den Kopf auf den Leib. Da saß er sofort fest, und der Tote war wieder lebendig. So machte sie es noch mit zwei oder drei andern, die auch sofort wieder lebendig wurden. Da sprang der Bursche auf die Frau zu und gab ihr den Todesstreich, denn nun verstand er, wieso die Feinde der Höhlenmänner immer wieder lebendig wurden. Dann erschlug er diejenigen, die die Frau soeben wieder lebendig gemacht hatte. Danach versuchte er es selbst, ob es ihm gelingen würde, die Gefallenen genauso wieder lebendig zu machen, er strich etwas von der Büchse auf ihren Hals, und es gelang so gut wie vorhin. Nun vergnügte er sich damit, die Gefallenen abwechselnd wieder lebendig zu machen und zu töten, bis endlich die Sonne aufging.

Da kamen nun auch, zum Kampfe bewaffnet, seine Gesellen aus der Höhle herbei. Sie waren sonderbar überrascht gewesen, als sie gemerkt hatten, daß er verschwunden war und einige ihrer Waffen mit ihm. Als sie aber auf den Kampfplatz kamen, schien ihnen sich ihre Sache zum Besseren gewandt zu haben, denn alle ihre Feinde lagen tot und bewegungslos da. Da erblickten sie den Burschen und begrüßten ihn freudig,



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auch fragten sie ihn, wie er denn hierhergekommen sei. Da erzählte er ihnen alles, was geschehen war und wie das Elbenweib die Erschlagenen wieder habe lebendig machen wollen. Er zeigte ihnen die Salbenbüchse, nahm einen der Toten, bestrich ihn mit Salbe und setzte ihm den Kopf auf. Er lebte sogleich wieder auf, die Gesellen aber schlugen ihn alsbald wieder tot. Nun dankten die Höhlenbewohner dem Burschen mit vielen höflichen Worten für seine Tapferkeit, baten ihn, bei ihnen zu bleiben, solange er wolle, und boten ihm Geld an für seine guten Dienste. Er dankte ihnen und nahm es gern an, bei ihnen zu bleiben.

Nach alledem waren die Höhlenbewohner so vergnügt und ausgelassen, daß sie anfingen, lauter dummes Zeug zu treiben. So wollten sie auch probieren, wie es mit dem Sterben sei, da sie einander ja wieder lebendig machen konnten. Sie töteten sich nun gegenseitig, strichen Salbe auf und machten sich sofort wieder lebendig. Daran hatten sie eine ganze Weile großen Spaß.

Einmal nun hatten sie auch dem Burschen den Kopf abgehauen und ihn dann verkehrt mit dem Gesicht nach dem Rücken und dem Hinterkopf nach vorn wieder aufgesetzt. Wie nun der Bursch sein Hinterteil sah, da wurde er plötzlich fast wahnsinnig vor Grauen und bat sie um alles in der Welt, ihn von dieser Qual wieder zu erlösen. Da liefen die Höhlenmänner sofort wieder herbei, hieben den Kopf von neuem ab und setzten ihn wieder richtig auf. Da kamen ihm Vernunft und Besinnung wieder, und er war wieder so keck wie zuvor.

Nun schleppten die Gesellen alle Leiber der Erschlagenen zusammen, beraubten sie der Waffen und verbrannten sie mitsamt der Elbenfrau, die mit der Salbenbüchse aus dem Hügel gekommen war. Dann gingen sie in den Hügel, nahmen alle Schätze, die sie da fanden, heraus und schafften sie heim in ihre Höhle. Der Bursche blieb fortan bei ihnen, und es gibt von da ab keine Geschichten mehr über ihn.


Der Knecht und das Seevolk

Es war einmal ein reicher Bauer auf einem Hof. Seine Häuser waren groß und schön eingerichtet, die Wohnstube war gedielt und an Wänden und Decken ausgetäfelt. Aber sein Hof war von dem Unglück betroffen, daß jeder, der in der Weihnachtsnacht zu Hause blieb, andern



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Tags tot aufgefunden wurde. Daher war der Bauer mit seinen Leuten übel dran, denn keiner wollte in dieser Nacht dableiben und dennoch mußte es einer tun.

Einmal nun mietete sich der Bauer wieder einen neuen Hirten, denn seine Schafherde war groß und er brauchte einen tüchtigen Mann dazu. Er erzählte dem Hirten ganz offen von dem Fluche, der auf dem Hofe lag. Aber der Mann meinte, solcher Unsinn ginge ihn gar nichts an und gerade deshalb verspüre er Lust, zu ihm zu ziehen. In der Tat zog er nun zu dem Bauern, und sie mochten einander ganz gern.

So verging der Winter bis zu Weihnachten. Am Heiligen Abend machte sich der Bauer mit all seinen Leuten zum Abendgottesdienst fertig, nur der neue Hirt rüstete sich nicht zum Kirchgang. Der Bauer fragte, warum er sich nicht ankleidete. Und der Knecht sagte, er wolle daheimbleiben, denn es ginge nicht, den Hof so ganz ohne Leute und das Vieh unbehütet zu lassen. Der Bauer bat ihn, sich lieber darum nicht zu kümmern, denn er habe ihm ja gesagt, daß es nicht gut sei, in der Weihnachtsnacht dazubleiben. Jedes Lebewesen im Hause werde getötet, und das wolle er um keinen Preis wieder so haben. Aber der Hirt meinte, das sei nur ein Aberglaube, und er wolle es versuchen. Der Bauer sah, daß er bei ihm nichts erreichen konnte, ging mit seinen Leuten fort und der Knecht blieb allein.

Als es Abend wurde, ward der Hirt nachdenklich und meinte, es sei wohl das beste, sich auf alles mögliche vorzubereiten. Er machte Licht in der Wohnstube und suchte nach einem Ort, wo er bleiben konnte. Er nahm zwei Bretter aus der Wandverkleidung, stellte sich dahinter und fügte die Bretter wieder davor, so daß er zwischen Wand und Verkleidung stand und durch den Spalt die ganze Wohnstube übersehen konnte. Sein Hund lag drinnen unter einem Bett.

Bald darauf traten zwei fremde und schrecklich aussehende Männer herein. Sie spähten nach allen Seiten. Der eine sagte: »Menschengeruch, Menschengeruch!« Aber der andere sagte: »Nein, hier ist kein Mensch.« Sie nahmen das Licht, leuchteten alles ab und fanden zuletzt den Hund unterm Bett. Sie drehten ihm das Genick um und warfen ihn vor die Tür. Der Knecht sah, mit diesen Leuten war nicht gut Kirschen essen, und war heilfroh, dort zu sein, wo er war.

Nun kamen viele Leute in die Stube. Sie stellten Tische auf, deckten Tücher darüber, und alles Tischgerät war von Silber, Teller, Löffel und Messer. Dann trugen sie Speisen auf, setzten sich an den Tisch, aßen,



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tranken und tanzten in Saus und Braus die ganze Nacht hindurch. Zwei waren als Wachen bestimmt und sollten melden, falls ein Mensch käme oder der Tag anbräche. Dreimal gingen sie hinaus und meldeten immer, sie sähen niemand und der Tag sei noch nicht gekommen. Als aber der Knecht meinte, nun müsse der Tag nahe sein, nahm er die beiden Wandbretter, sprang mit Ungestüm auf einmal in die Stube, schlug die Bretter zusammen und schrie aus Leibeskräften: »Tag, Tag!« Da erschraken die Leute gewaltig, stürzten einer über den andern hinaus und ließen alles zurück, Tische, Gerät und auch die Kleider, die sie zum Tanzen abgelegt hatten. Einige wurden gequetscht, andere wurden zertreten, und der Knecht verfolgte sie, schlug immerfort die Bretter zusammen und schrie: »Tag, Tag!« Sie stürzten sich alle miteinander in einen See nicht weit vom Hofe, und da sah der Knecht, daß es Seevolk gewesen war. Er ging heim, zog die Toten heraus, erschlug die Halbtoten und verbrannte die Leichen. Dann reinigte er das Haus und verwahrte die zurückgelassenen Kostbarkeiten.

Als der Bauer heimkam, zeigte und erzählte er ihm alles. Der Bauer meinte, da habe er viel Glück gehabt. Der Knecht behielt sich die Hälfte der zurückgelassenen Kostbarkeiten und gab dem Bauern die andere Hälfte. Das war ein großer Schatz. Er blieb noch einige Jahre da und wurde durch Fleiß ein reicher und angesehener Mann. Aber fortan geschah auf diesem Hof in der Weihnachtsnacht nichts Besonderes mehr.


Die Elbenkönigin Hild

Es war einmal ein Bauer auf seinem Hof. Eine Frau hatte er nicht, aber eine Haushälterin, namens Hild, die sehr tüchtig war, aber von deren Herkunft man nichts wußte. Da sie rührig und fleißig war, hatten sie alle gern, der Bauer und das Gesinde.

Es verlief alles gut in der Wirtschaft, aber es war für den Bauer eine große Sorge, einen Schafhirten zu bekommen, denn immer am Morgen nach der Weihnachtsnacht lag er tot im Bette, ohne daß man den Grund dazu kannte.

Zu jener Zeit pflegte man überall im Lande am Heiligen Abend Gottesdienst zu halten und man hielt es für ebenso festlich an diesem Abend dahinzufahren wie am ersten Feiertag selbst. Aber auf den Höfen, die im Gebirge drin lagen und von denen man weit zur Kirche zu gehen



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hatte, war es für die Leute, die nicht eher vom Hause fort konnten, als bis der Stern zwischen Morgen und Mittag stand, recht beschwerlich zum Gottesdienst zu kommen, und gewöhnlich kamen dort auch die Hirten nicht früher heim. Sie brauchten dort auf dem Hofe des Bauern freilich nicht den Hof zu hüten, wie es sonst Sitte war, daß einer oder der andere es in der Weihnachts- und Silvesternacht tun mußte, während das übrige Gesinde in der Kirche war; denn seit Hild beim Bauern war, hatte sie sich selbst dazu angeboten, während sie in der Zeit alles zum Fest in Ordnung brachte und fertigmachte: Essen kochen und anderes, was nötig war, und sie war bis spät in der Nacht noch wach, so daß die, die in der Kirche gewesen waren, oft schon lange schliefen, ehe sie selbst sich zu Bett legte. Als es eine Reihe von Jahren so gegangen war, daß die Hirten des Bauern alle plötzlich in der Weihnachtszeit starben, sprach man überall davon, und der Bauer fand nur schwer jemand, der Hirte sein wollte, und es fiel ihm auch selbst immer schwerer aufs Herz, je mehr starben. Eine Schuld konnte ihn nicht treffen und das Gesinde nicht, denn eine Wunde war an der Leiche niemals zu entdecken. Schließlich sagte der Bauer, nun könne er keinen Schafhirten mehr nehmen, da ihn der sichere Tod erwarte in seinem Dienst, und nun möge es mit seinem Vieh und seinem Hab und Gut so kommen, wie es das Schicksal wolle.

Als der Bauer diesen Entschluß gefaßt hatte und niemand mehr in Dienst nehmen wollte als Hirt, da kam einmal ein munterer und kräftiger Mann zu ihm und wollte gern in seinen Dienst treten. Der Bauer sagte: »So nötig brauche ich dich nicht, daß ich dich nehmen muß.« Aber der Fremde fragte ihn: »Hast du schon einen Hirten für diesen Winter?«Da sagte der Bauer: »Nein«, und sagte ihm, er wolle durchaus niemand mehr nehmen, »du hast wohl gehört, wie schlimm es all meinen Hirten ergangen ist.« — »Gehört hab' ich's«, sagte der Fremde, »aber das schreckt mich nicht ab.« Da hörte der Bauer auf ihn, weil er so sehr wollte, und nahm ihn in Dienst. So verging nun eine Zeit, und der Bauer und der Hirt waren einig miteinander, und den Hirten hatte jeder gern, denn er war ein freundlicher, munterer und tüchtiger Kerl. Bis zum Weihnachtsabend geschah nichts Besonderes. Am Heiligen Abend nun ging der Bauer mit seinem Gesinde zur Kirche, die Haushälterin blieb im Hause, und der Hirt blieb bei seinen Schafen. Es wurde Abend wie immer, ehe der Hirte heimkam, dann aß er seine Grütze und ging zu Bett. Da dachte er, es sei wohl besser zu wachen



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als zu schlafen, falls etwas geschehen sollte; Furcht hatte er keine, blieb aber zur Vorsicht wach liegen. Spät in der Nacht hörte er die Leute heimkommen, sie aßen einen Bissen und gingen schlafen. Noch merkte er nichts, als aber schon alle schliefen, da fühlte er, daß er müde wurde, was ihn weiter nicht wunderte nach des Tages Last und Mühen.

Weil er aber dachte, es ginge ihm schlecht, wenn er nun doch einschliefe, bot er all seine Kraft auf, um bloß nicht einzuschlafen. Es dauerte auch gar nicht lange, da hörte er jemand an sein Bett kommen und ihm war so, als sei es Hild, die da ihr Wesen trieb. Er stellte sich schlafend und merkte, daß sie ihm etwas in den Mund steckte. Er fühlte, daß es ein Zaum war für den Mahrtenritt und ließ sich ruhig aufzäumen. Sie legte ihm also das Zaumzeug an, befestigte die Zügel, wie es ihr bequem war, setzte sich rittlings auf ihn und ritt in fliegender Eile davon, bis sie, so schien es ihm, an einen Graben oder einen Erdspalt kam. Da sprang sie ab auf einen Stein, ließ die Zügel hängen und verschwand im Erdspalt.

Dem Hirten kam das schlimm und rätselhaft vor, daß Hild so verschwunden war, ohne daß er wußte, wohin sie sei; er merkte auch bald, daß er, solange er den Zaum angelegt hatte, nicht weit kam, weil er dadurch verzaubert war. Deshalb rieb er sich an jenen Stein, bis er das Zaumzeug abgescheuert hatte, ließ es liegen und warf sich danach in dieselbe Spalte, in der Hild verschwunden war.

Ihm schien, er sei noch nicht weit in die Spalte hinuntergekommen, da erblickte er auch schon Hild, wie sie über schöne Wiesen schritt und schon bald ihren Weg beendet hatte. Nach alledem dachte er sich wohl, daß es da nicht mit rechten Dingen zuginge und sie pfiffiger war, als man ahnen konnte, wenn man sie oben unter den Menschen weilen sah. Da er sich auch sagte, sie könne ihn erblicken, wenn er auf der Wiese hinter ihr hergehe, nahm er einen Stein aus seiner Tasche, der ihn unsichtbar machte, verbarg ihn in der linken Hand und lief, so schnell er nur konnte, hinter ihr her.

Als er weiter auf die Wiese hinausgekommen war, sah er eine schöne große Halle, und Hild ging auf sie zu. Aus der Halle kam ihr eine große Menschenmenge entgegen, vorweg, prächtig gekleidet, ein Mann, und es schien, als begrüße er Hild als seine Frau und heiße sie willkommen; die andern aber im Gefolge begrüßten sie freudig als ihre Königin. Mit dem Häuptling kamen Hild zwei halberwachsene Kinder entgegen und begrüßten ihre Mutter voll seliger Freude.



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Als sie alle der Königin ihre Huldigung dargebracht hatten, führten sie sie und den König in die Halle. Dort bereitete man ihr einen ehrenvollen Empfang, kleidete sie in königliche Gewänder und streifte auf ihre Arme schöne goldene Ringe.

Der Hirte folgte auch, blieb aber dort, wo am wenigsten Leute waren, doch so, daß er alles genau beobachten konnte. Tische wurden geholt und gedeckt, und er staunte über all die Herrlichkeit.

Kurz danach sah er Hild, prächtig gekleidet, in die Halle schreiten. Jedem ward sein Platz angewiesen, Hild nahm den Ehrensitz neben dem König ein, das ganze Gefolge nahm seine Plätze zu beiden Seiten und nun ward getafelt.

Dann räumten sie die Tische ab, und die Männer und Frauen tanzten oder gingen andern Belustigungen nach, das Königspaar aber saß Hand in Hand da und wechselte Worte, die sowohl freudig wie wehmutsvoll klangen.

Während sie so miteinander redeten, kamen noch drei jüngere Kinder zu ihnen und umarmten voll Freude und Glück ihre Mutter. Königin Hild küßte sie voll Liebe, nahm das Kleinste auf den Schoß und liebkoste es, aber da es unruhig wurde, gab die Mutter ihm einen goldenen Arm ring, den sie vom Arme abgestreift hatte. Das Kind war nun auch ganz ruhig und spielte eine Weile mit dem Ring. Schließlich fiel der Ring auf den Boden, und der Hirte griff ganz schnell danach und verbarg ihn gut; alle fanden es sehr merkwürdig, daß sie den Ring nirgends finden konnten, wo er doch nur auf den Boden gefallen war.

Als die Nacht fast verflossen war, machte sich Königin Hild zum Fortgehen fertig, so sehr man sie auch bat, länger zu bleiben und so traurig auch alle über ihren Abschied waren.

Der Hirte hatte auch gemerkt, daß in der Halle ein altes ganz häßliches Weib saß, und sie hatte sich gar nicht gefreut, als Königin Hild kam und war auch nicht traurig, als sie wieder gehen mußte. Als der König sah, wie es sein Weib trieb fortzugehen und sie durch keine Bitten sich zum Dableiben bestimmen ließ, ging er zu dem alten Weibe und sagte: »Bitte, nimm deinen Fluch weg von meinem lieben Weibe, Mutter, und laß uns nicht mehr auseinandergehen«, aber das alte Weib sagte voll Zorn: »Mein Fluch wird weiterbestehen, und ich will ihn nie zurücknehmen.« Da wurde der König ganz still, ging tieftraurig zu seiner Frau, legte seinen Arm um sie, küßte sie und bat sie noch einmal flehentlich dazubleiben. Aber die Königin sagte, der Fluch seiner Mutter



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triebe sie fort und es sei wohl wenig zu hoffen, daß sie sich öfters sehen könnten, denn die Todesfälle, die ihretwegen stattfänden und die nun schon so zahlreich seien, könnten nicht länger ein Geheimnis bleiben und sie werde wohl dafür gestraft werden, obwohl es ihre Schuld gewiß nicht sei.

Als sie so jämmerlich klagte, ging der Hirte schnell fort aus der Halle, über die Wiese nach dem Spalt und wieder hinauf. Er versteckte den Zauberstein, zäumte sich wieder auf und wartete auf Hild. Sie kam auch bald tieftraurig, setzte sich auf seinen Rücken und ritt zum Gehöft. Dort legte sie ihn wieder in sein Bett, zäumte ihn ab, ging selbst zu Bett und schlief. Obwohl der Hirte ganz wach war, stellte er sich schlafend, damit Hild nichts merken sollte. Als sie aber schlafengegangen war, da gab er seine Vorsicht auf und schlief fest und tief bis zum selben Morgen.

Der Bauer war schon früh aufgestanden, denn es ließ ihm keine Ruhe zu erfahren, ob denn der Schafhirte noch am Leben sei. Als der Bauer sich anzog, wachten auch die andern auf und zogen sich an. Der Bauer ging also zum Schafhirten ans Bett und rührte ihn an. Da sah er, daß erlebte und dankte Gott für diese Gnade. Da erwachte auch der Schafhirte frisch und fröhlich und stand auf. Der Bauer fragte ihn, ob denn in der Nacht etwas losgewesen sei. Der Schafhirte sagte: »Nein, aber ich habe merkwürdig geträumt.« — »Was hast du denn da geträumt?« fragte der Bauer. Und da fing nun der Hirte an zu erzählen, daß Hild ihn aufgezäumt habe in seinem Bett, und berichtete alles so genau, wie er nur konnte.

Als er fertig erzählt hatte, saßen alle stumm da, nur Hild sagte zu ihm: »Es ist eine Lüge, was du da sagst, wenn du nicht durch ein deutliches Zeichen beweisen kannst, daß es so war, wie du erzählt hast.«Der Hirt ließ sich dadurch nicht einschüchtern, sondern holte den Ring, den er in der Nacht vom Boden aufgehoben hatte, und sagte: »Wenn ich auch nicht gezwungen werden kann, einen Traum durch deutliche Zeichen zu beweisen, so ist es doch gut, daß ich's beweisen kann, daß ich diese Nacht bei den Huldren war. Ist dies dein Armring, Königin Hild, oder ist er es nicht?«

Da sagte die Königin: »Er ist's, und Gottes Segen über dich, daß du mich vom Fluche meiner Schwiegermutter befreit hast, nur widerwillig beging ich all die Fluchwürdigkeiten, die sie mir auferlegt hatte.« Und dann fing Königin Hild an zu erzählen:



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»Ich war ein Elbenmädchen von geringer Herkunft, aber der König von Elbenheim liebte mich und nahm mich wider den Willen seiner Mutter zur Frau. Da wurde die Mutter so böse, daß sie ihrem Sohn nur kurze Freude an mir versprach und wir uns nur ganz selten sehen sollten. Ich sollte Dienstmagd unter den Menschen werden und jedesmal zur Weihnachtszeit den Tod eines Menschen verursachen, dadurch daß ich ihn aufzäumen mußte, während er schlief, und auf ihm den Weg reiten mußte, den ich auch diese Nacht auf dem Hirten geritten bin, um meinen Gatten zu besuchen; und dies sollte so lange dauern, bis meine Bosheit ans Licht käme und ich dafür getötet würde, es müßte denn sein, ich fände einen solch mutigen Mann, der es wagte, mit nach dem Elbenheim zu kommen und der dann den Beweis erbringen könnte, daß er dorthin gekommen wäre und gesehen hätte, wie es dort zuging. Ihr seht also alle, daß sämtliche Hirten um meinetwillen getötet wurden, seitdem ich hier war, aber ich hoffe, man wird mir nicht als Schuld anrechnen, was widerwillig zu tun mir aufgezwungen war; denn niemand hat den unterirdischen Weg gefunden und ist aus Neugierde mit in die Behausung der Huldren hineingekommen. Nur dieser mutige Mann war es gewesen, der mich aus meinem Magddienst und von dem schlimmen Fluch erlöst hat, und ich will ihn auch später dafür belohnen. Ich darf nun nicht länger bleiben, habt Dank für all eure Güte, die Sehnsucht treibt mich heimwärts.«

So sprach sie und verschwand, und man hat sie nie wieder gesehen unter Menschen.

Der Schafhirt aber heiratete im Frühjahr und gründete einen Hausstand, und das konnte er auch; denn der Bauer zeigte sich ihm gegenüber, als er seinen Dienst aufgab, sehr freigebig, und dann war er auch selbst nicht ohne Mittel. Alle Leute in seinem Bezirk fragten ihn um Rat und baten ihn um Beistand. Er war so sehr beliebt trotz seines Glückes, daß die Leute selbst nicht recht begreifen konnten, wie das zuging. Sie glaubten, bei ihm habe jedes Tier zwei Köpfe.

Er aber wußte sehr wohl, daß er der Königin Hild dafür zu danken hatte.



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Gilitrutt

Es wohnte einmal ein junger Bauer ostwärts unterhalb der Inselfelsen. Er war ein fleißiger Mann. Es waren auch gute Weideplätze dort, wo er war, und der Bauer hatte viele Schafe. Zu der Zeit, als diese Geschichte spielt, war er jung verheiratet; seine Frau war jung, aber faul und untüchtig. Um die Wirtschaft kümmerte sie sich nur wenig. Dem Manne gefiel das zwar nicht besonders, aber er konnte es auch nicht ändern.

Einmal übergab er ihr im Herbst ein großes Quantum Wolle; daraus sollte sie im Winter Stoff weben. Sie war nicht gerade besonders erbaut darüber und die Zeit verging, ohne daß die Frau die Wolle anrührte, obwohl ihr Mann sie gar oft daran erinnerte. Da kam eines Tages ein ziemlich ungeschlachtes altes Weib zu der Frau und bettelte um ein kleines Almosen. »Kannst du zum Entgelt etwas für mich arbeiten?« fragte die Frau. »Das schon«, sagte das Weib, »was soll es denn sein?« —»Wolle zu Stoff weben«, sagte die Frau. »Nun, so gib sie her«, sagte das alte Weib. Da holte die Frau einen ungeheuer großen Sack mit Wolle hervor und gab ihn ihr. Die Alte nahm den Sack, warf ihn sich über den Rücken und sagte: »Ich werde mit dem Stoff am ersten Sommertag wiederkommen.« — »Was für einen Arbeitslohn willst du denn haben?«fragte die Frau. »Ich will nicht viel«, sagte die Alte, »du sollst mir nur meinen Namen beim drittenmal Raten nennen, dann sind wir quitt.« Das versprach die Frau, und die Alte ging fort.

Nun verging der Winter und der Bauer fragte oft seine Frau, wo denn die Wolle sei. Sie sagte, das ginge ihn gar nichts an, er würde es schon am ersten Sommertage erfahren. Da sprach denn der Mann nicht weiter davon, und so kam der letzte Wintermonat heran. Da begann die Frau, über den Namen der Alten nachzudenken, aber sie fand keine Möglichkeit, wie sie ihn hätte erfahren können. Sie wurde darüber sehr betrübt und schwermütig. Der Bauer bemerkte, daß sie ganz verändert war, und bat sie, ihm zu sagen, was ihr fehle. Da erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Der Bauer erschrak und sagte, sie habe übel gehandelt; denn das könne nur ein Trollweib gewesen sein, das sie holen wolle. Einmal war der Bauer hinauf in die Felsen gegangen und kam da zu einem großen Sandhügel. Er war ganz in Gedanken versunken über seine Sorgen, als er ein paar Schläge unten im Hügel hörte. Er ging dem Geräusch nach und kam an einen Spalt. Er blickte hinein und sah ein



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riesengroßes Weib am Webstuhl sitzen. Sie hatte das Gewebe zwischen den Beinen und schlug es eifrig. Dabei sagte sie vor sich hin: »Hä, hä und ho, ho! Die Hausfrau weiß nicht, wie ich heiße. Hä, hä und ho, ho! Gilitrutt heiß ich ho, ho. Gilitrutt heiß ich hä, hä und ho ho!« So sagte sie vor sich hin immerzu und schlug eifrig das Gewebe.

Der Bauer war darüber sehr froh, denn er sagte sich, daß dies das Weib sei, das seine Frau im Herbst besucht hatte. Er ging heim und schrieb sich den Namen Gilitrutt auf einen Zettel. Seiner Frau aber sagte er nichts davon, und so kam der letzte Wintertag heran. Da war die Hausfrau sehr betrübt und zog sich diesen Tag gar nicht an.

Der Bauer ging zu ihr und fragte sie, ob sie nun den Namen ihrer Arbeiterin wisse. Sie verneinte es und sagte, ihr würde nun ganz sterbensbange zumute. Aber der Bauer sagte, dazu läge kein Grund vor, gab ihr den Zettel mit dem Namen und erzählte ihr alles. Sie nahm den Zettel, aber sie zitterte dabei vor Furcht, denn sie hatte Angst, der Name könne vielleicht nicht richtig sein. Sie bat ihren Mann, doch bei ihr zu bleiben, wenn das Weib komme. Er aber sagte: »Nein! Du hast mich nicht dabei gehabt, wie du ihr die Wolle gegeben hast. Nun bin ich am besten auch nicht dabei, wenn du den Lohn gibst.«Und so ging er. Nun kam der erste Sommertag. Die Frau lag allein in ihrem Bett und sonst war kein Mensch auf dem Hofe. Auf einmal hörte sie ein starkes Getöse und dröhnende Schritte unter der Erde. Die Alte war da, aber freundlich sah sie nicht aus. Sie warf einen großen Ballen Stoff auf den Boden und sprach: »Wie heiß ich also? Wie heiß ich also?« Die Frau war vor Angst mehr tot als lebendig und sagte:

»Signy?«

»So heiß ich also? So heiß ich also? Nun rate noch einmal, Hausfrau!« sagte das Weib.

»Asa?« sagte die Frau.

»So heiß ich also?« sagte die Alte, »so heiß ich also? Nun rate noch einmal, Hausfrau!«

»Du heißest doch nicht etwa - Gilitrutt?«fragte die Frau.

Da erschrak die Alte so gewaltig, daß sie mit einem gewaltigen Gepolter stracks auf den Boden fiel. Dann stand sie wieder auf, ging fort und ward nie wiedergesehen. Die Frau war nun über die Maßen froh, daß sie von diesem Ungeheuer so leichten Kaufes losgekommen war und ward fortab ein ganz anderer Mensch. Sie wurde wirtschaftlich und fleißig und webte fortan ihre Wolle immer selbst.



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Hwekk

Es lebte einmal ein Bauer mit seiner Frau in seiner Hütte und sie hatten drei Söhne. Die beiden älteren galten viel bei ihrem Vater, aber Thorstein, der jüngste, ward allgemein als ein Dümmling angesehen. Nun kam dem Bauern dreimal hintereinander jährlich im Herbste eine Menge Schafe abhanden. Im ersten Jahre hatte sich der älteste Sohn, im nächsten Jahre der zweite Sohn auf die Suche begeben. Aber weder die Schafe noch die Jünglinge waren jemals wiedergekommen.

Im dritten Jahre wollte nun Thorstein die vermißten Schafe suchen. Als er lange, lange gewandert war, kam er in einem tiefen Tale zu einer kleinen Bauernhütte. Er klopfte an die Türe, und ein alter Mann kam heraus, der sah sehr böse und häßlich aus. Thorstein fragte ihn nach seinem Namen, und da nannte sich jener Karlinn illi (der böse Alte) und Thorstein selber nannte sich Hwekk (Schalk).

Nun bat Hwekk den bösen Alten um ein Winterquartier, und der böse Alte wollte ihn auch nehmen, nur sollte er folgende drei Bedingungen erfüllen:

Erstens sollte er den Winter hindurch das Vieh hüten, und zwar sollte er dazu ebenso früh aufstehen wie der Hund und abends nicht eher heimkommen, als bis es dem Hunde gefiel.

Zweitens sollte er mit dem Hunde aus ein und demselben Topfe essen. Und drittens sollte er sich sofort auf die Suche machen, sobald er das Miauen der Katze höre. Derjenige, der eingesteht, daß er mit dem andern unzufrieden ist, darf von dem andern getötet werden.

Hwekk willigte in diese Bedingungen ein und ward nun in die Stube geführt; darinnen waren die Frau und die Tochter des Alten. Am Abend ward für Hwekk und den Hund ein Trog auf den Boden gesetzt. Aber eben wie er im besten Essen war, hörte er das Miauen der Katze, und nun mußte er gehen, um sie zu suchen. Er suchte wohl allenthalben, aber er fand sie nicht. Und als er wieder ins Zimmer zurückkam, hatte der Hund inzwischen den ganzen Trog leer gefressen.

In der Nacht, als die Alten schliefen, kam das junge Mädchen an sein Bett. Sie brachte ihm etwas zu essen und sprach ihm ihr Bedauern aus, daß er ihrem Vater in die Hände gefallen sei. Auch seine beiden Brüder seien hierher gekommen, und der Alte hätte sie zu Tode gehungert. Nun würde er es mit ihm wohl gleichfalls so weit bringen. Das Miauen, das ihn stets beim Essen stören würde, käme nicht von einer Katze,



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sondern von den alten Eltern des Bauern, die dieser absichtlich zu Tode hungere.

Da ließ sich Hwekk von dem Mädchen ein Licht geben und zum Zimmer der Alten führen. Er fand sie vor Alter und Hunger in einem so elenden und entkräfteten Zustand, daß er nicht viel Mühe hatte, um sie zu ersticken. Dann legte er sich ruhig schlafen. Am folgenden Morgen weckte ihn der Bauer schon sehr früh, denn der Hund sei schon aufgestanden. Nun wurde wieder für Hwekk und den Hund ein Trog auf den Boden gesetzt, und sie machten sich beide darüber her. Wie aber nun das Miauen der Katze nicht mehr ertönte, da zog der böse Alte ein seltsames Gesicht, sagte aber nichts.

Nun hütete Thorstein das Vieh und darunter befanden sich auch alle die Schafe, die seine Eltern vermißten. Als er am Abend heimkehrte, stand der böse Alte schon unter der Tür und fragte den Hwekk, ob er seine Eltern getötet habe. »Freilich«, sagte Hwekk, »oder hast du vielleicht etwas dagegen?«

Allmählich ward es dem Burschen langweilig, immer so spät mit dem Hunde abends heimkehren zu müssen. Er band dem Hunde einen Schuhsenkel um den Hals, zuerst fest und dann allmählich immer fester und fester. Dem Hund war das unbehaglich, und er kehrte zunächst abends früher heim als gewöhnlich, dann verlor er die Lust zum Fressen und schließlich starb er. Als am Abend der Knecht nach Hause kam, stand der Alte schon unter der Tür und fragte: »Hast du meinen Hund getötet, Hwekk?« —»Freilich«, sagte Hwekk, »oder hast du vielleicht etwas dagegen?«

Nun konnte Thorstein seine Mahlzeit immer allein verzehren und brauchte auch nicht länger, als es ihm gerade gefiel, mit dem Vieh täglich draußen zu bleiben. Als das Frühjahr kam, bemerkte der Bauer, daß seine Tochter augenscheinlich guter Hoffnung war. Und als Hwekk abends heimkam, stand der Alte schon unter der Tür und fragte, ob er daran schuld sei. »Freilich«, sagte Hwekk, »oder hast du vielleicht etwas dagegen?«

Der Alte sagte wohlweislich, er sei keineswegs unzufrieden mit ihm, nur müsse infolgedessen bald die Hochzeit gefeiert werden. Thorstein war einverstanden damit und baute auf Wunsch des Alten einen großen Festsaal, in dem die Hochzeitsgäste empfangen werden sollten. Als nun der Bauer fortgegangen war, um seine Freunde zur Hochzeit zu bitten, sammelte Thorstein eine Menge Brennholz und legte es sich zum



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Gebrauche zurecht. Nun kamen von allen Seiten die Gäste angeritten, und sie sahen alle ebenso ungeschlacht und scheußlich aus wie der Bauer selber. Der böse Alte forderte nun seinen Schwiegersohn auf, freundliche Augen auf die Gäste zuwerfen. Darauf ging Hwekk zu den Pferden der Fremden und stach diesen allen ein Auge aus. Er ging mit den Augen zum Hochzeitsmahle zurück und warf auf jeden der Gäste eins dieser Augen. Der böse Alte ward rot vor Zorn, sprang auf und fragte ihn, woher er diese Augen genommen habe. Da sagte Hwekk: »Ich stach sie natürlich aus den Augen der Pferde, die unsern Gästen gehören. Anderswoher konnte ich für sie nicht genügend Augen bekommen. Oder hast du vielleicht etwas dagegen?«

»Allerdings habe ich etwas dagegen«, schrie darauf der Alte, und seine Wut war über die Maßen groß. »Zuerst hast du meine Eltern getötet, dann meinen Hund, dann hast du meiner Tochter ein Kind gemacht, jetzt stichst du den Pferden meiner Gäste die Augen aus und zu guter Letzt wirst du mich selbst noch töten.« Da stürzte sich Thorstein auf den Alten und rang mit ihm, bis er ihm das Rückgrat gebrochen hatte. Dann eilte er aus dem Festsaal heraus, verschloß die Türe und verbrannte alle Hochzeitsgäste darinnen, ausgenommen die Frau und die Tochter des Bauern, die auf seinen Wink schon vorher den Saal verlassen hatten. Dann nahm er alle Schätze und alles Vieh und kehrte mit den beiden Frauen zu seinen Eltern zurück. Und hier feierte er seine Hochzeit mit der Tochter des bösen Alten.


Kort von Mödruwellir und das Seeungeheuer

Kort von Mödruwellir war wieder einmal wie gewöhnlich im Winter auf Fischfang und wohnte während dieser Zeit mit mehreren andern Fischern in einer Hütte unten im Südland an der See. An der Hütte war ein Schloß, das man nur mit einem Schlüssel auf- und zuschließen konnte. Eines Nachts nun, als sie die Hütte von innen abgeschlossen hatten und alle eingeschlafen waren, träumte Kort, es käme ein Ungeheuer in die Hütte und ergriffe ihn bei der Hand. Es war ihm so, als ob er aufstünde und mit dem Ungeheuer unter das Bett kröche, und dann war es ihm so, als ob ihn das Ungeheuer von dort durch die Wand der Hütte hinauszöge, und das schien ihm ein enger und beschwerlicher Weg. Dann zog ihn das Ungeheuer hinab an den Strand und bis an die



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Flutgrenze, und er merkte, daß es ihn in die See schleppen wollte und es war ihm, als würde er ganz wütend vor Zorn, was zuweilen so seine Art war, und als griffe er das Ungeheuer gewaltig an. Schließlich war das Ende des Kampfes dies, daß Kort die Oberhand gewann und das Ungeheuer in die See stieß.

Indem erwachte er, und da stand er unten an der Flutgrenze im Hemde, so wie er am Abend schlafen gegangen war. Zuerst glaubte er, daß er im Schlafe dorthin gewandert wäre. Als er aber an die Hütte kam und die Tür verschlossen fand, wie sie es am Abend gewesen war, so daß er nicht eher hineinkommen konnte, ehe er nicht seine Gesellen geweckt und sie ihm aufgemacht hatten, da wußte er, daß hier ganz andere Dinge als bloßes Schlafwandeln dahintersteckten und sein Traumerlebnis ein wirkliches Erlebnis gewesen war.


Das Mädchen von Galtalaek

Einmal hatten Achter ein Mädchen aus Galtalaek im Bezirke Landsveit geraubt. Sie verbanden ihr die Augen und schleppten sie einen Tag lang mit fort. Am nächsten Tage aber konnte sie den Hekla erkennen und schloß daraus, daß sie am Flusse Kaldakwisl aufwärts gebracht wurde. Nach drei Tagen kamen sie zu der Wohnung der Achter. Es waren ihrer vierzehn im ganzen. Einer, der der älteste war, war ihr Hauptmann und zugleich ihr Pfarrer. Einige von den Achtern waren aus bewohnten Gegenden geflohen, einige aber waren durchaus Gebirgsmänner. Sie stellten dem Mädchen nun frei, welchen von ihnen sie heiraten wolle. Sie aber wählte keinen von ihnen, und es zwang sie auch niemand dazu. Aber sie behielten sie bei sich, damit sie für das Essen und die Bedienung sorge. Sie hatten schon früher zwei Mädchen gestohlen, aber die waren beide jetzt tot.

Alle vier Jahre reisten sie nach einem Handelsplatz, und dann ging auch ihr alter Hauptmann mit ihnen, sonst aber nicht. Er ritt dann auf einem großen, schnellen, graugescheckten Pferd. Zwei oder vier von den Achtern blieben dann immer daheim. Außerdem machten sie in jedem Herbst eine dreitägige Reise nach Schlachtvieh. Sie blieben immer bei diesen Gewohnheiten, aber ihren Wohnort verlegten sie öfters, damit man sie nicht so leicht finden könne. Der alte Hauptmann tat alles, um dem Mädchen den Aufenthalt angenehm zu machen, aber es gefiel ihr



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niemals dort bei den Achtern. Er bat sie, sich wenigstens, solange er lebte, zufrieden zu geben, und sagte, er werde schon dafür sorgen, daß sie nach seinem Tode in die bewohnte Gegend zurückkäme.

Als das Mädchen nun zwölf Jahre bei ihnen gewesen war, kam es ihr vor, als ob der Alte doch recht lange am Leben bliebe. Einmal im Herbst war das Wetter ganz besonders schön. Da machte es dem alten Hauptmann Vergnügen, diesmal mit den andern auf seinem Grauscheck mitzureiten. Sie ließen das Mädchen allein zurück, denn sie hatten keine Angst, daß sie sie hintergehen könne. Sie blieben eine ganze Woche fort und waren matt und müde, als sie heimkehrten.

Aber inzwischen hatte das Mädchen eine Menge Brennholz herbeigebracht und auf dem Hofplatz abgelagert. Und als die Achter nun zu Bett gegangen und eingeschlafen waren, trug sie das Holz in den Hausgang und baute große Haufen davon vor alle Fenster. Dann steckte sie alles in Brand und ging nicht eher fort, als bis alles lichterloh brannte. Dann sattelte sie den Grauschek im Stall, führte ihn am Zügel heraus und schwang sich auf seinen Rücken. Aber sie konnte ihn nicht von der Stelle bringen, bis sie auch noch Hut und Mantel des alten Hauptmanns genommen hatte. Als sie aufbrach, ritt sie noch einmal am Feuer vorbei. Indem stürzten zwei Männer aus den Flammen hervor. Der eine brach sogleich tot zusammen, der andere aber kam noch zwei bis drei Klafter durch das Feuer hindurch und sank dann um; dies war der alte Hauptmann. Da fiel sein Blick auf das Mädchen, und er sah ihr weinend nach, wie sie auf dem Grauschek davonritt.

Sie hielt nun auf ihrer Reise nicht an, bevor sie in ihre Heimat kam. Aber über ihre Tat wurde übel geurteilt. Sie war nirgendwo gern gesehen und hatte auch wenig Glück noch in ihrem Leben.


Der Häuslerssohn und seine Katze

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau in ihrer ärmlichen Hütte und ein König und eine Königin in ihrem Reiche. Der alte Mann war so geizig, daß er viel Geld zusammengescharrt hatte. Die Leute sagten, er bekomme immer für ein Geldstück zwei. Da wurde er krank und starb. Die beiden Alten hatten zusammen nur einen einzigen Sohn. Er träumte in der ersten Nacht nach seines Vaters Tode von einem Fremden, der zu ihm kam und sprach:



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»Hier liegst du, dein Vater ist tot und all sein Reichtum gehört nun dir, denn deine Mutter wird auch bald sterben. Die Hälfte des Geldes aber ist unrechtmäßig erworben und deshalb sollst du die Hälfte unter die Armen verteilen und die andere Hälfte sollst du ins Meer werfen; was aber im Meer schwimmt, nachdem alles andere versunken ist, ob es nun ein Stück Papier oder sonst etwas ist, das sollst du auffischen und gut aufbewahren.«

Dann verschwand der Fremde, und der Sohn wurde wach.

Er war ganz traurig über diesen Traum und bedachte in seinem Sinn, was er wohl tun solle; denn er wollte doch nicht gern sein Vermögen fortwerfen. Aber endlich kam er doch zu dem Entschluß, die eine Hälfte den Armen zu geben und die andere Hälfte ins Meer zu werfen, und da kam es auch so, wie es der Fremde gesagt hatte: obenauf schwamm etwas. Er holt es und sieht, daß es ein Stück Papier ist, in das sechs Schillinge eingewickelt waren.

Da dachte er bei sich: >Was soll ich wohl mit den sechs Schillingen machen, nachdem ich mein großes Vermögen fortgeworfen habe?<Trotzdem steckte er sie zu sich.

Er wurde traurig und bekümmert über seinen Verlust, legte sich zu Bett, stand aber bald wieder auf.

Seine Mutter hatte er nun auch beerdigt und ging traurig fort. Er ging in den Wald hinaus, wanderte lange umher und kam schließlich zu einer ärmlichen Hütte. Er klopfte an, und ein altes Weib machte auf. Er bat darum, ob er denn hier bleiben könne zur Nacht, aber Geld habe er keins.

Das Weib sagte, deshalb möge er ruhig hereinkommen. Er kam auch, und man gab ihm zu essen. Es waren nur zwei Frauen und drei Männer im Hause, sie sprachen wenig und schienen ruhige Leute zu sein. Er sah auch ein graues, nicht sehr großes Tier drinnen. Er hatte noch nie solch ein Lebewesen gesehen und fragte, wie man denn das Tier nenne. Sie sagten, es heiße »Katze«.

Dann fragte er, ob sie die Katze verkaufen wollten und was sie denn koste. Sie sagen, für sechs Schillinge könne er sie haben. Er kaufte sie auch für seine Schillinge und legte sich dann schlafen. Am andern Morgen nahm er Abschied von den Leuten und steckte die Katze unter seinen Mantel.

Er zog den ganzen Tag durch unwegsame Wälder und kam abends zu einem Hofe. Er klopfte an und ein alter Mann kam heraus. Es war der



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Hausherr, und der Bursche bat ihn um ein Nachtlager, sagte aber auch da wieder, daß er kein Geld habe.

»Dann gibt man dir's umsonst«, sagte der Mann und führte ihn in die Stube. Dort waren noch zwei Frauen und zwei Männer. Es waren die Frau und die Tochter des Hausherrn. Die Katze ließ er unter seinem Mantel herausspringen, und alle waren erstaunt über das seltsame Tier, wie sie noch nie zuvor eins gesehen hatten. Er blieb die Nacht da. Am andern Morgen sagte man, er solle doch zum König gehen, seine Halle sei nicht weit von hier entfernt. Der König sei gut und sei gewiß freundlich zu ihm. Das tat er auch.

Er schickte dem König die Botschaft, er möchte ihn gerne aufsuchen, und der König bat ihn hereinzukommen in seine Halle. Und er kam auch.

Als er hereinkam, saßen alle Leute bei Tisch. Er begrüßte den König und seine Hofleute, war aber sehr verwundert, als er eine endlose Anzahl kleiner Tiere in der Halle herumlaufen sah. Die kamen so nahe zum König und seinen Hofleuten, daß sie auf Tisch und Teller herumsprangen und alles wegnahmen, ja sie bissen den König sogar in die Hände, und er hatte keine Ruhe vor ihnen. Die Hände des Königs waren ganz blutig, und sie wußten sich keinen Rat, sich gegen diese bösen Tiere zu wehren.

Der Bursche fragte, was das denn sei und wie die Tiere heißen. Der König sagte, sie hießen »Ratten«und quälten ihn schon viele Jahre, er wisse sich nicht zu helfen gegen sie.

Da sprang die Katze aus dem Mantel heraus und ging auf die Ratten los. Etliche biß sie tot, die übrigen jagte sie fort aus der Halle. Da waren der König und seine Hofleute ganz erstaunt und fragten, was denn das für ein Tier sei. Der Bursche sagte, es sei eine »Katze«, und er habe sie für sechs Schillinge gekauft.

Da sagte der König:

»Weil du gekommen bist und ein Glück gebracht hast, sollst du wählen dürfen, was du lieber willst: ob du mein erster Minister sein oder aber ob du meine Tochter heiraten und mein Erbe sein willst.«

Der Bursche sagte, er wolle lieber die Tochter und das Reich. Da wurde Hochzeit gehalten und als alles vorbei war, schickte er Boten zu den Bauern, bei denen er übernachtet hatte, und sie wurden seine Minister, als er selber König geworden war.



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Das Gespenst zu Hagi

Zu Hagi im Reykjadal wohnte einst ein angesehener und reicher Bauer, dessen Name nicht mit überliefert ist. Er hatte nur eine Tochter und sonst keine Kinder. Einmal kamen gegen Wintersende viele herumvagierende Bettler nach Hagi, wie das damals öfters geschah. Und einmal kam auch ein junger Kerl und blieb über Nacht; er saß an der Tür der Wohnstube und streckte die Füße von sich. Nun ging gerade an diesem Tage die Tochter des Bauern hier vorbei, achtete nicht auf ihn und stolperte über die Füße des Fremden. Darüber wurde sie zornig, schimpfte mit dem Burschen und sagte, solche Vagabunden sollten doch anderswo herumlungern als den Leuten vor ihren Füßen. Ihre Reden erbitterten den Burschen, und er meinte, er würde ihr nicht oft zu solchem Anstoß Anlaß geben, indessen werde wohl einmal die Zeit kommen, wo er sie werde zu finden wissen.

Dann verschwand der Bursche, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Aber nach einer kleinen Weile ging die Bauerntochter in den Stall, um die Kühe zu füttern und zu melken. Der Bauer war mit ihr gegangen, um das Futterheu für den nächsten Morgen abzumessen, denn der Heuschuppen hing mit dem Stalle zusammen. Und sie waren noch nicht lange im Stall, so kam der Vagabund in die Tür, und der Bauer sah, daß er sich den Hals abgeschnitten hatte und jetzt im Augenblicke des Todes als Gespenst umging. Das Gespenst war ganz rasend und wollte in den Stall hinein, aber der Bauer verwehrte es ihm und fragte, was es wolle und was es im Stalle zu suchen habe. Da sagte das Gespenst, es suche die Bauerntochter. Der Bauer bat es, ihm erst einen kleinen Dienst zu tun und das Heu für die Kühe zum andern Morgen locker zu machen, danach dürfe es dann die Bauerntochter sehen. Das Gespenst war bereit dazu, und der Bauer wies ihm einen festgestampften Heuschober von vier Klafter Umfang an und den begann nun das Gespenst auseinanderzumachen.

Inzwischen schickte der Bauer so schnell wie möglich zu Arnthor auf Sand. Der verstand mehr Dinge als andere Leute und wußte am besten gegen Gespenster und allerlei Zauber zu raten und zu helfen. Er machte sich auch sofort auf und kam nach Hagi in dem Augenblick, wo das Gespenst soeben damit fertig war, den Heuschober zu lockern, und nun seinen Lohn haben wollte, nämlich zu der Bauerntochter gelassen zu werden. Arnthor ging dem Gespenst entgegen und fragte, was es



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denn von der Bauerntochter wolle. Das Gespenst sagte, dies ginge niemanden was an. Arnthor fragte, ob es damit zufrieden sei, wenn es die Bauerntochter nur sehe, und es erklärte sich auch damit zufrieden. Da hieß Arnthor es warten, bis er die Bauerntochter geholt habe. Er holte sie und wickelte ihr ein großes Tuch um den Kopf, so daß sie weder hören noch sehen konnte, dann führte er sie hinaus und zeigte sie dem Gespenst.

Da sagte das Gespenst, nun wäre es von Arnthor übertölpelt worden, denn es hätte nicht erwartet, daß er die Bauerntochter dergestalt sichern würde, sonst hätte er sie verrückt gemacht. Es geriet in furchtbare Wut und wollte durchaus an das Mädchen heran, aber Arnthor verwehrte es ihm. Er merkte aber, daß es nicht leicht war, das Gespenst auf diese Art loszuwerden, darum ließ er eine rote Färse aus dem Staue führen und ließ das Gespenst auf sie los. Und so wütend war das Gespenst, daß es diese Färse in lauter kleine Stücke zerriß. Dadurch aber hatte es sich selbst geschwächt, und Arnthor konnte es jetzt in eine kleine Grube im nördlichen Teil des Grasgartens von Hagi bringen. Dort soll er einen großen Pfahl eingeschlagen und das Gespenst dran festgebunden haben, und dieser Pfahl habe bis jetzt im Grasgarten zu Hagi gestanden. Das Gespenst aber habe von da ab keinen Schaden mehr anrichten können.


Johanna

Es lebte einmal ein König mit seiner Königin in seinem Reiche. Sie hatten nur eine einzige Tochter namens Johanna. Die war so schön und gut, daß nirgends ihresgleichen gefunden wurde. Nicht weit davon wohnte ein armer Häusler in seiner Hütte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen. Dieser Häusler hieß Hörd. Die Königstochter spielte, solange sie klein war oft mit den Knaben. Der ältere hieß Lettfeti und war genauso alt wie die Königstochter, der jüngere hieß Snarfari und war nur ein Jahr jünger. Der ältere der Brüder glich durchaus seinem Vater, war wie dieser groß und häßlich und von so böser Gemütsart, daß die meisten Leute nicht gern etwas mit ihm zu schaffen hatten. Aber der jüngere war schön und freundlich, gerade wie seine Mutter, die einst wegen ihrer Schönheit weit und breit berühmt gewesen war. Als Johanna zwölf Jahre alt und eine schöne blühende Jungfrau geworden war, wurde der König sehr schwer krank. Frau und Tochter



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saßen Tag und Nacht an seinem Bette, aber seine Krankheit wurde nur immer noch schlimmer. Da schickte die Königin ihre Tochter zu Hörd, ob er nicht noch eine Hilfe wisse. Als nun Johanna zu der Hütte kam, ward sie unfreundlich empfangen. Aber schließlich bestellte er sie auf den andern Morgen wieder und versprach, sich bis dahin nach einem Mittel umzutun.

Als das Mädchen nun am andern Tage wiederkam, schickte der Häusler es an den See, der an der einen Seite der Königshalle sich entlang zog. Hier sollte sie sich in ein Boot setzen, das am Ufer lag, und es loslösen. Es würde dann von selbst mit ihr zu einer Insel fahren, wo ein heilkundiger Zwerg wohne. Wenn dieser verspräche, ihren Vater zu retten, sei alles gewonnen.

Johanna machte nun alles, wie es ihr der Alte gewiesen hatte. Sie ging zu dem See, machte das Boot los, und sogleich fuhr es mit ihr bis zu der Insel. Wie sie nun zu dem Zwerge kam, ward sie auch von diesem sehr unfreundlich empfangen. Er sagte, ihr Vater hätte ihn dereinst aus seiner Wohnung unter den waldbewachsenen Felsen verjagt und seitdem müsse er auf dieser einsamen Insel wohnen. Jetzt habe er gewiß keine Lust, dem König auch noch das Leben zu retten. Damit ging er davon.

Da blieb denn Johanna ratlos und verlassen stehen, setzte sich schließlich an einen Bach und weinte bitterlich. Es dauerte nicht lange, so kam ein kleines Mädchen, um Wasser zu holen, und auch sie war in Tränen. Johanna fragte sie mitleidig, was ihr denn fehle. Da erzählte die Kleine, sie habe ein Messer und einen Gürtel verloren, die sie von ihrer Mutter geliehen bekommen hätte. Da schenkte ihr Johanna sogleich ihr eigenes Messer und ihren eigenen Gürtel, und das waren beide große Kostbarkeiten. Da war das Mädchen überaus erfreut und lief mit den Dingen davon.

Nach einer kleinen Weile kam eine Frau zu Johanna und dankte ihr für die Gaben, die sie ihrem Kinde geschenkt habe. Sie selbst könne ihr zwar nichts zum Entgelt dafür geben, aber wenn der Zwerg, ihr Mann, heimkäme, so sollte sie schon ihren Lohn empfangen. Johanna ging nun mit der Frau in ihr Haus. Die Frau gab ihr Speise, so gut sie nur konnte, und Johanna schlief in der Nacht mit der Tochter in der gleichen Stube. Aber sie konnte erst gegen Morgen in Schlaf kommen. Da war es ihr im Traum, als ob ein furchtbarer Unhold versuchte, sich neben sie zu legen. Sie wehrte sich mit allen Kräften gegen ihn, und wie



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er sie nicht besiegen konnte, ward er wütend und verfluchte sie. Am Tage sollte sie zum scheußlichsten Ungeheuer werden und in jeder Nacht solle ein riesiger zottiger Hund bei ihr schlafen und ihr keine Ruhe lassen.

Als Johanna endlich erwachte, war der Zwerg inzwischen heimgekommen und gab ihr ein Mittel, das ihren Vater vom Tode erretten konnte. Zugleich sagte er ihr aber auch, daß er den Fluch nicht aufzuheben vermöge, den im Traume der Unhold über sie ausgesprochen habe. Der einzige, der ihr vielleicht helfen könne, sei Hörd. Der Zwerg gab ihr Geld und sagte, dies solle sie dem Hörd von ihm bringen, dann würde er wohl williger werden, denn er sei ja sein Pflegesohn. Wenn sie aber einmal in großer Not sei, so solle sie seinen Namen rufen, dann würde er ihr zu Hilfe kommen.

Johanna dankte dem Zwerg für seine Wohltaten und eilte nach Hause. Sie gaben nun dem König das Heilmittel, und er wurde wieder frisch und gesund. Aber über den Fluch, der ihre Tochter betroffen hatte, waren der König und die Königin todunglücklich, und Johanna ging selbst zu Hörd, um ihn um Rettung zu bitten. Der Alte versprach auch zu tun, was er könne. Aber er sagte, daß er nur wenig Hoffnung habe, denn der Riese, der sie verzaubert habe, sei der schlimmste Unhold weit und breit.

Nun verging einige Zeit. Die Königstochter war verschwunden, und an ihrer Stelle lebte ein fürchterliches Ungeheuer im Schlosse. Da ließ der König im ganzen Lande bekanntmachen, daß derjenige, der seine Tochter vom Zauber erlösen könne, sie heiraten solle. Als Hörd das hörte, sagte er zu seinen Söhnen: »Nun ist es an der Zeit, seine Manneskraft zu zeigen!«

Da erklärte der jüngere Sohn Snarfari sogleich, daß er sich aufmachen wolle, um das Mädchen zu befreien. Der Alte wollte lieber den älteren Sohn hinziehen lassen, schließlich aber willigte er ein unter der Bedingung, daß er nach drei Tagen den Lettfeti senden würde, wenn Snarfari bis dahin nicht zurückgekehrt sei. Hörd schickte nun seinen Sohn zuerst zu seinem Bruder Halfdan, der draußen tief im Wald wohnte. Als Wahrzeichen gab er ihm einen Ring mit und ließ ihn bitten, dem Snarfan mit allen Kräften beizustehen. Halfdan nahm den Neffen freundlich auf, riet ihm aber auch dringend von dem Vorhaben ab. Aber der Jüngling ließ sich nicht zurückhalten, und so schickte ihn Halfdan zu dem dritten Bruder Ulf, der wieder um eine Tagereise weiter draußen



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im Walde wohnte. Dieser Oheim gab sich wiederum zuerst alle Mühe, den Neffen von dem Wagestück zurückzuhalten, aber als das vergebens war, entließ er ihn am andern Morgen mit genauen Anweisungen, wie er sich zu verhalten habe. Es seien im ganzen sieben Riesen, ein altes Weib mit vier Töchtern und zwei Söhnen, mit denen er zu kämpfen haben werde. Der älteste Sohn habe sich der Königstochter bemächtigen wollen, um sie zu heiraten. Aber er habe sich nicht ins Haus des Zwerges hineinwagen können und darum habe er aus Rache den schweren Fluch auf Johanna gelegt.

Snarfari machte sich nun auf den Weg nach den Weisungen Ulfs und kam zu der Höhle, als die Riesen gerade fort waren, um sich am Bache zu waschen. Er versteckte sich in ein Erdhaus, das sich unter dem Bette der Alten befand. Hier ward er auch nicht von ihr gefunden, obwohl sie bei der Rückkehr sogleich roch, daß ein Mensch da sein müsse. Endlich gegen Sonnenaufgang schliefen die Riesen ein, da zündete Snarfari vor der Höhle einen großen Scheiterhaufen an, um sie drinnen zu ersticken.

Aber durch Ungeschicklichkeit machte er Lärm, die Riesen erwachten alle, und die Alte stürzte sich sogleich auf ihn, während die übrigen das Feuer löschten. Snarfari ward in eine schwere Eisenkiste gesteckt und sollte beim nächsten Festmahl verspeist werden.

Als nach drei Tagen Snarfari nicht heimgekehrt war, sandte Hörd den Lettfeti aus. Auch dieser kam zu den Oheimen Halfdan und Ulf, ward von ihnen freundlich aufgenommen und erhielt die genauen Anweisungen nebst dem Versprechen, daß sie ihm zu Hilfe kommen würden, sowie er ihren Namen riefe. Als Lettfeti zur Höhle kam, waren die Riesen wieder am Bache, um sich zu waschen. Er befreite seinen Bruder und legte fünf Haarkämme, die Ulf ihm gegeben hatte, in die fünf äußersten Betten, in denen die vier Töchter und der jüngste Sohn zu schlafen pflegten. Dann versteckte er sich mit Snarfari im Erdhaus. Als die Riesen heimkamen, roch die Alte sogleich, daß ein Mensch da sein müsse. Sie eilte mit ihrem ältesten Sohne ins Erdhaus, und während die Brüder mit ihnen kämpften, riefen sie gegen die andern Unholde ihre Oheime zu Hilfe. Halfdan und Ulf kamen. Ulf hatte ein Zauberschwert, das noch von Hartschädel dem Feueralten herstammte. Mit diesem Schwerte konnte der älteste Sohn der Riesin getötet werden. An der Alten aber glitten alle Schwerter ab, so daß dem Lettfeti nichts anderes übrigblieb, als ihren Kopf an dem Felsen zu zerschmettern. Dann



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verbrannten sie die Leichen der erschlagenen Riesen und nahmen alle Schätze aus der Höhle mit sich.

Eine von den Töchtern aber war während des Kampfes entflohen und eilte zur Königshalle, um sich an Johanna zu rächen. Von Johanna aber war gerade mit dem Tode der Alten der schreckliche Fluch gewichen, und es herrschte große Freude in der Königshalle. Da kam die furchtbare Unholdin herein und ging schnurstracks auf Johanna los. Johanna rief in ihrer Angst den Zwerg, und sogleich stand er vor ihr. Er warf der Riesin ein Sandpulver in die Augen, so daß sie heulend aus der Halle entfloh und sich in den See stürzte. Nun kamen auch die Brüder herbei, es ward ein großes Freudenfest gefeiert, und Lettfeti erhielt zum Lohne die Königstochter.


Asmund und Signy

Es herrschte einmal ein König in seinem Reiche. Er hatte mit seiner Frau zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hieß Asmund und die Tochter Signy. Sie waren vielversprechend, da sie alle Fertigkeiten, die bei Hofe damals verlangt wurden, leicht beherrschten, und wuchsen daheim bei ihren Eltern auf, die ihnen all ihre Wünsche gern erfüllten.

So schenkte der König seinem Sohn zwei Eichen aus dem Walde. Asmund höhlte sie zum Zeitvertreib aus und richtete in ihren Stämmen verschiedene Zimmer ein. Signy ging oft mit ihm hinaus in den Wald und wollte sie gerne mit ihrem Bruder zusammen haben. Asmund kam gerne ihrem Wunsche nach, und sie trug ihre Edelsteine und Kostbarkeiten, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, dorthin und barg sie in den Eichbäumen.

Da mußte der Vater in den Krieg, und als er fort war, wurde die Königin krank und starb. Die Kinder gingen in den Wald hinaus und setzten sich in ihre Eichbäume, nachdem sie sich für ein ganzes Jahr Nahrungsmittel hinausgeschafft hatten.

In einem andern Lande herrschte ein König; dessen Sohn hieß Ring. Er hatte gehört, wie schön Signy sei, und wollte um sie freien. Er bekam von seinem Vater ein Schiff zur Fahrt dahin, und bei gutem Fahrwind kam er in das Land, wo Signy wohnte.

Auf dem Weg zur Königshalle traf er ein Weib, das war so schön, wie er nie vorher eines gesehen zu haben glaubte. Er fragte, wer sie sei. Und



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als sie sagte: »Signy, die Königstochter«, da fragte er sie, warum sie denn so allein hier wandere. Da sagte sie, sie tue es aus Kummer um den Tod ihrer Mutter und auch, weil ihr Vater nicht zu Hause sei. Der Königssohn erzählte ihr nun, daß er ihretwegen gekommen sei, er wolle um sie freien. Da nahm sie seine Werbung freundlich auf, bat ihn aber, zum Schiff zu gehen, da sie noch weit in den Wald hineingehen wollte.

Sie ging nun dahin, wo die beiden Eichen standen, riß sie mit den Wurzeln aus, nahm eine auf den Rücken, die andere über die Brust, trug sie so zur See und watete hinaus mit ihnen bis zum Schiffe. Dann nahm sie ihre schöne Gestalt wieder an, die sie vorher gehabt hatte, und erzählte dem Königssohn, ihr Gut sei nun an Bord gekommen, anderes habe sie nicht.

Daraufhin segelte der Königssohn wieder heimwärts, wo ihn seine Eltern und seine Schwester voll Freuden empfingen. Er gab Signy eine schöne Wohnung und ließ die beiden Eichbäume vor ihren Fenstern in die Erde graben.

Nach einem halben Monat kam der Königssohn zu Signy mit der Kunde, daß er in vierzehn Tagen mit ihr Hochzeit feiern wolle. Dann gab er ihr kostbare Stoffe, damit sie bis dahin für sich und für ihn die Brautkleider machen solle.

Kaum war der Königssohn fort, als sie voll Wut den Kleiderstoff auf den Boden schleuderte, zornig einherfuhr und eine andere Gestalt annahm und sich in das schlimmste Riesenweib verwandelte.

Sie sagte, sie wisse doch nicht, was sie mit solchem Putz da anfangen solle, sie habe sich doch nie auf etwas anderes verstanden als Menschenfleisch zu essen und Pferdeknochen zu zerbrechen. Sie stöhnte, schlug Lärm und schrie vor Hunger, weil ihr Bruder Eisenschädel nicht käme, wie er's doch versprochen habe.

Da öffneten sich drei Bretter im Fußboden ihres Zimmers, und ein Riese kam heraus mit einer riesengroßen Kiste im Arm. Sie erbrachen die Kiste, sie war voll von Menschenleibern. Sie fraßen beide mit großer Gefräßigkeit, und dann verschwand der Riese genauso wie er gekommen war, und man konnte keine Spur von ihm mehr entdecken. Als das Weib sich aber gesetzt hatte, zerrte sie an dem Stoffe und wollte ihn zerreißen.

Die Königskinder, die in den Eichen drin saßen, konnten von dort aus alles sehen, was da in der Wohnung der Königstochter vorging. Da bat



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Asmund seine Schwester Signy, sie möge herausgehen und den Kleiderstoff wegnehmen, damit sie nicht Tag und Nacht sich dies furchtbare Gebaren mit ansehen müßten.

Signy tat das; sie machte die Kleider in sechs Tagen, so gut sie eben konnte, ging dann wieder aus ihrem Eichbaum heraus und warf sie zur großen Freude des Riesenweibes auf den Tisch. Als dann der Königssohn kam und die Kleider holte, bewunderte er sie, wie geschickt sie sie gemacht habe, und sie freuten sich in großer Herzlichkeit.

Nun benahm sie sich wieder so wie vorher, bis Eisenschädel kam. Als Asmund wiederum dies wilde Gebaren bemerkte, ging er zum Königssohn und bat ihn, mitzukommen und sich etwas anzusehen, was sich in der Wohnung der Königstochter, die hergekommen sei, abspiele. Der Königssohn hörte voll Staunen die Erzählung über seine Braut. Er ging mit Asmund dahin und versteckte sich hinter dem Getäfel, denn von dort konnten sie durch eine kleine Öffnung ins Zimmer der Braut sehen. Sie raste genau wie vorher und sagte zu Eisenschädel:

»Wenn ich mit dem Königssohn verheiratet bin, dann wird es mir wohl besser gehen als jetzt, dann will ich die ganze Gesellschaft drinnen in der Halle erschlagen und mit meinesgleichen herkommen; dann werden sich wohl die Riesen freuen über mich und meinen Mann.«

Als der Königssohn das hörte, wurde er so zornig, daß er Feuer an die Wohnung legte und sie samt allem, was darinnen war, verbrannte. Asmund erzählte ihm nun von den Eichbäumen. Der Königssohn war erstaunt über die Schönheit der Signy wie über alles, was sich in den Bäumen befand. Er freite dann um die rechte Signy. Asmund aber freite um Rings Schwester, und bald wurde eine Doppelhochzeit gefeiert. Asmund zog dann heim zu seinem Vater. Später erbten Asmund und Ring die Reiche ihrer Väter und herrschten dort bis in ihr hohes Alter. Und damit ist das Märchen aus.


Der starke Grettir und der Wiedergänger Glam

Ein Mann hieß Thorhall, der wohnte auf Thorhalisstatt im Schattental; das liegt im obern Seetal. Thorhall hatte eine Frau, die Gudrun hieß; sein Sohn hieß Grim und seine Tochter Thurid. Sie waren beide schon aus den Kinderschuhen heraus. Thorhall war ein reicher Mann, besonders an Vieh, und es hatte dort kein anderer Mann soviel Vieh wie er.



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Häuptling war er nicht, aber ein rechtschaffener Bauer. Es spukte aber dort, und er bekam nur schwer einen Schafhirten, der ihm brauchbar erschien. Er fragte viele kluge Leute um Rat, was er machen solle, aber keiner wußte ein nützliches Mittel. Thorhall ritt jeden Sommer zum Thing. Er besaß gute Pferde. Nun geschah es einmal sommers auf dem Altthing, daß Thorhall nach der Hütte des Gesetzessprechers Skapti Thoroddsson ging. Skapti war der klügste der Männer und sehr ratskundig, wenn man ihn darum anging. Skapti empfing den Thorhall freundlich, denn er wußte, daß er ein reicher Mann war, und fragte ihn, was es sonst wohl gäbe. Thorhall sprach: »Um einen guten Rat möchte ich dich bitten.« —»Dabei komme ich wenig in Betracht«, sagte Skapti, »aber worum handelt es sich denn?« Thorhall sprach: »Die Sache ist die, daß es mir schwerfällt, einen Schafhirten zu bekommen. Sie erleiden sehr leicht Schaden, und einige verlassen vor Ablauf ihrer Zeit meinen Dienst. Es will keiner zugreifen, der da weiß, was los ist.«Skapti antwortete: »Da wird ein böser Geist im Spiele sein, wenn die Leute dein Vieh weniger gern hüten wollen als das anderer Männer. Weil du aber bei mir Rat gesucht hast, will ich dir einen Schafhirten verschaffen, der Glam heißt, stammt aus Sylgstal in Schweden und kam vorigen Sommer hierher, groß und stark, aber nicht sehr beliebt bei den Leuten.« Thorhall sagte, darauf gäbe er nichts, wenn er nur das Vieh gut hüte. Skapti sagte, er dürfe schwerlich einen anderen zu finden hoffen, wenn selbst diesem Kraft und Mut fehlen sollten, die Schafe zu hüten. Thorhall ging fort, und dies fand statt gegen Thingschluß.

Dem Thorhall waren zwei Falben weggekommen, und er machte sich selbst auf, sie zu suchen; daraus entnahmen die Leute, daß er kein großer Herr war. Er ging am Sledhügel hin, südlich des Bergzuges Armannsfell. Da sah er, wie ein Mann aus dem Godenwalde herkam und Reisig auf einem Pferde führte. Kurz darauf trafen sie zusammen. Thorhall fragte ihn nach dem Namen, und er nannte sich Glam. Er war groß an Wuchs und wunderlich von Aussehen, mit großen grauen Augen und wolfsgrau von Haar. Dem Thorhall wurde etwas seltsam zumute, wie er den Mann erblickte. Aber er merkte doch, daß es der war, an den man ihn gewiesen hatte.

»Welche Arbeit ist dir die liebste?«fragte Thorhall. Glam sagte, es sei sein Geschäft, im Winter Schafe zu hüten. »Willst du meine Schafe hüten?« fragte Thorhall; »Skapti hat dich mir übergeben.« — »Ich werde dir nur dann dienen, wenn ich mein eigener Herr sein kann, denn ich



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bin schwer umgänglich, wenn mir was nicht paßt«, sagte Glam. »Das macht mir nichts aus«, sagte Thorhall, »und ich will, daß du zu mir kommst.« —»Meinetwegen«, sagte Glam, »sind denn Schwierigkeiten dabei?« — »Es spukt wohl etwas«, sagte Thorhall. »Vor Gespenstern fürcht' ich mich nicht«, sagte Glam, »und dann wird's auch wenigstens nicht langweilig da.« —»Spaß beiseite«, sagte Thorhall; »aber es trifft sich gut, daß du kein zu kleiner Knirps bist.«

Dann schlossen sie den Handel ab, und Glam wollte zu Anfang des Winters kommen. Hierauf trennten sie sich, und Thorhall fand seine Pferde, die er soeben noch gesucht hatte. Thorhall ritt heim und dankte dem Skapti für seinen guten Dienst. Dann verging der Sommer, ohne daß Thorhall etwas von dem Schafhirten hörte oder irgendeiner was von ihm erfuhr. Aber zur ausgemachten Zeit kam er nach Thorhallstatt. Der Bauer nahm ihn gut auf, aber allen andern gefiel er nicht, am wenigsten der Hausfrau. Er besorgte die Schafhut und hatte wenig Arbeit damit. Seine Stimme war tief und laut, und alles Vieh lief zusammen, wenn er es rief. Es war eine Kirche in Thorhallstatt, aber Glam wollte nicht hineingehen. Er machte sich nichts aus dem Gottesdienst, war ungläubig, eigensinnig und unfreundlich, und niemand mochte ihn leiden.

Nun ging die Zeit hin bis zum Weihnachtsabend; da stand Glam früh auf und verlangte sein Essen. Die Hausfrau sagte: »Das ist nicht Sitte der Christenheit, an diesem Tage zu essen, denn morgen ist der erste Weihnachtsfeiertag, darum muß man heute fasten!« Er antwortete: »Ihr habt viel Aberglauben, der zu nichts taugt. Ich sehe nicht, daß es den Leuten jetzt viel besser geht als damals, wo sie sich nicht darum kümmerten. Mir schien's damals besser, als die Leute noch Heiden hießen; ich will mein Essen und keine ungerechte Behandlung!« Die Hausfrau sprach: »Ich weiß genau, daß es dir übel bekommen wird heute, wenn du so etwas Schlechtes tust.«Aber Glam bat sie, ihm sofort sein Essen zu geben, sonst solle es ihr noch schlechter ergehen. Da wagte sie nicht, ihm zu wider zu handeln, und als er gegessen hatte, ging er hinaus, und sein Atem roch unrein.

Das Wetter war ganz dunkel geworden, es schneite vom Himmel herab, Sturm toste, und es wurde immer noch schlechter bis zum Abend. Anfangs hörten die Leute den Schafhirten noch, aber später dann kaum mehr. Der Schnee fiel, und gegen Abend erhob sich ein Unwetter. Die Leute gingen zur Messe, der Tag ging zu Ende und



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Glam kam nicht heim. Man sprach nun darüber, ob man ihn nicht suchen solle, aber weil eine solche Finsternis herrschte, als ob es Neumond wär, so wurde nichts aus dem Suchen. Er kam die ganze Julnacht nicht heim, und die Leute warteten die Messe ab. Als es vollständig Tag geworden war, gingen sie auf die Suche und fanden das Vieh in den Vennen, vom Unwetter stark mitgenommen oder hinauf in die Berge gelaufen. Dann trafen sie auf eine Spur weiter oben im Tal. Es kam ihnen so vor, als habe da ein mächtiger Ringkampf stattgefunden, denn Steingeröll und Erde waren weithin aufgewühlt. Sie suchten genauer und sahen, wo Glam lag, ein wenig seitwärts von ihnen. Er war tot und schwarz wie Hel und dick wie ein Ochse. Es ergriff sie ein großer Ekel, und es grauste sie vor ihm sehr. Dennoch versuchten sie ihn in die Kirche zu tragen, aber sie kamen nicht weiter mit ihm als bis zum Rand einer Schlucht etwas weiter abwärts. Dann gingen sie heim und sagten dem Bauern die ganze Geschichte. Er fragte, was den Glam wohl umgebracht haben könnte. Sie sagten, sie hätten da eine Spur bemerkt so groß, als ob man den Boden eines Fasses dort niedergestoßen habe, von wo nur die Spur sichtbar war, bis hinauf zu den Bergen ganz oben im Tal, und große Blutflecken immer die Spur entlang. Daraus schlossen sie, daß das Gespenst, das schon früher dagewesen war, den Glam umgebracht haben müsse, daß es dabei selber auch einige Wunden erhalten habe, von denen es wohl genug gehabt hätte, denn seit jener Zeit wurde das Gespenst nie wieder gesehen.

Am zweiten Weihnachtstag versuchte man es von neuem, den Glam zur Kirche zu bringen.

Es wurden Pferde vorgespannt, die aber brachten ihn nicht von der Stelle, sobald das Gelände eben war und es nicht einen Abhang hinunter ging. So kehrten sie unverrichteter Dinge heim. Am dritten Tag ging ein Priester mit ihnen, sie suchten den ganzen Tag und fanden den Glam nicht. Da wollte der Priester nicht länger mitgehen, aber es fand sich der Schafhirt, sobald der Priester nicht mehr dabei war. Da gaben sie es auf, ihn nach der Kirche zu bringen, warfen Steine über ihn, wo er gerade lag. Nicht lange danach merkten die Leute, daß Glam anfing umzugehen. Das brachte ihnen großen Schaden, denn manche fielen in Ohnmacht, wenn sie ihn sahen, und andere verloren den Verstand. Kurz nach Weihnachten glaubten ihn die Leute daheim auf dem Hofe zu sehen. Da erschraken die Leute mächtig und viele machten sich davon. Dann begann Glam nachts auf den Häusern zu reiten, daß davon



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Dächer fast zerstört wurden. Nun spukte es bei Nacht und Tag. Die Leute wagten es kaum noch, ins Tal hinaufzukommen, auch wenn sie da ihre Geschäfte hatten. Das erschien allen Leuten im Bezirke ein sehr großes Übel.

Im Frühling nahm sich Thorhall ein neues Gesinde und stellte seinen Hof wieder her. Nun erschien der Wiedergänger weniger, solange die Sonne hoch stand. So ging es bis zum Mittsommer. Da fuhr ein Schiff in das Hunavatn, und darauf war ein Mann, der Thorgaut hieß. Er war im Ausland geboren, groß und stark; er hatte die Kraft zweier Männer, war ledig und allein für sich und wollte in Dienst gehen, denn er war mittellos. Thorhall ritt zu dem Schiff hin, traf Thorgaut und fragte ihn, ob er ihm dienen wolle. Thorgaut hatte nichts dawider und keine besondern Wünsche.

»Du mußt nämlich damit rechnen«, sagte Thorhall, »daß das kein Geschäft für Feiglinge ist wegen der Wiedergänger, die dort umgehen, und ich will dich nicht etwa betrügen.« Thorgaut antwortete: »Ich werde mich wohl nicht sogleich aufgeben, auch wenn ich da ein paar Gespensterchen sehe; das muß schon toll hergehen, ehe ich mich fürchte, und deswegen werde ich mir keine andere Dienststelle suchen.« Sie wurden handelseinig, und Thorgaut sollte im Winter die Schafe hüten.

Der Sommer verstrich, Thorgaut übernahm das Vieh zu Wintersanfang. Allen gefiel er gut. Regelmäßig kam der Glam und ritt auf dem Hause. Das schien dem Thorgaut absonderlich und er sagte: »Der Knecht müßte doch noch etwas näher kommen, ehe ich mich fürchte.« Thorhall bat ihn, kein Aufhebens davon zu machen: »Am besten ist es, daß ihr euch nicht aneinander versucht.«Thorgaut sagte: »Mit eurer Courage ist's nicht weit her; ich falle nicht so leicht um, wenn man in der Dämmerung davon schwätzt.« So verstrich der Winter bis zur Julzeit, und am Heiligen Abend machte sich der Schafhirt auf zu dem Vieh. Da sprach die Hausfrau: »Nun wär's gut, wenn's nicht so ging wie letztes Mal.« Er antwortete: »Hab' nur keine Angst, Hausfrau, es müßte schon was Nennenswertes geschehen, wenn ich nicht wiederkomme.« Dann eben ging er zu seinem Vieh. Das Wetter war kalt und es schneite tüchtig.

Thorgaut kam gewöhnlich heim, wenn es halbdunkel war. Heut aber blieb er aus. Die Kirchgänger kamen wie gewöhnlich. Den Leuten kam es so vor wie das letztemal. Der Bauer wollte nach dem Schafhirten suchen



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lassen, aber die Kirchgänger machten Ausflüchte und sagten, sie trauten sich nicht hinaus zu den Trollen in der Nacht, und der Bauer getraute sich selber nicht; so unterblieb die Suche. Am Weihnachtstag, als die Leute gegessen hatten, machten sie sich auf, nach dem Schafhirten zu suchen. Sie gingen zuerst zum Steinhaufen Glams, denn sie glaubten, daß er am Verschwinden des Schafhirten schuld habe. Als sie dem Steinhaufen näher kamen, erblickten sie in der Tat ein großes Ereignis. Sie fanden den Schafhirten, ihm war der Hals gebrochen und jeder Knochen im Leib entzwei. Sie brachten ihn zur Kirche, und es geschah keinem ein Leid durch Thorgaut. Glam aber spukte von neuem und noch mehr. Er trieb es so schlimm, daß die Leute sich alle davonmachten von Thorhallstatt, außer dem Bauern und seiner Hausfrau.

Sie hatten lange Zeit ein und denselben Rinderhirt gehabt, und Thorhall wollte ihn nicht gern loslassen, weil er so gut und tüchtig war. Er war schon recht alt, und es fiel ihm nicht leicht, wegzugehen; er sah auch, daß alles zugrunde ging, was der Bauer besaß, wenn niemand sich darum kümmerte. Und einmal nach Mittwinter geschah es eines Morgens, daß die Hausfrau nach dem Stall ging, um wie immer die Kühe zu melken. Es war schon ganz hell, denn keiner wagte sich früher hinaus außer dem Rinderhirt. Er ging schon hinaus, sobald es tagte. Sie hörte einen großen Lärm im Stall und ein fürchterliches Brüllen. Schreiend lief sie zurück und sagte, sie wisse nicht, was für ein schreckliches Ereignis im Stalle vor sich gehe. Der Bauer ging hinaus, kam zu den Kühen, und sie stießen einander. Das schien ihm nicht gut, und er ging in die Scheune. Da sah er den Rinderhirten liegen, den Kopf in dem einen Stand, die Füße in dem andern; er lag auf dem Rücken. Der Bauer ging zu ihm, fühlte ihn an und fand bald, daß er tot und sein Rückgrat entzwei war. Es war ihm auf dem Stein zwischen den Ständen zerbrochen worden. Nun wurde es auch für den Bauern unerträglich, dortzubleiben, und er verließ das Gehöft mit allem, was er fortschaffen konnte. Aber alles Vieh, was zurückblieb, brachte Glam um. Danach fuhr er das ganze Tal entlang und verödete alle Gehöfte oberhalb Tunga. Thorhall war bei seinen Freunden den Rest des Winters. Keiner konnte mehr mit Pferd oder Rind das Tal hinaufziehen, denn sie wurden sofort umgebracht. Aber als es Frühling wurde und die Sonne sehr hoch stand, ließ es etwas nach mit der Wiedergängerei. Da wollte Thorhall wieder zu seinem Grund und Boden zurück. Er konnte nur schwer Gesinde bekommen, und doch wollte er wieder in Thorhallstatt wohnen.



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Es ging alles wie zuvor, sobald es Herbst wurde, nahm der Spuk wieder zu. Am meisten wurde die Tochter des Bauern heimgesucht, und es kam dahin, daß sie davon starb. Viele Ratschläge wurden gesucht, aber alles umsonst. Die Leute glaubten schon, daß das ganze Seetal veröden würde, falls man kein wirksames Mittel finden könne.

Nun wird erzählt, daß zu jener Zeit, als die Leute von nichts so viel redeten wie von den Wiedergängereien Glams, der starke Grettir nach dem Seetal kam zum Besuche seines Oheims Jökul. Grettir fragte genau nach allem, was sich ereignet hatte. Jökul sagte, es wäre nichts an dem Gerede übertrieben worden: »Aber lockt es dich denn, lieber Neffe, dahin zu gehen?« —»Allerdings«, sagte Grettir. Jökul bat ihn, es nicht zu tun: »Denn es ist ein großes Wagestück, und deine Verwandten setzen viel dabei aufs Spiel mit einem Manne wie du als Einsatz«, sagte er. »Es scheint uns keiner von den jungen Leuten dir gleich zu sein. Böses holt man sich bei Bösen, wie Glam einer ist. Viel besser ist's, mit Menschen anzubinden als mit solchen Unholden.«

Grettir sagte, es locke ihn dennoch nach Thorhallstatt zu gehen und zu sehen, wie es dort aussähe. Jökul sprach: »Ich sehe wohl, daß es nichts nützt, dich zurückzuhalten; aber wahr ist, was gesagt wird: daß Glück und Tüchtigkeit nicht dasselbe sind.« — »Bei dem einen steht das Unglück vor der Tür, bei dem andern ist es schon drinnen, und denk du lieber an dich, wie's dir selber zuletzt noch gehen wird«, sagte Grettir. Jökul antwortete: »Vielleicht schauen wir beide ein wenig in die Zukunft; aber ändern können wir nichts.« Dann trennten sie sich, und keinem von beiden gefiel die Prophezeiung des andern.

Grettir ritt nach Thorhallstatt, und der Bauer nahm ihn wohl auf. Er fragte, wohin Grettir wolle; der aber sagte, er wolle die Nacht dableiben, wenn es dem Bauern recht wäre. Thorhall sagte, daß er ihm dafür Dank wissen müsse, »aber wenigen erscheint damit ein Vorteil verbunden, hier zur Zeit zu Gast zu sein. Du wirst wohl schon davon gehört haben, was hier vor sich geht. Ich möchte nicht gern, daß dir Unheil bei mir erwächst. Aber auch wenn du selbst mit heuer Haut davonkommst, das weiß ich genau, daß du dein Pferd einbüßen wirst; denn keiner behält sein Tragtier unversehrt, der hierher kommt.«

Grettir sagte, um Pferde stünde es im allgemeinen nicht schlecht, was immer auch mit diesem hier geschehe. Thorhall war froh darüber, daß Grettir dableiben wollte, und nahm ihn mit beiden Händen auf. Grettirs Pferd wurde fest im Hause eingeschlossen. Dann gingen sie schlafen,



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und die Nacht verging, ohne daß Glam ins Haus kam. Thorhall sprach: »Dein Kommen hat Glück gebracht; denn jede Nacht war Glam gewohnt, auf dem Hause zu reiten und die Türen zu zerbrechen, wie du wohl merken kannst.«Grettir sagte: »Nun wird eins von beiden der Fall sein, daß er sich nicht länger ruhig verhält oder daß er sich mehr als nur eine Nacht entwöhnt. Ich werde noch eine zweite Nacht hier bleiben und sehen, wie's geht.« Dann gingen sie zu Grettirs Pferd, und es war ihm nichts geschehen. Dem Bauern wuchs das Vertrauen, daß nun alles gut stehe. Grettir blieb noch die zweite Nacht, und der Knecht kam nicht in die Wohnung. Dem Bauern schien alles besser zu gehen. Er ging dann nach Grettirs Perde zu sehen. Da war der Stall aufgebrochen, als der Bauer herzukam, das Pferd war zur Tür herausgezogen und ihm jeder Knochen im Leibe entzwei.

Thorhall erzählte dem Grettir, was geschehen war, und bat ihn, sich in acht zu nehmen, »denn gewiß ist der Tod, wenn du Glam erwartest!« «

Grettir antwortete: »Weniger kann ich für mein Pferd nicht verlangen, als den Burschen wenigstens mal zu sehen.« Der Bauer sagte, das wäre kein Vergnügen, ihn zu sehen, »denn er ist keinem menschlichen Wesen ähnlich; aber ich bin über jede Stunde froh, die du hier bist.«

Nun verstrich der Tag, und als die Leute schlafen gehen wollten, wollte Grettir sich nicht ausziehen und legte sich auf dem Sitze gegenüber dem Bettverschlag des Bauern nieder. Er hatte einen zottigen Pelz über sich und klemmte den einen Zipfel unten mit den Füßen fest, den andern faltete er unter dem Kopf zusammen und guckte aus dem Schlitz am Kopf hervor. Ein sehr starker Pfosten war vor dem Sitz, und er stemmte die Füße dagegen. Der ganze Türrahmen war von der Außentüre abgebrochen, aber ein Türrest war davorgebunden und ohne Sorgfalt festgemacht. Die Wand, die einst zwischen Hausflur und Schlafkammer war, war ganz zerbrochen, sowohl oberhalb wie unterhalb des Dachquerbalkens. Von den Bettsäcken war keiner an seinem Platze.

Alles sah höchst unwirtlich aus. In der Schlafstube brannte Licht die Nacht hindurch. Und als die Nacht zu einem Drittel vorüber war, hörte Grettir draußen ein großes Dröhnen. Es war da etwas aufs Haus gestiegen, ritt auf der Schlafkammer und schlug mit den Füßen, daß es in allen Balken krachte. So ging es lange Zeit, dann kam es oben vom Hause herab und ging zur Tür. Und wie die Haustür aufging, sah Grettir, daß



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der Knecht den Kopf hereinsteckte, und der schien ihm fürchterlich groß und ungeheuerlich dick zu sein. Glam ging langsam und reckte sich hoch auf, als er in die Tür kam. Er reichte bis an die Dachbalken hinauf, wandte sich der Schlafkammer zu, legte die Ellbogen auf den Querbalken und streckte den Oberkörper darüber hinein in die Schlafkammer. Von dem Bauern hörte man keinen Laut, denn dem erschien das schon schrecklich genug, was er draußen vor sich gehen hörte. Grettir lag still und rührte sich nicht. Glam sah, daß da ein Packen auf dem Sitz lag, ging hinein in den Schlafraum und griff fest nach dem Pelz. Grettir stemmte sich gegen den Pfosten, und so ging das nicht. Glam zerrte zum zweiten Mal und zwar noch fester, aber der Pelz bewegte sich nicht. Beim drittenmal griff er mit beiden Händen so fest zu, daß er den Grettir vom Platze emporzog, da rissen sie den Mantel zwischen sich mitten entzwei. Glam sah sich den Fetzen an, den er hielt, und wunderte sich baß, wer so fest ihm gegenüber zupacken könnte. Und in dem Augenblick lief Grettir ihm unter den Händen durch, faßte ihn in der Mitte und spannte seine Arme um Glams Rücken, so fest er konnte, und wollte den Glam nach rückwärts biegen. Aber der Knecht faßte Grettirs Ellbogen so fest, daß er taumelte unter dieser Gewalt. Grettir flog da nur so an den Sitzen herum. Die Pfosten gingen entzwei und alles zerbrach, was ihnen im Wege war. Glam wollte ihn hinauszerren, aber Grettir stemmte seine Füße gegen alles, was er erreichen konnte. Und doch zog ihn der Glam aus der Schlafkammer hinaus. Sie hatten da einen sehr harten Kampf, denn der Knecht wollte ihn auch aus dem Hause hinauszerren. Aber so übel auch der Kampf mit Glam drinnen war, das sah Grettir doch ein, daß es noch viel übler war, draußen mit ihm zu schaffen zu haben. Deshalb wehrte er sich mit aller Kraft dagegen, hinauszukommen.

Glam strengte sich außerordentlich an und preßte ihn an sich, als sie an die Flurtür kamen. Und als Grettir sah, daß er sich nicht mehr dagegen stemmen konnte, unternahm er gleich zwei Handlungen auf einmal: er sprang, so mächtig er konnte, dem Knecht gegen die Brust und stemmte sich mit beiden Füßen gegen einen in der Erde befestigten Stein, der bei der Türe stand. Darauf war der Knecht nicht vorbereitet, er hatte gerade sowieso schon den Grettir an sich gezogen. So schwankte er nach hinten hinüber und stürzte rückwärts aus der Tür, so daß seine Schultern oben den Querbalken der Türe mitnahmen und die Decke entzwei ging, sowohl die Sparren wie die gefrorene Rasenbedeckung.



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So fiel er rückwärts und rücklings aus dem Hause hinaus und Grettir über ihn. Heller Mondschein war draußen und kleine Wolkenstücke am Himmel, die den Mond bald bedeckten, bald freiließen. Und in dem Augenblick, wo Glam hinfiel, gab eine Wolke den Mond gerade frei, und Glam stierte mit den Augen dagegen. Da hat Grettir dann selbst gesagt, daß dies der einzige Anblick gewesen sei, der ihn jemals erschreckt habe.

Es wurde ihm so schwach von dem allen zusammen, aus Müdigkeit und weil er sah, wie Glam seine Augen schrecklich rollen ließ, daß er nicht vermochte, sein Schwert zu gebrauchen, sondern fast dalag zwischen Leben und Tod. Aber darin besaß Glam eine stärkere Zaubermacht als die meisten andern Wiedergänger, daß er noch sprechen konnte: »Du hast viel Wert darauf gelegt, Grettir, mit mir zusammenzutreffen. Aber es wird nicht wunderlich erscheinen, wenn dir kein großes Glück daraus erwächst. Und auch das muß ich dir sagen, daß du jetzt nur die Hälfte der Kraft und der Stärke besitzt, die dir bestimmt war, wenn du nicht mit mir zusammengetroffen wärst. Jetzt kann ich die Kraft nicht von dir nehmen, die du früher gehabt hast. Aber das kann ich doch bewirken, daß du niemals stärker wirst, als du jetzt bist, und du bist ja auch stark genug, daß es mancher zu seinem Schaden empfindet. Du bist berühmt geworden durch deine Taten, aber von nun an werden Achtung und Morde dein Los sein, und die meisten deiner Taten werden sich dir zu Unglück und Unheil verwandeln. Du wirst ein Achter werden und immer draußen liegen müssen einsam und allein. Und den Fluch erlege ich dir auf, daß diese meine Augen dir ständig vor den Blicken stehen, wie ich sie habe; und es wird dir schwerfallen, allein zu sein, und das wird dir wohl dein Ende bringen.«

Und wie der Knecht das gesprochen hatte, verließ die Ohnmacht den Grettir, die ihn befallen hatte. Da zog er sein Schwert, hieb dem Glam den Kopf ab und legte ihn unten ihm zu Füßen. Indem kam der Bauer heraus. Er hatte sich angezogen, während Glam seine Worte sprach, aber er hatte nicht gewagt, näher zu kommen, bevor Glam nicht getötet war. Thorhall lobte Gott und dankte Grettir sehr, daß er diesen unreinen Geist überwunden hatte. Dann machten sie sich daran und verbrannten den Glam zu kalten Kohlen, taten die Asche in einen Sack und gruben ihn ein, wo am wenigsten Schaftriften und Menschenwege waren. Dann gingen sie heim, und der Tag war heraufgekommen. Grettir legte sich nieder, denn er war ganz steif. Und so erzählt dann die



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Geschichte weiter, daß Grettir noch berühmter im ganzen Lande wurde und ihm Thorhall, als sie sich trennten, ein gutes Pferd und neue Kleider gab, denn die alten waren von dem Kampfe ganz zerrissen, daß Grettir dann davonritt, mit ihm aber eine große Veränderung vor sich ging im Laufe der Zeit, daß er immer schwermütiger wurde und die Finsternis nicht mehr ertragen konnte, weil er immer das Glamgesicht sah, und zuletzt alles so gekommen ist mit Ächtung und Tod, wie es der Wiedergänger Glam ihm geweissagt hatte.


Das weissagende Meermännlein

Einmal im Herbst fuhr ein Vater mit seinen Söhnen, Handi und Rindi geheißen, auf Fischfang, und sie fingen ein Meermännlein. Es wurde zu König Hjörleif gebracht. Der gab ihn einer seiner Gefolgsfrauen zur Verwahrung und bat sie, gut mit ihm umzugehen. Aber niemand vernahm je ein Wort von ihm. Einmal spielten die Kerzenjunker am Hofe des Königs miteinander Ringen und verlöschten dabei das Licht. In dem Augenblick benetzte die Königin Hild den kostbaren Mantel der Königin Aesa. Da schlug sie der König, aber Hild schob es auf den Hund, der in der Halle lag, und so schlug der König den Hund. Da lachte das Meermännlein. Der König fragte, warum es lache. »Ober deine Einfalt«, sagte es, »denn diese werden dir das Leben retten.« Der König fragte das Meermännlein genauer, aber es antwortete nicht mehr. Später ließ es der König an die See bringen und bat es, ihm zu sagen, was er zu wissen bedürfe. Da sprach das Meermännlein, als es fuhr zur See:

»Ich sehe etwas leuchten
südlich auf der See.
Es will der dänische König
die Tochter rächen.
Schon hat er draußen
ein Gedränge von Schiffen.
Er zwingt den Hjörleif
zum Zweikampf heraus.
Hüte dich vor Unglück,
wenn du willst hören.
Mich verlangt's nach der See.«


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***
Und als sie mit ihm dorthin ruderten, wo sie es eingefangen hatten, da sprach es:
»Eine Kunde kann ich sagen
Halogalands Söhnen,
eine wenig gute,
wollt ihr sie hören:
Her fährt von Süden
die Tochter des Sward,
mit Blut besprengt,
von Dänemark.
Sie trägt auf dem Haupte
den Helm gebunden,
Hedins schreckliches
Heerzeichen auf dem Haar.
Kurz werden die Männer
auf Krieg nur warten
hier auf der Seefahrt,
Wahres seh ich.
Der Schild wird bersten,
es schickt die Jungfrau
hierher ihren Blick
zu den Herren der Männer.
Jeder Bursche soll schwingen
Schwert und Speere,
bevor der gewaltige
Waffensturm beginnt.
Doch muß ich, wenn's wahr ist,
die Heerfahrt tadeln.
Alle haben das Jahr
zu teuer erhandelt,
wenn der Frühling kommt.«


***
Dann ließ König Hjörleif das Meermännlein über Bord. Da ergriff ihn ein Mann bei der Hand und fragte: »Was ist dem Menschen das Beste?« Das Meermännlein antwortete:


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»Kalt Wasser den Augen,
den Zähnen Walfischfleisch,
Leinwand dem Leib.
Mich laßt in die See.
Mich fängt aber
fürder bei Tage
kein Mensch in sein Schiff
vom Grunde des Meers.«

Der König gab Handi und Rindi Land zum Bebauen und Knechte und Mägde zugleich. Dann schickte König Hjörleif Pfeilbotschaft und sammelte sein Heer. Eines Nachts kam König Hreidar von Seeland mit seinem Heer und schlug einen Ring um den Hof König Hjörleifs. In dieser Nacht heulte der Hund König Hjörleifs, der niemals heulte, außer er wußte seinen Herrn in Gefahr. König Hjörleif durchbrach den Zaun von Männern und schoß dann seinen Speer zurück auf das Heer. Da hörte er, daß König Hreidars Sohn gefallen wäre. Der König sah aus dem Walde den Brand seines Hofes und die Abfahrt Hreidars mit gewaltiger Beute. Und auch darin gingen die dunklen Weissagungen des Meermännleins alle in Erfüllung, daß Hreidar seine Fahrt nicht zu seinem Glück unternommen hatte, denn König Hjörleif drang in seine Halle und durchstieß ihn, als er auf dem Hochsitz saß, ließ ihn tot an den Galgen hängen und brachte sein ganzes Reich unter sich.


Grettir und die Trollsriesin

Ein Priester hieß Stein, der wohnte auf Eyjardalsa im Bardartal. Südlich davon auf dem Hofe Sandhaug wohnte Thorstein der Weiße. Steinwör hieß seine Frau. Die war jung und fröhlich. Ihre Kinder waren damals noch jung. Es schien den Leuten dort Spuk und Trollunwesen zu sein. Zwei Winter, bevor der starke Grettir nach dem Nordlande kam, ging die Hausfrau Steinwör von Sandhaug wie gewöhnlich zur Weihnachtszeit nach Eyjardalsa, und der Bauer blieb daheim. Die Leute legten sich am Abend schlafen, aber in der Nacht hörten sie ein großes Gekrache in der Schlafkammer und beim Bett des Bauern. Keiner wagte aufzustehen und nachzusehen, denn sie waren nur gering an Zahl. Als die Hausfrau am Morgen heimkam, war der Bauer verschwunden, und



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keiner wußte, was aus ihm geworden war. So verstrichen die beiden nächsten Halbjahre, und im Winter wollte die Hausfrau wieder zur Messe fahren. Sie bat ihren Knecht, daheim zu bleiben. Er tat es nicht gern, aber er gehorchte doch. Alles geschah wie das vorige Mal, und der Knecht war verschwunden. Das schien den Leuten nun eine seltsame Sache. Dann fand man ein paar Blutspuren an der Außentür. Da glaubten die Leute zu wissen, daß jene beiden von Unholden geholt worden wären. Davon sprach man weit herum in der Gegend, und so hörte auch Grettir davon. Weil es ihm mit Spuk und Wiedergängern immer gut geglückt war, fuhr er nach dem Bardartal und kam zum Heiligen Abend nach Sandhaug. Er gab sich nicht zu erkennen und nannte sich Gest. Die Hausfrau sah, daß er ungewöhnlich groß von Wuchs war, und das Hofvolk hatte mächtige Angst vor ihm. Er bat um Nachtquartier. Die Hausfrau sagte, Essen könne er haben, »aber du tust es auf deine eigene Verantwortung!«

Er sagte, so solle es sein. »Ich werde hier bleiben«, sagte er, »geh du nur zur Messe, wenn du willst.«Sie antwortete: »Du scheinst mir kein Feigling zu sein, wenn du das wagst.« —»Mein Leben muß Abwechslung haben«, sagte er. »Übel dünkt es mich, daheim zu bleiben«, sagte sie, »aber ich komme nicht über den Fluß.« —»Dann will ich dir helfen«, sagte Grettir.

Dann machte sie sich fertig zur Messe und ihre Tochter mit ihr, die noch ganz klein war. Starkes Tauwetter war draußen, das Eis war geborsten und Eisgang auf dem Flusse. Da sprach die Hausfrau: »Es können weder Menschen noch Pferde hinüber.« Nun wird erzählt, daß Grettir Mutter und Kind auf dem Arme hindurchtrug, wie hoch das Eis in dem geschwollenen Flusse auch ging, und alle, die es hörten, sich darüber verwunderten. Die Hausfrau blieb die Nacht auf dem Pfarrhof, Grettir aber kehrte nach Sandhaug zurück. Es wurde Abend, und er verlangte zu essen. Als er gegessen hatte, bat er die Leute, tiefer in die Stube hineinzurücken. Dann nahm er Tische und lose Scheite und machte quer durch die Stube eine große Wand, so daß keiner vom Gesinde herüber konnte. Es wagte auch keiner zu widersprechen oder nur im geringsten zu murren. Die Stubentür war an der Seitenwand am Hintergiebel des Hauses, eine Bank stand gleich daneben. Dort legte er sich nieder, zog sich aber nicht aus. Licht brannte in der Stube der Tür gegenüber. So lag er in die Nacht hinein.

Um Mitternacht hörte er draußen ein starkes Dröhnen. Dann trat in



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die Stube ein riesiges Trollsweib. Sie hatte einen Trog in der einen Hand, in der andern ein reichlich großes Messer. Sie sah sich um, als sie hereintrat, sah, wo Grettir lag, und lief auf ihn los, aber er schnell in die Höhe, und sie packten sich grimmig und rangen lange miteinander in der Stube. Sie war stärker, aber er schlüpfte immer behende unten durch. Alles, was ihnen im Wege war, zerbrachen sie, selbst die Bretterverkleidung der Stubenwand. Sie zog ihn durch die Tür nach dem Flur; dort stemmte er sich mächtig entgegen. Sie wollte ihn aus dem Hause herauszerren, aber das gelang ihr nicht eher, ehe sie nicht den ganzen Türrahmen zerrissen hatten, dann trug sie ihn auf den Schultern hinaus. Sie schleppte ihn zum Flusse hinab und immer weiter zur Wasserfallschlucht. Da war Gest außerordentlich müde, aber eines von beiden mußte er tun, sich entweder wehren, oder sie würde ihn in die Schlucht hinabstürzen. Die ganze Nacht rangen sie. Niemals, glaubte er, habe er seine Kräfte mehr anstrengen müssen. So fest hielt sie ihn an sich gedrückt, daß er seine Hände zu nichts anderem gebrauchen konnte, als sie mitten um ihren Leib zu spannen. Und als sie an die Wasserschlucht gekommen waren, schüttelte er die Riesin, daß sie taumelte. Dabei bekam er seinen rechten Arm frei. Er griff schnell nach dem Schwerte, mit dem er umgürtet war, schwang es und hieb der Trollin in die Achsel, so daß sie den rechten Arm verlor. So kam er frei. Sie aber stürzte sich in die Schlucht und dann in den Wasserfall. Gest war steif und müde und blieb dort lange auf der Klippe liegen. Bei Tagesgrauen ging er heim und legte sich zu Bett. Er war ganz und gar geschwollen und blau.

Als die Hausfrau von der Messe kam, schien ihr ihre Wirtschaft übel zugerichtet. Sie ging zu Gest und fragte ihn, wie es denn käme, daß alles so zerbrochen und zerhauen sei. Er erzählte ihr die ganze Geschichte. Ihr schien das nicht unbeträchtlich, und sie fragte ihn, wer er wäre. Da sagte er ihr die Wahrheit und bat sie, den Priester zu holen, weil er ihn gern sprechen möchte. Das geschah auch, und wie der Priester Stein nach Sandhaug kam, da erfuhr er schnell, daß Grettir gekommen war unter dem Namen Gest. Der Priester fragte, was er glaubte, daß aus den Männern geworden sei, die verschwunden waren. Grettir sagte, er glaube, daß sie in der Schlucht verschwunden seien. Der Priester sagte, er könne die Sache nicht glauben, solange keine Beweise zu sehen seien. Grettir sagte, später würden sie das besser wissen. Da fuhr der Priester heim. Grettir lag viele Tage zu Bett, die Hausfrau pflegte ihn gut, und



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so verstrich die Weihnachtszeit. Das sind Grettirs eigene Worte, daß das Trolisweib sich in die Wasserschlucht stürzte, als sie die Wunde erhielt. Aber die Bardartaisleute sagen, sie sei während des Ringens vom Tag überrascht worden, sei zersprungen, als er ihr die Hand abhieb, und stünde da noch in Weibsgestalt auf dem Fels.

Nach Weihnachten ging Grettir eines Tages nach Eyjardalsa. Als er den Priester traf, sagte er: »Ich sehe, Priester, daß du wenig Zutrauen zu meinen Worten hast. Nun will ich, daß du mit mir zum Flusse gehst und zusiehst, was du davon halten sollst.« Der Priester tat so. Als sie an den Wasserfall kamen, sahen sie eine Höhle oben unter dem Berge. Es war eine steil abfallende Felswand, so groß, daß man nirgends hinaufkommen konnte, beinahe zehn Klafter von oben bis zum Wasserspiegel. Sie hatten ein Seil bei sich. Da sprach der Priester: »Es scheint mir allzu gefährlich, da herniederzusteigen.« Grettir antwortete: »Möglich ist's immerhin; am besten für einen mutigen Mann. Ich möchte gern wissen, was in dem Wasserfall ist, aber du sollst auf das Seil aufpassen!«Der Priester ließ sich's gefallen, trieb einen Pfahl in den Fels und machte ihn fest im Geröll.

Nun ist von Grettir zu erzählen, daß er einen Stein in eine Schlinge im Seil einließ und ihn hinunter ins Wasser warf. »Welches Verfahren wirst du nun anwenden?« sagte der Priester. »Ich will nicht gebunden sein«, sagte Grettir, »wenn ich in den Wasserfall komme. So rät's mir mein Herz.«

Dann machte er sich fertig für die Fahrt. Er war wenig bekleidet, umgürtete sich mit dem Schwerte und hatte sonst weiter keine Waffe. Dann sprang er von dem Uferfelsen nieder in den Wasserfall. Der Priester sah noch seine Fußsohlen und wußte dann nicht mehr, was aus ihm geworden war. Grettir tauchte unter den Wasserfall, und das war nicht leicht, denn der Wirbel war groß, und er mußte bis auf den Grund tauchen, bevor er hinauf hinter den Wasserfall kam. Dort war eine Anhöhe, auf die er hinaufgelangte. Dann kam eine große Höhle hinter dem Wasserfall, vor der das Wasser vom Berge herabstürzte. Er ging hinein in die Höhle und es brannte ein großes Feuer darin. Grettir sah, daß ein Riese darin saß, schrecklich groß und fürchterlich anzusehen. Aber als Grettir auf ihn zukam, sprang der Riese auf, griff einen Spieß und schlug nach dem Ankömmling, denn er konnte damit sowohl hauen wie stechen. Ein Holzschaft war daran, dergleichen nannten die Leute Schaftschwert. Grettir schlug mit dem Schwert nach ihm und traf



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den Schaft, daß er entzwei ging. Da wollte der Riese hinter sich nach dem Schwerte greifen, das in der Höhle lag. Indem schlug ihm Grettir vorn an der Brust fast die ganzen Brustknorpel und den Bauch ab, so daß die Eingeweide aus ihm herausstürzten hinab in den Fluß, und der Strom trieb sie oben dann weiter. Und wie der Priester beim Seil saß, sah er, daß etwelche Fasern oben ganz blutig vor dem Strom trieben. Da hielt er in der Gefahr nicht stand und glaubte zu wissen, daß Grettir tot wäre. Er lief von der Seilhalte weg und ging heim. Es war Abend geworden, und der Priester erzählte als gewiß, daß Grettir tot sei, und sagte, es wäre recht schade um einen solchen Mann.

Nun ist wieder von Grettir zu erzählen. Er hieb schnell weiter mitten hinein, bis der Riese tot war. Dann ging er noch tiefer in die Höhle. Er machte Licht und untersuchte die Höhle. Davon wird nichts gesagt, wieviel Geld er in der Höhle gefunden hat; aber die Leute glauben, daß es schon etwas war. Er hielt sich nun dort auf bis spät in die Nacht, fand die Knochen von zwei Menschen und tat sie in einen Sack. Dann verließ er die Höhle, schwamm nach dem Seil, zog daran und glaubte, der Priester würde noch da sein. Als er aber merkte, daß der Priester heimgegangen war, mußte er sich mit den Händen emporziehen und kam so hinauf auf den Fels. Es wird dann noch erzählt, wie er den Sack mit den Knochen vor der Kirchtüre niederlegte und wie er dem Priester sagte, daß er wenig sorgfältig auf das Seil geachtet habe. Es geschah aber in Zukunft kein Schaden mehr dort, und Grettir schien da eine große Landreinigung vorgenommen zu haben.


Die Geschichte vom Königssohn Hlinur


1.

Es waren einmal Mann und Frau in einer ärmlichen Hütte und König und Königin in ihrem Reich. Diese hatten einen Sohn, der Hlinur hieß, die Tochter des Mannes hieß Helga. Sie wuchsen zusammen auf und spielten miteinander und gewannen sich lieb, aber als sie einander haben wollten, wurden sie getrennt.

Nun verging die Zeit, und nichts Erzählenswertes geschah. Eines Tages aber gingen der Königssohn und seine Gefolgsmannen auf die Jagd. Der Königssohn erblickte einen Hirsch und verfolgte ihn, aber da fiel



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ein dichter Nebel, so daß seine Gefolgsmannen ihn aus den Augen verloren. Sie suchten lange, aber schließlich begaben sie sich heim ins Königreich und berichteten dem König. Der König machte sich selbst auf die Suche mit seiner ganzen Gefolgschaft, und sie bliesen die Nebelhörner, aber nichts half. Der König war von Trauer ganz überwältigt und ließ die Botschaft ausgehen, daß derjenige, der Hlinur fände, das halbe Reich bekommen solle und ihn selbst zum Manne, falls es eine Frau wäre.

Nun wendet sich die Geschichte dem Königssohn Hlinur zu, wie er sich im Nebel verirrte. Er streifte lange im Wald umher, bis er an eine Grotte kam, und da war er todmüde und fast am Verhungern. Er ging in die Grotte hinein und sah, daß sie von Riesen bewohnt war. In Trögen befand sich Essen, und davon aß er. Dann legte er sich schlafen. Als er eine gute Weile geschlafen hatte, erwachte er von einem Donnern und Dröhnen draußen, als ob die Erde berste, und die Grotte bebte. Herein trat ein großes und mächtiges Riesenweib und sagte: »Willkommen, Königssohn Hlinur.« Sie bewirtete ihn und fragte, ob er sie zur Frau nehmen wolle. Das verneinte er. Da fragte sie, ob er bei ihr schlafen wolle, aber er lehnte ab. Da wies sie ihm ein anderes Bett an. Am Morgen, ehe sie zur Jagd aufbrach, rief sie drei Schwäne und sprach:

»Singt, meine Schwäne, singt,
daß Königssohn Hlinur einschlafe.«


***
Da schlief er ein und schlief den ganzen Tag. Als aber die Riesin von der Jagd heimkam, rief sie wieder die Schwäne und sprach:
»Singt, meine Schwäne, singt,
daß Königssohn Hlinur erwache.«


***
Da wurde er wach, und sie gab ihm zu essen und fragte ihn dasselbe wie zuvor, aber er sagte nein. Dennoch hatte er dort ein gutes Leben, und die Riesin ging mit ihm durch die ganze Grotte und zeigte ihm Gold und ihre Schätze, nur einen Raum nicht. Dorthin durfte er niemals kommen.

Nun wendet sich die Geschichte heim der Hütte zu, wo Helga sehr betrübt ist und mit ihren Eltern redet und sie um Reiseerlaubnis und um Mundvorrat und neue Schuhe bittet, um Hlinur zu suchen. Sie waren



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dagegen, aber trotz aller Einwände machte sie sich auf. Sie wandert lange bis spät in den Tag hinein, als sie an die Grotte kommt. Sie geht in den Fels hinein und findet Hlinur schlafend. Sie versucht mit allen Mitteln, ihn zu wecken, aber nichts half. Als es Abend wurde, bekam sie Angst, daß der Felsbewohner heimkommen würde, und sie fand als sicherstes Versteck, sich im Aschloch unter einem großen Topf zu verbergen. Kurz darauf hörte sie ein heftiges Donnern und Dröhnen, so daß die Grotte bebte, und pustend kam das Riesenweib hinein und warf seine Last ab und sagte mit mächtigem Schnaufen: »Pfui, puh, pfui, puh, Menschengeruch in meinem Fels.« Sie durchsuchte die ganze Grotte, aber fand nichts. Dann weckte sie Hlinur auf dieselbe Weise wie zuvor und fragte ihn dasselbe, aber er wich aus. Die Nacht verging, und am Morgen ließ das Weib Hlinur wieder in Schlaf fallen. Danach ging es fort, Helga aber kroch unter dem Topf hervor und weckte Hlinur auf dieselbe Weise, wie sie es die Riesin hatte tun hören, und dann gab es bald ein frohes Wiedersehen. Nun gab Helga Hlinur den Rat, der Riesin ein halbes Versprechen zu geben, sie zu heiraten, doch unter der Bedingung, daß er tagsüber wachbleiben und im Fels umhergehen könne. Am Abend kroch Helga wieder unter den Topf und versenkte Hlinur in Schlaf. Als das Weib heimkam, sagte Hlinur, daß er dies Leben leid geworden sei, und ließ durchblicken, daß er sie später zur Frau nehmen würde, wenn er tagsüber wachbleiben könne und die Schlüsselgewalt über den Felsen bekäme. Das bekam er, nur nicht über die Geheimkammer. Nun vergehen einige Tage, und Hlinur und Helga hatten es tagsüber gut miteinander, aber des Abends kroch Helga immer unter den Topf. Eines Abends versprach Hlinur der Riesin, daß er sie nun zur Frau nehmen würde, doch unter der Bedingung, daß er in die Geheimkammer hineinschauen dürfe. Die Riesin wurde froh darüber und führte ihn in die Kammer und zeigte ihm dort unter anderem ein Lebensei und sagte, daß sie nur sterbe, wenn ihr das Ei auf der Nase zerbräche. Da war auch ein Stein, der an einem Ende rot und am anderen blau war, und die Riesin sagte, daß er die Eigenschaft habe, einen Feuerregen hervorzurufen, wenn man auf das rote Ende schlüge, würde aber auf das blaue Ende geklopft, käme ein Steinregen. Außerdem war da ein Zaubertuch, auf dem man durch die Luft fliegen konnte; das Tuch war zweifarbig rot und blau (oder grün und blau), und je nachdem auf welche Farbe man sich setzte, flog es in die eine oder die andere Richtung. Nun kam der Hochzeitstag heran, und da


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machte sich die Riesin auf, um die Riesen zum Fest zu laden. Als Helga und Hlinur sahen, daß die Riesen sich der Grotte näherten, setzten sie sich mit dem Stein auf die Schwelle und schlugen zuerst auf das blaue Ende und dann auf das rote. Da brach ein Steinregen und ein Feuerregen los, und die Riesen brüllten, daß es hallte. Dann stürzte die Riesin mit rasender Schnelligkeit durch das Schauer, aber Hlinur hielt das Ei bereit und warf es ihr auf die Nase. Sie kam da um mit allen Riesen. Hlinur und Helga gingen in den Fels hinein und nahmen dort Gold und Schätze und legten sie auf das Tuch, setzten sich dann selbst darauf und flogen darauf heim. Als die Stadtbewohner dies Monstrum in der Luft erblickten, glaubten sie, daß das Ende der Welt gekommen sei, und sie verriegelten alle Stadttore. Hlinur und Helga ließen sich vor dem Schloßfenster auf dem Tuch herab, und als der König seinen Sohn Hlinur erblickte, wurde er froher, als sich sagen läßt, und es wurde ein großes Fest veranstaltet, und Hlinur bekam Helga zur Frau. Sie liebten sich innig und lange, und er übernahm sogleich das halbe Reich und das ganze nach dem Tod seines Vater.


II.

Es waren einmal Mann und Frau, die lebten in ihrer Hütte. In der Nähe war in einem Fels ein Riesenweib und in einem Hügel eine Elfenfrau, die ein Kind im ersten Jahr hatte. Die Eheleute in der Hütte besaßen ein Glas, in dem immer Milch war, wenn man es zum Trinken ansetzte. Das wußte die Elfenfrau, und eines Tages sprach sie die Alte darauf an, ob sie ihr nicht gegen eine Kuh, die sie besaß, das Glas überlassen wolle; ihr wäre das sehr angenehm wegen des Kindes. Die Alte meinte, für sie und ihren Mann käme das wohl auf dasselbe hinaus, und sie schließen den Handel. Die Elfenfrau schärfte der Alten ein, daß sie die Kuh nur melke, wenn ihr Mann zu Hause sei. Als abends der Mann heimkam, gab die Alte ihm reichlich Milch und berichtete ihm von dem Tausch, der zwischen ihr und der Elfenfrau abgeschlossen worden war, und von der Bestimmung, welche die Elfenfrau ihr mitgeteilt hatte. Der Mann war damit wohl zufrieden. Er brachte die Kuh in der Küchenecke unter und bat seine Frau, gut zu beachten, was die Elfe ihr auferlegt hatte.

Am nächsten Tag ging der Mann wie gewöhnlich in den Wald, um Holz



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zu hauen. Eine Zeitlang nachdem er fortgegangen war, hat die Alte ein so heftiges Verlangen nach Milch, daß sie die Kuh melkt und dann Feuer macht, um sie zu kochen. Doch kaum hat es zu rauchen begonnen, als das Riesenweib am Fenster erscheint und die Alte fragt, was sie da jetzt koche. Sie antwortete, daß sie Wasser heiß mache, um die Socken und Kleider ihres Mannes zu waschen. »Ich komme und sehe nach«, sagte das Riesenweib. Als die Riesin zur Küchentür hereinkommt, ruft die Alte: »Oh, stoß dich nicht an meiner Kuh!« Das Riesenweib fragt: »Ach, hast du eine Kuh? Die sollst du nicht länger mehr haben.«Jetzt stürzt die Riesin in die Küche hinein, und als die Alte das sieht, reißt sie den Topf vom Herd und setzt sich darauf, aber das Riesenweib stößt sie um, nimmt die Milch und trinkt; und als es sich zum Gehen wendet, bindet es die Kuh los und nimmt sie mit. Man kann sich denken, wie der Alten zu Mute war den Rest des Tages über; sie hatte Angst, daß ihr Mann unwirsch werden würde, wenn er hörte, was geschehen war. Als der Mann des Abends müde und durstig nach Hause kam, dünkte ihn die Heimkehr recht trocken, und er machte seiner Frau Vorwürfe, daß sie die Anweisungen der Elfe nicht besser befolgt habe, und befahl ihr, sie am nächsten Tag aufzusuchen und zuzusehen, etwas anderes für das Glas zu bekommen, im anderen Fall aber hätte sie es zurückzubringen.

Am nächsten Tag ging der Mann in den Wald, die Alte aber machte sich auf, die Elfenfrau aufzusuchen; sie versprach sich nicht viel davon, aber sagte sich doch, daß sie versuchen müsse, etwas herauszuschlagen. Sie gab der Alten nun ein Huhn, von dem sie sagte, daß es immer Eier legte, und schärfte ihr ein, sich nie ein Ei zu kochen, wenn ihr Mann nicht zu Hause sei, und das versprach sie.

Am Abend, als der Mann nach Hause kam, erhielt er bei seiner Frau reichlich Eier und war nun sehr zufreiden. Er brachte das Huhn in der Küche unter und ermahnte seine Frau, den Rat der Elfe nun gut zu befolgen.

Am nächsten Tag, als der Mann einige Zeit vorher fortgegangen ist in den Wald, hat die Alte ein solches Verlangen nach Eiern, daß sie nicht widerstehen kann und sich daran macht, sie zu kochen. Nach kurzer Zeit ist die Riesin schon am Fenster und fragt die Alte, was sie da jetzt koche. Sie antwortet genau wie zuvor, daß sie Wasser heiß mache, um die Socken und Kleider ihres Mannes zu waschen. »Ich komme und sehe nach«, sagt das Riesenweib.



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Als es zur Tür hereinkommt, ruft die Alte: »Oh, zerbrich mir nicht meinen Hühnerstall!« Die Riesin sagt: »Ach, hast du ein Huhn? Das sollst du nicht länger mehr haben.«Jetzt beeilt sich die Alte, den Eiertopf vom Herd zu reißen, und setzt sich darauf, aber das Riesenweib wirft sie um, ergreift die Eier und ißt sie auf. Als die Riesin geht, nimmt sie das Huhn mit.

Der Alten ist nun sehr elend zumute, und sie bereut jetzt, daß sie sich daran gemacht hat, die Eier zu kochen.

Als abends der Mann nach Hause kommt, erhält er keine Eier und fragt, was das auf sich habe, und da mußte ihm die Alte alles sagen, wie es war. Der Mann machte seiner Frau Vorwürfe, daß sie nicht halte, was sie versprochen habe, und nun habe sie die Strafe dafür, und dann befiehlt er ihr, zur Elfenfrau zu gehen und entweder das Glas wieder zurückzubringen oder etwas anderes an seiner Stelle. Am nächsten Tag geht der Mann in den Wald, und als die Alte mit der Hausarbeit fertig war, machte sie sich betrübt auf, um die Elfenfrau aufzusuchen. Die Elfe empfing sie freundlich, aber der Alten fiel es schwer, ihr Anliegen vorzubringen, denn ihr schien, was ja auch der Fall war, das Glas vielfach bezahlt zu sein. Schließlich fragte die Elfenfrau, was sie auf dem Herzen habe, und sie kam zögernd damit heraus, daß ihr Mann ihr befohlen habe, entweder das Glas wieder zurückzubringen oder etwas anderes an seiner Stelle.

Die Elfenfrau nahm das unwillig auf und sagte, das ginge nicht so weiter, daß sie das Glas wieder und wieder bezahle, aber wegen des Kindes möchte sie es auch nicht missen; außerdem sagte sie, daß sie ihr diesmal ein großes Stück Fleisch geben wolle, das nie ein Ende nähme, wenn immer ein bißchen davon übriggelassen würde. Die Alte dankt der Elfenfrau für die Gabe und macht sich froh auf den Heimweg.

Am Abend, als der Mann nach Hause kam und die Alte ihm von dem Stück Fleisch berichtet hatte, klärten sich seine Züge auf, und er schneidet nun ein Stück zum Kochen davon ab, den Rest aber hängt er in der Küche so hoch auf, daß seine Frau nicht heranreichen kann, und er sagte ihr, daß er selbst die Verfügung über das Fleisch haben wolle. Am nächsten Tag geht der Mann wie gewöhnlich in den Wald, von der Alten aber ist zu berichten, daß sie im Laufe des Tages Verlangen nach Fleisch bekommt, aber sie weiß gar nicht, wie sie darankommen soll; da kommt sie auf den Gedanken, die Vorratskiste in die Küche zu schleppen und zu versuchen, ob sie dann nicht groß genug wäre, an das



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Fleisch zu gelangen, aber sie konnte nur mit den Fingerspitzen daran rühren. Dann geht sie in die Wohnstube und holt ein Kästchen und stellt es oben auf die Kiste, und jetzt reicht sie gut heran und schneidet sich eine dicke Scheibe von dem Fleisch ab und macht sich ans Kochen. Nach einer kleinen Weile kommt die Riesin ans Fenster und fragt die Alte, was sie da jetzt koche, aber die Alte gibt keine Antwort; da verschwindet die Riesin vom Fenster und kommt in die Küche. Als die Alte sie in der Tür erblickt, ruft sie laut: »Stoß dich nicht an meinem Fleischstück!« Die Riesin sagt: »Ach, hast du ein Stück Fleisch? Das sollst du nicht länger mehr haben!« Die Alte wollte den Fleischtopf verbergen und stößt ihn ins Aschloch, aber die Riesin hatte Wind davon bekommen, sie nimmt das Fleisch aus dem Topf und ißt es auf, und als sie sich zum Gehen wendet, reckt sie sich und langt das Fleischstück oben von der Giebeldecke und nimmt es mit.

Am Abend, als der Mann nach Hause kam, fand er, daß seine Frau Übles angerichtet habe, aber er sagt dennoch wenig dazu. Am nächsten Tag ging er nicht in den Wald, sondern blieb daheim. Er holte seine Axt hervor und schärfte sie, befahl seiner Frau, aufs Feuer zu legen, setzte ein großes Eisengitter in die Küchentür und ließ seine Frau sich auf den Querbalken in der Küche setzen und setzte sich dann neben sie mit der Axt in der Hand. Seiner Frau verbot er, auch nur ein einziges Wort zu sagen, was sie auch immer höre und sehe, und das versprach sie. Nach einer kleinen Weile kommt die Riesin ans Fenster und fragt die Alte, was sie jetzt koche, und als sie keine Antwort erhält, stürzt sie in großer Hast in die Küche hinein, bleibt aber in dem Eisengitter an der Tür stecken. Da springt der Mann schnell von dem Balken herunter und haut dem Riesenweib den Kopf ab. Nun hilft er seiner Frau von dem Balken herab, und dann schaffen sie die Riesin hinaus und verbrennen sie. Darauf gehen sie zu der Elf enf rau im Hügel und berichten ihr und bitten sie, mit ihnen zu kommen, um nachzusehen, was sich Wertvolles im Fels des Riesenweibs finde.

Sie gehen nun alle drei und finden zuerst die Kuh, das Huhn und das Fleischstück und außerdem eine Menge Reichtum aller Art. Alles das teilen sie unter sich und lebten dann in Ruh und Frieden bis ins hohe Alter.



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Die Geschichte von Thorstein Stangennarbe

Es war ein Mann namens Bjarni, Sohn des Bordd-Helgi. Er lebte in Hof an der Waffenföhrde. Er hatte eine Frau, die hieß Rannweig.

Bjarni war ein begüterter Mann und ein angesehener Häuptling. Er hatte mit seinen Vettern aus der Kreuzbucht lange Zeit in Streit gelegen, und einmal hatten sie einen blutigen Kampf im Bödwarstal: da fielen manche, auf beiden Seiten. Seither hatten sie sich ausgesöhnt, und Bjarni lebte ruhig in Hof und galt für einen friedliebenden Mann.

Es war ein Mann namens Thorarin; der wohnte in Sonnental; ein alter Mann mit schwachem Gesicht. Er war ein Erz-Wiking gewesen in seiner Jugend. Es war nicht leicht, mit ihm umzugehen, trotz seinem Alter. Er hatte einen einzigen Sohn, der Thorstein hieß. Der war groß und kräftig, dabei von verträglichem Wesen und arbeitete so in der Wirtschaft seines Vaters, daß dreier Männer Werk nicht besser ausgegeben hätte.

Thorarin war einer von den Wenigbemittelten, aber Waffen besaß er viele. Er und sein Sohn hatten auch Zuchtpferde, und das war ihr Haupterwerb, daß sie Rosse davon verkauften; denn auf die konnte man immer zählen beim Ritt und bei der Pferdehatz.

Es war ein Mann namens Thord; der war Großknecht bei Bjarni auf Hof. Er hatte die Stallpferde des Bjarni zu besorgen; darum nannte man ihn den Pferde-Thord. Thord war so recht ein gewalttätiger Mensch und ließ es manche spüren, daß er Großknecht bei einem vornehmen Herrn war. Aber darum war er doch um nichts mehr wert, und beliebter wurde er auch nicht dadurch. Damals waren zwei Männer bei Bjarni in Quartier, der eine hieß Thorhall, der andere Thorwald. Die zogen gern alles durch den Mund, was sie in der Gegend erfuhren.

Thorstein und Thord veranstalteten zusammen eine Pferdehatz mit jungen Pferden. Und als sie nun ihre Tiere von beiden Seiten gegeneinander hetzten, da wollte Thords Pferd nicht recht losbeißen. Da schlug Thord dem Pferde des Thorsteins über die Augen, als er sah, daß sein Pferd den kürzeren ziehe; es war ein mächtiger Hieb. Aber Thorstein sah das und versetzte wieder dem Pferde Thords einen noch stärkeren Hieb. Und nun rannte Thords Pferd davon, und die Leute schrien um die Wette.

Da schlug Thord mit der Hetzstange nach Thorstein selbst, und es kam an die Augenbraue, so daß die über das Auge herunterhing. Thorstein



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aber riß ein Stück aus seinem Hemd unten, band die Braue in die Höhe und tat, als ob nichts geschehen sei. Er bat die Leute, sie möchten es vor seinem Vater geheimhalten. Und weitere Folgen hatte es für diesmal nicht. Die beiden, Thorwald und Thorhall, hatten damit ihren Spott und nannten ihn den Thorstein Stangennarbe.

Im Winter kurz vor Weihnachten machten sich die Weiber in Sonnental frühmorgens aus dem Bett an die Arbeit. Da stand auch Thorstein auf und trug Heu in den Stall. Aber nach einer Weile legte er sich nieder auf der Bank in der Wohnstube.

Jetzt kam der alte Thorarin herein, sein Vater, und fragte, wer da liege; Thorstein sagte, er sei es.

»Warum bist du so früh auf den Beinen, Sohn?«fragte der alte Thorann.

Thorstein antwortete: »Es sind doch nicht allzuviele hier, die einem die Arbeit abnehmen würden.«

»Tut dir nicht der Schädel weh, Junge?«fragte der alte Thorarin. »Ich spüre nichts«, sagte Thorstein.

»Hast du mir nichts zu erzählen, Sohn, von der Pferdehatz im Sommer? Wurdest du nicht ohnmächtig geschlagen, Junge, wie ein Hund?«

»Ich finde, man macht zuviel aus der Sache«, sagte Thorstein, »wenn man dies einen Schlag nennt - und nicht einfach einen Unfall.«

Thorarin sagte: »Das hätte ich nicht gedacht, daß ich einen Feigling zum Sohne hätte.«

»Sag nicht zuviel, Vater!« sprach Thorstein, »du möchtest vielleicht einmal, du hättest weniger gesagt.«

»Ich sage doch nicht soviel«, sprach Thorarin, »wie ich bei mir denke.«

Jetzt stand Thorstein auf und nahm seine Waffen und machte sich auf den Weg und ging, bis er zu dem Stalle kam, wo Thord die Pferde des Bjarni in Verwahrung hatte, und Thord befand sich gerade dort.

Da ging Thorstein auf ihn zu und sagte zu ihm: »Du, Thord, ich möchte wissen, ob das ein Versehen von dir war, daß ich auf der Pferdehatz im Sommer den Hieb von dir bekam, oder ist es mit Vorsatz geschehen ?

Thord antwortete: »Kannst du warm und kalt aus meinem Munde blasen, so mach es so, wenn du willst: das eine Mal nennst du's Versehen, das andre Mal nennst du's Absicht! Eine andre Buße bekommst du von mir nicht.«



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»Da mach dich drauf gefaßt«, sagte Thorstein, »daß ich sie möglicherweise kein zweites Mal bei dir einfordere.«

Damit lief er an Thord heran und gab ihm den Todeshieb, ging darauf zum Wohnhaus in Hof und traf eine Frau vor der Tür und sagte zu ihr: »Sag dem Bjarni, seinen Roßknecht Thord habe ein Rind gestoßen; er warte auf ihn dort im Staue.«

»Geh du nur heim, Mann«, sagte sie, »ich will es dann schon sagen, wenn es mir paßt.«

Darauf ging Thorstein heim, und die Frau ging an ihre Arbeit. Später am Morgen, als Bjarni aufgestanden und zu Tisch gekommen war, da fragte er, wo Thord sei, und die Leute gaben zur Antwort, er werde nach den Rossen gegangen sein.

»Dann dächte ich doch, er müßte zurück sein«, sagte Bjarni, »wenn ihm nichts geschehen ist.«

Da fing die Frau an, die dem Thorstein begegnet war: »Das ist doch wahr, was man uns Frauen oft nachsagt, daß bei uns wenig Verstand zu finden ist, bei uns Frauen. Heute früh war der Thorstein Stangennarbe hier und sagte, den Thord habe ein Rind gestoßen, so daß er sich nicht selber auf die Beine helfen könne. Aber ich hatte da nicht Lust, dich zu wecken, und da ist es mir seither aus dem Sinn gekommen.« Da stand Bjarni vom Tisch auf, ging nach dem Pferdestall und fand den Thord erschlagen; und er wurde darauf beerdigt.

Bjarni machte nun die Sache vor Gericht anhängig und ließ den Thorstein um Totschlag in die Acht tun. Aber Thorstein saß ruhig daheim in Sonnental und arbeitete weiter für seinen Vater. Und Bjarni ließ es so gehn.

Zur Herbstzeit saßen die Leute in Hof an den Feuern und brieten Köpfe von Schafen. Aber Bjarni lag draußen vor der Küchenwand und horchte dort dem Gespräch der Leute zu.

Da fingen die beiden Brüder an, Thorhall und Thorwald: »Das hätten wir nicht gedacht, als wir Quartier nahmen beim Haudegen-Bjarni, daß wir hier Lammsköpfe rösten würden, und der Thorstein, den er in die Acht brachte, sollte Hammelköpfe rösten! Es wäre kein Schade, wenn man damals bei dem Kampf im Bödwarstal die Verwandten ein wenig mehr geschont hätte: dann trüge jetzt nicht der Geächtete im Sonnental seinen Kopf so hoch. Aber wie es heißt: gebrannt Kind fürchtet das Feuer. Wir möchten nur wissen, wann er diesen Flecken von seiner Ehre wegwischen wird!«



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Da erwiderte einer: »So etwas bliebe besser ungesagt; ich weiß nicht, was für ein Teufel euch in die Zunge gefahren ist! Wir meinen eher, Bjarni bringt es nicht über sich, denen ihre Stütze wegzunehmen, dem halbblinden Vater und dem andern unversorgten Volk dort in Sonnental. Aber es soll mich wundern, wenn ihr künftig hier noch Lammsköpfe röstet oder eure Reden führt über das, was im Bödwarstal geschehen ist.«

Darauf gingen die Leute zu Tisch und nachher ins Bett, und' man merkte es dem Bjarni nicht an, was geredet worden war.

Am Morgen weckte Bjarni den Thorhall und Thorwald und sagte, sie möchten nach Sonnental reiten und ihm den Kopf Thorsteins, vom Rumpfe getrennt, an den Frühstückstisch bringen. »Es scheint mir, ihr seid die Rechten dazu, den Flecken von meiner Ehre wegzubringen, wenn es mir selber an Schneid dazu fehlt.«Jetzt fanden sie freilich, sie hätten besser geschwiegen. Aber doch machten sie sich auf den Weg und kamen nach Sonnental. Thorstein stand unter der Tür und wetzte ein Messer. Und als die beiden ankamen, fragte er, wo sie hinwollten. Sie sagten, sie hätten nach ein paar Pferden zu suchen. Thorstein meinte, nach denen brauche man nicht lange zu suchen, »die hier in der Nähe des Hauses sind«.

»Es ist nicht sicher«, sagten sie, »ob wir die Pferde finden, wenn du uns nicht den Weg zeigst.«

Da trat Thorstein heraus. Und wie sie auf den Hofplatz herunterkamen, da hob Thorwald die Axt auf und lief gegen ihn an. Thorstein aber fuhr mit dem Arm ihm dazwischen, so daß er hinfiel. Dann durchbohrte ihn Thorstein mit dem Messer. Da versuchte Thorhall den Angriff, und er hatte das gleiche Schicksal wie Thorwald.

Da band Thorstein die beiden auf ihre Pferde und legte die Zäume den Tieren über den Hals und wies allem zusammen seine Straße. Und die Pferde gingen nun nach Hof zurück.

In Hof standen Knechte vor dem Haus; sie gingen hinein und sagten dem Bjarni, Thorwald und der andere seien heimgekommen, und sagten, unverrichteter Dinge seien sie nicht zurückgekehrt. Bjarni ging hinaus und sah gleich, woran man war, und ließ sich nicht weiter darüber aus.

Er läßt sie nun begraben, und es bleibt alles ruhig bis über Weihnachten hinaus.

Da fing Rannweig eines Abends ein Gespräch an, als sie zu Bett gekommen



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waren, sie und Bjarni: »Was glaubst du, worüber wird jetzt am meisten geredet in der Gegend?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, sagte Bjarni. »Ich achte selten auf das Gerede der Leute«, sagte er.

»Darüber wird jetzt am meisten gesprochen: die Leute fragen sich, wie weit es Thorstein Stangennarbe noch treiben soll, bis du es nötig findest, Rache zu nehmen. Er hat jetzt drei von deinen Hausgenossen erschlagen. Deinen Dingleuten will es scheinen, sie hätten sich wenig Schutz von dir zu versprechen, wenn dies ungerochen bleibt. Du tust gar nicht gut, die Hände in den Schoß zu legen!«

Bjarni antwortete: »Jetzt geht es wieder einmal so, wie man immer sagt: Keiner läßt sich des andern Strafe zur Warnung dienen. Aber gleichviel, ich will dir folgen. Übrigens, unverdient hat Thorstein wohl keinen getötet.«

Damit brachen sie das Gespräch ab und schliefen ein. Am Morgen erwachte Rannweig, wie Bjarni seinen Schild herunternahm; und sie fragte, wohin er wolle. Er antwortete: »Jetzt soll es sich über die Ehre entscheiden zwischen mir und Thorstein in Sonnental.«

»Mit wieviel Mann willst du hingehen?« sagte sie.

»Ich werde keine Mannschaft gegen Thorstein aufbieten«, sagte er; »ich gehe allein hin.«

»Tu das nicht«, sagte sie, »dich allein vor die Waffen dieses Teufelskerls wagen!«

Bjarni sagte: »Du wirst dir jetzt nicht die Frauen zum Beispiel nehmen, die heut zu einer Sache treiben und morgen drüber weinen. Manchmal ertrag ich's lange, von dir und andern, daß ihr mir den Mut absprecht. Aber dann trägt es auch nichts ab, mich zurückzuhalten, wenn ich entschlossen bin.«

Bjarni ging nun nach Sonnental. Thorstein stand unter der Tür, und sie wechselten einen kurzen Gruß. Thorstein fragte, was ihn herführe. Bjarni sagte: »Bei den Leuten heißt es, es gebe für mich schon etwas Triftiges zu bestellen bei dir. Du mußt heut mit mir zum Zweikampf, Thorstein, hier auf der Anhöhe vorm Haus.«

»Dazu fehlt's mir an allem«, sagte Thorstein, »mich mit dir zu schlagen! Aber ich will außer Landes, sobald die Schiffe gehn. Denn ich weiß, du bist ritterlich und wirst meinem Vater für die Wirtschaft sorgen, wenn ich daraus bin.«

»Es trägt jetzt nichts ab, sich auszureden«, sagte Bjarni.



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»Da erlaubst du mir doch, daß ich meinen Vater erst noch aufsuche«, sagte Thorstein.

»Gewiß«, sagte Bjarni.

Thorstein ging ins Haus und erzählte seinem Vater, Bjarni sei gekommen und habe ihn zum Zweikampf gefordert.

Der alte Thorarin antwortete: »Das wird sich jeder schon selbst sagen können, wenn er's mit einem mächtigeren Mann zu tun hat und sitzt mit ihm in der gleichen Landschaft zusammen, und er hat ihm einen Schimpf angetan, daß er dann nicht mehr viele Hemden auftragen wird. Ich kann mich da nicht um dich grämen, denn ich finde, du hast reichlich danach gehandelt. Jetzt nimm deine Waffen und wehre dich recht mannhaft! Denn bei mir hätte es einmal eine Zeit gegeben, wo ich mich nicht geduckt hätte vor einem wie Bjarni. Und doch ist Bjarni ein großer Haudegen! Ich will auch lieber dich verlieren, als einen Feigling zum Sohn haben.«

Jetzt ging Thorstein vors Haus, und sie traten dann hinaus auf die Anhöhe und fingen an, scharf aufeinander loszugehen, und beiden wurde der Schild stark zerhauen. Und als sie lange Zeit gekämpft hatten, sagte Bjarni zu Thorstein: »Jetzt bekomm ich Durst, denn ich bin nicht so an derlei Anstrengungen gewöhnt wie du!«

»Dann geh zum Bach«, sagte Thorstein, »und trink.«

Bjarni tat so und legte das Schwert neben sich nieder. Thorstein nahm es in die Hand, schaute es an und sagte: »Dieses Schwert hast du wohl nicht gehabt bei dem Kampf im Bödwarstal.« Bjarni gab keine Antwort.

Sie gingen wieder auf die Anhöhe hinauf und schlugen sich eine Weile, und es dünkte Bjarni, der andere verstehe sich aufs Fechten und sei zäher, als er gedacht hätte.

»Heut stößt mir mancherlei zu«, sagte Bjarni, »jetzt sind meine Schuhriemen aufgegangen!«

»So bind sie«, sagte Thorstein.

Da bückte sich Bjarni; aber Thorstein ging ins Haus und kam wieder mit zwei Schilden und einem Schwert. Er ging auf die Anhöhe zu Bjarni und sagte zu ihm: »Hier schickt dir mein Vater einen Schild und ein Schwert: das da wird keine stumpferen Hiebe führen als dein früheres. Ich habe auch keine Lust mehr, so ungedeckt vor deinen Hieben zu stehn. Aber am liebsten möchte ich jetzt aufhören mit diesem Spiel; denn ich fürchte, dein guter Stern wird's über meinen Unstern gewinnen,



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und jeder giert nach dem Leben, solange es eben noch in seiner Macht ist.«

»Das kann jetzt nichts abtragen, sich loszubitten«, sagte Bjarni, »es muß weitergekämpft werden!«

»Ich will nicht den ersten Hieb führen«, sagte Thorstein. Da hieb Bjarni dem Thorstein den ganzen Schild herunter, und darauf Thorstein den des Bjarni.

»Das war ein guter Hieb!« sagte Bjarni.

Thorstein antwortete: »Deiner war nicht schlechter.«

Bjarni sagte: »Jetzt schneidet dir die Waffe besser, und ist doch dieselbe, die du heut schon gehabt hast!«

Thorstein sagte: »Ich ersparte mir gern ein Unheil, wenn's mir möglich wäre, und nur mit Zagen kämpfe ich gegen dich. Ich möchte auch jetzt noch alles deiner Entscheidung überlassen.«

Nun hatte Bjarni wieder einen Hieb zu führen; aber beide standen schon ohne Schild da.

Da sagte Bjarni: »Das heißt ein schlechter Handel, eine Untat zu wählen statt eines großen Glücksfalles. Ich rechne als volle Erstattung für meine drei Hausgenossen dich allein, wenn du mir treu sein willst.« Thorstein antwortete: »Die Gelegenheit hätte ich heut gehabt, Untreue an dir zu begehen.«

Und weiter sagte er: »Wenn mein Unstern mehr vermocht hätte als dein Glück. Und so werde ich auch künftig keine Untreue an dir begehen«, sagte Thorstein.

»Ich sehe, du bist ein Mann, wie's wenige gibt«, sagte Bjarni; »du erlaubst mir wohl, daß ich zu deinem Vater hineingehe«, sagte er, »und ihm nach meinem Gutdünken berichte.«

»Geh nach Belieben meinethalb«, sagte Thorstein, »aber sei auf deiner Hut.«

Da ging Bjarni ins Haus und zu dem Bettverschlag, wo der alte Thorann darin lag.

Thorarin fragte, wer da komme, und Bjarni nannte sich.

»Was bringst du für Nachricht, mein Bjarni?«fragte Thorarin.

»Den Tod deines Sohnes Thorstein«, sagte Bjarni.

»Hat er sich denn auch gewehrt?«fragte Thorarin.

»Nie, glaube ich, hat sich einer wackerer gehalten im Waffengang als dein Sohn Thorstein.«

»Das ist nicht zu verwundern«, sagte der Alte, »daß man gegen dich



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einen schweren Stand hatte damals in Bödwarstal, wenn du jetzt über meinen Sohn Meister wurdest!«

Da sagte Bjarni: »Ich will dich zu mir nach Hof einladen, und du sollst dort auf dem zweiten Ehrenplatz sitzen, solange du lebst, und ich dir an Sohnes Stelle sein.«

»Mit mir geht es so«, sagte der Alte, »wie's mit allen denen geht, die nichts haben und nichts vermögen; hier heißt es auch: der Tor klammert sich an Versprechungen. Aber mit den Versprechungen von euch Häuptlingen ist es so: wenn ihr einem wohltun wollt nach solchen Erlebnissen, so ist die Wohltat für einen Monat, und nachher stehn wir im Ansehn wie andre Almosengänger auch, und darüber vernarben unsre Wunden nicht so bald. Aber doch, wer von einem Manne wie dir die Zusicherung durch Handschlag bekommt, der kann mit seinem Los zufrieden sein, mag vorliegen, was will. Und so will ich denn diesen Handschlag von dir entgegennehmen: tritt zu mir heran in die Bettkammer; du mußt schon nahe kommen, denn ich alter Mann bin ganz zittrig im Gebein vor Alter und Krankheit; wäre auch ein Wunder, wenn mir der Tod des Sohnes nicht zu Herzen gegangen wäre.«

Bjarni trat nun in die Bettkammer und reichte dem alten Thorarin die Hand hin. Da bemerkte er, wie der so an der Bettwand hinuntertastete: er zog dort ein Messer hervor und wollte nach Bjarni stechen. Bjarni fuhr mit seiner Hand zurück und sagte: »Du elendiger Glatzkopf!« sagte er, »jetzt sollst du's so haben, wie du's verdienst: dein Sohn Thorstein ist am Leben, und er soll mit mir nach Hof ziehen; aber dir wird man für Knechte sorgen in deine Wirtschaft, und fehlen soll's dir doch an nichts, solange du lebst.«

Thorstein zog nun zu Bjarni nach Hof und war um ihn bis zu seinem Todestag, und kaum ein zweiter, fand man, kam ihm gleich an Bravheit und Tapferkeit.


Die kleine Geschichte von Gudmund und den Rauchtälern

Es war ein Mann namens Gudmund, Sohn des Eyjolf; er hieß Gudmund der Mächtige. Er wohnte in Mödruvellir im Inselfjordlande, und in der Nähe, in Zwerchach, wohnte sein Bruder Einar. Gudmund war ein großer Herr und hatte immer viele Leute um sich. Es war seine Gewohnheit, im Frühling die Landschaften dort im Norden zu bereisen



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und seine Dingleute im Rauchtal aufzusuchen, über die Verwaltung des Kreises zu reden und Streitsachen zwischen den Leuten in Ordnung zu bringen. Und davon gerieten sie in schweren Nahrungsmangel, denn ihre Vorräte waren nicht danach; er kam nämlich oft mit dreißig Mann geritten - und saß an vielen Orten sieben Tage hintereinander — und mit ebenso vielen Rossen.

Damals wohnte Ofeig, der Sohn der Jangerd, auf dem Hofe Skörd. Er hatte am meisten zu sagen unter den Bauern dort im Rauchtal. Er war ein Freund der beiden Brüder Gudmund und Einar.

In einem Herbst war eine zahlreich besuchte Zusammenkunft in Skörd, um über Gemeindesachen und Armenversorgung zu reden, und dies wurde nach Vorschrift erledigt. Aber es war damals großer Nahrungsmangel dort im Norden. Da stand ein Mann auf namens Thorbjörn - er war ein reicher Bauer und bei den Leuten beliebt - und sagte: »Dies habe ich dir noch zu sagen, Ofeig, und ich spreche im Namen von vielen. Die Leute hier stehn nämlich unter einer großen Teuerung; aber du kennst die Gewohnheit Gudmunds des Mächtigen, unsres Häuptlings, daß er jedes Frühjahr hier in die Gegend zieht und an manchen Orten lange sitzt. Nun hätten wir nichts dagegen, wenn er selbzehnt reiste; aber so geht es über unsre Kräfte.«

Ofeig antwortete: »Da weiß ich guten Rat. Gudmund der Mächtige soll bei mir einen halben Monat sitzen mit seinem ganzen Gefolge, und ihr bringt ihm dann die Geschenke her, die ihr ihm zu geben habt, und nehmt hier euern Abschied von ihm.«

Thorbjörn antwortete: »Du hast dich oft als großartig und großgesinnt bewährt. Aber das wollen wir nicht, was du da vorschlägst.«

Ofeig antwortete: »Dann wird sich's nicht so einfach machen, und es wird nicht allen Beteiligten zu Gefallen ablaufen. Es sollen jetzt neunundzwanzig von euch jeder ein Pferd bei sich an die Krippe stellen, und lauter fette Tiere; es sollen alles Hengste sein. Das Heu holt bei mir, wenn ihr's braucht.«

Sie sagten, das sei ihnen recht, und damit gingen sie auseinander. Die Zeit verstrich nun bis zur letzten Woche vor Ostern. Da schickte Ofeig nach denen mit den Pferden, und sie kamen nach Skörd mit ihren Pferden, und Ofeig nahm sie gut auf. Am Freitag sagte Ofeig, sie sollten ihre Pferde satteln; und so taten sie. Wie sie aber ganz bereit waren, da wurde Ofeigs Pferd aus dem Stalle geführt und gesattelt: es war groß und feist und war ein Hengst. Ofeig saß auf und nahm sich überaus



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stattlich aus. Nun ritten sie vor die Hofmauer hinaus. Da sagte Ofeig: »Ihr werdet finden, daß ihr recht aufs Ungewisse hinauszieht. Aber ich werde schon sorgen, was wir zu tun haben.« Sie waren's alle zufrieden.

Sie ritten hinauf durch die bewohnte Gegend nach Reykjadal, und dann nach Ljosavatn, und dann nach Fnjoskdal und dann zur Wödlaheide und kamen am Abend nach Zwerchach zu Einar.

Einar nahm sie gut auf und lud sie ein, über Ostern dazubleiben. Ofeig dankte ihm für die Einladung, sagte aber, er wollte am Samstag nach Mödruvellir hinaufreiten.

»Da möchte ich«, sagte Einar, »daß du auf dem Rückweg hier vorüberkämst und mir berichtetest von deinen Gesprächen mit meinem Bruder Gudmund «

Ofeig sagte, das werde er tun.

Sie ritten nun am Samstag nach Mödruvellir hinauf. Und wie sie in die Nähe des Hofes kamen, da ging ein Knecht hinaus und wieder ins Haus zurück und sagte dem Gudmund, es kämen Leute zum Hof geritten, gar nicht wenige.

Gudmund meinte, das sei nichts Neues da im Inselfjördland, wenn Leute durch die Gegend geritten kämen. »Daran wird man das jetzt erkennen, ob das Leute hier aus der Gegend sind, wenn sie gleich durch den nächsten Eingang hereinreiten. Aber wenn sie von weiter her gekommen sind, da werden sie durch den Haupteingang reiten, wenn Leute von Stellung unter ihnen sind.«

Der Knecht kam zum zweitenmal herein und sagte: »Es ist kein Zweifel, die Leute reiten aufs Gattertor zu. Und vorn reitet ein Mann in dunkelblauem Mantel.«

Und wie sie vors Haus traten, sagte Gudmund: »Kann sein, daß sie hier etwas zu besorgen haben, die Rauchtäler, und es Neues bei ihnen drüben gegeben hat, da ihr Oberster hergekommen ist, der Ofeig.«

Gudmund hieß den Ofeig und seine Genossen freundlich willkommen und lud sie ein, dazubleiben, so lange sie wollten. Ofeig erklärte, sie wollten das schon annehmen: »Nur wird es für dich bedenklich sein, unsre Pferde bei dir einzustellen. Denn es sind lauter Hengste, und keiner verträgt sich mit dem andern, aber wir nehmen's sehr genau mit ihnen, denn es sind unsre mit Dungfutter aufgezogenen Gestütpferde.« Gudmund sagte, er sollte denken, seinen Knechten würde es nicht gut bekommen, wenn sie die Pferde nicht aufs allerbeste einstellten, und



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meinte, die Räume würden wohl reichen in Mödruvellir; »denn noch eher soll man das Vieh aus dem Kuhstall hinaustun und es dort für die Pferde einrichten«.

Ofeig und die Seinen saßen nun da bis über Ostern.

Am vierten Ostertage, als Ofeig aufgestanden war, kam einer seiner Begleiter zu ihm und fragte: »Wie lange meinst du, werden wir noch hierbleiben?«

Ofeig antwortete: »Die Osterwoche durch.«

Der andere antwortete: »Das kommt nicht recht gelegen - denn eben wurde geschickt, um Heu und Essen einzukaufen!«

Ofeig sagte: »Jetzt bleiben wir erst recht sitzen, und ich möchte, es wäre so, wie du sagst!«

Am Montag nach der Osterwoche machten sie sich zum Aufbruch fertig. Aber Gudmund sagte, sie möchten doch noch bleiben und ihre Kurzweil haben; »auch bleibt noch manches zu erzählen.«Ofeig sagte, er wolle jetzt doch abreiten.

Gudmund ließ sein Pferd herfuhren und ritt mit ihnen hinaus. Sie kamen zu einem Heustadel. Da sagte Gudmund: »Hier wollen wir absitzen und Futter geben; ich will nicht, daß mein Bruder Einar heut abend darüber zu lachen habe, daß eure Pferde dünn geworden seien.«

So taten sie. Gudmund sagte: »Du bist da eine Zeitlang bei uns gewesen, Ofeig, und wir haben nicht erfahren, was dich hergeführt hat. Nun möchte ich gern hören, was es war.«

Ofeig antwortete: »Das ist recht, daß du danach fragst, Gudmund, ich habe darauf gewartet. Nämlich das hat mich hergeführt, daß ich dir eine Lehre überbringen wollte; denn denen dort im Norden will es scheinen, sie sei dir nicht überflüssig. Du weißt, es ist deine Gewohnheit, jedes Frühjahr deine Dingleute aufzusuchen in Begleitung von dreißig Mann und bei dem einzelnen Bauer sieben Tage einzusitzen. Nun ist das wenig schonend gegen die, die ein geringes Vermögen besitzen und sich im Herbst gerade nur für die eigenen Hausgenossen eingerichtet haben, und es wird ihnen das zu einer großen Last. Nun sind wir hier bei dir nicht so lange geblieben, und es kam mir vor, wie wenn du schon Heu und Essen kaufen mußtest, und besaßest doch von allem reichlich und bist ein Häuptling unter den Leuten. Ich glaube, du wärest kein kleinerer Häuptling, wenn du nur selbzehnt die Freunde aufsuchtest. Es würden's dir alle danken!«

Gudmund sagte: »Das war vortrefflich gesprochen, wie es von dir zu



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erwarten war. Und es ist richtig, ich habe es so gemacht. Aber das muß man sich merken, daß du es einmal gegen mich halten wirst, wo es mein Ansehen gilt - das ist kein Zweifel!«

Ofeig sagte: »Auf solche Worte hätte ich mich bei dir nicht gefaßt gemacht. Bisher ist mir so etwas nicht in den Sinn gekommen.«

Darauf wurde Ofeig einsilbig, und mit den Abschiedsworten zwischen den beiden wurde es nicht viel, als sie auseinandergingen. Dem Gudmund gefiel die Lehre ebensowenig wie dem Ofeig Gudmunds Argwohn.

So trennten sie sich, und Ofeig ritt den Abend noch nach Zwerchach. Einar nahm ihn aufs beste auf, und Ofeig erzählte ihm das ganze Gespräch mit Gudmund. Da sagte Einar: »Du hast da einen mannhaften Gang getan. Aber - ich weiß nicht, wie es euch Rauchtälern gehen wird: und hier im Inselfjord pflegt das in Erfüllung zu gehn, was mein Bruder Gudmund einem voraussagt.«

Am Morgen darauf ritt Ofeig nach seiner Heimat zurück.

Aber im Frühling zog Gudmund nach dem Norden selbzehnt und saß jetzt da zwei Tage, wo er früher sieben gesessen hatte. Er nahm Herberge bei Ofeig in Skörd und wurde dort aufs beste aufgenommen. Dort saß er eine Woche. Aber beim Abschied schenkte ihm Ofeig zwei rote Ochsen, siebenjährige; das waren auserlesene Wertstücke.

Gudmund sagte: »Du beschenkst mich da reich. Aber ich besitze zwei andere Ochsen, schwarz von Farbe, die um nichts schlechter sind; die will ich dir beide schenken, wenn du dich nicht gegen mich stellen willst da, wo es mein Ansehen gilt.«

Ofeig sagte: »Du kannst das Geschenk schon annehmen, denn es ist keine Heimtücke gegen dich dabei.«

Gudmund sagte, er wisse nicht, ob es nicht schließlich ebenso richtig sei, wenn er das Geschenk annehme. Dann zog er weg; und man fand, Ofeigs Stellung sei sehr gestiegen durch diesen Handel.


Die kleine Geschichte von Gudmund und der Brautwerbung

Es wird berichtet, daß Gudmund der Mächtige immer einen sehr glänzenden Haushalt führte. Er hatte über hundert Hausgenossen. Es war seine Gewohnheit, die Söhne vornehmer Männer lange bei sich wohnen zu lassen, und er hielt sie so ausgezeichnet, daß sie gar keine Arbeit



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auf sich zu nehmen brauchten und jederzeit mit ihm in der Stube sitzen konnten -aber sonst war es damals Brauch, wenn sie bei sich zu Haus waren, daß sie in der Wirtschaft arbeiteten, mochten sie auch aus vornehmer Familie sein.

Eines Sommers traf Gudmund auf dem Ding den Sörli, den Sohn des Brodd-Helgi, einen jungen Mann von vortrefflicher Erziehung. Den nahm er mit sich heim und ließ es ihm an nichts fehlen. Bei Gudmund lebte damals seine Tochter Thordis, die galt als die beste Heirat, und die Leute wollten bemerken, daß es zwischen ihr und Sörli recht oft zu einer Unterhaltung komme. Das kam vor Gudmund, und er sagte, er finde es nicht nötig, daß man das ins Gerede bringe. Aber als er bemerkte, daß man sich nicht davor in acht nahm, da ließ er bei Sörli kein Wort darüber verlauten, aber die Thordis schickte er mit Begleitung hinunter nach Zwerchach zu Einar.

Aber da machte sich's wieder so, daß den Sörli seine Gänge dahin führten.

Und eines Tages, als Thordis hinausgegangen war auf die Bleiche, da schien die Sonne und ging ein warmer Wind und war gutes Wetter: da wurde sie gewahr, wie ein Mann, ein stattlicher, auf den Hofplatz geritten kam. Sie sagte, als sie den Mann erkannte: »Jetzt freut einen der Sonnenschein und der warme Wind -Sörli reitet in den Hof.« Dies traf so gerade zusammen. Nun ging es so weiter bis zum Ding im Sommer, und Sörli dachte an die Rückkehr zu seiner Familie. Und auf dem Ding ging er eines Tages zu Einar aus Zwerchach und nahm ihn ins Gespräch und sagte: »Ich wünschte mir deine Unterstützung, um bei deinem Bruder Gudmund die Werbung um seine Tochter Thordis anzubringen.« »Ich will das tun«, sagte Einar, »aber -Gudmund gibt manchmal auf die Worte von andern ebensoviel wie auf meine.«

Darauf ging er nach Gudmunds Hütte, traf ihn an, und die Brüder setzten sich zum Gespräch.

Da sagte Einar: »Was hältst du von Sörli?«

Gudmund sagte: »Viel; er ist einer von den tüchtigen jungen Leuten auf alle Weise.«

Einar sagte: »Und wie ist's denn? Es fehlt ihm nicht an guter Herkunft und geachteter Stellung und an Reichtum.«

»Ganz richtig«, sagte Gudmund.

Einar sagte: »Ich will doch den Auftrag ausrichten, den Sörli mir mitgab, nämlich um deine Tochter Thordis anzuhalten.«



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Er erwiderte: »Ich fände es aus manchen Gründen recht wohl passend, aber aus dem Grunde, weil die Leute mit ihrem Gerede darüberhergekommen sind, kann nichts daraus werden.«

Nun suchte Einar den Sörli auf und sagte ihm, es sei da nichts zu machen, sagte auch, worin man den Haken gefunden habe.

Er erwiderte: »Das scheint mir eher eine bedenkliche Aussicht nunmehr.«

Da sagte Einar: »Jetzt will ich dir einen Rat geben. Es gibt einen guten Freund von Gudmund, der heißt Thorarin Toki, Sohn des Nefjolf, ein gescheiter Mann. Such den auf und sag ihm, er möge sich deiner Sache annehmen.«

So tat Sörli; er traf bei Thorarin ein, nahm ihn ins Gespräch und sagte: »Ich habe da eine Sache unter den Händen, wo mir sehr viel dran liegt, daß du dich drauf einlassen möchtest: in meinem Auftrag zu Gudmund Eyjolfsson zu gehn und um seine Tochter Thordis für mich anzuhalten.« Er antwortete: »Warum kommst du dafür zu mir?«

Sörli erzählte ihm da den Hergang: die Leute hätten angefangen, darüber zu reden, und das Jawort sei nicht zu haben gewesen. Thorarin sagte: »Da rate ich dir, reise jetzt heim, und ich werde mich umsehen und dir Nachricht geben, wenn etwas dabei herauskommt. Denn ich sehe, die Sache liegt dir am Herzen.«

Sörli ging gern darauf ein und nahm Abschied von ihm.

Thorarin machte sich auf zu Gudmund und wurde dort freundlich bewillkommt. Dann fingen sie ihr Gespräch an.

Thorarin sagte: »Ist es wahr, wie mir zu Ohren gekommen ist, daß Sörli, der Sohn des Brodd-Helgi, um deine Tochter Thordis angehalten hat?«

»Ja, das ist wahr«, sagte Gudmund.

Thorarin sagte: »Was hast du für eine Antwort gegeben?«

»Es leuchtet mir nicht ein«, sagte er.

»Ist er dir nicht vornehm genug, oder hast du an ihm persönlich etwas auszusetzen?«

Gudmund sagte: »Nach der Seite fehlt es bei ihm nicht. Der Grund, daß ich ihm die Thordis nicht geben will, ist mehr dies, daß sie schon vorher ins Geschwätz gekommen sind.«

Thorarin sagte: »Warum nicht gar! Es ist ein anderer Grund, daß du ihm die Heirat nicht gönnst; ich weiß es wohl -das da ist nur ein Vorwand!«



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Gudmund sagte: »Das ist nicht richtig.«

Thorarin sagte: »Du kannst dich nicht vor mir verstecken! Ich weiß wohl, was du im Kopfe hast.«

Gudmund sagte: »Da kann ich nichts weiter machen, wenn du es besser weißt als ich!«

Thorarin sagte: »Laß es nur dabei bewenden!«

Da sagte Gudmund: »Neugierig bin ich doch, was du glaubst, daß ich im Kopfe habe.«

Thorarin sagte: »Du wirst es mir doch wohl schenken, das auszusprechen, was du denkst!«

Gudmund sagte: »Da wir einmal so weit sind, möchte ich, daß du's tätest.«

Thorarin sagte: »Nun gut denn! Deshalb willst du nicht, weil du dich um unser Landvolk sorgst und nicht möchtest, daß einer zur Welt komme, der ein Enkel ist von dir, dem mächtigsten Manne: da denkst du, unser Landvolk könne es nicht aushalten, das Regiment eines Mannes von so hoher Abkunft!«

Gudmund lächelte und sagte: »Nun, warum sollten wir die Sache nicht noch weiter in Erwägung ziehn?«

Darauf schickte man zu Sörli, und er kam zur Verhandlung und erhielt die Thordis zur Frau. Sie bekamen zwei Söhne, Einar und Broddi, das waren beides ausgezeichnete Männer.

Diese Geschichte zeigt, daß sich Gudmund gern loben hörte. Der andere aber ging weislich vor und traf den rechten Fleck bei Gudmund.


Thorstein der Gruseler

Es wird erzählt, daß König Olaf Trygvason eines Sommers auf dem Gute Reina zum Gelage war. Er hatte ein großes Gefolge bei sich, darunter einen Isländer, Thorstein mit Namen, der erst im Winter gekommen war.

Abends am Trinktisch sagte König Olaf, niemand solle diese Nacht allein hinausgehen; wenn jemanden ein Bedürfnis ankomme, so solle er seinen Lagergenossen mit sich nehmen; — »es möchte sonst nicht gut ablaufen«, sagte er. Man trank darauf weiter, und dann wurden die Tische fortgenommen, und jedermann ging zu Bette. In

der Nacht erwachte mit einem Male der Isländer. Er wollte aus dem



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Bett und hinausgehen, aber sein Genosse schlief so fest, daß Thorstein es aufgeben mußte, ihn wach zu bekommen. Da stand er allein auf, zog seine Schuhe an, nahm einen dicken Pelzrock um sich und ging zum geheimen Ort.

Und was er da sah, das war ein großes Ding, elf Sitze auf jeder Seite. Er setzte sich vorn auf den ersten Platz.

Er hatte noch nicht lange gesessen, so sah er, wie ein Gespenst daherkam und sich auf den letzten Platz derselben Reihe setzte. Da blieb es sitzen.

Thorstein fragte: »Wer ist da?«

Der Geist erwiderte: »Thorkel der Dünne, der mit König Harald

Kriegszahn auf der Walstatt fiel.«

»Woher kommst du denn da?« fragte Thorstein.

»Ich komme geradeswegs aus der Hölle«, sagte der Geist.

»Was kannst du von da berichten?« fragte Thorstein.

Er antwortete: »Was möchtest du denn wissen?«

»Wer verträgt die höllischen Plagen am besten?«

»Keiner besser«, sagte das Gespenst, »als Sigurd der Fafnirstöter.«

»Was hat er denn für eine Qual auszustehen?«

»Er heizt einen Ofen«, sagte das Gespenst.

»Das kommt mir nicht so schlimm vor«, sagte Thorstein.

»Doch immerhin, denn er ist selber der Brand!«

»Ja, das ist etwas!« sagte Thorstein, »und wer erträgt seine Qual am schlechtesten?«

Das Gespenst erwiderte: »Starkad der Alte erträgt sie am schlechtesten; er schreit so, daß sein Gebrüll für uns Teufel unangenehmer ist als alles andere; wir haben vor seinem Geheul niemals Ruhe.«

»Was hat er denn für eine Qual auszuhalten«, sagte Thorstein, »daß er sich so übel anstellt, so ein tapferer Mann, wie er gewesen sein soll?«

»Er steht im Feuer bis an die Knöchel.«

»Das kommt mir nicht so fürchterlich vor«, sagte Thorstein, »für einen Helden wie er!«

»Du siehst es nicht von der richtigen Seite an«, sagte das Gespenst, »nur seine Fußsohlen stehen aus dem Feuer heraus!«

»Ja, das ist etwas«, sagte Thorstein. »Aber schreie doch einmal ein bißchen von seinem Geschrei!«

»Das soll geschehen!« sagte das Gespenst. Da schlug es seine Backen auseinander und stieß ein fürchterliches Gebrüll heraus.



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Thorstein hatte sich den Pelz um den Kopf geschwungen. Es wurde ihm übel von dem Gebrüll. Er frug: »Ist das sein lautestes Geschrei?«

»Beileibe nicht!«sagte das Gespenst, »so schreien wir kleinen Teufel.«

»Da schrei doch mal ein bißchen wie Starkad.«

»Das kann geschehen«, antwortete das Gespenst. Da hub es zum andern Male an zu brüllen, so gewaltig, daß es Thorstein als eine ganz außerordentliche Leistung erschien, daß ein so kleiner Teufel ein so großes Geschrei zustande kriegte. Er hatte es wie vorher gemacht und sich den Pelz um den Kopf gewickelt. Aber es wurde ihm doch anders von dem Gebrüll. Es kam eine Ohnmacht über ihn, und er wußte nichts mehr von sich. Da frug das Gespenst: »Warum schweigst du nun?« Thorstein hörte es, während er wieder zu sich kam: »Ich schweige darum, weil ich mich wundere, daß du nicht größer bist, wo du doch eine solche fürchterliche Stimme in dir hast! —Aber war das wirklich Starkads lautestes Gebrüll?«

»Nein, lange nicht«, sagte der Geist, »eher sein sachtestes!«

»So ziere dich doch nicht länger«, sagte Thorstein, »und laß mich sein lautestes Gebrüll hören!«

Der Geist sagte es zu. Thorstein aber bereitete sich wohl dazu vor: Er schnürte den Pelz zusammen, wickelte ihn sich um den Kopf und preßte ihn von außen mit beiden Händen gegen die Ohren.

Das Gespenst war mit jedem Schrei drei Sitze näher gerückt. Nun war nur noch drei Plätze zwischen ihnen. Da blies das Gespenst so entsetzlich seine Backen auf, drehte die Augen in sich herum und hub an, so fürchterlich zu brüllen, daß es Thorstein vorkam, als ginge dies denn doch über das Maß. Indem ertönte die Glocke im Ort, und Thorstein fiel bewußtlos vornüber auf den Boden. Das Gespenst aber schrak dermaßen zusammen vor dem Glockenton, daß es wie hingeschüttet vom Sitze fiel. Der Lärm aber dröhnte noch lange nach, unten, unter der Erde.

Thorstein kam wieder zu sich, stand auf und ging zu Bette. —Andern Morgens ging der König zur Kirche; man hörte die Messe. Danach ging man zu Tische. Der König war schlecht gelaunt. »Ist jemand heute nacht allein hinausgegangen?« nahm er das Wort.

Thorstein erhob sich und gestand, daß er sein Gebot übertreten habe. Der König antwortete: »Es ist ja nun kein großer Schade geschehen, aber man sieht doch wieder, wie wahr das ist, was man von euch Isländem sagt, ihr seid ein eigensinniges Volk! Aber was hast du erlebt?«



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Thorstein erzählte alles, wie es geschehen war.

Der König fragte: »Wie kamst du darauf, ihn schreien zu lassen?« »Das will ich Euch sagen, Herr; Ihr hattet uns doch so strenge verwarnt, allein hinauszugehen. Als nun der Schuft auftauchte, da schien mir das gewiß, daß etwas Schädliches dabei sein müsse. Ich dachte aber, wenn er schrie, so würdet Ihr davon aufwachen, Herr! Und dann, dachte ich, wäre mir geholfen.«

»So war es auch«, sagte der König. »Ich erwachte davon und merkte, was los war; darum ließ ich läuten, denn das war das einzige, was dir noch helfen konnte. Aber dir wird nicht übel angst geworden sein, als das Gespenst zu schreien anfing?«

Thorstein antwortete: »Ich weiß nicht, was das ist, Herr: >Angst<.«

»War nicht in deiner Brust etwas Furcht?« sagte der König.

»Nein, das nicht«, sagte Thorstein. »Aber beim letzten Schrei hat es mich fast ein bißchen in der Brust gegruselt!«

Da sagte der König: »Nun will ich dir deinen Namen länger machen: du sollst von nun an Thorstein der Gruseler heißen, und hier ist ein Schwert, das will ich dir zur Namengabe schenken.« Thorstein dankte ihm. Es wird gesagt, daß er in König Olafs Gefolge aufgenommen wurde und bei ihm blieb und auf Orm dem Langen gefallen ist mit den anderen Kämpen des Königs.


Wie Olaf der Heilige seine Stiefbrüder prüfte, aus denen Harald der Alte kam

Es wird erzählt, daß König Olaf -derselbe, der nachmals der Heilige genannt ward -einst bei seiner Mutter Asta zum Gelage war. Da führte sie ihm ihre Söhne vor, seine Stiefbrüder.

Der König setzte sich die beiden ältesten auf die Knie, Guthorm auf das eine und Halfdan auf das andere. Er sah sie beide an, rollte die Augen und stellte sich zornig; da wurden sie ängstlich.

Da brachte Asta ihren jüngsten Sohn zu ihm, der hieß Harald und war erst drei Winter alt.

Der König rollte die Augen auch gegen ihn; aber er sah ihm stracks entgegen. Da griff der König ihm ins Haar und zog ihn daran; der Knabe aber griff dem Könige in den Bart und riß ihn.

Da sagte der König: »Gewaltig zu strafen wirst du, Bruder!« —



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Am andern Tage wandelte der König draußen um das Gehöft und Asta, seine Mutter, mit ihm. Sie kamen zu einem Teiche; da waren Astas Söhne, Guthorm und Halfdan, und spielten; es standen dort große Gehöfte und gewaltige Scheunen, und weidete Großvieh und Kleinvieh die Menge. Dort spielten sie. Dicht daneben an einer Lehmbucht im Teiche war Harald. Er hatte Holzspäne, die schwammen in großer Menge gegen das Land.

Der König frug ihn, was das solle?

Er sagte, das seien seine Heerschiffe.

Da lachte der König dazu und sagte: »Kann sein, es kommt dazu, daß du über Schiffe herrschest, Bruder!« Da rief er Halfdan und Guthorm zu sich und frug Guthorm: »Was möchtest du wohl am meisten und liebsten haben, Bruder?«

»Äcker!« sagte er.

Der König sagte: »Wieviel denn wohl?«

Der Knabe erwiderte: »So viele, daß die Landspitze da jeden Sommer ganz besät wäre.« — Es standen aber zehn Gehöfte darauf.

Der König antwortete: »Da kann viel Korn darauf stehen!«

Da frug er Halfdan, was er am meisten und am liebsten haben möchte.

»Kühe«, erwiderte er.

Der König frug weiter: »Wie viele denn wohl?«

Halfdan antwortete: »So viele, daß wenn sie hier zu Wasser gehen würden, sie ganz dicht aneinandergedrängt stehen müßten.«

Der König antwortete: »Ihr wollt ein großes Gut haben: darin gleicht ihr eurem Vater.«

Da frug er Harald: »Was möchtest du am meisten und liebsten haben?«

Er antwortete: »Leute!«

Der König sagte: »Wie viele denn wohl?«

»So viele möchte ich haben, daß sie meines Bruders Halfdan Kühe zu einer Mahlzeit auf äßen.«

Da lachte der König und sagte zu Asta: »Hier dürftest du dir einen König aufziehen, Mutter!«



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Der häßliche Fuß

Es war ein Mann, der hieß Thorarin Nefjulssohn. Er war ein Isländer. Seine Sippschaft saß hin und her nördlich im Lande. Er war von geringer Herkunft, aber klüger und redegewandter als andere und freimütig in seiner Rede gegen Hochgestellte. Er war ein gewaltiger Seefahrer und viel außer Landes.

Thorarin war der allerhäßlichste Mensch; und das entstellte ihn am meisten, daß er so übel gegliedert war. Er hatte große Hände, aber die Füße waren noch viel häßlicher.

Thorarin war einst an dem Orte, an dem König Olaf der Breite Hof hielt, der nachmals der Heilige genannt ward. Er war dem Könige wohlbekannt. Damals rüstete er ein Kaufschiff, das er zu eigen hatte, um zum Sommer nach Island zu fahren. König Olaf hielt Thorarin einige Tage bei sich und sprach oft mit ihm. Thorarin schlief in der Halle des Königs.

Eines Morgens in der Frühe geschah es, daß der König erwachte, während die andern noch schliefen. Es war aber die Sonne im Aufgehen, und es war ganz hell drinnen. Da sah der König, wie Thorarin den einen Fuß unter der Decke herausgestreckt hatte. Er schaute eine Weile auf den Fuß, da erwachten die andern in der Halle.

Der König sprach zu Thorarin: »Wach liege ich schon eine Weile, da habe ich ein Gesicht gesehen, das mir der Aufmerksamkeit wert scheint; und das ist der Menschenfuß da, von dem ich glaube, daß er der häßlichste in der Kaufstatt sein möchte« —und forderte die andern auf, nachzudenken, ob ihnen so schiene.

Und alle, die es sahen, stimmten dem zu, daß es wahrhaftiglich so ware.

Thorarin hörte zu, was da gesagt ward, und antwortete: »Wenige Dinge gibt es, die so vereinzelt wären, daß man nicht erwarten sollte, noch ein anderes der Art zu treffen. Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß es hier noch so etwas gibt!«

Der König sagte: »Ich bin dafür, daß sich ein ebenso häßlicher Fuß nicht finden wird - und wenn ich darum wetten sollte!«

Da sagte Thorarin: »Ich bin dabei, mit Euch darum zu wetten, daß ich einen noch häßlicheren Fuß in der Kaufstatt finden werde.«

Der König sagte: »Da soll der von uns einen Wunsch frei haben beim andern, der recht hat.«



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»So soll es sein!«sagte Thorarin -da zog er unter den Decken den andern Fuß hervor, und der war um nichts schöner, und ihm fehlte der große Zeh.

Da sagte Thorarin: »Schau nur hier, König, den andern Fuß, der ist um so viel häßlicher, als ihm ein Zeh fehlt, und ich habe gewonnen!«

Der König sagte: »Der erste ist um so viel häßlicher, als fünf Zehen von dieser Art greulicher sind als viere, und ich habe gewonnen!«



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MÄRCHEN VON DEN FÄROERN


Das Seehundsweibchen

Die Seehunde sind zuerst von Menschen gekommen, die sich selbst hinabgestürzt und in der See ertränkt haben. Einmal in jedem Jahre, und zwar in der Epiphaniasnacht, ist es ihnen vergönnt, aus dem Balg zu schlüpfen, und dann sind sie anderen Menschen gleich: sie vergnügen sich da mit Tanz und Spiel nach der Weise der Menschen auf dem Steingrund am Strande und in den Klippenhöhlen.

Einmal versteckte sich ein Bursche vom südlichen Hofe in Mikladal unter einem Stein am Strande; nach Sonnenuntergang sah er eine Menge von Seehunden herbeischwimmen; und wie die ans Land gekommen waren, fuhren sie aus ihren Bälgen, legten diese am Strande hin und glichen nun richtig andern Menschen. Der Bursche sah auch ein wunderschönes Mädchen aus dem Seehundsbalg schlüpfen, und es faßte ihn alsbald ein großes Verlangen nach ihr. Er holte sich heimlich ihr Fell, das sie abgelegt hatte. —Die Seehunde tanzten und vergnügten sich die ganze Nacht; aber als der Tag zu grauen begann, fuhr jeder wieder in seinen Balg. Nur das wunderschöne Mädchen konnte seine Haut nicht wiederfinden, weinte und jammerte, denn da war die Nacht vergangen und die Stunde des Sonnenaufgangs gekommen. Aber bevor sich die Sonne aus dem Meere erhob, bekam sie Witterung von ihrer Haut bei dem Burschen und mußte nun zu ihm hin. Sie bat ihn flehentlich und mit guten Worten um ihr Fell, aber er hörte nicht darauf, sondern ging die Schlucht aufwärts nach Hause, und sie mußte ihm und dem Fell, das er bei sich trug, folgen. Er nahm sie nun zu sich, und sie lebten gut miteinander wie andere Ehegatten. Aber er mußte auf der Hut sein, sie nicht zu dem Fell kommen zu lassen; er verbarg es daher in einer Truhe, versperrte diese gut und trug den Schlüssel immer am Leib. Eines Tages war er mit ausgerudert, und wie er da draußen auf dem Meere saß und



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einen Fisch aufzog, kam seine Hand zufällig an den Gürtel, wo der Schlüssel für gewöhnlich hing; da durchfuhr es ihn, denn er wurde erst jetzt gewahr, daß der Schlüssel vergessen war, und er rief in Sorge und Schmerz: »Heut werde ich verwitwet.« Alle zogen ein und setzten sich an die Ruder, um schleunigst heimzurudern. Zu Hause merkte er, daß seine Frau verschwunden war, aber die Kinder, die sie zusammen hatten, saßen ruhig daheim. Damit ihnen kein Schaden geschähe, während sie allein drinnen säßen, hatte sie das Feuer auf dem Herd gelöscht, auch Messer und alles Scharfe unter Schloß und Riegel gebracht. Dann war sie zum Strande hinabgesprungen, in die Haut gefahren und hatte sich in die See gestürzt. Sie hatte den Schlüssel gefunden, als der Mann ausgerudert war, schloß die Kiste auf, sah hier die Haut liegen und konnte sich nicht länger beherrschen. Gerade als sie in die See sprang, tauchte das Männchen, das früher mit ihr in Liebe zusammengelebt hatte, an ihrer Seite auf, und nun schwammen sie beide von dannen; —alle diese Jahre hatte es hier gelegen und auf sein Weibchen gewartet. Als die Kinder, die sie mit dem Manne hatte, zum Strand hinabkamen, sah man einen Seehund vor dem Lande liegen und auf sie schauen, und alle dachten, das möchte ihre Mutter sein.

So vergingen viele Jahre. Einmal geschah es, daß die Mikladalsmänner hinaus auf den Paarungsplatz wollten, um Seehunde zu schlagen, da kam die Nacht zuvor das Seehundweibchen im Traum zum Bauern auf dem südlichen Hofe und sagte ihm, sie sollten das Männchen, das vor der Höhle liege, nicht erschlagen, weil das ihr Gatte sei, und die zwei Jungen, die im Innersten der Grotte lägen, müßten sie schonen, weil das ihre Söhne seien, und sie sagte auch, wie sie gefärbt waren. Aber der Bauer schenkte dem Traume keine Beachtung und ging mit den Männern. Sie erschlugen alle Seehunde, und bei der Verteilung bekam der Bauer das ganze Männchen, die Vorder- und Hinterbeine der Jungen. Zum Nachtmahl hatten sie das Haupt, die Vorder- und Hinterbeine gekocht, und als es vorgesetzt wurde, hörte man ein Krachen und großes Getöse, und das Seehundweibchen kam als der häßlichste Troll in die Rauchstube, schnupperte in den Trog und rief zornig: »Hier liegt der Alte mit der aufgestülpten Nase, die Hand Hareks und der Fuß Fridriks - und das soll gerächt werden an allen Männern von Mikladal. Es sollen ihrer so viele abstürzen oder ertrinken, bis es genug sein werden, daß sie sich an den Händen halten und die ganze Insel Kallsöy umspannen können.«



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So ist es leider auch gekommen, aber die Menge der Toten ist noch immer nicht so groß geworden, daß sie schon genügen würden, um jene Insel zu umspannen.


Das Loch der Riesin

Westlich von Sandsbygd geht ein großes Loch in die Erde hinab, das Loch der Riesin genannt, denn es wohnt eine Riesin darin. Einmal stieg ein Mann aus dem Dorf auf den Grund des Loches, um die Riesin aufzusuchen. Die Fahrt verlief gut, und er sah dort eine übergroße Alte stehen und Gold in einer Mühle mahlen; ein kleines Kind saß drinnen bei ihr und spielte mit einer Goldrolle. Die Alte war blind, und deshalb wagte sich der Mann so still vorwärts zur Mühle und nahm von dem Golde, das sie mahlte, an sich. Die Riesin sah und hörte nichts von ihm, aber merkte doch an sich, daß sich etwas Böses zutragen müsse, und sagte deshalb: »Entweder ist das die Maus, die herumläuft, oder der Dieb, der stiehlt - oder geht mir Alten das Mahlen nicht recht.« Der Mann ging nun mit dem Golde weg von ihr, nahm dem Kinde die Goldrolle und schlug es auf den Kopf, das jämmerlich zu weinen begann. Als die Riesin dies hörte, ahnte ihr Böses, und sie sprang auf die Füße, tastete nun in der ganzen Höhle nach ihm, aber fand niemanden, denn der Mann war längst aus der Höhle hinaus, war auf das Pferd gestiegen und jagte mit verhängten Zügeln schleunigst heim mit dem Golde.

Die Riesin rief daher so laut wie möglich nach ihrer Nachbarin, erzählte ihr von ihrem Unfall und bat sie, ihr den Dieb fangen zu helfen. Sie war nicht faul zu Fuß, ihm nachzurennen, schritt über den Teich so gewaltig, daß die Fußspuren heute noch im Felsen gesehen werden, je eine auf jeder Seite des Teiches; sie werden die Spuren der Riesin genannt. Er war so weit entkommen, daß ein tüchtiges Stück Wegs zwischen ihnen lag. Als er zum Wolismoor kam, da war die Riesin ihm so nahe gekommen, daß sie den Schwanz des Pferdes erreichen und packen konnte, und sie ließ ihn nicht los, sondern hielt das Roß in der Bewegung auf; der Mann spornte das Roß so hart, daß es einen Sprung vorwärts machte, aber der Schwanz riß ab, weil die Riesin sich fest auf den Beinen hielt und Kraft hatte, zu widerstehen; das Roß fiel und der Mann kopfüber von ihm -da sah man die Kirche, und der Mann war gerettet. Die Riesin, die da keine Gewalt über ihn hatte, mußte umkehren.



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Noch immer hört man über dem Riesinnenloch, wie die alte blinde Riesin in der tiefen Höhle Gold mahlt.


Dulurin

Einmal in alten Zeiten war Hungersnot auf den Färöern; ein großes Sterben war über die Schafe gekommen, das Korn war nicht reif und nichts war im Meere zu erfischen. In Wagar soll die Not am größten gewesen sein, denn es war lange her, daß sie etwas auf den guten Fischbänken westlich im Meere oder weiter draußen auf den Frühjahrsfischbänken gefangen hatten - nicht ein Bissen wurde gefangen -; sie versuchten auszurudern, kamen aber ganz leer nach Hause. Dort im Westen ging nun ein armer Mann schwermütig und kummergefesselt und klagte über seine Not; er hatte viele kleine Kinder, wußte sich aber keinen Rat, wie er sich einen Bissen verschaffen sollte, um ihn in den Mund der Kinder zu legen. Während er so in Trübsinn und Ratlosigkeit ging und über das Schicksal klagte, das so hart war, daß er seine Kinder verhungern lassen müsse und selbst verhungern solle, begegnete er einem Huldrenmann, der ihn fragte, warum er so schlechter Stimmung sei und was er für Sorgen habe. Der Wagmann gestand ihm nun, wie schlecht es mit ihm stehe. Der Hulder antwortete ihm, daß es seine Sünde sei, daß er solche Not leiden solle, denn der Fisch würde nicht ausgehen, wenn sie ihn nur zu finden vermöchten, und darum wolle er ihm nun sagen, wie man die Fischbank finden solle: »Fluß im Tal -Hügel auf Hardawöll, Bächlein auf der Zunge (Vorgebirge) —hier sollst du Fische fangen -Eisen gekaut und getreten - wer dort nichts fängt, ist todgeweiht.«

Aber als der Hulder das gesagt hatte, verschwand er plötzlich, ohne diese dunklen Worte und unbekannten Namen zu deuten. Doch prägte sich der Mann gut ein, was gesagt worden war, und begann darüber zu grübeln, und endlich glaubte er einigermaßen erraten zu haben, wo die Fischbank liegen könne; alte Leute im Dorf kannten die Namen und wußten ihm zu sagen, wo diese Zeichen zu finden seien. Aber nun galt es noch zu erfahren, warum der Hulder >Eisen gekaut und getreten gesagt hatte. Schließlich fiel ihm ein, daß gekautes Eisen das Mundstück an einem Zaum sein könnte und getretenes Eisen könnte ein Hufeisen sein; das nahm er und machte sich Angeln daraus. Als er nun damit fertig



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war, bemannten sie ein Boot zur Ausfahrt und fanden die Fischbank so, wie der Wagmann die Worte des Hulders gedeutet hatte. Er gab allen Bootmännern die Angeln, die er selber aus Mundstücken und Hufeisen geschmiedet hatte, und dann warfen sie aus. Sie waren auf die rechte Bank gekommen und hatten nicht länger als eine kleine Weile gesessen, so war das Boot bis zum Versinken voll von Fischen. Sie ruderten fröhlich von der Fischbank heim, die noch heutzutage Dulurin nach dem Hulder heißt; dorthin fahren die Leute noch immer. Auf der Heimfahrt ruderten die Wagmänner an einem Boote vorbei, das sie nicht kannten, und das war ein Hulderboot; der Vormann erhob sich vom Sitze und sagte zum Wagmann: »Ein Glückskind bist du, gut war es gedeutet, und gut war die Fischbank getroffen.» Das Boot verschwand da aus ihrem Gesichtskreis und wurde nicht mehr gesehen. Aber die Fischer aus Wagar waren froh, etwas zu haben, um es den Weibern und Kindern diesen Abend und später geben zu können.


Die Hausfrau in Husawik

Ein armes Mädchen, namens Sissal, lebte einmal in Skuwoy; sie hatte Unterkunft bei einem Bauer dort, als ein armes Geschöpf lag sie in der Nacht unter der Mühle mit Lumpen bedeckt; tagsüber saß sie draußen auf der Weide, um die Kühe zu hüten, daß sie nicht in Gefahr kommen oder von einer Wand abstürzen sollten. Eines Tages, als sie bei den Rindern saß, kam eine Schläfrigkeit über sie, sie schlief im Sitzen ein und kam aufs Gesicht zu liegen. Im Traum hörte sie jemand zu ihr sagen: »Du schläfst über Gold! Grabe unter dem Rücken zwischen den beiden Seen, dort wirst du das finden, was dich reichtmacht!« Sie erwachte, erfreut über diesen guten Traum; aber hier war kein Rücken und kein See zu sehen, und sie dachte deshalb, der Traum habe nichts zu bedeuten. Sie ging nach Hause, legte sich auf ihr Lager unter der Mühle, wie sie gewohnt war zu tun. Am nächsten Tage ging sie wieder auf die Weide hinaus, auf denselben Platz wie am Tage zuvor; Schläfrigkeit befiel sie, sie schlief wieder im Sitzen ein und hörte wiederum dieselbe Stimme sagen: »Du schläfst über Gold und so weiter.« Am dritten Tag ging es ihr ebenso. Sie wunderte sich sehr darüber, tröstete sich, daß dieser Traum doch nichts zu bedeuten habe, und ging zu einer alten Frau im Dorfe. Der erzählte sie alles. Die Alte riet ihr nun dort



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zu graben, wo ihr Gesicht auf der Erde gelegen habe; der Rücken, von dem im Traum die Rede war, werde der Nasenrücken sein und die Seen die Augen; grube sie dort, so werde sie wohl das Gold finden. Das Mädchen tat so, wie das Weib gesagt hatte, und fand das große Goldhorn, das Sigmund Brestisson gehabt hatte. Nun ging sie froh nach Hause, brachte es zum Bauer und zeigte ihm, was sie gefunden hatte, und sagte ihm alles. Der Bauer sah, daß ihr das Glück folgen würde, und sandte das Horn zum Könige nebst der Erzählung, wer es gefunden hatte. So wird erzählt, daß das Gold so rein war, daß der König es nicht besser in allen Reichen besaß; er gab ihr den Wert des Hornes in Geld und noch dazu ein Landgut in Husawik. Für das Geld kaufte sie das ganze Land, das gegen Husawik und Skarwanes liegt, und man glaubt, daß sie die reichste Frau gewesen ist, die auf den Färöern gelebt hat.

Die Blockhäuser, die sie sich in Husawik erbaute, kamen ganz aus Norwegen angetrieben, so zugeschnitten, daß sie gleich aufgestellt werden konnten; nichts fehlte daran außer dem Ljoarabogen; diese Stube wurde »die große Stube« genannt und war ein Prachtwerk. Der Steinzaun, den sie um den Friedhof errichten ließ, steht noch; die Wände der Heuscheune, der Grund des Bootshauses, das Steinpflaster zwischen den Häusern im Dorfe, alles erinnert noch an die Hausfrau zu Husawik. Um all diese große Steine, die man hier sieht, vom Gebirge zu ihrem Hause herabzuziehen, benutzte sie den Neck; aber schließlich ging es ihm schlecht: als er über die Takkmoore mit einem großen Stein kam, riß der Neckschwanz ab, und man sieht ein Zeichen von ihm am Steine, der dort liegt; aber der Neck verschwand in den »kleinen Teich«und lebt seitdem dort. Die Hausfrau war böse im Herzen; so wird gesagt, daß sie zwei Mägde lebendig in die Erde vergraben ließ, die eine in dem Acker »Teig«, die andere, die Brynhild hieß, im Brynhildarhügel. Wenn die Knechte vom Felde heimkamen und die Karste auf der Schulter trugen, wurden sie übel empfangen und bekamen wenig zu essen, denn da dachte sie, sie wären faul gewesen und hätten wenig gearbeitet. Kamen sie aber heim und schienen müde zu sein, zogen sie die Karste nach sich oder waren sie naß, wenn sie von der Ausfahrt kamen, so war sie sanft und gut und empfing sie freundlich. In Skarwanes ließ sie einen Acker herstellen und die Erde mit Spaten wenden; sie hatte Viehställe an mehreren Stellen oberhalb des Dorfes, in Kwiggjargil und »am Hügel«; einige Wiesen werden noch



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»Leinwiesen«genannt, hier legte sie Leinwand auf die Bleiche. Sie band die Felder um den Hof mit Runen, so daß kein Stein auf sie herabfällt, obgleich kein Zaun um sie ist; wird Geröll von den Klippen herabgeworfen, so bleibt es auf dem steilen Abhang liegen und fällt nicht herab.

Den Sohn der Hausfrau nennen einige Olaf, den Schäfer; der Enkel war Einiwald, die Tochter Einiwalds war Herborg, die Reiche. Sie hatte ein Kind mit dem Sohne Roalds, der damals Oberrichter war und auf seinem Hofe in Dal in Sandoy saß. Dieser Sohn Roalds ging mit dem Boote bei der Tangbank, in der Nähe von Skarwanes, unter. Als die Nachricht von diesem Unglück zu Roald gebracht wurde, war Herborg zugegen. Sie fragte da den Oberrichter, ob ein Kind im Mutterleibe auch dann das Erbe bekommen solle, wenn der Vater tot sei. »Das volle und ganze Erbe«, antwortete Roald. Sie sagte: »Erinnert euch daran, die ihr's gehört habt« und fiel in Ohnmacht. Nun erst vermutete der Oberrichter, daß sie mit einem Kinde von seinem Sohne gehe, denn sie waren noch nicht verheiratet. Ihr Sohn hieß Asbjörn und wuchs bei seinem Großvater Einiwald auf, aber sie vertrugen sich nicht gut, weil der Großvater nicht vergessen konnte, daß er ein uneheliches Kind war. Asbjörn ließ sich in Skarwanes nieder und bekam die zwölf Äcker vom Gebirge bis zum Strande von Husawik. Eines Tages trafen sich Einiwald und Asbjörn im Felde und stritten über die Grenze zwischen Husawik und Skarwanes; sie rauften sich lange, und noch mehr als ein Jahr später waren die Gruben am Fuße des Westfjelds sichtbar, wo sie sich gerauft hatten; endlich neigte sich der Sieg auf die Seite des Alten und er setzte die Grenzzeichen, wie sie zwischen ihnen sein sollten. Asbjörn erbaute einen Zaun auf der Grenzscheide. Während er hin und her ging und Steine zum Zaun zusammenschleppte, sah er einen Mann mit einem Schurz um die Lenden hin und her gehen und Steine schleppen wie er selbst; — er glaubte zuerst, daß das ein Huldrenmann sei, da er ihn nicht kannte; aber dann entdeckte er, was das war -das war er selbst, der sich als Doppelgänger gesehen hatte; er starb, ehe das Jahr zu Ende ging.



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Der Kormoran und der Eidervogel

Der Kormoran und der Eidervogel wollten beide Daunen haben. Aber es war schwierig, sich darüber zu verständigen, denn keiner wollte dem andern nachgeben: nur einer sollte sie bekommen, aber beide wollten sie gleich gern haben. Damit dieser Streit ein Ende nehmen möchte und sie nicht beide die Daunen verlieren sollten, beschlossen sie, daß der von ihnen, der am nächsten Morgen früher erwache und dem andern anzeige, wann die Sonne über dem Meeresrand auftauche, der solle die Daunen haben, um sich damit zu wärmen. Der Kormoran wußte wohl, daß er fest schlafe und schwer aufwache; aus Furcht, beim Sonnenaufgang nicht wach zu werden, wollte er bei Nacht nicht schlafen; er dachte, die Daunen seien wohl eine Nachtwache wert. Und nun setzte sich der Kormoran ganz stolz darüber, daß er, der sonst Schlafmütze hieß, die ganze Nacht nicht schlafen solle, während er den Eidervogel fest neben sich schlafen sah. Den ersten Teil der Nacht ging es erträglich, aber als es länger dauerte, fing es an schwer zu werden und er mußte mit dem Schlafe kämpfen, der ihn befallen wollte. Doch saß er noch halbwach, als es vom Tag zu leuchten begann; da rief er vor Freude: »Nun blaut es im Osten!« Über diesen Ruf erwachte der Eidervogel, der nun ausgeschlafen hatte; dagegen war der Kormoran so schläfrig, daß er nun die Augen nicht mehr offenhalten konnte, wo es am meisten darauf ankam, zu wachen.

Als die Sonne aufging, rief der Eidervogel: »Tag im Meer! Tag im Meer!«So erhielt er die Daunen; der Kormoran mußte noch mehr büßen; er verlor die Zunge, weil er nicht schweigen konnte, wo es galt zu schweigen, und das sagt man oft, wenn einer plauderhaft ist: »Warum ist der Kormoran ohne Zunge?«, damit er an seine eigene Zunge denken kann und in bezug auf das, was nicht gesagt werden soll, ihr einen Riegel vorschiebt.


Die Jagd nach dem Monde

Eines Abends sah man von Skard in Kunoy den Mond auf den Bergspitzen südlich vom Dorfe; wer dort oben gewesen wäre, hätte ihn mit Händen greifen und nach Skard mit herabnehmen können; das wäre sehr schön und bequem gewesen, meinten sie, ihn die langen Winterabende



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bei sich zu haben; da würde es nichts schaden, wenn kein Tran zum Einschütten in die Lampe da war - der große leuchtende Mond könnte wohl für sie scheinen. Es sollten darum alle Männer, die gehen konnten, aufs Gebirge steigen um den Mond herzuschaffen, damit er ihnen immer leuchte. Das tun sie auch, aber als sie dort hinaufkamen, war kein Mond mehr auf dem Berge, er war hoch in die Luft gefahren vor ihnen und weiter südwärts gegangen, und keiner hatte so lange Arme, daß er ihn hätte erreichen und fangen können.

Zurück in das Dorf zu fahren ohne Mond, hielten sie für eine allzu große Schande; sie gingen da eiligst auf eine höhere Spitze um ihn zu fangen, und es sah auch so aus, als ob ihnen das glücken sollte, denn je weiter hinab sie von der Bergspitze kamen, desto tiefer sank der Mond auf die südliche Bergspitze herab, und nun trösteten sie sich und rannten, was sie nur konnten, auf jenen Berg; aber als sie hinaufgekommen waren, war der Mond wieder fort. Nun glaubten sie, der Mond fürchte sich vor ihnen und begannen von einer Spitze zur andern zu rennen und riefen alle, so schmeichelnd sie nur konnten:

»Mond, Mond, komm in meine Tasche,
Du sollst Butterbrot dafür bekommen.«


***
Aber der Mond wollte nicht in die Tasche der Skardmänner kommen und nicht ihr Butterbrot haben, sondern fuhr seines Wegs weiter, über andern als ihnen zu leuchten. Erschöpft und todmüde kamen sie nach Hause, aber keinen Mond brachten sie mit sich.


Die Fahrt im Huldrenboot

Ein Mann aus Gasadal ging eines Nachts bei gutem Wetter von Hause fort ostwärts nach Akranes, um sich dort von den Bömännern in ihr Boot nehmen zu lassen; denn die Gasadaisleute waren gewöhnt, mit den Bömännern gemeinsam auszurudern. Als er nun nach Osten über die Skardsa kam, sah er ein Boot nach Akranes zu rudern; da lief er schnell zu ihnen hinab. Sieben Männer sah er im Boote, und auf einer Bank war ein Sitz; zwar erkannte er sie nicht in der Dunkelheit, aber er meinte, es würde schon alles in Ordnung sein. Er sprang rasch in das Boot, und sie stießen sofort vom Lande ab. Der Mann setzte sich nun



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auf die Bank, wo er gewohnt war zu sitzen, und legte das Ruder aus. Aber als er sich nun bedenkt, kennt er keinen Mann im Boot und argwöhnt, es möchten die Huldern sein, unter die er gekommen. Doch stellt er sich furchtlos und rudert tüchtig wie sie. Sie fahren nordwärts um die Insel nach der Fischbank Rawnamuli, auf die die Wagmänner im Westen hinauszurudern pflegen. Die Huldern befestigten den Köder und warfen aus, aber der Gasadaismann saß und schwieg still, denn die Schnur zwar hatte er mit sich aus Gasadal gebracht, aber seine Angeln hingen in Bö, und er hatte keinen Köder. Der Vormann im Boot fragte ihn nun, warum er nicht auswerfe; er antwortete: »Kein Haken ist da und kein Bissen ist da!«

Der Huldrenmann gab ihm Angel und Köder, und kaum hatte er ausgeworfen, so fühlte er es zucken und zog einen großen Fisch heraus. Als er ihn fertig aufgeschnitten hatte und ihn ins Boot niederlegte, nahm ihn der Vormann und zeichnete ihn, und so geschah es mit jedem Fisch, den er angelte. Als sie nun gute Fische in das Boot bekommen hatten, ruderten sie wieder heim und legten bei Akranes ebendort an, wo sie den Gasadalsmann aufgenommen hatten. Weil er den Tag im Eigenfischfang gesessen hatte, warfen sie jeden Fisch an das Land, den sie gezeichnet hatten.

Als er an das Land gekommen war und seinen Fang aus dem Huldrenboote mitgenommen hatte, merkte er erst, daß er sein Messer im Boote vergessen hatte. Da rief er ihnen zu: »Das Scharfe am Schenkel ist zurückgeblieben.« Der Huldrenmann nahm das Messer und warf es nach ihm, aber er traf ihn nicht. Da rief er: »Sei verflucht, ein Glückskind bist du!«Sie stießen nun wieder vom Lande ab, aber der Huldrenmann sagte: »Ein Hund warst du, daß du mir nicht Dank für das Boot sagtest.«


Die drei Götter und der Bauernsohn

Es war einmal ein Bauer, der hatte mit dem Riesen Skrymsli gespielt, und da er verlor, wollte der Riese seinen Sohn haben. In seiner Not rief der Bauer zu Odin, und schon stand Odin am Tisch. Odin verbarg den Knaben als Korn in einer Ähre mitten in einem Getreidefeld. Der Riese raufte das Getreide aus, und so kam ihm auch jenes Korn in die Hand, aber Odin rettete den Knaben im letzten Augenblick zu seinen Eltern und sagte, nun sei's mit seinem Schutze zu Ende. Da rief der Bauer zu



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Hönir, und schon stand Hönir am Tisch. Hönir verbarg den Knaben als Flaum am Hals des mittelsten von sieben Schwänen. Aber der Riese fing sich den Schwan in der Luft und biß ihm den Hals ab. Der Flaum flog aus seinem Schlund, aber Hönir rettete den Knaben im letzten Augenblick zu seinen Eltern und sagte, nun sei es mit seinem Schutze zu Ende. Da rief der Bauer zu Loki, und schon stand Loki am Tisch. Loki ließ ein Bootshaus machen mit einer starken Eisenstange hinter der Tür. Dann fuhr er mit dem Knaben auf die äußerste See und verbarg ihn dort als Rogenkorn in einer schwarzen Flunder. Der Riese fuhr in seinem Stahlboot auch hinaus, und Loki war als Knecht mit in dem Boot. Auf der äußersten See warf Skrymsli die Angel aus und fing die schwarze Flunder. Er nahm sie auf die Knie und zählte den Rogen ab. Da versteckte Loki den Knaben im letzten Augenblick hinter sich. Und als sie wieder am Strande waren, lief der Knabe ohne jede Fußspur über den weißen Sand zu dem Bootshaus. Aber der Riese stapfte hinterdrein und jach in die Tür und zerstieß sich den Schädel an der Eisenstange. Loki hieb ihm ein Bein ab, aber es wuchs sogleich wieder an. Da hieb ihm Loki das andere Bein ab, warf Stahl und Stein dazwischen, und nun starb der Riese. Loki gab den Knaben den Eltern zurück und sagte, nun sei es mit seinem Schutze zu Ende.


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ZUM ABSCHLUSS

Mit dem vorliegenden Band i 2 findet mit isländischen Volksmärchen und Sagas unsere zwölfbändige Reihe »Märchen der europäischen Völker« ihren Abschluß. Häufig haben uns Zuschriften und begeisterte Zustimmungen aus dem Kreis der zahlreichen Bezieher und Subskribenten unsere Arbeit erleichtert. Jeder dieser Briefe bedeutete uns Rechtfertigung und Ansporn zugleich. All jene, die eingehendere Quellenangaben und Literaturhinweise in den einzelnen Bänden vermißt haben, finden auf den folgenden Seiten ein ausführliches Titelverzeichnis in- und ausländischer Bücher, die innerhalb der i 2 Bände benutzt worden sind und zu Rate gezogen wurden.



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NACHWORT


Von den europäischen Volksmärchen

In seinen »Maximen und Reflexionen«, die von vielen als eine Art denkerische Entsprechung zur dichterischen Symbolgestaltung angesehen werden, prägte Goethe fürs Märchen die sinnvolle Ausdeutung »Märchen: das uns unmögliche Begebenheiten unter möglichen oder unmöglichen Bedingungen als möglich darstellt.«Er betonte ausdrücklich, daß er dies als Gegensatz zum Roman verstanden haben möchte: »—der uns mögliche Begebenheiten unter unmöglichen oder beinahe unmöglichen Bedingungen als wirklich darstellt«. Das ist eine höchst beachtenswerte Definition. Aufschlußreich besonders auch für Goethe selber, und man tut gut, auch von dieser Sicht her sich einmal seinen großen Roman »Die Wahlverwandtschaften«mitsamt aller dort eingewobenen Symbolbezüglichkeit neben die von ihm selber gern und mit Fleiß geschriebenen Märchen zu rücken -besonders jenes, das sich ebenso bewußt wie scheinbar nur absichtslos einfach »Das Märchen« nennt. Für Märchen hat schon der Knabe Goethe sich oft bis zu heller Begeisterung erwärmen können. Die Mutter konnte ihn durch Märchenerzählen immer wieder erfreuen. Sie selber hat der Freundin Bettina darüber berichtet und ist dann zuweilen ganz beseligt und wie verzaubert gewesen. Hören wir ihr ruhig einmal zu. Es beglückt, derart zu vernehmen, wie Märchen und Märchenerzählen das kindliche Gemüt so wundersam anzurühren vermögen, aber ein geistig waches Kind auch schon zum eigenen Fabulieren anzuregen fähig sind. Frau Aja berichtete - und Bettina hat getreulich notiert:

»Ich konnte nicht ermüden, zu erzählen, so wie er nicht ermüdete zuzuhören. Da saß ich, und da verschlang er mich bald mit seinen großen schwarzen Augen, und wenn das Schicksal irgendeines Lieblings nicht recht nach seinem Sinn ging, da sah ich, wie die Zornader an der Stirn



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schwoll und wie er die Tränen verbiß. Manchmal griff er ein und sagte, noch eh ich meine Wendung genommen hatte: Nicht wahr, Mutter, die Prinzessin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn er auch den Riesen totschlägt. Wenn ich neuen Halt machte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, daß er bis dahin alles zurechtgerückt hatte, und so ward mir denn meine Einbildungskraft, wo sie nicht mehr zureichte, häufig durch die seine ersetzt; wenn ich dann am nächsten Abend die Schicksalsfäden nach seiner Angabe weiter lenkte und sagte: Du hast's erraten, so ist's gekommen, da war er Feuer und Flamme, und man konnte sein Herzchen unter der Halskrause schlagen sehen. Der Großmutter, die im Hinterhause wohnte und deren Liebling er war, vertraute er nun allemal seine Ansichten, wie es mit der Erzählung wohl noch werde, und von dieser erfuhr ich, wie ich seinen Wünschen gemäß weiter im Text kommen solle; und so war ein geheimes diplomatisches Treiben zwischen uns, das keiner an den andern verriet. So hatte ich die Satisfaktion, zum Genuß und Erstaunen der Zuhörenden, meine Märchen vorzutragen, und der Wolfgang, ohne je sich als den Urheber aller merkwürdigen Ereignisse zu bekennen, sah mit glühenden Augen der Erfüllung seiner kühn angelegten Pläne entgegen und begrüßte das Ausmalen derselben mit enthusiastischem Beifall.«

Für die Vielfalt des schöpferisch befruchtenden Austauschs, die alles Märchenerzählen zwischen Mutter und Kind lebendig in Gang bringt, ist das wohl eines der schönsten Beispiele, die wir aus deutscher Geistesgeschichte kennen. Es bekräftigt zugleich auch die Meinung, daß zum rechten Märchenerzählen zumindest in Europa die Frau gehört, die Mutter und die Großmutter. Außer jener Frau Viehmännin, der die Brüder Grimm einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Märchensammlung zu danken haben, und der berühmten Apothekerstochter in Kassel, die Wilhelm Grimm später zu seiner Gattin machte, wären in den deutschen Ländern, aber auch in Italien, Frankreich und anderswo noch eine Anzahl solcher begnadeten Frauen zu nennen. Im von altersher hervorragend märchenkundigen Irland hat ein heutiger deutscher Weltreisender eine Frau dieser Art noch um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kennen- und schätzengelernt. In seinem wunderschönen und gemütstiefen Buch »Wo ich die Erde am schönsten fand« erzählt A. E. Johann: »Aller>modernstes<und Aller>ältestes<wohnen bei uns in Europa, aus dem eigenen Boden gewachsen, dicht beieinander in



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wahrhaft atemberaubender Vielfalt und tausendfacher Abstufung. Es ist erst wenige Jahre her, da saß ich am Herdfeuer der Anna Nicaluain, der Märchenerzählerin in der Grafschaft Donegal im Nordwesten Irlands, und hörte sie Geschichten erzählen aus den Tagen der Vorzeit, den Tagen, in denen Gut und Böse noch fraglos gut und böse war, in denen die Menschen ihr Schicksal trugen und offenen Auges damit untergingen, wenn es ihnen so bestimmt war.« Er schließt seine Betrachtungen über den Zauber des westlichen Teils der Insel, dort, wo der englische Einfluß noch am schwächsten ist, mit dem ergreifenden Ausruf: »Welche Menschen, wenn man nur genau hinsieht! Und eigentlich Menschen, die der technischen Zivilisation, der Ehrfurcht vor Motoren und Apparaten noch nicht verfallen sind. Dort gilt der Mensch nicht nach dem, was er hat, sondern nach dem, was er ist. Das allein ist wahrhaft menschlich.«Das gleiche wußte auch der große irische Dichter und Dramatiker Yeats zu erzählen, der oftmals heimlich aufgebrochen ist, um abgelegen alten irischen Märchenerzählerinnen an deren Herdfeuern zu lauschen, wo er sich auch die gespenstigen Stoffe zu vielen seiner Bühnen- und Zauberstücke zu holen pflegte. Hie und da werden wohl auch im deutschen Sprachbereich Männer als Träger der im Volke von Mund zu Mund laufenden Tradition erwähnt, und gesprochen wurde einmal davon, daß ein Volkskundler noch um die Jahrhundertwende mehr als hundert Märchen wörtlich aus dem Munde eines Straßenkehrers aus Odenburg im österreichischen Burgenland aufzeichnete, der ansonsten des Lesens und Schreibens völlig unkundig war. Es hat auch in Siebenbürgen berühmte Märchenerzähler von Beruf gegeben, die - Männer wie Frauen -gleich Spielleuten gegen Entlohnung tätig waren. Noch aus dem späteren 19. Jahrhundert weiß aus Pommern der dortige Märchensammler Ulrich Jahn, wie Männer dieser Art den Brauch bekundeten, ihre Erzählung just an Stellen, wo sie besonders spannend wurden, mit der nachdrücklichen Bitte zu unterbrechen, ihnen einen kräftigen Trunk zu kredenzen; und in Ostpreußen haben auf Dörfern herumziehende Märchenerzählerinnen wohl auch vorkommende Verse - statt sie zu sprechen - in zuweilen altertümlich anmutenden Melodien mehr gesummt als gesungen. Doch sind das meist Ausnahmen gewesen. Und wenn heutzutage die vor allem durch den Rundfunk bekanntgewordene Elsa Sophia von Kamphoevener erzählt, daß sie als junges Mädchen in der Türkei gelebt hat, dort Karawanen und Märchenerzähler begleitete und von diesen nicht nur den eigentlichen


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Inhalt ihrer Märchen kennenlernte, sondern die dahintersteckende Tradition intuitiv erfaßt hat, so ist dergleichen in seiner genialischen Perfektion schon reiner Orient. Auch was sie davon erzählt, wie sie zu Anfang gelegentlich einspringen durfte für ermüdete Erzähler und zuletzt von einem in feierlicher Zeremonie in dessen Sippe aufgenommen worden ist, kann dafür als Beweis gelten: »Die das Märchen erzählen, sind Männer, nicht Frauen und Mütter, Männer aus der Zunft der vollberechtigten Märchenerzähler, denn nicht jeder, der Märchen weiß, darf sie auch erzählen, ihre Wiedergabe ist eine beinahe kultische Handlung, die keinem Unberufenen anvertraut wird.«

Während bei den europäischen Völkern das Märchenerzählen als eine von den Ahnen und Großmüttern sich zu den Müttern forterbende Familientradition lebendig war und zuweilen noch ist, wird diese hohe Kunst im Orient von den Zünften nach strengen Zunftgesetzen gehandhabt, wie sie in Europa das Mittelalter gekannt hat. »Es sind einzelne Sippen, in denen sich die Kunst und das Handwerk, d.h. die Technik des Erzählens, forterben. Jede Sippe hat ihren bestimmten Märchenkreis, der ihr allein gehört, den nur sie erzählen darf. Wer der Zunft angehört, unterwirft sich feierlich ihren Gesetzen. Dazu gehört auch das Versprechen, kein Märchen aufzuzeichnen. Märchenerzählen ist die Kunst der Analphabeten, die Kunst derjenigen, die die Dinge lebendig in sich tragen und es verabscheuen, sie in tote Buchstaben zu bannen. Was man im Kopf und im Herzen trägt, ist persönlicher Besitz und lebt; was man aufzeichnet, ist starr und unlebendig.« Derart haben im alten Orient und in Ägypten an den Königshofen Könige und Prinzen Märchen erzählt. Esther hat dem König der Perser, Schehezerade dem arabischen Sultan ihre Märchen mündlich vorgetragen.

Unrichtig wäre es zu behaupten, daß uns heutigen Europäern die Frau die alleinige Hüterin des Märchens sei. Aber im europäischen Märchen ist wohl von jeher die Großmutter zur Weitergabe von stärkerer Bedeutung gewesen als der Großvater. Was wir vorhin von Goethes Mutter und Großmutter durch den Mund der Freundin Bettina sagen ließen, gilt in leichter Abwandlung für viele deutsche Familien.

Herder ist es gewesen, der in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« mit Nachdruck gesprochen hat von der Süße der Mutterliebe, »mit der die Natur dies Geschlecht ausstattete —fast unabhängig ist sie von kalter Vernunft und weit entfernt von eigennütziger Lohnbegierde. Nicht weil es liebenswürdig ist, liebt die



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Mutter ihr Kind, sondern weil es ein lebendiger Teil ihres Selbst, das Kind ihres Herzens, der Abdruck ihrer Natur ist. Darum regen sich ihre Eingeweide über seinem Jammer: ihr Herz klopft stärker bei seinem Glück: ihr Blut fließt sanfter, wenn die Mutterbrust, die es trinkt, es gleichsam noch an sie knüpft. Durch alle unverdorbenen Nationen der Erde geht dieses Muttergefühl; kein Klima, das sonst alles ändert, konnte dies ändern. Die Keime zum Gefühl alles Großen und Edlen liegen nicht nur allenthalben da, sondern sie sind auch überall ausgebildet, je nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die Eigenheit des Volks erlaubte.« Und er fährt fort, indem er von der Religion sagt, daß sie die älteste und heiligste Tradition der Erde sei, zu demonstrieren, daß »die Familien das ewige Werk der Natur sind —die fortgehende Haushaltung, in der sie den Samen der Humanität dem Menschengeschlecht einpflanzt und selbst erzieht. Sprachen wechseln mit jedem Volk in jedem Klima; in allen Sprachen aber ist ein und dieselbe merkmalsuchende Menschenvernunft erkennbar. Religion endlich, so verschieden ihre Hülle sei; auch unter dem ärmsten, rohsten Volk am Rande der Erde finden sich ihre Spuren. Woher kam nun Religion den Völkern? Hat jeder Elende sich seinen Gottesdienst etwa wie eine natürliche Theologie erfunden? Die Mühseligen erfinden nichts; sie folgen in allem der Tradition ihrer Väter. Auch gab ihnen von außen zu dieser Erfindung nichts Anlaß; denn wenn sie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Tieren oder der Natur ablernten: welchem Tier, welchem Naturgegenstande sahen sie Religion ab? Von welchem derselben hätten sie Gottesdienst gelernt? Tradition ist also hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Kultur, so auch ihrer Religion und heiligen Gebräuche. Sogleich folgt hieraus, daß sich die religiöse Tradition keines andern Mittels bedienen konnte, als dessen sich die Vernunft und Sprache selbst bediente: der Symbole. Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt werden will, muß jede Einrichtung ein sichtbares Zeichen haben, wenn sie für andre und für die Nachwelt sein soll: wie konnte das Unsichtbare sichtbar oder eine verlebte Geschichte den Nachkommen aufbehalten werden als durch Worte und Zeichen? Daher ist auch bei den rohesten Völkern die Sprache der Religion immer die älteste, dunkelste Sprache.« Auf diesem Wege geschieht's, daß Herder wie in aller Mythologie so auch in den Sagen und Märchen gewissermaßen Reste uralten Volksglaubens zu sehen meint: Kräfte und Triebe, »wo man träumt, weil


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man doch nicht weiß, und glaubt, weil man doch nicht sieht - und mit der ganzen unzerteilten und ungebildeten Seele wirket . . .« Ihm als erstem unter den Deutschen waren also Märchen kein bloßes Gerede und Geflunker; er erkannte in ihnen eine dem einfachen Volk eigene Ausdrucksform seines Empfindens, Fühlens und Denkens.

Wie Herder das fühlte, hat Novalis es poetisch gestaltet. Das Märchen von »Hyazinth und Rosenblüt« dürfte das gelungenste und zugleich kindhafteste Stück Poesie sein, das er uns schenkte. Es führt alles Wissen, jegliche Gelehrsamkeit, alle mühselige Grübelei zurück zur kindlichen Einfalt, die eine höhere Weisheit ist. Lange ist Hyazinth suchend umhergewandert, bis er vor Müdigkeit schließlich einschläft und träumt. Der Traum nun entrückt ihn ins Allerheiligste, er hebt den Schleier auf, und seine Traumaugen erblicken Rosenblütchen, seine in Kinderjahren innig Geliebte. Alle Natur wird vom Märchen belebt. Nur die Menschen werden versteinert, die Vögel sprechen, das Veilchen unterhält sich mit der Erdbeere und diese wiederum mit den Tieren im Walde. Geheimnisvoll und von ferne klingt Musik auf, Rosenblütchen sinkt in Hyazinths Arme, und beide leben danach noch lange Zeit mit seinen frohen Eltern und Gespielen samt unzählig vielen Kindern und Enkeln zusammen, »denn damals bekamen die Menschen so viele Kinder, als sie haben wollten . . *



***
Novalis war der ungekrönte König der Romantiker, und vielen gilt heute noch sein »Heinrich von Ofterdingen« als ein heiliges Buch. Es wäre darüber auch an dieser Stelle wohl mancherlei zu sagen. Wir wollen ihn selbst sprechen lassen und ein Stück aus dem Anfang des ersten Teils dieses zauberhaften Romans abdrucken, jenen Abschnitt, da der junge Heinrich, soeben vom Schlafe erwacht, gerade mit dem Vater über die Wonne des Träumens gesprochen hat, dann die Mutter hinzutritt und den Vater fragt, ob er sich wohl noch erinnere, »daß du mir damals auch von einem Traum erzähltest, den du in Rom gehabt hattest und der dich zuerst auf den Gedanken gebracht, zu uns nach Augsburg zu kommen und um mich zu werben«. —

»Du erinnerst mich eben zur rechten Zeit«, sagte der Alte, »ich habe diesen seltsamen Traum ganz vergessen, der mich damals lange genug beschäftigte; aber eben er ist mir ein Beweis dessen, was ich von den Träumen gesagt habe. Es ist unmöglich, einen geordneteren und helleren zu haben; noch jetzt entsinne ich mich jedes Umstandes ganz genau;



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und doch, was hat er bedeutet? Daß ich von dir träumte und mich bald darauf von Sehnsucht ergriffen fühlte, dich zu besitzen, war ganz natürlich: denn ich kannte dich schon. Dein freundliches, holdes Wesen hatte mich gleich anfangs lebhaft gerührt, und nur die Lust nach der Fremde hielt damals meinen Wunsch nach deinem Besitz noch zurück. Um die Zeit des Traums war meine Neugier schon ziemlich gestillt, und nun konnte die Neigung leichter durchdringen.«

»Erzählt uns doch jenen seltsamen Traum!« sagte der Sohn. —»Ich war eines Abends«, fing der Vater an, »umhergestreift. Der Himmel war rein, und der Mond bekleidete die alten Säulen und Mauern mit seinem bleichen, schauerlichen Lichte. Meine Gesellen gingen den Mädchen nach, und mich trieb das Heimweh und die Liebe ins Freie. Endlich ward ich durstig und ging ins erste beste Landhaus hinein, um einen Trunk Wein oder Milch zu fordern. Ein alter Mann kam heraus, der mich wohl für einen verdächtigen Besuch halten mochte. Ich trug ihm mein Anliegen vor; und als erfuhr, daß ich ein Ausländer und ein Deutscher sei, lud er mich freundlich in die Stube und brachte eine Flasche Wein. Er hieß mich niedersetzen und fragte mich nach meinem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher und Altertümer. Wir gerieten in ein weitläufiges Gespräch; er erzählte mir viel von alten Zeiten, von Malern, Bildhauern und Dichtern. Noch nie hatte ich davon reden hören. Es war mir, als sei ich in einer neuen Welt an Land gestiegen. Er wies mir Siegelsteine und andre alte Kunstarbeiten; dann las er mir mit lebendigem Feuer herrliche Gedichte vor, und so verging die Zeit wie ein Augenblick. Noch jetzt heitert mein Herz sich auf, wenn ich mich des bunten Gewühls der wunderlichen Gedanken und Empfindungen erinnere, die mich in dieser Nacht erfüllten. In den heidnischen Zeiten war er wie zu Hause und sehnte sich mit unglaublicher Inbrunst in dies graue Altertum zurück. Endlich wies er mir eine Kammer an, wo ich den Rest der Nacht zubringen könnte, weil es schon zu spät sei, um noch zurückzukehren. Ich schlief bald, und da dünkte mich's, ich sei in meiner Vaterstadt und wanderte aus dem Tore. Es war, als müßte ich irgendwohin gehn, um etwas zu bestellen, doch wußte ich nicht, wohin, und was ich verrichten solle. Ich ging nach dem Harz mit überaus schnellen Schritten, und wohl war mir, als sei es zur Hochzeit. Ich hielt mich nicht auf dem Wege, sondern immer feldein, durch Tal und Wald, und bald kam ich an einen hohen Berg. Als ich oben war, sah ich die Goldne Aue vor mir und überschaute Thüringen weit und breit,



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also daß kein Berg in der Nähe umher mir die Aussicht wehrte. Gegenüber lag der Harz mit seinen dunklen Bergen, und ich sah unzählige Schlösser, Klöster und Ortschaften. Wie mir nun da recht wohl innerlich ward, fiel mir der alte Mann ein, bei dem ich schlief, und es gedeuchte mir, als sei das vor geraumer Zeit geschehn, daß ich bei ihm gewesen sei. Bald gewahrte ich eine Stiege, die in den Berg hinein ging, und ich machte mich hinunter. Nach langer Zeit kam ich in eine große Höhle. Da saß ein Greis in einem langen Kleide vor einem eisernen Tische und schaute unverwandt nach einem wunderschönen Mädchen, die in Marmor gehauen vor ihm stand. Sein Bart war durch den eisernen Tisch gewachsen und bedeckte seine Füße. Er sah ernst und freundlich aus und gemahnte mich wie ein alter Kopf, den ich den Abend bei dem Manne gesehn hatte. Ein glänzendes Licht war in der Höhle verbreitet. Wie ich so stand und den Greis ansah, klopfte mir plötzlich mein Wirt auf die Schulter, nahm mich bei der Hand und führte mich durch lange Gänge mit sich fort. Nach einer Weile sah ich von weitem eine Dämmerung, als wollte das Tageslicht hereinbrechen. Ich eilte darauf zu und befand mich bald auf einem grünen Plane; aber es schien mir alles ganz anders als in Thüringen. Ungeheure Bäume mit großen glänzenden Blättern verbreiteten weit umher Schatten. Die Luft war sehr heiß und doch nicht drückend. Überall Quellen und Blumen, und unter allen Blumen gefiel mir eine ganz besonders, und es kam mir vor, als neigten sich die andern gegen sie.«

»Ach, liebster Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte«, rief der Sohn mit heftiger Bewegung.

»Das entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe.«

»War sie nicht blau?«

»Es kann sein«, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs seltsame Heftigkeit Achtung zu geben. »So viel weiß ich nur noch, daß mir ganz unaussprechlich zumute war und ich mich lange nicht nach meinem Begleiter umsah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerksam betrachtete und mir mit inniger Freude zulächelte. Auf welche Art ich von diesem Ort wegkam, erinnere ich mich nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter stand bei mir und sagte: >Du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bei dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in acht, was ich dir sage: wenn du am Tage Johannis



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gegen Abend wieder hierher kommst und Gott herzlich um das Verständnis dieses Traumes bittest, so wird dir das höchste irdische Los zuteil werden; dann gib nur acht auf ein blaues Blümchen, was du hier oben finden wirst, brich es ab und überlaß dich dann demütig der himmlischen Führung.< Ich war darauf im Traum unter den herrlichsten Gestalten und Menschen, und unendliche Zeiten gaukelten mit mannigfachen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik. Darauf ward alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, verschämten Blick vor mir; sie hielt ein glänzendes Kind auf den Armen und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward und sich endlich mit blendend weißen Flügeln über uns erhob, uns beide in seinen Arm nahm und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinnere ich mich nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abschied von meinem gastfreien Wirt, der mich bat, ihn oft wieder zu besuchen, was ich ihm zusagte, und auch Wort gehalten haben würde, wenn ich nicht bald darauf Rom verlassen hätte und ungestüm nach Augsburg gereist wäre.«

Lassen wir es an dieser Stelle genug sein mit der vorbereitenden Erzählung des Vaters. Der Roman will in seiner Gänze und mit Bedacht - will so recht von einer andachtsvoll geöffneten jungen Seele gelesen werden -nach dem ersten Teil, zu dem ja dieses Kapitel nur etwas wie ein herausgegriffenes Stück einer Kostprobe sein konnte -nicht mehr — auch der weit schwierigere und streckenweise bloß in Stichworten aufgezeichnete zweite Teil mitsamt allen eingefügten Gedichten und Versen, den aufwühlenden Gesprächen -Teil 1 »Die Erwartung« und Teil II »Die Erfüllung« —bis hin zu dem Gespräch zwischen dem Pilgrim und dem jungen Mädchen:

»Sie trat unter den Baum, sah mit einem unaussprechlichen Lächeln hinauf und führte den Pilger fort. >Wer hat dir von mir gesagt?<frug der Pilgrim. >Unsre Mutter.< —>Wer ist deine Mutter?< — >Die Mutter Gottes.< —>Seit wann bist du hier?< —>Seitdem ich aus dem Grabe gekommen bin.< —>Warst du schon einmal gestorben?< —>Wie könnt ich denn leben?< — >Lebst du hier ganz allein?< — >Ein alter Mann ist zu Hause, doch kenn ich noch viele, die gelebt haben.< — >Hast du Lust,



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bei mir zu bleiben?< —>Ich habe dich ja lieb.< —>Woher kennst du mich?< —>O! von alten Zeiten; auch erzählte mir meine ehemalige Mutter zeither immer von dir.< — >Hast du noch eine Mutter?< — >Ja, aber es ist eigentlich dieselbe.< —>Wie heißt sie?< —>Maria.< —>Wer war dein Vater?< —>Der Graf von Hohenzollern.< — >Den kenn ich auch.< —>Wohl mußt du ihn kennen, denn er ist auch dein Vater.< —>Ich habe ja auch meinen Vater in Eisenach.< —>Du hast mehr Eltern.< —>Wo gehn wir denn hin?< — >Immer nach Hause.«

So geht es weiter und weiter, scheint wie klar, hell und durchleuchtet — und wird zunehmend seltsamer. Von Eltern und Kindern ist die Rede, von Werden und Erziehung, Kinder werden mit Blumen verglichen. Es wird von einem unendlichen Leben gesprochen, der Herrlichkeit des Weltenendes und der goldenen Zukunft aller Dinge, der allmächtigen Liebe, die noch nicht zündet, keine verzehrende Flamme ist, eher schon einem zerrinnenden Duft ähnelt. Vom Geheimnisvollen der Wolken wird gesprochen, — »sie ziehn und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten auf und davon nehmen, und wenn ihre Bildung lieblich und bunt wie ein ausgehauchter Wunsch unseres Innern ist, so ist auch ihre Klarheit, das herrliche Licht, was dann auf Erden herrscht, wie die Vorbedeutung einer unbekannten, unsäglichen Herrlichkeit«,. . . aber es gibt auch düstere, ernste und entsetzliche Wolken, sie drohen mit allerlei Schrecken - und wenn dann verderbliche Strahlen herunterzukken, dann überfällt uns der Eindruck, allen Schrecken der Hölle und den Gewalten böser Geister überliefert zu sein. Von da an führt die Belehrung noch weiter übers Gewissen, das einem jeden eingewoben ist und in seinem innersten Menschsein alle Sinne zur Ausbildung »unseres gegenwärtigen Weltsinns« zusammenzuführen bestrebt ist.

Vieles und sehr Bedeutsames schließt sich an. Novalis starb und hat den »Ofterdingen«äußerlich unvollendet gelassen. Seine Absicht ist es gewesen, darin das eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen, deren Sinn und Gehalt das ist, das alle Dinge belebt. Mit Hilfe gründlicher Durchforschung der hinterlassenen Papiere hat Tieck einen »Bericht über die Forsetzung« des Märchenromans entworfen, dem nach ursprünglicher Planung sechs weitere Romane hatten angefügt werden sollen. Tieck nennt es einen unersetzlichen Verlust, daß der Roman nicht beendigt werden konnte, der immer erneut »aus dem Gewöhnlichsten in das Wundervollste überschweift, bis schließlich die Wunder



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verschwinden und sich unsichtbare und sichtbare Welt in ewiger Verknüpfung zusammenfinden.« Tieck zitiert auch jene Verse, die ihren Platz im »Ofterdingen«finden sollten und in denen leicht und anmutig sich der innere Geist des Schaffens dieses Friedrich von Hardenberg ausgedrückt hat, der sich selber den Märchennamen Novalis verliehen:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die ewgen Weltgeschichten,
dann fliegt vor einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.

Mit der Suche nach der »blauen Blume« hat's begonnen, in Sage und Geschichte scheint es sich immer und immer wieder zu verlieren, indianische Pflanzen werden besungen, indische Mythologie zu neuer Verklärung geführt; Tod und Leben in ein erhöhtes Einssein verschlungen. Eine innerste Durchdringung von Glauben, Phantasie und Poesie erschließt den Eintritt zur innersten Welt. Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen zusammen wie eine Familie, handeln und sprechen wie ein Geschlecht. Vollständig sichtbar wird die Welt der Märchen - und die wirkliche Welt verdichtet sich zum Märchen.

Dies alles deutet Tieck an und endet mit den Sätzen: »Die Ausarbeitung dieser großen Aufgabe würde ein bleibendes Denkmal einer neuen Poesie gewesen sein. Ich habe in dieser Anzeige lieber trocken und kurz sein wollen als in die Gefahr geraten, von meiner Phantasie etwas hinzuzusetzen. «

Wir dürfen uns im Rahmen dieser Betrachtung in Herkunft und Sinndeutung europäischer Märchenüberlieferung beim Versuch, die unvergleichliche Bedeutung dieses Novalis herauszustellen, im Anschluß an



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den Märchenroman des »Ofterdingen«darauf beschränken, zusätzlich einige jener höchst aufschlußreichen Bemerkungen anzuführen, die er im Rahmen seiner »Fragmente«dem Problem Märchen insgesamt noch widmete. Sie gehören zum Kostbarsten, was die romantische Schule zu seiner Erörterung beisteuerte; und es finden sich Sätze darunter, von denen die heutige Märchenforschung noch zehrt:

»Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie; alles Poetische muß märchenhaft sein. Der Dichter betet den Zufall an.

Im Märchen glaub ich am besten meine Gemütsstimmungen ausdrücken zu können.

Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traumbild, ohne Zusammenhang. Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten, zum Beispiel eine musikalische Phantasie, die harmonischen Folgen einer Äolsharfe, die Natur selbst.

Wird eine Geschichte ins Märchen gebracht, so ist dies schon eine fremde Einmischung. Eine Reihe artiger, unterhaltender Versuche, ein abwechselndes Gespräch, eine Redoute sind Märchen. Ein höheres Märchen wird es, wenn, ohne den Geist des Märchens zu verscheuchen, irgendein Verstand (Zusammenhang, Bedeutung usw.) hineingebracht wird.

Bedeutender Zug in vielen Märchen, daß, wenn ein Unmögliches möglich wird, zugleich ein andres Unmögliches unerwartet möglich wird; daß, wenn der Mensch sich selbst überwindet, er auch die Natur zugleich überwindet und ein Wunder vorgeht, das ihm das entgegengesetzte Angenehme gewährt, in dem Augenblick, als ihm das entgegengesetzte Unangenehme angenehm ward. Die Zauberbedingungen, zum Beispiel die Verwandlung des Bären in einen Prinzen, in dem Augenblicke, als der Bär geliebt wurde usw. Auch bei dem Märchen der beiden Genien. Vielleicht geschähe eine ähnliche Verwandlung, wenn der Mensch das Übel in der Welt liebgewönne: in dem Augenblick, als ein Mensch die Krankheit oder den Schmerz zu lieben anfinge, läge die reizendste Wollust in seinen Armen, die höchste positive Lust durchdränge ihn. Könnte Krankheit



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nicht ein Mittel höherer Synthesis sein? Je fürchterlicher der Schmerz, desto höher die darin verborgene Lust. (Harmonie.) Jede Krankheit ist vielleicht ein notwendiger Anfang der innigen Verbindung zweier Wesen, der notwendige Anfang der Liebe. Enthusiasmus für Krankheiten und Schmerzen. Tod, eine nähere Verbindung liebender Wesen.

Nichts ist mehr gegen den Geist des Märchens als ein moralisches Fatum, ein gesetzlicher Zusammenhang. Im Märchen ist echte Naturanarchie. Abstrakte Welt, Traumwelt, Folgerung von der Abstraktion usw. auf den Zustand nach dem Tode.

Sonderbar, daß eine absolute, wunderbare Synthesis oft die Achse des Märchens oder das Ziel desselben ist.

In einem echten Märchen muß alles wunderbar, geheimnisvoll und unzusammenhängend sein, alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein -die Zeit der allgemeinen Anarchie, der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturzustand der Natur - die Zeit vor der Welt (Staat). Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt, wie der Naturzustand ein sonderbares Bild des ewigen Reichs ist. Die Welt des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit (Geschichte) und eben darum ihr so durchaus ähnlich wie das Chaos der vollendeten Schöpfung.

In der künftigen Welt ist alles wie in der ehemaligen Welt - und doch alles ganz anders. Die künftige Welt ist das vernünftige Chaos -das Chaos, das Chaos, das sich selbst durchdrang, in sich und außer sich ist, Chaos 2 oder x Das echte Märchen muß zugleich prophetische Darstellung, idealische Darstellung, absolut notwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft . .

Mit der Zeit muß die Geschichte Märchen werden -sie wird wieder, wie sie anfing.

Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die



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überall und nirgends ist. Die höhern Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken.
Goethes >Märchen< ist eine erzählte Oper.«

Das scheint zuweilen den Wahnsinn zu streifen - und klingt an anderen Stellen wie beseelte Mathematik. Der abschließende Satz, der Goethes von lauter Symboldenken durchwobenes »Märchen« eine erzählte, epische Oper nennt, verlangt, um richtig verstanden zu werden, den ergänzenden Hinweis auf des Dichters andere Interpretation: »Vollkommene Oper ist eine freie Vereinigung aller, die höchste Stufe des Dramas -Epos ist wohl nur ein unvollkommenes Drama. Epos ist poetisch erzähltes Drama.«Um diese Gedanken weiterzuführen, ließe sich auch sagen, daß es notwendig und sicher überaus aufschlußreich wäre, das ganze Leben des Novalis selbst in seiner innigen Durchdringung von Realität und Traum, von Leben und Tod rein als Märchen, als Kunstmärchen und zugleich tatsächlich gelebtes Märchen zu deuten. Wir brechen ab und setzen an den Abschluß dieser Betrachtung jene Worte seines Freundes Ludwig Tieck, der von ihm schrieb, kurz nachdem Novalis - noch nicht neunundzwanzig Jahre alt - sein irdisches Dasein vollendet hatte: »Viele seiner großen Gedanken werden noch in Zukunft begeistern, und edle Gemüter und tiefe Denker werden von den Funken seines Geistes erleuchtet und entzündet werden . . . Ohne Eitelkeit, gelehrten Hochmut, entfremdet jeder Affektation und Heuchelei, war er ein echter, wahrer Mensch, die reinste und lieblichste Verkörperung eines hohen unsterblichen Geistes.«

Ist er selber in Person ein Märchen gewesen? Zumindest dürfte er auf manchen seiner Zeitgenossen wie die Figur eines Märchens gewirkt haben. Und wie eine solche ist er in die Nachwelt eingegangen. Stärker als durch jeden anderen -Tieck selber, Arnim, Brentano -auch in sehr anderer Weise Goethe -gewinnt, wer immer sich mit ihm und seinen Schriften näher beschäftigt, den berückenden Eindruck, Lüfte und Düfte unmittelbarster Märchenwelt zu atmen.

Woher kommen Märchen überhaupt? Wie sind sie entstanden? Was wissen wir von ihrer Überlieferung und was ist deren Bedeutung? Zu derartigen Fragen regt Novalis an, doch wird's gut und notwendig sein, sich in diesen Zusammenhängen einem Manne und beflissenen



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Sammler und Forscher -Wilhelm Grimm, dem auf geschlosseneren der beiden Marburger Brüder, zuzuwenden.

Bei ihm vernehmen wir (und hier nun wird eindeutig das traditionelle Volksmärchen abgehoben von der Gattung des erdichteten, des Kunstmärchens):

»Unsere Volksmärchen erscheinen allerorten als Überlieferungen und als solche in mehr als einer Hinsicht merkwürdig. Erstlich ist es unwidersprechlich, daß sie schon seit Jahrhunderten auf diese Weise unter uns fortgelebt, zwar mannigfach im Äußern sich umwandelnd, aber doch bei ihrem eigentlichen Inhalte beharrend. Wollte man annehmen, daß sie von irgendeinem Punkte in Deutschland anfänglich ausgegangen wären, so steht ihre Verbreitung durch so viel ganz voneinander getrennte Gegenden und Landschaften und die fast jedesmal eigentümliche und unabhängige Bildung entgegen; sie müßten an jedem Orte wieder neu umgedichtet worden sein. Eben darum ist auch eine Mitteilung durch Schrift, die ohnehin bei dem Volk kaum vorkommt, nicht denkbar. Aber nicht bloß in den verschiedensten Gegenden, wo Deutsch gesprochen wird, sondern auch bei den stammverwandten Nordländern und Engländern finden wir sie wieder; noch weiter bei den welschen und selbst bei den slawischen Völkern in verschiedenen, nähern und entferntern Graden der Verwandtschaft. Besonders auffallend ist die Übereinstimmung mit den serbischen Märchen, denn es wird wohl niemand darauf verfallen, daß die Erzählungen in einem einsamen hessischen Dorfe durch Serbier könnten dahin verpflanzt sein, so wenig als auf das Gegenteil. Endlich finden sich sowohl in einzelnen Zügen und Wendungen als im Zusammenhang des Ganzen Übereinstimmungen mit morgenländischen, persischen und indischen Märchen. Die Verwandtschaft also, welche in der Sprache aller dieser Völker durchbricht, offenbart sich gerade so in ihrer überlieferten Poesie, welche ja auch nur eine höhere und freiere Sprache des Menschen ist. Nicht anders als dort deutet dieses Verhältnis auf eine der Trennungen der Völker vorangegangene gemeinsame Zeit; sucht man aber nach diesem Ursprunge hin, so weicht er immer wieder in die Ferne zurück und bleibt wie etwas Unerforschliches und darum Geheimnisreiches in der Dunkelheit zurück.

Was den Inhalt selbst betrifft, so zeigt er bei näherer Betrachtung nicht ein bloßes Gewebe phantastischer Willkür, welche nach der Lust oder



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dem Bedürfnis des Augenblicks die Fäden bunt ineinander schlägt, sondern es läßt sich darin ein Grund, eine Bedeutung, ein Kern gar wohl erkennen. Es sind hier Gedanken über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter Glaube und Glaubenslehre in das epische Element, das sich mit der Geschichte eines Volks entwickelt, getaucht und leiblich gestaltet. Doch Absicht und Bewußtsein haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Überlieferung ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußert, das von ihr einmal Empfangene aber halb Unverständliche nach der Weise der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen. Je mehr das Epische Oberhand gewinnt, desto mehr wird das Bedeutende verhüllt. Die beständige Umwandlung hat natürlich viel Neues beigemischt, auf der andern Seite mußte der zugrunde liegende alte Glaube, eben weil er fremd und unverständlich ward, allmählich verschwinden, gleichsam abdorren. Der poetische Trieb bildete daraus etwas sinnlich Verständliches und Ansprechendes, aus welchem aber die Bedeutung nur hier und da dunkel, fast wider Willen hervorleuchtete, oder um es biblisch auszudrücken: das Sonnenauge des Geistes wurde auf den farbigen Pfauenspiegel der Dichtung verteilt. Dennoch läßt sich schon im voraus vermuten, daß, was zurückgedrängt wurde, nicht ganz verloren ging, und ist es hier leichter, etwas mit Wahrscheinlichkeit zu vermuten, als mit Gewißheit darzutun, so zeigt doch die nähere Betrachtung noch kenntliche Spuren der frühesten Zeit. Freilich auch nur einzelne, da das zwischengewachsene epische Grün längst den Zusammenhang verdeckt oder zerstört hat.

Schon die Belebung der ganzen Natur kann man als eine fortdauernde Überlieferung aus jener Zeit betrachten. Uns ist diese Ansicht nicht befremdend, da wir wissen, daß das Heidentum überall davon ausgegangen; für das Volk würde sie es gewiß sein, wenn sie ihm erst sollte gegeben werden. Der Sonne, dem Mond, den Sternen wohnt vor allem eine geistige Natur bei, und wenn sie zu den Bedrängten reden, ihnen Geschenke geben, die sie erretten, so erscheinen sie als angebetete, göttliche Wesen, wie sie es in den alten Zeiten der Deutschen wirklich waren. Auch die Bäume und Quellen, deren Verehrung sich lange fort erhielt, sind hier beseelt. Der Machandelbaum, d.h. der Leben verleihende, verjüngende Baum (juniperus) ist sichtbar ein guter Geist, seine Früchte erfüllen den Wunsch der Mutter nach einem Kinde; die gesammelten Knochen des Gemordeten werden unter seinen Ästen, die sich



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gleich den Armen eines Menschen bewegen und sie umfassen, wieder belebt, und die von ihm aufgenommene Seele steigt aus den leuchtenden, aber nicht brennenden Flammen der Zweige in der Gestalt eines Vögleins hervor. Es ist nur anders ausgedrückt, wenn das in den Fluß geworfene Kind oder die weiße Braut gleichfalls in dem Bild eines Vogels sich wieder erhebt; der Fluß ist da ein belebter Geist. Anderwärts fangen die Zweige an sich zu erweichen und umfassen mit ihren Armen die in Trauer an dem Stamm Ruhende. Auch dem Grabe der Mutter entspringt ein Bäumchen, zu dem sich Aschenbrödel in der Not wendet und das Geschenke herabwirft. Oder aus dem vergrabenen Eingeweide (dem Herzen) eines geliebten Tiers wächst ein Baum mit goldenen Äpfeln, der nur dem, wem er mit Recht gehört, gehorcht und folgt. Die Quelle aber, die glänzend über die Steine springt (wie heiliges Wasser in der Edda von den Bergen herabrinnt), ruft den Kindern zu, nicht aus ihr zu trinken, weil sie sonst verwandelt würden. — Weiter reicht schon die höhere Natur, die den Tieren beigelegt wird. Das Pferd Fallada spricht (wie Mimers Haupt) nach dem Tode noch zu seiner Gebieterin. Die Raben weissagen, sie wissen, gleich Odins Raben Huginn und Muninn (d. h. die mit Verstand und Gedächtnis begabten), was in der Welt geschieht. Oberhaupt aber werden häufig die Vögel als Geister betrachtet. Die Tauben kommen und lesen dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche, hacken aber den bösen Schwestern das Aug' aus; ein Vöglein wirft dem Vater eine goldene Kette um den Hals, der gottlosen Stiefmutter einen Mühlstein auf den Kopf. Wer das Herz, die Leber eines Vogels ißt, erhält übernatürliche Kräfte. —Eine der ältesten Spuren der heidnisch-symbolischen Vermischung des Tierischen und Menschlichen sind die Schwanenjungfrauen, welche hier ganz in der Gestalt und Art vorkommen, wie sie von dem alteddischen Wölundslied und den Nibelungen dargestellt werden.

Mit dieser Ansicht von einer allbelebten Natur hängt auch das Übergehen in eine andere Gestalt zusammen, und die hier verwandelten Steine, Bäume, Pflanzen sind eigentlich geistig belebte. So schwört auch in der Edda dem Baldur die ganze Natur, nicht bloß Vögel und Tiere, sondern auch Feuer, Wasser, Eisen, Erz, Steine und Bäume Sicherheit vor aller Gefahr, und hernach beweinen sie seinen Tod. Selbst die Zauberei, deren Macht sich hier so oft wirksam zeigt, beruht auf diesem Glauben, von einem allen Dingen inwohnenden Geist, über welchen man Herrschaft erlangen und ausüben kann.



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Der Gegensatz des Guten und Bösen ist häufig durch Schwarz und Weiß, Licht und Finsternis ausgedrückt. Die guten, hilfebringenden Geister sind fast immer weiße Vögel und werden sie genannt: die reinen, gallenlosen Tauben; die bösen aber und unheilverkündenden sind schwarze Raben. Es sind die schwarzen und weißen Alfen der nordischen Mythologie, welche die höchsten Güter ebenso unterscheiden mochte, da Heindal der Weltbestrahler der weiße Ase ausdrücklich heißt und Balder lichtstrahlend ist. Aber auch bei Menschen wird auf diese Weise der Gegensatz bezeichnet. Das fromme Mädchen wird weiß wie der Tag, das gottlose schwarz wie die Sünde (Nacht). So kennt die Edda Söhne des Tags und die Tochter der Nacht, und der eddische Name Dagr, welcher an unserm Dagobert, Tagglänzend, noch verstärkt erscheint, mag auf gleicher Idee beruhen. In jenem Schlosse ist alles schwarz und die drei schlafenden (zum Tod erstarrten) Königstöchter haben durch die Hoffnung zur Erlösung, denn der Zauber ist eine schwarze Kunst, nur erst ein wenig Weiß (Leben) im Antlitz. Eine andere kehrt stufenweise zu der Farbe des Lichts zurück, am ersten Tage werden die Füße, am andern der Leib bis zu den Händen, am dritten endlich auch das Gesicht wieder rein und weiß, und dann erst ist die finstere Macht ganz bezwungen. Der Königsohn, der bei Tag schläft, nur in der Nacht wacht, und den, wenn er nicht unglücklich werden soll, kein Lichtstrahl berühren darf, ist gleichfalls ein schwarzer Alfe; auch diese flohen das Licht und wurden, von der Sonne getroffen, zu Stein. Daher die Sonne: der Jammer, die Klage der Alfen heißt. Auch das Märchen von der Gänsemagd und der schwarzen und weißen Braut gehört hierher; es ist eigentlich die Mythe von der wahren und falschen Berta. Schon dieser Name sagt die Glänzende aus, sie kämmt darum ihre goldstrahlenden Haare, weil sie, wie jene Königstochter, die ohne Kleidung sich bloß in den Mantel ihrer goldenen Haare hüllt, eine strahlende Sonne, eine leuchtende Lichtelfin oder was dasselbe: eine weiße Schwanenjungfrau ist. Eine solche scheint auch ursprünglich Schneeweißchen gewesen zu sein, das selbst im Tode noch weiß und schön bleibt und von den guten (weißen) Zwergen verehrt und gehütet wird. Dabei darf man wohl an die zwei Welten der nordischen Mythologie, die eine des Lichts und der Seligkeit (Muspelheim) und die andere der Nacht und Finsternis (Nifelheim) erinnern.

Das Gute wird von dem Herrn belohnt, das Böse bestraft; er kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen findet



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er verdorben, diesen fromm und nach seinen Gesetzen lebend. Er verteilt darnach seine Gaben, die jenem zum Verderben, diesem zum Heil ausschlagen. Oder, indem er wandelt, begegnet er einer guten und einer bösen Schwester, jener gewährt er die himmlische Schönheit, diese straft er mit Häßlichkeit. Eigentümlich ist der Gegensatz ausgedrückt, wenn der Teufel als ein Gegengewaltiger sein eigenes Getier sich erschafft, seine Geißen aber alle fruchtbaren Bäume benagen, die edlen Reben schädigen und die zarten Pflanzen verderben, so daß sie der Herr von seinen Wölfen muß zerreißen lassen. Er ist der Schwarze, der nordische Surtur, der gegen die lichtstrahlenden milden Götter streitet.

Oberhaupt die Weise, wie Gott, der Tod und der Teufel leiblich auftreten, hat nicht selten einen ganz heidnischen Anstrich. Gott zieht umher, wie Odin, in Menschengestalt und wird scheinbar getäuscht, ja der Spielhans fängt zuletzt, wie ein Jöte oder Titan, Krieg gegen den Himmel an und will sich mit Gewalt den Zugang eröffnen. Auch die Fahrt in die Hölle (die Unterwelt, die nordische Hei) wird von dem, der in einer Glückshaut geboren ist, unternommen, und ihm gelingt es, die drei goldenen Haare des Teufels (den geraubten Hort) heraufzuholen. Dieser hat hier und in einem andern Märchen, wo er von drei Soldaten, denen er Rätsel vorlegt, ganz das Wesen eines naturstarken, in Felsenhöhlen wohnenden Jöten, den das kleine aber edlere Geschlecht, von seiner eigenen Tochter, Frau oder Mutter unterstützt, überlistet; nicht anders als wie Thor den Kessel des Hymer (Weltbecher, aus welchem die Götter trinken wollen) holt. Die Strafe des Bösen: in eine Tonne unter Nattern geworfen zu werden, erinnert nicht bloß an die Schlangenhöhlen der Sagen, sondern noch bestimmter an Nästrond, den Aufenthalt der Gottlosen; denn er ist nach der Edda mit Schlangen gedeckt, deren Köpfe einwärts gekehrt, Ströme von Gift herabspeien. So auch ist über Lokes, des bösen Geistes, Antlitz eine Schlange befestigt, damit ihr Gift auf ihn herabtröpfle.

Heidnisch in seinem Ursprunge ist der Gedanke von einem auf Erden vorhandenen, alle Seligkeit in sich fassenden Schatz, welchen zu erwerben Glücklichen und vom Schicksal Begünstigten möglich ist; denn wer zu der Quelle aller irdischen Herrlichkeit dringt, den läßt das Heidentum des höchsten Lebens Meister und Herr sein. Dies ist die Idee der in verschiedener Gestalt, als Hut, Tuch, Tisch usw. vorkommenden Wünscheldinge, welche jeden Gedanken befriedigen, Unsichtbarkeit



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verleihen, keines Raumes achten, kurz alle irdischen Schranken übersteigen. In dem Hort der Nibelungen liegt daher die Wünschelrute, der Zauberstab, bedeutungsvoll verschlossen und zeigt, daß Kampf um den Besitz des höchsten Guts der eigentliche Inhalt der alten Sage ist. Im Titurell Strophe 4751 steht die merkwürdige Stelle: »wande sich der Gral gelichtet dem paradies mit siner wunschelrouten.« (Es verdient angemerkt zu werden, daß Valhall - der selige Aufenthalt der im Kampf Gebliebenen in der Atlaquida Str. 2.14 —bloß die herrliche, die Wunschhalle heißt; Wunsch hier, wie überhaupt bei den Wünscheldingen, in dem alten Sinne als Inbegriff alles Wünschenswerten genommen. Daselbst wird auch der in den wallenden Rhein zu versenkende Hort val bau gar genannt, zunächst herrliche, ausgewählte Ringe; weil aber der, welcher die Wahl hat, seine Wünsche befriedigen kann, auch Wunschringe). —Sonst kommt die Sache in der Edda noch unter anderem Namen vor: Gamban-trinn Wünschelrute und Gamban-suml Wunschtafel. Die weiße, d.h. die glänzende, auf dem Gold ruhende Schlange (Fafner), womit die Unke, die eine Krone trägt und die kostbarsten Schätze gesammelt hat, übereinstimmt, ist gleichfalls ein Symbol jenes Horts; darum erwirbt, wer von ihr ißt, d.h. ihres Wesens teilhaftig wird, die höhere Einsicht in die Natur der Dinge, versteht die Sprache der Vögel und hat das Glück an sich gebannt. Ferner das Herz des auf Goldeiern brütenden, selbst goldgefiederten Vogels ist wieder nichts anderes als jenes Schlangenherz, und wenn dem, der es genossen, das Gold im Schlaf unter dem Haupt wächst, so ist das ein bezeichnendes Bild von der unbewußt in ihm wirkenden Kraft. Hierher gehört auch die unter den Wurzeln eines Eichbaums sitzende, also in der Erde verborgene Goldgans, die dem, welchem es gelingt, sie hervorzuheben, Glück und Segen verschafft, was episch lebendig dadurch ausgedrückt wird, daß ein jedes sie nur berührende Ding, wie an einem Magnet, fest an ihr hängen bleibt. — Ein anderes Bild ist der Baum, an welchem die Äpfel des Lebens wachsen, in der nordischen Mythologie so gut als in der griechischen bekannt; ohne sie veraltert und welkt alles Leben und sie vermögen das halb erstorbene wieder zu erfrischen und zu verjüngen. Dasselbe bedeutet die Quelle, an welcher das Wasser des Lebens geschöpft wird, nach ihm sehnt sich der kranke König, weil es ihn allein heilen kann; es schließt Wunden zu und gibt den Menschen, welche Zauberei in Steine verwandelte, ihre Gestalt zurück.

Verschiedentlich wird die Geschichte von einem König erzählt, der drei



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Söhne hinterläßt und nicht weiß, welchem er Reich und Krone nach seinem Tode überlassen soll. Er macht daher eine Aufgabe, es sei nun etwas Schweres zu vollbringen, etwas Seltenes und Kostbares zu holen oder eine große Kunst zu erlernen; wer sie löst, der soll der Erbe sein. Sie ziehen aus und jeder versucht sein Glück. Daß gewöhnlich der Jüngste, anscheinend der am geringsten Begabte, den Sieg davonträgt, ist in einer sittlichen Idee begründet, über die nachher noch etwas wird angemerkt werden. Herodot erzählt ein ganz ähnliches Märchen der Skythen über ihre Abkunft, welches, da auf die Verwandtschaft des Germanischen mit dem Skythischen überhaupt Rücksicht zu nehmen ist, mit jenen zusammengehalten zu werden verdient. Targitaus, vom höchsten Gott erzeugt, sei der erste Mensch in Skythien gewesen und habe drei Söhne hinterlassen. Während diese geherrscht, seien einmal goldene Werkzeuge vom Himmel gefallen, nämlich: ein Pflug, ein Joch, eine zweischneidige Streitaxt und eine Schale. Als der Älteste der drei Brüder sie aufheben wollte, sei das Gold glühend gewesen, darauf der zweite gekommen, aber auch diesen habe es gebrannt. Nachdem nun beide von der Glut abgewiesen worden, sei der Jüngste hinzugetreten, der das Gold ausgelöscht gefunden und daher die Werkzeuge habe heimtragen können. Worauf die beiden andern diesem allein das Reich überlassen. —Die flache Schale ist wohl ein Bild des Landes selbst, Pflug und Joch bezeichnet den ackerbauenden, das Schwert den Stand des Kriegers; es sind also die Symbole der Herrschaft über dieses Reich, welche der Himmel einem der drei Brüder zuweisen wollte. Auch in der Voluspá schneiden ja die Asen selbst bei der Welteinrichtung Gold, bilden Zangen und verfertigen Werkzeuge. Das Glühen der Gerätschaften deutet auf einen germanischen Glauben, welcher der Probe des glühenden Eisens zugrund liegt, denn dieses kann nur von dem, der recht hat, dem ganz Schuldlosen, ohne Gefahr angerührt werden. —Die drei Söhne aber sind in den Märchen nichts anders als die Trimurti, in welche sich der höchste Gott bei der Bildung der endlichen Welt zerteilt, dem einen von den dreien wird aber die Oberherrschaft wieder verliehen, damit die Idee des alleinigen Gottes nicht verschwinde. Jener skythische Targitaus ist kein anderer als der Mannus des Tacitus, der Sohn des Gottes Thuisko, nach dessen drei Söhnen Deutschland dreifach benannt oder eingeteilt wurde; in der nordischen Mythologie aber der zuerst erschaffene Bure, dessen drei Söhne, Odin, Vile und Ve (Har, Jafnhar und Thridi oder nach der Voluspá Odin, Häner und


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Loder) die Welt ordnen und bevölkern. Odin hat hernach die Oberherrschaft erlangt.

Der goldene, der gläserne, d. h. der glänzende Berg, wohin der Zugang so schwer und erst mit Beihilfe der Sonne, des Mondes und der Sterne oder anderer übernatürlicher Kräfte zu finden ist, welchen unten angefesselte wilde Ungeheuer bewachten und wo die Wunschdinge bewahrt werden, scheint ein Götterberg alter Mythen zu sein. Es ist derselbe, auf welchem die zwölf Riesen (Götter) den Nibelungenhort hüten, oder auch das nordische Flammenschloß der Brunhilde, deren Jsenburg im deutschen Gedicht nichts anders als Eis-Glasburg aussagt. Im Norden finden wir Asgard als Mitte der Welt mit goldenen Schildern gedeckt, und die Art, wie im Marienkind der Himmel mit seinen zwölf Türen und der dreizehnten verbotenen beschrieben wird, als ein prachtvolles Goldhaus, erinnert noch bestimmter an das goldglänzende Gladsheim mit seinen zwölf Sitzen für die Asen und dem Thron für Odin. Ferner ist Gimli zu vergleichen, heller als die Sonne, nach dem Weltende als die Wohnung der Guten noch fortbestehend; auch das Goldhaus Sindri auf dem Idagebirge und jenes, welches nach der deutschen Sage dem heidnischen Friesenherzog Radbot gezeigt ward. Endlich scheint der nordische Gläsisvöllr, welcher als vorodinisches Paradies betrachtet wird und worin der Acker der Unsterblichkeit lag, hierher zu gehören. Heilige-Himmels-Berge kommen dem Namen nach so gut wie vor uns als in den altnordischen Dichtungen bei, wenngleich manchmal nur in der bloß sinnlichen Bedeutung von hohen. (In Schottland sieht man noch jetzt auf den Spitzen hoher Berge Ruinen von wirklichen Glasburgen -vitrified forts -, deren Mauern nämlich mit Glas künstlich überzogen waren. Sie sind vom höchsten Alter. Im Wigalois Mauern wie Glas glänzend und ein Haus von hellen Kristallen gebaut.)

Die Frau Hohe oder Hulda hat auch noch, aber schwerlich in andern Ländern Deutschlands als in Hessen, Thüringen und Franken, den Namen aus der Vorzeit behalten. Sie ist eine gnädige und freundliche, aber auch furchtbare und entsetzliche Göttin; sie wohnt in den Tiefen und auf den Höhen, in den Seen und auf den Bergen, teilt Unglück oder Segen und Fruchtbarkeit aus, je nachdem sie urteilt, daß es die Menschen verdient haben. Sie umspannt die ganze Erde, und wann sie ihr Bett macht, daß die Federn fliegen, dann schneit es bei den Menschen. Ähnlich träufelt Tau und Regen herab und befruchtet das Land, wenn



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die Wolkenpferde der Walküren sich schütteln. Sie läßt sich die Haare kämmen (strählen), das heißt: sie teilt die Sonnenstrahlen über die Erde aus, denn auch die nordische Erdgöttin Sif hatte ein herrliches, von den Zwergen gewirktes Goldhaar. Um Weihnachten, wann die Sonne wieder steigt, zieht sie durch die Welt, belohnt und straft, sie führt besondere Aufsicht über die Spinnerinnen, welche, wie sich gleich zeigen wird, die das Schicksal spinnenden Elfenjungfrauen sind. Oberhaupt ist sie die große Mutter vom Berge, eine Erdgöttin, wie es die auf Rügen verehrte Hertha und die Ceres der Griechen war.

Altheidnischen Glauben enthält auch das Märchen von den drei spinnenden Weibern; diese nämlich spinnen den goldenen Faden des Schicksals, gleich den Nornen, Walküren und Parzen. (Auch die Edda —im ersten Helgelied Str. 3 —bedient sich des Ausdrucks: Schicksalsfäden -aurlaug thättir - und goldene Fäden -gullin simar -die Nornen befestigen sie unter dem Mondsaal, d.h. am Himmel.) In ihnen sind leicht die halbüberirdischen Schwanenjungfrauen, als welche auch die Walküren geschildert werden, zu erkennen: sie haben noch den Platschfuß oder den breiten Daumen und die Schnabellippen. Rastlos spinnen sie Tag und Nacht, ohne Ende quillt der Faden hervor, aber auch die Edda sagt von den Walküren, daß sie ohne Ruhe gewesen, immer (nach ihrer Arbeit, das Schicksal zu treiben, weben, orlog drygia) sich gesehnt, und in dem Wölundslied wird gerade erzählt, wie sie am Seestrand sich niedersenken, das Federgewand ablegen und köstlichen Flachs spinnen. Das ist nämlich der epische, sinnliche, aber bedeutungslos erscheinende Ausdruck für den alten tiefsinnigen: das Schicksal spinnen, weben. Auch die goldspinnenden Königstöchter in den Märchen sind nichts anders als Glück und Reichtum spinnende, schaffende Schwanenjungfrauen. Und da die Spindel, das Rad kreist, so fällt mit diesem Bild ein anderes, gleichfalls uraltes, in dem eddischen Mühlenlied schon ausgebildetes zusammen, von einem Mühlenrad des Schicksals, welches alles, was der Wunsch verlangt (daher auch ein Wünschelrad), mahlt: Gold, Frieden und Krieg. Und so werden wir auf die noch fortdauernde Idee eines das Entgegengesetzte herumtreibenden Glücksrades (wie es im Wigalois der König besitzt) geführt. Fast immer sind die Goldspinnenden auch Hirtinnen, sie hüten Gänse, Schwäne, d. h. die Geister, was wiederum nur ein anderer Ausdruck für das Lenken, Bewachen des Schicksals ist.

Gleichfalls der Däumling ist eine aus der Vorzeit übrige Götteridee. Er



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ist der die Heimat Schützende, seine Geschwister aus der Not Rettende, immer wohl Leitende und ohne Zweifel mit den Kabiren und Penaten verwandt, die ja auch in kleiner, zwerghafter Gestalt gedacht wurden. In eine Reihe mit ihm gehören die Wichte!-, Haulenmänner, Kobolde und Zwerge. Sie sind gleichfalls die Alfen der nordischen Mythologie und ebenso beides: gut und wohlwollend oder bös und schadenfroh. Sie bewohnen nicht bloß die Oberwelt, sie heißen auch die Unterirdischen und durchdringen die verborgene und heimliche Erde, wo die herrlichsten Häuser für sie bereitstehen; sie sind der in die feinsten Adern der Welt verteilte treibende Lebensgeist.

Oberhaupt aber das die Naturkräfte in dem Gegensatz ihrer wilden und stillen Wirkungen darstellende Riesen- und Zwergwesen lebt hier noch in den Formen und Bildern fort, in welchen es die alten ursprünglich deutschen Gedichte darstellen, das Übermächtige und doch Ungeschlachte jener ist in ähnlichen naiven, höchst bezeichnenden Zügen dargestellt, so wie die Schlauheit, List und wiederum das Zutätige und Bereitwillige der Kleinen aus Elberichs Reich, welche durch ihre wunderbaren und geheimen Kräfte immer auch das Geistermäßige ihrer Natur erkennen lassen. Legen wir diese einzelnen Körner zusammen, so scheint von dem alten Glauben noch durchzublicken: Belebung der ganzen Natur, Pantheismus, ein Fatum, das gute und böse Prinzip, die Trimurti, große höhere Götter mit ihrem Götterberg, sowie Verehrung kleinerer besonderer Gottheiten.

Die epische Mannigfaltigkeit dieser Märchen ist dagegen groß, jedes einzelne hat seinen besonderen Inhalt. Dennoch läßt sich das Ganze in gewisse Maßen einteilen und darnach übersehen.

Erstlich wird der Kampf des Guten und Bösen, von dessen eigentümlichem Ausdruck vorhin die Rede war, in vielfachen Verschlingungen und Wendungen dargestellt; häufig in den kindlichen Verhältnissen der Geschwister. Der Bruder ist in die Gewalt böser Mächte gefallen, die Schwester hört es und sucht ihn nun, durch Wälder und Einöden wandernd, scheut keine Gefahr, vollbringt die schwersten Aufgaben und erlöst ihn endlich, denn das Gute und Reine taucht doch am Ende als das allein Wahre und Bestehende hervor und besiegt das Böse. Und in wieviel schönen Zügen ist dabei das Menschliche eingeflochten! Nicht immer gelingt es, den Zauber ganz aufzuheben, die Warnungen der wohlwollenden Geister werden vergessen und die Arbeit muß von neuem angefangen werden.



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Die reinen Geister, indem sie das Gute befördern, begleiten sichtbar den Menschen auf seinen Wegen. Daher überhaupt Mythen und Sagen von jenen höheren Menschen, mit denen die Götter selbst Umgang gepflogen, und daran schließen sich die Märchen von jenen besonders begabten, mit ungewöhnlichen Vorzügen ausgestatteten. Jener kommt schon in einer Glückshaut auf die Welt, ihm schlägt alles Widerwärtige zum Vorteil aus, er geht selbst in die Hölle, dem Teufel seine Geheimnisse abzulocken. Den beiden Brüdern wächst das Gold im Schlaf unter dem Kopfkissen, kein Schuß versagt, die Tiere kommen herbeigelaufen, um ihnen zu dienen, und Zauberei vermag nichts gegen sie. Schneewittchen, Aschenputtel und das mit seinem Liebsten Roland entfliehende Mädchen stehen unter einem besonderen Schutze.

In seiner Idee immer dasselbe, wird ein Märchen vier- bis fünfmal, jedesmal unter andern Verhältnissen und Umständen, erzählt, so daß es äußerlich als ein anderes kann betrachtet werden. Die gute und unschuldige, gewöhnlich die jüngste Tochter wird von dem Vater in der Not einem Ungeheuer zugesagt oder sie gibt sich selbst in seine Gewalt. Geduldig trägt sie ihr Schicksal, manchmal wird sie gestört von menschlichen Schwachheiten und muß diese schwer abbüßen, doch endlich empfindet sie Liebe zu ihm, und in dem Augenblick wirft es auch die häßliche Gestalt eines Igels, eines Löwen, eines Frosches ab und erscheint in gereinigter, jugendlicher Schönheit. Diese Sage, welche auch bei den Indiern einheimisch ist und mit der römischen von Amor und Psyche, der altfranzösischen von Parthenopex und Meliure sichtbar zusammenhängt, deutet die Bannung in das Irdische und die Erlösung durch Liebe an. Stufenweise arbeitet sich das Reine hervor, wird die Entwicklung gestört, so stürzt Elend und Schwere der Welt herein, und nur von der Berührung der Seelen, vor der Erkenntnis in Liebe fällt das Irdische ab.

Es ist schon vorhin bemerkt, daß diese Poesie es ihrer innern Lebendigkeit überläßt, die gute Lehre zu geben; an sich ist es nicht ihr Zweck, am wenigsten ist sie ausgedacht, um irgendeine gefundene moralische Wahrheit auseinanderzusetzen. Dagegen sind einige Märchen deutlich auf eine Lehre gerichtet, doch nur, indem sie mit dem bestehenden Volksglauben zusammenhängt und daraus die Sage sich gebildet, nicht aber soll sie durch den ersonnenen Gang einer Geschichte, wobei zuletzt eine Erklärung nötig wird, herausgekünstelt werden. Dahin das Märchen von dem Mütterchen, welches über Gottes Fügungen trauert



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und in einem nächtlichen Bilde die traurigen Schicksale schaut, die von ihr abgewendet worden; das Märchen von dem Kind, das der gestohlene Heller nicht im Grabe ruhen läßt, das die Hand aus dem Grabe streckt; von der Brautschau, den Schlickerlingen, wodurch Fleiß und Häuslichkeit empfohlen werden; von dem Großvater und Enkel; dem undankbaren Sohn; von der Sonne, die allem Heimlichen zusieht und es an den Tag bringt. Mehrere sind ganz christlichen Inhalts und unterscheiden sich durch Reichtum und Mannigfaltigkeit von den einförmigen Legenden. Vor allem ist das Marienkind zu nennen; erst lebt es mit den Engeln in reiner Unschuld, dann, durch die Neugierde zur Sünde verleitet, wird es aus dem Himmel verstoßen. Nun muß es den Schmerz der Erde erfahren, solang es in der Sünde beharrt, aber in dem Augenblick, wo sich das Herz zu Gott bekehrt, zeigt er sich auch wieder gnädig und alle Not hört auf. In dem Märchen von dem Mädchen ohne Hände ist es so schön ausgedrückt, daß vor der Reinheit alle List des Bösen zuschanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen läßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt und zu ihm betet, durch einen reinen Tau die Augen wieder. In dem Märchen von der Nelke speisen Gottes Tiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Königin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie die himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anrührt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gott immerfort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem äußern Mißverständnis zur Seligkeit führe.

Siegfried erscheint öfter am kenntlichsten in dem jungen Riesen an jener eigentümlichen Mischung eines tapfern und reinen Herzens und einer gutmütigen und scherzhaften Laune, in welcher ihn das Nibelungenlied darstellt. Siegfried handelt unbewußt, aber in sicherm Gefühl von der Herrlichkeit seiner Natur und Lebenskraft. Was den Zusammenhang mit der Fabel betrifft, so wäre er zu eng angegeben, wenn man voraussetzte, anfänglich sei völlige Übereinstimmung gewesen und nur durch Ausfüllung der Lücken mit Hilfe der Einbildungskraft das Abweichende entstanden; dagegen, wollte man behaupten, die Übereinstimmung, wie sie sich findet, sei bloß zufällig oder hätte ihren Grund in dem auf gleiche oder verwandte Gedanken von selbst zurückkehrendem Geist, so wäre dies noch unrichtiger. Sie ist zu merkwürdig und geht in zu viele einzelne Züge, als daß an einen solchen



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Zufall könnte gedacht werden. Freilich ist die deutsche Sage im ganzen und großen aus dem Wesen des deutschen Geistes entsprungen, und es ist ihre Aufgabe, ihn darzustellen; aber eben in dem Ineinandergreifen des Notwendigen der Überlieferung und des Freien der poetischbildenden Kraft besteht ihr Leben, und eine solche Mischung müssen wir auch hier annehmen. Daß sich noch ein Zusammenklang mit der nordischen Sage, am deutlichsten in Beziehung auf Aslaug, erhalten, der in andern Denkmälern nicht mehr vernommen wird, ist umso wichtiger, als es zeigt, daß das Ganze nur in dem Bewußtsein des Volks vollständig vorhanden war und dasjenige, was in den einzelnen Gedichten hervortrat und ausgebildet wurde, immer nur als Bruchstück, wenn auch organisches, darf betrachtet werden. Bei dem Volk hat noch fortgedauert, was in den durch die Schrift auf uns gekommenen Dichtungen so gut wie spurlos untergegangen ist, als jene gleichfalls hierhergehörigen Lieder von Saurle und Hamder, deren Dasein doch ausdrückliche Zeugnisse beweisen. Auch hierin gleicht die Sage der Sprache, die eben so nur in dem Bewußtsein des ganzen Volkes vollständig lebt.

Die Tiermärchen öffnen eine andere Welt. Das heimliche Treiben der Tiere in den Wäldern, Triften und Feldern hat etwas sehr Bedeutendes. Es herrscht unter ihnen eine bestimmte Ordnung, in dem Bau ihrer Wohnung, in dem Ausflug, der Heimkehr, dem Füttern der Jungen, der Vorsorge für den Winter; ihr Gedächtnis scheint groß, sie machen sich einander verständlich, und ihre Sprache ist wohl nicht mannigfaltig, aber mächtig und eindringlich. Sie vereinigen sich in Scharen, ziehen aus, haben Anführer und bekriegen einander. Dabei ist nichts natürlicher, als ihnen ein sittlich geordnetes, menschliches Leben und Weben zuzuschreiben, das sie nur unsern Blicken zu verbergen scheinen. Das Auge der Dichtung aber sieht alles Geheime und Verborgene, sie offenbart diesen innern Haushalt der Tiere, und da sie ihnen zugleich die menschliche Sprache beilegt, wodurch sie allein schon vieler menschlicher Gedanken teilhaftig werden, so sind sie uns noch näher gerückt. Außerdem entsteht durch die beständige Vermischung des Tierischen und Menschlichen ein besonderer Reiz: man denkt, es wären wirklich Menschen, die Gefallen daran hätten, sich einmal in dieser Gestalt zu belustigen. Natürlich, daß bei dieser Vereinigung Sagen herüber und hinüber gegangen sind; manchmal wird das ganz Unbelebte mit hineingezogen, selbst Strohhalm, Kohle und Bohne machen eine Reise zusammen.



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Das Böse in List und Verschlagenheit ist der Fuchs; in Gewalt und Plumpheit ist es der Wolf. Die schwachen Tiere, zumeist die Vögel, sind die Gutgesinnten, welchen von jenen nachgestellt wird. Auch stehen sich beide wieder entgegen, wie anderwärts Zwerge und Riesen: so ist in dem Märchen von dem Bär und Zaunkönig der Sieg der Kleinen über die Großen und Unbeholfenen beschrieben, und der Wolf, der das Rotkäppchen und die jungen Ziegen berückt, stellt den Menschenfresser vor, der endlich doch durch seine Plumpheit überwältigt wird. Wo die Menschen mit den Tieren zusammenkommen, sind jene gewöhnlich hart und ungerecht, werden aber dafür bestraft, wie z. B. in dem Märchen von dem Hund und Sperling.

Die Eigentümlichkeiten eines ganzen Volkes pflegt die Poesie um einzelne zu versammeln, so daß, was in der Menge zerstückt, schwach oder unbestimmt sich zeigt, gesteigert zu einem Ganzen vereinigt wird; man könnte sagen, sie ließ uns nur vollständige und in Farben ausgemalte Exemplare sehen. Stellt ein solcher Charakter zwar das Gemeinsame dar, so tritt er zugleich als eine scharf gezeichnete, für sich in ihrer Besonderheit lebende Gestalt auf; vorzüglich erscheinen im Komischen, weil es so viel Eckiges und Hervorspringendes hat, gleich feststehende Masken. Oberhaupt aber, je mehr solche Charaktere auf die Natur eines Volks, seine Tugenden und Schwächen sich gründen, desto bleibender und unvergänglicher werden sie auch sein und nach allen äußerlichen Veränderungen jedesmal frisch sich herausbilden. Welches Epos hätte nicht als Helden einen Achill oder Ulysses, im Humor und Scherz seinen Lalenbürger und Eulenspiegel. Es sind die natürlichen Formen und Grenzen der Poesie, innerhalb welcher sie sich mit aller Freiheit und Mannigfaltigkeit bewegen kann. Von Siegfrieds eigentümlichem, die deutsche Natur vorzugsweise bezeichendem Charakter war vorhin die Rede; dieser hat aber schon einen gewissen Anklang von einem andern, der hier oft vorkommt und der Dummling genannt wird. In der Jugend zurückgesetzt, zu allen Dingen, wozu Witz und Gefügsamkeit gehören, ungeschickt, muß er gemeine Arbeiten verrichten (wie Siegfried das Schmiedehandwerk treibt) und Spott erdulden; er ist das Aschenkind, das am Herde oder unter der Treppe seine Schlafstätte hat; aber es leuchtet dabei eine innere Freudigkeit und eine höhere Kraft durch; schön wird er im Parcifal der Dummeklare genannt. Kommt es dann zur lebendigen Tat, so erhebt er sich schnell, wie eine lange keimende, endlich vom Sonnenlicht berührte Pflanze,



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und dann vermag er allein unter vielen das Ziel zu erreichen. Er ist hier unter verschiedenen Verhältnissen dargestellt, gewöhnlich der Jüngste von dreien Brüdern, stehen ihm die beiden andern in Stolz und Hochmut entgegen; wenn sie zusammen ausgeschickt werden, um eine Aufgabe zu lösen, wonach der Vorzug unter ihnen bestimmt werden soll, verlachen ihn jene und sehen ihn mit Verachtung an. Der Dummling aber zieht in kindlichem Vertrauen aus, und wenn er sich ganz verlassen glaubt, hilft eine höhere Macht und gibt ihm den Sieg über die andern. Unterliegt er der Mißgunst und wird ermordet, so verkündigt doch lange nachher der weißgebleichte, hervorgespülte Knochen die Untat, damit sie nicht unbestraft bleibe.

Der Dummling ist der Verachtete, Geringe, der Kleine, und nur von Riesen auf gesäugt, wird er stark; so nähert er sich dem Däumling. Dieser ist bei seiner Geburt nur so groß als ein Daumen und wächst auch nicht weiter. Bei ihm ist alles in Klugheit ausgeschlagen, er ist aller List und Behendigkeit voll, so daß er sich aus jedem Unfall, in den ihn seine kleine Gestalt so oft bringt, jedesmal zu helfen, selbst noch Vorteil für sich zu ziehen weiß. Jedermann äfft er und zeigt eine Lust an gutmütiger Neckerei, überhaupt die Natur der Zwerge; auch mögen alte Sagen von diesen hier noch fortdauern. Manchmal ist er als ein kluges Schneiderlein dargestellt, das mit seinem feinen und schnellen Verstand die Riesen schreckt, die Ungeheuer tötet und die Königstochter erwirbt, er allein kann die vorgelegten Rätsel lösen.

Das Bäuerlein, das ein hölzernes Kalb auf die Weide schickt, aber hernach durch allerlei listige Streiche sich Reichtum zu verschaffen weiß, steht zwischen dem Däumling und dem Lalenbürger. Dieser kommt aber hier in verschiedenen Abstufungen vor, am deutlichsten in den Narrheiten des Catherlieschen und der klugen Else, die Albernheit wird unter dem Anschein eines breiten Verstandes und mit eigenem Wohlgefallen manchmal mit einem leisen Bewußtsein betrieben; dann gehören die sieben Schwaben hierher, die alle an einem Spieß auf Abenteuer ausziehen, einen Hasen als ein Ungeheuer aufjagen und von einem Frosch ums Leben gebracht werden. Eigene Mischungen sind, wo die Dummheit zum Vorteil ausschlägt, wie beim Doktor Allwissend und bei der Hochzeit des gescheiten Hans, oder umgekehrt die Weisheit immer übel angewendet wird, wie bei dem Jungen, der auf Reisen gehen wollte.

Ein vierter Charakter ist der Bruder Lustig. Er bekümmert sich um



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nichts, als ein fröhliches Leben, weiß nicht, was gut und was bös ist, und ihm wird darum nichts zugerechnet: Als der Herr kommt, bei ihm zu herbergen, ist er bereit, das Letzte mit ihm zu teilen, doch vertut er gleich im Spiel den Groschen, wofür er einen Trunk zu der Speise holen soll. Dem Apostel Petrus, der in der Gestalt eines Armen um ein Almosen ihn anspricht, gibt er seinen letzten Heller, und als dieser im Glauben, einen Frommen gefunden zu haben, mit ihm zieht, betrügt er ihn alsbald um das Herz des gebratenen Lämmchens und ist ärgerlich, daß der mächtige Apostel nicht mehr Geld zusammenbringt. Als Bärenhäuter dient er dem Teufel, wird aber aus der Hölle wieder fortgeschickt. Den Tod hat er lange zum Narren, endlich muß er ihm folgen, aber nun will ihn weder der Himmel noch die Hölle einlassen, bis er durch einen guten Einfall in jenen sich Eingang verschafft. Gewissermaßen macht der Schneider, welcher, als er aus Gnaden in den Himmel aufgenommen worden, dort Richter über die Sünden sein will und wieder ausgestoßen wird, das Gegenstück zu ihm. In der Legende ist der heilige Christoph, der sich einen Herrn sucht, dem Teufel dient und mit Verachtung ihn verläßt, weil er vor dem Christkind erschrickt, nach diesen Sagen gebildet.

Endlich der Aufschneider; in ihm gibt sich die reine und, weil sie unverhohlen ist, schuldlose Lust an der Lüge kund. Die menschliche Einbildungskraft hat das natürliche Verlangen, einmal die Arme, soweit sie kann, auszustrecken und ungestört das große Messer, das alle Schranken zerschneidet, zu handhaben. In diesem Sinne ist das Märchen von dem aus dem Himmel geholten Dreschflegel gedacht; nur ein Schritt weiter ist dann das Zusammenstellen des völligen Widerspruchs und Vereinigung des Entgegengesetzen, wie im Märchen vom Schlaraffenland. Doch mögen auch in jenen wunderbaren Künsten der sechs Diener alte Riesensagen fortdauern, die nur, nachdem aller Glaube daran sich verloren hatte, in einer solchen humoristischen Weise noch dargestellt werden konnten. Wenigstens wird das Riesenwesen, ihre Sprünge, ihr Schießen und Kugelwerfen, die sprengende Kraft ihrer Augen, ihr ungeheures Essen und Verschlingen in den alten Sagen und Liedern ganz ähnlich und in allem Ernst beschrieben.«

Überaus wichtig erscheint uns, was Wilhelm Grimm von den Überlieferungen der Märchen zu sagen weiß und wie er in diesen Zusammenhängen an heidnische Welt und sich auf christliche Elemente stützendes Gedankengut anknüpft. An anderer Stelle -dort, wo er sich über Herkünfte



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und Überlieferungen einzelner nordischer Märchen verbreitet, finden wir bei demselben Grimm die folgenden Sätze:

»Es ist in diesen Märchen eine Zauberwelt aufgetan, die auch bei uns steht, in heimlichen Wäldern, unterirdischen Höhlen, im tiefen Meer —und den Kindern noch gezeigt wird. Häufig kommt es vor, daß eine Mutter, unwissend oder aus Not, ihr Kind verkauft hat an ein Ungeheuer, wie hier die Königin an einen wilden Nachtraben, das es wegträgt oder dessen Zauber dadurch gelöst wird. Oder auch, daß der Bruder die verlorene Schwester aufsucht und im Meeresgrund findet, wo sie ein wilder Zauberer in seinem Wasserschloß hält, der das Menschenfleisch wittert, und vor dessen Wut ihn die Schwester schützt, bis sie endlich erlöst werden. Hier muß man zuletzt mit dem armen Rosmer, der seine Frau selbst auf dem Rücken unwissend aus dem Meer trägt und, wie er sie unten nicht mehr findet, vor Leid ein Stein wird, Mitleid haben. Diese Märchen verdienen eine bessere Aufmerksamkeit, als man ihnen bisher geschenkt, nicht nur ihrer Dichtung wegen, die eine eigene Lieblichkeit hat und die einem jeden, der sie in der Kindheit angehört, eine goldene Lehre und eine heitere Erinnerung daran durchs ganze Leben mit auf den Weg gibt; sondern auch, weil sie zu unsrer Nationalpoesie gehören, indem sich nachweisen läßt, daß sie schon mehrere Jahrhunderte durch unter dem Volk gelebt haben.«

Und weiter sagt Wilhelm Grimm an anderer Stelle von den Märchen ganz allgemein:

»Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, trägt seine Notwendigkeit in sich und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben betaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein kleines zusammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem ersten Morgenrot schimmernd. Innerlich geht durch diese Dichtungen dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wund bar und selig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben bläulich-weißen, makellosen, glänzenden Augen (in die sich die kleinen Kinder selbst so gern greifen), die nicht mehr wachsen können, während die anderen Glieder noch zart, schwach und zum Dienst der Erde ungeschickt sind. So einfach sind die meisten Situationen, daß viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle wahrhaftigen doch immer wieder neu und ergreifend.«



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Etymologisch kommt das uns geläufige Wort »Märchen« vom mittelhochdeutschen Wort maere her, was ursächlich »Kunde« bedeutet und zumindest seit den Brüdern Grimm eine voller reichlich fließender Phantasiebefähigung ausgeschmückte Erzählung, in deren Ablauf sämtliche Naturgesetze aufgehoben sind und das Wunder regiert. Für die darin auftretenden Personen oder Helden existiert keinerlei historische Gegebenheit, sie besitzen nichts von einer faßbaren Individualität. Ihre Namen sind so alltäglich wie möglich. Häufig wird einfach von »einem« Fischer geredet, von »einer« alten Frau und dann wieder von »einem« König. Wunderbare Dinge erleben sie alle und erreichen durchs überraschende Eingreifen sonderbarer, erstaunlicher und oft mit Zauberkräften ausgestatteter Helfer ihre vielfach sehr hochgesteckten Ziele. Die ganze Natur erscheint beseelt, Erscheinungen des Tierreichs sprechen mit den Menschen wie mit ihresgleichen, und auch die Menschen von sich aus verkehren mit Tieren, Pflanzen und den unterschiedlichsten Dingen und Gegenständen auf der gleichen Ebene. Im Märchen lebt und schwebt der Mensch -losgelöst von allem vernunftgefesselten und logischen Denken in einem Raum von unbegrenzten Möglichkeiten, die alle sich jeweils von der Situation her auftauchenden Wünschen bereitwillig öffnen. Es ist der unvergleichbare eigene Reiz dieser Märchenwelt, daß alles darin sich auf eine ausgleichende und zum Schluß hin zunehmend versöhnende Gerechtigkeit hin entwickelt . . . »und lebten froh und zufrieden« —weiter und weiter. Dergleichen glückliche und beglückende Entwicklungen heben das Märchen immer wieder und mit aller zuversichtlichen Gewißheit ab von Sagen, Fabeln und auch von jeder Legende, sowie allem realen Geschehen. Seit damit begonnen wurde, Märchen in der Art von Gruppen und Gattungen einzuteilen, wird allerorten zwischen Tiermärchen, Zauber- und Wundermärchen, solchen von Zwergen und Riesen, von Ungetümen, von Teufeln und Gespenstern, listigen und dummen und oftmals auch furchtbar gefährlichen, unterschieden. Lügenmärchen und Schwänke sind eine Gruppe für sich. Ihren Ursprung haben sie wohl alle im unlösbaren Geheimnis eines erfindens-, erlebens- und erzählensbefähigten Erzählers, als der sich allermeist das uralte Volksbewußtsein selber erweist. Man nennt sie mit gutem Recht auch Allgemeingut des Volkes oder ganzer Völkergruppen. Es hat Märchenforschung längst schon vor der Tätigkeit der Grimms gegeben. Wir wissen heute mit aller Sicherheit, daß das Motiv zum Zauberschlaf schon aus Urzeiten der Menschheit



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einverwoben gewesen ist. Ein gewisser Glaube daran läßt sich nahezu über die ganze Erde hin nachweisen. Bei den Deutschen verknüpft er sich in seinen späten Variationen beispielsweise mit der Sigurd-Brunhilde-Sage. Den meisten ist er durchs Märchen vom Dornröschen bekannt geworden. Daß einige Jahre und ganze Zeiträume durch Schlaf und Verzauberung, Fluch oder Heilsspruch überwunden und ausgelöscht werden, davon berichtet z. B. jenes bekannte Gedicht vom Mönch zu Heisterbach. Es gibt Ähnliches und Verwandtes überraschend und verblüffend nicht nur bei den Siebenschläfern. Auch die Japaner kennen das berückende, mitunter auch qualvolle Motiv. Heutzutage wird zu seiner Erklärung -wie zur Deutung anderer Märchenmotive oft die Psychoanalyse herangezogen und in diesen und ähnlichen Zusammenhängen auf C. G. Jungs Traumuntersuchungen und die Lehre vom »kollektiven Unterbewußtsein« hingewiesen. Es scheint uns hier nicht der rechte Ort, darauf einzugehen. Doch wollen wir es nicht unterlassen, zumindest andeutend auf ähnliche und verwandte Überbleibsel und Reste von sogenannten primitiv-magischen Vorstellungen aufmerksam zu machen. Innerhalb eines derartigen Denkens wird u.a. wohl auch im Leben selber eine überaus geheimnisvolle Kraft gesehen und eine solche Kraft dann wiederum bestimmten einzelnen Körperteilen zugedacht. Blut ist seit jeher »ein besonderer Saft«. Es besitzt im Märchen »Die Gänsemagd«übernatürliche Kräfte. In »Schneewittchen« eignen solche der Lunge und Leber. Vergleichbar Ähnliches erscheint beim »Teufel mit den drei goldenen Haaren«. Geheimnisvolle Sympathiekräfte lassen sich im »Märchen von der Unke« oder bei den »Goldkindern« nachweisen. Eindringliche Nachforschungen auf dem Gebiet des dereinstigen »Volksglaubens« können noch mancherlei zutage bringen. Das uralte und ewig wiederkehrende »Es war einmal . . bleibt ein nie versiegender Bronnen.

Während der Zeiten vor den Brüdern Grimm und zu deren Lebzeiten war die allgemein verbreitete Anschauung hinsichtlich Ursprung und Herkunft der Märchen nicht nur innerhalb der deutschen Forschung die, daß sich in ihnen Reste unserer uralten Götter- und Heldensage erhalten hätten. Es wurde gesagt: Was in den höheren Ständen abgestorben und verlorengegangen sei, habe sich unterm einfachen und gemeinen Volk von einem Geschlecht zum anderen fortgeerbt. Die spätere Forschung hat alle derartigen Vorstellungen abgelegt. Als um 1860 der in Göttingen lebende Sanskritforscher Theodor Benfey das



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uralte indische Fabel- und Märchenbuch »Pantschatantra«ins Deutsche übersetzte, fand die in seinen Erläuterungen aufgestellte Meinung, das geheimnisumwobene alte Indien sei die ursprüngliche Heimat der Märchen, bereitwilligen Glauben. Es hat damit die nachstehend angedeutete sehr eigene Bewandtnis: Der ursprüngliche Text der Sammlung ist nicht mehr vorhanden. Es bestehen von altersher mehrere unterschiedliche Fassungen, doch ist man im Grunde seit längerer Zeit sich völlig einig in der Vermutung, daß es sich dabei um Niederschriften alter buddhistischer Priester handelt, die es darauf anlegten, leicht faßbare Beispiele für die fünf Grundhaltungen eines klugen und wegweisenden vorbildlichen Verhaltens im Sinne der Lehre und des Vorlebens Buddhas ins Volk und alle erreichbare Welt zu bringen. In weit über zweihundert Textfassungen läßt sich die Sammlung in vierundsechzig Sprachen asiatischer, afrikanischer und europäischer Völker nachweisen. Darüber hinaus sind noch viele Übersetzungen - u.a. auch ins Malaiische und in hinterindische Idiome bekanntgeworden. Schon im ii. und 12. Jahrhundert ist das Ganze ins Arabische und von daher ins Griechische und Lateinische übertragen worden. Übers Hebräische ist es schließlich ins Deutsche und weiter in andere europäische Sprachen gekommen. Benfey entwickelte daraus jene viele zunächst überzeugende, später sehr bald schon heftig umstrittene »Wandertheorie«, derzufolge sich die Märchen von Indien her, wo sie alle eine einmalige Entstehung gefunden hätten, nach allen Richtungen hin verbreitet haben sollen. Diese orientalistische Forschung hat Märchen auch in Ägypten und Babylonien, die ethnologische hat solche bei den Naturvölkern sämtlicher Kontinente aufgespürt.

Sehr im Gegensatz zu Benfey sind E. B. Taylor, ein Engländer, der Schotte Andrew Lang sowie der in Leipzig amtierende W. Wundt dafür eingetreten, daß von einer mehrfachen Entstehung der Märchen nicht abgekommen werden dürfe. Ihre Forschungen führten zur Einsicht, daß sich auch bei den räumlich entferntesten Völkern sehr ähnliche und oft völlig gleiche Vorstellungen über menschliche, tierische und auch pflanzliche Wesenszüge, über Tote, Geister und magische Kräfte gebildet haben, die einzig und allein aus der unantastbaren Gleichartigkeit der menschlichen Psyche sich erklären lassen. Heute ist man sich unter Fachleuten wohl durchweg einig, daß ein einfaches Märchenmotiv recht wohl an sehr unterschiedlichen Orten entstehen kann. Wo jedoch gleiche Motivketten miteinander übereinstimmen, handelt es sich um



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Wanderungen - und solche haben zu allen Zeiten stattgefunden. Märchen sind mit Kaufleuten, mit Schiffern, mit Geistlichen und mit Kriegern und Soldaten gewandert -über ausgedehnte und weite Räume und durch lange und gewaltige Zeitspannen. Das älteste bis auf unsere Tage gekommene altägyptische Märchen stammt aus der Frühzeit des Mittleren Reichs und ist ein ausgesprochenes Reisemärchen. Von den Märchen der Naturvölker und solchen aus Babylonien und Assyrien, aus dem alten Arabien und der griechischen und römischen Antike soll hier nicht gesprochen werden. Wir beschäftigen uns hier vornehmlich mit den Märchen der europäischen Völker und Länder unter Voranstellung der deutschen.

Die in Europa verbreiteten Märchen sind aller Vermutung nach schon seit dem neunten und zehnten Jahrhundert beeinflußt worden von keltischen Überlieferungen, also vom Norden. Einströmungen der Antike haben im südlichen und südöstlichen Europa nachgewirkt. Später sind semitische Einflüsse und solche aus Byzanz spürbar, indische tauchen seit der Zeit der Kreuzzüge auf. Nach dem dreizehnten Jahrhundert gewinnt das weitgespannte Bereich von »Tausendundeine Nacht« zunehmend Raum.

Im deutschen Märchen haben die ältesten Märchenüberlieferungen rein mythische Bedeutung. Während des zehnten Jahrhunderts ist das Vodringen von keltischen Schwank- und Lügenmärchen spürbar. In den Märchen wiederkehrende Reime und Verse sind uraltes Erbgut - Anlehnungen an Zaubersprüche gehören dazu. Im elften und zwölften Jahrhundert fangen Erscheinungen aus der Ritterzeit an, von der Märchenwelt Besitz zu ergreifen. Bürgerliche Elemente treten während der dann folgenden Zeit auf, und im 17. und 18. Jahrhundert wird französische Beeinflussung deutlich sichtbar.

Der sieghafte und strahlende Vorstoß der orientalischen Märchenwelt in ganz Europa ist eingeleitet worden durch den Franzosen Antoine Galland. Das geschah im Jahre 1704 mit der Einführung von Tausendundeine Nacht, dem prachtvollen und schwerlich zu übertreffenden Zauber- und Wunderwerk der Scheherezade. Um diese Zeit leuchteten noch, wenn auch allmählich umdustert, Glanz, Prunk und Ruhm des Sonnenkönigs Ludwig im nirgendwo auch nur annähernd erreichten Versailles. Im Zauber- und Feenreich des Roi de Soleil war ein Märchenreich entstanden, residierte ein wahrer Märchenfürst. In der



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Atmosphäre dieses majestätischen Hofes und einer diesen umschwärmenden Gesellschaft erzählte Charles Perrault seine »Contes de ma mere l'oye«; nicht den Kindern hat er seine Märchen erzählt, wie das nachher für ihr Volk die Brüder Grimm mit ihren »Kinder- und Hausmärchen« getan haben -Perrault war ausgesprochen ein Mann der höfischen Gesellschaft. Er erzählte seine unterm Volk erlauschten Märchen als Causerien und zur Unterhaltung im Salon den Erwachsenen. Über ihn berichtete der bekannte französische Literat und Chronist Andre Bay: »Perrault kam es vor allem darauf an, die schönen Räume auszuschmücken, die dazu bestimmt waren, die Hoffeste nach den Moden fremder Nationen zu gestalten, das heißt, auf griechische und türkische Art, nach dem Geschmack der Perser und des Großmoguls oder der Chinesen, was zweifellos ganz abgesehen von der Einzigartigkeit den besonderen Vorteil bot, den Abgesandten anderer Länder zu beweisen, in welch hohem Maße Frankreich gleichsam ein Abbild der Welt sei.« Die Zeitlosigkeit der phantasievollen Märchenwelt erschien Perrault gerade gut genug, die künstlerischen und gesellschaftlichen Unternehmungen des ancien regime damit auszufüllen und in triumphierendem Glanze zu übersteigern. Inmitten der festlichen Überzukkerung des Schlosses von Versailles entfaltete sich zugleich eine Versailler Periode der Märchenforschung. Das Märchen vom Aschenbrödel wurde auf diese Weise zur Grundlage eines Galafestes in den mit Kerzenschein überstrahlten Sälen des Sonnenkönigs. Mit Hilfe der attraktiven Möglichkeiten, die sich von seiten der Feenmärchen derart glanzvoll anboten, wandelte sich das Märchen damals in Frankreich zunehmend zum eitlen und brillierenden Gesprächsstoff vornehmer Salons-und die empfindsamen Damen und Herren des Rokoko retteten sich vorm düstern Herannahen eines der Aufklärung folgenden Volksaufstandes und der heranstürmenden Revolution in die träumerisch tändelnde Märchenwelt. Es war, als brächen erneut die Zeiten der Troubadours herein. Der Sturm auf die Bastille und der Blutdurst der Guillotine bewirkten ein schauerliches Erwachen und eine vollkommen anders laufende Entwicklung.

Aller bengalisch flackernde Schein der Tage Perraults wurde schließlich abgelöst von der Waldinnigkeit der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen im deutschen Bereich. Ein genaues Vergleichen der Varianten weit über die europäischen Völker verbreiteter bekannter Märchen wie Aschenbrödel, Schneewittchen, Rotkäppchen, Dornröschen und anderer



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in den französischen, irischen, deutschen und sonstigen Wortlauten führt zur Entdeckung mannigfacher kulturhistorischer Unterschiede - und läßt zugleich immer wieder die Wurzeln gemeinsamer Herkünfte aufspüren. In eben dieser Richtung hat neuerdings unsere europäische Märchenforschung ein ausgedehntes neues Betätigungsgebiet gefunden.

Während Friedrich von der Leyen seit gut fünfzig Jahren in seiner umfangreichen Sammlung der »Märchen der Weltliteratur« kaum noch überschaubare Schätze aus aller Welt zusammenträgt, unternimmt unsere Buchreihe in sehr viel bescheidener gehaltener Form den Versuch, einen systematisch geordneten Überblick der Märchen der europäischen Völker zusammenzustellen.

Ermöglichen wird sich überm Lesen und Vergleichen der zwölf Bände ein anregendes Schweifen zwischen den unterschiedlichen und einander ergänzenden Volksseelen und Kulturbereichen, ein Fliegen von Wiese zu Wiese, von Bergen über Täler, Ströme und Flüsse zu nördlichen und südlichen Meeren -wie Schmetterlinge, Bienen und Vögel von Blüte zu Blüte, von Busch und Baum zu Baum und Busch flattern, fliegen, sich laben und nähren mal hier und mal dort nach freiem Gelüste am reich und bunt besetzten Tisch der Pflanzenwelt dieser so herrlichen Erde, die tatsächlich ein Stern ist - und unser altes, täglich von neuem sein Jungsein beweisendes Europa darin eins der strahlendsten Diademe.

Die Märchensammlung der Brüder Grimm fand während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts ein mannigfach widertönendes Echo von Irland bis zum Balkan, von den Ostseeländern bis nach Andalusien und Portugal. Mit nachfolgenden Generationen sind neue Forscher herangewachsen. Auf J. Bolte und G. Polivka und deren erweiterte Ausdehnung der Grimmschen Forschungen folgten französische, englische, skandinavische Unternehmungen. Seit dem Jahre 1907 erscheinen in Helsinki in regelmäßig publizierten Zusammenstellungen die »Folklore Fellows Communications«(FFC). Ein weitgespanntes Verzeichnis der Märchentypen hat Antti Aarne 1928 zusammengestellt. J. Bolte brachte ein Handbuch »Name und Merkmale des Märchens« bereits im Jahre 1920 heraus und begann anschließend mit einem alphabetisch geordneten Handwörterbuch des deutschen Märchens in Gemeinschaft mit Lutz Mackensen. Folkloristische Handbücher gibt es außerdem in



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deutschen, englischen, französischen und amerikanischen Ausgaben. Ober das europäische Volksmärchen schrieb der Schweizer Max Lüthi das bisher maßgeblichste Buch. Es erschien 1947 in Bern.

Inneres Heimweh nach abgelebten Zeiten und eine heimliche Sehnsucht nach in näherer Zukunft dämmernden Morgenroten klingt zwischen 1850 und 1870 in einer kühnen pädagogischen Vision des französischen Kulturhistorikers Hippolyte Taine auf, der Goethes Geisteswelt nahe verbunden gewesen ist. Die nachstehenden Sätze daraus verdienen es, gerade in deutschen Vorstellungen festgehalten zu werden:

»Erzählt dem Kinde nur Märchen! In der Sonne laßt es herumlaufen und im Garten! Es soll die Pflanzen anschauen und die Tiere und die schönen Wolken. Zerstört nicht durch Zwang die ursprüngliche Schönheit seines Körpers und seiner Seele! Das neue Blut, das in diesen jungen Adern kreist und diese frische Haut straff spannt, das rosige Fleisch, in dem noch die Muttermilch zu leben scheint, diese fragenden großen Augen, dieser neugierige und bewegliche Verstand, diese geschmeidige unaufhörliche Lebendigkeit, all diese Freude am Leben und Lernen, diese Hingabe seiner selbst, —das ist der ursprüngliche Mensch, der nahe an seiner Quelle steht, der noch mit den untergeordneten Wesen verwandt ist, einfach und glücklich, wie das Wasser, das fließt und um die Felsen plätschert, in süßestem Murmeln rauscht und unter den liebkosenden Strahlen der Sonne sich hindehnt.«Angesichts der Tatsache, daß die breit und umfassend vorgenommene Registrierung aller Märchenvarianten schon im letzten Jahrzehnt des letztvergangenen Jahrhunderts annähernd 400 höchst unterschiedliche Abarten und Versionen des Rotkäppchenmärchens ans Licht brachte, hat neuere Erforschung dazu geführt, daß dafür nach einer usprünglichen Form gesucht wurde. Das einfache Nebeneinander allein dieses Märchens in seinen so unterschiedlichen deutschen und französischen Fassungen führt sehr rasch zur Einsicht, daß für ein solches von falschen Voraussetzungen ausgehendes Fragen nie eine Antwort zu finden ist. Den wahren Märchenverstand bekunden jene, deren ,Empfinden, Aufnahmebereitschaft und Phantasie weit genug gespannt sind, sich an der Vielfalt und Fülle all der mannigfachen kleinen, rotbekappten Mädchengestalten zu freuen, die, von ihren Müttern gesandt, für sich allein durch den dunklen Wald gehen, um die kranke Großmutter aufzusuchen und dieser ein kräftigendes Getränk und duftenden, wohlschmekkenden



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Kuchen zu bringen. Gefahren, deren es in der Welt nie ermangelt, lauern ihnen bei jedem einzelnen Schritt auf, den sie wagen. Ganz naturhaft sind diese im Wolfstier verkörpert; und höchst unterschiedlich geht natürlich das Abenteuer aus. Wen so etwas auch nur im geringsten verwundert, der soll sich auf Märchen gar nicht erst einlassen. Eine vorjahren gegründete »Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker« mit Schwestergesellschaften in Frankreich, Belgien, England, Spanien, sowie der Schweiz und der Türkei hatte im Sommer 1963 eine Zusammenkunft an der Pariser Sorbonne. Unter dem Präsidium des französischen Germanisten Maurice Boucher, der sich in diese Funktion mit dem deutschen Professor Schulte-Kernminghausen teilte, haben da für mehrere Tage Märchenfreunde aus vielen europäischen Ländern mit Gelehrten, Studentinnen und Studenten einander Märchen erzählt, sich über Märchenprobleme unterhalten und untereinander die Beglückung erfahren, daß Märchen gerade nach dem Ende der beiden großen Kriege, die weite Teile unseres geschundenen Kontinents weithin zerfleischten, dafür empfängliche Erwachsene noch immer in mit Entzücken und geradeso ergriffene, wie voller Andacht lauschende, gar nicht genug bekommende Märchenkinder verwandeln können. Der Schweizer Leza Ufer (Professor in St. Gallen) hielt bei dieser Gelegenheit einen seither oft diskutierten Vortrag, in dessen Mittelpunkt aufhellende Vergleiche zwischen deutscher und französischer Märchenwelt standen. Der Vortragende rühmte am französischen Märchen dessen farbigeren Wortschatz, seine Leichtigkeit und die fröhlich spielende Heiterkeit. Vom deutschen Märchen meinte er, daß es vordringlich von Gemütsbewegungen lebe, die es geradezu lieben, mit Schwarzweißschilderungen aufzuwarten. Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, in Frankreich würden mehr Märchen gelesen als östlich vom Rhein, stellte aber auch in aller Schlichtheit fest, daß im ganzen westlichen Europa die weithin gerühmte einander erzählende Dorfgemeinde seit langem schon nur noch in der Einbildung existiert und heutzutage auch auf der entlegensten rötoromanischen Alp jeder Hüterjunge seinen Lautsprecher erschallen und dröhnen läßt. Mit einer die festliche Tagung abschließenden Festrede wurde das Sammelwerk der Brüder Grimm gewürdigt, die zu ihrer Zeit einen vollkommen neuen Märchenstil geprägt haben, der für ganz Europa das Gesicht der Volksmärchen bestimmte und formte.


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Worin sich diese Märchen der Völker Europas im einzelnen trotz aller sie verbindenden Gemeinsamkeiten voneinander unterscheiden und vielfältig auch ergänzen, wird in speziellen Abhandlungen in den Einleitungen zu den Einzelbänden dieser Buchreihe noch aufgezeigt werden. Was Friedrich von der Leyen, der verehrenswerte Senior der heutigen deutschen, europäischen und die Weite der ganzen Welt umspannenden Märchensammlung, in seinem zweibändigen Werk »Die Welt der Märchen« betonte, gilt heute »und immer wieder« für alle Märchen: »Schließlich ist das Märchen ein ängstlich behüteter heiliger Besitz der Primitiven und seit Jahrtausenden das große Glück der Kinder. Diese führt es immer noch in die Elemente und in die Verklärung unseres Seins zurück. Es zeigt ihnen eine im Glanz des Wunderbaren erstrahlende und doch ihre Welt. Möge dies gesegnete Vorspiel nie aus unserer allzu ernsten und allzu schweren Wirklichkeit verschwinden!«

Karl Rauch



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MÄRCHENSAMMLUNGEN DIE MÄRCHEN DER WELTLITERATUR. Herausgeber Friedrich von der Leyen. Reichlich fünfzig Bande. Seit 1912 in steter Folge. Anfänglich in Jena, seit 1948 in Düsseldorf. DAS GESICHT DER VÖLKER. Herausgegeben von Erich Röth. Ursprünglich Eisenach, seit 1951 Kassel. MÄRCHEN DER EUROPÄISCHEN VÖLKER. Herausgegeben von K. Schulte-Kemminghausen und G. Hüllen. Seit 1961 Münster i.W. MÄRCHEN AUS DEUTSCHEN LANDSCHAFTEN. Ebenda. BEGEGNUNG DER VÖLKER IM MÄRCHEN. Ebenda. Delarue, Paul: CONTES MERVEILLIEUX DES PROVINCES DE FRANCE. Paris - seit 1953. Dähnhardt, Oskar: NATURSAGEN vier Bände, Leipzig, 1907 bis 1912. FOLKLORE FELLOWS COMMUNICATIONS (FFC). Helsinki seit 1907 (derzeit über zweihundert Nummern). CONTES ET LEGENDES. Paris, seit 1945, bisher rund achtzig Bände. FAIRY TALES. London. Reichlich fünfzehn Bände. Eine erschöpfende Übersicht aller Märchenbestände - nicht allein für Europa, sondern für alle Welt -bietet das ständig durch Neubearbeitung erweiterte Grundwerk von Johannes Bolte und Georg Polivka: ANMERKUNGEN ZU DEN KINDER- UND HAUSMÄRCHEN DER BRÜDER GRIMM. Neu bearbeitet zwischen 1913 bis 1932. Berlin. Lüthi, Max: DAS EUROPÄISCHE VOLKSMÄRCHEN. Zürich 1951. Tetzner, Lisa: DIE SCHÖNSTEN MÄRCHEN DER WELT FÜR 365 UND EINEN TAG. Düsseldorf 1951. Jacobs, Joseph: ENGLISH FAIRY TALES. London 1911. Sutermeister, O.: KINDER- UND HAUSMÄRCHEN AUS DER SCHWEIZ. Aarau 1873. Afanassjew, A. N.: RUSSISCHE VOLKSMÄRCHEN. Wien 1910. Schrecke, E.: FINNISCHE MÄRCHEN. Weimar 1887. von Beit, Hedwig: SYMBOLIK DES MÄRCHENS. Bern 1952 bis 1957. Cosquin, Emanuel: CONTES POPULAIRES DE LA LORRAINE. Paris 1886. MÄRCHEN MYTHUS UND DICHTUNG. Festschrift für Friedrich von der Leyen. München 1963.



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