Atlantis Bd_04-0003. |
Flip
|
|
MÄRCHEN AUS KORDOFAN
HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS
1923
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA
Atlantis Bd_04-0004. |
Flip
|
|
TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE
MIT EINER KARTE
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN VORBEHALTEN COPY-RIGHT
1923 BY EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
KULTURGESCHICHTLICHE
FRAGMENTE AUS DEN NILLÄNDERN
Das verträumte Land
Fünf Regionen durchflutet der Nil.
Der von Norden her über das Gebiet der klassischen Kulturgeschichte
nach Süden streifende Blick des Europäers trifft ihn in
einem Lande, in dem aller Zauber des Morgenlandes, aller Reichtum
altgeschichtlichen Werdens, alle Schattierungen der Kultur
zusammengetragen scheinen, in Ägypten - dem Land, in dessen
Monumenten die Geschichte von fünf Jahrtausenden gebucht ist,
dem Land, in dem einst die Märchen von Tausendundeiner Nacht
aufgezeichnet wurden, dem Land der üppigsten Fruchtbarkeit, eng
eingekeilt zwischen steinige und sandige Wüsten. Nach dem Norden
zu am reichsten, prunkhaftesten, nach Süden verarmend und
damit in das Wesen der zweiten Region hinüberführend.
Diese zweite Region, Nubien, erscheint wie ein verarmtes
Agypten.
Und doch ist die dritte Region noch ärmer. Von Berber bis zur
Mündung des Bahr ei Ghasal gleiten die Boote zumeist zwischen
nackten Ufern dahin. Der Charakter der Oase ist als gemeingültig
verschwunden. Nur Gärten, Akazien, Gebüsch, Steppengras unterbrechen
die oft nur sandige Ode. Das ist die eigentliche Mittelregion
der Nilländer.
Denn nach Süden nimmt die Üppigkeit ständig zu. Zwischen
Bahr ei Ghasal und den Seen mehrt sich der Reichtum der Flora;
in der fünften Region, im Gebiet zwischen den Seen des englischen
und deutschen Ostafrika entwickelt die tropische Pracht sich in
ganzer Fülle - hat sich die Kultur wieder zu höheren Stufen aufgeschwungen,
blühen Reiche, sprossen Sagen, leben Erinnerungen
an eine reiche geschichtliche Vergangenheit.
Im Süden und im Norden sind die Nilländer geschichtlich reich.
Die Bewohner des mittelsten Nillandes wissen im allgemeinen von
geschichtlicher Vergangenheit nichts. Die Vergangenheit kümmert
sie nicht. Die Araber und Berber weiden ihre Herden, die Neger
bestellen ihre Felder, heute wie gestern - morgen wie heute. Die
Fragen, ob die Regenzeit richtig einsetze, ob eine Viehseuche herannahe,
sind die wichtigsten. Die Menschen wissen und wollen nichts
anderes. Kaum sind drei Jahrzehnte verstrichen, seit die Greuel
die Mahdiländer brandmarkten, und daß englische Truppen, mit
fanatischen Derwischen um Vorrechte kämpfend, zu Tausenden
und aber Tausenden mit ihrem Blute die Erde zeichneten -keiner
der Eingeborenen hat ein Interesse daran. In der Hauptstadt
Khartum, in der einst des edlen Gordons Haupt auf hoher Stange
aufgerichtet war, rollt ein emsiges Geschäfts- und Regierungsleben
tagtäglich seine Schienen auf und nieder, und in El Obeid,
der frühern Residenz des Mahdi, der Hauptstadt Kordofans, sprechen
die Männer in den Cafés von den Preisen des Gummi und von
der Aussicht der Fruchternte - das blutige Bild jüngster Vergangenheit
ist verwischt.
Ich war in keinem Lande Afrikas, in dem die Landschaft so einförmig
ist und so wenig von der Vergangenheit spricht als in dieser
Mittelregion der Nilländer und auch bei keinem Volke, das auch
nur ähnlich arm an Tiefenblick, so flach an Schau, so gleichgültig
gegenüber den Fragen des Woher und des Wohin war.
Und doch gibt es eine Reihe von Tatsachen, die es ohne weiteres
vermuten lassen, daß die Geschehnisse der Mahdiperiode nur ein
vorläufig letztes, schon in seinem ersten Aufflackern ersticktes Ereignis
sind, das gewaltige und historische kulturgeschichtliche Vorgänge
der Vergangenheit mit dem Einsatz, wenn auch nicht mit
der Auswirkung, wiederholt.
Ganz anders gestaltet sich nämlich das Bild dieser Länder,
wenn wir sie nicht mit dem Nilstrom der Länge nach überblicken,
sondern mit der Sonne von Osten nach Westen überschauen
- allerdings nicht im ersten Augenblick. Ein flüchtiges
Überschauen zeigt nämlich wiederum rechts vom Nil Senaar und
die Ghesire und links vom Nil Kordofan, eines fast ebenso arm an
Äußerungen alter Kultur wie das andere. An diese beiden schließen
sich aber an im Osten Abessinien und im Westen Dar For, beide
Reiche aufgebaut auf starker, wechselvoller und blühender Vergangenheit,
beide bedeutend durch jenen Schicksalsreichtum, der
feste Linien in die Physiognomien zeichnet, beide bewußt verbunden
mit Sitten und Ruinenfeldern, die durch ihr Dasein das
Einstmals immer wieder in das Gedächtnis zurückrufen und damit
aus verträumter Gegenwart erwecken.
Eines nur schneidet scharfe Unterschiedlichkeit in die äußere
Gestalt Dar Fors und Abessiniens. Bei den Foranern umgeben
heute noch vier Erzherzoge den König, von denen jeder bestimmte
Aufgaben hat. In Abessinien sind die vier Hauptbeamten auch
heute noch vorhanden, die Funktionen führten sie aber vor langer
Zeit einmal aus, und nur die Sage weiß es noch. Die Foraner feiern
heute noch ihr großes Trommelfest. Bei den Abessiniern hängen
diese Trommeln aber nur noch als Erinnerung an längst vergangene
Vergangenheit in den Kirchen. Die triphallische Königskrone Fors
wird jetzt noch an geheimer Stelle aufbewahrt, in Abessinien wurde
sie schon vor ein und einem halben Tausend Jahren abgeschafft.
Ein Abessinier, der im Jahre 1912 meinen Besprechungen mit den
Foranern in Kordofan beiwohnte, sagte ganz klar und sehr treffend:
"Alles, was bei den Foranern lebt, ist in Abessinien tot. Das, was
heute bei den Abessiniern lebt, ist nicht bis zu den Foranern vorgedrungen."
Ein Foraner sagte aber darauf: "For ist der Sohn von Napht
(siehe unten), Napht ist der Sohn von Habesch, Habesch und Masr
(Ägypten) sind die Söhne von Kasch. Kasch aber lebte wie der
Mahdi in Kordofan. Er war weither von Osten gekommen."
Als dieser Mann -Arach-ben-Hassul, von dem ich nachher
noch mehr zu sagen haben werde -dies mitteilte, skizzierte er mit
wenig Linien eine große Vergangenheit, ein in sich abgeschlossenes
Bild, ein Gemälde, in dem Kordofan, das heute so stille, anscheinend
schicksalsbare, verträumte Land die Stellung der Hauptperson
einnahm.
***Das Land Kordofan hat die Form eines Dreiecks, Weißer Nil,
Bahr ei Ghasal und eine von Khartum zu den Quellflüssen des
letztgenannten Stromes gezogene Linie bilden ungefähr seinen
Rahmen. Es ist eine weite Fläche, aus der nur hier und da inselartig
und unvermittelt Berge und Bergstöcke hervortreten. Kein
Wasserlauf bedingt die landschaftliche und kulturelle Eigenart
dieses Landes. Nur die zwei Eigenschaften sagen alles: wasserarme
Fläche und unvermittelte Inselberge.
Die wasserarme Fläche, so recht die nüchterne Form der Sahelbildung
begünstigend, also: Steppenland mit Akazienbusch und
Baobabbäumen bestanden, ist das ausgezeichnete Gebiet der Viehzucht.
Da diese Steppe außerdem auf der Bahn der norderythräischen
Araberwanderung (Rotes Meer Tsadsee) liegt und nur
durch den Nil von den alten Berberländern getrennt ist, so ist es
nur natürlich, daß arabisierte Berber (Osthamiten) und arabische
Nomaden das Land überschwemmten, sobald einmal die frühere
Barriere der Kulturreiche hinweggeräumt war. Das aber geschah
im 13. Jahrhundert, als der Islam endlich den Widerstand
der aus dem Meere des Altertums hervorgegangenen christlichen
Staaten Napata und Dongola gebrochen hatte. Nachdem dies gelungen
war, setzte die Überschwemmung durch die kuhweidenden
Baggara, durch die kamelzüchtenden Kabalisch und durch viele
andere arabische und arabisierte Horden und Stämme ein. Vor
diesem Durchbruche war Kordofan - so berichten die Erinnerungen
- ein fast ausschließlich ackerbauendes und Industrie
treibendes Land. Seitdem wurden Landbau und Handwerk mehr
und mehr vernachlässigt. Die anscheinend unendlich fleißigen und
emsigen "Neger" wurden in die Hügel- und Berglandschaften
zurückgedrängt. — Soweit die Bedeutung der kordofanischen
Steppen für Kultur- und Völkerleben.
Die zweite Eigenart der Landschaften Kordofans, die Inselbildung,
hatte in alter und neuer Zeit dem Wesen nach gleiche,
dem Gehalt nach entgegengesetzte Bedeutung. Stets waren diese
Berge Nester, Zufluchtsorte und Ausfallsgebiete der Zurückgedrängten.
Aber nach den Sagen aus alter Zeit waren die hier Eingenisteten
Rohlinge, Räuber, Brutale, und in unsern Tagen sind es die
Tiefinnerlichen, die Seelenvollen, die Gottesfürchtigen und Züchtigen.
Das aber heißt, daß in den Steppen der jetzigen Periode der
viehzüchtenden Araber eine Zeit hochstehender Kultur, staatlicher
Größe, handwerklicher Blüte voranging, die ihrerseits einer Periode
primitiver Brutalität folgte. Also: in ältester Zeit wurde Kordofan
belebt von brutalen Primitiven; eine herannahende Kulturwelle
verjagte die Rohlinge in die Berge und breitete sich über die Fläche
aus. Als diese Blütezeit im Völkersturme des 13. Jahrhunderts
ihren letzten Schmuck verfliegen sah, retteten sich die letzten
Flüchtlinge in die Bergnester, deren rauhe Inseln inzwischen ausgestorben
oder der Kultur ergeben waren. Von diesen "Rohlingen"
kennen wir heute im Westen dieser Länder noch letzte Reste, die
Massalit, von den herabgewürdigten Kulturellen kennen wir vor
allem die Nuba, die zumal im südlichen Kordofan sicheres Bergasyl
fanden und die nahe Verwandte der Nubier am Nil sind. Es
sind die Nachkommen des von Arach-ben-Hassul genannten
Napht.
Dieses geht nicht nur aus vielen sprachlichen Belegen hervor;
es gibt noch eine eigentümliche Reminiszenz: von einem Manne
aus dem nach Südwesten benachbarten Lande Fertit erhielt ich
für die Nuba den Namen Naftassen - ein Wort von eigenartigem
(aus dieser Mundart), aber tief bedeutsamem Klang.
Eine kurze Beschreibung dieses merkwürdigen Bergvolkes habe ich
schon früher gegeben (U. A. spr. III). Hier nur das Wichtigste
und Ergänzende, soweit es in dem Rahmen der Betrachtung der
Kultur Kordofans Raum beanspruchen muß.
Die Bergnuba Kordofans zerfallen heute in kleinere Stämme.
Der letzte größere Staatsverband ist vor einem halben Jahrhundert
zerschellt. An der Spitze dieser Organismen stand vordem ein
Priesterkönig oder Oberpriester oder wie man ihn nennen will.
Sein Leben war ein symbolisches, seine Amtsführung eine von
Mystik durchtränkte. Halb unsichtbar, nur den Opfern und Gebeten
ergeben, war er der eigentlichen Tageswelt entfremdet von
dem Tage seiner Wahl bis zu seinem vorbestimmten Tode. Sein
Leben als König war allein dem Zustand seines Wirkens nach dem
Tode geweiht. Seine Todesstunde aber war schon beim Antritt der
Amtsführung festgesetzt. Die Reihe seiner Regierungsjahre war
durch einen bestimmten Zeitraum von x (die Zeit wurde zwischen
fünf und sieben Jahren schwankend angegeben) Jahren begrenzt.
Dann wurde er von seiner Umgebung getötet. Von nun an hatte
er seiner Aufgabe im Jenseits zu pflegen, für Regen und Saat, für
Geburten und Abwendung von Unheil zu sorgen. Jede Mißernte,
jedes Unheil wird dem Umstande zugeschrieben, daß der Priesterkönig
in der Zeit seiner Amtsführung nicht nachgekommen war. —
(Dies die Mitteilung der Leute von Tekali.)
Bekanntlich charakterisiert dieses theokratische Staatssymbol
eine große Reihe von afrikanischen Staatsbildungen (vgl. Atlas
Afrikanus Heft 2 Blatt W, vor allem aber diejenige von Völkern,
die den Bergnuba vordem eng benachbart waren, so heute die
Schilluk am Nil, und so früher die Äthiopen von Meroe. Das aber
heißt, daß die heutigen Bergnuba, die durch die Araberhorden aus
dem Flachlande Kordofans in den Bergschutz gedrängt wurden,
mit den Völkern am blauen und weißen Nil, mit denen von Dongola
bis Faschoda einen Kulturblock bildeten.
Kordofan war nicht immer das verträumte Land von heute.
Es war auch nicht immer nur Pufferstaat, wie viele glauben.
Aber Kordofan liegt heute in der Brache, nachdem allzu reiche
Kulturblüte auf seinen Feldern diese bis zur Ermattung ausgesogen
hat. Denn Kultur zehrt vom Boden, genau wie Halm- und
Wurzelfrucht.
Wann die Pracht der Kulturblüte am üppigsten über den Ebenen
Kordofans blühte, ist schwer zu sagen. Ich sagte es schon: nie
war ich in einem afrikanischen Lande von auch nur annähernder
Gleichgültigkeit gegenüber der Tiefe des Daseins und der eigenen
Wurzelschau. Und so konnte ich keinem Kordofaner mehr als
ganz allgemeine Mitteilungen abringen. Das Steppenvolk, ja zumeist
arabischen Blutes, ist Fremdvolk dem Boden. Die Bergstämme
sind verengt, verkleinert, vereinsamt - aber nicht vereinsamt
mit der Wirkung zur Versenkung, sondern aus den Folgerungen
bitterer Lebensangst.
Verträumte Menschen, verschollene Pracht.
***Ein ungewöhnliches Glück führte mich im Jahre 1912 nach
Kordofan gerade in dem Augenblick, als der Sir Dar Sir Reginald
Wingate und Lord Kitchener nach El Obeid kamen und aus
allen umliegenden Landschaften Gesandte und Volksvertreter zur
Begrüßung zusammenströmten. Unter ihnen waren auch Foraner.
Sie fielen mit ihren herrlichen Kamelen auf, zumal ein Kamelwettrennen
vorgesehen war. Die Fürsorge der Reitkamele hatte einen
alten, sehr gewandten Mann mit nach Obeid gebracht; dies war
Arach-ben-Hassul, Sproß einer alten Gilde der Kordofaner Kupferarbeiter,
die längst im Lande ausgestorben ist und deren letzte
Nachkommen in Dar For leben. Diesem Arach-ben-Hassul verdanke
ich eine märchenhafte Schilderung der Vergangenheit, der
die Kordofaner selbst mit offenen Augen und Ohren und vielen
Hamdulahis und Bismallas zuhörten.
Außerordentlich, wie der Mann überhaupt war, war auch die
Weise, in welcher er seine Weisheit gab. Sieben Tage lang saß er
mit andern Leuten unter den um mich versammelten Märchenerzählern.
Sieben Tage lang schlürfte er wie die andern seinen
Kaffee. Sieben Tage lang sprach er kein anderes Wort als den
Gruß des Kommens und Gehens und gab auf jede Frage nach
Alterskunde ein "Ich weiß nicht". Diese sieben Tage lang lauschte
er den Erzählungen, die in diesem Bande niedergelegt sind, mit
ernster Aufmerksamkeit und ohne mehr als Betätigung des Ohres
zu äußern.
Am achten aber richtete er sich aus der kauernden Stellung auf
dem Angareb auf und strich mit der Hand von den Augen herab
über das Antlitz herab bis zum Kinn und sagte: "Ich spreche."
Danach stieg er von dem Angareb herab, setzte sich auf den
Boden und fragte die Kordofaner Erzähler: "Wißt ihr, was ihr
dem Taleb erzählt? Ihr wißt es nicht. Es ist schwer zu wissen."
Dann machte er im Sande einen Strich und sagte: "Das ist For."
Er machte einen zweiten Strich und sagte: "Das ist Napht. For
war der Sohn des Napht." Er machte einen dritten Strich und
sagte: "Das ist Habesch. Napht war der Sohn des Habesch." Er
machte einen vierten Strich und sagte: "Das ist Kasch. Habesch
und sein Bruder Masr waren die Söhne des Kasch. Kasch lebte
wie der Mahdi in Kordofan. Er war weit über das Meer gekommen.
Was ihr erzählt sind Geschichten, die aus der Zeit des Kasch stammen,
und dazu gibt es eine eigene Geschichte, die ihr aber nicht
begreifen könnt, weil es damals anders gewesen ist als heute. Heute
gibt es in Kordofan einzelne Bäume, damals gab es viele, viele Bäume.
Heute gibt es in Kordofan magere Felder, damals reiche. Heute gibt es
in Kordofan wenig Regen, damals vielen. Heute gibt es in Kordofan
wenig und kleine Seriben. Damals gab es große Städte, größere als
in Ägypten. Heute gibt es keinen Menschen mehr in Kordofan,
der Kupfer und Gold und Eisen und Messing machen kann. Damals
kam alles Kupfer, alles Gold, alles Messing der Welt aus Kordofan.
In dieser Zeit herrschten über Kordofan große Meleks
(Könige), und alle Völker brachten den Meleks Geschenke. Aus
dieser Zeit stammen eure Erzählungen, und wie sie erzählt wurden,
darüber gibt es eine Geschichte, die ihr aber nicht verstehen
könnt."
Soweit zunächst einmal der Alte. Ich legte dieser Voraussetzung
damals keinen Wert bei. Stammbäume sind in afrikanischen Erzählungen
für die Tatsachenforschung zumeist etwas fragwürdigen
Wertes. Erst zehn Jahre später, als ich nämlich in diesem Frühjahr
mit Dr. B. Struck verschiedene Kulturprobleme Nordostafrikas
besprochen hatte und dabei an das Kasch (oder Kusch) des
Alten erinnert wurde, stieg meine Aufmerksamkeit, holte ich meine
alten Aufzeichnungen heraus und weiß jetzt erst, daß diesen Angaben
ein tief bedeutsamer Wert beizulegen, der auch der nachfolgenden
Erzählung eine außerordentlich historische Bedeutung verleiht.
Zunächst galt es natürlich, dem alten Arach-ben-Hassul darüber
hinweg zu helfen, daß die Kordofaner und ich seine Erzählung
durchaus nicht verstehen könnten, weil Kordofan in jener Zeit
so ganz anders gewesen wäre als heute. Dies gelang natürlich auch,
und dann erzählte er wenigstens die Geschichte des Unterganges
von Kasch. Bemerkenswert ist, daß in dieser Erzählung dann aber
eigentlich nicht Kasch, sondern Napht verfiel. Über dies Dilemma
kam er nicht hinfort. Er wiederholte immer wieder, daß seine Erzählung
den Untergang von Kasch betreffe, wenn auch von Napht
die Rede sei.
Das Märchen vom Untergang von Kasch (Napht)
Vier Meleks (Könige) regierten in dem großen Reiche, der eine
in Nubien, der zweite in Habesch, der dritte in Kordofan, der
vierte in For. Der reichste von ihnen war der Nap von Napht(a) in
Kordofan, dessen Hauptstadt in der Richtung von Hophrat-en-Nahas
lag. Er war der Besitzer von allem Gold und Kupfer. Sein Gold und
sein Kupfer wurde nach Nubien gebracht und von den großen
Königen aus dem Westen geholt. Von Osten her kamen Gesandte
auf Schiffen über das Meer, und im Süden herrschte der König über
viele Völker, die für ihn Waffen aus Eisen schmiedeten und Sklaven
sandten, die zu Tausenden am Hofe des Nap lebten.
Der Nap von Naphta war der reichste Mann auf der Erde. Sein
Leben aber war das traurigste und kürzeste unter allen Menschen.
Jeder Nap von Naphta durfte nämlich nur eine Reihe von Jahren
sein Land regieren. Während seiner Regierung beobachteten jeden
Abend die Priester des Landes die Sterne, brachten Opfer dar und
entzündeten Feuer. Keinen Abend durften sie mit ihren Gebeten
und ihren Opfern aussetzen, sonst verloren sie den Weg eines
Sternes aus den Augen und wußten dann nicht, wann nach ihrer
Vorschrift der König getötet werden mußte. So ging dies eine lange
Zeit hindurch. So sahen einen Tag nach dem andern, jahraus
jahrein, die Priester nach den Sternen und erkannten den Tag, an
dem der König getötet werden mußte.
Einmal war wieder der Tag des Todes eines Königs. Den Stieren
waren die Hinterschenkel durchschlagen (Art der Opfertötung).
Alle Feuer im Lande waren erloschen. Die Frauen waren in den
Häusern eingeschlossen. Die Priester entzündeten das neue Feuer.
Sie riefen den neuen König. Der neue König war der Sohn der
Schwester des soeben getöteten. Der neue König hieß Akaf;
dieser war es, unter dessen Regierung die alten Einrichtungen des
Landes geändert wurden. Das Volk aber sagt, daß diese Änderung
der Grund des späteren Unterganges von Napht war.
Die erste Handlung, die ein neuer Nap vorzunehmen hatte, war,
zu bestimmen, wer ihn auf seinem Todeswege seiner Zeit zu
begleiten habe. Der Nap wählte diese unter den Liebsten seiner
Umgebung. Er mußte vor allem den ersten bestimmen, der der
Führer der andern war. Nun hatte vor einiger Zeit ein König aus
dem fernen Osten über das Meer her an den Hof von Naphta einen
Mann gesandt, der berühmt war durch die Geschicklichkeit, Geschichten
zu erzählen. Dieser Mann hieß Far-li-mas. Far-li-mas
war so gerade als Sklave an den Hof des Nap gekommen. Der
König Akaf hatte ihn gesehen. Far-li-mas gefiel dem König Akaf.
Der König Akaf sagte: "Dieser soll mein erster Begleiter sein.
Er wird mich in der Zeit bis zu meinem Ende durch seine Geschichten
unterhalten. Er wird mich auch nach dem Tode froh machen."
Als Far-li-mas hörte, was der König beschlossen hatte, erschrak
er nicht. Er sagte bei sich nur: "Gott will es."
In Naphta war damals der Brauch, daß ein ständiges Feuer
unterhalten wurde, so wie heute noch in entlegenen Orten von For.
Die Priester bestimmten zur Unterhaltung dieses Feuers stets einen
Burschen und ein Mädchen. Die mußten das Feuer hüten und ein
keusches Leben führen. Auch diese beiden wurden getötet, aber
nicht mit dem König, sondern bei der Entzündung des neuen
Feuers. Als nun das neue Feuer für den König Akaf entzündet
wurde, bestimmten die Priester die jüngste Schwester des neuen
Königs zur Hüterin des Feuers. Ihr Name war Sah (so wenigstens
wird sie genannt; ihr ganzer Name war Sali-fu-Ham[r]). Als Sah
hörte, daß die Wahl auf sie gefallen war, erschrak sie. Denn Sah
hatte große Angst vor dem Tode.
Eine Zeitlang lebte der König glücklich und in großer Freude;
denn er genoß die Reichtümer und Herrlichkeiten seines Landes;
jeden Abend verbrachte er mit Freunden und mit Fremden, die
als Gesandte in das Land Naphta gekommen waren. Eines
Abends aber sandte Gott ihm den Gedanken, daß er mit jedem der
fröhlichen Tage um einen Tag dem sicheren Tode näher gekommen
war. Der König erschrak. Der König versuchte den Gedanken fortzuwerfen.
Der König vermochte es nicht. Der König Akaf ward
sehr traurig. Da sandte Gott ihm den zweiten Gedanken, Far-limas
kommen und sich eine Geschichte erzählen zu lassen.
Far-li-mas wurde gerufen. Far-li-mas kam. Der König sagte:
"Far-li-mas, heute ist der Tag gekommen, an dem du mich erheitern
sollst. Erzähle mir eine Geschichte." Far-li-mas sagte:
"Die Ausführung ist schneller als der Befehl." Far-li-mas begann
zu erzählen. — Der König Akaf hörte. Die Gäste hörten. Der
König und die Gäste vergaßen zu trinken. Sie vergaßen zu atmen.
Die Sklaven vergaßen die Bedienung. Sie vergaßen zu atmen. Farli-mas
Erzählung war wie Haschich. Als er geendet hatte, waren
alle wie von einer wohltuenden Ohnmacht umfangen. Der König
Akaf hatte seinen Gedanken an den Tod vergessen. Keiner der Anwesenden
hatte gemerkt, daß Far-li-mas vom Abend bis zum Morgen
erzählt hatte. Als die Gäste von dannen gingen, war die Sonne
aufgegangen.
Am andern Tage konnten der König Akaf und seine Gäste kaum
die Abendstunde erwarten, in der Far-li-mas eine Geschichte erzählen
würde. Jeden Tag mußte Far-li-mas erzählen. Die Nachricht
von den Märchen des Far-li-mas verbreitete sich am Hofe, in
der Hauptstadt, im Lande. Far-li-mas aber erzählte in jeder Nacht
besser. Der König schenkte ihm jeden Tag ein schönes Kleid, die
Gäste und Gesandten schenkten ihm Gold und edle Steine. Far-limas
ward reich. Wenn er durch die Straßen ging, folgte ihm ein
Zug von Sklaven. Das Volk liebte ihn. Das Volk begann die Brust
vor ihm zu entblößen.
Die Nachricht von den wunderbaren Erzählungen des Far-li-mas
drang überall hin. Auch Sah hörte davon. Sah sandte zu ihrem
Bruder, dem König, und bat ihn: "Laß mich einmal den Erzählungen
des Far-hi-mas zuhören." Der König antwortete: "Erfüllung
geht dem Wunsche voran." Sah kam. Sah wollte die Erzählung
hören. Far-hi-mas sah Sah. Far-hi-mas verlor für einen Augenblick
die Sinne. Far-li-mas sah nichts als Sah. Sah sah nichts als
Far-hi-mas. Der König Akaf sagte: "Warum erzählst du nichts?
Weißt du nichts mehr?" Far-li-mas riß die Blicke von Sah und
begann zu erzählen. Far-hi-mas' Erzählung war erst wie Haschich,
der eine leichte Betäubung hervorruft, dann aber wurde seine Erzählung
wie Haschisch, die die Menschen durch Ohnmacht zum
Schlafen führt. Nach einiger Zeit entschlummerten die Gäste, entschlummerte
der König Akaf. Sie hörten die Erzählung nur noch
im Traum, bis sie völlige Entrückung erfüllte. Nur Sah blieb offenen
Auges. Ihre Augen hingen an Far-li-mas. Ihre Augen nahmen
Far-hi-mas ganz in sich auf. Sah war ganz erfüllt von Far-li-mas.
Als Far-li-mas geendet hatte, erhob er sich. Sah erhob sich.
Far-hi-mas ging auf Sah zu. Sah ging auf Far-hi-mas zu. Far-himas
umfing Sah. Sah umschlang Far-li-mas und sagte: "Wir
wollen nicht sterben." Far-li-mas lachte in Salis Augen und sagte:
"Der Wille ist bei dir. Zeige mir den Weg." Sah sagte: "Laß mich
jetzt. Ich suche den Weg. Wenn ich den Weg gefunden habe, rufe
ich dich." Sah und Far-li-mas trennten sich. Der König und seine
Gäste schliefen.
Am andern Tage ging Sah zu dem ersten Priester und sagte:
"Wer bestimmt den Zeitpunkt, in dem das alte Feuer gelöscht und
ein neues entzündet wird?" Der Priester sagte: "Das bestimmt
Gott." Sah fragte: "Wie teilt euch Gott seinen Willen mit?" Der
Priester sagte: "Wir betrachten jeden Abend die Sterne. Wir verlieren
sie nie aus den Augen. Wir sehen den Mond jede Nacht und
wissen von einem Tag zum andern, wie jener Stern zum Mond oder
vom Monde weggeht. Daraus wissen wir die Stunde." Sah sagte:
"Jede Nacht müßt ihr das tun? Was geschieht denn, wenn ihr in
einer Nacht nichts gesehen habt?" Der Priester sagte: "Wenn eine
Nacht nichts zu sehen ist, müssen wir Opfer darbringen. Wenn wir
viele Nächte hindurch nichts sehen würden, könnten wir uns nicht
zurecht finden." Sah sagte: "Könntet ihr dann nicht mehr den Zeitpunkt
des Feuerlöschens erfahren?" Der Priester sagte: "Nein,
dann könnten wir nicht mehr tun, was unseres Amtes ist."
Sah sagte: "Gottes Werke sind groß. Das größte ist aber nicht
seine Schrift am Himmel. Sein größtes ist das Leben auf der Erde.
Ich habe es vorige Nacht erkannt." Der Priester sagte: "Was
meinst du?" Sah sagte: "Gott gab Far-hi-mas die Gabe zu erzählen,
wie solches noch nie geschehen ist. Das ist größer als die Schrift
am Himmel." Der erste Priester sagte: "Du hast unrecht." Sah
sagte: "Den Mond und die Sterne kennst du. Hast du denn aber
auch die Erzählungen des Far-li-mas gehört?" Der Priester sagte:
"Nein, ich habe sie nicht gehört." Sah sagte: "Wie kannst du denn
ein Urteil aussprechen? Ich sage dir, daß auch ihr alle beim Zuhören
vergessen werdet, nach den Sternen zu sehen." Der erste
Priester sagte: "Schwester des Königs, du behauptest." Sah sagte:
"So beweise mir, daß ich unrecht habe, daß die Schrift am Himmel
größer und stärker ist als das Leben auf der Erde." Der Priester
sagte: "Ich werde es beweisen."
Der erste Priester sandte zum König Akaf und ließ ihm sagen:
"Erlaube den Priestern, heute abend in dein Schloß zu kommen und
den Erzählungen des Far-hi-mas vom Untergang der Sonne bis zum
Aufgang der Sonne zuzuhören." Der König Akaf antwortete: "Es
ist mir recht." Sah sandte zu Far-li-mas und ließ ihm sagen:
"Heute mußt du erzählen wie gestern. Das ist der Weg."
Als es Abend war, versammelte der König Akaf seine Gäste und
die Gesandten. Sah kam und setzte sich zu ihm. Die sämtlichen
Priester kamen. Sie entblößten den Oberkörper und warfen sich
nieder. Der erste Priester sagte: "Die Erzählungen dieses Far-limas
sollen das herrlichste Werk Gottes sein." Der König Akaf
sagte: "Entscheidet es selbst." Der erste Priester sagte: "Verzeihe
es, o König, wenn wir beim Aufgang des Mondes dein Haus verlassen,
um unseres Amtes zu walten." Der König Akaf sagte: "Tut,
wie es Gottes Wille ist." Die Priester ließen sich nieder. Alle
Gäste und Gesandten ließen sich nieder. Der Saal war gefüllt von
Menschen. Far-li-mas bahnte sich zwischen ihnen den Weg. Der
König Akaf sagte: "Beginne, mein Todesgenosse."
Far-li-mas blickte auf Sah. Sah blickte auf Far-li-mas. Der
König Akaf sagte: "Weshalb erzählst du nicht. Weißt du nichts
mehr ?" Far-li-mas ließ den Blick von Sah. Far-li-mas begann. Er
hub mit seiner Erzählung an, als die Sonne unterging. Seine Erzählung
war wie Haschisch, der umnebelt und entrückt. Seine Erzählung
ward wie Haschisch, der die Ohnmacht bringt. Seine Erzählung
ward wie Haschisch, der in ertötende Ohnmacht versenkt.
Als der Mond aufging, lag der König Akaf mit seinen Gästen und
den Gesandten in Schlummer, lagen alle Priester in tiefem Schlafe.
Nur Sah wachte und zog mit den Blicken stets süßere Worte von
Far-li-mas' Lippen.
Far-li-mas endete. Er erhob sich. Far-hi-mas schritt auf Sah zu.
Sah schritt auf Far-hi-mas zu. Sah sagte: "Laß mich diese Lippen
küssen, von denen so süße Worte kommen." Sie sogen sich fest an
den Lippen. Far-li-mas sprach: "Laß mich diese Gestalt umschlingen,
deren Anblick mir die Kraft gibt." Und sie umschlangen sich
mit Armen und Beinen und lagen wachend zwischen all den vielen
Schlummernden und waren glücklich bis zum Zerbrechen des Herzens.
Sah aber jubelte und sprach: "Siehst du den Weg?" Far-limas
sagte: "Ich sehe ihn." Sie gingen von dannen. Im Schloß
blieben nur die Schlafenden.
Am andern Tage kam Sah zu dem ersten Priester und fragte ihn:
"Sage mir nun, ob du ein Recht dazu hattest, meine Worte zu verurteilen."
Der Priester sagte: "Ich gebe dir heute noch keine Antwort.
Wir werden dem Manne Far-li-mas noch einmal zuhören.
Denn gestern waren wir nicht gehörig vorbereitet." Sah sagte: "Es
ist recht so." Die Priester begingen die sämtlichen Opfer und Gebete.
Vielen Ochsen wurden die Fesseln durchgeschlagen. Den ganzen
Tag über wurden die Gebete im Tempel nicht unterbrochen. Am
Abend kamen wieder alle Priester in den Palast des Königs Akaf.
Am Abend saß Sah wieder bei ihrem Bruder, dem König Akaf. Am
Abend begann Far-hi-mas wieder seine Erzählung. Und ehe noch
der Morgen graute, waren alle: der König Akaf, seine Gäste, die
Gesandten und die Priester in Verzückung und Zuhören eingeschlafen.
In ihrer Mitte aber saßen Sah und Far-li-mas, und sie
sogen Glück aus ihren Lippen und umschlangen sich mit Armen
und Beinen.
Einen Tag nach dem andern geschah solches.
Im Volke hatte sich erst die Nachricht verbreitet von den Erzählungen
des Far-li-mas. Nun zog das Gerücht um, daß die Priester
des Nachts ihre Opfer und Gebete vernachlässigten. Große Unruhe
bemächtigte sich aller. Eines Tages begegnete ein angesehener
Mann der Stadt dem ersten Priester. Der angesehene Mann sagte
zu dem Priester: "Wann feiern wir das nächste Fest dieses Jahres?
Ich möchte eine Reise unternehmen und zu dem Feste wieder
zurückkehren. Wie weit sind wir von dem Feste entfernt?" Der
Priester war verlegen. Seit vielen Tagen hatte er den Mond und die
Sterne nicht mehr gesehen. Er wußte über ihren Lauf nichts. Der
Priester sagte: "Warte noch einen Tag, dann werde ich es dir
sagen." Der angesehene Mann sagte: "Ich danke dir. Morgen
werde ich zu dir zurückkehren."
Der erste Priester rief seine Priester zusammen und fragte: "Wer
von euch hat in der letzten Zeit den Lauf der Sterne gesehen?" Es
antwortete keiner unter allen Priestern; denn alle hatten den Erzählungen
des Far-li-mas gelauscht. Der erste Priester fragte
wieder: "Ist denn nicht ein einziger unter euch, der den Lauf der
Gestirne und den Stand des Mondes gesehen hat?" Alle Priester
schwiegen, bis ein ganz alter unter ihnen sich erhob und sagte:
"Wir alle lagen in Verzückung vor Far-li-mas. Keiner wird dir
sagen können, an welchen Tagen die Feste zu halten sind, wann
das Feuer zu löschen und wann es neu zu entzünden ist." Der erste
Priester entsetzte sich und sagte: "Wie konnte das geschehen? Was
soll ich zum Volke sagen?" Der alte Priester sagte: "Es ist Gottes
Wille. Wenn dieser Far-li-mas aber nicht von Gott gesandt wurde,
so lasse ihn töten. Denn solange er lebt und spricht, wird ihm alles
zuhören." Der erste Priester sprach: "Was soll ich den Menschen
sagen?" Da schwiegen alle und gingen auseinander.
Der erste Priester ging zu Sah. Er sprach zu ihr: "Welches Wort
sagtest du am ersten Tage ?" Sah sagte: "Ich sagte: ,Gottes Werke
sind groß. Das größte ist aber nicht seine Schrift am Himmel,
sondern das Leben auf der Erde.' Du schaltest mein Wort ,Unrecht'.
Sage mir nun heute, ob ich log." Der Priester sagte: "Farli-mas
ist wider Gott. Far-hi-mas muß sterben." Sah sagte: "Farli-mas
ist der Todesgenosse des Königs Akaf." Der Priester sagte:
"Ich werde mit dem König Akaf sprechen." Sah sagte: "Gott ist
in meinem Bruder, dem König Akaf. Frage ihn nach seinen Gedanken."
Der erste Priester kam zum König Akaf; dessen Schwester Sah
saß bei ihm. Der Priester enthüllte sich vor dem König Akaf, warf
sich vor ihm nieder und sprach: "Verzeih mir, König Akaf!" Der
König sagte: "Sage mir, was an dein Herz rührt." Der Priester
antwortete: "Sprich zu mir von deinem Todesgenossen, von diesem
Far-li-mas." Der König sagte: "Erst sandte mir Gott den Gedanken
an den näher rückenden Tag meines Todes, und ich erschrak. Dann
sandte Gott mir die Erinnerung an diesen Far-li-mas, der mir als
Gabe gesandt wurde aus dem Lande im Osten jenseits des Meeres.
Mit dem ersten Gedanken verdüsterte Gott meinen Verstand. Mit
dem zweiten erheiterte er mein Gemüt und machte mich und alle
andern glücklich! Deshalb gab ich dem Far-li-mas viele Kleider.
Meine Freunde gaben ihm Gold und edle Steine. Er verteilte viel
unter dem Volk. Er ist reich, wie ihm gebührt, und das Volk liebt
ihn wie ich." Der erste Priester sprach: "Far-li-mas muß sterben.
Far-li-mas zerreißt die Ordnung." Der König Akaf sprach: "Ich
sterbe vor Far-li-mas." Der erste Priester sprach: "Gott wird in
dieser Sache entscheiden." Der König Akaf sprach: "So ist es. Alles
Volk soll es sehen." Der erste Priester ging. Sah sprach zum König
Akaf: "König Akaf, mein Bruder, der Weg ist nahe dem Ende. Der
Genosse deines Todes wird der Erwecker deines Lebens sein; ich
aber fordere ihn als das Glück meines Daseins." Der König Akaf
sagte: "So nimm ihn denn, meine Schwester Sah."
Boten gingen durch die Stadt und riefen in allen Quartieren aus,
daß Far-li-mas heute abend auf dem großen Platze vor allem Volke
sprechen würde. Auf dem großen Platze zwischen dem Palast des
Königs und den Häusern der Priester war ein verhüllter Stuhl für
den König errichtet. Als es Abend war, strömte von allen Seiten
das Volk zusammen und lagerte in der Runde. Tausende und aber
Tausende von Menschen waren versammelt. Die Priester kamen
und lagerten sich. Die Gäste und Gesandten kamen und ließen sich
nieder. Sah setzte sich neben dem verhüllten König Akaf nieder.
Far-li-mas ward gerufen.
Far-hi-mas kam. Alle Diener des Far-li-mas kamen hinter ihm
her. Sie alle waren in glänzende Gewänder gehüllt. Die Diener des
Far-hi-mas ließen sich gegenüber den Priestern nieder. Far-li-maß
warf sich vor dem König Akaf nieder. Dann nahm er seinen Platz ein.
Der erste Priester erhob sich und sprach: "Far-li-mas hat die
Ordnung in Naphta zerrissen. Diese Nacht wird es zeigen, ob dies
Gottes Wille war." Der Priester setzte sich. Far-li-mas erhob sich.
Er blickte Sah in die Augen. Far-li-mas ließ von Sah und schaute
über die Menge. Far-li-mas schaute über die Priester. Far-li-mas
sprach: "Ich bin ein Diener Gottes und glaube, daß ihm alles Böse
im Herzen der Menschen zuwider ist. In dieser Nacht wird Gott
entscheiden."
Far-li-mas begann seine Erzählung. Die Worte aus dem Munde
des Far-li-mas waren erst süß wie Honig. Seine Stimme durchdrang
die Menschen wie der erste Sommerregen die dürstende Erde. Von
Far-li-mas' Mund ging ein Duft aus, feiner als Moschus und Weihrauch.
Das Haupt des Far-li-mas erglänzte wie ein Licht, wie die
einzige Leuchte in der schwarzen Nacht. Far-li-mas Erzählung
war erst wie Haschisch, der den Wachenden beglückt. Dann ward
sie wie Haschisch, der den Träumer umnächtigt. Gegen Morgen
aber erhob Far-li-mas die Stimme. Sein Wort schwoll wie der
steigende Nil in die Herzen der Menschen. Sein Wort ward für die
einen beruhigend wie der Eintritt in das Paradies, für die andern
aber erschreckend wie die Erscheinung Azrails (des Todesengels).
Glück erfüllte die Gemüter der einen, Entsetzen die Herzen der
andern. Je näher der Morgen kam, desto gewaltiger stieg die
Stimme, desto lauter ward der Widerhall in den Menschen. Die
Herzen der Menschen bäumten gegeneinander auf wie im Kampf.
Sie stürmten gegeneinander wie die Wolken am Himmel in einer
Gewitternacht. Blitze des Zornes und Schläge der Wut trafen einander.
Als die Sonne aufging, endete die Erzählung des Far-li-mas.
Unsagbares Erstaunen erfüllte den verwirrten Verstand der Menschen.
Denn als die Lebenden um sich sahen, fiel ihr Blick auf die
Priester. Die Priester lagen tot am Boden.
Sah erhob sich. Sah warf sich vor dem König nieder. Sah sprach:
"König Akaf, mein Bruder, Gott hat entschieden. Der Weg ist zu
Ende. O König Akaf, mein Bruder, wirf nun den Schleier von dir,
zeige dich deinem Volke und vollziehe nun du das Opfer; denn diese
hier hat Azrail auf den Befehl Gottes hingemäht." Die Diener
nahmen die Hüllen vom Throne. König Akaf erhob sich. Er war
der erste König, den das Volk von Naphta sah. Der König Akaf
war aber schön wie die aufgehende Sonne.
Das Volk jubelte. Ein weißes Pferd ward herbeigeführt, das bestieg
der König. Zu seiner Linken ging seine Schwester Sahi-fu-Hamr,
zu seiner Rechten ging Far-hi-mas. Der König ritt zum
Tempel. Der König ergriff im Tempel die Hacke und schlug in
den heiligen Boden drei Löcher. In die warf Far-li-mas drei Saatkörner.
Der König schlug in den heiligen Boden zwei Löcher. In
die warf Sah zwei Saatkörner. Allsogleich keimten die fünf Saatkörner
und wuchsen vor den Augen des Volkes. Am Mittag waren
an allen fünf Pflanzen die Ähren reif. In allen Gehöften der Stadt
durchschlugen die Väter großen Stieren die Fesseln. Der König
löschte das Feuer. Alle Väter der Stadt löschten die Feuer auf den
Herden. Sah entzündete ein neues Feuer, und alle Jungfrauen
kamen und nahmen davon.
Seitdem wurden in Naphta keine Menschen mehr getötet. König
Akaf war der erste König in Napht, der so lange lebte, bis es Gott
gefiel, ihn in hohem Alter zu sich zu nehmen. Als er starb, ward
Far-li-mas sein Nachfolger. Mit diesem aber erreichte Naphta die
Höhe des Glückes und sein Ende.
Denn der Ruf des Königs Akaf als eines weisen und wohlberatenen
Fürsten verbreitete sich bald durch alle Länder. Alle Fürsten
sandten ihm Geschenke und kluge Männer, um sich Rat zu holen.
Alle großen Kaufleute ließen sich in der Hauptstadt von Naphta
nieder. Der König Akaf hatte auf dem Meer im Osten große und
viele Schiffe, die die Erzeugnisse Naphtas in alle Welt hinaustrugen.
Die Gruben von Naphta konnten nicht genug Gold und Kupfer
liefern, um stets die Ladungen voll zu machen. Als Far-li-mas dem
König Akaf folgte, stieg das Glück des Landes auf das höchste.
Sein Ruhm erfüllte alle Länder vom Meere des Ostens bis zum
Meere des Westens. Aber mit dem Ruhm keimte auch der Neid
in den Herzen der Menschen. Als Far-li-mas gestorben war, brachen
die Nachbarländer die Bündnisse und begannen mit Naphta
Kriege. Naphta unterlag. Naphta wurde zerstört und damit das
stärkste Schloß in dem großen Reiche. Das große Reich zerfiel in
Stücke. Es wurde von wilden Völkern überschwemmt. Die Menschen
vergaßen die Kupfer- und die Goldgruben. Die Städte verschwanden.
Von der Zeit Naphtas blieb nichts übrig als die Erzählungen Farli-mas,
die dieser vom Lande jenseits des Meeres im Osten mitgebracht
hatte.
Das ist die Geschichte vom Untergang des Landes Kasch, dessen
letzte Kinder im Lande For leben.
Die Kordofaner Märchen
Es war stets mein Bestreben, nicht nur die Märchen und Erzählungen
der Völker, unter denen ich lebte, zu hören und
aufzuzeichnen, sondern auch allem nachzuspüren, was ich von der
eigenen Meinung der Erzähler über die Herkunft und die Entstehung
ihrer Volksdichtung etwa in Erfahrung bringen konnte. Allerhand
Klares und Durchsichtiges kam hierbei ans Tageslicht. Etwas so
Eigenartiges wie die Erzählung des Foraners Arach-ben-Hassul ist
mir aber weder vorher noch nachher in die Sammelmappen gekommen.
Denn entweder hat dieser Bericht für das Verständnis
der nachfolgenden Erzählungen eine unermeßliche oder aber gar
keine Bedeutung, d. h. entweder ist der Zusammenhang mit der
Kunst des Märchenerzählens wirklich hiermit gegeben, will sagen,
ist in irgendeiner Richtung ein tatsächlich Historisches, oder es ist
ein durch Volksdichtung künstlich Hergestelltes.
Diese Frage geht nun aber nicht etwa nur die Märchen der Kordofaner
an. Die Beantwortung dieser Frage kann auch noch ganz
andere Tiefen aufklären. Denn der Stil, die Vortragsweise und die
Bauweise der Kordofaner Märchen hat eine auffallende Ähnlichkeit
mit denen von Tausendundeiner Nacht, einer Sammlung, die
bekanntlich zum ersten Male in Agypten aufgezeichnet wurde,
deren weitaus meiste und beste Stücke aber nicht aus Agypten
stammen. Die Ähnlichkeit dieser berühmtesten unter allen Märchensammlungen
und dieser aus Kordofan ist eine erstaunliche,
und um so verblüffender ist es mir, daß ich an keiner Stelle eine
direkte Übertragung oder Nacherzählung an den wirklich bodenständigen
Märchen Kordofans erkennen kann. Wenn nun wirklich
keine der beiden Arten von der andern abstammt, so ist nur noch
eine Samenverwandtschaft örtlicher oder zeitlicher Natur denkbar.
Sollte die Erzählung des Foraners also auf irgendeiner historischen
Tatsächlichkeit beruhen, so ist damit zweifellos auch ein Beitrag
zur Urgeschichte von Tausendundeiner Nacht gegeben. Ein zweiter
Grund, die Erzählung des Foraners fest ins Auge zu fassen.
Vergegenwärtigen wir uns kurz die geographischen, dann die
zeitlichen und drittens die kulturgeschichtlichen Angaben, die das
Märchen oder besser die Sage bietet.
An geographischen Angaben haben wir erstens Napht oder Naphta,
das im Lande Kordofan, und zwar mit seiner Hauptstadt nach Süden
hin den Kupferminen zu gelegen haben soll. Dann wird von For als
dem heute noch bestehenden Land, dann von Nubien, von Ägypten
(= Masr) und Abessinien gesprochen. Wie gesagt, ist eigentlich
von Kasch, dessen Untergang der Foraner hier motivieren will, dem
äußern Anschein nach nicht die Rede. Nun muß es auffallen, daß
im ersten Satz der Erzählung von Napht nicht die Rede ist, sondern
nur von Kordofan, und daß im zweiten Satz Napht nach Kordofan
versetzt oder gar mit ihm identifiziert wird. Nun muß jedem Kenner
der Geschichte dieser Länder sogleich dieser Name Napht auffallen.
Er erinnert allzu sehr an das Napata der Alten, das Land, aus dem
den alten Agyptern das Gold zufloß und dessen Name fraglos mit
ägyptisch nubt = Gold zusammenhängt. Hier heißt es nun vom
König von Napht: "Er war der Besitzer von allem Gold und Kupfer."
Dabei wird auf die tatsächlich vorhandenen, heute verfallenen,
meist aber sicherlich einmal großartig gewesenen Kupfergruben von
Hophrat-en-Nahas hingewiesen. Halten wir uns an diese Tatsächlichkeit,
so ergibt sich, daß das Napht des Märchens sehr wohl ein
Tributär des einst und eine so lange Zeit hindurch mächtig gewesenen
Königreichs Napata-Meroe südlich Nubiens gewesen sein kann.
Ist dem so gewesen, dann wäre das geographische Bild auf afrikanischem
Boden geklärt und die Summe der geographischen Angaben
aller Widersprüche behoben. Denn auch der Name Kasch,
der nur in der Voranzeige, nicht aber im Innern der Sage vorkommt,
ist dann leicht erklärt. Wie ich auf 5. 9 geschildert habe, bin ich
über diesen Namen mit dem Foraner beinahe in Streit geraten.
Heute bin ich der Ansicht, daß ich hierbei doch wohl der Dumme
oder wenigstens Unbeholfene gewesen bin. Denn "das große Reich",
das im ersten Satze wie am Ende des drittletzten Absatzes vorkommt,
und auf das ich damals nicht achtete, ist augenscheinlich das Reich
Kasch. Bedenken wir nun, daß die Sage vier Könige in diesem
Reiche erwähnt, nämlich die von Nubien, Abessinien, Kordofan
(mit Napht) und Dar For, so ist es sehr gut denkbar, ja bis auf das
letztgenannte Land sicher, daß wir in der Tat ein Gebiet vor uns
haben, das im Altertume von kaschitischen oder kuschitischen
Völkern bewohnt war. Dazu wäre noch zu bemerken, daß die alten
Ägypter sicher nicht stets so wütend von "dem elenden Kusch (oder
Kasch)" gesprochen haben würden, wenn in ihm nicht kulturelle
oder natürliche Überlegenheiten wirksam gewesen wären, die den
Ägyptern fehlten und diese zu jahrhundertelang durchgeführten
Kämpfen mit dem kaschitischen Vorwerk Nubien veranlaßten.
Nun kommt aber noch ein geographisches Moment als sehr
wichtig in Betracht: das Land der Herkunft des Helden der Erzählung,
des Far-li-mas. Dieser, der Bringer der Märchen, kam
aus dem Lande jenseits des Meeres im Osten. Far-li-mas hatte also
seine Heimat nicht in Afrika, sondern jenseits des Roten Meeres.
Wo dieses Land zunächst gesucht werden muß, ergibt sich sehr einfach,
wenn wir uns den reichen Inhalt zur Bestimmung des Alters
der darin geschilderten Sitten untersuchen.
Der Ausgangspunkt der Erzählung ist der "rituelle Königsmord",
über den ich ja oben schon kurz gehandelt habe und der bei einigen
Stämmen dieser Länder ja heute erst jüngst als Sitte ausgestorben
ist. Er wurde im Altertum auch bei den kaschitischen Völkern am
obern Nil, in Meroe-Napata, geübt, und Diodor, des Sizilianers Erzählung
vom Ende dieser Sitte*, erinnert stark an unsere Erzählung.
Ferner wird dies Sittenbereich und die Weltanschauung charakterisiert
durch ein Priestertum, das die Sterne und den Lauf des
Mondes, sowie seine Konstellation beobachtet, durch das heilige
Feuer, das mit dem Tode und der Neubestattung des Königs gelöscht
resp. entzündet wird, durch königliche Feldbestellung als Kultushandlung,
durch den Brauch des vom König erkorenen Todesgenossen
usw., und nicht zuletzt durch die starken matriarchalischen
Züge.
Dies alles ist durchaus organisch zusammengehörig. Das Bild
ist ohne jede Kompliziertheit einfach. Vom letzten Punkt ausgehend,
sehen wir zunächst in Sah eine weibliche Persönlichkeit
und in ihrer Handlung als solcher eine solche Freiheit, wie sie die
Frauen dieser Länder seit Jahrhunderten nicht mehr besitzen. Sie paßt
aber durchaus in eine Zeit, in der die Schwester eines Königs oder
dessen Tochter, nicht aber der Sohn des Herrschers dessen Nachfolger
wird. Das ist nicht nur erlöschendes (wie heute noch vielfach zu
beobachten) oder nur formales Matriarchat. Es ist die Form, die
seiner Zeit um die Küsten des Roten Meeres, in Südarabien wie an
der Westküste Ostindiens heimisch war. Wenn dazu nun noch ins
Auge gefaßt wird, daß in genau den gleichen Ländern früher auch
der rituelle Königsmord geübt wurde, so ist damit der Bereich umschrieben,
in dem außerhalb Afrikas kaschitische Kultur blühte.
Es ist das um die nördlichen Randländer des Indischen Ozeans
heimische östliche Kasch, im Gegensatz zu dem auf afrikanischem
Boden eingesiedelte westliche Kasch.
Dieses östliche Kasch hatte im Altertum eine heute nur erst von
wenigen geahnte Kulturbedeutung. Babylon wie Ägypten empfingen
von ihm aus reichen Kulturzufluß. Besonders das südliche
(glückliche) Arabien, das Heimatland des Weihrauchs, besaß bedeutenden
Einfluß. Uns wird dieses sofort klar, wenn wir bedenken,
daß hier auch das Königreich lag, durch dessen Schätze Judäa so
reich wurde.
Als wir nun im Jahre 1915 langsam durch das Rote Meer strichen
und ich manche Stunde mit den arabischen Schiffsleuten verplauderte,
hörte ich von einer anscheinend weitverbreiteten Ansicht,
die vielleicht dazu beiträgt, hier mancherlei aufzuklären. Meine
***Könige den Priestern, nicht durch Waffen oder Gewalt überwunden, sondern
weil ihre Vernunft unter der Gewalt des Aberglaubens stand. Allein zur Zeit
Ptolomäus II. wagte es Ergamenes, König der Äthiopier, der eine griechische
Erziehung erhalten und sich auf die Philosophie gelegt hatte, zuerst diesen
Befehl zu verachten. Mit einem aufgeklärten, des Thrones würdigen Edel..
mute, drang er mit seinen Soldaten in den unzugänglichen Ort, wo der
goldene Tempel der Äthiopier war, brachte die Priester alle um, hob diese
Gewohnheit auf und richtete alles nach seinem Gutdünken ein.
Gewährsmänner behaupteten nämlich steif und fest, alle Märchen
von Tausendundeiner Nacht wären zuerst in Hadramaut (Südarabien)
erzählt worden und hätten sich von dort aus über die Erde
ausgedehnt. Ganz besonders nahmen sie für sich die Geschichte
von Sindbad dem Seefahrer in Anspruch.
Ob dieses im Speziellen berechtigt ist, vermag ich nicht zu entscheiden.
Für viele Märchen mag es zutreffen. Daß aber Südarabien,
das Mittelland des östlichen Kasch, ein Heimatland der Erzählerkunst
ist, das ist mir sicher, und wenn ich mich an der Hand
dieser Tatsache für ein Land entscheiden soll, das mir als das Gegebene
für die Herkunft des Märchenerzählers Far-li-mas erscheint,
so ist dies in der Tat Südarabien.
Wenn dieser Annahme nichts widerspricht, so darf ich zum zweiten
wohl auch die Meinung äußern, daß nicht nur dieser mystische
Märchenerzähler, sondern auch der größte Teil der in Kordofan
kursierenden und der von mir hier wiedergegebenen Märchen aus
Südarabien stammt und nur seine letzte Form in Kordofan angenommen
hat.
Nun kurz noch die letzte Frage, in welcher Zeit dieser Kulturzufluß
von Südarabien, dem Hauptlande des östlichen Kasch, nach
dem Innern des westlichen afrikanischen Kasch stattgefunden hat.
— Kaschitische Kulturzuflutungen nach Nordostafrika haben seit
langem, vielleicht durch Jahrtausende, in ständigem Fließen bald
abflauend, bald anschwellend stattgefunden. Zwischen jenen, die
den rituellen Königsmord nach Afrika trugen und jenen, die das
letzte Reich in Abessinien gründeten, verstrichen viele Menschenalter.
Zunächst müssen wir uns an ein nachher und an ein vorher halten.
Sicherlich hat der Typus der Erzählungen mit dem alten Napata-Meroe
nichts zu tun. In jener Zeit erzählte sich das Volk andere
Geschichten. In der klassischen Zeit des Altertums war dieser Stil
noch nicht erreicht. Ich setze also das post nach dem Altertum.
Das ante gewinnen wir durch die Tatsache, daß die neu zugewanderten
Stämme, die heute wie ein Riegel zwischen Kordofan und dem
Roten Meer lagern, nichts von solchen Märchen wissen.
Es bleibt nur also der Raum zwischen dem 8. Jahrhundert (Abschließung
Napata-Nubiens durch den Islam) und dem 14. Jahrhundert.
Dieser Zeitraum stimmt sicherlich annähernd. Denn dies
ist die Zeit, in der auch in Agypten, Persien und Indien an den
Höfen das Märchenerzählen Sitte wurde. Aus dem Anfange dieser
Zeit, nämlich aus dem 10. Jahrhundert, ist uns auch die erste
Niederschrift von Tausendundeiner Nacht bekannt, ohne daß es bis
heute gelungen wäre, dessen erste indische und persische Fassung
in Augenschein zu gewinnen.
Mit Tausendundeiner Nacht hat aber die Einführungserzählung
des Foraners Arach-ben-Hassul eine frappierende Ähnlichkeit. In
Tausendundeiner Nacht errettet sich die schöne Schahrazad durch
Märchenerzählen von dem Tode. In der Sage Arach-ben-Hassuls
wird durch das Märchenerzählen der Held, seine Geliebte und der
König vom Tode errettet, wobei allerdings auch hier das Weib, die
Prinzessin Sah, geistige Urheberin der Unternehmung ist.
Zu dieser frappierenden Übereinstimmung sei es mir gestattet,
dieser Erzählung sogar dem köstlichen Tausendundeiner Nacht
gegenüber ein überordnendes Eigenlob auszusprechen: Die Erzählung
von Far-li-mas, dem Manne aus dem Lande jenseits des östlichen
Meeres, ist feiner gesponnen als die von der schönen und gewandten
Schahrazad.
Erzählt der Afrikaner besser? Wohl kaum! Oder ist dies eine
ältere, noch nicht so abgegriffene und durch viele indische, persische
und ägyptische Umerzählung abgeschliffene Urfassung?
Atlantis Bd_04-022a. |
Flip
|
|
KARTE
DER LÄNDER
UM KORDOFAN
EINAKTER
1. Glück und Verstand*
Eines Tages gingen Sad (das Glück) und Agel (der Verstand)
zusammen den Weg dahin und sprachen miteinander. Sad
sagte: "Ich bin der beste Freund der Menschen." Agel sagte: "Ich
denke nicht so, ich glaube, ich bin der beste Freund der Menschen."
Sad sagte: "Wir wollen es versuchen." Agel sagte: "Wir wollen
die Menschen entscheiden lassen." Sie gingen beide weiter.
Sie kamen zu einer Farm, auf der arbeitete ein Mann, der war
jung und schön, aber er war sehr arm, so daß es ihm schwer fiel,
das Essen des Tagesbedarfs immer zu verdienen. Sad und Agel
traten zu dem Manne und sagten: "Wir sind ,das Glück' und ,der
Verstand'. Welchen von uns beiden willst du lieber zum Freund
haben?" Der Bursche sagte bei sich: "Ich habe einen leeren Magen
und großen Hunger, den Kopf aber so schon voller Gedanken. Wie
soll ich nun noch mehr Verstand aufnehmen und anwenden, wenn
ich nicht das Glück habe, den Hunger stillen und den Magen füllen
zu können?" Der Bursche sagte: "Ich will lieber dich, Sad (das
Glück), zum Freund haben." Sad und Agel grüßten den Mann
und gingen weiter. Sad sagte: "Ich will nun dem Manne wirklich
Freund sein." Agel sagte: "Ich werde mich ihm aber fernhalten."
Der hübsche Bursche blickte den beiden Freunden nach, bis sie
nicht mehr zu sehen waren, und dann begann er wieder zu arbeiten.
Kaum aber schlug die Schaufel wieder in die Erde, so gab es einen
hellen Klang, und als der Bursche seinem Ursprung nachforschte,
sah er, daß er einen großen Schatz und viel Gold gefunden hatte.
Sogleich nahm er einiges davon, lief zur Stadt, kaufte sich schöne
Kleider und Sklaven und Pferde, ging in prächtigem Aufzuge zum
Acker zurück und lud den ganzen Schatz auf einen starken Esel,
der mit schönen Decken geschmückt war. Der schöne Bursche bestieg
sein Pferd, setzte sich dann an die Spitze des Zuges und ritt
der Stadt wieder zu. Inzwischen aber hatte der Melik des Landes
auch sein Pferd satteln lassen und ritt an der Spitze eines langen
Zuges von Sklaven und Reitern ins Freie hinaus. So begegneten
sich der König und der schöne Bursche, und der Bursche stieg sogleich
ab und führte dem König den schön gezäumten Esel mit dem
Schatze darauf als Geschenk zu. Als der König den Aufzug und
den Schatz und den schönen Jüngling sah, glaubte er nicht anders,
als dieser müsse auch ein König sein, der mit diesem Geschenk gekommen
sei, ihn zu besuchen und seine Tochter zur Frau zu gewinnen.
Denn die Tochter des Meliks war ihrer ungewöhnlichen
Schönheit wegen berühmt.
So stieg denn der König auch vom Pferd, begrüßte den andern
und führte ihn in die Stadt und in seinen Palast. Er ließ ihm ein
schönes Haus zuweisen und gab ihm nach wenigen Tagen seine
Tochter zur Frau. Damit der schöne Mann, seiner vermuteten
hohen Stellung nach, aber auch gewohnheitsgemäß gut wohne,
ließ der Melik für ihn und seine Tochter ein schönes Haus mit reicher
Ausstattung herrichten, in das er am Tage der Hochzeit eingeführt
wurde. Als der schöne Jüngling aber das Haus betrat und
die Pracht der Teppiche und des Silberschmuckes sah, geriet er
vor Verwunderung über den ungewohnten Anblick solchen Reichtums
in Bestürzung und taumelte zurück. Die Boten des Königs,
die den Jüngling hereingeführt hatten, sahen aber solches Benehmen
mit Verwunderung und liefen sogleich zum König hinüber,
ihm hierüber Bericht zu erstatten.
Als der König von den deutlichen Zeichen der Verblüfftheit seines
schönen Schwiegersohnes hörte, sagte er: "Dieser junge Mann
ist sicherlich größern Reichtum und größere Pracht gewöhnt.
Sagt ihm also, dies wäre nur ein vorläufiges Unterkommen für ihn
und meine Tochter, und ich würde sogleich ein prächtigeres Haus
für ihn errichten lassen." Seinen Worten gemäß ließ der König
dann so schnell als möglich ein größeres und viel prunkvolleres
Haus bauen und ausschmücken. Als man seinen Schwiegersohn
aber da hineinführte, packte ihn die Bestürzung über solche Herrlichkeit
genau so wie das erste Mal. Und der König, dem dies unverzüglich
wieder hinterbracht wurde, glaubte nicht anders, als ob
dies Haus eben auch noch nicht den Gewohnheiten und Ansprüchen
seines Schwiegersohnes genüge.
Die Folge war, daß der König ein drittes, noch prunkvolleres
Haus bauen ließ, bei dessen Betreten der Jüngling aber noch mehr
erschrak. Und da weder der König noch irgendeiner seiner Ratgeber
den wahren Grund dieses merkwürdigen Betragens erriet,
so wurde ein viertes, ein fünftes und ein sechstes Haus gebaut,
von denen eines immer köstlicher errichtet und ausgestattet war
als das vorhergehende. Als der König aber vernahm, daß der Jüngling
auch bei Besichtigung des sechsten Hauses kein anderes Benehmen
an den Tag gelegt hatte, als bei der Besichtigung des
vorhergehenden -da sagte er: "Gut denn! Dieser Jüngling unternimmt
es, meine Geduld allzu scharf auszunützen. Ich will nun
noch ein siebentes Haus bauen, dessen Herrlichkeit alles übertreffen
soll, was man bisher gesehen hat. Wenn dem Jüngling dies
auch nicht genügt, werde ich ihn töten lassen, trotzdem er ein
Königssohn und mein Schwiegersohn ist."
So wurde denn das siebente Schloß gebaut und dabei an Pracht
und Schmuck alle Kunstfertigkeit, die überhaupt denkbar ist, entfaltet.
Am Tage nun als es fertig war und der Melik es selbst sehr
befriedigt betrachtete und wiederum geäußert hatte, daß er den
Jüngling töten wolle, wenn das Haus noch nicht genüge, kamen
wieder Sad und Agel des Weges, und Agel (der Verstand) sagte:
"Sieh, morgen wird dein Freund getötet werden, trotzdem du alles
für ihn getan hast, was möglich war." Sad sagte: "Dies setzt mich
allerdings in Erstaunen. Wir wollen ihn aufsuchen." Sad und Agel
traten bei dem schönen Jüngling ein, welcher sehr traurig auf seinem
Angareb lag, weil er gehört hatte, daß der König ihn morgen
vielleicht töten lassen wolle, er sich aber nicht denken konnte,
welches der Grund hierzu wäre. Als der schöne Jüngling nun Sad
(das Glück) und Agel (den Verstand) eintreten sah, sagte er bei
sich: "Mein Freund Sad hat mich in Gefahr gebracht. Ich muß
sicher sterben, wenn ich nicht genügende Klugheit gewinne, diese
Sache zu einem guten Ende zu führen." Also sagte der Jüngling
zu Sad und Agel: "Ich freue mich unendlich, euch wiederzusehen.
Ich bitte aber nunmehr Agel, mit mir Freundschaft zu schließen."
Agel sagte: "Ich will sehen, wie weit ich dich bringen kann." Dann
gingen Sad und Agel wieder fort.
Als der Jüngling nun am andern Morgen in den siebenten über alle
Denkbarkeit köstlichen Palast geführt wurde, sagte er: "Seht,
dies ist ein Palast, wie er unsern Gewohnheiten entspricht. So habe
ich mir das Haus gedacht, in dem ich wohne, solange ich bei meinem
Schwiegervater weile. Geht und sagt ihm meinen Dank."
Die Leute eilten sogleich zum Melik und hinterbrachten ihm die
Nachricht über das geänderte Benehmen seines Schwiegersohnes.
Der Melik war darüber aber sehr froh und sagte: "Ich habe das
Richtige getroffen und freue mich nun meines Schwiegersohnes
doppelt. Wenn er in einigen Monaten in seine Vaterstadt zurückkehren
will, so soll ihm das gern gestattet werden, und ich will
ihm ein ganzes Heer von Soldaten und eine Flotte als Begleitung
mitgeben."
So geschah es. Nachdem der schöne Jüngling einige Monate bei
seinem Schwiegervater gewesen war, bat er um die Erlaubnis, mit
seiner Gemahlin in die Stadt seines Vaters zurückzukehren, und
der König rief einen General und befahl ihm, den schönen Jüngling
mit vielen Soldaten und Schiffen zu begleiten und unterwegs auszuführen,
was der Jüngling wünsche. Der Schwiegersohn nahm
dann von dem König Abschied, bestieg mit seiner Gemahlin ein
prächtiges Schiff und fuhr an der Spitze der Flotte auf dem Flusse
von dannen.
Nachdem sie nun lange, lange Zeit an vielen Plätzen dahingefahren
waren, kamen sie an eine große, große Stadt, die sehr
schön gebaut war und in der alle Welt in schöne Kleider gehüllt
und mit prächtigem Schmuck geziert war. Als der schöne junge
Mann das sah, sagte er zu dem General: "Dies ist die Stadt, die vorher
meinem Vater gehört hat. Fremde Leute haben meine Familie
vertrieben. Nun wollen wir die Stadt wieder einnehmen." Der
General sagte: "Dieses ist eine Sache für mich!" Und der General
griff die Stadt sogleich vom Wasser und vom Land her an, so daß
sie bald eingenommen war.
So zog denn der schöne Jüngling bald in seine Stadt ein, und er
mußte sich sagen, daß er selbst nicht einmal erhofft hatte, eine so
herrliche Stadt zu finden. Als er aber durch das Tor seines Palastes
ritt, fand er, daß eine Frau dahinter stand. Der schöne Jüngling
fragte also die Frau: "Wer bist du? Was willst du hier?" Das
Weib sagte: "Ich bin die Ginia (Maskul.: Aldjann?) Mariam Kuba
und habe immer den Herren des Palastes gedient." Der neue junge
König sagte: "Wie hast du denn deine Dienste erwiesen?" Die
Ginia sagte: "Wenn mein Herr einen Dienst von mir verlangt,
steigt er auf meinen Rücken und sagt mir, wo er zu sein wünscht.
Ich bringe ihn dann nach jedem gewünschten Platz." Der neue
junge König war über diese Erwerbung sehr erfreut und sagte:
"Du kannst in meinem Dienste bleiben."
Der neue junge König ordnete nun alle Angelegenheiten der
Stadt, setzte Generäle und Richter ein, verteilte die Reichtümer des
Landes und beschloß dann, seinen Schwiegervater zu besuchen und
ihn außerdem zu einer Besichtigung seines Landes einzuladen.
Er bestieg also den Rücken der Ginia, die hinter dem Tore immer
seine Befehle erwartete und sagte: "Bringe mich sogleich in den
Garten meines Schwiegervaters." Im nächsten Augenblick befand
sich der junge schöne König an dem gewünschten Ort, und der alte
Melik, sein Schwiegervater, kam auf ihn zu. Als der alte Melik
den Schwiegersohn plötzlich vor sich sah, erstaunte er und sagte:
"Du bist es? Wo kommst du denn her? Ich denke, du bist in die
Stadt deines Vaters, die so weit fort liegen soll, zurückgekehrt?"
Der junge schöne Mann sagte: "Gewiß, das bin ich auch, und ich
habe mit Hilfe des Generals und der Soldaten auch alle schlechten
Leute, die darin waren, und die uns den Platz weggenommen
hatten, vertrieben. Nun bitte ich dich, mit zu mir zu kommen
und deine Tochter in meiner Stadt zu begrüßen." Der alte Melik
sagte: "Das ist sehr merkwürdig! Wie bist du denn hierher gekommen?"
Der junge schöne Mann sagte: "Wie ich hierher gekommen
bin? Nun, auf dem Rücken meiner Ginia Mariam Kuba,
auf dem ich dich auch mit in meine Stadt nehmen will. Sende,
wenn du willst, deine Flotte auf dem Wasser nach und komme
mit mir."
Der alte Melik schüttelte zwar den Kopf. Er gab aber doch im
Palaste seine Anordnungen, kehrte in den Garten zurück und
setzte sich mit seinem Schwiegersohn auf den Rücken der Ginia
Mariam Kuba. Der Schwiegersohn sagte: "Bringe uns in meine
Stadt und in meinen Palast!" Sogleich war der alte Melik mit dem
schönen jungen Mann in der großen Stadt, mitten im Palaste, und
seine Tochter kam ihm mit freudiger Begrüßung entgegen. Der
alte Melik war erstaunt und beglückt über den Reichtum und die
Herrlichkeit, in der seine Tochter und sein Schwiegersohn lebten.
Er betrachtete die Stadt und alle Anlagen, er blieb einige Tage und
sagte dann: "Ich sehe, daß ihr sehr glücklich und schön hier lebt.
Nun aber möchte ich wieder in mein Land zurückkehren." Der
junge Melik begleitete also den Alten hinab, bat ihn, auf dem Rücken
der Ginia Mariam Kuba Platz zu nehmen und befahl der Ginia,
den alten Melik sogleich in seine Stadt und in seinen Palast zu
tragen und dann zurückzukehren. Die Ginia kam dessen Befehle
nach, so daß der alte Melik einen Augenblick später in seinem
Palaste anlangte.
Zwei Jahre nachher saß der alte Melik in seinem Palaste über
alte Bücher gebeugt, las viel und sagte: "Ich habe meine Tochter
diesem jungen Manne gegeben, ohne recht zu wissen, wer sein
Vater und seine Mutter gewesen sind. Ich kann über alles das und
jene Stadt auch nichts in meinen Büchern finden." So wurde denn
der alte Melik ganz traurig und besorgt, und seine Traurigkeit nahm
von Tag zu Tag so zu, daß er endlich beschloß, sich mit seiner Flotte
auf den Weg zu machen und von seinem Schwiegersohne genaue
Auskunft zu verlangen. So geschah es. Nach langer Fahrt kam
der alte Melik wieder in der prächtigen Stadt seines Schwiegersohnes
an. Er wurde mit großer Freude aufgenommen, und der junge
König fragte den alten Melik: "Ich bitte dich mir zu sagen, weshalb
du gekommen bist!" Darauf sagte der alte König: "Sieh, mein
junger Freund, du bist mein Sohn geworden, indem ich dir meine
Tochter zur Frau gegeben habe. Ich habe inzwischen in allen alten
Büchern nachgeschlagen; ich kann aber nichts von deiner Familie
und von dem Königtum deines Vaters finden. Kläre mich also
darüber auf. Morgen wollen wir vor allen meinen Vornehmen
zusammenkommen, und dann gib mir auf diese Frage genügende
Auskunft, oder ich muß dich töten." Damit entließ der alte Melik
seinen Schwiegersohn.
Der junge schöne Mann ging bedrückt in seinen Palast. Er sagte
bei sich: "Nun habe ich das Glück zum Freund und habe den Verstand
zum Freund. Und doch bin ich wieder am Rande des Grabes.
Hier hilft mir weder mein Freund Sad noch mein Freund Agel.
Wer soll mir nun helfen?" Er ging in sein Zimmer und legte sich
auf das Angareb um zu schlafen. Unten auf der Straße gingen aber
Sad und Agel vorbei und sagten untereinander: "Hier können wir
beide nicht helfen." Und Sad und Agel waren auch traurig.
Inzwischen lag der junge schöne Mann auf dem Angareb und
schlief ein. Nach einiger Zeit sah er aber im Traum einen Mann,
der sagte zu ihm: "Sage die Wahrheit!" Der junge Mann erwachte
und fuhr auf. Er sah aber in der Erinnerung noch ganz deutlich
den Mann und glaubte es noch zu hören, wie der Mann sagte:
"Sage die Wahrheit!" Der junge schöne Mann schlief aber wieder
ein und träumte sehr ängstlich, und dann erschien ihm im Traum
wieder der gleiche Mann und sagte: "Sage die Wahrheit !" Der
junge Mann erwachte und fuhr auf. Er sah und hörte in der Erinnerung
noch ganz deutlich den Mann. Da sagte der junge schöne
Mann bei sich: "Gut, ich werde morgen die Wahrheit sagen!"
Am andern Tage versammelte der alte Melik alle Vornehmen
und Generäle um sich und ließ dann seinen Schwiegersohn kommen.
Der junge schöne Mann kam. Er warf sich vor dem alten Melik
nieder und begann: "Ich werde dir die Wahrheit sagen." Danach
erzählte er alles, wie er Sad (das Glück) und Agel (den Verstand)
das erste Mal getroffen und wie er mit ihnen Freundschaft geschlossen
und es dann bis dahin gebracht habe, wo er jetzt liege, nämlich
vor den Füßen des Königs. Als der Melik alles gehört hatte, war
er über die Ehrlichkeit seines Schwiegersohnes sehr erfreut, und er
setzte ihn über zwei Länder und gab ihm viel Macht. Über das Tor
der großen Stadt ließ er aber eine Inschrift setzen, die lautete:
"Wenn ein Mann Glück und Verstand zu Freunden hat und wenn
er dann noch ehrlich bleibt, kann er der Herr aller Städte der Welt
werden!"
2. Der Schädel
Ein Faki ging einmal in die Wüste. Als er durch die Wüste
ging, sah er den Schädel eines Menschen im Sande liegen.
Als er näher zu dem Schädel herankam, bemerkte er, daß auf der
Knochenstirn Schriftzeichen waren. Er nahm den Schädel auf und
las darauf folgende Worte: "Als ich lebte, habe ich vierzig Menschen
getötet. Nach meinem Tode werde ich auch vierzig Menschen
töten." Der Faki sagte: "Dieser Schädel scheint mir nicht ungefährlich
zu sein. Jedenfalls werde ich ihn vernichten lassen." Der
Faki nahm also den Schädel mit sich nach Hause.
Zu Hause angekommen, rief er seine junge Tochter, die noch ein
Mädchen und noch keinem Manne zugetan war, und sagte: "Mein
Kind, nimm diesen Schädel und zermahle ihn zu ganz feinem
Pulver. Sieh, daß sonst nichts mit dem Schädel passiert. Wenn
das Knochenmehl aber ganz fein ist, so bringe es mir, damit ich es
nach meiner Weise verwende." Das Mädchen nahm den Schädel
und trug ihn zum Mahlstein. — Das Mädchen sah, daß Schriftzeichen
auf der Stirn eingeschrieben waren, aber es konnte nicht
lesen. Das Mädchen zerschlug den Schädel in Stücke und zerrieb
ihn zu ganz feinem Pulver. Um nun zu sehen, ob das Pulver auch
ganz fein sei, ließ sie es erst durch die Finger gleiten. Dann nahm
sie ein wenig zwischen zwei Finger und brachte es an die Zunge.
Das Mädchen sagte: "Mein Vater wird zufrieden sein, denn das
Mehl ist so fein, daß ich es nicht einmal mehr mit der Zunge fühle."
Das Mädchen füllte nun sorgfältig alles Mehl in eine Kürbisschale
und brachte es zu seinem Vater. Der Faki sagte: "Ist
dies alles Mehl?" Das Mädchen sagte: "Ja, das ist alles Mehl. Ich
habe alles vom Mahlstein heruntergeklopft." Darauf ging der
Vater mit dem Knochenmehl ins Freie. Es wehte gerade ein starker
Wind über das Land hin. Der Vater warf das Mehl in die Luft, so
daß es vom Winde weithin getragen wurde. Darauf sagte er: "Nun
wird der Schädel die andern vierzig Menschen nicht mehr töten
können."
Nach einigen Monaten merkte die Mutter, daß ihre junge Tochter
schwanger sei. Sie nahm das Kind beiseite und sagte: "Meine
Tochter, was ist das mit dir! Du bist schwanger! Du bist noch
ein Kind und hast schon mit einem Manne zu tun gehabt? Sage
mir seinen Namen, damit wir die Angelegenheit bei Zeiten ordnen!"
Das Mädchen sagte: "Ich habe auch schon bemerkt, daß mit mir
die Sache nicht in Ordnung ist. Glaube mir aber, ich bin noch ein
Mädchen und habe noch nichts mit einem Manne vorgehabt." Die
Mutter sagte: "Mein Kind, leugne es nicht. Sage die Wahrheit.
Nenne den Namen des Mannes. Wenn du es nicht tust, wird dein
Vater dich womöglich töten." Das Mädchen weinte und wiederholte
immer wieder die Beteuerungen ihrer Unschuld, und da die
Mutter auch sonst keinerlei Anzeichen für eine Neigung oder Ausschweifung
ihrer Tochter beobachtet hatte, ging sie zu ihrem Gatten
und setzte dem die ganze Sache auseinander. Der Faki war sehr
zornig und erklärte, dies alles sei Lüge. Er wolle seine Tochter sogleich
töten; die Mutter überredete ihn aber, erst einen Arzt kommen
zu lassen, der die Angelegenheit untersuchen solle. Endlich
erklärte sich der Vater damit einverstanden. Der Arzt ward geholt.
Der Arzt untersuchte das Mädchen und bestätigte, daß es allerdings
noch völlig unberührt und nach allen Anzeichen unschuldig sei,
wenn auch kein Zweifel darüber herrschen könne, daß es bald einem
Kind das Leben geben würde.
Nach dieser Untersuchung und ihrem Ergebnis konnte nun auch
der Vater darüber nicht mehr im Zweifel sein, daß eine sehr seltsame
Angelegenheit vorliege, und daß in der Tat dem Mädchen
ein Vorwurf nicht gemacht werden könne, und so ließ man das
Mädchen in Frieden, bis es eines Tages einem Knaben das Leben
gab. Der Knabe wuchs im Hause der Großeltern auf und blieb ein
stilles Kind, das wenig mit andern seiner Art spielte, bis er etwa zehn
Jahre alt war. Da begann er in der Ortschaft und in den Gärten der
Nachbarschaft herumzugehen und sich die weite Welt anzusehen.
Eines Tages war der kleine Knabe ziemlich weit gegangen; er
kam an einen prächtigen Garten, in dem blühende Büsche, grüne
Wiesen und Gruppen von hohen Palmen und andern Bäumen miteinander
abwechselten. Auch spielten vielerlei Tiere und Vögel in
den Büschen, und allenthalben waren die Wege mit buntem Kies
bedeckt. Als sich der Knabe eine Weile in dem Garten ergangen
hatte, sah er vor sich einen mächtigen Gasr (Turm) aufragen. Im
Gebüsch neben dem Turm lagen viele Soldaten mit ihren Waffen
im Arm und schliefen so fest, als wenn sie tot wären. Es war keine
Tür zu sehen, die in den Turm hineingeführt hätte. Aus dem
obersten Fenster aber hing eine Strickleiter (auch in Kordofan =
silim) herab. Der Knabe kletterte, als er sah, daß die Soldaten fest
schliefen, an der Strickleiter hinauf und blickte in das Zimmer hinein.
Da sah er eine schöne Frau, die hatte den Kopf eines entkleideten
Mannes in ihrem Schoße liegen und ordnete seine Haare, so
daß sie aussahen wie Frauenhaare. Dabei sprach die Frau: "Wenn
ich dich nun noch in Frauenkleider hülle, wird kein Mensch erkennen
können, daß du ein Mann bist, und du kannst so immer als
meine Dienerin bei mir bleiben, und wir können, so oft mein Mann
auf Reisen ist, einander beilagern." Als der Knabe dies gehört hatte,
stieg er leise und vorsichtig, wie er gekommen war, wieder an der
Strickleiter hinunter und eilte an den schlafenden Soldaten vorüber,
zum Garten hinaus nach Haus. Daheim angelangt, fragte er seine
Großmutter, wem der Garten gehöre, in dem der jeder Tür bare
Turm stehe, ohne aber zu sagen, was er daselbst erlebt habe. Die
Großmutter sagte: "Mein Kind, gehe nie in den Garten hinein. Er
gehört einem reichen aber sehr grausamen Manne, der in dem Turm
seine Frau bewachen läßt, damit sie abgeschlossen von aller Welt
nie mit einem andern Manne zusammenkommen könne."
Einige Zeit nachher hatte der reiche Mann, der seine Frau in
dem Turm in dem schönen Garten eingeschlossen hielt, einen Traum.
Er sah, während er im Schlafe lag, daß in seinem Garten eine sehr
schöne Wassermelone (kordof. = tammak; arab. batich) gewachsen
war. Es kam aber von außen ein fremder Vogel, der hackte
an der Melone und pickte die besten Stücke heraus. Der reiche
Mann erwachte und dachte über diesen Traum nach. Endlich sagte
er: "Dieser Traum muß eine besondere Bedeutung haben. Ich will
alle Fakis zusammenrufen; die sollen mir den Traum erklären."
Der reiche Mann tat so. Er ließ alle Fakis zusammenkommen und
bewirtete sie gut. Danach erzählte er ihnen seinen Traum und
fragte sie, was das zu bedeuten habe. Die Fakis überlegten die
Sache hin und her. Sie vermochten sie aber nicht zu erklären. Da
wurde der reiche Mann zornig und sagte: "In fünf Tagen kommt
ihr wieder hierher, dann könnt ihr mir entweder den Beweis erbringen,
was dieser Traum bedeutet, oder aber ich lasse euch alle
miteinander töten." So entließ der reiche Mann die Fakis.
Die Fakis gingen traurig nach Haus, und besonders der Großvater
des kleinen Knaben war sehr bedrückt, denn er wußte, daß
der reiche, grausame Mann das, was er angedroht hatte, ausführen
würde, und er konnte gar nicht dahinter kommen, was der Traum
wohl zu bedeuten habe. Der Knabe sah die trübe Stimmung seines
Großvaters und forderte die Großmutter auf, in ihn zu dringen und
nicht zu ruhen, bis er seinen Kummer enthülle, denn es wäre ja
gar nicht unmöglich, daß er, der Knabe selbst, irgend etwas zur
Beruhigung seines Großvaters tun könne.
Die Großmutter ging zu ihrem Manne und sagte: "Sage deinem
Enkelknaben den Grund deines Kummers! Wäre es nicht möglich,
daß er dir raten kann?" Der Faki wurde erst zornig und sagte:
"Wie kann dieser kleine Junge etwas wissen?" Die Großmutter
sagte: "Denke, auf welch merkwürdige Weise er zur Welt gekommen
ist! Warum soll er nun nicht auch merkwürdiges Wissen mitgebracht
haben?" Der Faki sagte: "In diesem hast du recht!"
Dann erzählte der Faki den Traum des reichen Mannes und die
Drohung, deren Ausführung über ihm schwebe. Als der Knabe alles
gehört hatte, sagte er: "Mein Gidi (Großvater; arab. Sidi), wenn
es weiter nichts ist, so mache dir nur keine Sorgen; denn darin kann
ich alles tun. Nimm mich nur das nächstemal mit, wenn du zu dem
reichen Manne gehen mußt und sage ihm, ein erwachsener Traumdeuter
könne ihm, wie er nachher selbst sehen werde, den Sinn
seines Traumes nicht beweisen; das könne nur ein solcher, der noch
ein Kind sei; deshalb habest du mich mitgebracht." Der Großvater
sagte: "Es ist gut, so werde ich es sagen."
Als die fünf Tage verstrichen waren, kamen wieder die Fakis bei
dem reichen Manne zusammen, und der Großvater brachte den
Knaben mit. Der reiche Mann forderte die Fakis auf, Platz zu
nehmen. Er ließ ihnen Kaffee reichen und fragte sie dann, ob einer
von ihnen imstande sei, ihm die Bedeutung des Traumes zu beweisen.
Darauf ließen sie alle die Köpfe hängen, und nur der Großvater
sagte wohlgemut: "Ein erwachsener Traumdeuter kann dir,
mein Herr, den Traum nicht beweisen. Dies kann nur ein Kind;
deshalb habe ich meinen Enkel mitgebracht, der dir alles zum
besten auseinanderlegen kann." Der reiche Mann sagte: "Du bist
also der Traumdeuter, der mir die Bedeutung meines Traumes beweisen
will?" Der Knabe sagte: "So ist es!" Der reiche Mann
entließ hierauf alle andern Fakis und sagte zu dem Knaben: "Nun
sprich!"
Der Knabe sagte: "Mein Herr! Diese Sache ist auch für einen
Knaben nicht ganz leicht auseinanderzusetzen. Und da du allen
mit dem Tode gedroht hast, falls du nicht vollen Beweis erhältst,
kannst du dir denken, daß auch ich mich der Auseinanderlegung
nur dann aussetzen kann, wenn du versprichst, alles genau zu befolgen,
was ich von dir unbedingt fordern muß. Denn da es sich
um eine in der Tat für dich sehr wichtige Sache handelt, ist es nötig,
daß du mir hilfst, während ich meinen Kopf zum Pfand setze." Der
reiche Mann sagte: "Da du deinen Kopf zum Pfand setzt, bin ich
gern bereit alles zu tun, was du zur Aufklärung für unumgänglich
nötig erkennst. Sage also, was wir beginnen müssen."
Der Knabe sagte: "Zunächst bitte ich dich, mich mit hinauf in
das Gasr zu nehmen, in dem dein Fraun wohnt." Der reiche Mann
sagte: "Was hast du in dem Haus meiner Frau zu suchen?" Der
Knabe sagte: "Wenn du willst, daß ich die Sachen aufdecke, dann
mußt du mich schon dorthin bringen." Der reiche Mann sagte:
"Dann komm!" Darauf stiegen beide hinauf zu dem Gasr. Der
Knabe setzte sich auf ein Angareb und begann sich mit einem
kleinen Matuar (Taschenmesser) die Nägel zu schneiden. Der
Knabe sagte: "Nun rufe mir deine Frau und die Dienerin!" Der
reiche Mann rief seine Frau und ihre Dienerin. Dann sagte der
Knabe: "Sie können in das Nebenzimmer treten." Die Gattin und
die Dienerin des reichen Mannes gingen in das Nebenzimmer. Der
Knabe verschluckte aber sein Matuar. Als beide Frauen hinausgegangen
waren, sagte der Knabe: "Wo ist plötzlich mein Matuar?
Hat jemand mein Matuar genommen? Ich kann unmöglich ohne
mein Matuar weggehen."
Der reiche Mann erschrak. Der reiche Mann sagte: "Es wird doch
kein Dieb hier sein? Du darfst mich nicht für einen Dieb halten!
Warte, ich werde mich ausziehen. Du sollst sehen, daß ich das
Matuar nicht genommen habe!" Dann begann der reiche Mann
sich auszuziehen. Er warf alle Kleider in einen Winkel. Er sagte:
"Siehe, ich habe dein Matuar nicht genommen!" Der Knabe sagte:
"Ich sehe es. Aber soeben war auch deine Frau mit ihrer Sklavin
in diesem Raum. Deine Frau wird mit ihrer Sklavin wieder hereinkommen
und sich auch ausziehen müssen!" Der reiche Mann
sagte: "Du bist ein unverschämter Bursche! Wie kannst du verlangen,
daß meine Frau sich vor dir entkleidet!" Der Knabe sagte:
"Ich bin noch ein Kind, und somit kannst du als Gatte, der anwesend
ist, nichts dagegen sagen. Im übrigen habe ich dir ja gesagt,
daß du alles tun mußt, was zur Aufklärung gehört. Wenn du das
nun nicht tun willst, mußt du dir einen andern Traumdeuter
suchen." Der reiche Mann sagte: "Gehört das denn auch in diese
Sache?" Der Knabe sagte: "Das wirst du schon sehen."
Der reiche Mann rief seine Frau und deren Sklavin wieder herein
und sagte zu seiner Frau: "Meine Gattin, entkleide dich! Diesem
Knaben ist soeben sein Matuar abhanden gekommen. Wir müssen
ihm zeigen, daß wir es nicht nahmen."
Darauf legte die Frau ohne Zögern in einem zweiten Winkel ihre
Kleider ab und sagte: "Ihr seht, ich habe mit dem Matuar nichts
zu tun."
Der reiche Mann sagte: "Dann soll deine Sklavin in jenem dritten
Winkel sich entkleiden und zeigen, daß sie das Matuar nicht versteckt
hatte." Als der reiche Mann das sagte, schrien seine Frau
und ihre Dienerin auf. Die Frau sagte: "Mein Mann! Nie werde
ich erlauben, daß meine Sklavin sich vor dir und diesem fremden
Knaben entkleidet! Ich selbst konnte diesem Wunsche nachkommen,
weil ich mich selbst genügend Wächterin meiner Tugend dünke.
Niemals aber kann ich zugeben, daß man solches meiner Sklavin
zumutet!" Der reiche Mann sagte zu dem Knaben: "Was sagst du
hierzu?" Der Knabe sagte: "Du weißt, daß du, wenn nicht alles
geschieht, was nach meiner Ansicht nötig ist, dir einen andern
Deuter deines Traumes suchen mußt."
Der reiche Mann sagte: "Die Sklavin soll sich hier sogleich ausziehen!"
Die Sklavin wandte sich ab. Die Frau des reichen Mannes
schrie auf und fiel in Ohnmacht. Der reiche Mann sagte zu der
Sklavin: "Lege deine Kleider ab oder ich reiße sie dir selber vom
Leibe!" Die Sklavin blieb abgewandt stehen. Da ward der reiche
Mann wütend und riß dem Mädchen selber die Kleider herab, und
nun sah er, daß unter den Kleidern der Sklavin ein kräftiger Mann
zum Vorschein kam. Erstaunt stand der reiche Mann da. Der
Knabe trat aber vor, deutete auf die ohnmächtige Frau des reichen
Mannes und sagte: "Das ist die schöne Melone in deinem Garten,
von der du geträumt hast." Dann wies er auf den kräftigen Mann
und sagte: "Das aber ist der fremde Vogel, der daran pickt und das
beste heraushackt."
Der reiche Mann ließ seine Frau und die falsche Sklavin und alle
richtigen Sklavinnen (Sklavin in Kordofan = Djaria) und alle Soldaten,
die am Fuße des Gasr zur Wache aufgestellt waren, hinrichten.
Es waren vierzig Menschen, die so um das Leben kamen.
Die Leute im Orte sagten: "Der Enkel des Fakis hat es erreicht, daß
vierzig Menschen ums Leben gebracht worden sind!"
Das hörte der Faki. Der Faki wurde nachdenklich und sagte:
"Mein Enkel hat den Tod von vierzig Menschen verursacht. Dies
ist ein eigentümlicher Zufall, denn der Knabe wurde gerade neun
Monate geboren, nachdem ich den Schädel in der Wüste fand, auf
dessen Stirne eingeschrieben stand: ,Als ich lebte, habe ich vierzig
Menschen getötet. Nach meinem Tode werde ich auch vierzig
Menschen töten.' Das ist ein eigentümlicher Zufall."
Der Faki rief seine Tochter und sagte: "Meine Tochter, du wirst
dich erinnern, daß ich vor etwa elf Jahren einmal einen Schädel
aus der Wüste heimbrachte, auf dessen Stirne Schriftzeichen eingeschrieben
waren." Das Mädchen, die Mutter des Knaben, sagte:
"Ja, ich erinnere mich daran, du sagtest, ich solle den Schädel zu
feinem Mehl mahlen, und ich habe es getan." Der Faki sagte: "Und
was hast du sonst damit getan ?" Das Mädchen, die Mutter des
Knaben, sagte: "Ich habe sonst nichts Besonderes damit getan. Ich
habe die Knochen zerbrochen und sie dann auf dem Reibsteine zu
ganz feinem Pulver zermahlen, das ich dir brachte, nachdem ich
versucht hatte, ob es auch ganz fein sei." Der Faki sagte: "Wie
hast du denn versucht, ob es ganz fein sei ?" Das Mädchen, die
Mutter des Knaben, sagte: "Ich habe es erst durch die Hand gleiten
lassen, dann ein wenig zum Munde geführt und mit der Zunge gespürt,
daß es ganz fein sei."
Der Faki sagte: "Also du hast ein wenig zum Munde geführt.
Und dann wurde, trotzdem du keinen Umgang mit Männern hattest,
der Knabe geboren, und jetzt hat der Knabe veranlaßt, daß vierzig
Menschen hingerichtet wurden!"
3. Das verlorene Glück
Mohammed-el-Assad (der Löwe) war ein Melik, der war reicher
und gütiger, klüger und mächtiger als irgendeiner seiner Vorgänger.
Man wußte aber erst nichts von ihm, sondern nur die, die
seiner Hauptstadt und seinem Königreiche nahe wohnten.
Weit entfernt von Mohammed-el-Assads Stadt wohnte ein anderer
Melik, der einen Sohn hatte, den man schlechthin Schatr Mohammed
nannte. Dieser Melik war ungemein reich und mächtig und
glaubte, daß ihm niemand an Besitz und Einfluß gleichkomme. Der
Melik sprach eines Tages zu seinem Sohne: "Reichtum und Macht,
wie ich sie besitze, sind unvergleichlich und unerschütterlich."
Schatr Mohammed sagte: "Mein Vater, glaube an meine Verehrung
für dich, aber in diesem kann ich dir nicht beistimmen." Der Melik
sagte: "Wenn dies nicht wäre, hätte nichts Wert." Der Sohn sagte:
"Mein Vater, ich glaube, daß ein gütiger und kluger Sinn beständiger
und mehr wert ist als Reichtum und Macht." Der Melik sagte:
"Mein Sohn, ich will dich nicht hindern, die Erfahrungen, die dir
noch fehlen, zu erlangen; denn ich glaube wohl Klugheit und Überlegung
an dir wahrzunehmen, noch aber scheint mir andererseits
Erfahrung und Anerkennung des Reichtums und der Bedeutung der
Macht dir zu fehlen. Ich werde dich also auf Reisen senden. Ich
werde dir zwanzig Boote mit Sabat (Zibetkatzensekret) füllen lassen.
Du weißt, daß dies eine teure Ware ist. Wenn du nun einen Mann
findest, der die Ladung der zwanzig Boote auf einmal kaufen und
mit einer einzigen Münzart sogleich bezahlen kann, dann sollst du
recht haben, und dann will ich zugeben, daß ich meinen Reichtum
und die Festigkeit meiner Macht überschätzt habe. Wenn dir dies
aber nicht gelingt, so daß du also keinen Käufer für die Ware bei
solchen Bedingungen findest, dann erst wirst du wissen, wessen
Sohn du bist!" Darauf dankte Schatr Mohammed seinem Vater.
Schatr Mohammed fuhr mit der zwanzigfachen Ladung von Sabat
auf seinen Booten von dannen. Er fuhr von einer Stadt zur andern,
von einem Land zum andern. Schatr Mohammed kam in Länder,
in denen niemand mehr den Namen seiner Vaterstadt und seines
Vaters kannte. Schatr Mohammed kam in weit entfernte Länder.
Eines Tages sagten ihm aber die Kaufleute der Stadt, in der er angelegt
hatte: "Deine zwanzigfache Sabatladung kannst du nur an
einem Platze verkaufen. Das ist nämlich in der Stadt Mohammedel-Assads,
der der glücklichste und reichste der Menschen ist und in
dessen Stadt mehr wohlhabende Kaufleute sind als sonst auf der
Erde." Darauf bestieg Schatr Mohammed seine Boote wieder und
ließ sie nach der angegebenen Stadt absegeln.
Schatr Mohammed ging sogleich in die Basare und sah sich um.
Solche Basare hatte Schatr Mohammed noch nicht gesehen. Alle
Leute waren hier wohlhabender als in der Stadt seines Vaters. Die
Kaufleute nahmen ihn auch freundlich auf, bewirteten ihn und
fragten ihn dann, welche Ware er auf den zwanzig Booten bringe.
So wiederholte Schatr Mohammed, daß er zwanzigfache Sabatladung
führe, daß er diese allgesamt nur auf einmal und zahlbar in
einer einzigen Münzsorte verkaufen dürfe. Nun gaben die Kaufleute
wohl zu, daß gerade in ihrer Stadt Sabat ein besonders wertvoller
Artikel sei; sie erklärten sich bereit, daß jeder einzelne diesen
oder jenen Anteil einer Bootladung kaufen wolle; sie erklärten aber
einstimmig, daß keiner von ihnen imstande sei, die zwanzigfache
Ladung auf einmal zu kaufen, bemerkten aber hierzu: Dieses könne
nur ein einziger Kaufmann der Welt, und das sei Mohammed-el-Assad,
ihr Melik. Dem allerdings sei es ein kleines, alles auf einmal
zu wählen und die ganze Ladung mit jeder Münze zu zahlen, die
Schatr Mohammed nur wünschte. Schatr Mohammed dankte für
die Auskunft und begab sich auf die Schiffe zurück.
Am andern Tage gesellte sich Schatr Mohammed aber zu denen,
die dem Melik die Ehre bezeugten, und Mohammed-el-Assad rief
den ihm fremden und fremdartig gekleideten Jüngling zu sich und
lud ihn ein, noch bei ihm zu bleiben, als er die andern entließ. Der
Melik ließ einen Schemel (Kursi) bringen. Schatr Mohammed sah,
daß der mit Almas (Diamanten) und Djauwahirr (Rubinen) besetzt
war. Schatr Mohammed hatte so schöne Arbeit noch nicht gesehen.
Dann wurde der Kaffee auf einer Sinia (Platte) gebracht, die bestand
aus purem Gold und war wiederum mit Almas und Djauwahirr
besetzt. Als der Melik und Schatr Mohammed den Kaffee geschlürft
hatten, lud der König seinen Gast ein, das Essen mit ihm
zu teilen. Da wurde denn eine Sinia gebracht, die war noch viel
kostbarer und reicher mit Edelsteinen besetzt als die erste. Sie war
von mächtigem Umfang, und vierundzwanzig Gerichte standen
darauf, und Schatr Mohammed meinte, aller Reichtum seines Vaters
wiege diese eine Sinia nicht auf. Die Speisen waren aber so köstlich,
daß Schatr Mohammed bei sich sagte: "So ausgezeichnet habe ich
in meinem Leben noch nicht gespeist." Der König hatte aber
Freude an der Klugheit Schatr Mohammeds, nahm ihn zu sich in
den Palast, und Schatr Mohammed blieb drei Monate der Gast
Mohammed-el-Assads.
Während der ganzen Zeit hatte der Melik den klugen Jüngling
immer in seiner Umgebung. Er ritt mit ihm aus, erfuhr mit ihm
in herrlichen Booten auf dem Fluß. Er sprach mit ihm über dies
und über das. Nie aber fragte er, weshalb Schatr Mohammed von
seinem Lande weggezogen sei und was er bei sich führe. Nach drei
Monaten bat Schatr Mohammed aber den Melik, ihm Urlaub zu
geben und ihm zu erlauben, wieder zurückzukehren, da er alles,
was er an Erfahrungen benötige, jetzt gewonnen habe. Der Melik
fragte ihn, was das bedeute, und Schatr Mohammed erzählte nun,
daß er die zwanzigfache Ladung von Sabat bei sich führe, und weshalb
sein Vater sie ihm mitgegeben habe. Der Melik hörte das ganze
Gespräch mit an und sagte dann: "Im Reichtum zu vergleichen, hat
keinen Wert; in der Beständigkeit des Glückes sind wir aber alle
schwach und machtlos. Was nun deine zwanzig Sabatladungen
anbelangt, so will ich sie dir gern abnehmen, denn ich will meine
Häuser damit decken, daß sie wohlriechen. Du aber gehe hin und
lasse dir von meinem Sklaven Said alle Geldarten zeigen, die ich
besitze, und wähle dann die aus, die du als Zahlung mit heimnehmen
möchtest."
Der Schatzsklave Said kam. Er führte Schatr Mohammed in das
Schatzhaus und öffnete eine Kammer nach der andern. In jeder
Kammer lag eine andere Art Geldes hoch aufgeschüttet. Schatr
Mohammed hatte vorher nicht geglaubt, daß es überhaupt soviel
Geld auf der Erde gäbe. Der Sohn des Melik wählte das, was ihm
gut schien. Danach sandte der Melik seine Sklaven an den Fluß,
damit sie die Ladung hinaufbrächten und auf seinen Höfen aufspeicherten.
Es waren zwanzig große Schiffsladungen. Der Melik
hatte aber so viele Sklaven, daß viele noch leer hätten zurückkehren
müssen, wenn ihnen die Aufseher nicht, da sie nun einmal am
Flusse waren, Wasser zum Hinauftragen gegeben hätten. So viele
Sklaven hatte der König. In den Höfen ward das Sabat gewogen
und der Preis ausgerechnet. Aus einer Kammer ward das Gold ausgeschaufelt
und auch abgewogen. Es blieben aber in der Kammer
noch einige Kisten Goldes übrig.
Der Melik besah die aufgespeicherten Waren, er sah nach, ob
Schatr Mohammed genug erhalten habe, und er sah, daß noch einige
Kisten Goldes in der Kammer, aus der nach dem Wunsche des
Königssohnes ausgezahlt war, zurückgeblieben waren. Da lachte
der König und sagte: "Mein lieber Schatr Mohammed, bringe deinem
Vater das Gold, das er für das Sabat verdient hat, unverkürzt. Da
du aber auf der langen Rückreise Ausgaben wirst machen müssen,
so nimm, bitte, diese paar Kisten voll Gold für deine eigene Rechnung
als ein kleines Geschenk von mir mit." Dann ließ Mohammedel-Assad
die große und die kleine goldene Sinia zu dem Fluß kommen
und gab sie Schatr Mohammed mit auf die Reise; die kleinere
sollte er selbst, die größere sollte sein Vater zum Gebrauch nehmen.
Mohammed-el-Assad ließ dann die Boote mit allerhand Speisen und
Brot, das mit Milch statt mit Wasser bereitet war, anfüllen, nahm
von Schatr Mohammed Abschied und ließ ihn abfahren.
Schatr Mohammed kam mit allen seinen Schätzen wohlbehalten
daheim an. Sein Vater ließ sich genau über alles berichten. Er betrachtete
die Sinia; er sah das Gold; er hörte, was sein Sohn alles
erlebt hatte und sagte: "In seinem Reichtum ist dieser Mohammedel-Assad
mir überlegen. Du hast also recht gehabt, wenn du sagtest,
daß ich nicht der reichste Mann sei. Was nun aber sagte dein
Freund über die Macht und die Beständigkeit des Reichtums?"
Schatr Mohammed sagte: "Der König sagte: ,Im Reichtum zu vergleichen,
hat keinen Wert; in der Beständigkeit des Glückes sind
wir aber alle schwach und machtlos." Der Melik sagte: "Das also
war der Ausspruch Mohammed-el-Assads!"
Der König zeigte die Sinia aber allen seinen vornehmen Leuten,
und alle waren erstaunt über die Freigebigkeit und den Reichtum
Mohammed-el-Assads. Der Name Mohammed-el-Assads verbreitete
sich aber soweit und weiter im Lande, und alle Welt wußte, daß
er der größte und mächtigste König war. So sprachen die Leute.
Während aber der Ruhm Mohammed-el-Assads immer mehr um
sich griff, versiegte eines Tages das Glück Mohammed-el-Assads.
Seine Flotte war beladen mit Seide und Edelsteinen in den Strom
gesunken, seine Karawanen waren beladen mit Gold, Kupfer und
Zinn in der Wüste verschwunden. Die Güter, die er in seinem
Palaste hatte, waren plötzlich wertlos. Was vorher für zehntausend
Piaster gewertet wurde, fand nun für zehn Piaster keine Abnahme,
und was früher für kostbar erachtet wurde, galt nun als Schmutz.
Wenn früher Mohammed-el-Assad in seinen trockenen Garten getreten
war, dann waren unter seinen Füßen Blumen erwachsen und
über seinem Kopfe an dürren Ästen Blätter und Früchte. Kam er
jetzt aber in einen üppigen Garten voller Blüten und Früchte, so
fiel bei seiner Annäherung das trockene Obst herab, so erstarb das
Gras am Boden, und Raupen und Ungeziefer kamen an jedem Ort
zutage, dem er sich näherte. Überall um ihn rauschten die abgestorbenen
Zweige im Wind, und der Schatzsklave Said schlief
einen ununterbrochenen Schlaf.
Die Leute Mohammed-el-Assads fluchten aber ihrem Herrn, und
als der Melik dies hörte und als er sah, daß seinem Lande überall,
wo er hinkam, der Tod wurde, und daß er selbst nichts mehr von
allen seinen Schätzen besaß, da schlich er sich eines Tages aus
seinem Palaste und wanderte von dannen und aus seinem Lande.
Mohammed-el-Assad wanderte als Bettler weit, weit fort - so weit,
daß er glaubte, ein Land erreicht zu haben, in dem sein Name und
der Ruf seines einstigen Glückes noch nicht bekannt war. So kam
er in die Stadt, über die Schatr Mohammeds Vater Melik war. In
dieser Stadt trat er in einen Barbierladen und fragte den Inhaber:
"Willst du mich als Gehilfen annehmen? Ich bin vielleicht nicht
ungeschickt, und als Entgelt verlange ich nichts als meine Nahrung."
Der Barbier betrachtete den Mann; er gefiel ihm. Er sagte:
"Es soll mir recht sein. Bleib hier, hilf mir und iß dich satt! Sage
mir aber, wie du heißt." Der Mann sagte: "Ich heiße Mohammedel-Assad!"
Der Barbier sagte: "Was! Mohammed-el-Assad bist
du? Bist du der große und reiche Melik Mohammed-el-Assad?"
Der König erschrak, als er hörte, daß sein Name auch hier bekannt
sei und sagte: "Nicht doch! Ich bin kein Melik." Also blieb Mohammed-el-Assad
im Hause des Barbiers.
Eines Tages kam Schatr Mohammed an dem Barbierladen vorbei.
Er sah Mohammed-el-Assad und stutzte. Er betrachtete den Barbiergehilfen.
Dann trat er ein und sagte zum Barbier: "Du kannst
mich heute hier in deinem Laden barbieren." Der Barbier ging
sogleich an sein Werk. Danach trat der Gehilfe heran, hielt das
Tascht (Waschbecken) und rieb den Schaum aus dem Antlitz des
Königssohns. Schatr Mohammed fragte den Gehilfen: "Wie heißt
du?" Der Gehilfe sagte: "Ich heiße Mohammed-el-Assad." Schatr
Mohammed sagte: "Dann laß mich das Tascht selbst halten. Ich
will nicht von einem Manne dieses Namens bedient sein." Weiter
sagte Schatr Mohammed nichts. Er betrachtete beim Vorübergehen
den Gehilfen noch einmal und eilte dann heim.
Schatr Mohammed ging zu seinem Vater und sagte: "Mein Vater,
ich habe soeben etwas Erschreckendes erlebt! Jener Melik, Mohammed-el-Assad,
hat mich als Barbiergehilfe in dieser Stadt bedient."
Der König sagte: "Bist du dir ganz sicher?" Schatr Mohammed
sagte: "Ich bin mir ganz sicher. Ich habe ihn erst erkannt und dann
auch noch seinen Namen gehört. Es weiß aber sicher niemand, wer
er ist." Der König sagte: "Es ist gut; ich werde es selbst sehen. Ich
werde eine große Asume veranstalten; er soll dabei sein, und wenn
er seine Sinia erkennt, dann bin ich mir sicher!" Der König veranstaltete
ein großes Fest. Er lud alle angesehenen Männer ein, und
dem Barbier ließ er sagen, er solle auch seinen Gehilfen mitbringen.
Abends kamen die Gäste. Der Melik schaute hinab und betrachtete
sie. Als der Barbier aber abstieg, hielt Mohammed-el-Assad
den Esel. Der Barbier ging hinein mit den andern. Als sein Gehilfe
nun unten den Esel hielt, pißte der Esel den Gehilfen an. Der
seufzte und sagte: "Früher warf ich den Leuten Gold nach, und
heute pissen mich die Esel an." Der Melik aber hörte das von oben
und er sah, wie der Gehilfe hinging, sein Kleid auswusch und es
zum Trocknen in die Luft hing. Der Melik schickte ihm ein anderes
Kleid herab und ließ ihn zum Essen heraufrufen. Als der Gehilfe
nun unter den andern saß, wunderten sich die Vornehmen. Der
Melik winkte aber, und die Sklaven kamen mit der großen Sinia
herein. Als Mohammed-el-Assad die große Sinia sah, schrie er auf.
Die andern sahen ihn an. Der König aber tat so, als ob er es nicht
gehört hätte. Der König fragte vielmehr: "Meine Freunde, ehe wir
zu speisen beginnen, soll mir jeder sagen, was er vom Reichtum
und vom Glück erzählen kann." Darauf sagte dann jeder seine
Meinung. Der eine begann: "Der Reichtum ist das größte Glück!"
Der zweite sagte: "Der Reichtum gibt das größte Glück!" Der
dritte sagte: "Der Reichtum ist das Erbteil der Könige und das
Glück die Gabe der Könige." Der vierte sagte: "Der Reiche ist
glücklicher als der Arme, und nur Reichtum gibt beständiges
Glück." So sprach einer nach dem andern. Als aber Mohammedel-Assad
nach seiner Meinung gefragt wurde, sagte er: "Ich verstehe
als armer Mann nichts von all dem, wovon ihr Reichen und
Glücklichen so treffend sprechen könnt." Der Melik sagte: "Nein
doch! Sag' mir deine Meinung. Ich bitte dich, der du mein Gast
ebenso gut bist wie jeder andere." Da sagte Mohammed-el-Assad:
"Im Reichtum zu vergleichen, hat keinen Wert; in der Beständigkeit
des Glückes sind wir alle schwach und machtlos."
Als der Gehilfe des Barbiers das gesagt hatte, nahm der Melik
dem Sklaven die Brig (Wasserkanne) aus der Hand, trat vor den
armen Mann und bediente ihn. Der Barbiergehilfe sagte: "König,
was tust du?" Die Vornehmen sagten alle: "König, was tust du?"
Der Melik sagte aber seinem Sohne: "Schatr Mohammed, sage du
es!" Schatr Mohammed sagte: "Der kleine König bedient den
großen." Der Vater Mohammeds sagte: "So ist es." Und dann
sagte er den Anwesenden, wer dieser Barbiergehilfe sei. Und alle
verehrten Mohammed-el-Assad.
Der Melik wies Mohammed-el-Assad ein schönes Haus an. Er
gab ihm Diener. Er gab ihm seine Tochter zur Frau. Der Melik bot
Mohammed-el-Assad Geld und Soldaten an, um das Seine zurückzugewinnen.
Aber Mohammed-el-Assad sagte: "Ich bin jetzt in der
Zeit des Unglücks. Alles Gold wird jetzt in meinen Händen zu Sand,
wenn ich es mehren will, —jede Seide zu Gras. Wer will gegen das
Unglück kämpfen, um das Glück zu gewinnen? Nur wenn das
Glück freiwillig kommt, lacht es." Mohammed-el-Assad lebte still
und wartete.
Die junge Frau Mohammed-el-Assads ward aber schwanger.
Mohammed-el-Assad sagte: "Nun werde ich sehen, ob ich die Kraft
der Mehrung wiedergewinne. Ich werde sehen, ob das Kind tot oder
lebend zur Welt kommt." Mohammed-el-Assad lebte still und wartete.
Es kam aber der Tag, da die junge Frau Mohammed-el-Assads
gebären sollte. Die junge Frau lachte aber in Schmerzen
und sagte: "Heute werde ich meinem Gatten das Glück schenken."
Als die Stunde der Geburt kam, erschien ein kleiner Knabe. Der
lebte und lachte bei der Geburt.
Als die Geburt erfolgt war, ertönten Signale durch die Stadt; die
Karawanen und Soldaten Mohammed-el-Assads waren, reich mit
Gold beladen, aus den fernen Wüsten zurückgekommen und suchten
ihren König. Als die Geburt erfolgt war, sah man mächtige Segel
auf dem Flusse auftauchen; die Flotte Mohammed-el-Assads war
reich beladen mit Edelsteinen und Seide aus den Wellen wieder aufgetaucht
und hatte sich aufgemacht, ihren König zu suchen.
Als die Geburt erfolgt war, dehnte sich im alten Schlosse Said
der Schatzsklave, und er klapperte mit den Schlüsseln und rief nach
den Bedienten. Die Sklaven kamen unter den vorher trockenen
Ästen, die jetzt Blumen und Blätter trugen, hervor, und die Leute
der Stadt sehnten sich nach ihrem König. Und alles Land sproßte
und trug Knospen, und es entstand ein langer, duftiger Laubengang
überall da, wo Mohammed-el-Assad mit Weib und Kind auf
dem Heimweg hinkam. Schatr Mohammed begleitete seinen Freund
weit hin, und als er wieder zurückkam, zog er ein einfaches Kleid
an und begann in einem einfachen Hause zu leben, über dessen Eingang
er die Worte anbringen ließ: "Im Reichtum zu vergleichen,
hat keinen Wert; in der Beständigkeit des Glückes sind wir aber
alle schwach und machtlos."
4. Die Gattenwahl des Königs
Ein Melik war unverheiratet. Er rief eines Tages seinen Wasir
(Wesir) und sagte: "Ich bin das Leben eines unverheirateten
Mannes satt. Geh hin und suche mir eine Frau unter den Töchtern
meiner eigenen Stadt. Suche sie, in welchem Stadtwinkel du willst.
Sie soll sehr schön und nicht älter und nicht jünger sein als elf
Jahre." Der Wasir ging nach Hause und suchte seine eigene Frau
auf. Der Wasir erzählte seiner Frau, was der Melik über seine zukünftige
Gattin gesprochen hatte und sagte: "Nun, meine Gattin,
gehe hin und sieh dich unter den Töchtern der Stadt um, denn das,
was eine Frau in solchen Dingen erfahren und sehen kann, übertrifft
das Vermögen des Mannes."
Die Frau des Wasir machte sich also auf den Weg und erkundigte
sich in allen Teilen der Stadt nach einem Mädchen, das den Ansprüchen
des Königs entsprechen könne. Zuletzt fand sie drei sehr
hübsche Mädchen heraus. Die erste war die Tochter eines Schneiders,
die zweite die Tochter eines Zinnarbeiters, die dritte die Tochter
eines Silberschmieds. Sie ging also heim und berichtete das
ihrem Gatten. Ihr Gatte, der Wasir, ging aber zum Melik und sagte
ihm alles, was seine Frau in Erfahrung gebracht hatte.
Der Melik sagte hierauf: "Laß erst einmal die Tochter des
Schneidermeisters kommen, daß ich sie sehe." Der Wasir ging also
zum Schneidermeister und sagte: "Der Melik will sich unter den
Töchtern seiner Stadt eine Frau aussuchen. Er hat Gutes von deiner
Tochter gehört. Schicke also deine Tochter zum König, daß er sie
sehe." Der Schneidermeister erschrak und sagte: "O weh! Was
wird das werden! Meine Tochter ist ein wenig verrückt (maiginun).
Sie könnte, wenn sie vor den König gebracht wird, sich unschicklich
benehmen und ihre Kleider zerreißen." Der Wasir ging zurück und
sagte zum Melik, was er vom Schneider gehört habe, und der König
sagte: "Gut, dann laß mir die Tochter des Zinnarbeiters kommen,
daß ich sie sehe!"
Der Wasir ging also zum Zinnarbeiter und sagte: "Der Melik
will sich unter den Töchtern der Stadt eine Frau aussuchen. Er hat
Gutes von Deiner Tochter gehört. Schicke also Deine Tochter zum
König, daß er sie sehe!" Nun hatte der Zinnarbeiter aber gehört,
was vorher bei dem Schneidermeister vorgekommen war, und er
sagte sich: "Wenn der Schneidermeister seine Tochter nicht hat hinsenden
wollen, so hat er dafür seine Gründe. Ich werde es vorsichtshalber
ebenso machen." Der Zinnarbeiter sagte also zum Wasir:
"O wie schrecklich ist das! Denke dir, meine Tochter ist ja sehr
schön; sie kann aber keinen Basbus (Mund, Hals einer Wasserkanne)
sehen! Sobald sie das sieht, muß sie sterben!" Der Wasir
ging also zurück zum Melik und berichtete ihm alles, was der Zinnarbeiter
gesagt hatte. Der König sagte hierauf: "Gut, dann laß mir
die Tochter des Silberschmieds kommen, daß ich sie sehe!"
Der Wasir machte sich also abermals auf den Weg, ging zu dem
Silberschmied und sagte: "Der Melik will sich unter den Töchtern
der Stadt eine Frau aussuchen. Er hat Gutes von deiner Tochter
gehört. Schicke also deine Tochter zum König, daß er sie sehe."
Inzwischen hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der König überall
eine Frau suche, und daß mehrere Leute ihre Töchter schon abgeschlagen
hätten, weil die Sache irgendwie nicht ganz in Ordnung
war. Als der Silberschmied den Wasir angehört hatte, sagte er bei
sich: "Also ist es doch wahr, daß eine Mädchenfängerei hier um
sich greift. Es ist gut, daß ich das beizeiten gehört habe und meine
Tochter so vor einem schrecklichen Unheil bewahren kann." Laut
sagte der Silberschmied aber zum Wasir: "Nun sieh doch, welches
glückliche Leben könnte meiner Tochter winken! Wie herrlich
könnte sie nun bald erhaben sein über ihre Freundinnen! Wie
schrecklich, daß es nicht möglich ist! Wie traurig, daß sie dem
Glücke entsagen muß! Denn höre: meine Tochter kann keinen
Silberring sehen oder tragen. An dem Tage, da sie einen silbernen
Fußring sehen oder tragen würde, müßte sie sterben!" Der Wasir
merkte sich die Antwort, begab sich auf den Rückweg und erzählte
alles dem König.
Als der Melik hörte, was der Silberschmied gesagt hatte, sprach
er: "Was tue ich nun? Es ist doch sehr auffallend, daß die Töchter
des Schneiders, des Zinnarbeiters und des Silberschmieds alle
gleiche Veranlagung haben." Der Wasir dachte nach und sagte
dann: "Laß dir doch Weiberkleider machen, gehe mit meiner Frau
bei den Leuten als Frau herum und höre nach der Sache." Der
Melik war damit einverstanden, ließ den Wasir drei Stück Stoff
kaufen und durch dessen Frau bei dem Schneider drei gleiche Kleider
anfertigen. Die Frau des Wasir bestellte die Kleider aber für
ihre Schwester.
Sobald die Kleider fertig waren, zog der Melik das erste an und
ging mit der Frau des Wasir als Frau verkleidet fort. Zuerst gingen
die beiden Frauen zu der Frau des Silberschmieds. Die Frau des
Silberschmieds begrüßte die Frau des Wasir und sagte: "Wen hast
du denn heute bei dir?" Die Frau des Wasir sagte: "Das ist meine
Schwester. Meine Schwester möchte auch gern das Mädchen sehen,
das der Melik durchaus heiraten will." Die Frau des Silberschmieds
sagte: "Gewiß, ich werde das Mädchen rufen lassen!"
Nach einer Weile kam das Mädchen, und der Melik, der als Frau
verkleidet war, sah sogleich, daß das Mädchen sehr schöne Silberringe
an den Füßen hatte. Er sagte: "Liebe Frau, diese Ringe hat
gewiß dein Mann für deine Tochter gemacht." Die Frau sagte: "So
ist es!" Der Melik sagte: "Würde ich nicht einen solchen Ring mitnehmen,
ihn meiner eigenen kleinen Tochter zeigen, und wenn er
ihr gefällt, ganz gleiche bei Deinem Manne bestellen können ?" Die
Frau des Silberschmieds sagte: "Ganz gewiß!" Darauf zog der als
Frau verkleidete Sultan dem Mädchen selbst den Silberfußring ab
und nahm ihn, als er mit der Frau des Wasir wegging, mit sich.
In der nächsten Nacht verkleidete der Melik sich wieder als Frau
und ging mit der Frau des Wasir zusammen zu der Frau des Zinnarbeiters.
Die Frauen begrüßten sich erst, dann fragte die Frau des
Zinnarbeiters: "Wen bringst du denn heute mit dir?" Die Frau des
Wasir sagte: "Das ist meine Schwester, die so gern das Mädchen
sehen möchte, das der Melik zur Gattin begehrt." Die Frau des
Zinnarbeiters sagte: "Gewiß kann deine Schwester meine Tochter
sehen." So wurde das Mädchen denn gerufen. Als es kam, sagte
der als Frau verkleidete Sultan, er wünsche sich die Hände zu
waschen, ob das Mädchen nicht eine Brig (Wasserkanne) bringen
könne. Das Mädchen brachte darauf die Brig und bediente die Frau,
die in Wirklichkeit der Melik selbst war. Darauf bewunderte die
Frau die schöne Brig, bat sie sich als Geschenk aus, versprach eine
Gegengabe und ging dann mit der Eng von dannen.
In der dritten Nacht verkleidete der Melik sich abermals als Frau
und ging mit der Frau des Wasir als deren Schwester zur Frau des
Schneiders. Die Frauen begrüßten sich, und die Frau des Wasir
sagte: "Dies hier ist meine Schwester, der dein Mann letzthin die
drei Kleider gemacht hat." Darauf sagte die Frau des Schneiders:
"Es war schöner Stoff. Von den abfallenden Lappen hat meine
Tochter sich für ihre Puppe ein Kleidchen gemacht. Ihr wißt doch,
daß meine Tochter ein wenig verrückt ist. So spielt sie denn immer
mit Puppen und macht aus allem Kleider für ihre Puppen." Der
als Frau verkleidete Melik sagte: "Jaja, ich habe von deiner Tochter
gehört. Kann ich sie und ihre Puppen denn nicht einmal sehen?"
Die Frau des Schneiders sagte: "Gewiß kannst du sie sehen. Jedermann
kann sie sehen. Wir fürchteten sie nur zum Melik zu schicken,
weil sie sich bisweilen eben verrückt und respektlos benimmt." Die
Frau des Schneiders rief darauf ihre Tochter, und der Melik plauderte
mit ihr und ließ sich ihre Puppen zeigen. Zuletzt bat sie der
als Frau verkleidete Melik, ihm doch eines der Puppenkleidchen zu
geben, da er ihr dafür ein anderes schicken wolle. Die Tochter des
Schneiders sagte: "Ich will dir gern das geben, was ich aus den Restlappen
deines eigenen Kleides gefertigt habe. Du mußt mir aber ein
anderes schicken." Der als Frau verkleidete Melik versprach das,
erhielt das Kleid und ging damit von dannen.
Am andern Tag sandte der Melik seine Polizisten zu dem Silberschmied,
dem Zinnarbeiter und dem Schneider und ließ sie alle drei
mit ihren Töchtern in seinen Palast bringen. Zuerst wurde der
Silberschmied mit seiner Tochter vorgeführt. Der Sultan fragte ihn,
ob der Fußring, den er in seiner Verkleidung als Frau erhalten habe,
von ihm stamme. Der Silberschmied und seine Tochter besahen den
Ring und bejahten es. Der Melik sagte darauf: "Weshalb hast du
denn dem Wasir gesagt, deine Tochter müsse sterben, wenn sie
Silberschmuck sehe oder gar trage?" Der Silberschmied sagte: "O
Herr! Ich bin ein armer Mann. Ich meine, es gehöre sich nicht, daß
meine Tochter eine so hohe Stelle bekleide." Der Melik ließ darauf
den Silberschmied und seine Tochter zurücktreten.
Dann wurde der Zinnarbeiter und seine Tochter gerufen. Der Melik
zeigte ihnen die Brig, die ihm von der Tochter geschenkt wurde, als
er in der vorletzten Nacht als Frau verkleidet in seinem Hause gewesen
war und fragte ihn, ob die Brig von ihm komme. Der Zinnarbeiter
bejahte das. Da fragte der Melik, wie er dazu komme, zu
behaupten, seine Tochter müsse sterben, wenn sie den Hals einer
Brig sehe?" Darauf sagte der Zinnarbeiter: "Herr, ich will ehrlich
sagen, daß ich als einfacher Mann mich fürchtete, meine Tochter
in einer Stellung zu sehen, zu der sie ihrer einfachen Herkunft nach
nicht geeignet wäre." Der Melik ließ den Zinnarbeiter und seine
Tochter wegbringen.
Endlich wurde der Schneider und seine Tochter hineingerufen.
Der Melik nahm das Puppenkleid und sagte: "Du, Schneidermeister,
hattest mir gesagt, deine Tochter tauge nicht als meine Gattin, da
sie etwas verrückt sei. Ich war nun gestern als Frau verkleidet in
deinem Hause, und da hat mir deine Tochter dieses Kleidchen geschenkt."
Der Melik wollte weitersprechen. Die Tochter des
Schneiders unterbrach ihn aber und sagte: "So, du warst das also?
Also du, der Melik, hat sich als Frau verkleidet, um dir etwas von
mir schenken zu lassen? Nun, dann gib mir nur schnell die versprochenen
Geschenke oder aber gib mir mein Puppenkleid wieder."
Darauf lachte der Melik: "Geh, Schneider! Du hast recht! Deine
Tochter ist wirklich etwas voreilig. Geh nur! Deine Tochter soll
ihre Geschenke haben."
Darauf ließ der Melik die Fakire über seine Ehe befragen. Die
Asarleute antworteten aber: "Die, welche gelogen und einen
schlechten Leumund über die Absicht des Melik verbreitet haben,
verdienen Strafe. Das törichte Mädchen ist aber eine gute Gattin
für den Melik." Der Melik verfuhr nach dem Ausspruch der Asarleute.
Er ließ den Zinnarbeiter und den Silberschmied bestrafen
und heiratete die Tochter des Schneiders. Sie wurde ihm eine
ausgezeichnete Frau und gebar ihm treffliche Söhne und Töchter.
5. Die zersprengte Familie
Ein Vater hatte einen Sohn, den verheiratete er, und der Sohn E hatte bald selbst zwei kleine Kinder. Eines Tages rief der alte
Vater seinen Sohn zu sich und sagte zu ihm: "Ich bin alt und werde
binnen kurzem sterben. Wenn nun nach meinem Tode irgend
jemand zu dir kommt und sagt: ,Dies und das war mir dein verstorbener
Vater schuldig', so gib es ihm, denn es sollen keine
Schulden hinterher stehen bleiben, und es wird das zu deinem und
deiner Familie Besten ausfallen." Der Sohn versprach es, und
kurze Zeit darauf starb der Vater.
Bald nachdem der Vater gestorben und begraben war, kamen
Leute und sagten: "Dies und das war mir dein verstorbener Vater
schuldig." Dem Wunsche seines Vaters gemäß zahlte er ihnen die
genannten Summen, und die Leute gingen und erzählten anderen,
wie leicht es sei, von dem jungen Manne Geld zu erhalten. Das
Gerücht verbreitete sich, und bald kamen mehr und immer mehr
Leute und sagten: "Dies und das war mir dein verstorbener Vater
schuldig!" Der Sohn zahlte alle aus, und so sah er sein Vermögen,
so bedeutend es anfangs auch gewesen war, schnell und immer
schneller hinschwinden, so daß ohne Schwierigkeit ein baldiges
Ende abzusehen war.
Da sagte er denn eines Tages zu seiner Frau: "Meine Frau, ich
fürchte, daß wenn ich noch länger hier bleibe, bald der ganze Rest
meines Besitztums aufgebraucht sein wird, und somit wollen wir
so bald als möglich unsere Sachen packen und von dannen ziehen
in ein anderes Land." Die Frau war damit sehr einverstanden, und
nachdem alles zusammengepackt war, bestieg der junge Mann mit
seiner Frau und seinen Kindern ein Boot und fuhr mit ihnen auf
dem Strom von dannen.
Als sie nun eine längere Zeit gefahren und mitten auf dem Wasser
waren, kam ein Sturm und warf das Boot gegen die Felsen, so daß
es zerbrach. Das Boot zerschellte sofort, und jeder suchte einige
Bretter zu erreichen, an denen er sich festhielt, um sich damit zu
retten. Der Mann trieb sehr weit fort. Er konnte von seiner Frau
und seinen Kindern nichts sehen, konnte ihnen also nicht helfen
und mußte froh sein, als die Bretter, an denen er sich festklammerte,
zuletzt gegen eine große Insel getragen wurden. Der Mann ging
auf die Insel und suchte sich einige wilde Früchte, um seinen Hunger
zu stillen.
Der Mann irrte tagelang auf der Insel umher und sah zuletzt,
daß sie unbewohnt war. Am vierten Tage nahm er wahr, daß ein
großer Vogel von einem Platze immer auf und nieder flog, und als
er, dadurch neugierig gemacht, dorthin ging, fand er einen ummauerten
Platz, der in eine Grube führte. Er stieg zu ihr hinab
und befand sich plötzlich zwischen großen Haufen von Gold und
Silber. Der Mann steckte von dem Golde genug zu sich. Dann ging
er an das Ufer und wartete. Und als er wiederum vier Tage ausgeschaut
hatte, kam in der Ferne eine Segelbarke vorüber, deren
Rais sein Winken und Rufen bemerkte, das Boot näher herbeiführte
und ihn dann auf sein Bitten mitnahm.
Der Mann sagte nichts von dem Schatz, den er entdeckt hatte;
er ersuchte den Rais nur, ihn bis zu dem nächsten Ort zu führen,
an dem ein Melik Hof halte, und versprach ihn dort zu bezahlen.
Als der Rais das tat und ihn glücklich in einer großen Stadt ans
Land setzte, zahlte er ihm einen guten Lohn und suchte den Palast
des Melik auf. Der Melik empfing ihn, und der junge Mann sagte
ihm, daß er der Sohn eines verjagten Königs sei; er bat den Melik
um einige Schiffe und Leute; er reichte ihm das mitgenommene
Gold und versprach ihm, alljährlich davon viel zu schicken, wenn
er ihm mit den Schiffen und Leuten die Möglichkeit gäbe, eine Insel
neu zu besiedeln, die seiner Familie in alter Zeit gehört habe. Der
Melik war damit beim Anblick des Goldes sehr einverstanden und
rüstete ihn aus mit allem, was er brauchte.
Der Mann fuhr also als Herr mehrerer tüchtiger Schiffe und einer
Anzahl brauchbarer Leute zu der Insel zurück. Er baute erst um
den Teil der Insel, in dem die verdeckte Schatzgrube war, eine hohe
Mauer und fing dann an, eine neue Stadt zu errichten. Er bezahlte
alle Leute reichlich. Er sandte die Boote nach allen Seiten aus, um
Waren und Händler zu bringen, und gründete so einen schönen
Marktplatz, zu dem allerhand Leute von fern und nah kamen, teils
um sich anzusiedeln, teils um Handel zu treiben. Der Ruhm des
Reichtums, der Gerechtigkeit und der Weisheit verbreitete sich von
Monat zu Monat, und da der Mann jedes Jahr seine Abgaben an
den König, der ihm die ersten Schiffe und Leute gegeben hatte, entrichtete,
so lebte die junge Stadt im glücklichsten Frieden. Der
Mann pflegte aber jedesmal, wenn ein Boot ankam, selbst an den
Strand zu gehen, nach den Leuten zu sehen und nach Neuigkeiten
zu fragen.
Die Frau des Mannes war nicht untergegangen. Ein Koch, der
mit einer Barke weit oberhalb über den Strom gesetzt war, hatte sie
aufgefischt und zu sich ins Haus genommen, und sie half ihm nun
in seinem Geschäft. Die beiden Knaben waren aber von zwei Kaufleuten
aufgefischt worden, die sie mit in ihre Geschäfte nahmen,
und jeden nach seiner Art erzogen und bei der Arbeit gebrauchten.
So war aber jeder von den vieren in eine andere Stadt gekommen,
und keiner wußte, ob der andere noch lebe oder ob er im Sturm
untergegangen sei. So lang und weit der Stromlauf aber auch war,
so viele Städte und Menschen auch an seinen Ufern lagen und
wohnten, so drang doch der Ruf der neuen Stadt auf der Insel überall
hin, und überall wünschten die Dienenden und Abhängigen die
Freiheit zu erhalten, sich an dem aufwachsenden Gemeindeleben
zu beteiligen und dadurch selbständig zu werden, daß sie für die,
von denen sie abhingen, auf der Insel Niederlagen oder eigene Geschäfte
einrichteten.
So sagte denn die Frau des Mannes zu dem Koch, der sie gerettet
hatte: "Laß mich zu der Insel fahren und sehen, ob ich da nicht
ein Geschäft für dich gründen kann. Dann kann das Geschäft Abgaben
abwerfen, die ich dir alljährlich zahle." Dem Koch war das
verständlich und er sagte: "Gewiß bin ich damit einverstanden.
Wenn wieder ein Schiff vorbeikommt, das zu der Insel fährt, werde
ich dich mit allem Geschirr ausrüsten und werde dich dorthin
senden. Wenn sich das Geschäft dort wirklich lohnt, und zwar
besser lohnt als das hiesige, in dem du mir geholfen hast, so laß
es mich wissen, daß ich auch komme und mit dir die Einnahmen
teile."
Der älteste Sohn des Mannes kam aber zu seinem Kaufherrn und
sagte: "Herr, es ist jetzt hier am Ort eine stille Zeit. So gib mir
denn einige Stoffe und Zucker, daß ich zu der neuen Stadt auf der
Insel fahre und dir deine Waren mit größerem Vorteil zu verkaufen
suche." Der Kaufherr überlegte sich die Sache und sagte endlich:
"Wenn wieder ein Schiff hier vorüberkommt, das zu der Insel fährt,
werde ich dich ausrüsten und hinübersenden."
Der jüngste Sohn des Mannes kam aber zu seinem Kaufherrn
und sagte: "Ich bin zwar noch klein, aber ich meine doch schon
klug genug zu sein, um für dich auf jener Insel nach den Aussichten,
die ein Kaufmann dort hat, Ausschau zu halten und dir
dann zu berichten, ob es sich lohnen würde, ein neues Geschäft, das
noch mehr als dieses hier abwirft, zu beginnen." Der Kaufherr
sagte: "Dieser Gedanke, mein Junge, ist nicht schlecht. Ich will
dich aber nicht allein schicken, sondern ich will, wenn wieder ein
Boot nach dorthin abgeht, mit dir zusammen nach der neuen Stadt
fahren."
Es dauerte auch nicht lange, so ging wieder ein Segelboot nach
der Insel mit der neuen Stadt ab. Der Kaufherr mit dem Jüngsten
des Mannes ging mit einigen Waren an Bord und fuhr ab. Nachdem
sie eine Zeitlang gefahren waren, hielten sie an einer Stadt.
Der Kaufherr des älteren Sohnes brachte diesen mit den Waren an
Bord und nahm unter herzlichen Segenswünschen Abschied. Und
als das Boot wieder einige Tage weit gefahren war, wurde von dem
Ufer aus gewinkt, und da der Rais noch ein wenig Platz hatte, legte
er an. Der Koch kam und brachte seine Gehilfin, die die Frau des
Mannes und die Mutter der Knaben war, mitsamt dem nötigen
Geschirr an Bord.
Nachdem die Barke wieder einige Tage gefahren war, so daß sie
sich nun schon nahe der Insel mit der neuen Stadt befand, trat
Windstille ein, so daß das Schiff liegen blieb und sich nicht bewegte.
Da begannen die beiden Knaben ihre Lebensgeschichte zu erzählen.
Der ältere sagte: "Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr.
Sie sind im Strom ertrunken, als wir in ein anderes Land fuhren."
Der kleinere Knabe sagte: "Ich habe auch keinen Vater und keine
Mutter mehr; sie sind auch im Strom ertrunken, als wir in ein
anderes Land fahren wollten." Der ältere sagte: "Ich hatte einen
jüngeren Bruder bei mir, der ertrank auch." Der jüngere sagte:
"Ich hatte einen älteren Bruder bei mir, der ertrank auch."
Die Frau, die der Koch in die Barke gebracht hatte, saß im Unterraum.
Sie hörte, was die Knaben sagten. Die Frau sagte: "Jetzt
steht mein Herz still." Die Frau erhob sich und betrachtete die
Burschen. Die Frau faßte die Burschen bei den Händen. Sie fragte
den älteren: "Wie hieß dein Vater ?" Der ältere sagte: "Mein Vater
hieß Achmet." Der Jüngere sagte: "So hieß mein Vater auch."
Die Frau fragte den Jüngeren: "Wie hieß deine Mutter?" Der
Jüngere sagte: "Meine Mutter hieß Fatma." Da schrie die Mutter
auf. Sie weinte und sagte: "Ich bin eure Mutter Fatma!"
Der Rais und die andern Leute sahen aber, wie die drei einander
umschlangen.
Das Boot kam an. Der Herr der neuen Stadt kam selbst ans
Boot, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Die Leute des Schiffes
begrüßten ihn. Fatma und ihre beiden Kinder saßen aber unbekümmert
und umschlungen auf dem Deck und kamen nicht herab.
Der Herr der neuen Stadt fragte den Rais: "Und was ist es denn
mit denen da?" Der Rais sagte: "Das ist eine Mutter mit ihren
zwei Knaben, die haben sich heute wiedergefunden. Die sind einmal
verschlagen und auseinandergebracht worden, als sie mit dem
Vater der Familie auf der Fahrt in ein anderes Land waren." Der
Herr der neuen Stadt fragte: "Wie heißt die Frau ?" Der Rais sagte:
"Sie heißt Fatma; ihr ertrunkener Mann hieß Achmed." Darauf
gab der Herr der neuen Stadt den Auftrag, Fatma und ihre Söhne
in sein Haus zu bringen.
Er selbst sah erst, daß die andern gut unterkamen. Dann eilte er
nach Hause und ging dahin, wo Fatma und die Knaben zusammensaßen.
Der Mann betrachtete sie, bis ihm die Tränen in die Augen
traten. Dann sagte er: "Und ich bin Achmed, euer Gatte und
Vater!"
6. Die Sprache der Tiere
Es war ein Mann, der war sehr reich; aber er hatte nur einen
einzigen Sohn, und als er nun sehr alt war, wollte er dem den
besten Rat für sein Leben geben, den er ihm hinterlassen konnte.
Der reiche Mann rief also seinen Sohn und sagte zu ihm: "Mein
Sohn, ich bin alt und werde bald sterben müssen. Ich hinterlasse
dir zwar viel Geld und Gut, ich will dir aber zu guter Letzt noch
einen Rat geben, der besser ist als mein Besitztum, und dessen Befolgung
dir mehr nützen kann als alles andere, was aus meinen
Händen in die deinen übergehen kann. Höre also: Bereite jeden
Freitag einen großen Fatir (Kuchen) aus Milch und Butter. Sorge,
daß dieser Fatir mit aller Sorgfalt bereitet werde und wirf ihn in
den Nil! Willst du das tun?" Der Sohn versprach, seinem Vater
zu folgen, und wenige Monate vergingen, da starb dieser.
Der gehorsame Sohn begann sogleich nach dem Begräbnis seines
Vaters an die Ausführung des eingegangenen Versprechens zu
gehen. Er buk, sowie der erste Freitag kam, einen großen Fatir
mit Milch und Butter und warf ihn in den Nil. Das führte er nun
jeden Freitag aus. Sein Vater hinterließ ihm ein so bedeutendes
Besitztum, daß er den Fatir für eine unbedeutende Ausgabe ansah,
die ihn nicht hinderte, eine andere für die wohlanständigen Jugendfreuden
zu verwenden, wozu er als ordentlicher Mann vor allem die
Ehe rechnete. Er heiratete also. Aber auch in der Ehe unterließ
er es nie, an jedem Freitag den mit Milch und Butter bereiteten
Fatir in den Nil zu werfen.
Nach einiger Zeit merkte der junge Mann aber, daß, wenn er sich
auch sonst keinerlei Ausschweifungen hingab, sich dennoch sein
Besitztum schnell verringerte, und daß der allwöchentliche Fatir
stark an seinem Vermögen zehre. Ja, dieser Fatir nahm sein Vermögen
so bedenklich in Anspruch, daß es nicht nur sichtlich
schwand, sondern auch eines Tages zur Neige ging. Dann dauerte
es nicht mehr lange, und der junge Mann hatte nichts mehr. Sein
ganzes vom Vater ererbtes Vermögen lag im Nil.
Als es soweit gekommen war, kam der Freitag, an dem vom Vermögen
des Vaters nicht mehr genug vorhanden war, noch einen
Fatir zu backen, und der junge Mann, dem diese Beschenkung des
Nils ein gewisses Bedürfnis geworden war, ging traurig am Nil auf
und ab und sagte: "Es ist wieder Freitag. Aber es ist der erste
Freitag seit dem Tode meines Vaters, an dem ich keinen Fatir mehr
in den Nil werfen, also das meinem Vater gegebene Versprechen
nicht erfüllen kann. Ich bin nun so arm, daß ich keinen Fatir mehr
backen kann, ja, daß ich nicht einmal weiß, wovon ich selbst leben
soll. Was tue ich nun?"
Der junge Mann stand im Schatten eines Baumes. Er hungerte
und blickte in den Nil, in den er sein ganzes Vermögen geworfen
hatte. Da kam ein Mann vom Nil her. Das war ein Aldjann; der
kam auf den jungen Mann zu und sagte: "Warum stehst du hier
so hungrig?" Der junge Mann sagte: "Früher hatte ich noch ein
Vermögen, aber als mein Vater starb, sagte er mir, ich solle jeden
Freitag einen Fatir, der mit Milch und Butter gebacken sei, in den
Nil werfen. Ich tat es, und damit verbrauchte ich alles, was ich
hatte. Heute nun ist der erste Freitag, an dem ich den Fatir nicht
in den Nil werfen kann. Das macht mich traurig."
Der Aldjann sagte: "Mein Freund, den Fatir, den du jeden Freitag
in den Nil geworfen hast, habe ich dort unten gegessen. Mein
Vater wohnt nämlich dort unten im Nil unter dem Wasser. Dort
ist er ein allmächtiger Aldjann, und da er über mich erzürnt war,
hatte er mich eine Zeitlang gefangen gesetzt. Jetzt haben wir uns
aber wieder ausgesöhnt, und das erste, was ich tun konnte, als ich
dich so traurig hier am Ufer stehen sah, war, daß ich heraufkam,
um mit dir zu sprechen und für das, was du mir in meiner schweren
Zeit getan hast, zu danken. Komm nun aber mit mir zu meinem
Vater in den Nil. Mein Vater wird dich sehr herzlich aufnehmen."
Der junge Mann erschrak und sagte: "Ich bitte dich! Wie soll
ich, ein Mensch, denn in den Nil, unter das Wasser gehen?" Der
Mann sagte: "Das ist sehr einfach! Komm nur mit mir an das
Wasser. Am Wasser schließe fest die Augen, und dann laß mich
das übrige tun. Habe nur keine Angst! Du wirst sehen, das ganze
ist sehr einfach, und der Weg unter das Wasser wird sehr gut vonstatten
gehen. Wenn du die Augen geschlossen hast, packe ich
dich und bringe dich mit einem Ruck an den Platz." Der junge
Mann sagte: "Es ist gut! Ich bin damit einverstanden. Bringe mich
zu deinem Vater!"
Danach ging der junge Mann mit dem Aldjann herab zum Nil.
Er schloß die Augen. Er fühlte einen starken Ruck, und als er die
Augen wieder öffnete, fand er sich im Nil unter dem Wasser. Unter
dem Wasser ging er dann mit seinem Aldjannfreunde hin, bis der
mit ihm seinen Vater erreichte. Der Aldjann sagte zu seinem Vater:
"Sieh, mein Vater, das ist der gute Bursche, der mich so lange Zeit
jeden Freitag mit einem prächtigen Fatir beköstigt hat." Der alte
Aldjann sagte: "So, du bist also der ausgezeichnete Bursche! Nun,
dann darfst du dir etwas wünschen. Ich verspreche dir, daß ich es
erfüllen will. Sprich aus, was du wünschst!"
Der junge Mann dachte nur eine kurze Weile nach und sagte
dann: "Wenn du so gütig sein willst, mir einen Wunsch zu erfüllen,
so bitte ich, mich die Sprache aller Tiere und Vögel verstehen zu
lassen. Dies wünsche ich mir und sonst nichts." Der alte Aldjann
lachte und sagte: "Das ist sehr einfach. Öffne nur deinen Mund!"
Der junge Mann öffnete folgsam seinen Mund, der Alte schrieb
einige Worte auf einen Zettel, warf ihn in einen Becher, in den er
noch Wasser tat, und sagte: "Dies, mein Bursche, trinke. Danach
ist dein Wunsch erfüllt!" Der junge Mann nahm den Becher und
trank ihn aus. Der alte Aldjann sagte: "Nur, mein Bursche, hüte
dich, je einem Menschen zu sagen, daß du die Sprache der Tiere
und Vögel verstehst. In dem Augenblick, wo du das tust, wirst
du sterben." Der junge Mann sagte: "Ich werde immer daran
denken."
Der alte Aldjann sagte: "Nun, mein Bursche, schließe die Augen,
damit du heimkehrst und von der Erfüllung deines Wunsches
Nutzen ziehst." Der junge Mann schloß die Augen. Er verspürte
wieder einen Ruck und befand sich einen Augenblick später weit
oben. Er öffnete die Augen und sah, daß er sich wieder am Ufer
des Nils befand.
Der junge Mann (in der Erzählung einfach Schatr, d. h. der
Kluge, genannt) ging am Ufer des Nils hin. Er kam an einem Baum
vorbei, auf dem zwei Vögel saßen, die miteinander zwitscherten.
Schatr sagte: "Nun kann ich gleich einmal meine neu erworbene
Kenntnis prüfen." Damit horchte er denn zu den Vögeln hin. Der
eine Vogel sagte: "Wenn irgend jemand einen Widder an dem Platz
dort schlachtet, wird er viel Geld und andere Schätze finden." Der
andere Vogel sagte: "Du hast recht, dort ist ein Rasad!" Schatr
sagte: "Das nimmt sich gut an. Jetzt ist nur noch die Frage, ob
die Tiere untereinander die Wahrheit sagen oder sich etwas vorlügen,
wie es oft die Menschen tun." Schatr ging zu einem Freund
und lieh sich einen Widder. Er brachte ihn an den Platz, von dem
die Vögel gesprochen hatten, und schlachtete ihn. Kaum hatte er
ihn geschlachtet, so öffnete sich der Boden und ein Rasad (kordofan-arabisch
Kanno; das ist ein Platz, an dem sich unterirdische
Schätze befinden und der sich beim Opfern eines Widders öffnet)
lag vor ihm. Schatr stieg hinab und fand darin große Schätze, Gold
und allerhand Edelsteine.
Schatr füllte sich zunächst die Taschen. Dann ging er wieder in
die Stadt und kaufte sich einen Sklaven und zwei Esel, einen
schwarzen und einen weißen. Er legte einige Säcke darauf und
trabte mit ihnen zum Eingang des Rasad zurück. Am Eingang des
Rasad begann er die Schätze in zwei Säcke zu füllen. Während er
aber noch dabei beschäftigt war, buben beide Esel an zu schreien.
Der schwarze Esel schrie zuerst, nach ihm der weiße. Schatr
horchte auf. Der schwarze Esel schrie: "Unser neuer Herr lädt da
schöne Schätze auf, wenn wir aber nachher auf dem Heimweg an
der Polizeiwache vorbeikommen, werde ich mich gerade hinwerfen.
Der Sack, den ich tragen muß, wird zerreißen und alles Gold und alle
Edelsteine werden herausrollen. Die Polizisten werden dann unsern
neuen Herrn gefangen nehmen und fragen: ,Wo hast du all die
Edelsteine und das Gold her?' Sie werden ihm alles wegnehmen,
und ich kann ohne Last weiterlaufen." Der weiße Esel sagte:
"Ich werde es nicht so machen, denn unser neuer Herr hat noch
nicht schlecht an uns gehandelt." Schatr sagte: "Dir, mein
schwarzer Freund, will ich helfen!" Darauf lud er die Säcke dem
weißen Esel auf, in denen das Gold und die Edelsteine waren. Für
den schwarzen füllte er einige Säcke mit ganz schweren Straßensteinen.
Dann trieb er die beiden Esel vor sich her nach Hause. Als die
Esel bei der Mackas (Mackas in Kordofan Polizei) vorbeikamen,
warf sich der schwarze Esel hin, wie er es vorher gesagt hatte. Die
Säcke, die er trug, platzten auch, und einige Feldsteine rollten über
den Boden hin von dannen. Da es aber Feldsteine waren, so kümmerte
sich die Polizei nicht weiter darum und nahm davon keine
Notiz. Schatr aber nahm seine Peitsche und schenkte dem Schwarzen
eine gründliche Tracht Prügel. Dann belud er den schwarzen
Esel wieder und trieb ihn mit seinem weißen Kameraden nach
Hause. Der weiße Esel begann aber wieder zu schreien und sagte
zum schwarzen: "Siehst du! Das hast du von deiner Klugheit!
Hättest du dich nicht hingeworfen, so hättest du keine Prügel bekommen.
Es schien mir außerdem so, als habe dir unser Herr noch
einige Feldsteine mehr aufgeladen. Ich aber habe weder Schläge
noch eine schwere Ladung bekommen." Der schwarze Esel antwortete
nichts. Schatr aber trieb beide nach Hause und brachte
dort seine Schätze in guten Gewahrsam. Dann sorgte er dafür, daß
dem weißen Esel vom Sklaven noch besseres Futter hingeworfen
wurde als dem schwarzen.
Schatr war danach müde. Er legte sich auf sein Lager. Seine
Frau lag auf einem andern Angareb ihm gegenüber. Auf dem Hofe
sprachen die Hühner mit dem Hahn und erzählten sich Geschichten.
Schatr horchte auf und hörte zu; und nach einiger Zeit mußte er
über die Geschichte des Hahnes laut lachen. Die Frau fuhr empor.
Sie richtete sich auf und sagte zu Schatr: "Was hast du? Weshalb
lachst du?" Schaft sagte: "Ich habe nichts." Die Frau sagte:
"Bist du dumm, daß du um nichts lachst? Ich dachte, mein Mann
wäre durch die Fatirbäckerei nur arm geworden; nun sehe ich aber,
daß er auch dumm ist." Schatr wollte seine Frau beschwichtigen
und sagte: "Es ist etwas anderes." Schatr wollte die Geschichte der
Hühner erzählen, da hörte er aber, wie der Hahn laut zu den
Hühnern sagte: "Paßt auf! Heute begeht Schatr noch eine Dummheit
und erzählt seiner Frau, was der Aldjann ihm verboten hat zu
sagen, und dann wird er sterben." Die Frau sagte: "Es ist etwas
anderes! Es wird recht etwas anderes sein! Verdummt bist du, das
ist alles!" Der Hahn sagte zu den Hühnern: "Wenn ich an Schatrs
Stelle wäre, würde ich die Frau auszahlen und wegschicken. Wer so
viel Gold und Edelsteine haben kann wie Schatr, kann so viel Frauen
haben wie er braucht. Ich würde mich nicht beschimpfen lassen!"
Schatr richtete sich auf und sagte zu seiner Frau: "Was willst du?"
Die Frau sagte: "Dumm bist du! Dein Vater war schon dumm mit
seinem Fatir! Du aber bist ganz töricht und fängst nun schon an,
vor dich hin zu lachen wie ein Verrückter." Der Hahn sagte:
"Dieser Schatr kann mehr Frauen haben als ich Hühner, und
ich habe ihrer vierzig! Das läßt er sich aber von einer Frau
sagen!"
Schatr sagte zu seiner Frau: "Wie viel soll ich dir auszahlen? Ich
will nichts mehr mit dir zu tun haben." Die Frau sagte, was sie
haben wollte. Schatr ging hinaus und holte das Geld. Er ging mit
ihr zum Richter und brachte die Sache in Ordnung. Danach ging
er wieder heim und sagte bei sich: "Dieses verdanke ich den Hühnern.
Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich meine große Angelegenheit
meiner Frau ausgeplaudert."
Mittlerweile kam er an dem Stalle vorbei, in dem ein Bulle bei
dem schwarzen und weißen Esel stand. Der Sklave kam gerade
herein mit einem großen Bündel Gras, das warf er dem Bullen hin.
Als der schwarze Esel, der neben dem Bullen stand, dies sah, sagte
er: "Höre, mein Freund, wenn du das alles ißt, wirst du morgen
sehr stark sein. Dann wirst du in den Sakhir gespannt und mußt
ziehen. Wenn du aber das Gras liegen läßt, bist du morgen matt.
Dann läßt du den Kopf hängen, und die Sklaven und der Herr
werden sagen: ,Der Bulle ist krank. Er sieht schlecht aus und
hat sein Futter liegen lassen. Er kann heute nicht arbeiten.' Dann
wirst du morgen nicht zu arbeiten brauchen!" Der Bulle sagte zum
schwarzen Esel: "Ist das ganz sicher?" Der schwarze Esel sagte:
"Du kannst dich darauf verlassen, es ist so!" Der Bulle sagte: "Ich
werde es einmal versuchen." Als Schatr das gehört hatte, ging er
weiter und in sein Haus.
Abends und nachts fraß der Bulle nichts. Der schwarze Esel aber
zog ein Maul voll Gras nach dem andern aus dem Bündel des Bullen
und fraß es. Schatr kam am Morgen früh in den Stall und sah das.
Schatr sagte zu dem Abd (Sklaven): "Spanne heute den Bullen
nicht ein. Spanne aber den schwarzen Esel ein und laß ihn am
Sakhir arbeiten." So wurde der schwarze Esel eingespannt, und er
mußte den ganzen Tag arbeiten.
Als der schwarze Esel abends wieder in seinen Stall getrieben
wurde, ging Schatr hin und hörte, was die Tiere sprachen. Erst
sprach der weiße Esel und sagte: "Siehst du! Nun hast du einmal
wieder gute Ratschläge gegeben; es ist dir aber nicht besser gegangen,
als wie neulich an der Polizei." Der schwarze Esel sagte:
"Du bringst es doch mit deiner Gutmütigkeit zu nichts." Der weiße
Esel sagte: "Ich lebe mit aller Welt in Frieden!"
Nach einiger Zeit brachte der Sklave das Gras für den Bullen.
Der schwarze Esel sagte nun zum Bullen: "Höre, mein Freund, ich
rate dir, dies Gras nicht zu fressen. Ich habe nämlich gehört, wie
unser Herr für morgen früh den Schlächtermeister bestellt hat.
Wenn du nun kräftig und munter bist, wird der Schlächter dich
kaufen. Kräftig und munter wirst du aber sein, wenn du all dies
Gras frißt. Wenn du aber das Gras nicht frißt, wirst du müde und
schlaff sein. Wenn der Schlächtermeister dich dann so sieht, wird
er sagen: ,Dieses Tier ist krank; ich kann es nicht kaufen, denn
ich könnte das Fleisch nicht mit gutem Gewissen an meine Kunden
weitergeben.' So wirst du also im Stall und am Leben bleiben,
wenn du heute das Gras nicht frißt." Der Bulle sagte: "Ist das ganz
sicher?" Der schwarze Esel sagte: "Gewiß, das ist ganz sicher."
Schatr hörte alles und ging dann ins Haus.
In der Nacht aß der Bulle nichts; der schwarze Esel aß aber alles
auf. Schatr kam am andern Morgen früh in den Stall und sah das.
Schatr sagte zum Sklaven: "Spanne heute den Bullen ein, denn er
hat nicht genug Arbeit und frißt daher nicht genug. Den schwarzen
Esel will ich aber verkaufen." Der Bulle mußte nun den ganzen
Tag den Sakhir ziehen. Der schwarze Esel aber wurde verkauft
und kam zu einem Herrn, bei dem er nicht viel zu essen bekam.
Er wurde mager und träge. Der Bulle fraß von nun an immer das
Gras, das der Sklave ihm brachte.
Schatr heiratete aber eine andere Frau. Dadurch, daß er den
Gesprächen der Tiere lauschte, lernte er die Orte kennen, wo viele
Reichtümer lagen, und allen Menschen, die ihm übel wollten, aus
dem Wege zu gehen. Er lernte aber aus den Gesprächen der Tiere
auch manche kluge Erfahrung, die ihn in den Stand setzte, alle
Zwistigkeiten und Widrigkeiten des Schicksals zu vermeiden.
7. Das Girdamädchen
Ein Amir (Emir) hatte drei Söhne, die wuchsen langsam heran.
Als diese Söhne große Burschen geworden waren, sagte der
Vater eines Tages zu ihnen: "Nehmt eure Lanzen und reitet mit
mir hinaus aus dem Dorfe!" Die Söhne gingen und holten ihre
Waffen, bestiegen ihre Pferde und ritten mit dem Vater hinaus in
die Steppe. Der Vater sagte: "Nun, meine Söhne, möchte ich sehen,
ob ihr geschickt genug in der Handhabung der Waffen seid, um
eine Frau damit verteidigen zu können. Seht dort draußen die
Gazellen. Jagt sie mit Lanzen. Ich werde sehen, wie ihr eure Sache
handhabt."
Darauf ritten die drei Söhne schnell von dannen, und der Vater
folgte ihnen langsam in einiger Entfernung. Die drei Söhne warfen
ihre Speere nach den Böcken und trieben die Rudel bald nach der
einen, bald nach der andern Seite.
Der Vater sah aus der Entfernung, wie geschickt sie ihre Lanzen
den Tieren einsetzten, und als sie nach einigen Stunden zurückkamen,
hatte jeder drei Antilopen erlegt. Der Vater sagte: "Kommt
nun wieder mit mir zurück in unsern Ort. Wir wollen heimkehren.
Wenn wir nun durch das Dorf reiten, könnt ihr ein jeder vor dem
Hause, in dem das Mädchen wohnt, das er heiraten möchte, die
Lanzen in die Erde stoßen, und ich werde nachher die Eltern der
Mädchen aufsuchen und die Sache mit ihnen in Ordnung bringen."
Der Vater ritt mit den Söhnen durch den Ort. Als sie an dem
Hause eines sehr angesehenen Mannes vorbeikamen, der eine
schöne Tochter hatte, die alle jungen Leute des Dorfes begehrten,
stieß der älteste Sohn seinen Speer in die Erde. Der Emir sagte:
"Es ist recht. Ich werde es nachher ausmachen." Als sie an dem
Gehöft eines andern angesehenen Mannes vorbeikamen, der auch
eine viel begehrte Tochter hatte, stieß der zweite Sohn seine Lanze
in die Erde, und der Emir nickte wieder und sagte: "Es ist mir
recht, auch das soll nachher in Ordnung gebracht werden."
Dann ritten sie weiter und durch das ganze Dorf. Der jüngste
Sohn sprang mit seinem Pferde spielend hierhin und dorthin. Er
wirbelte seine Lanze in der Luft zwischen den Fingern, aber er
machte keine Anstalten, vor irgendeinem Gehöft seine Waffe in die
Erde zu stoßen. So kamen sie bis an das Ende des Ortes. Der Vater
sagte: "Was willst du nun, mein Sohn? Willst du denn keine Frau
heiraten?" Der jüngste Sohn lachte aber und sagte: "Sicherlich
will ich eine Frau heiraten. Die Mädchen dieses Ortes sind aber alle
nicht schön genug. Die Wüste soll mir ihr schönstes Mädchen
geben!" Der Jüngste lachte und stieß sein Pferd in die Weichen,
so daß es hoch aufstieg. Er warf seine Lanze, so daß sie mit dem
Winde weit hinaus in die Wüste flog.
Der Emir schüttelte aber seinen Kopf und sagte: "Mein Sohn, du
bist jung, sonst würdest du nicht so mit deiner Waffe und mit uns
spielen. Wie soll ich nun da hinausreiten und die Sache mit einer
Frau, deren Namen und Familie ich nicht kenne, in Ordnung
bringen? Reite also selbst, mein Sohn, deinem Speere nach und
bringe selbst die Sache mit deiner Frau in Ordnung. Ich kann hierin
nichts weiter tun." Der Emir wandte sein Pferd um und ritt mit
seinen beiden ältesten Söhnen wieder durch den Ort seiner Seriba zu.
Der jüngste Sohn blieb auf der Stelle und sah in die Wüste. Er
schämte sich sehr, denn er sah, daß sein Vater gekränkt war und
daß er die Schuld daran hatte. Der junge Mann war sehr schön,
und alle Frauen und Mädchen liebten ihn sehr. Er selbst hatte aber
noch keine Neigung gefaßt, und so hatte er nicht gewußt, was er
sonst mit seiner Lanze hätte machen sollen, als sie hinaus in die
Wüste werfen. Nun trieb er sein Pferd an und ritt in der Richtung,
in der er die Lanze geworfen hatte, in die Wüste hinaus.
Der Jüngste ritt durch die Wüste und blickte aufmerksam nach
allen Seiten, um seine Lanze wieder zu finden. Er ritt eine Stunde
weit und sah seine Lanze nicht. Der Jüngste sagte: "Meine Lanze
war mein bester Freund, seit ich ein Bube war, sie kann mir nicht
fortgelaufen sein wie ein widerspenstiger Sklave."
Der Jüngste ritt weiter und weiter und immer in der Richtung,
in der er seine Lanze geworfen hatte. Er folgte der Richtung und
blickte emsig rechts und links und sagte: "Meine Lanze ist nicht
dumm wie eine Hüttenstange. Sie weiß, daß ich sie suchen muß,
wie die Mutter ihr Kind. Was hat meine Lanze getan?"
Der Jüngste ritt weiter und weiter und achtete auf die Richtung,
in der er sie geworfen hatte. Er blickte zur Rechten und er blickte
zur Linken, aber er sah nirgends, was er suchte. Der Jüngste sagte:
"Mein Vater hat recht gehabt. Ich habe leichtsinnig gespielt. Ich
sehe, daß meine Lanze allein nicht soweit geflogen sein kann. Ich
werde eine Angelegenheit finden und werde sie zu bestehen haben.
Aber da ich einmal auf dem Wege bin, will ich mich keinem Ereignisse
entziehen, das auf mich wartet."
Der Jüngste ritt noch ein wenig weiter. Dann sah er einen einsamen
Baum aus der Wüste aufragen und in seinem Stamm seine
Lanze stark eingerammt. Der Jüngste sagte: "Auf diesem Baum
wohnt also meine von mir selbst gewählte Frau." Der Jüngste ritt
heran und blickte zu dem Baume hinauf. In der Mitte desselben
saß zusammengekauert ein junges Girdaweibchen (Girda ist eine
Affenart). Der Jüngste sah das Girdaweibchen. Der Jüngste sagte:
"Du bist also meine selbstgewählte Gattin?" Das Girdaweibchen
sagte: "So ist es." Der Jüngste sagte: "Nun, du kannst wenigstens
sprechen. Wenn du mir also auch keine wertvollen Teppiche und
kein weiches Angareb und Öl und schmackhafte Speisen mit ins
Haus bringen wirst, so kannst du doch wenigstens sprechen."
Das Girdaweibchen sagte: "Das kann ich. Vergiß aber nicht, daß
du mich durch den Lanzenwurf selbst zur Gattin gewählt hast."
Der Jüngste sagte: "Nein, das werde ich nicht vergessen können.
Aber mein Vater wird nicht hier herauskommen wollen, um die
Sache mit deinen Eltern in Ordnung zu bringen. Komm also gleich
mit auf mein Pferd, damit ich dich in mein Haus nehme."
Der Jüngste riß den Speer aus dem Stamm des Baumes. Er hielt
dem Girdaweibchen den Arm hin. Das Girdaweibchen erfaßte ihn
und ließ sich auf das Pferd hinab. Dann ritt der Jüngste mit seinem
Girdaweibchen nach Hause.
In seinem Hause zeigte er dem Girdaweibchen das Angareb. Das
Girdaweibchen legte sich hin und schlief ein. Der Jüngste ging zu
seinem Vater und sagte: "Mein Vater, du hast recht gehabt. Ich
habe den Speer in die Wüste geworfen, und als ich ihm nachritt,
fand ich ihn vor dem Hause eines Girdaweibchens im Sande." Der
Vater sagte: "Was hast du getan?" Der Jüngste sagte: "Ich habe
das Girdaweibchen mitgebracht." Der Emir sagte: "Du hast das
selbst zu ordnen." Der Jüngste sagte: "Ich muß mein Haus nun
bewohnen, wie es meine Frau herrichtet. Ich habe dem Girdaweibchen
ein Angareb gegeben, es wird Essen und Trank erhalten.
Das ist alles, was ich tun kann."
Die beiden ältesten Söhne des Emirs heirateten. Ihre Frauen richteten
ihnen die Häuser ein. Es waren Teppiche und Polster und
allerhand Geräte da. Der Emir sagte eines Tages zu seinem ältesten
Sohne: "Mein Sohn, ich werde dich morgen einmal besuchen und
werde bei dir essen. Denn ich möchte sehen, wie du nun lebst, nachdem
du verheiratet bist." Der älteste Sohn eilte zu seiner Frau und
sagte: "Morgen wird mein Vater zu uns kommen und bei uns essen.
Sorge, daß es ihm gefällt!"
Am andern Tag kam der Vater und wurde von seinem Sohne
empfangen. Der Sohn führte den Vater hinein und lud ihn ein, auf
den Kissen und Teppichen Platz zu nehmen. Es kamen wohlgekleidete
Sklaven und reichten duftenden Sorbet, und nachher
brachten sie auf einer schönen Sinia viele verschiedene Gerichte.
Der Vater sah um sich und erhob sich erst spät. Er sagte zu seinem
Sohne: "Ich sehe, mein Ältester, daß du gut verheiratet bist und
daß deine Frau für dich und alle deine häuslichen Angelegenheiten
vorzüglich sorgt."
Am Tage darauf besuchte der Vater in der gleichen Weise seinen
zweiten Sohn, nachdem er ihm vorher sein Kommen angekündigt
hatte. Der Emir fand hier ebenso reiche Herrichtungen und gute,
geordnete Bewirtung. Er wünschte auch ihm zu seinem häuslichen
Leben viel Glück.
Der jüngste Sohn des Emirs hatte am Nachmittag zu Pferd sein
Haus verlassen und war in die Umgebung geritten, denn seit das
Girdaweibchen in seinem Hause weilte, fühlte er sich in den Lehmmauern
nicht mehr wohl, und wenn er sie vorher nie häßlich gefunden
hatte, so schienen sie ihm jetzt, wo das Girdaweibchen bei
ihm war, und wo er seine Wohnung mit der schönen Zurichtung
seiner glücklich verheirateten Brüder verglich, unerträglich. Der
jüngste Sohn kam nun nach Hause und traf auf dem Wege seinen
Vater, der bei seinem zweiten Sohne gegessen hatte. Der Jüngste
begrüßte den Emir. Der Emir sagte: "Wie geht es dir, mein Jüngster?
Ich habe gestern bei meinem ältesten Sohne gegessen und
heute bei meinem zweiten. Ich habe es bei beiden ausgezeichnet
gefunden. Sie führen beide ein glückliches Leben, seit sie verheiratet
sind." Der jüngste Sohn sagte zu seinem Vater: "Mein Vater, ich
kann dich nicht bitten, morgen bei mir zu essen."
Der Jüngste kam spät in der Nacht heim. Er setzte sich auf sein
Angareb und seufzte. Er seufzte und war betrübt. Im Raume
nebenan lag das Girdaweibchen auf seinem Angareb. Das Girdaweibchen
hörte seinen Mann seufzen und stöhnen und kam herüber
zu ihm. Das Girdaweibchen setzte sich neben den jungen Mann
auf das Angareb und sagte: "Sage mir, was dich bedrückt, vielleicht
ist die Sache auszugleichen." Der Jüngste sagte: "Du bist ein gutes
Girdaweibchen, daß du dich um meinen Kummer bemühst. Es ist
aber nicht mehr möglich, mir zu helfen, denn ebenso wie dir ein
Girdamännchen lieber wäre als ein Mensch, und wenn er auch der
Sohn des Emirs ist, so würde jedes Mädchen und jede Frau mir meine
Angelegenheiten besser ordnen können als du, wenn sie auch nicht
ein so freundliches Mitgefühl hat." Das Girdaweibchen sagte:
"Höre, du bist der Sohn eines Emirs, aber du bist nur ein Mensch
und kannst nicht wissen, was ein Girdamädchen ist, was sie empfindet
und was sie kann. Sage mir also deinen Kummer!" Der
Jüngste sagte: "Gutes Girdamädchen, ich habe am gleichen Tage
dich gewonnen, an dem meine älteren Brüder ihre Frauen erwählten.
Die Frauen haben nun ihren Männern die Häuser eingerichtet
und wohnlich gemacht. Vorgestern hat mein Vater bei meinem
ältesten Bruder, gestern bei meinem zweiten Bruder gegessen, und
er hat alles sehr schön und reich und wohnlich gefunden, weil die
Frauen alles gut und reich hergerichtet haben. Morgen müßte mein
Vater nun bei mir essen. Wie soll ich ihm auf diesem Erdboden
zwischen diesen Lehmwänden ein Essen vorsetzen?" Das Girdaweibchen
sagte: "Ist das denn alles?" Der Jüngste sagte: "Es ist
genug, um mich traurig zu machen."
Das Girdaweibchen sagte: "Das ist sehr einfach! Sattle schnell
dein Pferd und bringe mich heute nacht noch zurück in die Wüste;
Dann stört dich das häßliche Girdaweibchen nicht mehr. In der
Wüste ist aber eine Stadt, in der schöne, reiche Frauen sind. Ich
weise dir den Weg. Du gewinnst eine von den schönen Frauen. Sie
kommt mit allem ihren Besitz, und bis morgen abend kann sie dir
dein Haus hergerichtet haben. Glaube mir, das ist keine schwierige
Sache." Der Jüngste sagte: "Du bist ein gutes Girdaweibchen, sage
mir aber doch, was aus dir werden würde?" Das Girdaweibchen
sagte: "Ich würde sterben." Der junge Mann sagte: "Du bist ein
gutes Girdaweibchen, du sollst nicht sterben. Ich habe dich durch
meinen Lanzenwurf gewonnen. Nun sollst du nicht sterben durch
mich. Geh nur auf dein Angareb und schlafe. Ich kann auch so
leben und brauche den Besuch meines Vaters nicht. Ich danke dir
aber dafür, daß du hierher gekommen bist, um mich nach meinem
Kummer zu fragen. Mein Kummer ist nun zerflossen."
Das Girdaweibchen sagte: "Du willst mich also nicht in die
Wüste zurücktragen, um eine schöne, junge Frau zu gewinnen?"
Der junge Mann lachte und sagte: "Nein, das will ich nicht. Du
bleibst als mein gutes Girdamädchen in meinem Hause."
Das Girdamädchen sagte: "Dann will ich dir eine andere Angelegenheit
sagen. Hast du schon einen Girda gesehen, der sprechen
kann?" Der junge Mann sagte: "Nein, ich habe das noch nicht
gesehen!" Das Girdaweibchen sagte: "Wenn du dieses Ungewöhnliche
selbst siehst, dann wirst du mir auch anderes Ungewöhnliche
glauben?" Der junge Mann sagte: "Gewiß glaube ich dir!" Das
Girdaweibchen sagte: "Dann geh morgen mittag zu deinem Vater,
dem Emir, und bitte ihn, zu dir zu kommen, um mit dir zu speisen.
Dein Vater wird alles ebenso gut finden, wie bei deinen Brüdern."
Der junge Mann sagte: "Ich werde es tun." Das Girdaweibchen
erhob sich und ging in ihr Zimmer, um auf ihrem Angareb zu
schlafen.
Der junge Mann blieb auf seinem Lager sitzen. Er sagte: "Diese
Sache mit meinem Girdamädchen ist anders als irgend etwas, was
ich vorher gehört habe." Nach einiger Zeit ging der junge Mann
leise in den andern Raum, um das merkwürdige Girdamädchen noch
einmal zu sehen. Er trat an ihr Angareb.
Ein wenig vom Licht des Mondes schlüpfte durch eine Ritze in
der alten Mauer hinein und beleuchtete das Girdamädchen, das vom
Licht abgewendet auf dem Angareb schlief. Der junge Mann betrachtete
das Girdamädchen und sah, daß aus einem Riß des Affenfelles
lange Haare herausgefallen waren, die waren weich wie Seide,
und goldene Fäden waren hineingeflochten. Der junge Mann betrachtete
das Haar. Er befühlte es vorsichtig mit der Hand. Da
seufzte das Girdaweibchen im Schlafe auf, und er schlich schnell
und leise wieder in seinen eigenen Raum. In seinem Raum stand
der Speer, mit dem er geworfen hatte. Er ließ die Hand über den
Speer gleiten und sagte: "Mein guter Freund, du kannst gut fliegen
und weithin eilen, aber sprechen kannst du nicht. Was würdest du
mir sonst wohl hierüber sagen können?"
Am andern Mittag ging der Jüngste zu seinem Vater und sagte:
"Mein Vater, du hast vorgestern bei deinem ältesten Sohne gegessen.
Du hast gestern bei deinem zweiten Sohne gegessen. Komm heute
zu mir und speise mit mir, deinem dritten Sohne."
Der Vater sagte: "Mein bedauernswerter Sohn, du bist nicht verheiratet
und hast dein Glück und deine Bequemlichkeit für ein
Girdaweibchen fortgeworfen. Du wirst das noch schlimmer fühlen,
wenn ich mit dir in deinem einsamen Hause dein Essen teile." Der
Jüngste sagte: "Mein Vater, ich bitte dich! Komm doch nur heute
einmal zu mir." Der Emir sagte: "Ich will dir deinen Wunsch nicht
abschlagen. Ich werde kommen."
Der Vater bestieg sein Pferd. Er ritt mit seinem Sohne zu dessen
Haus hinüber.
Als die beiden Reiter vor dem Hause angekommen waren, traten
zwei prächtig gekleidete Sklaven aus der Tür und hielten die Pferde.
Zwei andere Diener aber rollten eine lange seidene Decke aus der
Tür bis zum Tor. Sie halfen dem Emir und seinem Sohne aus dem
Sattel und folgten ihnen, als beide über den seidenen Stoff zum
Hause hineingingen.
Als der Emir und sein Sohn an die Türe kamen, traten ihnen
schöne Knaben entgegen, die hielten Schale und Brig und Trockentuch,
so daß sie den Staub abspülen konnten. Andere nahmen ihnen
die Straßenschuhe ab, so daß sie nicht die schönen Teppiche zu
beschmutzen brauchten, die den Boden bedeckten. Der Emir stand
als erster in dem Raum und fragte seinen Sohn sogleich: "Mein
Sohn, erkläre mir dieses." Der Jüngste sagte: "Mein Vater, ich kann
dir von all dem nichts erklären, denn ich weiß nicht einmal, ob dies
überhaupt mein Haus ist oder nicht. Ich bitte dich aber, auf diesen
Kissen Platz zu nehmen und meine Bewirtung anzunehmen - soweit
ich das Recht habe, diese Bewirtung die meine zu nennen."
Der Emir setzte sich. Der jüngste Sohn setzte sich. Sie betrachteten
beide die Teppiche, die auf dem Boden und an den Wänden
ausgebreitet waren. Sie sahen die Kursi, auf die eine goldene Sinia
mit dreißig verschiedenen Gerichten gestellt wurde.
Der Emir aß und fand das Essen besser, als irgendeines, das er
vorher zu sich genommen hatte. Er schwieg aber und dachte bei
sich: "Ich werde meinen Sohn nach nichts fragen, denn diese ganze
Geschichte mit dem Girdamädchen ist eine Lüge, und er wird, wenn
ich ihn frage, mir nur noch mehr vorlügen. Ich will aber sehen,
wie ich diese Lügen aufdecken und meinen Sohn dafür strafen
kann."
Der jüngste Sohn aß und fand, daß er nie in seinem Leben so gut
gegessen habe. Er sagte aber nichts, denn er dachte bei sich: "Seit
ich die seidenen, golddurchwirkten Haare unter dem Affenfell
meines Girdamädchens gesehen habe, weiß ich überhaupt nur noch,
daß ich von allem, was mit dem Mädchen zusammenhängt, nichts
weiß. Wenn ich meinem Vater etwas sage, wird er es mir nicht
glauben, sondern wird mich für einen Lügner halten. Ich werde
aber zusehen, daß ich herausbekomme, was sonst noch unter dem
Affenfell meines Girdamädchens verborgen ist."
Nachdem der Emir und sein Sohn gegessen hatten, erhob sich der
Vater und sagte: "Mein jüngster Sohn, ich sehe zu meiner Freude,
daß du in ebenso glücklichen Umständen lebst, wie deine älteren
Brüder. Ich verlasse dich nun. Begleite mich heim und vergiß
nicht, daß ich euch eine Mahlzeit schuldig bin, die eure Frauen
bereitet haben. Darum will ich euch drei mitsamt euren drei ausgezeichneten
Frauen morgen abend zum Essen bei mir sehen." Der
Sohn sagte: "Es ist gut, ich werde kommen!" Der Emir lachte
und sagte: "Du wirst aber nicht allein kommen, sondern deine Frau
mitbringen, die heute so vortrefflich für mich gesorgt hat, so daß
ich sie kennen lerne und ihr danken kann." Der Sohn begleitete
seinen Vater heim. Als der Sohn in sein Haus zurückkam, war es
schmutzig und kahl wie früher. Er schlich sich in den andern
Raum, da lag das Girdamädchen auf dem Angareb. Er konnte aber
keine Haare sehen. Der Mond schien auch nicht durch die Mauerritze.
Der Wind blies nur Sand herein, so daß der ihm in die Augen
fiel und ihn in seinen eigenen Raum zurückjagte.
Am andern Morgen ging der junge Mann sogleich zu seinem
Girdamädchen hinüber. Er setzte sich auf den Rand des Angarebs
und sagte zu dem Girdamädchen: "Mein Vater ging gestern sehr
zufrieden fort." Das Girdamädchen sagte: "Das weiß ich." Der
junge Mann sagte: "Mein Vater hat gesagt, daß heute seine drei
Söhne mit ihren Frauen zu ihm kommen und bei ihm essen sollen."
Das Girdamädchen sagte: "Das weiß ich." Der junge Mann sagte:
"Was soll ich nun tun?" Das Girdamädchen sagte: "Du mußt hingehen."
Der junge Mann sagte: "Und welche Frau soll ich mitnehmen?"
Das Girdamädchen sagte: "Bringe mich schnell in die
Wüste und hole eine andere Frau, die ich dir zeigen werde." Der
junge Mann sagte: "Und was wird aus dir werden?" Das Girdamädchen
sagte: "Du weißt es doch schon, ich werde sterben." Der
junge Mann sagte: "Ich habe dir auch schon gesagt, daß ich das
nicht will." Das Girdamädchen sagte: "Dann ist nur noch eines
möglich, daß ich nämlich als deine Frau zum Feste deines Vaters
gehe!"
Der junge Mann erschrak. Er wußte, daß die Frauen seiner
Brüder sehr schön waren. Er wollte nicht das zottige Affenweib
als seine Frau mitbringen. Der junge Mann sagte nichts. Das Girdamädchen
sagte: "Dein Vater hat mich als deine Frau heute abend
eingeladen. Mach, was du willst. Bringe mich in die Wüste zurück
und hole dir eine andere Frau oder laß mich allein gehen. Ich verlange
nicht, daß du mit mir gehst. Ich aber gehe hin." Der junge
Mann ging heraus.
Der junge Mann legte sich auf den Hof und war sehr traurig. Als
es Mittag war, kam das Girdamädchen zu ihm und sagte: "Ich
schlage es dir noch einmal vor: bringe mich zurück in die Wüste
und laß mich für eine schöne Frau für dich sorgen." Der junge
Mann sagte: "Nein, du sollst nicht sterben." Das Girdamädchen
sagte: "Ich werde aber zu dem Feste deines Vaters gehen." Der
junge Mann sagte: "Gut, geh hin. Geh aber allein. Ich gehe auch
allein." Dann erhob sich der junge Mann und sattelte sein Pferd.
Er ritt ein Stück weit, stellte sein Pferd bei einem Freunde unter
und stieg dann über die Dächer bis dahin, von wo aus der Mond
sein Licht durch die Ritze in der Mauer auf das Angareb des Girdamädchens
geworfen hatte.
Als es dunkel wurde, sah er, daß das Girdamädchen sich von
seinem Angareb erhob. Das Girdamädchen griff mit der Hand in
den Schlitz des Affenfelles und zog einen Almas (Diamant) hervor,
der leuchtete wie keine Lampe heller leuchten kann. Danach zog
das Girdamädchen das Affenfell nach hinten über den Kopf. Da
sah der Jüngste, daß die seidenen Haare lang und länger hervorquollen,
daß zwischen die schwarzen Seidenhaare lange Goldfaden
gesponnen waren. Das Mädchen strich mit der Hand eine rauhe
Stelle der Lehmwand, da war da ein Spiegel, und nun konnte der
junge Mann durch die Mauerritze sehen, daß das Girdamädchen
über alle Maßen schön war, so schön, daß er vor Schreck zu zittern
begann und fast über die Dachkante herab auf die Erde gefallen
ware.
Dann streifte das Girdamädchen die Affenhaut auch vom Leibe
und von den Gliedern, und nun konnte er sehen, daß unter dem
feinen Linnen, in das sie gehüllt war, ein junger, schöner Körper,
weiße Glieder und gewölbte Brüste lebten. Als das Girdamädchen
so schön unten in dem Lehmhaus vor dem Spiegel stand, da war
der jüngste Sohn des Emirs so glücklich, daß er fast geschrien hätte.
Um das zu unterdrücken, biß er sich in die Hand, und er konnte
sich nicht anders helfen, als daß er tief hineinbiß.
Das Girdamädchen betrachtete sich inzwischen im Spiegel. Es
ordnete die Haare. Es nahm aus dem Affenfell allerhand Schmuck
hervor. Es legte goldenen Schmuck um den Hals. Es legte goldene
Ringe um Handgelenk und Füße. Es warf das Affenfell auf das
Angareb, hüllte sich in ein langes Umschlagetuch des jungen Mannes
und verließ das Haus, um zu seinem Schwiegervater zu gehen.
Kaum hatte aber der jüngste Sohn gehört, daß das Girdamädchen
sein Haus verlassen hatte, so stieg er von seinem Dache herab und
lief zu seinem Hause. Er blickte in den Raum des Girdaweibchens.
Er sah da das Affenfell. Er nahm das Affenfell und warf es ins
Feuer. Dann setzte er sich auf das Angareb und wartete die Rückkehr
des Mädchens ab. Das junge Mädchen ging inzwischen hinüber
zur Seriba des Emirs. Sie trat zunächst in das Haus ein, in dem
die Frau des Emirs die Herstellung der Speisen beaufsichtigte. Als
die alte Frau das verhüllte Mädchen hereinkommen sah, fragte sie:
"Wer bist du?" Das Mädchen sagte: "Ich bin die, die dein jüngster
Sohn sich als Gattin erwählt hat." Die alte Frau sagte: "Zeige dein
Gesicht!" Das junge Mädchen schlug das Tuch zurück. Die Mutter
betrachtete sie lange und sagte: "Hüte dich vor dem Vater deines
Gatten, meinem Manne, dem Emir, meine Tochter!" Das Mädchen
sagte: "Meine Mutter, ich bitte dich, gib mir ein Brot!" Die
alte Frau gab dem Mädchen ein Brot. Das Mädchen nahm das Brot
unter den Arm und ging aus dem Haus zum Emir hinüber.
Die beiden ältesten Söhne mit ihren Frauen waren schon beim
Emir angekommen. Die Frauen waren schön, sie waren reich gekleidet
und hatten wertvollen Schmuck.
Der Emir sprach mit den Frauen seiner Söhne. Der Emir sagte:
"Die Frau, die mein jüngster Sohn sich erwählt hat, wird auch
kommen." Der Türhüter kam und sagte: "Es kommt eine verhüllte
Frau über den Hof." Die Brüder sagten: "Das wird die Klugheit
unseres jüngsten Bruders sein, die da kommt." Die Frauen der
Brüder sagten: "Das wird das Affenweib sein, das kommt. Müssen
wir mit ihm aus einer Schüssel essen?" Der Emir sagte zum Türhüter:
"Laß die Frau hereinkommen!"
Die Tür wurde geöffnet. Die verhüllte Frau schritt herein und
blieb stehen. Der Emir sagte: "Wer bist du?" Die verhüllte Frau
sagte: "Ich bin das Mädchen, das dein jüngster Sohn sich zur Frau
erkoren hat." Der Emir sagte: "Die Frauen meiner andern Söhne
sind auch hier und nicht verhüllt. Zeige dich. Wir werden dich
nicht kränken." Die verhüllte Frau sagte: "Wie sollte mich der
Vater dessen, der mich zur Frau begehrt, kränken wollen ?" Dann
ließ sie das lange Umschlagetuch fallen. Es wurde aber im Zimmer
sogleich ganz hell, und war nun ein Unterschied, als ob vorher
Nacht gewesen und nun gerade die Sonne aufgegangen sei.
Das Mädchen sagte: "Weshalb solltet ihr mich kränken?"
Die ersten beiden Söhne des Emir blickten auf das Mädchen. Die
Frauen der beiden Söhne blickten auf das Mädchen. Der Emir
blickte auf das Mädchen und sagte bei sich: "Dieses Mädchen soll
meine eigene Frau werden. Ich werde meinen Sohn töten." Das
Mädchen nahm das Brot unter dem Arm hervor, das die Frau des
Emir ihr gegeben hatte; es war ein Almas (Diamant) geworden.
Das Mädchen reichte den Diamanten dem Emir und sagte: "Nimm
dieses als Begrüßungsgabe. Ich bin nicht das, was ihr glaubtet. Ich
habe die Haut des Affen umgenommen, um zu sehen, ob dein
jüngster Sohn so gut wie schön ist. Ich habe ihm schweren Kummer
mit der Affenhaut bereitet und will nun nach Haus gehen, um
seinen Kummer zu stillen. Denn auch im großen Kummer hat er
nicht gewollt, daß das elende Affenmädchen sterbe, und deshalb will
ich ihm eine gute Frau werden und will ihm alles geben, was ich
als Tochter des Melik der Alledjenu ihm geben kann." Als das
Mädchen das gesagt hatte, nahm sie das Umschlagetuch wieder auf
und ging. Es hatte aber keiner Zeit, etwas zu sagen.
Der Jüngste saß auf seinem Angareb und wartete. Als er einige
Zeit gewartet hatte, sah er, daß es in der Dunkelheit draußen heller
wurde. Dann hörte er Schritte und er sah, daß seine Wohnung von
einer Reihe von Ampeln und Lichtern beleuchtet wurde. Wo er
hinsah, traten Teppiche und Kissen hervor. Je näher die Schritte
kamen, desto höher und weiter wurden die Räume. Er fühlte, daß
seine Kleidung sich änderte; er hörte, daß draußen Vögel sangen,
trotzdem es Nacht war. Dann tat sich die Tür auf und die Tochter
des Alledjenukönigs trat herein und ließ das Umschlagetuch fallen.
Die Tochter des Alledjenukönigs kam auf ihn zugeschritten und
kniete nieder und küßte die Wunde, die er sich vorher in die Hand
gebissen hatte, um seinen freudigen Schreck zu überwinden. Und
sogleich war die Wunde geschlossen. Der Sohn des Emir hob die
Tochter des Alledjenukönigs auf. Beide gingen dann durch die hell
erleuchteten Säle des Serails, in dem von nun an der jüngste Sohn
mit seiner schönen Frau wohnte.
Der Emir dachte die ganze Nacht darüber nach, wie er seinen
Sohn töte, um seine schöne Schwiegertochter heiraten zu können.
Am andern Tag ließ er seinen jüngsten Sohn rufen und sagte zu
ihm: "Mein Sohn, ich höre, du legst dir einen Garten an. Wenn
du das für dich tun kannst, dann kannst du auch für deinen Vater
etwas tun. Sorge also dafür, daß bis morgen nachmittag in meinem
Garten ein neuer Weinstock wächst. Ich habe mir für morgen
abend Gäste eingeladen, und sie sollen von den reifen Trauben
(= einab in Kordofan) dieses Weinstocks genießen. Wenn dir dies
nicht gelingt, werde ich dich morgen abend töten lassen."
Der Sohn ging betrübt von dannen. Er trat betrübt in sein Serail
und warf sich betrübt auf die Kissen. Nach einiger Zeit kam seine
schöne junge Frau. Sie strich ihm über die Haare und sagte: "Sage
mir deinen Kummer!" Darauf erzählte der Sohn des Emir, was
sein Vater von ihm verlangt habe. Als er berichtet hatte, lachte die
Tochter des Alledjenukönigs und sagte: "Wenn es weiter nichts ist,
so kann das leicht geschehen. Bringe Wasser aus dieser kleinen
Flasche in den Garten deines Vaters. Stecke ein Stück trockenen
Reisigs in die damit angefeuchtete Erde und sage deinem Vater
nur, er solle bestimmen, wieviel Trauben an dem Weinstock sein
sollen." Der Sohn nahm die Flasche, die seine Frau ihm reichte,
bestieg wieder sein Pferd und ritt in den Garten. Dort pflanzte er
das Reisig und ging dann zu seinem Vater und sagte: "Nun brauchst
du nur zu bestimmen, wieviel Trauben an dem Weinstock sein
sollen, und alles ist in Ordnung." Dann ritt der Sohn des Emir
wieder fort. Als aber am andern Tag die Gäste des Emir versammelt
waren und in den Garten gingen, da war aus dem trockenen Reisig
ein großer Weinstock aufgewachsen, und jeder der Gäste konnte
sich eine große, volle Traube abpflücken.
Der Emir ward dadurch aber nur noch zorniger. Er ließ am
andern Morgen wieder seinen jüngsten Sohn kommen und sagte zu
ihm: "Mein Sohn, sorge dafür, daß morgen um diese Stunde neben
meinem Hause ein Garten mit Wassermelonen angelegt ist, der
überall Früchte zeigt." Der Sohn sagte: "Das soll da sein, wo jetzt
nur Sand ist?" Der Emir sagte: "Jawohl, eben da sollen morgen
abend viel Melonen reif sein, denn ich habe viele Leute zu Gast, und
jedem will ich eine Melone vorsetzen." Der Sohn ging nach Hause.
Der Sohn des Emir suchte seine Frau auf und erzählte ihr von dem
neuen Befehl und der wiederholten Drohung seines Vaters. Die
Tochter des Alledjenukönigs lachte und sagte: "Das ist wieder sehr
einfach. Nimm dieses Wasser und diese Kerne und mische beides
mit Erde von dem Sandplatz. Dann wirf das Gemischte über den
Sandplatz hin." Der Sohn des Emir tat, wie seine Frau ihm geboten
hatte. Als der Emir am andern Tag den Sandplatz betrat, fand er
ihn bedeckt mit den Ranken der Wassermelonen, an denen so viele
Früchte hingen, daß ein jeder Mann des Ortes eine oder auch
mehrere erhalten konnte.
Als der Emir sah, daß sein Sohn auch das zu vollenden vermocht
hatte, wurde er über alle Maßen zornig, und in seiner Wut rief er
einen seiner Freunde beiseite und sagte zu ihm: "Sage mir doch
etwas, was ich meinem Sohne anbefehlen und was er doch unmöglich
ausführen kann, damit ich einen Grund finde, ihn wegen
Ungehorsams zu töten." Der Freund sagte: "So fülle doch ein Haus
mit Brot und Fleisch und verlange, daß er es in einer Nacht verzehre."
Der Emir sagte: "Das ist wahr!"
Am andern Tag rief der Emir seinen jüngsten Sohn und sagte:
"Heute abend werde ich dich in ein Haus einschließen, daß ich mit
Brot und Fleisch fülle. Bis morgen früh muß das alles verzehrt sein,
oder ich lasse dich töten." Der Sohn des Emir ging nach Hause
und erzählte seiner Frau von dem neuen Befehl des Vaters. Die
Tochter des Alledjenukönigs lachte aber und sagte: "Laß dich ruhig
einschließen. Die Zeit eines Augenaufschlags genügt meinen
Leuten, um mehrere Häuser voller Speise zu leeren." Abends ging
der Sohn zum Emir und ließ sich von ihm in das Haus voller Brot
und Fleisch einschließen. Er legte sich auf die Erde zum Schlafen
nieder, und als man am andern Tage das Haus öffnete und ihn
herausrief, war von allem Brot und Fleisch auch nicht mehr so viel
übrig, daß eine Maus es hätte zwischen den Zähnen und der Zunge
spüren können.
Nun aber entschloß sich der Emir, einen Befehl zu geben, dessen
Ausführung undenkbar war, denn er sehnte sich alle Tage mehr
danach, seine Schwiegertochter zu ehelichen und wollte also seinen
Sohn deshalb auf alle Fälle töten. Er ließ also seinen jüngsten Sohn
rufen und sagte: "Mein Sohn, nun höre meinen letzten Befehl. Ich
will, daß ein Kind, das heute abend geboren wird, morgen früh
schon gehen und sprechen kann. Wenn du das nicht vermagst,
mußt du sterben." Der Sohn des Emir ging zu seiner Frau und erzählte
ihr den neuesten Befehl seines Vaters. Die Tochter des
Alledjenukönigs sagte: "Ich sehe jetzt, daß dein Vater mich auf
jeden Fall ehelichen und dich töten will. Rufe deshalb alle Leute
des Ortes zusammen und fordere von deinem Vater folgende Vereinbarung:
Kann das neugeborene Kind, das dein Vater heute abend
schickt, morgen früh nicht sprechen, so darf er dich töten; kann
das Kind aber sprechen, so muß er auf das Leben und das Emirat
zu deinen Gunsten verzichten. Geh hin und fordere dies von ihm
vor allen Leuten. Es ist die Stunde, da alle Angesehenen bei ihm
versammelt sind."
Der Sohn des Emir ging zu seinem Vater. Alle angesehenen
Leute waren bei dem Emir versammelt. Der Sohn trat vor den
Vater und sagte: "Mein Vater, du verlangst von mir, daß ich ein
Kind, das heute abend geboren wird, zu mir nehme und dafür sorge,
daß es morgen früh spricht; das forderst du von mir und erklärst,
daß du mich töten willst, wenn ich das nicht vermag. Ich erkläre
mich vor allen diesen Zeugen hiermit einverstanden unter der Bedingung,
daß, wenn ich das Unmögliche, was du jetzt unter Todesdrohung
von mir verlangst, möglich mache, daß du dann selbst zu
meinen Gunsten auf das Leben und das Emirat verzichtest." Der
Emir sagte: "Das ist mir recht. Denn wenn du hiernach nicht
stirbst, hat das Leben für mich auch keinen Wert mehr." Der Sohn
ging.
Am Abend ward in der Stadt ein Kind geboren. Man brachte es
in das Haus des jüngsten Sohnes. Die Tochter des Alledjenukönigs
legte es auf eine Matte. Der jüngste Sohn des Emirs und seine Frau
legten sich zum Schlafen nieder. Am andern Morgen erwachten sie
von einem starken Geräusch. Der Emir war mit allen angesehenen
Leuten gekommen und wartete vor dem Hause. Der Emir betrachtete
das neue, große Haus und die Gärten, und alle Leute stießen
Schreie der Bewunderung aus. Der Emir forderte laut Einlaß.
Da erhob sich der kleine Knabe, der am Tage vorher geboren
war, von der Matte, auf die ihn die Tochter des Alledjenukönigs
gelegt hatte, ging hin und öffnete das Tor. Der kleine Knabe blickte
auf den Emir und die angesehenen Leute, die um ihn waren. Der
Emir sagte: "Ist das nicht der Knabe, der gestern geboren wurde?"
Die Leute sagten: "Ja, das ist er!" Der kleine Knabe sagte: "Ja,
ich bin der Knabe, der gestern abend geboren war. Ich kann, wie
du und alle Zeugen hier hören, sprechen, und du hast damit dein
Leben und dein Emirat verloren." Als der Knabe das gesagt hatte,
fiel der Emir hin und war tot.
Darauf wurde sein jüngster Sohn der Herr des Landes.
8. Der Silberschmied
Ein sehr reicher Mann hatte zwei Söhne. Der Mann sagte: "Der
Reichtum zerfließt, aber ein gutes Können erhalt." Er dachte
lange darüber nach, und endlich ließ er seinen ältesten das Handwerk
eines Blechners (Samkari), den jüngeren aber, der ein sehr
schöner Knabe war, das eines Silberschmieds (Ssaig) erlernen.
Nachdem nun jeder der Burschen etwas Gründliches gelernt hatte,
sagte der Vater zu ihnen: "Meine Söhne, nun braucht ihr nicht
weiter nach eurem Handwerk zu sehen. Ich bin wohlhabend genug,
euch geben zu können, was ihr braucht. Wählt euch also ein Geschäft
aus, das euch am besten gefällt, betreibt es, und erst, wenn
ihr etwa sonst in Schwierigkeiten kommt, kehrt zur Tätigkeit eures
Handwerks zurück."
Jeder der beiden Söhne mietete sich also einen Laden im Basar
und richtete ein Kaufmannsgeschäft ein. Beide betrieben den Handel,
jeder für sich, und zwar so lange, als der Vater lebte und noch
einige Jahre weiter; dann aber hatten sie das ganze Vermögen
ihres Vaters verbraucht und waren gänzlich arm. Der ältere Bruder
sagte zum jüngeren: "Nun werden wir unsere Freunde nicht mehr
zur Azurne einladen können. Nun werden wir keine Mädchen mehr
kommen lassen und keinen Wein mehr trinken können." Der
jüngere sagte: "Ja, mein Älterer, das wird nun alles nicht mehr sein,
denn wir haben alles verbraucht, was wir von unserem Vater geerbt
hatten."
Die Mutter sah, daß ihre beiden Söhne sehr traurig waren. Die
Mutter sagte: "Meine Söhne, was seid ihr traurig? Da ich euch
selber die Erbschaft eures Vaters ausgeteilt habe, weiß ich, wieviel
es war, und da ich euer Leben beobachtete, weiß ich auch, daß ihr
alles verbraucht haben müßt, und dieses wird also der Grund eurer
Traurigkeit sein." Die beiden Söhne sagten: "Meine Mutter, du hast
recht, so ist es!" Die Mutter sagte: "Dann aber, meine ich, habt
ihr keinen Grund zur Traurigkeit. Euer Vater war ein kluger Mann,
und darum hat er jeden von euch ein Handwerk lernen lassen.
Kehrt zu diesen Arbeiten zurück und verdient euch so euren Unterhalt.
Wenn diese Arbeit euch dann einmal zu schwer wird, denkt
an die fröhlichen Stunden zurück, die ihr früher hattet, und so
werdet ihr immer vergnügt aus einer früheren Zeit Nutzen und Erfrischung
haben." Die beiden Söhne stimmten der Mutter zu.
Der Blechner kehrte nun zu seinem früheren Meister zurück und
nahm die Arbeit bei diesem wieder auf.
Da er tüchtig und emsig seinem Werke nachging, so war der
Blechnermeister sehr zufrieden. Der Alte hatte keinen Sohn, wohl
aber eine Tochter, und als er nun sah, daß ihm wohl schwerlich ein
besserer Eidam werden könne, gab er dem Sohne des Kaufmanns
seine Tochter zur Frau und zog sich selbst mehr und mehr vom
Geschäft zurück.
Der jüngere Sohn, der ein Silberschmied und ein sehr schöner
junger Mann war, zog dagegen in das Haus seiner Mutter und begann
selbst eine kleine Werkstatt zu eröffnen. Die Mutter ging ihm
dabei in allem zur Hand und sagte zu ihrem Sohne oft: "Glaube
mir, an solchem durch Arbeit gewonnenen Verdienst wirst du mehr
Freude haben, als an allem Ererbten." Die Mutter sagte aber auch:
"Mein Sohn, mache deine Arbeit für jedermann. Jedermann wird
dich lieben und gern haben. Ich warne dich aber vor einem: hüte
dich vor den Leuten, die aus der Wüste kommen. Es sind Leute
darunter, die das beste anbieten und anfangs auch geben, nur um
nachher die Beschenkten zu eigenem Vorteil der Vernichtung preiszugeben.
Noch kurz, ehe dein Vater starb, hat er mir gesagt, ich
solle dich vor diesen Leuten warnen." Der Silberschmied sagte:
"Meine Mutter, ich werde deine Warnung befolgen."
Der Silberschmied war emsig und fleißig und verdiente mancherlei,
da er außerdem geschickt war und die Frauen nach der Frauen
Weise bei ihm, seiner jungen Schönheit wegen, lieber arbeiten
ließen, als bei alten und häßlichen Männern. Aber der Silberschmied
mußte oft viel arbeiten und manches Mal untätig neben dem Werkzeug
sitzen, weil er nicht Mittel genug hatte, eine Arbeit auf eigene
Gedanken, mit eigenem Gold oder Silber herzustellen, um sie dann
liegen zu lassen, bis sich ein Liebhaber finde.
Eines Tages traf ein Mann mit dem jungen Silberschmied auf
dem Markte zusammen, von dem der junge Mann schon gehört
hatte, daß er ein Goldhändler sei und ein großes Besitztum habe.
Der Goldhändler nun setzte sich zu dem Silberschmied, sprach mit
ihm und fragte ihn, ehe er ging: "Du bist ein braver Bursche und
ein tüchtiger Arbeiter. Was verdienst du denn mit deinem Gewerbe?"
Der Silberschmied sagte: "Den einen Tag verdiene ich
hundert, manchen Tag fünfzig, andere zwei und einen und viele,
viele Tage auch keinen Piaster." Der Goldhändler sagte: "Das ist
zu wenig für einen so tüchtigen Burschen, wie du bist. Nimm hier
dieses Zweigstück, lege es auf einen Topf voll Zinn und schmelze
es. Was du gewinnst, mag dein sein!" Der Goldhändler gab ihm
ein rotes Stückchen Holz und ging.
Der Silberschmied ging sogleich zu einem Nachbarn, der viel
Rasaß (Zinn) hatte, und sagte: "Leihe mir doch eine Schüssel voll
von diesem Zinn." Der Freund gab es. Der Silberschmied eilte
zurück in seine Werkstatt, füllte seinen Tiegel mit Zinn, legte das
Holzstückchen darauf und schmolz es. Als die geschmolzene Masse
aber kalt war, sah er, daß der ganze Tiegel voller Gold war. Er
verkaufte nun das Gold, zahlte seinem Freund den Betrag für das
Zinn zurück und kam durch die Gabe des fremden Goldhändlers
in den Besitz eines ansehnlichen Betrages.
Nach einigen Tagen kam der Goldhändler wieder seines Weges
daher. Der Silberschmied lief zu ihm, bat ihn, ein wenig bei ihm
Platz zu nehmen, und sagte ihm, als der reiche Mann der Einladung
Folge geleistet hatte: "Ich frage dich nun, wieviel ich dir von dem
Gelde abzahlen muß, das ich durch den Verkauf des Goldes verdient
habe." Der Goldhändler lachte und sagte: "Ich sagte es ja. Du
bist ein ehrlicher und tüchtiger Bursche. So war das aber nicht
gemeint, und jenes Stückchen gelben Holzes habe ich dir geschenkt.
Was du damit verdient hast, ist dein." Der junge Silberschmied
sank seinem Wohltäter nun zu Füßen und sagte: "Mein Vater, wie
habe ich solche Güte verdient! Mein Vater, wie soll ich dir für
solche Güte danken." Der Goldhändler sagte: "Mein junger Mann,
ich mag dich leiden und das genügt. Seitdem ich nun aber auch
deine unbegrenzte Dankbarkeit erkannt habe, bist du mir lieb, wie
mein eigenes Kind. Ich will dich also die Kenntnis der Goldbereitung
lehren, damit du für dein Leben keine Sorgen mehr zu haben
brauchst."
Der junge Silberschmied wollte dem alten Goldhändler wieder in
Dankbarkeit zu Füßen fallen; der Alte sagte aber: "Laß das jetzt.
Vielmehr wollen wir gleich die Belehrung beginnen. Nur wollen
wir schnell irgendwo einen Imbiß nehmen, damit wir für eine kleine
Wanderung, die uns bevorsteht, gestärkt sind. Wohnst du vielleicht
hier in der Nähe?" Der junge Silberschmied sagte: "Ich wohne
nicht weit von hier bei meiner Mutter. Ich schließe schnell meine
Werkstatt, und dann können wir uns gemeinsam auf den Weg
machen. Steige nur schon auf deinen Esel. Ich laufe zu Fuß nebenher."
Der alte Goldhändler stieg also auf seinen Esel, ritt in der
angegebenen Richtung und wurde bald von dem schnellen jungen
Silberschmied eingeholt.
Als der reiche Goldhändler es sich bei ihm bequem gemacht hatte,
sagte der junge Silberschmied: "Warte einen Augenblick, ich will
nur schnell meine Mutter benachrichtigen, daß sie ein wenig Essen
vorbereite." Er ging zu seiner Mutter hinüber, um mit ihr zu
sprechen. Seine Mutter aber kam ihm händeringend entgegen und
sagte: "Mein Sohn! Mein Sohn! Wen hast du da in mein und dein
Haus gebracht! Das ist jener Mann, vor dem ich dich gewarnt
habe. Das ist der Mann, der den jungen Leuten erst Wohltaten
erweist, um sie dann, wenn es sein Vorteil erheischt, verschwinden
zu lassen. Mein Sohn, das ist der Mann, vor dem dein Vater uns vor
seinem Tode gewarnt hat! Mein Sohn, laß diesen Mann fortgehen.
Ich flehe dich an!" Der junge Silberschmied aber sagte ärgerlich:
"Meine Mutter, über alle reichen und absonderlichen Menschen
wird viel gesprochen. Laß mich für heute damit in Frieden; richte
vielmehr bald ein gutes Essen her, da wir nachher zusammen wegreiten
wollen. Hier hast du einiges Gold, kaufe was nötig und nimm
einen Knaben zum Bedienen." Und ohne weiter auf die Einsprache
seiner Mutter einzugehen, begab sich der junge Silberschmied zum
Goldhändler.
Nach einiger Zeit sandte die Mutter durch den schnell gewonnenen
Diener die Nachricht, daß das Essen bereit stünde, und somit
machten sich denn beide Männer zum Essen bereit. Als sie sich
nun bei der Mahlzeit befanden, langte der reiche Goldhändler eine
kleine Flasche aus der Tasche und tropfte unbemerkt dem jungen
Mann davon in den Sorbet. Kaum hatte der junge Silberschmied
aber davon getrunken, so fiel er in tiefer Ohnmacht wie betrunken
hintenüber.
Sobald dies aber geschehen war, nahm der Goldhändler den zu
Boden Gesunkenen auf und trug ihn zum Zimmer hinaus und zu
seinem Esel. Er legte den Silberschmied quer über den Eselsnacken,
deckte einen Sack darüber, stieg selbst auf und trabte durch die
Stadt zum Tore hinaus.
Der Goldhändler ritt mit dem ohnmächtigen Silberschmied weit,
weit in die Wüste hinaus. Am andern Tag hielt er erst an, legte
den Ohnmächtigen in den Sand und blies ihm ein Pulver in die
Nase. Durch dieses Pulver ward der junge Silberschmied zum Leben
zurückgerufen. Er hob den Kopf und fragte den Goldhändler: "Wie
komme ich denn aus dem Hause meiner Mutter in diese Wüste?"
Der Goldhändler sagte: "Dies ist nur ein kleiner Vorgang. Wir sind
gemeinsam auf der Reise zu dem Platze begriffen, an dem allein
das goldmachende Kraut wächst. Ich habe dich aber mitgenommen,
damit du diese Sache auch kennenlernen und dich dieser Kenntnis
nutzbringend erfreuen mögest."
Der junge Silberschmied ward hierdurch vollkommen beruhigt,
zumal der Goldhändler ihm in der Ferne einige Berge zeigte, in
denen die wunderbaren Gewächse heimisch waren. Der Goldhändler
bestieg seinen Esel, und der junge Mann lief fröhlich nebenher. Das
ging so lange, bis sie an die Berge kamen. Die Berge fielen aber
rund herum viele hundert Fuß hoch schroff ab, so daß es unmöglich
war, an den Abhängen irgendwie hinaufzukommen.
Der Goldhändler sagte: "Siehst du die Bäume, die da oben an der
Felskante wachsen? Nun, das Holz dieser Bäume verwandelt Zinn
in Gold, und deine Aufgabe besteht nur darin, sobald du oben bist,
mir möglichst viele von den abgestorbenen Ästen dieser Bäume
herabzuwerfen. Wenn du nachher wieder herunterkommst, können
wir den Erlös miteinander teilen." Der junge Silberschmied sagte:
"Das ist alles recht gut. Wie soll ich aber da hinaufkommen?"
Der Goldhändler lachte und sagte: "Das will ich dir schnell zeigen.
Da helfen uns andere Leute."
Der Goldhändler hatte ein Schaf mitgebracht. Er schlachtete es,
und sowie das Blut zu Boden tropfte, sagte der Alte: "Sieh, mein
Sohn, wie der große Gjau (Adler) nun dort oben auf der Bergspitze
herumfliegt. Er sieht nach Nahrung für seine Kinder. Ich werde
die Knochen und das Fleisch aus dem Hammelfell schälen und dich
dann hineinnähen. Ich werde zurücktreten, und der Adler wird
sogleich herabkommen. Der Adler wird dich im Hammelfell herauftragen.
Sowie du oben sein wirst, schneidest du mit diesem kleinen
Messer, das ich dir mitgebe, die Haut auf und steigst aus dem Fellmantel.
Danach brichst du möglichst viele von den trockenen
Ästen der Bäume, deren Holz zur Goldgewinnung dient, ab und
wirfst sie herab. Wir teilen diese Zweige, sobald du wieder nach
unten gekommen sein wirst. Ist es nicht sehr einfach?"
Der junge Silberschmied sagte: "Ja, das ist sehr einfach. Nähe
mich nur schnell in die Schafhaut!" Der Goldhändler nähte den
jungen Silberschmied in die Schafhaut. Er trat bei Seite. Von der
Höhe aus sah das der Adler und kam herab. Er trug den eingenähten
Silberschmied hinauf auf den Berg und legte ihn zwischen die
Bäume nahe dem Neste, in dem seine Jungen waren, nieder.
Dann machte der Silberschmied aber ein Geräusch. Der Adler
flog auf, der junge Mann trennte mit dem kleinen Messer die Haut
auf und kam heraus. Er sah sich mitten zwischen den Bäumen,
von deren Ästen, wie er jetzt erkannte, der Goldhändler ihm vor
einiger Zeit ein Stück gegeben hatte, das, mit dem aufgekochten
Zinn verbunden, dann Gold ergeben hatte. Weit, weit unten sah
der junge Silberschmied auch den Goldhändler mit seinem Esel
stehen, und er beeilte sich, schnell viele von den dürren Zweigen
abzubrechen und herabzuwerfen. Als er nun große Mengen davon
gebrochen und hinabgeworfen hatte, sagte er: "Es ist schon spät!
Ich möchte nun wieder hinunter von diesen Felsen und aus diesem
Wald."
Der junge Mann sah sich nach einem Weg um, auf dem er hinabkommen
könne. Aber ebensowenig, wie er vorher einen gesehen
hatte, der ihn hätte heraufbringen können, ebensowenig fand er
jetzt einen solchen, der hinab geführt hätte. So trat er denn an die
Kante des Felsabsturzes und rief dem Goldhändler zu: "Wie komme
ich nun wieder hinab?" Der Goldhändler hatte unten alles Holz in
Säcke gesteckt und auf seinen Esel geladen. Als der Silberschmied
ihn anrief, sagte er: "Viele sind da schon hinauf gekommen, keiner
aber bisher wieder herunter. Sieh dich nur um, so wirst du viele
Kameraden finden." Nach dieser Antwort trieb der Goldhändler
seinen Esel an und zog mit ihm durch die Wüste, der fernen
Stadt zu.
Der junge Silberschmied sah sich inzwischen um. Er sah nun
allenthalben Knochen von Menschen, die hier oben verhungert und
verdurstet waren. Einige waren sehr alt und morsch, andere konnten
noch nicht lange hier liegen. Eine große Anzahl von Menschen
war hier hinauf gekommen und dann gestorben. Der junge Silberschmied
sagte: "Ich will nicht so schnell sterben. Lieber will ich
mich umsehen, ob ich nicht auf der andern Seite des Berges ein
Unterkommen finde." Damit machte der junge Mann sich auf und
ging nach der andern Seite. Er wanderte erst durch den Wald. Und
der Wald mit seinen Gold spendenden Bäumen wollte kein Ende
nehmen; allenthalben sah er auch noch die Knochen verhungerter
Menschen. Endlich wurde das rote Holz der Bäume spärlicher. Es
wurde lichter.
Der junge Silberschmied war schon sehr müde, aber er ging
weiter und weiter. Die Menschenknochen wurden immer seltener
und endlich hörten sie auf. Er ging nun über eine weite Ebene hin,
bis er am Horizonte einen Garten erkannte, aus dessen Mitte ein
hohes Gasr (Turmgebäude) auftauchte. Der Silberschmied nahm
seine Kräfte zusammen und erreichte das Gebäude. Als er aber die
Hand an die Türe legte, fiel er ohnmächtig und völlig erschöpft zu
Boden. Als er wieder zu sich kam, fand er sich in einem großen
Zimmer, auf weiche Kissen gelegt, in eine Luft süßer Düfte gehüllt
und umgeben von sieben sehr schönen Mädchen. Als er die Augen
aufschlug, sagte das älteste Mädchen: "Sieh, auch seine Augen sind
schön!" Die andern Mädchen brachten ihm nun zu trinken. Sie
befahlen den Sklavinnen, dem Kranken Kühlung zuzufächeln, und
als er sich ein wenig aufrichtete und fragte: "Wo bin ich denn?"
da sagte eine von ihnen: "Du befindest dich im Hause der Töchter
des Alledjenukönigs."
Der junge Silberschmied mußte nun seine Erlebnisse erzählen.
Das älteste Mädchen sagte, nachdem er geendet hatte: "So macht
es dieser schlechte Mensch jedes Jahr, Jahr um Jahr! Er opfert in
einem Widderfell immer einen Mann, um zu seinem roten Goldholz
zu kommen. Und alle die hübschen jungen Männer sind im Walde
des roten Holzes gestorben, bis auf dich, der du unser Gasr erreicht
hast. Du mußt nun ein Jahr bei uns bleiben. Dann kommt der
schlechte Mann wieder, um in einem Widderfell wieder einen jungen
Menschen durch unsere Adler herauftragen zu lassen. Dann werden
wir dich aber auf einem unserer jungen Adler herabsenden, und du
mußt den Mann töten." Der junge Silberschmied sagte: "Ich kann
mir nichts Angenehmeres denken, als ein Jahr in eurer Gesellschaft
weilen zu dürfen. Es tut mir nur weh, daß meine Mutter sich
meinetwegen so viele Sorgen machen wird."
Der junge Silberschmied blieb nun ein Jahr lang in dem Gasr der
Alledjenutöchter. Er wurde bewirtet und versorgt, wie der Sohn
eines Sultans. Jeder seiner Wünsche ging in Erfüllung, und er lernte
in Bälde das Leben der Prinzen führen, die nicht nur unbegrenzt in
ihren Wünschen, sondern auch würdig und gemäßigt eine reichere
Umgebung zu genießen wissen. Der junge Silberschmied war daher
sehr erstaunt, als die sieben Schwestern ihm eines Tages in großer
Betrübnis sagten: "Du hast nun fast ein Jahr mit uns gelebt, und
wir haben dich lieb gewonnen wie einen Bruder. In wenigen Tagen
wird der reiche Goldhändler wiederkommen. Dann mußt du uns
verlassen." Als die Mädchen das sagten, wurde der Silberschmied
sehr traurig.
Nach einigen Tagen brachte die eine der Schwestern dem jungen
Silberschmied einen jungen Adler. Eine andere Schwester gab ihm
ein Saif (Schwert). Sie sagten: "Deine Zeit ist abgelaufen. Fliege
nun erst hinunter und bringe uns den Kopf des schlechten Mannes
herauf. Nimm für den Burschen, den er wieder mitgebracht hat,
um ihn auf die Berge zu schicken, einiges von dem roten Holz mit."
Der junge Mann nahm Abschied von den Schwestern. Er hing das
Schwert um und bestieg den Adler. Der Adler aber führte ihn
schnell zu dem Walde mit den roten, trockenen Ästen und ließ sich
da nieder. Der junge Mann stieg ab; er blickte von der Felskante
herab in die Wüste. Unten stand der alte Goldhändler mit einem
jungen Burschen und hatte soeben das Messer herausgezogen, um
einem Widder die Kehle durchzuschneiden.
Da brach der junge Silberschmied einige trockene Äste von den
Bäumen, stieg auf den Adler, flog hinab und zog während des
Hinabgleitens sein Schwert. Der Adler ließ sich hinter dem alten
Goldhändler, der den Widder schlachtete, nieder, und dieser nahm
den Silberschmied erst wahr, als er mit geschwungenem Schwert
hinter ihm stand. Der Silberschmied schlug zu. Der Kopf des Goldhändlers
fiel in den Sand und vor die Füße des Burschen, den jener
mitgebracht hatte. Der Bursche schrie auf: "Oh, warum hast du
den guten, alten Mann getötet!" Der Silberschmied sagte: "Dieser
Mann war nicht gut!" Danach erzählte er dem Burschen alles, was
er selbst und in viel schrecklicherer Weise viele andere vor ihm
erlebt hatten. Der Bursche erkannte nun, in welcher Gefahr er geschwebt
hatte und dankte dem Silberschmied für seine Rettung.
Der Silberschmied aber sagte: "Du, mein Bursche, nimm nun den
Esel des schlechten Goldmachers und kehre auf dem Weg, auf dem
du gekommen bist, möglichst schnell heim. Nimm hier diese dürren
roten Zweige, deren Verwendung du kennst und deren Ausnützung
dich bis an dein Lebensende vor Not schützen wird." Danach
steckte der Silberschmied das Schwert wieder ein, nahm die Medikamente
aus dem Rock des Goldmachers, nahm den abgeschlagenen
Kopf, bestieg den Adler und flog wieder empor zu den sieben
Alledjenuschwestern.
Seinem Versprechen gemäß überreichte er ihnen den Kopf des
schlechten Goldmachers. Sie dankten ihm und baten ihn, noch
länger bei ihnen zu verweilen. Er aber sagte, daß er seine Mutter
schon lange in Sorge allein gelassen habe und daß er unbedingt zu
ihr zurückkehren müsse. Das sahen die sieben Töchter des Alledjenukönigs
ein. Sie nahmen weinend Abschied von ihm, und jede
gab ihm noch ein kostbares Andenken. Er bestieg seinen Adler,
flog am Walde vorbei, nahm noch einige dürre Zweige mit sich,
und dann trieb er seinen Vogel an, ihn schnellstens der Heimat
zuzutragen.
Der junge Silberschmied fand seine Mutter noch lebend vor. Die
sieben Alledjenutöchter hatten ihr öfter im Schlaf gesagt, daß ihr
Sohn noch lebe und in nicht allzu ferner Zeit als ansehnlicher Mann
wiederkehren werde. Zwar hatte sie so viel geweint, daß sie blind
geworden war; als ihr Sohn ihr jetzt aber um den Hals fiel und sie
küßte, ward sie wieder sehend. Der wiedergekehrte Silberschmied
hatte so reiche Schätze mitgebracht und hatte in der Zeit seines
Aufenthalts bei den Alledjenutöchtern sein Wesen so geändert, daß
niemand glauben wollte, daß dies der frühere Silberschmied sei.
9. Mussas Dankbarkeit*
Ein Mann namens Mussa war außerordentlich wohlhabend und
genoß wegen seines Reichtums einen Namen, der war weithin
über das Land bekannt. Es gab weit umher niemand, der so viele
Herden und Sklaven und so großen Einfluß im Lande besaß, als
dieser Mussa. Dieser Mussa war zudem über alle Maßen stark.
Wenn er in die Wüste zur Jagd ritt und einer Hyäne, einem Löwen
oder sonst einem wilden Tier begegnete, pflegte er vom Pferd zu
springen und das Tier mit den Händen anzugreifen. Er überwand
dann das Tier, band es und brachte es mit nach Hause. Daheim
aber ließ er es in seiner Seriba in einem Verschlag frei und gab ihm
zu fressen. Zuletzt hatte er so viele Tiere der Wüste in seinem
Hause, daß die Leute des Ortes, in dem er wohnte, sich vor ihm zu
fürchten begannen, und daß sie zu guter Letzt zu ihm kamen und
sagten: "Unser Freund Mussa, du bist zwar sehr reich und stark,
du bist zwar reicher und stärker als wir alle, du hast aber nun so
viele wilde Tiere in deiner Seriba, daß wir uns vor dir fürchten und
dich bitten, einen andern Platz aufzusuchen und an einem andern
Platz deine Seriba mit den wilden Tieren aufzuschlagen." Darauf
machte sich Mussa auf, bepackte seine Kamele, Ochsen und Pferde
und zog an einen fernen Ort in der Wüste. Mussa hatte aber sieben
Söhne, die liebte er sehr, und diese halfen ihm bei dem Zuge in die
Wüste.
Als Mussa seine Seriba aufgeschlagen hatte, ließ er eines Tages
sein Pferd satteln, ergriff seine Lanze und sagte: "Meine sieben
Söhne, ich ziehe fort zur Jagd; bewacht ihr die Seriba." Dann ritt
er fort. Als er aber noch nicht lange fortgeritten war, kamen
Räuber, schlichen sich an die Seriba, drangen hinein, schlugen die
sieben Söhne Mussas tot und trieben alles Vieh von dannen, so daß
nichts mehr davon dort blieb und daß, als Mussa endlich von der
Jagd heimkam, das Lager schweigend dalag. Mussa war über die
Stille sehr erstaunt und sagte: "Ich höre kein Pferd, keinen Esel,
kein Kamel, kein Rindvieh, keine Schafe, keine Ziegen und keinen
meiner Söhne." Mussa band sein Pferd draußen an einen Pfahl und
ging in seine Seriba. Mussa ging in die Seriba und fand alle Viehhürden
leer. Mussa traf auf die Leichen seiner Söhne. Mussa war
in großer Wut. Er rief den Namen seiner ersten Frau. Seine erste
Frau, die gerade schwanger war, hatte sich aber in ihrer Hütte versteckt
und kauerte da am Boden. Sie wagte nicht zu antworten.
Mussa rief wieder den Namen seiner ersten Frau, und als sie nicht
antwortete, stieß er in noch wachsender Wut seine Lanze durch die
Wand.
Das Weib schrie innen auf. Die Lanze hatte ihren Leib getroffen
und das Kind in ihrem Leib getötet. Die Frau und das Kind starben
just, als Mussa hereintrat. In ihrer Todesangst schleuderte die Frau
aber ein Holzscheit nach dem Eintretenden, denn sie erkannte
Mussa nicht mehr. Das Holzscheit traf Mussa am Kopfe und zerstörte
ihm ein Auge. Mussa trat zurück und ging zu dem Hause
seiner zweiten Frau. Er traf sie; er rief sie. Er wollte mit seiner
zweiten Frau den Platz verlassen und ging zum Eingang der Seriba,
an dem er sein Pferd draußen angebunden hatte.
Inzwischen hatte sich aber ein Löwe, angelockt durch den Blutgeruch
der getöteten Söhne, an die Seriba herangeschlichen. Er
kam zu dem Pferd. Er sprang auf das Pferd und tötete es. Mussa
kam gerade in diesem Augenblick. Mussa rannte mit seiner Frau
so schnell er konnte von dannen. Er stieg mit seiner Frau auf einen
Baum. Der Löwe packte aber die Frau am Bein, riß sie herab und
tötete sie. Dann fraß der Löwe unten die Frau, während Mussa
oben in den Zweigen hockte. Die ganze Nacht blieb der Löwe unter
dem Baum, und erst am andern Morgen konnte Mussa herabsteigen
und weiterwandern. Als Mussa weiterging, besaß er nichts mehr
als die zerrissenen Kleider, die er auf dem Leibe hatte.
Mussa ging weiter. Er kam an eine Elefantenfallgrube (kol
scharak). Da sie mit Zweigen bedeckt war, auf die er trat, stürzte
er hinab. Nachdem Mussa einige Zeit auf dem Boden der Elefantenfallgrube
gelegen hatte, kamen Elefanten des Weges, und ein Elefant
stürzte herab und fiel so auf Mussa, daß Mussa nicht mehr
imstande war, sich zu bewegen. So lag Mussa die ganze Nacht.
Am andern Morgen kamen aber die Leute, die die Fallgrube angelegt
hatten, und sahen den Elefanten unten liegen. Darauf stiegen
sie hinab, schnitten den Elefanten auf und nahmen die Fleischstücke
heraus. Als sie aber das letzte hinauftrugen, fanden sie einen
Mann. Sie zogen den Mann unter dem Fell des Elefanten hervor
und brachten ihn nach oben aus der Grube. Als sie nun im Lichte
der Sonne den Mann, den sie in seinen Lumpen und von oben bis
unten beschmutzt, zerstoßen und zerfetzt durch Wurzeln und Steine,
mit einem ausgeschlagenen Auge und verwundeten Gliedern vor
sich stehen sahen, riefen sie: "Ist das nicht Mussa? Ist das nicht
der reiche und starke, der glückliche Mussa ?" Einige Leute sagten:
"Seht, wie elend er geworden ist!" Ein Mann sagte: "Dieser Mussa
hat mir einmal einen Verwandten getötet. Damals war Mussa reich,
und ich konnte ihm nichts anhaben. Jetzt aber, wo er arm und
elend ist, will ich ihn wieder töten. Ihr andern! Gebt mir den Mussa
als Gefangenen!" Die andern Männer aber wandten sich ab und
sagten: "Nimm deinen Gefangenen! Wir werden dich in keiner
Weise hindern."
So ward Mussa zum Sklaven.
Der Mann nahm Mussa mit sich heim. Daheim legte er ihm
Ketten an und fesselte einen seiner Füße mit Eisenringen an den
Fuß eines andern Gefangenen. Der Mann sagte zu Mussa: "Heute
sollst du noch als Kettensklave leben; morgen werde ich dich aber
töten." Als es Nacht war, sagte der andere Gefangene zu Mussa:
"Komm und flieh mit mir!" Mussa sagte: "Nein, ich bin noch nie
geflohen. Ich fliehe nicht!" Der andere Gefangene sagte: "Ich
kann, da ich mit dem Fuß an dich gefesselt bin, nicht fliehen. Also
flieh mit mir!" Mussa sagte: "Nein, ich fliehe nicht. Was soll mir
daran liegen zu leben, nachdem ich geflohen bin?" Da sagte der
andere Gefangene nichts mehr.
Als Mussa aber eingeschlafen war, fiel der andere Gefangene
nachts über ihn her, band ihm die Hände zusammen und verstopfte
ihm den Mund, damit er nicht schreien könnte. Mussa war aber so
schwach geworden durch Blutverlust, Hunger und Durst, daß er
sich nicht zu wehren vermochte. Dann nahm der andere Gefangene
Mussa auf und hinkte mit ihm von dannen. Sie waren ein gut Stück
so weiter gekommen, als eine Löwin mit ihren Jungen durch den
Busch kam und auf die aneinander gefesselten Gefangenen zusprang.
Sie waren in der Nähe eines Baumes. Der andere Gefangene
konnte aber nicht anders hinaufkommen, als indem er
Mussa auf die untern Zweige schob und gleichzeitig mit hinaufklomm.
Die Löwin packte aber den andern Gefangenen und begann
Arme und Kopf und Teile vom Körper zu reißen. Zuletzt hatte
Mussa nur noch den Fuß des Mitgefangenen fest an sein eigenes
Bein geschmiedet neben sich. Die Löwin lief dann aber mit den
Jungen fort. Jeder von ihnen trug ein Stück des andern Gefangenen.
Als Mussa sah, daß er allein war, begann er die Stricke, mit
denen der andere Gefangene ihn an den Händen gefesselt hatte,
am Baume durchzuschaben. Sobald er aber die Hände befreit hatte,
nahm er den Knebel aus dem Munde, stieg von den Baumzweigen,
auf die er gedrängt war, hinab und ging mit dem festgeschmiedeten
Fußstumpf des zerrissenen Gefährten von dannen, so weit, bis er
zu einem Orte kam, dem ein wohlhabender und angesehener Araber
vorstand.
Nun hatte Mussa nichts mehr. Sein ganzes Besitztum war verloren,
alle Glieder seiner Familie waren tot. Sein Name war verdorben,
und am Fuße hatte er noch den eisernen Ring der Gefangenschaft.
Mussa ging zu dem Araber und sagte: "Ich bitte, nimm
mich als Wächter und Diener deiner Herden auf. Ich will treu
wachen und dir unermüdlich dienen." Der Araber sah Mussa. Er
kannte Mussa nicht, aber er nahm ihn auf und vertraute ihm seine
Herden an. Der Araber sah, daß Mussa seine Pflicht treu und redlich
erfüllte und seine Herden sorgsam hütete. Als der Araber das
aber sah, rief er Mussa eines Tages zu sich und sprach zu ihm:
"Mussa, ich sehe, daß du deiner Arbeit so gut vorstehst, als habest
du früher selbst einmal große Herden besessen." Der Araber
schwieg. Mussa schwieg aber auch und sagte nichts. Der Araber
fuhr fort: "Ich habe zwei mir teure Menschen; der eine ist mein
Sohn, der in die Ferne gezogen ist; der andere ist meine Schwester.
Ich will dir meine Schwester zur Frau geben, daß du mit ihr Kinder
zeugst." Der Araber gab also Mussa seine Schwester zur Frau, und
Mussa nahm sie zu sich und schlief bei ihr, so daß sie bald schwanger
war.
Wenige Tage aber, nachdem Mussa mit der Schwester des Arabers
verheiratet worden war, kehrte in einer dunklen Nacht der Sohn des
Arabers aus der Ferne nach dem Orte zurück, an dem sein Vater
wohnte. Im Dunkel der Nacht richtete er sich nach dem Geräusch,
das draußen im Busch das Vieh verursachte, und er kam bis nahe
zu dem Vieh. Da merkte aber Mussa, der Wächter, der den Sohn
des Arabers nicht kennen konnte, daß ein fremder Mann auf die
Hürden zukam. Mussa hielt den fremden Mann aber für einen Viehräuber,
und deshalb warf er mit der Lanze nach ihm. Der Sohn des
Arabers rannte mit der schweren Wunde noch ein Stück weit, dann
stürzte er hin und starb.
Am andern Morgen fanden die Bewohner des Ortes den toten
Araber. Sie hoben ihn auf und trugen ihn in das Haus des Vaters.
Sie sagten zu dem Araber: "Wir bringen dir hier deinen Sohn, wir
haben ihn draußen tot gefunden." Der Araber sagte aber zu den
Bewohnern des Ortes: "Das ist nicht wahr! Ihr habt meinen Sohn
nicht tot gefunden, sondern ihr habt ihn totgeschlagen!" Die Bewohner
des Ortes sagten: "Nein, wir haben nichts Derartiges getan.
Es muß irgendein anderer getan haben." Die Bewohner des Ortes
stritten gegen den Araber. Der Araber wollte zwei Leute aus dem
Ort töten. Die Bewohner des Ortes sagten aber: "Töte niemand!
Wenn wir auch am Tode deines Sohnes unschuldig sind, so wollen
wir doch lieber Sühne zahlen, als daß es zu einem Streit komme.
Sage nur, was du verlangst!" Der Araber sagte: "Zahlt mir hundert
Kühe!" Die Leute sagten: "Wir wollen dir hundert Kühe zahlen,
damit Frieden bleibe!" Der Araber war einverstanden. Die Leute
zahlten die hundert Kühe, und der Araber rief Mussa. Mussa kam.
Der Araber sagte: "Du Mann meiner Schwester und du Freund!
Nimm dein Weib, nimm diese hundert Stück Rindvieh und alles,
was ich dir sonst geben kann. Ziehe mit allem andern dann fort
von hier, schlage eine eigene Seriba auf und sieh zu, was sonst
wird."
Darauf packte Mussa alles zusammen, was er der Freundlichkeit
des Arabers verdankte, und zog mit seinem Weibe, das die Schwester
des Arabers war, und allem Rindvieh von dannen und baute eine
eigene Seriba. Nach einiger Zeit aber gebar seine Frau einen
Knaben. Das Vieh Mussas war aber auch fruchtbar, und so vermehrte
sich sein Besitz von Tag zu Tag und von Monat zu Monat.
Der kleine Sohn, den Mussa von seiner Frau, der Schwester des
Arabers, hatte, wuchs heran und wurde ein schöner und starker
Jüngling.
Mussa achtete aber darauf, wie groß sein Sohn sei und wie alt.
Als er so groß und so alt war, wie der Sohn des Arabers, den er,
Mussa, eines Nachts erschlagen hatte, schrieb Mussa einen Brief,
in dem stand: "Versehentlich habe ich eines Nachts Deinen Sohn
erschlagen, als er groß und stark war, wie der Bursche, der Dir
diesen Brief bringt. Damals hatte ich schon Deine Schwester von
Dir zur Frau erhalten, daß ich Kinder mit ihr zeuge. Sie hat mir
dann den Sohn geboren, der so groß und stark ist als Deiner war.
Somit schicke ich Dir denn den Sohn hiermit zu und bitte Dich,
daß Du meinen Sohn tötest, so wie ich einst Deinen Sohn getötet
habe." Diesen Brief schrieb Mussa. Dann rief er seinen eigenen
Sohn und sagte zu ihm: "Mache dich auf, bringe diesen Brief dem
Araber, der der Bruder deiner Mutter ist." Der Bursche nahm den
Brief und brachte ihn seinem Onkel.
Der Araber begrüßte den Burschen, nahm den Brief und las ihn,
Dann rief er alle Leute des Ortes zusammen und sagte: "Hört diesen
Brief!" Danach las er den Brief Mussas vor und sagte: "Diesen
Brief schrieb mir Mussa, dem ich vorher meine Schwester zur Frau
gab. Ich weiß also nunmehr, wer damals meinen Sohn, wenn auch
versehentlich, getötet hat. Sagt ihr mir nun aber, was ich, tun soll.
Soll ich den Sohn meines Schwagers Mussa töten oder nicht?" Die
Leute des Ortes antworteten aber: "Höre, Hammad Abu Kallam!
(So wird hier der Araber genannt). Diese ganze Sache ist deine
Sache, sowie der Wille der Entscheidung dein Wille ist. Bedenke
nur, daß, wenn du diesen Burschen tötest, der das Kind deiner
Schwester ist, du gewissermaßen dein eigenes Kind tötest." Der
Araber Hammad Abu Kallam hörte das an, erwog es und sagte:
"Ich denke, wie ihr denkt. Anstatt den Sohn meiner Schwester und
Mussas zu töten, will ich ihm meine eigene Tochter zur Frau
geben."
Dann ließ der Araber ein Schaf schlachten, rief den Sohn Mussas
und empfing ihn mit freundlichen Worten. Er gab dem Sohne
Mussas seine Tochter zur Frau, schenkte ihm Geld und Schafe und
sagte: "Kehre mit all diesem als dem Deinen zu deinem Vater
zurück. Grüße deinen Vater und grüße deine Mutter, meine
Schwester, und sage, ich würde bald selbst hinterherkommen und
mich an ihrem Wohlergehen einige Tage erfreuen." So kehrte denn
Mussas Sohn reich beschenkt mit Weib und Besitz, statt mit dem
Tode heim. Und wenige Tage später kam der Araber Hammad Abu
Kallam hinter ihm her und schlug sein Lager bei Mussa auf. Er
begrüßte Mussa, und als es Nacht ward, legte er sich vor der Seriba
neben seinem Pferd auf die Erde.
Hammad Abu Kallam spielte erst noch ein weniges auf der
Rababa. Dann legte er das Instrument zur Seite und schlief ein.
Derweilen schlichen sich zwei Diebe heran. Einer derselben stellte
sich mit dem Speere über den Kopf des Arabers hin und sagte:
"Wenn er sich rührt, werde ich ihn töten." Der Araber wachte auf.
Er sah alles, was vorging. Der Araber sagte: "Ich will nicht
schreien. Ich will nur die Rababa spielen." Während der zweite
Dieb nun die Fußgurte des Pferdes löste und der erste den Speer
über den Kopf des Arabers hielt, spielte der Araber auf der Rababa:
"Meine Schwester Scherifia! (Name der Frau Mussas). Meine
Schwester Scherifia! Ein Dieb steht an meinem Kopfe und hält den
Speer über mich, um mich zu töten, und ein anderer Dieb ist zu
meinen Füßen damit beschäftigt, die Gurte meines Pferdes abzukoppeln
und es zu stehlen! Höre das, meine Schwester Scherifia!"
Die Diebe erkannten nicht den Sinn des Gesanges und Spieles auf
der Rababa. Scherifia, die Schwester Hammad Abu Kallams, die
Frau Mussas, verstand aber den Gesang. Sie weckte Mussa, ihren
Mann, und sagte: "Mussa, mein Gatte, wache auf! Draußen ist
ein Dieb, der will das Pferd meines Bruders rauben, während ein
zweiter seine Lanze über seinem Haupte hält, um ihn zu töten, wenn
er sich rührt." Mussa erhob sich. Er nahm den Speer. Er ging zum
Seribaeingang. Er warf seine Lanze. Er tötete den, der das Pferd
rauben wollte, so daß der tot hinsank, der andere aber, der den
Hammad Abu Kallam mit dem Speer bedrohte, erschreckt von
dannen lief.
Als das geschehen war, sagte Mussa: "Wie kamen diese Leute
hierher?! Niemals waren hier Diebe in der Gegend. Das ist etwas,
was hier nie vorher geschehen ist." Hammad Abu Kallam sagte:
"Es waren Pferdediebe. Die Pferdediebe ziehen über das ganze
Land hin." Mussa sagte: "Es ist gut, daß einer getötet ist." Hammad
Abu Kallam sagte: "Ja, es ist ein Glück für mich. Du hast
mir das Leben erhalten, das diese Hunde hinwegtragen wollten. Ich
werde dich aber morgen wieder verlassen."
Am andern Morgen nahm Hammad Abu Kallam von seiner
Schwester und seiner Tochter, von Mussa und dessen Sohn Abschied,
um sich wieder zurückzubegeben an seinen Ort.
Als der Araber aber fortgeritten war, sagte Mussa bei sich: "Ich
war ganz verarmt und tief elend; da hat dieser Hammad Abu
Kallam mich wohlhabend gemacht und hat mir seine Schwester zur
Frau gegeben. Als er mich so wieder zu einem angesehenen und
glücklichen Manne gemacht hatte, tötete ich seinen Sohn. Er aber
ließ mich das nicht entgelten, sondern beschenkte mich nochmals
reich, so daß ich wieder Herr meines eigenen Ortes werden konnte.
Mein eigener Sohn wuchs heran, und ich sandte den an Hammad
Abu Kallam, damit er ihn töte, wie ich seinen Sohn getötet habe.
Er hat dies aber nicht getan, sondern er gab mir reiche Geschenke,
er gab ihm die eigene Tochter zur Frau und entließ ihn wie ein
eigenes Kind. Ich tat ihm Schlechtes, er aber hat es wieder und
immer wieder mit Gutem erwidert. Ich weiß nicht mehr, was ich
tun kann. Ich kann ihn nicht mehr leben lassen. Ich muß ihm
folgen; ich muß ihn töten."
Mussa bestieg sein Pferd. Mussa nahm seine Lanze. Mussa ritt
hinter Hammad Abu Kallam her. Mussa erreichte Hammad Abu
Kallam. Mussa rief ihn an und sagte: "Höre mich! Warte auf
mich! Du hast mir immer wieder so viel Gutes getan, daß ich dich
nicht leben lassen kann. Ich muß dich töten!" Hammad Abu
Kallam sagte: "Weshalb willst du mich töten, wo ich dir doch nichts
Böses getan habe?" Mussa sagte: "Nein, du hast mir nichts Böses
getan! Du hast mir immer nur Gutes getan; du hast mir aber so
viel Gutes getan, daß ich es dir nicht vergelten könnte, wenn ich
mein ganzes Leben lang als dein Diener arbeiten würde. Deshalb
kann ich dich nicht mehr sehen. Deshalb muß ich dich töten." Und
Mussa nahm den Speer auf und warf ihn nach Hammad Abu
Kallam. Der bog sich aber zur Seite, und der Speer Mussas flog
über ihn weg in den nächsten Busch. Hammad Abu Kallam zog
den Speer heraus. Er reichte ihn Mussa zurück und sagte: "Nimm
ihn wieder, aber töte mich nicht; denn ich habe dir nichts Böses
getan, und ich will dir nichts Böses tun." Mussa sagte: "Ich kann
dich nun nicht mehr leben lassen, denn du hast mir schon zuviel
Gutes getan!" Als Hammad Abu Kallam das hörte, warf er sein
Pferd herum, floh, und er entrann Mussas Speer.
Hammad Abu Kallam kam an seinen Ort. Er rief die Dorfleute
zusammen und sagte: "Jener Mussa, der meinen Sohn getötet hat
und an dessen Sohn ich trotzdem meine Tochter gegeben habe,
wollte mich heute töten, weil er mich nicht mehr leben sehen kann.
Ich aber bin ihm entflohen." Als die Dorfleute das hörten, sagten
sie zu dem Araber: "Dann wollen wir alle unsere Waffen nehmen.
Dann wollen wir alle hingehen und diesen Mussa fangen." Die
Dorfleute gingen fort; jeder nahm seinen Speer. Sie kamen alle zusammen
und machten sich auf den Weg zu Mussas Seriba. Sie
kamen in der Nacht an. Sie umzingelten die Seriba. Sie drangen
hinein. Sie fingen Mussa und banden ihn an den Händen und an
den Füßen. Dann brachten sie ihn derart gefangen zu Hammad
Abu Kallam. Die Frau Mussas folgte dem Zuge mit dem Gefangenen.
Als Mussa so vor Hammad Abu Kallam gebracht wurde, sagte
der: "So muß ich dich nun wiedersehen. Habe ich dir nicht dies
und das und jenes und alles, was möglich ist, an Gutem angetan?
Und muß ich nun das erleben?" Mussa sagte: "Du hast mir so viel,
zu viel Gutes erwiesen, daß ich es nicht ertragen kann. Wenn du
mich nicht tötest, muß ich dich töten." Hammad Abu Kallam
sagte: "Ich weiß das jetzt auch, und deshalb werde ich dich diese
Nacht in diesem Raume gefangen halten, morgen aber dich töten."
Mussa sagte: "Das ist gut!" Als Hammad Abu Kallam nun hinausging,
folgte ihm Scherifia, seine Schwester, Mussas Gattin. Sie warf
sich draußen vor ihrem Bruder nieder, weinte und sagte: "Mein
Bruder, ich bitte dich! Laß meinen Mann am Leben!" Hammad
Abu Kallam sagte: "Nein, meine Schwester Scherifia! Ich habe
deinem Manne zuviel Gutes getan. Soll ich nun deshalb sterben,
weil ich dessen zuviel tat?" Scherifia weinte aber noch heftiger und
sagte: "Nein, mein Bruder, so meinte ich es nicht! Du sollst nicht
sterben. Mein Mann aber auch nicht, denn er ist der Vater meines
Kindes." Darauf hob Hammad Abu Kallam seine Schwester auf
und sagte: "Meine Schwester, weine nicht. Aber ohne einen Toten
werden wir nicht weiterleben können. Es ist besser, es sterbe nun
einer, als daß zwei und mehr zugrunde gehen. Deshalb muß ich
deinen Mann töten, wenn du es nicht anders willst." Dann verhüllte
Hammad Abu Kallam sein Haupt und ging in sein Haus.
Er setzte sich auf das Angareb.
Scherifia ging in die Wüste hinaus und weinte und weinte. Als
es Nacht ward, kam sie aber in die Seriba zurück und ging in den
Raum, in dem ihr Gatte gefesselt lag. Scherifia schnitt alle Fesseln
durch, mit denen Mussa an den Füßen und an den Händen gebunden
war. Dann sagte sie zu ihm: "Nun komm schnell, Mussa, und flieh
mit mir!" Mussa sagte jedoch: "Meine Frau, ich bin noch niemals
geflohen. Ich kann nicht fliehen, ob die Löwen an meinem Kettengenossen
fressen oder ob die Lanzen deines Bruders mich durchbohren
müssen! Ich kann nicht fliehen, und ich kann nicht weggehen
von hier, ehe ich nicht deinen Bruder getötet habe; denn er
hat mir so viel Gutes getan, daß ich ihn nicht mehr am Leben lassen
kann."
Scherifia warf sich wieder auf die Erde und weinte und bat und
bat: "Mussa, du starker Mann! Mussa, du Löwentöter! Mussa, du
Vater meines Kindes! Mussa, mein Mussa! Ich bitte dich! Ich
bitte dich! Laß meinen Bruder am Leben! Ich bitte dich, komm
mit mir fort von hier. Es ist keine Flucht! Sieh, es sind viele am
Ort, und du bist nur einer! Mussa, dränge dich nicht in den Tod.
Denn meine Kinder sind es, die nach deinem Tode weinen werden!
Dein Hengst und deine Stute, deine Hunde und alle deine Tiere
werden schreien. Die Löwen werden über die Seriba springen und
die Kälber schlagen. Deine Hütten und dein Haus werden verfallen.
Deine Kinder werden keinen Vater und kein Land haben, weil du,
mein Mussa, mein Mann, zu früh hier sterben willst!"
Mussa sagte: "Scherifia steh auf. Wenn dein Bruder tot ist, wird
niemand den Streit fortführen. Und wenn ich sterben muß und all
das Meine verfällt, dann ist deines Bruders Güte und die Sitte daran
schuld, nicht aber meine Bosheit. Stehe also auf!" Scherifia stand
auf. Scherifia sagte: "So warte denn hier. Ich will meinen Bruder
rufen. Tragt denn eure Sache aus!" Scherifia ging. Sie ging in das
Haus, in dem Hammad Abu Kallam auf dem Angareb saß. Sie
sagte: "Mein Bruder, ich bitte dich, komm für einige Worte heraus.
Mussa möchte mit dir sprechen." Hammad Abu Kallam erhob sich.
Er seufzte und kam heraus. Hammad Abu Kallam sagte: "Was
für ein Wort ist es?" Scherifia sagte: "Ich weiß es nicht!" Hammad
Abu Kallam sagte: "Jetzt lügst du, meine Schwester!" Dann
ging Hammad Abu Kallam zum Hause hinüber. Scherifia warf sich
auf die Erde nieder und weinte. Als Hammad Abu Kallam in das
Haus eintreten wollte, stieß Mussa ihm den Speer in die Brust.
Am andern Tag kamen die Dorfleute und schlugen Mussa tot.
Sie nahmen alle Herden und alles andere, was Mussa und Hammad
Abu Kallam besessen hatten. Die Kinder Mussas wurden verkauft.
Scherifia hüllte sich aber in Lumpen und wanderte von dem Tage
an als Bettlerin von einem Ort zum andern, bis an ihr Lebensende.
10. Der Schech El Esuda
(Der Herr der Löwen)
Ein Mann floh aus einer Stadt, weil sein Bruder und sein Sohn
von dem Könige der Stadt getötet waren und seine Familie so
alle Macht und alles Ansehen verloren hatte. Der Mann ging in ein
anderes Land und wurde dort Holzhändler. Er schlug jeden Tag im
Busch eine Last Holz und trug sie in die Stadt auf den Markt. Von
dem, was er damit verdiente, konnte er leben.
In dem Busche, in dem der Holzhändler immer sein Holz schlug,
lebten eine Maus und ein Löwe. Die Maus liebte es aber, mit dem
Löwen zu streiten. Der Löwe sagte aber eines Tages: "Meine Maus,
du bist anmaßend! Wie kannst du immer mit mir streiten, der ich
doch der stärkste aller Tiere bin!" Die Maus sagte: "Was du da
sagst, mein Löwe, ist unrichtig. Die größte Stärke liegt in der Klugheit.
Ich bin die kleine Maus, aber ich bin klüger und deshalb
stärker als du. Aber stärker als alle andern Tiere ist Beni Adam
(der Sohn Adams; der Mensch). Der Mensch übertrifft alle, alle
Tiere weit an Klugheit." Der Löwe sagte: "Ich bin das stärkste
Tier, alles andere glaube ich nicht." Die Maus sagte: "Dadurch,
daß du es nicht glaubst, änderst du nichts an der Tatsache, daß der
Beni Adam unendlich viel klüger und stärker ist als alle Tiere."
Der Löwe sagte: "Das ist nicht wahr."
Der Holzhändler ging gerade durch den Wald. Die Maus sah ihn
aus der Ferne und sagte zum Löwen: "Sieh, da ist ja der Mensch!
Geh hin und zeige, daß du klüger und stärker als der Mensch bist."
Der Löwe sagte: "Das also ist der Mensch! Ich werde hingehen
und mit Beni Adam kämpfen." Der Löwe lief auf den Holzhändler
zu und schrie: "Beni Adam, bleib stehen; ich will mit dir kämpfen!"
Der Holzhändler sagte: "Es ist mir recht! Wir wollen miteinander
kämpfen. Ich habe aber meine Afia (Kraft) jetzt nicht bei mir.
Warte also bis morgen. Dann will ich kommen und mit dir kämpfen."
Der Löwe sagte: "Nein, ich will nicht warten, ich will heute
mit dir kämpfen. Gerade heute will ich mit dir kämpfen." Der
Holzhändler sagte: "So komm schnell mit mir in die Stadt und
kämpfe an meinem Platze mit mir. Wir müssen in die Stadt gehen,
denn ich kann doch nicht ohne Afia kämpfen." Der Löwe sagte:
"Es ist gut; ich werde dann hier am Baume auf dich warten, bis du
aus der Stadt mit deiner Afia zurückkommst." Der Holzhändler
sagte: "Es ist mir recht, wenn du hier warten willst. Ich muß dich
aber hier am Baume festbinden, denn sonst läufst du mir sicher in
der Zwischenzeit fort. Wenn du damit einverstanden bist, will ich
in die Stadt gehen und meine Afia holen." Der Löwe sagte: "Ich
laufe nicht weg!" Der Holzhändler sagte: "Dann laß dich festbinden."
Der Löwe sagte: "Es ist mir recht! So binde mich fest."
Der Holzhändler setzte seine Last ab und ging zu dem nächsten
Baum, zog Rindenstreifen ab und drehte Schnüre. Mit den Schnüren
band er den Löwen am Baume fest. Der Löwe sagte dann: "Nun
gehe schnell in die Stadt und hole deine große Afia, damit wir miteinander
kämpfen können." Der Holzhändler sagte: "Ich gehe sogleich,
ich will dir nur die kleine Afia zeigen, die ich im Busch hier
habe." Danach drehte der Holzhändler aus Baumrinden noch eine
Schnur und schlug mit aller Kraft auf den festgebundenen Löwen
ein, so daß dem die Haut in Striemen abriß. Der Löwe brüllte. Der
Holzhändler sagte: "So, das ist nur meine kleine Afia. Nun werde
ich in die Stadt gehen und meine große Afia holen." Danach hob
er seine Holzlast wieder auf und ging in die Stadt auf den Markt.
Als der Holzhändler gegangen war, kam die Maus aus dem Busch
zu dem festgebundenen Löwen und sagte: "Mein Löwe, was hältst
du nun von deiner Stärke und der Stärke des Beni Adam?" Der
Löwe sagte: "Kleine Maus, binde mich los!" Die Maus sagte: "Ich
will es tun. Du mußt mir aber schwören, daß du immer Freundschaft
mit mir halten willst." Der Löwe sagte: "Das will ich dir
schwören!" Darauf begann die Maus die Rindenstricke, mit denen
der Löwe festgebunden war, durchzunagen. Als die Maus damit
fertig war, sprang der Löwe sogleich fort.
Der Löwe lief in die Stadt, in der der Holzhändler wohnte und
sein Holz auf dem Markte verkaufte. Der Löwe kam in das Haus,
in dem der Holzhändler wohnte. Er trat in das Haus und sah den
Holzhändler. Er sagte zu dem Holzhändler: "Hier bin ich; nun
wollen wir miteinander kämpfen." Der Holzhändler sagte: "Es
freut mich, daß du doch in die Stadt gekommen bist. Ich wollte
mich eben wieder auf den Weg machen, um dich im Busche aufzusuchen.
Nun können wir hier kämpfen. Setze dich also, nimm
ein wenig Essen, das ich gleich bringen werde, zu dir, und dann
wollen wir beginnen." Der Löwe sagte: "Wir wollen nicht erst
essen, wir wollen gleich kämpfen." Der Holzhändler sagte: "Du
bist nun in der Stadt und unter den Menschen. Du mußt dich nun
danach richten, was bei den Menschen Sitte ist. Erst muß du nun
essen!" Der Löwe sagte: "Es ist mir recht." Der Mann ging hinaus.
Er schloß die Türe des Hauses, in dem der Löwe war, hinter
sich. Er ging zum Kochplatz, kochte einen großen, großen Topf
mit heißem Wasser. Als das Wasser kochend war, stieg er auf das
Dach des Hauses, in dem der Löwe war, und zog das Stroh auseinander.
Durch die Lücke goß er dann das kochende Wasser auf
den Löwen herab. Der Löwe schrie vor Schmerz auf. Das Fell riß
unter dem Guß des heißen Wassers in Fetzen auf. Der Löwe schrie.
Er sprang gegen die Tür. Er schlug die Tür ein und sprang hinaus
ins Freie. Er rannte, so schnell er konnte, in den Busch.
Der Löwe traf im Busch die Maus. Die Maus sagte: "Mein Löwe,
wie siehst du aus! Mein Löwe, du stärkstes der Tiere! Wer hat
dich so zugerichtet?" Der Löwe wurde noch wütender. Der Löwe
sagte: "Was, willst du mich noch auslachen? Hast du mich nicht
mit dem Beni Adam aneinander gebracht? Hast du mir nicht das
Haus des Beni Adam gezeigt? Ist das nicht alles deine Schlechtigkeit?"
Der Löwe sprang auf die Maus. Der Löwe packte die Maus.
Der Löwe wollte die Maus verschlingen. Die Maus aber schrie: "Da
kommt Beni Adam!" Als der Löwe das hörte, erschrak er. Er ließ
die Maus frei und rannte, so schnell er konnte, von dannen. Der
Löwe lief in ein anderes Land. Der Löwe sagte: "Ich bin hier vor
dem Beni Adam nicht sicher." Der Löwe kam in ein Land, in
dem viele Löwen waren. Die anderen Löwen fragten: "Was ist
das mit dir? Dein Fell hängt in Fetzen herab und überall hast du
Striemen? Was ist das?" Der Löwe sagte: "Laßt das! Laßt mich
nur unter euch leben." So blieb der Löwe bei den andern im andern
Lande.
Der Holzhändler sagte bei sich: "In den Busch, in dem ich bisher
mein Holz geschlagen habe, kann ich jetzt nicht mehr gehen. Wenn
der Löwe mich noch einmal im Busch trifft, wird er mich sicherlich
töten. Ich werde also in eine andere Stadt gehen und in einer
andern Stadt meinen Holzhandel beginnen." Der Mann packte also
seine Sachen zusammen und ging in ein anderes Land. Er kam in
eine andere Stadt, in deren Nähe ein großer Busch war, und er
machte sich sogleich auf, um in dem Busch sein Holz zu schlagen.
Der Mann ging in den Busch und schlug sein Holz; er lud es auf
und ging von dannen. Am Rande des Busches war ein großer Baum
neben einer tiefen, tiefen Grube. Da setzte er seine Last auf den
untersten Zweigen des Baumes ab, um sich auszuruhen, ehe er das
letzte Stück bis zur Stadt zurücklegte. Als er eine Weile an dem
Rande der Grube gesessen hatte, bemerkte ihn aber einer der vielen
Löwen, die in diesem Lande waren, der lief schnell von dannen
und rief die andern Löwen. Alle Löwen kamen angesprungen.
Unter den Löwen war auch der, dem der Holzhändler das Fell zerschunden
hatte, denn der Holzhändler und der Löwe waren in das
gleiche Land geflohen, ohne daß einer es bis dahin vom andern
gewußt hätte.
Als der Holzhändler nun die Löwen und unter ihnen den geschundenen,
der vordem mit ihm kämpfen wollte, kommen sah,
befiel ihn große Angst, und er stieg, so schnell er konnte, in die
Krone des Baumes neben der Grube, auf deren untersten Zweigen
er seine Last abgesetzt hatte. Die Löwen umringten den Baum.
Der König der Löwen sagte: "Weshalb wollen wir zu so vielen den
einen armen Holzsammler töten? Kommt, wir wollen weggehen,
es gibt Schafe und Kühe in Menge bei den Menschen." Der geschundene
Löwe erkannte aber den Holzhändler und sagte zu dem
Anführer der Löwen: "Entschuldige, wenn ich, trotzdem ich ein
Fremder bin, dir widerspreche. Aber dieser Mann ist keiner der
üblichen harmlosen Holzhändler, die sich nur vor uns fürchten und
uns nie etwas tun. Dieses ist ein Beni Adam, der genau aus dem
gleichen Land stammt, aus dem ich komme, und er ist derselbe
Mann, der mich mit dem Rindenstrick und dem heißen Wasser so
übel zugerichtet hat, wie ihr mich hier seht." Die andern Löwen
sahen den geschundenen an und sagten: "Du siehst in der Tat so
schlimm aus, daß es wohl besser ist, wenn wir den Mann töten und
so uns von der Gefahr, ebenso behandelt zu werden, frei machen.
Wie wollen wir ihn nur erreichen, da wir nicht klettern können?"
Der Anführer des Löwenrudels sagte: "Wenn dieser Mann allerdings
mit Rindenstricken und heißem Wasser so schlechte Sachen
macht, dann ist es wohl besser, wir vernichten ihn. Dann wollen
wir uns einer über den andern stellen und so hinaufsteigen."
Die Löwen stellten sich also einer über den andern und bildeten
so am Stamme des Baumes eine Leiter, auf der der Anführer der
Löwen zuletzt hinaufstieg, um als oberster den Holzhändler zu
packen und vom Baume herunterzureißen. Der Löwe war schon
ganz oben und wollte mit seiner Tatze schon nach dem Manne
schlagen, da richtete der sich auf dem Zweige, auf dem er gesessen
hatte, auf und schrie: "So, nun werde ich mein heißes Wasser über
euch alle gießen und euch dann mit den Rindenstricken geißeln,
wie noch keinen Löwen vorher!" Als die Löwen das hörten, erschraken
sie alle miteinander. Am meisten erschrak aber der Löwe,
der zu unterst war und auf dessen Rücken alle andern Löwen
standen. Dieser Löwe war nämlich der Geschundene, der die Rindenstricke
und das heiße Wasser am eigenen Leibe gespürt hatte. In
seiner großen Angst sprang der Geschundene zur Seite. Als er aber
weglaufen wollte, fiel er in die tiefe Grube, die neben dem Baum
war und die er in seiner Angst völlig vergessen hatte. Mit ihm
stürzten aber alle andern Löwen, die auf seinem Rücken gestanden
hatten, in der gleichen Richtung, also auch in die Grube hinab.
Als der Holzhändler sah, daß alle Löwen unten in der Grube
lagen, stieg er vom Baume herab und rief in die Grube herunter:
"Ich denke, ihr wollt mich umbringen und vernichten? Ich warte
darauf. Wenn ihr mich aber allzulange warten laßt, so werde ich
euch vernichten. Denn da ihr dort unten nicht fortkönnt, so ist
mir das ein leichtes." Die Löwen sprachen untereinander: "Es ist
wahr. Auch wenn dieser Mann uns gar nichts weiter tut, werden
wir hier unten sehr bald hungern und dann beginnen, uns selbst zu
töten." Der Anführer der Löwen sagte: "Es war töricht, daß wir
dem Rate des Geschundenen, der zudem ein Fremder ist, gefolgt
sind. Da wir nun aber einmal in dieser Lage sind, so kann uns überhaupt
niemand anderes helfen, als eben der Holzhändler selbst, der
uns durch seine Klugheit in diese Falle geworfen hat." Die Löwen
sagten: "Du hast recht!"
Der Anführer der Löwen sagte: "Ich will mit dem Manne
sprechen." Die andern Löwen sagten: "Tue du es!" Der Löwenkönig
rief hierauf zu dem Holzhändler hinauf: "Beni Adam, höre
mich!" Der Holzhändler rief herunter: "Ich höre!" Der Löwe rief:
"Wir bitten dich allesamt, uns wieder hinaufzuziehen und uns das
Leben zu schenken. Wir schwören, daß wir dir dann zeitlebens als
Sklaven dienstbar sein wollen und daß wir, die wir die Könige aller
Tiere sind, dir stets mit allen Geschöpfen, die außer den Menschen auf
der Erde sind, beistehen werden." Der Holzhändler sagte: "Wollt
ihr schwören, daß mir überall, wo ich auch gehe und stehe, stets vier
von euch folgen werden, und daß ihr jedesmal, wenn ich eurer oder
der andern Tiere bedarf, zu mir kommen und für mich kämpfen werdet
?" Die Löwen beschworen das einer nach dem andern. Darauf zog
der Holzhändler einen nach dem andern an Rindenstricken heraus.
Von nun an war der frühere Holzhändler der Schech ei Esuda
(der König der Löwen). Wo er auch hinging - überallhin folgten
ihm vier Löwen. Er machte sich nun auf und ging in seine Heimatstadt,
in die Stadt des Königs, der seinen Bruder und seinen Sohn
getötet hatte. Die vier Löwen folgten ihm stets. Als er mit den
Löwen in die Straßen kam, flohen die Leute entsetzt in die Häuser.
Als er mit den Löwen auf den Markt kam, flohen die Leute entsetzt
zum König der Stadt und riefen: "Der König der Löwen kommt!
Hilf uns! Hilf uns!" Darauf rief der König der Stadt seine angesehenen
Männer zusammen und ging mit ihnen dem König der
Löwen entgegen.
Die Geschichte erzählt nun ferner, daß der Löwenkönig mit dem
Stadtkönig, trotzdem dieser einst die Verwandten des jetzigen
Löwenkönigs getötet hat, ein vorläufiges Bündnis schließt. Ja, als
der Stadtkönig gegen den großen Landeskönig zu Felde ziehen will,
ruft der Löwenkönig alle Tiere zusammen, und diese vernichten
nacheinander drei Heere des Landeskönigs. Dann aber zieht der
Löwenkönig mit allen Herden des Stadtkönigs (immer gefolgt von
seinen vier Wachtlöwen) von dannen und geht mit dem Landeskönig
eine Freundschaft ein. Für den Landeskönig führt nun der
Löwenkönig Kriege. Er gewinnt mit seinen Löwen, Elefanten,
Büffeln usw. alle Schlachten und nimmt zuletzt auch den Stadtkönig
gefangen, den er wegen seiner hingerichteten Angehörigen
zur Rechenschaft zieht. Der Stadtkönig bittet um Gnade und
schiebt alle Schuld auf seinen derzeit abwesenden Wesir. Also
wartet und fängt der Löwenkönig den Wesir ab und legt ihn, der
durch seine Klugheit berühmt ist, in Fesseln. Der Löwenkönig erklärt
dem Wesir, daß er ihn töten wolle, wenn er nicht in drei Tagen
Stricke aus Sand anfertige. Der Wesir geht tief gebrochen und hoffnungslos
betrübt nach Hause. Die jüngste, sehr kluge Tochter des
Wesirs entlockt dem Vater den Grund seiner Traurigkeit und sagt:
"Gehe zum Löwenkönig und sage: ,Um Stricke zu drehen, muß
man Fasern machen; gib mir die Fasern aus Sand, so will ich dir
die Stricke aus Sandfasern drehen." Der Wesir kehrt also zum
Löwenkönig zurück und sagt ihm das, was die junge Tochter dem
Vater riet.
Der Löwenkönig fragt seine Leute, wer wohl dem Wesir diesen
Rat gegeben habe. Seine Leute sagen: "Diesen Rat hat dem Wesir
entweder eine ganz alte Frau oder ein ganz junges Mädchen gegeben."
Der Wesir, gedrängt, gibt die Gedankenurheberschaft seiner
Tochter zu. Darauf heiratet der Löwenkönig, vom Landeskönig
mit seiner Heimatstadt belehnt, die kluge Tochter des Wesirs, lernt
von der jungen Frau Lesen und Schreiben und wird ein ausgezeichneter
Herrscher. Die Löwen bleiben ihm immer treu zur Seite.
Die Geschichte endet mit der Erklärung: "Der Mann, der eine
hohe Stellung einnehmen will, muß nicht nur selbst klug sein,
sondern soll auch eine kluge Frau haben."
MEHRAKTER
11. Albedewui
Es war einem Sultan gegeben, daß er sieben Söhne hatte, die
alle immer in gleicher Weise aufwuchsen, spielten und nie in
Uneinigkeit kamen. Als sie daher in das Alter kamen, daß sie
gerade recht zum Heiraten waren, rief der Sultan sie zusammen
und sagte: "Meine Söhne, ihr seid nun in dem Alter, in dem andere
junge Männer angesehener Leute heiraten. Als Söhnen des Sultans
geziemt euch das aber vor allen. Nun seid ihr bis jetzt stets einmütig
und ohne Streit aufgewachsen, so daß ihr brüderliches Gezänk
gar nicht kennt, und um so schlimmer wäre es daher, wenn
ihr nun dadurch, daß ihr verschiedenartige Frauen heiratet, in eine
Verwirrung kämt, der ihr dann um so weniger würdet entrinnen
können, als ihr an die Frauen für immer gebunden wäret." Die
sieben Söhne sagten: "Du hast recht, mein Vater! Wie sollen wir
aber dieser Gefahr aus dem Wege gehen?" Der Sultan sagte: "Ich
habe hierüber nachgedacht und habe gefunden, daß ihr euren
Frieden und eure Bruderliebe nur in der Art ungestört wahren
könnt, daß ihr sieben Mädchen heiratet, die in gleicher Weise als
Töchter eines Elternpaares in ungetrübter Eintracht aufgewachsen
sind." Die sieben Söhne sagten: "Du hast recht, mein Vater! Wo
sollen wir aber diese sieben Schwestern finden?" Der Sultan sagte:
"Ich habe mich danach umgesehen. Ich habe aber nirgends in
meinem Lande eine Familie gefunden, in der sieben gutartige
Schwestern ein gleich liebevolles Verhältnis von Kindheit auf gehabt
haben wie ihr. Darum habe ich alle klugen Leute und Fakire
befragt, und die haben mir gesagt, daß ihr das Glück der Auffindung
der sieben Schwestern nur im Auslande finden könnt." Die sieben
Söhne sagten: "Du hast recht, mein Vater! Wo sollen wir uns nun
hinwenden, um die sieben Schwestern zu finden?"
Der Sultan sagte: "Ich habe alle klugen Leute und Fakire gefragt,
und sie haben mir gesagt, daß ihr euer Lebensglück nur in
der Weise gewinnen könnt, daß ihr alle gemeinsam handelt und
euch einem andern unterordnet. Denn dadurch, daß ihr immer in
Frieden und in Eintracht miteinander gelebt habt, ist keiner dazu
gekommen, einen eigenen Willen zu erlangen. Eure Stärke beruht
darin, daß ihr euch gemeinsam unterordnet. Somit seid ihr weder
gemeinsam, noch viel weniger einer allein dazu imstande, eine
große Sache im Lande zu überwinden und bedürft deswegen eines
andern, der euch als älterer, würdiger Bruder beratend zur Seite
steht." Die sieben Söhne sagten: "Du hast recht, mein Vater. Wo
finden wir aber einen ältern würdigen Bruder?"
Der Sultan sagte: "Ich habe alle Leute danach gefragt und habe
nun gehört, daß weit fort von hier ein Sultan lebt, der mit einer
Tochter der Alledjenu verheiratet war. In seiner Familie sind alle
Männer streitsüchtig, und so hat er sich mit seinem eigenen Sohn
überworfen, der den Namen Albedewui hat. Dieser Albedewui ist
als Sohn einer Alledjenufürstin klug und gut. Er ist aus der Nähe
seines streitsüchtigen Vaters entwichen und irrt irgendwo in den
fernen Bergen umher. Diesen Albedewui müßt ihr aufsuchen."
Die sieben Söhne sagten zu ihrem Vater: "Wir danken dir für deine
Fürsorge und bitten dich nur, uns alles herzurichten, was wir zur
Reise benötigen."
Der Sultan ließ alles für die Reise seiner Söhne vorbereiten und
gab einem jeden ein sehr gutes Pferd und Nahrung und Waffen.
Er gab ihnen aber keine Diener mit, so daß die sieben Söhne eines
Tages allein von dannen ritten. Die sieben Söhne ritten aus dem
Lande ihres Vaters. Dann ritten sie in die Wüste, und in der Wüste
ritten sie viele Tage. Sie ritten so lange, bis eines Tages in der Entfernung
Berge auftauchten. Als sie nun nahe zu den Bergen kamen,
stürmte ein Mann auf sie zu, der war in ein Löwenfell gekleidet
und schwang ein langes Schwert und jauchzte kampfbereit und laut,
so daß alle Berge seinen Ruf hundertfach widerhallten.
Die sieben Brüder sagten untereinander: "Dieser Alledjenu ist
stark und will mit uns kämpfen. Wenn nun jeder einzeln von uns
herantritt, wird er jeden einzelnen töten. Wenn wir alle miteinander
über ihn herfallen, werden wir die Schande mitnehmen."
Die Brüder seufzten miteinander und sagten: "Hätten wir doch
erst Albedewui gefunden!" Der starke Mann in dem Löwenfell kam
mit großen Schritten nahe herangeritten und sagte: "Meine sieben
Burschen, entweder seid ihr eine lockere Reisegesellschaft, und dann
muß ich euch töten, oder aber ihr seid sieben Brüder und Kinder
eines Sultans, dann bitte ich euch, mich als achten Bruder mit euch
zu nehmen." Die sieben Söhne des Sultans sagten: "Wir sind in
der Tat sieben Brüder. Bist du vielleicht Albedewui ?" Der Mann
sagte: "Ja, ich bin Albedewui. Ich habe lange auf euch gewartet,
denn von Kindheit an haben mir die Fakire gesagt, daß ich erst
dann, wenn ich euch gefunden habe, glücklich werden kann."
Darauf umarmte Albedewui einen nach dem andern, und die sieben
Brüder waren auch über alle Maßen glücklich.
Nachdem die sieben Brüder eine Zeitlang mit Albedewui gelagert
hatten, brachen sie gemeinsam mit ihm auf. Albedewui
sagte: "Unsere erste Sache muß nun die sein, für euch sieben
Brüder sieben Schwestern zu finden, die als Frauen eurer würdig
sind."
Albedewui ritt an die Spitze, und dann zogen sie alle zusammen
weiter und immer weiter in die Ferne. Nach vielen Tagen sahen
sie Bäume aus der Ebene aufsteigen und Häuser und Gartenzäune.
Sie kamen an eine große Stadt. Die Stadt lag aber ganz
still da. Es bellte kein Hund, es schrie kein Esel, es kreischten
keine Vögel. Die acht jungen Leute ritten in die Stadt hinein. Sie
ritten zwischen üppigen Gärten und schönen Häusern hin, aber
nirgends sahen sie einen Menschen oder sonst ein lebendes Wesen.
Albedewui sagte: "Dies ist eine eigentümliche Stadt. Sie sieht aus
wie ein Ort der Menschen, aber es ist nichts von solchen zu sehen.
Ich rate also, daß wir uns nach einem großen Kaffeeladen umsehen
und abwarten, ob sich dann nichts zeigt." Die sieben Brüder sagten:
"Albedewui, unser großer Bruder, du hast recht."
Die acht jungen Leute ritten also in die inneren Teile der Stadt.
Sie sahen da überdeckte Straßen und einen weit angelegten Basar.
In jedem Laden lagen wertvolle Stoffe und Perlen und Steine und
Öle und Teppiche und alle sonstigen wertvollen Kaufmannsgüter
aus, aber nirgendwo saß oder stand oder lag ein Mensch. Sie ritten
durch den Basar, bis sie zu einer großen Kaffeeküche kamen.
Albedewui sagte: "Wenn in irgendeinem Teil einer Stadt lebende
Menschen sind, so ist das beim Kaffeekoch. Wir wollen also hier
absteigen, unsere Pferde festbinden und abwarten, was da kommt."
Die sieben Brüder sagten: "Albedewui, unser ältester Bruder, du
hast recht!" Die acht jungen Leute stiegen also ab, banden ihre
Pferde fest, nahmen von einem nahegelegenen Ladenaushang einen
großen Teppich weg und breiteten ihn aus. Die acht jungen Leute
machten es sich bequem.
Nachdem die acht jungen Leute sich schon einige Zeit ausgestreckt
hatten, kam vorsichtig ein altes Weib heran. Es war das
aber ein Gulweib. Sie sah die acht jungen Leute und schlich sich
wieder von dannen. Sie rannte zu ihren Leuten und sagte: "Es sind
acht junge, wohlgenährte Leute in meinem Kaffeehaus abgestiegen.
Bereitet mir sogleich acht Schalen Kaffee und tut etwas Bendj
hinein, so daß sie ohnmächtig werden." Die Leute des Gulweibes
taten das. Dann nahm das Gulweib eine Sinia und brachte den
Kaffee dahin, wo die acht jungen Leute sich gelagert hatten. Sie
begrüßte die jungen Leute, und diese nahmen den Kaffee.
Die sieben Brüder nahmen den Kaffee und tranken ihn sogleich.
Albedewui aber goß den Kaffee heimlich aus und beobachtete, was
nun mit den sieben Brüdern geschehen würde. Albedewui sah, daß
den sieben Brüdern die Augen zufielen und daß sie einschliefen.
Albedewui sah, wie das alte Weib in der Nähe stehenblieb und dies
beobachtete; und um nicht ihren Verdacht zu erwecken, blinzelte
er auch mit den Lidern und ließ sich langsam hintenüber fallen, so
jedoch, daß er durch die halbgeschlossenen Augenlider sehen konnte
was das alte Weib tun würde.
Das alte Weib sah, ob die jungen Leute ohnmächtig hinfallen
würden, und als sie alle auf dem Teppich lagen, wandte sie sich
um und rannte von dannen. Sogleich erhob sich Albedewui vorsichtig,
ergriff sein Schwert und folgte der Alten in einiger Entfernung.
Er sah, daß die Alte durch die Straße von dannen lief und
dann in einer Höhle, die tief in die Erde hineinführte, verschwand.
Albedewui stellte sich neben dem Eingang der Höhle auf, so daß ein
von innen Kommender ihn nicht sehen konnte, und wartete mit
erhobenem Schwert, was nun kommen würde.
Die alte Gui war in die Höhle hineingelaufen. Sie lief den langen
Gang entlang, bis sie an die unterirdische Halle kam, in der sie mit
ihren Söhnen, das waren sieben Gui, lebte. Die Alte rief den Söhnen
zu: "Macht, meine Söhne, daß ihr heraufkommt; die acht wohlgenährten
jungen Leute haben ebenso wie alle andern den Kaffee
getrunken und liegen nun ohnmächtig auf einem Teppich. Lauft
schnell hinauf und bindet sie, damit sie uns nicht mehr entweichen
können und jeder von uns einen Mann verzehren kann."
Die sieben Gui erhoben sich. Jeder suchte sich die Stricke, die er
brauchte, um einen Mann zu binden; dann ging einer nach dem
andern aus der Halle, um durch den Höhlengang nach der Stadt
hinauf zu kommen.
Als der erste Gui aus dem Eingang der Höhle trat, schlug Albedewui
ihm mit dem Schwert in den Nacken, daß der Kopf herunterrollte.
Er warf den toten Körper und den Kopf beiseite, und ebenso
tötete er einen Gui nach dem andern, also alle sieben Gui; nun
wartete er vergebens noch eine Weile, denn jetzt kam niemand
mehr.
Albedewui sagte: "Die Jungen scheinen ja nun alle getötet ZU
sein; aber jedenfalls ist die alte Gui noch unten, wenn nicht sonst
noch jemand, und somit werde ich selbst einmal hinabgehen und
nach dem Rechten sehen."
Albedewui ging also in den Höhlengang hinab. Er ging lange
dahin, bis er in die große unterirdische Halle kam, in der die alte
Gui war. Die alte Gui machte gerade Feuer. Sie hörte die Schritte,
und weil die Schritte Albedewuils vielfach im Felsen widerhallten,
meinte sie, es kämen mehrere Männer. Die alte Gui sagte also,
ohne sich umzusehen: "Nun, meine Söhne, habt ihr den ersten
Braten gleich mitgebracht?" Albedewui sagte: "Gewiß, meine
Mutter!" Und damit stand er auch schon neben ihr, hatte sie bei
den Haaren und schwang das Schwert über ihr. Albedewui sagte:
"Ja, meine Mutter. Hier ist der Braten, und es handelt sich nur
noch darum, in wie viele Stücke wir ihn zerschneiden wollen." Als
Albedewui sie bei den Haaren gepackt hatte, fiel die alte Gui voller
Schrecken auf die Knie. Die alte Gui schrie und heulte, als sie das
Schwert über sich sah, Die alte Gui schrie: "Töte mich nicht! Töte
mich nicht!"
Albedewui sagte: "Was ich mit dir anfange, das wird davon abhängen,
was du mir von deinen Sachen zeigst oder nicht. Erst
werde ich mir einmal nach der Sitte eurer Sippe meinen Braten
sichern." Dann nahm er das Schwert zwischen die Zähne und band
der Alten mit dem Strick, den er einem toten Gui abgenommen hatte,
die Hände zusammen. Als die Alte gefesselt und ihr die Hände auf
dem Rücken zusammengebunden waren, sagte Albedewui: "Nun
vorwärts, meine Mutter! Nun zeige mir, was du hier unten für
gute Sachen hast." Die Alte sagte: "Ich will dir alles zeigen, aber
töte mich nicht!" Albedewui sagte: "Bedingungen mache ich und
nicht du. Mach, daß du vorwärts kommst! Zunächst zeige mir
aber das Mittel, womit ihr diejenigen wieder ins Leben ruft, die ihr
mit dem Bandj leblos gemacht habt." Die Alte zeigte Albedewui
eine Büchse, die mit einem Pulver gefüllt war, das den Ohnmächtigen
in die Nase geblasen werden müsse. Dann zeigte sie
Albedewui sieben Kammern, von denen die eine ganz mit Gold, die
zweite mit Silber, die dritte mit Diamanten, die vierte mit Seidenstoffen,
die fünfte mit Rubinen, die sechste mit duftenden Ölen, die
siebente mit herrlichen Teppichen gefüllt war. Die alte Gui sagte:
"Damit habe ich dir alle unsere Schätze gezeigt! Nun laß mich
wieder frei!"
Albedewui sagte: "Warte ein wenig, meine Mutter. Erst sage
mir einmal, was in der achten Kammer ist, zu der jene versteckte
kleine Türe dort führt!" Die Alte sagte: "Das weiß ich nicht, das
sage ich nicht. Es ist nichts von Bedeutung!" Albedewui trat aber
an die kleine versteckte Tür und zertrümmerte sie mit einem
Schwerthiebe. Es war ein dämmriger Raum. Albedewui konnte
aber sehen, daß am Boden sieben junge Mädchen lagen, die alle
gefesselt waren und die ihm alle sieben sehr schön zu sein schienen.
Als Albedewui die Tür aufschlug, schrien die Mädchen auf und
weinten. Sie sahen das alte Weib und riefen: "Töte uns lieber, als
daß du uns noch länger hier gefangen hältst." Da hob Albedewui
das Schwert und schlug dem alten Gulweib den Kopf ab, so daß er
über den Boden hinrollte. Als die jungen Mädchen das sahen, hoben
sie die gebundenen Hände und weinten vor Freude.
Nachdem die Mädchen sich ein wenig beruhigt hatten und nachdem
Albedewui die Stricke von ihren Händen abgebunden hatte,
sagte er: "Ihr armen Mädchen, die ihr anscheinend lange hier gelegen
habt! Ihr werdet euch erst ein wenig umkleiden wollen, ehe
ihr mir von all diesem Eigenartigen erzählt. Geht also dort drüben
hin, wo die sieben offenen Kammern sind. Kleidet und schmückt
euch nach eurem Geschmacke mit allem, was euch behagt und
kommt dann in die Halle, in der ich auf euch warten werde."
Albedewui ging in die Halle. Als Albedewui einige Zeit gewartet
hatte, traten die sieben Mädchen herein. Sie hatten sich in seidene
Kleider gehüllt und mit prächtigen Ringen und Ketten geschmückt.
Sie hatten sich die Haare geordnet und duftende Öle darüber gegossen.
Albedewui wollte aufstehen und den schönen Mädchen
entgegengehen, doch ehe er es verhindern konnte, waren sie vor
ihm niedergefallen und dankten ihm auf den Knien als ihrem Wohltäter
und Erretter. Albedewui bat sie, ihm zu berichten, wie sie in
die schreckliche Gefangenschaft gekommen wären. Darauf erzählten
sie ihm: "Diese Stadt wurde von einem reichen und mächtigen
Sultan beherrscht, der unser Vater war. In der Stadt wohnten
viele Menschen, die emsig arbeiteten und ihr Geld in dem Basar und
auf weiten Reisen sammelten. Wir lebten alle sehr glücklich und
fröhlich, bis eines Tages ein fremder Sultan, ein Sultan der Alledjenu
zu meinem Vater sandte und verlangte, er solle ihm sogleich seine
sieben Töchter senden, damit er sie heirate. Denn, so sagte er, er
habe nur eine Freude am Leben, das sei seine Tochter Sams-Adunia,
die werde ihm aber eines Tages, wie die Fakire sagten, von einem
gewissen Albedewui genommen werden, deshalb wolle er beizeiten
einen Ersatz für sein häusliches Glück haben, und er wolle deshalb
meines Vaters sieben Töchter für sein Haus haben; wenn unser
Vater dies ausschlage, so werde er sein Land vernichten lassen.*
Unser Vater war über diese Nachricht sehr entsetzt und ließ seinerseits
die Fakire seines Landes fragen, was sie hierzu zu sagen hätten.
Die Fakire sagten ihm, es stünde ihm und der ganzen Stadt großes
Unglück bevor, aber seine sieben Töchter würden nicht den Alledjenukönig
heiraten, sondern eben der Albedewui, der einst die
Tochter des Alledjenukönigs, die Sams-Adunia, heiraten würde,
eben der würde seine eigenen Töchter einst erretten und würde sie
ihren guten Ehegatten zuführen. Unser Vater ließ also die Forderung
des Alledjenukönigs abweisen. Aber dieser forderte einen
mächtigen Gui auf, der mit seiner Tochter immer im Streit lag und
der Sams-Adunia zur Frau begehrte, unseres Vaters Stadt zu vernichten.
Der mächtige Gui sandte nun, in der Hoffnung Sams-Adunia
gewinnen zu können, das alte Gulweib aus, das du vorhin
vor unserm Gefängnis getötet hast, mit ihren sieben Söhnen gegen
unsere Stadt zu ziehen und sie zu vernichten. Er versprach den
sieben Gulsöhnen uns als Gattinnen, wenn sie alle in der Stadt sonst
aufzehrten. Das Gulweib machte sich mit seinen Söhnen schnell
an das Werk, und wenn du durch die Stadt gegangen bist, wirst du
gesehen haben, daß außer uns niemand am Leben blieb. Von uns
sieben verlangte das Gulweib nun das Einverständnis der Ehe mit
ihren Söhnen, und sie hätte im Laufe der Zeit ihren Willen doch
vielleicht ertrotzt, wenn du nicht gekommen wärest und uns gerettet
hättest."
Nach dieser Erzählung begannen die Mädchen in der Erinnerung
an das Schreckliche, das sie erlebt hatten, zu weinen.
Der junge Mann sagte: "Ihr habt allerdings Schreckliches erlebt.
Es ward mir aber gegeben, die Gui zu töten, und ich bin auch der,
der euch eurem zukünftigen Glück entgegenführen kann." Die
sieben Mädchen riefen: "So bist du also Albedewui!" Der junge
Mann sagte: "Das bin ich, und ich habe auch die hierher geführt,
die nach allem als eure zukünftigen Gatten bestimmt sind. Es sind
die sieben Söhne eines Sultans, alle so untereinander gleich und miteinander
durch innigste Geschwisterliebe verbunden wie ihr. Diese
sieben Söhne liegen nun oben im Kaffeehaus auf dem Teppich. Das
Gulweib hat sie in Ohnmacht geworfen, und ich bitte euch nun,
hinzugehen und sie zum Leben zurückzurufen. Ich habe dem Gulweib
diese Büchse mit Pulver abgenommen, von dem nun jede von
euch dem in die Nase blasen mag, der ihr der Begehrenswerteste
scheint. Diese sieben Söhne eines Sultans sind meine besten Freunde
und die schönsten jungen Männer, so wie ihr die schönsten Mädchen
seid. So wird es euch nicht schwer fallen, sie mit freundlichen
Blicken zu betrachten, und so könnt ihr in dem Hause des Vaters
dieser Jünglinge eine neue und würdige Heimstätte finden."
Als die sieben schönen Mädchen dies gehört hatten, nahmen sie
gern aus der Hand ihres Wohltäters die Gabe entgegen, mit der sie
ihre zukünftigen Gatten wieder zum Leben zurückrufen konnten.
Nachdem sie aber in kluger Vorsicht erst ein Schaf, das Albedewui
geschlachtet, zubereitet und so für Speise gesorgt hatten, kehrten
sie unter seiner Leitung aus der unterirdischen Halle durch den
Höhlengang zur Oberwelt zurück. Mit Schrecken sahen sie dort
die Leichen der sieben Gui liegen. Mit Wonne sogen sie aber die
ungewohnt gewordene Luft ein, und eilten in dem Gedanken, daß
solcher Genuß den ohnmächtigen Jünglingen vorenthalten sei,
schnell dahin, wo diese noch lagen.
Unter der Führung Albedewuis kamen sie bald zu dem Kaffeehaus,
und nun ereignete es sich, daß ohne lange Wahl und ohne
Zögern ein jedes der sieben jungen Mädchen neben dem Jüngling
niederkniete, der ihr an Alter entsprach, nämlich die Älteste neben
dem Ältesten und die Jüngste neben dem Jüngsten. Und jede verabreichte
sogleich ihrem zukünftigen Gatten das wiederbelebende
Pulver, so daß jeder, die Augen aufschlagend, sich seiner zukünftigen
Gattin zuwenden mußte, und ein jeder unwillkürlich seine
Arme um seine schöne Lebensretterin schlang.
Als die ersten Augenblicke des Erstaunens vorüber waren und
alle sich ein wenig gefaßt hatten, nahmen sie Speise und Trank
zu sich. Danach aber sprach Albedewui: "Meine sieben Brüder, ihr
seht, ihr habt auf wunderbare Weise die sieben Gattinnen gefunden,
die ihr nach dem Gebote eures Vaters suchen solltet und die ihr nun
in das Serail eures Vaters führen und später dort heiraten könnt.
Macht euch also morgen auf und kehrt mit eurem kostbaren Funde
heim!"
Die sieben Jünglinge und sieben Mädchen sagten aber: "Was
willst du? Du, dem wir alles verdanken, du willst uns allein fortschicken
und willst nicht mitkommen?" Albedewui sagte: "Meine
Brüder und Schwestern, ich habe aus der Erzählung der sieben Mädchen
gehört, daß mir Sams-Adunia als Gattin zugedacht ist. Ich
will mich also sogleich auf den Weg machen und will sehen, ob ich
sie bald gewinnen kann. Macht euch also auf den Heimweg. Wartet
aber mit eurer Heirat so lange, bis ich zu euch komme, und wenn
ihr sieben Jahre warten müßtet." Die sieben Jünglinge und sieben
Mädchen sagten: "Ja, wir wollen auf dich und deine Sams-Adunia
warten!" Albedewui sagte: "Es ist gut, ich danke euch! Ruht euch
heute noch von der Erregung aus. Reitet morgen dann der Heimat
zu. Achtet aber genau darauf, daß ihr immer dem mittelsten Weg
folgt und bedenkt, daß jede Abzweigung auf einen Nebenweg euch
in eine Gefahr bringt." Die sieben Jünglinge und sieben Mädchen
versprachen, genau darauf zu achten.
Am andern Morgen nahmen die sieben Jünglinge und sieben
Mädchen von Albedewui Abschied und ritten von dannen. Anfangs
folgten sie mit Sorgfalt der Mittelstraße, nach einiger Zeit kamen
sie aber so ins Gespräch, daß sie die Richtung versahen und auf
einen Nebenpfad kamen. Auf diesem Nebenpfad gingen sie hin und
merkten es gar nicht, bis vor ihnen ein Gui sich erhob, der ein langes
Schwert gezogen hatte und über ihnen schwang. Der Gui schrie:
"Ich lasse euch nicht weiter! Ihr Burschen, ich werde euch totschlagen
und werde euch diese schönen Mädchen wegnehmen! Ich
werde euch aufessen und werde dann die fetten Täubchen zu mir
nehmen." Die sieben Jünglinge und sieben Mädchen wußten nicht,
was jetzt zu tun sei und alle schrien. Sie schrien entsetzt auf und
riefen: "Weshalb ist gerade jetzt nicht Albedewui bei uns!" Der
mächtige Gui rief: "Was redet ihr da? Sprecht ihr von dem Albedewui?
Euer Albedewui ist der, den ich am meisten herwünsche,
denn von ihm heißt es, daß er mir einst Sams-Adunia rauben würde!
Wenn ihr mir den einen Albedewui gebt, lasse ich euch alle vierzehn
gehen, wohin ihr wollt!"
Nachdem nun am Morgen die sieben Söhne des Sultans mit den
sieben Mädchen fortgeritten waren, hatte auch Albedewui sein Pferd
gesattelt und hatte sich auf den Weg gemacht, nach seiner zukünftigen
Frau zu suchen. Er ritt eine Zeitlang des Weges und dachte
über das nach, was er gestern erlebt hatte. Er sagte bei sich: "Diese
sieben Jünglinge werden mit den sieben Mädchen der Heimat entgegenreiten.
Ich habe ihnen gesagt, sie sollten sorgfältig darauf
achten, daß sie den Weg nicht verlieren, denn seitwärts zweigen
die Pfade ab, die zu dem großen Gui führen. Nun werden sich die
sieben Jünglinge und sieben Mädchen die Zeit damit vertreiben,
daß sie miteinander schwatzen. Das Schwatzen ist aber gefährlich,
denn sie können darüber den richtigen Weg verlieren. Sie werden
vor Glückseligkeit viel lachen und gar nicht mehr nach dem Wege
sehen. Ihre Pferde werden sie dahin bringen, wo Wohnungen am
Wege sind. Das sind aber die Wohnungen der Gui. Wenn sie zum
großen Gui kommen, werden sie sich nicht zu helfen wissen. Sicherlich
sind sie also jetzt schon nahe der Gefahr. Ich will ihnen daher
schnell nachreiten und will sehen, ob ich ihnen noch helfen kann."
Albedewui drückte also seinem Pferd die Sporen in die Seiten und
jagte so schnell er konnte den sieben Jünglingen und sieben Mädchen
nach. Er verfolgte aufmerksam die Spuren ihrer Pferde und
kam nach kurzer Zeit auch dahin, wo sie vom Hauptwege abgewichen
waren. Albedewui kam wie ein abgeworfener Speer angeschossen.
Er kam gerade dazu, als der große Gui sich mit den
sieben Jünglingen stritt und als der große Gui sagte: "Wenn ihr
mir den einen Albedewui gebt, lasse ich euch alle vierzehn gehen,
wohin ihr wollt!" Als der heranjagende Albedewui das hörte, rief
er: "Den Albedewui kannst du hinnehmen, der Mann ist hier!"
Der große Gui blickte auf den Mann, der angeritten kam und
fragte: "Wie heißt du?" Albedewui sagte: "Du sagtest meinen
Namen. Ich heiße Albedewui, und da du mich für die andern gefordert
hast, so laß die andern nur ziehen, denn ich gedenke bei dir
zu bleiben."
Darauf erlaubte der große Gui den andern vierzehn fortzugehen
und ihres Weges in die Heimat zu ziehen. Zu Albedewui aber sagte
er: "Höre, Albedewui! Es ist mir gesagt worden, daß du mir einst
Sams-Adunia, die Tochter des Alledjenukönigs, rauben wirst. Wenn
du das tun willst und mir dann diese Sams-Adunia bringst, magst
du auch ungeschoren bleiben. Ich will nämlich dieses Mädchen
durchaus zur Frau haben. Ich lebe aber seit Jahren mit ihrem
Vater und ihr im Kriege, und noch letzthin hat sie mir sieben
Burschen geraubt, die jetzt daheim als Kamele Holz tragen müssen.
Sage mir, ob du das willst?" Albedewui sagte: "Warum, mein
großer Gui, soll ich Sams-Adunia nicht rauben?! Es ist mir auch
gesagt, daß ich das werde tun müssen, nur weiß ich nicht, wie ich
zu ihr komme und wie ich es anstellen soll!" Der große Gui sagte:
"Es trifft sich sehr gut, daß gerade jetzt der Mann gestorben ist,
dem die Dagit-el-chifa (Tarnkappe, die den, der sie aufsetzt, unsichtbar
macht) und die Al-bussat (die Wandermatte, die jeden,
der sich darauf setzt, dann, wenn er sie mit der Sod-al-hedma, einer
Peitsche, schlägt, dahin trägt, wohin er will) gehörte, und daß seine
zwei Söhne sich um den Besitz dieser zwei Dinge streiten. Wenn
du jenen Weg gehst, kommst du zu den streitenden Burschen und
kannst, wenn du geschickt bist, beide Gegenstände gewinnen. Einmal
in deren Besitz, muß aber ein kluger und geschickter Mann wie
du, die Prinzessin leicht rauben und mir auf der Wandermatte
hierher bringen können. Willst du das tun?" Albedewui sagte:
"Weshalb soll ich das nicht tun?" Der große Gui sagte: "So zieh
zum Zeichen, daß du es tun willst, den Ring vom Finger und übergib
ihn mir!"
Albedewui drehte nachdenklich an seinem Fingerringe. Er ließ
ihn dann wie unabsichtlich herabgleiten, so daß er auf dem Boden
hinrollte. Als er aber am Boden lag, bückte sich der große Gui,
denn er war sehr gierig darauf, Sams-Adunia zu gewinnen und
strebte danach, von Albedewui in diesem Sinne eine Zusage zu erhalten.
Als der große Gui aber so eilig nach Albedewuis Ring
huschte, zog der sein Schwert ab, schlug dem großen Gui den Kopf
ab und sagte: "Kannst du nicht abwarten, bis ich dir den Ring
gebe ?"
Danach steckte sich Albedewui den Ring wieder an, bestieg sein
Pferd und ritt in der Richtung fort, in der nach der Angabe des
großen Gui die beiden Burschen sich um die Erbschaft der Tarnkappe
und der Wandermatte stritten. Und richtig, er war noch gar
nicht weit gekommen, als er schon hörte, daß zwei Burschen sich
stritten. Der eine schrie: "Ich will die Kappe haben, und du kannst
die Matte haben." Worauf der andere antwortete: "Nein, du kannst
die Matte nehmen, sollst mir aber die Kappe geben." Nachdem der
Streit eine Zeitlang gedauert hatte, kam Albedewui näher, hielt sein
Pferd aber in der Richtung, daß die Burschen meinen mußten, er
wolle in einiger Entfernung an ihnen vorüberreiten. Die beiden
Burschen sahen den Reiter vorüberreiten. Der eine sagte: "Da
kommt ein fremder Mann vorbei, der nichts von unserm Streit
weiß. Wir wollen ihn bitten, hierher zu kommen und zu entscheiden,
wem eines oder beides zufallen solle. Der andere Bursche
sagte: "Das ist das erste vernünftige Wort, das ich von dir höre."
Die beiden Burschen riefen also Albedewui. Albedewui kam näher
und sagte: "Was wollt ihr von mir? Sagt es schnell, denn ich habe
nicht viel Zeit zu verlieren." Der eine Bursche sagte: "Es ist eine
sehr einfache Sache. Wir sind die Söhne eines armen Mannes, der
nichts hinterlassen hat, als eine elende Kappe und eine alte Matte,
zu der eine verbrauchte Peitsche gehört. Wir streiten nun darüber,
wem diese Dinge, die hier liegen, zukommen." Der andere Bursche
sagte: "Wir bitten dich zu entscheiden und zu teilen." Albedewui
sagte: "Das ist sehr einfach. Ich werde zunächst vom Pferde steigen
und werde dann ein Stück Holz werfen. Ihr lauft hinterher; wer
es zuerst erreicht, soll zunächst einmal die alte schmutzige Kappe
erhalten."
Die Burschen sagten: "Das ist sehr gut! So wollen wir es
machen." Albedewui stieg neben den Erbstücken vom Pferd, ergriff
ein Holz und warf es soweit er konnte. Die beiden Burschen liefen
so schnell sie vermochten hinterher.
Als sie weggelaufen waren, ergriff Albedewui schnell die Tarnkappe
und setzte sie auf. Dann setzte er sich auf die Matte und
schlug mit der Peitsche auf die Matte. Die Matte sagte: "Wohin
willst du?" Albedewui sagte: "Bringe mich schnellstens in die
Stadt Sams-Adunias!" Sofort hob die Matte Albedewui empor, und
gleich darauf befand er sich in einer ihm ganz fremden Stadt. Er
stand auf, nahm die Matte unter den Arm, zog die Kappe ab und
ging auf einen Mann zu, der auf der Straße stand. Albedewui sagte
zu dem Manne: "Wo wohnt hier Sams-Adunia?" Der Mann sagte:
"Du siehst den großen Gasr (Turm) dort! In seinem obersten
Zimmer wohnt Sams-Adunia. Sams-Adunia kommt aber jedes Jahr
nur einmal herab, um über das Land zu gehen, dann kehrt sie
wieder auf den Gasr zurück."
Albedewui dankte dem Manne und ging. Als es Abend war, nahm
er seine Kappe auf, setzte sich wieder auf seine Matte, peitschte sie
und sagte: "Bringe mich oben durch das Fenster in den Raum, in
dem Sams-Adunia sich befindet." Sogleich war Albedewui hochgehoben,
und im nächsten Augenblick befand er sich in dem Zimmer,
in dem Sams-Adunia auf einem Angareb lag und schlief.
Albedewui beugte sich über Sams-Adunia. Albedewui sah, daß
Sams-Adunia sehr schön war. Albedewui streckte den Arm aus
und glitt mit der Hand über Sams-Adunias Hand. Er sagte: "Dies
also ist die mir bestimmte Gattin!"
Sams-Adunia erwachte. Sams-Adunia fühlte, daß eine fremde
Hand über die eigene strich. Sie konnte aber niemand sehen, denn
Albedewui hatte die Tarnkappe noch nicht abgenommen. Sams-Adunia
erschrak nicht, denn sie war tapfer. Sie sagte aber zu dem
Fremden: "Wer ist der Fremde, der mich berührt? Ich fühle es,
daß ein Fremder da ist. Sage mir also, wer du bist. Besonders wenn
du Albedewui bist, sage es, denn ich weiß, daß du mir zum Gatten
bestimmt bist. Zeige dich also, wer du auch bist!"
Albedewui nahm die Kappe ab, so daß Sams-Adunia ihn nun
sehen konnte. Albedewui sagte: "Ich bin dein zukünftiger Gatte;
ich bin Albedewui." Darauf erhob sich Sams-Adunia und betrachtete
ihn lange, dann sagte sie: "Ich freue mich, daß du so und nicht
anders bist."
Albedewui sagte: "Ich liebe dich so, daß ich dich gleich mit mir
hinwegnehmen möchte; sage mir aber, ob das angeht." Sams-Adunia
sagte: "Mein Lieber, das ist nicht möglich. Mein Vater liebt
mich so und ist so mächtig, daß er mich nicht nur überall finden,
sondern auch leicht zurückbringen und dich töten lassen würde.
Gehe aber getrost zu meinem Vater und bitte ihn um meine Hand.
Er wird dir verschiedene schwere Aufgaben stellen. Sage mir jedesmal,
welche Aufgabe es ist, und dann werde ich dir sagen, wie du
sie lösen kannst. Wenn mein Vater aber erst gesagt hat, daß du
mich als Frau mitnehmen könntest, wenn du dies oder das beständest,
dann kannst du mich getrost mitnehmen. Er kann vielleicht
versuchen, dir noch mehr aufzubürden; du brauchst diesen
andern Forderungen aber nicht mehr zu folgen, denn er hat sich
durch sein Wort gebunden." Albedewui sagte: "Ich werde nun also
zu deinem Vater gehen und ihn um deine Hand bitten. Wenn er
mir die erste Aufgabe vorgeschrieben hat, komme ich zurück."
Albedewui verließ Sams-Adunia auf seiner Matte und ging zum
Alledjenusultan. Er warf sich vor ihm nieder und sagte: "Mein
Sultan, ich bin Albedewui, der Sohn eines Sultans. Ich bitte dich,
gib mir deine Tochter zur Frau." Der Alledjenusultan sagte:
"Meine Tochter Sams-Adunia haben schon viele zur Frau begehrt,
aber jeder hat noch das Begehren mit dem Tode bezahlt; denn ein
jeder muß mir einige Aufgaben lösen, und wenn er das nicht vermag,
stirbt er. Überlege dir also die Sache!" Albedewui sagte: "Ich
liebe deine Tochter so sehr, daß ich jeden Versuch, sie zum Weibe
zu erhalten, machen will; und wenn ich es auch etwa mit dem
Tode bezahle, so ist es mir lieber, als wenn ich ohne deine Tochter
weiter leben soll." Der Sultan sagte: "Du sollst es haben, wie du
es verdienst. Meine erste Forderung ist, daß du meine sieben
Kamele heraustreibst in die Wüste, mit Holz belädst und beladen
wieder zurückbringst." Albedewui sagte: "Ich werde das mit
meinem ältern Bruder besprechen, dann werde ich es versuchen."
Albedewui ging sogleich zu dem Manne, bei dem er sich ein
Quartier besorgt hatte, schloß sich ein und ließ sich von seiner Matte
zu Sams-Adunia hinauftragen. Oben angelangt, erzählte er ihr, was
ihr Vater von ihm verlangt habe. Sams-Adunia sagte: "Diese Aufgabe
ist eine sehr schwere für einen andern und würde ihm sogleich
den Kopf kosten. Denn diese sieben Kamele sind keine gewöhnlichen
Tiere, sondern es sind die jungen Gui, die im Kampfe mit
dem großen Gui gefangen wurden.
Nimm nun diesen Stab, gehe zu dem Tore des Kamelstalles und
schlage mit dem Stab gegen die Türe. Sage dazu: ,Auf Befehl Sams-Adunias
kommt alle sieben heraus!' Dann wird die Tür sich öffnen
und alle sieben Kamele, das größte voran, werden herauskommen.
Sie werden in die Wüste gehen bis zu einem Hügel, auf dem viel
Holz ist. Am Hügel klopfe das größte Kamel mit dem Stab und
sage: ,Auf Befehl Sams-Adunias beladet euch alle sieben mit Holz
und bringt es nach Haus!' Dann werden sich alle Kamele selbst
beladen und die Holzlasten heimbringen. Damit hast du deine erste
Aufgabe gelöst."
Albedewui sagte: "Ich danke dir!" Albedewui nahm den Stab
Sams-Adunias und ließ sich wieder in sein Quartier tragen. Am
andern Morgen aber ging er in den Palast und ließ sich den Stall
der sieben Kamele zeigen. Er schlug mit dem Stabe Sams-Adunias
dagegen und sagte: "Auf Befehl Sams-Adunias kommt alle sieben
heraus!" Darauf öffnete sich das Tor und sieben gewaltige Kamele,
wie er sie nie vorher in seinem Leben gesehen hatte, kamen heraus.
Das größte schritt aber voran. Die Kamele gingen in die Wüste
und Albedewui ging mit, neben dem größten her, bis es an einen
Hügel kam, der über und über mit Holz bedeckt war. Dort schlug
er dem vordersten Kamel gegen die Füße und sagte: "Auf Befehl
Sams-Adunias beladet euch alle sieben mit Holz und bringt es nach
Hause!" Darauf legten die Kamele sich nieder, und jedes einzelne
Kamel belud sich selbst mit Holz. Als sie aber jedes eine gewaltige
Last Holz aufgepackt hatten, trotteten sie alle gemächlich
nach Haus und luden das Holz vor ihrem Staue ab. Dann gingen
sie wieder durch das Tor hinein, und dieses schloß sich hinter
ihnen.
Als die Diener des Sultans dieses sahen, liefen sie zum Herrscher
und sagten: "O Sultan! Dieser Freier Sams-Adunias ist anders als
die andern, denn er hat die erste Aufgabe, die du ihm gestellt hast,
gelöst, trotzdem sie sehr schwer ist."
Der Sultan ließ Albedewui rufen und sagte: "Ich höre, daß du
deine erste Aufgabe ausgeführt hast. Nun will ich dir sagen, was
du morgen zu bestehen hast. Wenn du das vermagst und mit dem
Leben davonkommst, dann will ich dich nicht weiter behelligen,
dann magst du meine Tochter wegführen und heiraten."
Albedewui sagte: "Ich bitte dich, mir zu sagen, was ich morgen
zu bestehen habe." Der Sultan sagte: "Ich besitze einen außerordentlich
großen Gisan (Wasserkessel), in dem du bequem stehen
und liegen kannst. Wenn du dich nun der entscheidenden Probe
unterziehen willst, steige in diesen morgen früh hinein. Ich werde
dann alles Holz, das die sieben Kamele herbeigebracht haben, unter
den Kessel packen und anzünden lassen. Wenn all dieses Holz verbrannt
ist und du dennoch im Kessel am Leben bist, so will ich
mich in den Verlust meiner geliebten Tochter ergeben; dann magst
du sie mit dir heimführen!" Abedewui sagte: "Ich danke dir für
dieses Versprechen. Jetzt will ich zu meinem ältern Bruder gehen
und will mit dem die Angelegenheit beraten und mich für das
schwere Unternehmen vorbereiten."
Albedewui verließ das Serail des Sultans und eilte in sein Quartier.
Dort setzte er sich auf seine Matte und ließ sich schnell zu Sams-Adunia
tragen. Er begrüßte die schöne Prinzessin und erzählte ihr,
was der Sultan als entscheidende Probe verlange. Sams-Adunia
sagte: "Die Sache ist nicht so schwer für dich zu bestehen. Nimm
diesen meinen Ring hier. Wenn du morgen in den Gisan steigst,
halte ihn zwischen Lippe und Gaumen. Alles Feuer, das unter dem
Gisan angezündet wird, kann dir dann nichts anhaben. Ziehe deine
Kleider aus und lege sie dir als Teppich unter. Wenn du Durst oder
Hunger hast, reibe an dem Stein, und du wirst alles haben, was du
brauchst. Wenn dann alle sieben Kamellasten unter dem Kessel
verbrannt sind, wirst du wohl und munter sein."
Albedewui nahm den Ring Sams-Adunias, dankte ihr und kehrte
schnell in sein Quartier zurück. Am andern Morgen aber machte
er sich frühzeitig auf den Weg und suchte die Leute des Sultans
auf. Er ward zu dem großen Gisan gebracht. Es war ein Wasserkessel,
in dem Albedewui bequem liegen und stehen konnte, und
die einzige Schwierigkeit bestand darin, hineinzusteigen. Sobald er
einmal hineingelangt war, zündeten die Leute des Sultans darunter
Holz an und legten immer mehr Holz in die Flammen. Es waren
aber die Holzlasten, die die sieben Gulkamele am Tage vorher aus
der Wüste gebracht hatten, aufgeschichtet, und das war eine gewaltige
Masse. Albedewui hatte sogleich den Ring Sams-Adunjas
in den Mund genommen, und das bewirkte, daß er überhaupt nichts
von der Hitze bemerkte, die unten entfacht war. Er entledigte sich,
um es sich ganz bequem zu machen, seiner Kleider und legte sie
auf den Boden. Nachdem er sich so ein weiches Lager bereitet hatte,
schlief er einige Stunden ausgezeichnet, und als er dann erwachte,
sagte er: "Jetzt wäre es wohl an der Zeit, eine Schale Kaffee zu
trinken." Er rieb also an dem Ringe Sams-Adunias, und alsbald
hatte er eine Sinia mit Kaffee vor sich, und nachdem er diesen geschlürft
hatte, bestellte er sich einige gute Speisen auf gleiche Weise.
So verbrachte Albedewui seine Zeit aufs angenehmste, während die
Sklaven des Sultans in Schweiß gebadet und unter großer Anstrengung
immer neue Massen von Holz in das Feuer unter den
Wasserkessel warfen.
Endlich waren alle sieben Kamellasten Holz verbrannt, und die
Sklaven liefen zum Sultan der Alledjenu und teilten ihm dies mit.
Der Sultan kam hierauf selbst heraus, denn er wollte sehen, wie
die Knochen Albedewuis aus dem Kessel genommen wurden. Nachdem
sich der Gisan etwas abgekühlt hatte, stiegen die Sklaven hinauf
und öffneten ihn, um die verkohlten Teile des tollkühnen Freiers
herauszunehmen. Wie groß war aber das Erstaunen des Sultans
und aller seiner Leute, als Albedewui wohlbehalten und von der
angenehmen Ruhe und Speisung gekräftigt, mit der Kappe, der
Matte und der Peitsche aus dem Gisan herausstieg. Albedewui
breitete seine Matte aus, warf sich vor dem Sultan auf ihr nieder
und sagte: "Großer Sultan, nachdem ich nun diese Probe bestanden
habe, bitte ich dich, dein Wort zu halten und mir deine Tochter zur
Frau zu geben." Der Sultan sagte: "Ich habe dir allerdings gesagt,
daß ich dir nun meine Tochter geben will, ich verlange aber von
dir, daß du noch eine Probe bestehst."
Als der Sultan das sagte, setzte Albedewui schnell seine Kappe
auf, schlug mit der Peitsche auf die Matte und sagte: "Bring mich
schnell zu Sams-Adunia." Der Sultan sah sich, sobald Albedewui
die Kappe aufgesetzt hatte, vergebens nach diesem um. Er rief ihn
und hieß seine Leute ihn suchen. Mittlerweile setzte sich aber oben
im Gasr Sams-Adunia zu Albedewui auf den Teppich und gelangte
mit ihm zu den sieben Brüdern und Schwestern.
Der Vater der sieben Brüder war inzwischen gestorben. Die
sieben Brüder hatten nichts unternommen in der Wahl des neuen
Sultans. Als nun Albedewui mit Sams-Adunia ankam, überredeten
sie ihn, Sultan zu werden. Darauf heirateten Albedewui und die
sieben Brüder an einem Tag und das war der schönste Tag, den
die Leute in diesem Lande überhaupt je erlebt hatten.
12. Der Sohn der Beischläferin
Ein Scheich mit Namen Ismain Ali hatte ein Weib und eine Beischläferin
(kordof. = kosche). Von seiner Frau hatte er zwei
Söhne, von der Beischläferin nur einen, und dies war sein jüngster.
Der Scheich hatte große Reichtümer, und zumal er sah, daß die
Söhne mancher anderer Familien das Besitztum und Erbe der Väter
leicht und schnell vergeudeten, sagte er sich: "Ich will meine Söhne
beizeiten an den Besitz gewöhnen, so daß sie ihn früh behandeln
lernen. Denn nur wer von Jugend auf mit Kamelen zu tun gehabt
hat, lernt ein gutes Tier richtig zu behandeln." Der Scheich rief seine
drei Söhne und sagte zu ihnen: "Meine Söhne! Ihr sollt etwas von
andern Leuten und andern Ländern kennen lernen. Auch will ich
sehen, wer von euch der Würdigste ist, nach meinem Tode meine
Besitztümer zu verwalten. Deshalb werde ich euch hiermit eine
Summe Geldes geben. Jeder von euch erhält den gleichen Betrag.
Zieht fort, jeder wohin er will, und seht, was aus dem Gelde unter
der Tätigkeit eurer Gedanken und Überlegungen wird. Wer später die
reichsten Erträge von diesem Gelde heimbringt, dem werde ich die
Leitung meines Besitzes übertragen." Damit übergab der Scheich
jedem einzelnen seiner Söhne eine gleiche Geldsumme und wünschte
ihnen allen dreien gutes Gelingen.
Die drei Söhne verabschiedeten sich aber von ihrem Vater und
rüsteten sich für die Reise. Sie sagten ihren Müttern Lebewohl und
hörten von ihnen die letzten Worte.
Die Mutter der ältern Söhne sagte: "Meine Söhne, einer von
euch beiden wird nun der Erbe eures Vaters werden. Streitet euch
nicht darum, sondern lernt beizeiten euch vertragen. Kommt mit
schönen Kleidern aus den andern Ländern zurück, damit die Leute
euch gleich als die Söhne angesehener Eltern erkennen." Die Beischläferin
sagte: "Nach der Ansicht vieler Leute sind die Söhne der
Beischläferinnen klüger als die der Ehefrauen. Sei du aber nicht
nur klug, sondern handle vor allen Dingen ehrenhaft. Es ist besser,
ehrenhaft zu unterliegen, als aus Klugheit der Schande gegenüber
blind zu sein. Geh, mein Sohn, und denke stets an die Liebe deiner
Eltern!"
Nachdem die Frauen ihren Kindern noch diese Worte gesagt
hatten, brachen alle drei Söhne des Scheichs auf. Die ältesten
beiden, die Söhne der Ehefrau, gingen gemeinsam, der jüngste aber,
der Sohn der Beischläferin, ging seinen eigenen Weg.
Nachdem die ältern beiden Brüder viele Tage weit gereist waren,
kamen sie in einer Stadt an, in der die Leute viel Merissa tranken,
jeden Abend tanzten und die Zeit mit Lachen und Singen verbrachten,
ohne daran zu denken, ihr Besitztum durch Handwerk oder Handel
zu vermehren. In dieser Stadt wohnte aber ein Mädchen mit Namen
Fatma, das war über alle Maßen schön, und es war klüger als alle
Männer der Stadt. Alle Männer sagten: "Ich möchte dich heiraten,
werde meine Frau!" Das Mädchen aber antwortete stets: "Ich will
den sehen, der klüger ist als ich es bin; komm, spiele mit mir Mangala*,
setze, was du hast. Ich setze, was ich habe. Wer gewinnt,
der erhält das Besitztum beider." Die Männer, die nun mit dem
schönen Mädchen spielten, verloren ihr Geld, und so gewann sie
immer größere Reichtümer. Da aber auch viele durchziehende
Kaufleute ihr Glück auf diese Weise versuchten, so wuchs der
Reichtum Fatmas ununterbrochen, und es war niemand im Lande,
der so wohlhabend war als Fatma. Fatma aber nannte ihr Besitztum
die "Dummheit der Männer".
Als die beiden Brüder in diese Stadt kamen und als sie abends
von dem Mädchen und seiner Gewohnheit hörten, sagte der älteste:
"Ich muß die Schönheit und den Reichtum dieser Fatma sehen."
Der zweite sagte: "Geh hin, aber spiele nicht mit ihr Mangala; denn
du hörst, wie es den andern gegangen ist." Der Älteste sagte aber:
"Was ich zu tun habe, weiß ich ganz allein." Dann ging der Älteste.
Der Älteste kam zu dem Hause Fatmas. Fatmas Haus lag in
einem Garten, und vor dem Hause war ein weiter Platz mit Kies,
auf dem Matten und Kissen ausgebreitet waren. Auf den Matten
lagen und saßen viele Männer; in ihrer Mitte aber saß auf einer
Stufe Fatma. Der Älteste sah Fatma und sagte bei sich: "Wer
dieses Mädchen einmal zur Frau gewinnt, wird nicht nur die klügste,
sondern auch die schönste Frau heiraten." Der älteste Sohn des
Scheichs setzte sich unter die Zahl der Männer. Nachdem er einige
Zeit zu dem Mädchen aufgesehen hatte, sagte er: "Fatma, ich will
mit dir Mangala spielen." Das Mädchen sagte: "Überlege dir diese
Sache!" Der Älteste sagte: "Ich will mit dir spielen." Das Mädchen
sagte: "Willst du meinetwegen oder des Geldes wegen mit mir
spielen?" Der Älteste sagte: "Ich will deinetwegen mit dir spielen."
Das Mädchen sagte: "Dies antworten mir alle. Ich will es aber
trotzdem tun. Ich setze die Dummheit der Männer gegen all dein
Geld." Der Älteste sagte: "Es ist mir recht!"
Die Sklavinnen brachten nun ein Mangala, das war aus Elfenbein
geschnitzt und mit Diamanten und Rubinen besetzt. Sie spielten
mit goldenen Kugeln darin. Fatma sagte: "Wir wollen spielen.
Ich gehe den Weg der weiblichen List, und du magst den der männlichen
Klugheit beschreiten. Ich setze die Dummheit der Männer und
du all dein Besitztum, das du ja jetzt klug anzuwenden vermeinst
und deshalb als deine Klugheit einsetzen kannst." Der Älteste sagte:
"Du hältst nicht viel von den Männern, aber ich will doch mit dir
spielen." Darauf spielte Fatma mit dem ältesten Sohn. Der älteste
Sohn des Scheich verlor. Fatma sagte: "Nun ist auch deine Klugheit
in der Dummheit der Männer aufgegangen." Die andern Männer
lachten aber und sagten zum Sohne des Scheich: "So wie es dir gegangen
ist, so ging es uns auch. Fatma ist klüger als alle Männer."
Der älteste Sohn des Scheich ging durch die Stadt zu seinem
jüngeren Bruder. Der jüngere Bruder sah, daß der ältere traurig
war, und er sagte zu ihm: "Erzähle mir, was mit dir ist? Sind wir
nicht Söhne eines Vaters und einer Mutter? Sage mir also den
Grund deiner Trauer!" Der Ältere sagte: "Ich war bei diesem
Mädchen." Der Jüngere sagte: "Ist sie wirklich so schön?" Der
Ältere sagte: "Sie ist das schönste Mädchen, das ich je sah!" Der
Jüngere sagte: "Hast du etwa mit ihr gespielt?" Der Ältere sagte:
"Ja, ich habe gespielt; denn das Mädchen ist so schön, daß man
mit ihr spielen muß!" Der jüngere Bruder sagte: "Hast du etwa
alles verloren?" Der Älteste sagte: "Ja, ich habe alles verloren!"
Der Jüngere sagte: "Ich habe dir vorher gesagt, du sollst nicht
spielen. Nun hast du nichts mehr und mußt als Diener dein Brot
verdienen." Der Ältere sagte: "Ich werde dir etwas sagen: Geh
du auch hin. Spiele du auch, dann wirst du mein und ihr ganzes
Besitztum gewinnen; dann wirst du ein reicher Mann sein und
kannst mich in deine Dienste nehmen. Denn ich will natürlich
lieber in deinem als in einem fremden Dienst arbeiten." Der Jüngere
sagte bei sich: "Dies ist eine gute Gelegenheit, der Nachfolger
meines Vaters zu werden, denn da mein Bruder der Älteste ist, wird
er ja doch dessen Besitztümer erben, wenn er nicht selbst darauf
verzichtet." Der Jüngere sagte darauf zum Älteren: "Willst du,
wenn ich gewinne, mein Diener sein und freiwillig auf alles Besitztum
unseres Vaters verzichten?" Der Ältere sagte bei sich: "Wenn
mein Bruder verliert, wird er ebenso arm sein wie ich und daher
mit ebensowenig Ansprüchen zu unserm Vater zurückkommen
wie ich. Wenn mein Bruder aber gewinnt, wird er auch Fatma zur
Gattin erlangen, und dann werde ich ihn eines Tages töten um
Fatmas willen." Der ältere Bruder sagte: "Mein Jüngerer, an dem
Tage, an dem du gewinnst, will ich dein Diener sein und als dein
Diener auf alle Rechte des Ältesten verzichten bis zu deinem Tode."
Da nahm auch der Jüngere das Geld, das ihm der Vater mit auf
die Wanderung gegeben hatte und ging hinaus zum Garten Fatmas.
Der Ältere begleitete ihn. Als die beiden in den Garten kamen,
waren noch alle andern Männer auf den Matten versammelt, und
in ihrer Mitte saß noch immer auf ihrer Stufe Fatma. Als die
Männer die beiden Brüder kommen sahen, lachten sie und sagten:
"Schaut, wie der eine den andern mit herangebracht hat. Sieh,
Fatma, die Quelle deines Wohlstandes wird nicht versiegen." Der
jüngere Bruder hatte auf dem Wege zu Fatmas Garten nur daran
gedacht, daß er die Rechte des Erstgeborenen erspielen wollte. Der
Jüngere hatte bisher an nichts anderes gedacht. Als er nun aber
die schöne Fatma sah, hatte er alles vergessen. Die schöne Fatma
lachte mit den Männern und fragte den Jüngeren: "Willst du auch
mit mir Mangala spielen?" Der Jüngere sagte: "Ja, ich will auch
mit dir spielen." Fatma sagte: "Willst du meinetwegen oder des
Geldes wegen mit mir spielen?" Der Jüngere hatte alles vergessen,
was er vorher gedacht hatte und sagte: "Ich will deinetwegen mit
dir spielen." Fatma sagte: "Gut denn! Ich fürchte, ihr seid alle
gleich, und ich werde nie einen Gatten gewinnen. Setze also deine
Klugheit. Ich setze die ,Dummheit der Männer'!" Der Jüngere
spielte. Der Jüngere verlor. Fatma sagte: "Siehst du, nun ist auch
deine Klugheit auf dem Wege der weiblichen List in der Dummheit
der Männer aufgegangen." Fatma sagte: "Oh! Wann werde ich
endlich einen Gatten gewinnen!" Und Fatma rief ihre Sklavinnen
und sagte: "Weist mir nun alle Männer aus dem Garten, ich bin
ihrer überdrüssig!"
Die beiden Brüder gingen traurig durch die Stadt. Der Jüngere
sagte: "Wir werden nun beide durch Arbeit unsern Unterhalt verdienen
müssen." Der Altere sagte: "In dieser Stadt werden wir aber
keine Stellung erhalten, denn hier sind alle Leute nur mit Tanzen
und Singen und Trinken beschäftigt. Wir werden also in die nächste
Stadt gehen müssen." Der Jüngere stimmte dem bei, und somit
schnürten sie sogleich ihre ärmlichen, gehaltlosen Bündel und
machten sich auf den Weg. Sie wanderten noch ein gutes Stück,
die ganze Nacht und einen Tag lang und langten endlich in einer
sehr großen und betriebsamen Stadt an, in der viele Kaufleute und
Handwerker wohnten.
Am andern Tage sahen sich beide sogleich nach einem einträglichen
Unterkommen um. Da sie nun aber nichts mehr hatten,
mußten sie das erste ergreifen, was sich ihnen bot, und so ward der
eine der Diener in einer Kaffeeküche und der andere Austräger
eines Händlers im Basar. Sie erhielten zwar nur sehr geringen
Lohn, aber aus der Stadt Fatmas strömten so viele verarmte Burschen
hierher, daß ein Überfluß an Arbeitsangebot da war, und daß
gar nicht daran zu denken war, eine bessere Unterkunftsgelegenheit
zu finden. So waren die beiden ältesten Söhne des Scheichs
und dessen rechtmäßiger Frau zu ganz armen Leuten geworden.
Inzwischen war der dritte Sohn des Scheichs, den er mit einer Beischläferin
gezeugt hatte, allein seines Weges gezogen. Überall
in den Karawansereien hörte er aufmerksam zu, wo dieses und jenes,
diese und jene Ware gut aufgekauft oder wieder abgesetzt werde,
und auf welche Weise dieser und jener reiche Mann seinen Wohlstand
gegründet habe. Forderte ihn ein Wandergenosse auf, in
einem oder dem andern Geschäft sein Geld mit anzulegen, so sagte
er, er sei arm und besitze nichts. Forderten die Leute ihn auf, sich
einmal an einem Spiel zu beteiligen, so sagte er, er sei taub und
verstehe nicht recht. Lockte ein schönes Mädchen, so sagte er, seine
Augen seien zu schwach, um sehen zu können, und lud ihn jemand
ein, einen Trunk mit ihm zu tun, so sagte er, sein schwacher Magen
verbiete ihm den Genuß. Nachdem er sich aber weidlich umgetan
hatte, begann er hier und dort Seide und Elfenbein, kostbare Steine
und kunstvolles Geschmeide aufzukaufen, und da er vorher genau
aufgemerkt, an welcher Sache ein jeder einen besondern Gefallen
habe, so wußte er jede Sache auch wieder gut unterzubringen, so
daß er nie einen Schaden hatte. Wie er aber vorher niemals am
Trunk, an Frauengesellschaft und am Spiel teilgenommen hatte, so
wußte er auch jetzt es immer zu vermeiden, daß er den schönen
Sachen, die er kaufte, anhing. Wenn er einen schönen Stein erworben
hatte, sagte er bei sich: "Später, wenn ich ein reicher Mann
und der Erbe des Reichtums meines Vaters sein werde, will ich mir
auch solch schöne Sachen kaufen und als Eigentum hinlegen. Jetzt
aber dürfen sie nicht an meinen Fingern hängen bleiben, sondern
müssen bald wieder in andern Besitz kommen, damit ich an ihnen
verdiene und nicht verliere."
Der dritte Sohn des Scheichs wurde so alle Tage wohlhabender
und vermehrte den Besitz, den der Vater ihm mit auf Reisen gegeben
hatte, um das Vielfache. Dadurch, daß viele schöne Sachen durch
seine Hände gingen, lernte er das Schöne schätzen und beachten.
Und dadurch, daß er ständig beobachtete, wie die reichen Leute
durch Ankauf, Besitz und Verlust solcher Sachen glücklich und
unglücklich, reich und arm wurden, vermehrte er immer mehr die
Klugheit, die ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben hatte.
Indem er aber sorgfältig beachtete, daß er durch seine Geschäfte
niemals einen Menschen in das Unglück stieß, daß er vielmehr
manchmal den Vorteil gehen ließ, um durch guten Rat andere vor
drohendem Untergange zu bewahren, behielt er ein Verständnis für
das Glück und Unglück anderer und wurde so niemals zu einem
Wucherer.
Als der jüngste Sohn des Scheichs einen bedeutenden Reichtum
gewonnen hatte, sagte er: "Es wird nun Zeit, daß ich heimkehre.
Ob ich nun mit dem Geschenk meines Vaters mehr oder weniger
verdient habe als meine Brüder, so will ich doch heimkehren, denn
meine Eltern sind nicht mehr jung, und ich möchte noch einige
Jahre in ihrer Nähe leben." So belud er denn eine Karawane und
machte sich auf, mit seinen Schätzen heimzukehren. Da er es aber
liebte, möglichst viel von der Welt zu sehen, so ließ er seine Karawane
auf einem andern Weg als auf dem, der ihn hinausgeführt
hatte, zurückkehren. So kam es denn, daß er in jene Stadt gelangte,
in der seine Brüder dienten.
Der Jüngste erreichte diese Stadt an einem Morgen. Er ließ seine
Karawane vor der Stadt lagern und ritt selbst hinein, um die Basare
zu besichtigen. Als er nun aber in den Basar kam, sah er bei einem
Kaufmann einen Ausläufer stehen, der ihm bekannt war. Er hielt
an, betrachtete die Waren, erkannte an dem Gespräch, daß der
junge Mann der Ausläufer des Kaufmanns war, und hörte auch an
der Stimme, daß der Ausläufer sein älterer Bruder sein müsse. Der
Kaufmann wollte den jungen Mann soeben mit einem Auftrage
fortschicken; der jüngste Sohn des Scheichs sagte aber: "Sende den
Burschen jetzt nicht fort. Ich will bei dir einige Sachen kaufen,
und diese kann er mir sogleich hinaus zu meiner Karawane bringen."
Dann kaufte der Jüngste, was ihm von den Waren günstig
erschien, bezahlte und ordnete an, daß der Bursche das Gekaufte
zur Karawane herausbringen und draußen auf ihn warten solle, da
er ihm für die Besorgung ein Backschisch geben wollte.
Während der ältere Bruder nun mit den Waren, und freudig erregt
durch die Aussicht auf ein Geschenk, zur Karawane herauslief,
ritt der jüngste weiter durch die Stadt. Unterwegs ward er nun
aufmerksam durch ein zorniges Streiten zweier Männer, das aus
einer Kaffeeküche zu ihm herüberdrang, und da er die eine der
streitenden Stimmen zu kennen glaubte, stieg er ab und blickte
hinein. In der Kaffeeküche stritt der Koch mit seinem Diener, und
an den Worten, die der letztere gebrauchte, indem er nämlich sagte,
er sei der älteste Sohn eines Scheichs, der andere aber nur der Sohn
einer niedern Magd, erkannte er seinen eigenen Bruder, von dem
er in der Kinderzeit oft genug gleiche Reden gehört hatte. Der
Jüngste stieg also ab und sagte: "Haltet einen Augenblick Frieden.
Denn bei dir, Kaffeekoch, will ich einen Vorrat an Kaffee und
Zucker kaufen, und du, mein wackerer Bursche, kannst sie mir
für ein gutes Backschisch zum Lager hinausbringen."
Die Aussicht auf Gewinn beruhigte schnell beide Streiter. Der
Jüngste kaufte seine Vorräte, bezahlte sie, gab sie dem Diener zum
Hinaustragen und ritt schnell von dannen.
Als der Jüngste bei seiner Karawane angelangt war, traf er seinen
ältern Bruder an. Er ließ sich die gekauften Waren zeigen und
fragte ihn dann: "Mein Bursche, du bist hier in dienender Stellung.
Wieviel zahlt dir dein Herr denn für deine Arbeit?" Der Bursche
sagte: "Ich erhalte jeden Monat dreißig Piaster." Der Jüngste
sagte: "Ich will dir monatlich hundert Piaster, Kleidung und Essen
geben, wenn du als Diener in meine Dienste treten willst." Der
andere war damit sehr einverstanden, und der Jüngste gab ihm den
Auftrag, sogleich seinen Dienst zu beginnen, indem er unter Leitung
seines alten Sklavenaufsehers die neugekauften Waren verpacke.
Inzwischen kam der älteste Bruder mit dem Kaffee und Zucker.
Der Jüngste nahm ihn beiseite und sagte zu ihm: "Aus eurem Gespräch,
das ich vorhin in der Stadt hörte, schien mir hervorzugehen,
daß du mit dem Dienst und Lohn, den du bei deinem Herrn gefunden
hast, nicht ganz zufrieden bist." Der älteste Bruder sagte: "Seht
Herr! Ich bin der älteste Sohn eines Scheichs und einer Araberin.
Wie sollte ich nun bei schlechtem Lohn mit dem Dienst bei einem
Manne von niederer Herkunft zufrieden sein!" Der Jüngste fragte:
"Wieviel zahlt dir denn dein Herr monatlich ?" Der älteste Bruder
sagte: "Mein Herr zahlt mir monatlich dreißig Piaster und nicht
mehr." Der Jüngste sagte: "Das ist in der Tat, wenn man an deine
edle Herkunft denkt, nicht sehr viel. Wärst du es denn zufrieden,
als Kaffeekoch in meine Dienste zu treten, wenn ich dir monatlich
hundert Piaster und Kleidung und Nahrung gebe?" Der älteste
Sohn des Scheichs sagte: "Hiermit bin ich zufrieden."
Am Nachmittag ließ der Jüngste die Karawane aufbrechen und
bis in die Nacht hineinmarschieren. Als es Abend war, machte er
an einem schattigen Platz halt und setzte sich, während die Diener
mit dem Gepäck beschäftigt waren, unter einem Zelt nieder. Der
jüngste Sohn des Scheichs sah zu, wie seine beiden ältern Brüder
unter den andern Dienern und Sklaven ihrer Arbeit nachgingen und
sagte bei sich: "So also ist das Wiedersehen mit meinen Brüdern
verlaufen."
Nachdem es nun dunkel geworden war, ließ er die beiden neuen
Diener hereinrufen und forderte sie auf, ihm etwas aus ihrem Leben
zu erzählen. Der Jüngste sagte: "Ich will nichts von euch, was ich
nicht selbst tun will. Ich hörte von euch, daß ihr von edlem Blute seid,
und somit ist irgend ein Unglück oder eine Schuld die Ursache dafür,
daß ihr in solche Stellung gekommen seid, in der ich nicht einmal
bin, obgleich ich, wenn auch von einem Scheich gezeugt, nur der
Sohn einer Beischläferin bin." Die beiden ältern Brüder sagten
nichts, denn sie schämten sich, ihren wahren Ursprung anzugeben.
Als der Jüngste das sah, sagte er: "Ich sehe, ihr wollt einem
Fremden gegenüber euer Schicksal nicht enthüllen. Würdet ihr es
denn tun, wenn ihr euren Bruder vor euch hättet?" Die beiden
ältern Brüder sahen auf, sie sagten aber nichts. Nachdem der
Jüngste eine Zeitlang gewartet hatte, sagte er: "Erkennt ihr mich
denn nicht? Seht ihr denn nicht, daß ich euer Bruder bin?" Die
ältern Brüder sahen den Jüngsten an. Sie schlugen die Hände vor
das Gesicht und fielen weinend zur Erde.
Nach einiger Zeit sagte der Jüngste: "Nun erzählt, wie es verlaufen
ist." Die beiden Brüder erzählten, wie sie in die Stadt Fatmas
gekommen seien und im Spiele mit ihr das ganze Besitztum, das
der Vater ihnen mitgegeben habe, verloren hätten. Der jüngste
Bruder hörte alles an. Er ließ sich die Erfahrungen, die sie im
Spiel gemacht, die Worte Fatmas und alle Einzelheiten mehrmals
berichten und sagte dann: "Meine Brüder! Ich will selbst zu dieser
Fatma gehen und sehen, ob ich euch euer Vermögen zurückgewinnen
kann. Morgen in aller Frühe wollen wir zu der Stadt
Fatmas aufbrechen und wollen dann sehen, welcher Ausgang uns
beschieden ist. Was sich aber auch ereignen mag, so wollen wir
doch unser Besitztum an Geld und Gut gleichmäßig teilen, da wir
die Söhne eines Vaters
sind." Damit entließ der Jüngste seine
Brüder. Er selbst rief aber seinen Sklavenaufseher und befahl ihm,
noch in dieser Nacht ein einfaches, hölzernes Mangalabrett mit einfachen
Kugeln zu besorgen.
Am andern Tag zog die Karawane zu Fatmas Stadt. Der Jüngste
ließ außerhalb derselben lagern und allen Leuten verbieten, die
Stadt zu besuchen. Am andern Morgen hüllte er sich in einfache,
ärmliche Kleider, schlug das Mangalabrett in einen Lappen und
machte sich auf den Weg zu Fatmas Garten.
Als der Jüngste, in alte Kleider gehüllt, in den Garten Fatmas
trat, lagen auf den Matten und Kissen schon viele Männer umher,
und Fatma saß auf einer Stufe. Der Jüngste ging bescheiden um
die Matten herum und setzte sich, seiner ärmlichen Tracht entsprechend,
außerhalb des Kreises auf den Kies nieder. Fatma bemerkte
den Fremden sogleich und winkte einer Sklavin, daß sie ihm
eine Schale mit Kaffee reiche. Ohne daß es jemand bemerkte, ließ
sie aber in den Kaffee ein Geldstück gleiten, denn sie meinte, daß,
wenn jener ein Bettler wäre, wie es schien, so müsse er es als Gabe
dankbar annehmen; wenn er dagegen ein ungewöhnlich vorsichtiger
Mann sei, würde sie an seinem Gebaren gleich etwas Beachtenswertes
sehen.
Keiner von allen Männern auf den Matten hatte dieses bemerkt.
Als die Sklavin aber den Kaffee dem ärmlichen Gaste auf dem Kies
reichte, sagte dieser: "Gib deiner Herrin den Kaffee zurück, danke
ihr und sage, ein Glas mit Wasser, in dem ich jeden Inhalt und jede
Zutat erkennen kann, sei mir lieber." Die Sklavin brachte den
Kaffee der Herrin zurück. Als Fatma die Botschaft hörte, richtete
sie sich auf und sagte: "Ist denn heute niemand hier, der mit mir
Mangala spielen will ?" Die Männer auf den Matten lachten und
sagten: "Von uns allen weißt du, daß wir nichts mehr zu verlieren
haben. Nun käme es auf den Gast an, der sich den Kies zum
Teppich gemacht hat." Fatma sah zu dem ärmlichen Manne hinüber,
der sein Antlitz und seine Augen mit den abgetragenen
Tüchern halb verhüllt hatte. Als die andern Männer ausgelacht
hatten, fragte sie ihn: "Willst du mit mir spielen? Es ist gleich,
ob du nur einen Piaster besitzt oder tausende. Ich setze die Klugheit
der Männer dagegen. Wenn du gewinnst, sollst du all mein
Besitztum haben." Der ärmliche Mann sagte: "Weshalb soll ich
nicht mit dir spielen? Wieviel jeder von uns hat, soll ausgerechnet
werden, wenn der Gewinn bekannt ist." Die Männer auf den Matten
schrien: "Fatma, hüte dich! Dieser Bettler spielt einen Piaster
gegen dein ganzes Vermögen!" Fatma aber ward zornig und sagte
zu den Männern: "Schämt euch! Hier ist niemals nach Piastern
gezählt worden. Schämt euch! Bis heute ist nie ein Gast gekränkt
worden! Komm, fremder Mann, setze dich zu mir auf diese Stufe!"
Der Jüngste ging zwischen den andern Männern hindurch zu der
Stufe, auf der Fatma saß. Fatma sprach: "Willst du meinetwegen
oder des Geldes wegen mit mir spielen?" Der Jüngste sagte: "Du
selbst hast dein Geld und dein Besitztum gegen mein Geld und mein
Besitztum gesetzt. Wir spielen also um Geld."
Fatma sah den ärmlichen Mann an. Die Männer auf den Matten
aber schrien wieder: "Siehst du, Fatma! Dies ist nur ein Geldgieriger.
Wir alle haben deinetwegen unser Besitztum verloren.
Dies hier ist aber ein Bettler, der dich für nichts und deinen Reichtum
für alles achtet." Fatma sagte: "Schweigt, ihr Männer. Dieser
ärmliche Mann hat mir in zwei Worten mehr Kluges gesagt, als ihr
alle zusammen im Laufe von Jahren."
Fatma winkte den Sklavinnen, daß sie das Mangalabrett und die
Kugeln bringen sollten; und diese brachten das kostbare Elfenbein,
besetzt mit Diamanten und Rubinen und die goldenen Kugeln. Sie
setzten alles auf die Stufe. Der ärmliche Mann aber sagte: "Diese
Herren hier unten mögen es gewöhnt sein, mit Elfenbein und Gold
und Diamanten und Rubinen zu spielen. Ich aber bin ein armer
Mann, der durch solchen Glanz geblendet wird. Ich bitte dich, mit
mir auf meinem Gerät zu spielen." Mit diesen Worten zog er das
hölzerne Mangalabrett und die Fruchtsteine hervor und setzte sie
auf die Bank.
Die Männer auf den Matten aber schrien: "Siehst du, Fatma, der
Mann will dich betrügen! Sicherlich sind sein Brett und seine Steine
von den Alledjenu verzaubert!" Fatma aber rief den Männern zu:
"Schweigt, ihr Gedankenlosen! Keiner von euch hat je gefragt, ob
nicht mein Brett und meine Kugeln von den Alledjenu verzaubert
sind!" Dann aber wandte Fatma sich zu dem ärmlichen Mann und
sagte: "Wie du es wünschest, so soll es geschehen. Wir wollen auf
deinem Brett mit deinen Kugeln spielen. Ich nenne alles, was ich
besitze, ,die Dummheit der Männer'. Sage mir, wie du das Deine
nennst?" Der ärmliche Mann sagte: "Muß ich ihm einen Namen
geben?" Fatma sagte: "Es ist bei unseren Spielen Sitte." Der ärmliche
Mann sagte: "Dann setze ich der ,Dummheit der Männer'
gegenüber -die ,Eitelkeit der Welt'." Fatma sagte: "Wir spielen!"
Der Jüngste spielte gegen Fatma. Jahrelang hatte Fatma gewonnen.
Fatma hatte gleichgültig die Kugeln aus den Schalen genommen
und in die Schalen geworfen. Die Männer hatten gleichgültig
dem Spiele zugesehen. Ein Spiel hatte geendet wie das andere.
Die lachenden Männer hatten einen Spieler nach dem andern
lachend als Kameraden begrüßt. Heute standen die Männer auf
und blickten dem Spiel zu. Immer hatten die Goldkugeln klirrend
sich bei Fatma versammelt. Der ärmliche Mann spielte gegen
Fatma. Die Fruchtsteine kamen nicht zu Fatma. Der ärmliche
Mann gewann.
Fatma blickte den ärmlichen Mann an. Fatma sagte: "Die
,Dummheit der Männer' ist in der ,Eitelkeit der Welt' aufgegangen."
Die Männer drängten aber drohend gegen die Stufe an, auf der
Fatma und der ärmliche Mann saßen. Die Männer schrien: "Der
Bettler hat dich bestohlen und betrogen! Der Bettler hat uns bestohlen
und betrogen!" Die Männer wollten gegen den Ärmlichen
herandrängen, um ihn herunterzureißen. Da riß dieser seine Lappen
und Lumpen herab und stand nun in reichem Kleide mit Waffen
da, zog das Schwert und sagte: "Fort mit euch!" Da drückten sich
die Männer zur Seite und versteckten und verkrochen sich unter
den Büschen und im Schatten der Bäume.
Fatma war aufgestanden und blickte auf den Jüngsten. Fatma
fragte: "Wer bist du?" Der Jüngste sagte: "Ich heiße Hassan und
bin der Sohn eines Scheichs." Fatma sagte: "Das ist nicht alles.
Du bist mehr! Du bist ein Mann! Hassan, ich bitte dich! Spiele
noch einmal mit mir Mangala. Ich will mich selbst zum Pfand
setzen." Hassan blickte das Mädchen an, Hassan sah, daß das Mädchen
sehr schön war. Hassan sagte: "Erst haben wir um Geld gespielt.
Wollen wir nun um uns selbst spielen?" Da nahm Fatma
das Brett aus Elfenbein mit Rubinen und Diamanten. Sie warf es
weit fort und sagte: "Nein, wir wollen nicht um uns spielen. Nimm
mich mit und mache mich zu deiner Gattin!" Der Jüngste schloß
Fatma in seine Arme und sagte: "Behalte alles Deine, werde aber
du meine Gattin!"
Als die Männer, die sich im Garten versteckt hatten, dies sahen
und hörten, kamen sie noch einmal aus ihren Schlupfwinkeln hervor
und schrien und brüllten. Hassan aber sprang mit seinem
Schwerte unter sie und jagte sie zum Garten Fatmas hinaus. Als
er zurückkam, sagte Fatma: "Ehe ich nun mit dir komme, mein
Hassan, will ich dir eins geben. Viele Leute werden dich beneiden
und verfolgen. Damit wir uns nun immer wiederfinden können,
nimm einen meiner Negl (Fußring; gleich dem arabischen chulchal).
Es gibt nur zwei von dieser Art. Kein Silberschmied kann sie nachbilden.
Bewahre den deinen sorgfältig. Wenn einer von uns beiden
den andern verliert und sieht den zweiten Ring, dann weiß er, daß
der andere in der Nähe ist." Der Jüngste sagte: "Du bist ein kluges
und vorsichtiges Mädchen, meine Fatma."
Fatma ließ ihre Reichtümer auf Esel laden. Sie übergab die Aufsicht
über das Haus und den Garten einem treuen Sklaven und
folgte mit ihrem Zuge Hassan, der sie seiner Karawane zuführte.
Noch am gleichen Abend rief Hassan seine Brüder und sagte zu
ihnen: "Meine Brüder, wir wollen nun heimkehren zu unserem
Vater. Ich möchte aber nicht, daß ihr in dieser jämmerlichen Lage
ihm vor die Augen tretet, und da ich selbst viel gewonnen habe, so
wollen wir alles das, was ich mit dem Gelde unseres Vaters erworben
habe, in drei gleiche Teile zerlegen und jeder einen Teil davon
nehmen. Auf diese Weise bringt ihr weit mehr heim, als euer Vater
euch mitgegeben hat."
Die Brüder dankten ihrem Bruder, und als dieser nun mit Hilfe
der Sklaven die Teilung vornahm, sahen sie erst, wie bedeutende
Schätze Hassan in der Zeit, in der sie gedient hatten, gewonnen
hatte.
Als die beiden Brüder nun ihre Kamele und Sklaven aus dem
Lager Hassans herausführten, sahen sie die reichbepackten
Esel Fatmas. Darauf sagte der Älteste zum Zweiten: "Seht ihr, daß
unser Bruder uns um einen Teil betrogen hat? Er sagte, er wolle
alles, was er erworben habe, mit uns teilen. Sieh nur, wie viele
reich geschirrte Esel hier lagern, die sicherlich noch manche wertvollen
Schätze enthalten." Der jüngere Bruder sagte: "Du hast
recht. Wir wollen zu unserem Bruder zurückkehren und von ihm
verlangen, daß er dieses hier auch aufteilen müsse."
Während die Brüder dieses sagten, wurde ein Zelt geöffnet, das
dort aufgeschlagen war, und heraus trat Fatma. Fatma sagte zu
den Brüdern: "Ich habe euer Gespräch soeben gehört und will die
Angelegenheit in Kürze besprechen. Anstatt, daß ihr eurem Bruder
dankt für seine Güte, werft ihr ihm unehrliche Teilung vor. Ihr
seid also ebenso niedrig denkend wie die meisten Menschen. Aber
nicht nur, daß ihr eure schlechte Gesinnung an den Tag legt, befindet
ihr euch auch noch im Irrtum. Das, was ihr hier seht, hat
euer Bruder nicht mit dem Gelde seines Vaters, sondern durch die
Klugheit und die Güte seiner Mutter erworben. Hättet ihr euch
auch mit der Klugheit und Güte eurer Mutter versehen, so hättet
ihr alles das auch gewinnen können. Ihr habt nichts davon gezeigt.
Als ihr mit Geld hättet spielen sollen, habt ihr mich im Gedanken
gehabt und habt daher verlieren müssen. Eurem Bruder hat aber
mein Anblick die Klugheit nicht gestört, und als ich nachher mich
als Gewinn setzte, hat er um mich nicht spielen wollen. Das alles
hättet ihr auch haben können. Söhnt euch also lieber mit dem
Schicksal aus. Ihr seid nicht klug. Verfallt nun nicht in den
schlimmen Fehler der Dummen, daß sie die Klugen hassen und
unterdrücken wollen. Stellt den Klugen an eure Spitze und folgt
ihm. Das ist der Rat, den ich euch gebe, und zeigt, daß ihr wenigstens
klug genug seid, den Rat einer Frau in Erwägung zu ziehen!
Wenn ihr wirklich edle Abkömmlinge einer edlen Familie seid, dann
kann euch das nicht schwer fallen."
Fatma ging. Der ältere Bruder sagte zum andern: "Komm mit
mir in die Wüste, wo nur Hyänen und Schakale hören, was wir
sprechen und höre mir zu."
Die beiden Brüder gingen weit fort. Als sie draußen ganz allein
waren, sagte der zweite: "Wir müssen uns vor unserem Bruder
schämen. Wir haben all das Unsere verloren und kommen mit dem
heim, was er erwarb und uns schenkte." Der ältere Bruder sagte:
"Unser jüngster Bruder wird alles unserem Vater erzählen, und
unser Vater wird uns verspotten. Unser jüngster Bruder ist der Sohn
einer Beischläferin, aber er wird die Besitztümer unseres Vaters erhalten!"
Der jüngere Bruder sagte: "Er hat noch das ganze Besitztum
der Fatma gewonnen." Der ältere Bruder sagte: "Er will dies
Mädchen heiraten. Aber er soll dies Mädchen nicht heiraten."
Der Jüngere sagte: "Wir wollen ihm sein Besitztum wegnehmen."
Der älteste Bruder sagte: "Wir wollen ihm die Fatma wegnehmen!"
Der jüngere Bruder sagte: "Wir wollen ihn in der
Wüste lassen." Der älteste Bruder sagte: "Ich werde es besorgen."
Danach gingen die beiden Brüder zu dem Lager des Jüngsten
zurück.
Am andern Tag brach die Karawane der Brüder und Fatmas auf.
Sie zogen nun der Stadt des Vaters der drei Brüder zu. Als sie aber
nur noch wenige Tage vom Ziel entfernt und mitten in der Wüste
waren, kamen die ältern Brüder nachts zu dem Jüngsten in das
Zelt, baten ihn, mit ihnen einen Ritt in die Wüste zu unternehmen
und rissen ihn dann draußen vom Pferd. Der älteste Bruder aber
stach dem Jüngsten die Augen aus und sagte: "Nun kann dich der
Anblick deines Reichtums und der schönen Fatma nicht mehr
blenden." Danach ritten die Brüder in das Lager der Karawane
zurück und führten diese der Stadt des Vaters zu.
Am andern Morgen saß der Jüngste allein und einsam in der
Wüste unter einigen dornigen Bäumen, auf denen die Vögel
sangen. Der Jüngste dachte über sein Schicksal nach und griff dann
in die Brusttasche, um zu sehen, ob er den Negl Fatmas noch habe.
Als er aber den Silberring mit den Händen berührte, verstand er die
Sprache der Vögel auf dem Dornenbusch. Der eine Vogel sang:
"Die Brüder haben diesen Mann geblendet." Ein anderer Vogel
sang: "Der Negl Fatmas wird ihn wieder zu Fatma führen." Ein
dritter Vogel sang: "Wenn er die Blüten dieses Baumes auf die
Augen legt, kann er wieder sehen." Der Blinde stand auf und
pflückte von den Blüten. Er legte sie auf die Augenhöhlen, da
konnte er wieder sehen. Und er machte sich auf den Weg und
wanderte der Stadt seines Vaters zu. Wenn die Hitze der Sonnenhöhe
ihn ermattete, griff er mit der Hand zum Silberringe Fatmas.
Und die Berührung erfrischte ihn. Wenn der Durst und der Hunger
ihn quälten, tastete er nach Fatmas Ring, und sobald er ihn ergriffen
hatte, war er gesättigt und erfrischt. Die wilden Tiere der
Wüste konnten ihn nicht erschrecken, und die Finsternis der Nacht
konnte ihn nicht ängstigen. Er war frei von Müdigkeit und unbekümmert
um die Länge des Weges. Seine Hand ruhte auf dem
Ring Fatmas, und dieser Ring wies ihm den Weg, den das Mädchen
vor ihm her zurückgelegt hatte.
Also kam auch der Jüngste in die Stadt seines Vaters. Er kam
aber bei Nacht an und ging an der Mauer des Hauses entlang. Er
lehnte an der Mauer und hörte seine Mutter singen. Seine Mutter
aber sang: "Mein Sohn wird kommen; ich weiß es. Mein Sohn ist
nicht gestorben; ich weiß es. Es wird viel gesprochen zwischen
Himmel und Erde, eine Mutter aber hört die Stimme ihres Kindes
über die Wüste und durch die Nacht." Der Jüngste hörte es. Der
Jüngste ging weiter.
Am andern Tag ging er aber zum ersten Silberschmied der Stadt
und bat ihn, ihn doch als Blasebalgstoßer in seinen Dienst zu
nehmen. Dann blieb er bei dem Silberschmied.
Inzwischen waren die beiden ältern Brüder in der Stadt angekommen.
Sie zeigten dem Vater ihre Schätze und erzählten, daß
ihr jüngster Bruder in der Wüste von wilden Tieren getötet sei.
Und der älteste Sohn führte Fatma vor seinen Vater und sagte:
"Dieses Mädchen will ich heiraten." Der jüngere Bruder stand
daneben, sah Fatma an, dachte an ihren Reichtum und sagte:
"Nein; ich will diese Fatma heiraten." Der Scheich aber fragte
Fatma: "Meine beiden Söhne wollen dich zum Weibe nehmen.
Welchen willst du nun wählen?" Fatma nahm ihren Negl vom
Fuß und sagte: "Ich nehme nur den zum Gatten, der einen zweiten
gleichen Ring besitzt." Der Vater sagte: "Meine Söhne, ihr habt
es gehört." Der älteste Sohn sagte: "Gib mir den Ring, ich will
sehen, ob ich nicht einen gleichen Ring in meinen Besitz bringen
kann!"
Der älteste Sohn nahm den Ring an sich. Der älteste Sohn ließ
die Silberschmiede zu sich kommen. Der älteste Sohn zeigte den
Silberschmieden den Fußring Fatmas und sagte: "Wie schnell könnt
ihr mir einen zweiten, ganz gleichen herstellen?" Der älteste
Bruder reichte den Schmieden den Ring. Einer der Schmiede nach
dem andern nahm den Ring in die Hand und betrachtete ihn. Der
Ring ward dreimal in der Runde von Hand zu Hand gereicht. Die
Silberschmiede sagten zu ihrem Ältesten: "Sage du für uns alle die
Wahrheit!" Der älteste Sohn des Scheichs wurde ärgerlich. Der
älteste Sohn des Scheichs sagte: "Was habt ihr? Welche Zeit
braucht ihr, um einen solchen Ring zu schmieden? Hier habt ihr
Silber und Gold!" Der älteste Sohn warf einen Beutel mit Gold
und Silber hin. Der älteste der Silberschmiede schüttelte aber den
Kopf. Er schob den Beutel zurück und sagte: "Herr! In diesem
Lande kann kein Silberschmied einen solchen Ring schmieden."
Darauf wurde der älteste Sohn des Scheichs sehr zornig. Er stand
auf und sagte: "Ihr seid nicht Silberschmiede, sondern Wortverdreher
(?) und habt sicherlich schon Geld von meinem Bruder genommen,
um ihn mir zuvorkommen zu lassen. Ich bin aber der
älteste Sohn meines Vaters, und ich sage euch, daß, wenn ihr mir
den Ring nicht in drei Tagen bringt, ich euch alle töten lasse!
Nehmt den Beutel da!" Dann ging der älteste Sohn fort.
Die Silberschmiede aber begaben sich nach Hause. Sie gaben dem
ältesten Silberschmied den Ring und den Beutel mit Silber und Gold
und sagten: "Sieh du, was du vermagst, du kannst noch am meisten
von uns." Dann verließen sie ihn. Der alte Silberschmied legte aber
Ring und Beutel beiseite, setzte sich traurig auf eine Matte und
seufzte.
Hassan, der jüngste Sohn des Scheichs, der als Diener bei dem
Silberschmied wohnte, sah, daß sein Herr traurig war. Hassan kam
heran und sagte: "Du bist traurig, mein Herr! Sage mir doch, was
dich bedrückt!" Der alte Silberschmied sagte: "Was willst du,
törichter junger Mann!" Hassan sagte: "Nenne mich nicht jung
und töricht, denn ich habe mancherlei Arbeit gelernt, die selten ist.
Zum Beispiel kann ich einen Fußring wie den, den du eben dort in
die Ecke legtest, wohl anfertigen, was hier gewiß niemand kann."
Der alte Silberschmied sagte: "Was sagst du? Du sagst, du könnest
einen solchen Ring machen?" Hassan sagte: "Wenn ich mich
heute abend an die Arbeit mache, kann ich dir morgen früh den
zweiten geben." Der alte Silberschmied sagte: "Warum willst du
aber bei Nacht damit anfangen?! Fange doch jetzt an!" Hassan
sagte: "Jeder hat seine Art; solche Sachen macht man dort nur bei
Nachtzeit. Wenn du deine kleine Tochter mit mir einschließt, daß
sie mir den Blasebalg stößt, dann soll bis morgen alles besorgt sein."
Abends brachte der Silberschmied Hassan und seine kleine Tochter
in die Werkstatt. Hassan sagte: "Ich brauche zwei Matten und
viele Datteln." Man brachte Datteln und Matten. Danach schloß
Hassan die Tür, gab dem Mädchen viele Datteln und sagte: "Lege
du dich drüben auf die eine Matte, ich werde mich auf dieser Seite
auf meine Matte legen. Wenn wir genug geschlafen haben, gehen
wir an die Arbeit." Danach legten sich beide nieder und schliefen.
Als aber am andern Morgen der Tag graute, weckte Hassan das
Mädchen und sagte: "Nun komm und stoße mir ein wenig den
Blasebalg, sonst glauben die Leute womöglich, daß wir gar nichts
getan hätten. Das Mädchen stieß darauf den Blasebalg, und Hassan
nahm sowohl den Ring, den der Silberschmied ihm gegeben hatte,
als den, den er in der Tasche trug und reinigte sie gründlich, so daß
beide ganz neu und genau gleich aussahen. Kurze Zeit danach kam
der Silberschmied, klopfte draußen an die Tür und fragte: "Hassan!
Mein Hassan! Ist der Ring schon zu sehen?" Hassan aber sagte:
"Komm nur herein, Herr!" Der Silberschmied kam herein. Der
Silberschmied nahm die beiden Ringe. Der Silberschmied sagte:
"Ganz gleich! Ganz gleich! Ganz gleich!" Er umarmte Hassan
und rief: "Hassan! Ich danke dir! Hassan! Ich danke dir! Willst
du meine Tochter zur Frau haben, so nimm sie!" Hassan sagte:
"Herr, ich habe eine Sache mit einer Frau, die macht mir genug
zu schaffen!"
Der Silberschmied nahm die beiden Ringe und ging zu dem
ältesten Sohn des Scheichs. Er zeigte dem ältesten Sohn des Scheichs
die Ringe. Der Älteste sagte: "Siehst du, du verlogener Mensch, daß
du es zuletzt doch gekonnt hast? Ihr seid doch alle miteinander
Betrüger." Dann ging der Älteste und brachte die beiden Ringe zu
seinem Vater, dem Scheich. Der Scheich betrachtete sie und sagte:
"Wir wollen sie Fatma zeigen." Der Scheich ging mit seinem Sohn
zu Fatma. Er sagte: "Fatma, du hast dem unter meinen Söhnen
die Ehe versprochen, der einen Ring wie deinen Negl besitzt. Mein
ältester Sohn hat einen Negl gebracht, der von dem deinen nicht zu
unterscheiden ist." Fatma sagte: "Wo ist er?" Der Scheich zeigte
Fatma den Ring. Fatma sah die beiden Negl. Fatma schrie auf.
Fatma rief: "Wo ist der zweite Ring her! Schnell bringt den Mann!
Der älteste Sohn sagte: "Ich habe ihn von einem Silberschmied
machen lassen! Ich will ihn rufen lassen."
Der älteste Silberschmied wurde in das Serail zurückgerufen. Der
Silberschmied trat zum Scheich, dessen Sohn und Fatma. Fatma
sagte: "Dieser Mann lügt. Er hat den Ring nicht gemacht. Wenn
er nicht sogleich sagt, woher er den Ring hat, bitte ich dich, mein
Scheich, ihn zu töten!" Der Silberschmied begann zu zittern. Der
Silberschmied sagte: "Ich habe den Negl nicht selbst gemacht. Kein
Mensch in dieser Stadt kann eine solche Arbeit machen. Aber da
der älteste Sohn des Scheichs mir mit dem Tode gedroht hat, wenn
ich nicht in wenigen Tagen einen solchen Ring bringe, hat ihn ein
junger Mann gemacht, der in meinem Hause dient." Der Scheich
sagte: "So schicke den jungen Mann hierher!"
Nach einiger Zeit kam Hassan. Fatma sah ihn. Fatma erkannte
ihn. Hassan war aber in schmutzige Kleider gehüllt und mit Ruß
und Kohle bedeckt. Fatma sagte zu Hassan: "Ja, von dir ist der
Ring!" Fatma fragte den Scheich: "Kennst du diesen Mann?" Der
Scheich sagte: "Nein, ich kenne ihn nicht." Fatma fragte den
ältesten Sohn des Scheichs: "Kennst du denn vielleicht diesen
Mann?" Der älteste Sohn sagte: "Wie soll ich dazu kommen, die
Sklaven der Silberschmiede zu kennen ?" Fatma sagte zum Scheich:
"Du hast Söhne von zwei Frauen. Von einer Araberin und von
einer Beischläferin. Laß doch die Beischläferin kommen und laß
sie sehen, ob sie diesen Mann kennt." Der Scheich sandte zum
Hause seines Kebsweibes hinüber. Das Kebsweib kam. Das Kebsweib
sah Hassan. Das Kebsweib fiel vor ihm nieder, erfaßte seine
Hände, küßte sie und sagte: "Mit den schwarzen Händen des
Dieners kehrst du wieder zurück, mein Hassan! Hat dich denn alle
Klugheit und alle Güte nicht schützen und dir zum Glücke nicht
verhelfen können?" Fatma aber sagte: "Du irrst, meine Mutter. Die
Hände meines zukünftigen Gemahls sind weiß, wie seine Augen
klug und gut sind. Die Hände seiner Brüder aber sind schwarz von
dem Diebstahl, den sie an ihm begingen, um seines Geldes und
meines Besitzes willen. Klugheit und Güte haben ihm zu einem
Glücke verholfen, das seine Brüder von Anfang an verspielten und
auch durch Übermacht nicht zurückzugewinnen vermochten."
Hassan ward Scheich. Sein Serail war angefüllt von allem
Schönen, was alle Länder boten und das, was ihm sein erstes Vermögen
eintrug, kehrte jetzt zu ihm zurück und schmückte sein
Haus. Die größte Zier seines Hauses und des ganzen Landes aber
war Fatma.
13. Vogel, Pferd, Büchse*
Ein Melik hatte einen Garten (Djinena), in dem wuchs eines
Tages ein sehr schöner Baum, den niemand kannte. Als er
nun hoch genug gewachsen war, trug er auch Früchte. Diese sieben
Früchte waren ähnlich der Mischmisch (Aprikose). Es waren aber
keine Aprikosen, denn sie waren aus Gold. Der Melik betrachtete
die heranreifenden Früchte alle Tage und freute sich an ihnen. Als
sie nun nahezu reif waren, rief er alle seine großen Leute zusammen
und führte sie in den Garten unter den Baum und fragte sie, ob
einer von ihnen bisher diese Baumart oder solche Früchte gesehen
habe, und alle antworteten: "Nein, solche Früchte haben wir noch
nie gesehen. Dieser Baum ist in diesem Lande neu!"
Darauf freute sich der König denn noch mehr über seine schönen
Früchte. Als er aber am andern Tag in seinen Garten trat, um sie
zu beschauen, da sah er, daß nachts ein Vogel gekommen war und
eine Frucht gestohlen hatte. Darüber ward der König nun sehr böse
und traurig. Am andern und dem darauf folgenden Tage wuchs
aber seine Traurigkeit immer mehr, denn der fremde Vogel stahl,
trotz aller Aufsicht und Fürsorge, in der zweiten Nacht eine zweite,
in der dritten Nacht eine dritte und in der vierten eine vierte Frucht,
so daß am fünften Tage nur noch drei von den schönen Früchten
übrig blieben. Als der jüngste der drei Söhne, die der Melik hatte,
nun sah, wie sein Vater über diese Vorgänge einen großen Schmerz
empfand, sagte er: "Mein Vater, erlaube mir bitte, daß ich in der
nächsten Nacht unter dem Baum wache, damit ich wenigstens sehen
kann, was für ein Vogel es ist, dem es trotz aller Fürsorge und
Obacht gelingt, immer wieder eine dieser kostbaren Früchte abzupflücken
und fortzutragen." Der Melik sagte: "Es ist recht, mein
Sohn, tue das und sieh zu, dieser Sache ein Ende zu bereiten."
Am Abend setzte sich also der Sohn des Melik unter den Baum
nieder und wartete auf den Vogel. Zwar befiel ihn bald eine große
Müdigkeit; er trotzte ihr aber standhaft, und so nahm er wahr, daß
in der vollen Dunkelheit ein Vogel herankam. Als der Vogel nun
die Frucht abpickte, sprang der Sohn des Melik auf ihn zu und
packte ihn so schnell und stark wie möglich bei den Federn. Der
Vogel suchte sich loszureißen. Der Sohn des Melik hielt aber so
fest, daß der Vogel nicht anders entrinnen konnte, als daß er sich
von den gepackten Federn losriß und so, arg gerupft, seine Beute
forttrug.
Der Sohn des Melik ging mit den Federn am andern Tage zu
seinem Vater und zeigte sie diesem. Der Melik besah die Federn
und sagte: "Einen Vogel mit solchen Federn habe ich noch nicht
gesehen." Er rief seine angesehenen Leute zusammen, und diese
ließen untereinander die Federn von Hand zu Hand gehen. Ein
jeder schüttelte aber den Kopf, gab die Federn dem Nächsten und
sagte ebenfalls: "Einen Vogel mit solchen Federn habe ich noch
nicht gesehen." Darauf sagte der Melik: "Ich möchte diesen Vogel
wohl einmal sehen."
Nun kam der jüngste Sohn des Melik heran und sagte: "Mein
Vater, ich bitte dich, mir die Erlaubnis zu geben, den Spuren dieses
Vogels zu folgen. Denn da ich stark an den Federn des Diebes gerissen
habe, wird er auf seinem Wege noch mehr Federn und auch
wohl einige Blutstropfen verloren haben, die mir angeben können,
wo ich ihn finde." Der König war mit diesem Vorschlage seines
jüngsten Sohnes sehr einverstanden, und als die andern beiden
ältern Söhne sahen, welche Freude er damit seinem Vater bereitete,
erklärten sie sich bereit, ihren Bruder zu begleiten; denn jeder von
ihnen wollte gern König werden, und der Melik hatte noch keinen
Thronfolger unter seinen Söhnen bestimmt.
Die drei Söhne des Melik machten sich also gemeinsam auf den
Weg und ritten in der Richtung von dannen, in der der jüngste den
Vogel hatte wegfliegen sehen. Wie vorausgesagt, trafen sie von
Zeit zu Zeit auch auf eine Feder oder einen Blutstropfen und behielten
so ohne Mühe den Weg des Räubers bei. Das währte aber
so lange, bis sie nach weitem Ritte an ein großes Tor kamen, von
dem aus der eingeschlagene Weg sich in drei Arme spaltete. Am
Tore aber war vor jedem Wegarme eine Beschreibung dessen angebracht,
was man auf ihm erleben würde. Von dem Wege, der
nach rechts hin abbog, hieß es da, jeder, der ihn beschritte, müsse
sterben. Von dem Wege, der in der Mitte gerade aus weglief, war
angegeben, jeder, der auf ihm dahinritt, würde sein Pferd verlieren.
Von dem Wege, der nach links hin abzweigte, war gesagt, daß er zu
den Sacht (dem Riesenvolk, das in den alten Tumulis begraben ist),
zum Gräbervolke, führe.
Als die ältern zwei Brüder das lasen, sagten sie: "Dieses ist keine
Unternehmung für uns; wir kehren nach Hause zurück, denn hier
steht nichts davon, daß wir zu dem Orte des Vogels kämen." Der
Jüngste aber sagte: "Ich kehre nicht um, denn ich habe meinem
Vater versprochen, mich nach dem Vogel umzusehen. Was schadet
es mir dann, wenn ich auch mein Pferd verliere und zu Fuß weiterwandern
muß! Ich werde also auf dem mittelsten Wege weiterreiten."
Der Jüngste nahm von seinen Brüdern Abschied und ritt
auf dem mittelsten Weg von dannen. Die ältern Brüder aber sagten
untereinander: "Wir wollen hier abwarten, was mit unserm jüngsten
Bruder wird." Sie blieben also an dem Tore, und da dort ein
Brunnen war, sattelten sie ihre Pferde ab und machten es sich
bequem.
Der jüngste Königssohn ritt inzwischen auf dem mittelsten Weg
hin. Er war noch nicht sehr weit von dem Tore, da kam ein
Aldjann und riß ihm unversehens sein Pferd weg, so daß er nun zu
Fuß weiterwandern mußte. Er war noch nicht sehr weit gegangen,
da kam er an einen Sakhir. Er ließ sich da nieder, trank und erfrischte
sich und nahm den Marsch wieder auf. Er sagte bei sich:
"Getrunken habe ich nun. Ich verspüre aber einen rechten Hunger."
Derweilen hatte der Aldjann aber das Pferd aufgegessen und lief
nun dem Jüngsten nach. Er redete den Sohn des Melik an und
sagte: "Verzeihe mir, daß ich dich so ungastlich begrüßt habe. Zwei
Jahre lang hatte ich aber keines dieser Tiere, die meine Hauptnahrung
sind, erhalten, und ich wäre deshalb sicher gestorben, wenn
du nicht jetzt gekommen wärst. Deinem Kommen verdanke ich
also das Leben, und deshalb bitte ich dich, meine unwirsche erste
Begrüßung zu vergessen und mit mir Freundschaft zu schließen."
Der Königssohn war hiermit sehr einverstanden und sagte:
"Mein Pferd habe ich dir sehr gern gegeben, denn mir macht es
nichts aus, ob ich reite oder zu Fuß gehe, und wenn ich dir mit
Hingabe meines Pferdes ein so großes Geschenk gemacht habe, so
bedaure ich nur, daß ich nicht deren zwei bei mir habe, damit du
dich noch weiter daran gütlich tun kannst." Der Aldjann sagte:
"Ich danke dir sehr für deine freundliche Gesinnung. Nun bin ich
um so eher bereit, dir bei deiner Unternehmung zu helfen; denn
nur wer etwas ganz Besonderes vorhat, kommt auf diesem Wege.
Sage mir also, was du suchst und glaube mir, daß ich sowohl den
Willen als die Macht habe, dich zu unterstützen."
Der Königssohn sagte: "Ich bin der Sohn eines Königs, in dessen
Garten sehr schöne Früchte wuchsen. Es kam aber allnächtlich ein
Vogel und stahl eine von ihnen. Zuletzt hielt ich Wache und riß
ihm diese Federn aus. Ich folgte ihm und bin so hierher gekommen.
Nun gebe ich mich der Hoffnung hin, diesen Vogel fangen und
meinem Vater bringen zu können." Der Aldjann betrachtete die
Federn, die der Königssohn ihm zeigte und sagte: "Gewiß kenne
ich den Vogel. Er wohnt hier ganz nahe in dem Garten eines
Königs, der ihn bewacht. Der Vogel ist nicht schwer zu greifen;
nur darf der, der ihn fassen will, nicht in dem Garten sprechen. Ich
will dir also den Weg nach dem Garten zeigen. Du mußt dir aber
merken, daß du, solange du darin weilst, kein Wort reden darfst."
Der Königssohn sagte: "Dieses ist nicht schwer. Zeige mir nur den
Weg."
Der Aldjann brachte den Königssohn also zu dem Garten. Der
Sohn des Melik trat hinein. Sobald er aber einige Schritte weit gegangen
war, sah er auch schon den Vogel, dem er die Federn ausgerissen
hatte, auf einem Aste schlafend sitzen, und vor Freude über
das Wiedersehen sagte er vor sich hin: "Das ist mein Vogel!" Kaum
aber hatte der Königssohn diese Worte gesagt, da erwachte der
Vogel und fing beim Anblick des Königssohnes laut an zu schreien.
Sogleich tauchten auf allen Seiten Wächter und Soldaten des Königs
auf, nahmen den unvorsichtigen jungen Mann gefangen und brachten
ihn zu ihrem Herrn.
Der König sah den fremden Jüngling sehr böse an und sagte:
"Wie kannst du dich unterstehen, in diebischer Absicht in meinen
Garten zu kommen. Ich kann nicht anders; ich will dich töten
lassen!" Der junge Mann sagte: "Ich bin kein Dieb, sondern ich
bin der Sohn eines Königs, in dessen Garten dein Vogel jede Nacht
eine wertvolle Frucht abgepflückt hatte. Deshalb habe ich mich
auf den Weg gemacht, den diebischen Vogel zu töten. Sieh, hier
sind die Federn, die ich dem Dieb im Garten meines Vaters ausgerissen
habe." Der König sagte: "Wenn es so ist, so will ich dir
die Möglichkeit geben, dein Leben zu retten und für deinen Vater
den Vogel zu gewinnen. Höre mich: hier in der Nähe wohnt ein
König, der hat ein Pferd, dem man nur einige Mähnenhaare auszureißen
und diese zwischen den Handflächen zu reiben braucht,
um so das Pferd herbeizurufen oder es weit fort zu bringen. Wenn
es dir gelingt, mir dieses Pferd herbeizubringen, so will ich dir das
Leben und den Vogel schenken. Gelingt dir aber dieses nicht, so
mußt du sterben." Der Königssohn sagte: "Ich will es versuchen,
dir das Pferd zu bringen." Dann ging der Königssohn von dannen.
Als der Königssohn aus dem Garten kam, traf er draußen seinen
Freund, den Aldjann. Der Aldjann begrüßte ihn und sagte: "Wie
ist es dir ergangen? Wo hast du denn den Vogel?" Der Königssohn
sagte: "Ach, es ist mir schlecht gegangen. Ich hatte den
Garten kaum betreten, da sah ich auch schon den Vogel, und da
vergaß ich mich und sagte: ,Das ist mein Vogel!' Darauf erwachte
nun der Vogel und fing an zu schreien, und sogleich kamen Wächter
und Soldaten und schleppten mich zu dem König. Der König aber
entschied, daß ich sterben müsse, und er will mir das Leben und
den Papagei nur schenken, wenn ich ihm ein Pferd bringe, das
einem andern König gehört und das die Eigenart hat zu erscheinen
und zu verschwinden, wenn man einige seiner Mähnenhaare
zwischen den Handflächen hin und her reibt." Der Aldjann wurde
hierauf ärgerlich und sagte: "Habe ich dir nicht vorher gesagt, du
dürftest nicht reden? Konntest du nicht so lange schweigen, bis du
den Vogel hier draußen hattest? —Nun, das mit dem Pferd läßt sich
machen. Folge aber genau allem, was ich dir sage!" Der Königssohn
versprach das, und dann machten sich beide auf den Weg.
Als sie nun in die Nähe des andern Königsgartens gekommen
waren, sagte der Aldjann: "Nun achte genau auf das, was ich dir
sage! Wenn du hier noch ein Stück weit gerade aus gehst, kommst
du an den bewußten Königsgarten. Am Tore sitzt ein großer Gui.
Dieser Gui schläft aber, wie alle andern Leute dort. Du kannst also
getrost hinein und bis zu dem Pferd gehen, welches an einem Strick
im Staue angebunden ist. Diesen Strick darfst du nicht losbinden,
sondern du mußt drei Haare aus der Mähne des Pferdes reißen,
mußt dich auf das Pferd setzen, mußt die Haare zwischen den Handflächen
reiben und sagen, wo du hinwillst. Vergiß dies nicht und
binde vor allen Dingen das Halfter nicht ab!" Der Königssohn versprach
dem Aldjann, ihm in allem folgen zu wollen und machte
sich sogleich auf den Weg, die kurze Entfernung zum Königsgarten
so schnell als möglich zurückzulegen.
Als der Sohn des Melik an den Königsgarten kam, sah er richtig,
wie angekündigt, den Gui. Der Gui schlief aber, und ebenso schlief
alles andere im Garten und in den Gebäuden. Der Sohn des Melik
konnte also ungestört überall umhergehen und sich an all den
schönen Blumen und Früchten erfreuen, die in dem Garten waren.
Zuletzt kam er zu dem Stall, in dem das Pferd angebunden war.
Der Königssohn sah aber, daß es mit einem sehr dicken Strick festgebunden
war, und er sagte: "Es ist gar nicht möglich, daß das
Pferd von hier fort kommt, solange es so angebunden ist. Ich werde
den Strick so leise abbinden, daß niemand es hören kann." Damit
machte der Königssohn sich also an diese Arbeit.
Kaum aber hatte der Königssohn den Strick berührt, an dem das
Pferd festgebunden war, so begann es laut zu wiehern, und das hatte
zur Folge, daß der Gui am Gartentor und alles andere Volk erwachte,
und daß die Wächter und Soldaten des Königs auf den Königssohn
zusprangen und ihn gefangen nahmen. Die Wächter und Soldaten
schleppten den Sohn des Melik sogleich zu ihrem König; der war
aber sehr zornig und schrie den Jüngling an: "Wie kannst du,
junger Dieb, es wagen, in meinen Garten und meinem Pferde nahe
zu kommen! Ich werde dich sogleich töten lassen!" Der Sohn des
Melik sagte: "Ich bin kein Dieb, sondern der Sohn eines Königs,
und ich bin nur hierher gesandt, weil ein Vogel in meines Vaters
Garten wertvolle Früchte stahl, und weil der Besitzer des Vogels
mir diesen nur geben wollte, wenn ich ihm dein Pferd brächte!"
Als der König dies hörte, beruhigte er sich ein wenig und sagte:
"Höre, mein Bursche, du verdienst trotzalledem eigentlich den Tod.
Ich will dir aber das Leben und obendrein das Pferd schenken, wenn
du mir die Büchse bringst, in der ein anderer König seine ganze
Dienerschaft und alle seine Trommler und Trompeter verborgen
hält. Bringst du mir die, so magst du am Leben bleiben. Bringst
du sie mir nicht, so bleibt dir nur die Wahl, ob du durch Schlag,
Tritt oder Wurf getötet werden willst!" Der Jüngling sagte: "Ich
will sehen, ob ich dir die Büchse bringen kann." Dann ging der
Sohn des Melik wieder aus dem Garten.
Bald nachdem er aus dem Garten gegangen war, traf der Königssohn
auf den befreundeten Aldjann, und der sagte: "Wie geht es
dir? Warum hast du solange Zeit gebraucht? Wo hast du das
Pferd?" Der Sohn des Melik sagte: "Mein Freund, mit dem Pferd
war das eine schlimme Sache. Es war an ein ganz dickes Tau gebunden,
das ich unbedingt lösen mußte. Als ich das aber tat, begann
es zu wiehern und weckte damit alle Leute. Ich wurde also
gefangen genommen und zum König geführt. Der König ließ mich
aber nur unter der Bedingung frei, daß ich ihm eine kleine Büchse
bringe, in der ein anderer König alle seine Diener, seine Trommler
und Trompeter eingeschlossen hat. Nun muß ich sehen, wie ich zu
der Büchse komme." Als der Aldjann das hörte, ward er sehr böse
und sagte: "Habe ich dich nicht vorher gewarnt? Habe ich dir
nicht genau gesagt, wie du mit den drei Mähnenhaaren des Pferdes
verfahren mußtest? Was kann ich denn mit dem allerbesten Willen
tun, wenn du immer so dumm bist und alles unterläßt, was ich dir
sage! Nun, diesmal kann ich dir noch helfen, wenn das Land des
Königs, der die Büchse hat, auch sehr weit ist. Komm a so mit!"
Der Aldjann nahm den Königssohn auf und trug ihn weit, weit
fort. Er trug ihn bis in das Land, in dem der König, der die Büchse
besaß, wohnte. Dort setzte er den Sohn des Melik auf die Erde und
sagte: "Der König dieses Landes ist sehr schlecht und grausam, und
außerdem hält er die Büchse, solange er schläft, wie jetzt zum Beispiel,
immer zwischen den Zähnen fest. Nehmen wir ihm die
Büchse aus dem Munde, so wacht er auf, und wir können dem Tod
nicht mehr entrinnen. Darum will ich mich in eine Maus verwandeln
und will ihm als Maus über den Kopf laufen. Mit meinem
Mauseschwanz will ich ihm dann in der Nase kitzeln, so daß er
niesen muß. Wenn er dann niest, wird er die Büchse aus dem Munde
fallen lassen, und du mußt hinzukommen und sie schnell wegbringen.
Hüte dich aber, die Büchse zu öffnen, denn ich weiß nicht,
wie man sie wieder schließen könnte." Der Sohn des Melik sagte:
"Es ist sehr gut so, so werden wir es machen, und ich will dabei
nicht anders verfahren, als du es mir jetzt vorgeschrieben hast."
Darauf gingen sie dicht zu dem schlafenden König hin. Der
Aldjann verwandelte sich alsdann in eine Maus und lief dem König
über den Kopf und kitzelte ihn mit dem Mauseschwanz in der Nase.
Der König hielt die kleine Büchse zwar sehr fest zwischen den
Zähnen. Infolge des Nasekrabbeins mußte er aber niesen, und als
er nieste, öffnete er den Mund, und die kleine Büchse fiel auf den
Boden. Der Königssohn sprang aber schnell hinzu, nahm die Büchse
auf und lief mit ihr so schnell er konnte von dannen und aus dem
Lande des Königs.
Als der Jüngling aber über die Grenze des Landes des Königs
gesprungen war, sagte er bei sich: "Ich muß doch erst einmal diese
Büchse näher ansehen, denn ich kann mir nicht denken, daß darin
mehr als ein paar Mücken, geschweige denn ein oder viele Menschen
sein sollen." Der Königssohn betrachtete also die Büchse und
drehte an dem Deckel hierhin und dorthin. Plötzlich ging sie ganz
leicht auf, und aus dem offenen Büchslein sprangen Menschen mit
Trompeten, Menschen mit Trommeln, mit Hörnern, Pfeifen und
Klappern, und die die Trompeten und Hörner und Pfeifen hatten,
bliesen jeder nach seiner Art, und die Trommler trommelten, und
die mit den Klappern machten den schlimmsten Lärm. Alle aber
tanzten und lärmten um den Sohn des Melik herum, so daß er gar
nicht ein noch aus wußte. Der Sohn des Melik versuchte nun auf
alle Weise die Leute zu bewegen, wieder in die kleine Büchse hineinzugehen.
Die Leute kümmerten sich aber gar nicht um seine Bitten
und Drohungen. Sie brachten ihm, was er verlangte, aber keinem
fiel es ein, wieder in die Büchse zu gehen.
So lebte der Sohn des Melik ein Jahr lang unter den lärmenden
Büchsenmenschen. Diese bedienten ihn zwar ausgezeichnet; im
übrigen aber lärmten sie ununterbrochen. So ging das, bis nach
einem Jahr der Aldjann, der der Freund des Königssohnes war,
vorüberkam. Der Aldjann sagte: "Was machst du denn hier? Ich
dachte, du wärest schon vor einem Jahre nach Hause zurückgekehrt,
und nun sehe ich dich hier in dieser merkwürdigen Gesellschaft?
Wo kommen denn die Leute her?" Der Meliksohn sagte:
"Ach, mein Freund, das sind ja die Leute, die aus der Büchse des
Königs herausgekommen sind, und ich bin nicht imstande, sie
wieder in ihr Haus zurückzubringen." Der Aldjann sagte: "Ja, das
ist nun allerdings eine schlimme Sache. Das weiß ich nämlich auch
nicht. Warte aber, ich will zu dem König gehen und will sehen, es
von ihm selbst zu erfahren."
Der Aldjann verwandelte sich also auch in einen König und
begab sich als solcher zu dem König, dem bis dahin das Büchschen
gehört hatte. Er blieb bei ihm einige Tage zu Gast und sagte dann
zu ihm: "Höre, mein Freund, wir sind zwar beide Könige, aber
trotzdem sind wir doch gute Freunde. Und als Freund möchte
ich dich fragen, welches der Grund ist, daß ich dich immer so
traurig sehe. Sprich es nur aus! Vielleicht kann ich dir in irgendeiner
Sache helfen." Der König seufzte und sagte: "Du hast gut
gesehen. Ich bin in der Tat sehr traurig. Ich hatte früher eine
kleine Büchse, in der war meine ganze Dienerschaft, und wenn ich
sie öffnete, kamen alle Bedienten und Musikanten, Soldaten und so
viel Reiter heraus, als ich nur verlangte. Dieses wertvolle Büchslein
ist mir aber abhanden gekommen." Der als Melik verkleidete
Aldjann sagte: "Nein! Nun höre doch nur! Also ganze Soldatenhaufen
und Reiter konntest du aus einer Büchse herausrufen?
Wirklich, wenn ich dich nicht sehr gut kennte, würde ich glauben,
du lögest. Eine solche Sache habe ich noch nie gehört. Sie ist zu
wunderbar!" Der König sagte: "Ja, es war eine wunderbare
Büchse!" Der andere sagte: "Aber sage mir doch! Konntest du die
vielen Menschen denn auch wieder in die Büchse zurückbringen?"
Der König sagte: "Gewiß konnte ich das. Ich brauchte nur dreimal
das Wort ,Schoulim' auszusprechen. Sogleich waren alle Leute und
Reiter wieder in der Büchse. Ich konnte die Büchse schließen und
einstecken." Der als Melik verkleidete Aldjann sagte: "Ich verspreche
dir auf die Büchse zu achten und dir gelegentlich Nachricht
zukommen zu lassen." Der Aldjann blieb hierauf noch zwei Tage
als König bei dem andern König. Dann nahm er Abschied und zog
fort. Als er aber im Busche war, warf er die Kleidung eines Melik
weg und eilte zu seinem Freunde, dem Sohne des Melik, zurück.
Der Aldjann traf den Königssohn noch immer inmitten der
Trommler, Trompeter und Bedienten. Als der Königssohn seinen
Freund kommen sah, rief er ihm über die Menschenmenge der
Musikanten hinweg zu: "Komm schnell und sage mir, ob du meine
Angelegenheit ausfindig gemacht hast!" Der Aldjann trat in die
Mitte der lärmenden Gesellschaft neben seinen Freund und rief laut:
"Schoulim! Schoulim! Schoulim!" Kaum war aber das dritte
Wort verklungen, da hatten sich auch schon alle Trompeter und
Trommler und Pfeifer und Bläser und Bediente in das Büchschen
gedrängt, und der Sohn des Melik konnte den Deckel schließen. Da
war der Königssohn über alle Maßen dankbar.
Der Aldjann sagte aber: "Nun bringe das Büchschen nur schnell
dem König, der das Pferd hat, und lasse dir dafür die Sicherheit
deines Lebens und das Pferd schenken." Der Sohn des Melik betrachtete
das Büchschen und sagte: "Die Sicherheit meines Lebens
und das Pferd möchte ich schon haben; die Büchse möchte ich aber
auch gern behalten." Der Aldjann sagte: "Du möchtest die Büchse
gern behalten? Nun, dann will ich dir etwas sagen. Leihe mir diese
Büchse auf zwei Tage. In zwei Tagen will ich eine Büchse herstellen,
die genau so aussieht wie die deine. Dann gibst du dem
König, der das Pferd hat, die nachgemachte Büchse und gehst mit
Büchse und Pferd von dannen." Der Sohn des Melik war über
diesen Vorschlag über alle Maßen dankbar und gab dem Aldjann
die Büchse hin.
Der Aldjann nahm die Büchse und eilte von dannen. Nach zwei
Tagen kam er zurück, überreichte dem Königssohn die Büchsen und
sagte: "Nun tue, wie du es wünscht!" Der Königssohn brachte also
dem König die von diesem so begehrte Büchse. Der König betrachtete
sie von allen Seiten und sagte: "In der Tat, es ist die richtige
Büchse. Nimm also das Pferd mit dir fort!" Der Königssohn setzte
sich auf das Pferd, riß ihm drei Mähnenhaare aus, rieb sie zwischen
den Handflächen und wünschte sich weit fort. Im gleichen Augenblick
befand er sich weit entfernt in einem andern Land. Das gefiel
dem Sohne des Melik ausgezeichnet und er sagte bei sich: "Das ist
ein vorzügliches Pferd, ich möchte es doch lieber nicht weggeben,
sondern möchte es behalten, wenn es sonstwie möglich ist, die
Sicherheit des Lebens und den Vogel zu erhalten. Ich werde die
Sache mit meinem Freund, dem Aldjann, besprechen." Der Königssohn
rieb also wieder die drei Mähnenhaare des Pferdes zwischen
den Handflächen und sagte dazu: "Ich möchte bei meinem Freunde,
dem Aldjann, sein!"
Sogleich war der Königssohn bei seinem Freunde. Der Aldjann
begrüßte ihn sehr herzlich und sagte: "Erzähle mir, was es gibt!"
Der Königssohn sagte: "Dieses Pferd gefällt mir so ausgezeichnet,
daß ich mich nicht wieder von ihm trennen möchte. Könnte ich
nicht dieses Pferd behalten und trotzdem die Sicherheit meines
Lebens und den Vogel bekommen?" Der Aldjann sagte: "Dieses
ist möglich. Ich selbst will mich in ein Pferd verwandeln, das dem
deinen vollkommen gleicht, und werde in dieser Gestalt dem Melik,
dem der Vogel gehört, dienen. Laß also das richtige Pferd zurück.
Nimm nur drei seiner Mähnenhaare mit und besteige mich." Dann
verwandelte sich der Aldjann in ein Pferd, das dem andern aufs
Haar glich. Der Königssohn bestieg das Aldjannpferd, und im
nächsten Augenblick befand er sich mit ihm im Garten des Königs,
der den Vogel hatte. Der König betrachtete das Pferd und sagte:
"Ja, das ist das richtige! So will ich dir denn den Vogel und das
Leben schenken." Der Königssohn stieg von dem Pferd, nahm den
Vogel in Empfang und ging mit ihm fort. Er war noch nicht sehr
weit gegangen, da kam der Aldjann ihm entgegen und begrüßte ihn.
Der Königssohn sagte: "Wie kommst du denn hierher? Ich denke,
du dienst als Pferd dem König ?" Der Aldjann sagte: "Kaum warst
du gegangen, so bestieg der König mich und wünschte sich weit
fort in die Wüste. Ich trug ihn sogleich in die Wüste. In der Wüste
warf ich ihn aber ab und bin dann wieder hierher gekommen. So
hast du nun, mein Freund, alle drei wertvollen Dinge -die Büchse,
den Vogel und das Pferd! Sieh nun, daß niemand sie dir stiehlt. Im
übrigen weißt du, daß wir Freunde sind und daß du mich immer
herbeirufen kannst, wenn du mich brauchst." Danach nahmen die
beiden Freunde voneinander Abschied; der Königssohn rief sein
Pferd herbei, nahm Vogel und Büchse und ritt nach dem großen
Tor zu von dannen.
An dem großen Tore hatten die beiden ältern Brüder sich am
Brunnen gelagert und warteten auf die Rückkehr des jüngsten.
Der jüngste Sohn des Melik traf sie, als er herausritt um heimzukehren.
Er grüßte sie herzlich und stieg sogleich vom Pferd. Er
lagerte bei ihnen am Brunnen und erzählte ihnen alles, was er erlebt
hatte, nur sagte er nichts von der Handhabung der Büchse. Die
beiden ältern Brüder sagten ihm ihre Glückwünsche zu seinen
schönen Erfolgen und baten ihn, die Nacht noch bei ihnen zu lagern,
um dann am andern Tage mit ihnen zu dem alten Vater heimzukehren.
Der Jüngste war damit sehr einverstanden. Er legte sich,
ermüdet wie er war, bald nieder und verfiel in einen tiefen Schlummer.
Als der jüngste am Brunnenrand eingeschlafen war, sagten die
ältern Brüder untereinander: "Wenn unser kleiner Bruder mit
diesen schönen Gaben heimkommt, wird unser Vater ihn sicherlich
zum Melik machen, uns aber nicht mehr ansehen. Es wird also
besser sein, wir werfen unsern Bruder in den Brunnen und bringen
selbst die drei großen Dinge heim!" Die zwei Brüder erhoben sich
also, gingen leise dahin, wo der Bruder lag, hoben den Schlafenden
auf und warfen ihn in den Brunnen. Dann nahmen sie die drei
wertvollen Dinge an sich, brachen am Morgen früh auf und kehrten
in die Stadt ihres Vaters, des Melik, zurück.
Als die beiden ältesten Söhne allein kamen, fragte der Melik sie:
"Wo ist mein jüngster Sohn?" Die beiden Ältesten sagten: "Dein
jüngster Sohn war nicht gut und ist unterwegs gestorben. Wir beide
haben dir aber diese drei großen Dinge mitgebracht." Dann gaben
sie dem Vater den Vogel, das Pferd und die Büchse. Der Vater freute
sich über diese Dinge sehr. Die Büchse aber ward vorsichtig beiseite
gestellt, weil niemand sie zu handhaben wußte und weil alle
Welt sie fürchtete. In der Dankbarkeit für so große Taten seiner
Söhne ernannte der König den ältesten aber sogleich zum Melik
und zog sich selbst auf das Landschloß, das in dem Garten war,
zurück.
Inzwischen erwachte der Jüngste unten im Brunnen, nachdem er
lange Zeit ohne Bewußtsein zwischen den Wänden eingequetscht
gelegen hatte. Der jüngste Sohn des Melik sagte bei sich: "Wo bin
ich? und wie bin ich hierher gekommen? Dies ist kein Traum, und
ich glaube, nur mein Freund, der Aldjann, kann mich aus dieser
Lage befreien." Der Aldjann aber sagte bei sich: "Ich muß einmal
wieder nach dem Wasser im Brunnen am großen Tore sehen. Denn
da ist es nicht in Ordnung." Er kam also mit einem Eimer und
einem langen Strick herbei. Er ließ den Eimer herunter, und als
der Eimer unten auf den jüngsten Sohn des Melik stieß, hing dieser
sich fest daran und ließ sich heraufziehen. Der Aldjann zog den
Eimer herauf und sagte: "Heute muß noch etwas anderes als Wasser
in meinem Eimer sein." Als der Eimer aber bis zum Rande des
Brunnens heraufkam, sprang der Sohn des Melik heraus, und der
Aldjann sagte: "Was machst du denn dort unten? Ich denke, sie
haben dich inzwischen zum Melik gemacht? Wo ist denn der Vogel,
das Pferd und die Büchse ?" Der Jüngste sagte: "Von alledem weiß
ich nichts. Ich fürchte, meine Brüder haben mir dieses angetan und
jenes gestohlen." Der Aldjann sagte: "So eile, daß du schnell nach
Hause kommst." Der Jüngste dankte also dem Aldjann für seine
Rettung und wanderte der Stadt seines Vaters, des Melik, zu.
Der Jüngste kam in die Stadt und begab sich sogleich zu seinem
Vater in das Landschloß im Garten. Als der alte Melik den totgeglaubten
Sohn wiedersah, war er über die Maßen glücklich und
ließ sich noch in der gleichen Stunde alles erzählen, wie es gekommen
war. Als der Sohn mit seiner Erzählung fertig war, sagte
er: "Mein Sohn, dies ist eine ernste Sache! Deine ältern Brüder
haben die drei großen Dinge gebracht und haben die ganze Geschichte
anders erzählt. Wem soll ich nun glauben?" Der Jüngste
sagte: "Mein Vater! Meine Brüder haben gesagt, ich sei gestorben.
Ich liege aber lebend vor dir. Du siehst also, daß sie gelogen haben.
Wenn du nun aber den letzten Beweis dafür haben willst, daß ich
die Wahrheit sage und nicht sie, so versammle morgen alle angesehenen
Leute und verlange in ihrer Gegenwart von meinen
Brüdern, daß sie dir die Handhabung der Büchse zeigen. Wenn sie
das nicht verstehen, ich aber nach ihnen mit der Kenntnis der Sache
hervortrete, so ist damit erwiesen, wer lügt und wer die Wahrheit
spricht." Der alte Melik sagte: "Dieses, mein Sohn, hast du klug
erdacht!"
Am andern Tag rief der alte Melik seine ältesten Söhne und alle
Vornehmen zusammen. Der alte Melik sagte zu seinen Söhnen:
"Meine beiden Söhne, ihr habt mir von der Reise, auf der euer
jüngster Bruder gestorben ist, drei große wertvolle Dinge mitgebracht;
habt mir aber immer noch nicht die Handhabung der Büchse
gezeigt. Das sollt ihr heute nachholen." Damit gab der Vater dem
Ältesten, den er zum Melik ernannt hatte, die Büchse in die Hand.
Der Älteste aber fürchtete sich vor der Büchse. Er wandte sie hin
und her, gab sie dann dem zweiten Sohne und sagte: "Zeige du es
dem Vater!" Der zweite Sohn fürchtete sich aber auch vor der
Büchse; er gab sie dem ersten zurück und sagte: "Mich hat der
Vater nicht zum Melik gemacht, sondern dich!" Die beiden Söhne
stritten. Die alten und vornehmen Leute sagten aber untereinander:
"Die beiden Söhne des Melik fürchten sich vor der Büchse und
kennen nicht ihre Handhabung."
Als der alte Melik das eine Zeitlang mit angesehen hatte, sagte
er: "Ist denn niemand hier, der die Handhabung der Büchse
kennt ?" Erst antwortete niemand. Als der Melik aber zum zweiten
Male fragte, trat der jüngste Sohn hinter einer Mauer, hinter der
er sich verborgen gehalten hatte, hervor und sagte: "Mein Vater,
gib mir die Büchse, ich will die Handhabung zeigen." Als der
Jüngling hervortrat, wurden die ältern beiden Brüder bleich. Alle
andern Leute riefen aber in freudiger Erregung: "Der jüngste Sohn
des Melik ist nicht gestorben; er lebt!" Der alte Melik aber gab dem
jüngsten Sohn die Büchse.
Der jüngste Sohn trat mit der Büchse in die Mitte der Versammlung.
Der jüngste Sohn sagte: "Meine Diener, kommt heraus und
tötet die, die mich in den Brunnen geworfen haben!" Er öffnete
die Büchse. Da kamen viele Soldaten und Reiter und Trommler
und Trompeter heraus, daß sogleich der ganze Platz mit Menschen
gefüllt war. Die Trommler trommelten, die Trompeter bliesen und
die Krieger gingen auf die ältern Brüder des jüngsten Sohnes des
Melik zu, nahmen sie, banden sie und töteten sie. Dann trugen sie
die Toten hinaus.
Hiernach sagte der Jüngste: "Schoulim! Schoulim! Schoulim!"
Sogleich kehrten alle Krieger und Reiter und Trompeter und
Trommler in die Büchse zurück. Der Jüngste schloß die Büchse
und steckte sie zu sich. Alles war nun wieder still.
Der alte Melik ernannte den Jüngsten aber zum König.
14. Die Lieblinge der Aldjann
Ein Melik (hier gleichbedeutend mit Sultan) hatte eine Tochter,
das war ein sehr schönes Mädchen. Einen Sohn und überhaupt
ein anderes Kind hatte er nicht, und somit hing er an diesem Mädchen
mit ganz besonderer Liebe. Er sagte deshalb zu seiner Tochter,
als sie herangewachsen war: "Meine Tochter, ich will, daß du dereinst
eine gute Ehe nach deiner Vorstellung eingehst. Ich will dich
nicht einem andern Manne ohne deine Einwilligung zur Frau
geben." Da das Mädchen nun sehr schön und die Tochter eines
Melik war, kam bald ein angesehener Mann zum Melik und bat
ihn um die Hand seiner Tochter. Der Melik sagte aber: "Ich will
meiner Tochter darin nichts vorschreiben, und somit muß ich meine
Tochter fragen und ihr die Entscheidung überlassen, wenn du mir
auch sonst als Schwiegersohn willkommen wärest." Es wurde somit
das Mädchen selbst gefragt, und dieses antwortete: "Nein, mein
Vater; ich möchte diesen Mann nicht heiraten." Bald kamen andere
Männer. Wer aber auch immer um die Hand der schönen Meliktochter
anhielt, stets erfolgte die Antwort: "Nein, mein Vater; ich
möchte diesen Mann nicht heiraten."
Viele verschiedene Männer kamen im Laufe der Jahre so dem
Mädchen unter die Augen. Das Mädchen sah sie und verglich sie
und sagte zuletzt: "Nein, mein Vater; ich möchte diesen Mann hier
nicht heiraten, und ich möchte überhaupt nicht heiraten, denn ich
finde keinen Mann, der mir zusagt."
Darauf nun wurde der Melik böse und sagte: "Ich habe mein
Wort gegeben, daß du Freiheit bei der Wahl deines Gatten hast.
Was ich gesagt habe, muß ich halten. Ich will aber nicht, daß du
bis an dein Ende kinderlos bleibst. Ich will nicht deinen Hochmut
bekräftigen. Deshalb werde ich es jetzt so einrichten, daß du überhaupt
keinen Mann mehr zu sehen bekommen wirst, bis du dir
einen Gatten wünschst." Damit ließ der erzürnte Melik seine Tochter
in einen hohen Turm einsperren. Er gab einer Djaria (Sklavin)
den Auftrag, für die Speisen und Getränke seiner Tochter zu sorgen,
verbot aber aufs strengste, daß irgendein Mann Zutritt zu ihr erhalte
oder in ihre Nähe käme. Die Frau aber, der er die Aufsicht
über seine Tochter übergab, war die Amme (Murda), die für das
Mädchen von Kindheit auf wie eine zweite Mutter gesorgt hatte.
In diesem Turme blieb nun das Mädchen mehrere Monate eingeschlossen,
ohne eine fremde Frau, geschweige denn einen fremden
Mann zu sehen.
In einem Lande, das sehr, sehr weit entfernt lag von dem Reiche,
in dessen Hauptstadt die Tochter des Melik eingeschlossen war,
lebte ein anderer Melik, der hatte keine andern Kinder als nur einen
einzigen Sohn. Dieser Sohn war nun recht erwachsen, als der Emir
ihn eines Tages zu sich rief und ihm sagte: "Mein Sohn, du bist
nun herangewachsen und ein schöner Bursche geworden. Du bist
in den Jahren zu heiraten, und ich denke, du bist schön und ansehnlich
genug, um ein jedes Mädchen leicht für dich gewinnen zu
können. Hast du nun schon eine Neigung gefaßt, so teile mir dies
mit. Ist dies aber nicht der Fall, so sieh dich bald unter den Mädchen
dieses oder eines benachbarten Landes nach einer Gattin um, die
ihrer Familie und ihrer Eigenart nach würdig ist, die Mutter deiner
Kinder zu werden." Der Sohn sagte: "Ich habe bisher noch gar
nicht an diese Angelegenheit gedacht und bitte dich, mir Zeit zu
lassen, diese Frage mit Sorgfalt zu erwägen." Der Melik sagte:
"Mein Sohn, ich wollte dich an diese wichtige Sache nur erinnern
und überlasse es dir, selbst deine Entschlüsse zu fassen."
Der Sohn des Melik sah sich nun in den nächsten Jahren nach
einer Gattin um, konnte aber kein Mädchen finden, für das er eine
wirkliche Liebe verspürt hätte. Der Melik wartete geduldig einige
Jahre, dann rief er eines Tages wieder seinen Sohn und sagte:
"Mein Sohn, ich habe die Angelegenheit deiner Verehelichung vertrauensvoll
dir überlassen. Ich dachte, du würdest deine Wünsche
mit den meinigen zu vereinigen wissen und habe deshalb nicht
weiter danach gefragt. Nun aber sehe ich, daß du aus eigenem
Antrieb nicht wieder zu mir kommst. Ich mußte dich ausdrücklich
rufen und frage dich nun, wie weit du zu festen Entschlüssen in der
Wahl deiner Gattin gekommen bist." Der Sohn sagte: "Ich fürchte,
mein Vater, daß dir meine Antwort nicht gefallen wird. Ich habe
mir alle angesehenen Mädchen dieses und anderer Länder angesehen.
Ich habe keine darunter gefunden, die mir als Gattin wünschenswert
erschienen wäre. Ich fürchte fast, mein Vater, daß ich
zur Verehelichung wenig geeignet bin, da ich mir kein Mädchen
denken kann, daß ich zur Gattin wünsche." Als der Melik diesen
Ausspruch seines Sohnes hörte, wurde er sehr böse und sagte:
"Leider habe ich aus eigenem Antrieb gesagt, daß ich dich nicht zu
einer Ehe zwingen will. Nun ich aber sehe, daß du andere Wege
gehst, als sie meine Wünsche und dein eigenes Wohl verlangen
müssen, werde ich dir Muße und Gelegenheit bieten, die Sache in
Erwägung zu ziehen." Damit entließ der Melik seinen Sohn in
großem Zorne.
Der Melik ließ aber einen einsamen Turm für seinen Sohn als
Wohnung herrichten. Er ließ seinen Sohn hineinbringen und ließ
ihn unter der Fürsorge eines alten Dieners des Hauses einschließen.
Er verbot dem Diener aufs strengste, irgendeinem fremden Manne
und noch weniger einem Mädchen oder einer Frau Zutritt zu gestatten
und sagte dazu: "Ich hoffe, daß diese Einsamkeit am meisten
meinen Sohn zur Vernunft bringen wird, und ich denke, daß er, je
länger er den Anblick eines Mädchens und einer Frau entbehren
muß, ihm desto mehr der Wunsch nach einem solchen erstehen
wird." Es verbrachte also der schöne Jüngling mehrere Monate in
Einsamkeit in seinem Turm. Das war aber um die gleiche Zeit, da
der andere, weit entfernt wohnende Melik seine Tochter in gleicher
Weise eingeschlossen hielt.
In dem Turme, in dem der Jüngling eingeschlossen war, wohnte
aber für gewöhnlich ein Aldjann, und in dem des Mädchens hatte
auch ein solcher seine Wohnung. Der Aldjann, der im Turme des
Jünglings wohnte, war sonst nicht der beste Kamerad, sondern
liebte es, andern schlimme Streiche zu spielen, die oft böse genug
abliefen. So kam es, daß der Turm bei dem Volke nicht gerade im
besten Rufe stand. Als dieser boshafte Aldjann aber in der ersten
Nacht seines Aufenthalts im Turme den Jüngling sah, da gewann
er diesen sogleich so lieb, daß er beschloß, ihm nicht nur nichts
Schlimmes zu tun, sondern ihn auch sorgfältig von allen unangenehmen
Einflüssen frei zu halten und ihn zu bewachen. Eines
Tages nun kamen viele Aldjann zusammen und plauderten über die
Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Zeit, und der Aldjann, in
dessen Turm nun der Sohn des Melik wohnte, sagte: "Ich habe in
den letzten Monaten keinen Streich mehr ausgeführt und keine Torheit
mehr begangen." Ein anderer Aldjann sagte: "So fürchten die
Menschen dich nun wohl so, daß sie nicht mehr wagen, in die Nähe
deines Turmes zu kommen! Siehst du, das kommt davon, wenn
man seine Sache so schlimm treibt. Die Katze, die allzuviel Mäuse
fängt, muß nachher auswärts umherlaufen, um ihre Nahrung zu
finden."
Der erste Aldjann sagte: "Du bist zwar sehr weise, aber diesmal
stimmt deine Angabe nicht. Die Leute sind nicht nur meinem Turm
recht nahe gerückt, der Melik hat vielmehr sogar seinen Sohn darin
eingesperrt, und das ist ein so schöner Mensch, daß ihm niemand
etwas antun kann. Es ist der schönste Mensch, den es auf der Erde
gibt!" Als der erste Aldjann das gesagt hatte, erhob ein anderer,
der bis dahin geschwiegen hatte, seine Stimme und sagte: "Du
lügst!" Der erste Aldjann war ganz betroffen und fragte: "Was
sagst du?" Der andere sagte: "Ich sage dir, daß du lügst, wenn du
sagst, daß der schönste Mensch der Erde in deinem Turme eingeschlossen
ist. Der schönste Mensch der Erde ist überhaupt kein
Jüngling, sondern ein Mädchen, das alle andern Wesen übertrifft."
Die übrigen Aldjann waren durch diese Erklärung nun sehr angeregt
geworden, und sie fragten den zweiten Aldjann: "Wo wohnt
denn dieses schönste Mädchen, das den schönsten Mann der Erde
noch an Schönheit übertrifft?!"
Der zweite Aldjann sagte: "Dieses schönste Mädchen wohnt unter
meinem Schutz in meinem Turm." Der erste Aldjann sagte:
"Natürlich, wenn der schönste Mann in meinem Turm wohnt, muß
das schönste Mädchen in dem deinen wohnen. Wie kommt sie denn
da hinein?" Der zweite Aldjann sagte: "Das ist eine sehr einfache
Sache. Dies schönste Mädchen ist die Tochter des Melik meines
Landes. Sie hat durchaus bisher keinen Mann finden können, der
ihr zusagt, und da hat der Vater sie denn jetzt, um sie zur Ehe zu
zwingen, in meinen Turm einsperren lassen." Der erste Aldjann
sagte: "Dies ist allerdings eine eigentümliche Sache. Mein Jüngling
ist aus dem gleichen Grunde in meinen Turm gesperrt."
Die übrigen Aldjann riefen: "Dies ist eine ausgezeichnete Sache!
Da können wir ja eine neue Tollheit ausführen. Wir legen den
schönsten Jüngling dem schönsten Mädchen auf das Angareb." Der
erste Aldjann sagte: "Ich habe euch gesagt, daß ich den Jüngling
liebe und daß ich nicht will, daß man ihm etwas zufüge!" Die
übrigen Aldjann verspotteten nun den ersten und sagten: "Du liebst
wohl deinen Jüngling so, daß du eifersüchtig bist." Der erste Aldjann
sagte: "Versteht mich recht; ich will nur das Beste für meinen
schönen Jüngling und will es verhindern, daß ihn ein Unglück
treffe." Der zweite Aldjann sagte: "Ist es vielleicht ein Unglück
für einen schönen Jüngling, auf dem Angareb eines noch schöneren
Mädchens zu erwachen ?" Der erste Aldjann sagte: "Das ist es allerdings
nicht."
Nun nahm einer der übrigen Aldjann das Wort und sagte: "Es
ist somit ganz klar, daß wir zu entscheiden haben, welcher von
diesen beiden Menschen der schönere ist. Wir wollen bei dieser
Untersuchung kein Unglück anrichten, sondern wollen uns darauf
beschränken, erst den Jüngling zu dem Turm und auf das Angareb
des Mädchens, und nachher das Mädchen in den Turm und auf das
Angareb des Jünglings zu tragen. Morgen früh sollen beide dann
in ihrer gewohnten Umgebung erwachen, und somit kann daraus
ein Unglück nicht entstehen." Mit diesem Vorschlage waren alle
Aldjann einverstanden, und alle machten sich sogleich an die Ausführung
des Unternehmens.
Die Aldjann begaben sich erst in den Turm, in dem der Jüngling
wohnte; sie hoben ihn, ohne ihn zu wecken, auf und trugen ihn
schnell in den Turm, in dem die Tochter des Melik schlief, und
legten ihn neben das Mädchen auf das Angareb. Dazu entzündeten
sie ein Licht. Bei dessen Aufflammen aber erwachte das Mädchen,
richtete sich auf und sah nun zu seinem Erstaunen den Jüngling
neben sich. Da wurde das Mädchen von einer solchen Liebe erfaßt,
daß sie nicht anders konnte, als sich über ihn zu beugen und ihn
auf beide Backen zu küssen. Das Mädchen sagte leise: "Was ist
das? Nun hat mein Vater doch den Mann gefunden, den ich liebe!
Und er hat ihn mir so gezeigt. Diesen Jüngling und keinen andern
will ich heiraten!" Als das Mädchen das gesagt hatte, fiel sie
wieder in tiefen Schlaf.
Die Aldjann nahmen aber nun den Jüngling und trugen ihn in
seinen Turm zurück, und sie nahmen das Mädchen und trugen es
dem Jüngling nach und legten es in dessen Turm neben ihn auf das
Angareb. Sie zündeten wieder ein Licht an, und bei dessen Schein
erwachte der Jüngling und sah auf das schöne Mädchen, das neben
ihm lag, und er rieb sich die Augen und sagte: "Ein so schönes
Mädchen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Sicher hat mein Vater sie gefunden und sie mir heimlich hierher
gelegt. Er hat recht gehabt. Dieses Mädchen und kein anderes will
ich heiraten." Und der Jüngling zog vorsichtig einen Ring, den er
am Finger des Mädchens sah, ab und wechselte ihn mit einem
solchen, den er selbst zu tragen pflegte, aus. Nach diesem Ring.
tausch fiel er sogleich wieder zurück in festen Schlaf. Die Aldjann
nahmen aber das schöne Mädchen auf und trugen es zurück in
seinen Turm.
Am andern Morgen erwachte das schöne Mädchen und sah den
Ring an seinem Finger. Das schöne Mädchen hatte den Ring
an der Hand des Jünglings in der Nacht gesehen. Das schöne Mädchen
sagte: "Der schöne Jüngling hat mir meinen Ring genommen,
hat mir den seinen gegeben und ist wieder gegangen. Ich werde mit
meinem Vater sprechen." Sie sandte darauf ihre Dienerin zu ihrem
Vater, dem Melik, und ließ ihn bitten, sie zu besuchen. Der Melik
kam. Das Mädchen warf sich vor seinem Vater nieder und sagte:
"Mein Vater, verzeihe mir, wenn ich dich durch meine lange Unentschlossenheit
gekränkt und dir zuletzt gesagt habe, ich wolle nicht
heiraten. Du hast mir nun aber in dieser Nacht einen Jüngling
gezeigt, den ich gern zum Gatten nähme - ja, ich kenne jetzt
keinen andern Wunsch, als ihn sobald als möglich wiederzusehen."
Der Melik war sehr erstaunt und sagte: "Meine Tochter, ich habe
dir weder in dieser Nacht noch sonstwann in diesem Turm einen
Jüngling gezeigt; ich habe vielmehr strengstens verboten, daß du
jetzt mit einem Manne zusammen kommst." Die Tochter sagte:
"Mein Vater, ich bitte dich, quäle mich nicht, denn ich bin streng
genug bestraft. Führe mich vielmehr möglichst bald dem Jüngling
zu, der in dieser Nacht mit mir die Ringe gewechselt hat."
Der Melik ließ sich von seiner Tochter den Ring geben, betrachtete
ihn und sagte: "Dies ist ein sehr wertvoller Ring, und die ganze
Sache sieht danach allerdings weniger nach einem Traume aus, als
ich zuerst glaubte." Der Melik ließ nun die Dienerin holen und
besprach mit ihr die Angelegenheit. Sie schwor ihm, daß sie die
Schlüssel zum Turm ganz allein in der Tasche gehabt hatte, und
außerdem ergab eine Untersuchung der Umgebung des Turmes, daß
nirgends eine Spur aufzufinden sei. Der König schüttelte den Kopf,
gab seiner Tochter den Ring wieder und sagte ihr, daß er dies alles
nicht verstehe. Damit ging er.
Als der Vater gegangen war, verfiel seine Tochter in ein langes
Weinen und schluchzte ununterbrochen vor sich hin. Die alte
Dienerin vermochte sie nicht zu trösten, vielmehr verfiel das Mädchen
in eine Krankheit, die je länger sie währte, um so hartnäckiger
um sich griff. Das schöne Mädchen vermochte zuletzt vor Schmerz
und Kummer keine Speise mehr zu sich zu nehmen und genoß nur
noch einiges Getränk.
Dem Jüngling erging es fast noch schlimmer. Als er am Morgen
nach dem nächtlichen Auftauchen des schönen Mädchens in seinem
Turm und auf seinem Angareb erwachte, war das erste, daß er nach
dem Finger griff, auf den er den Ring des Mädchens gesteckt hatte.
Als er sich erhoben hatte, sandte er zu seinem Vater und ließ ihm
sagen: "Ich bin bereit, dies Mädchen zu heiraten und danke dir
dafür, daß du sie mir in dieser Nacht gezeigt hast." Der Melik ließ
aber antworten: "Ich weiß von keinem Mädchen, das mein Sohn
heiraten will, und ich habe ihm auch keins gezeigt." Als der Sohn
diese Antwort erhielt, verfiel er in tiefes Nachsinnen. Er sagte nur
noch: "Dies ist also eine neue Strafe meines Vaters gewesen!" Und
dann sprach er nicht mehr. Von nun an saß der Jüngling auf der
Kante des Angareb und blickte unverwandt auf den fremden Ring.
Er aß nichts mehr und trank nichts mehr. Er schlief nicht und ging
nicht umher.
Nach einigen Tagen ging der Diener zu dem Melik und sagte:
"Ich glaube, Herr, dein Sohn, für dessen Wohl ich sorgen soll, ist
sehr krank. Er genießt nichts mehr und schläft nicht mehr." Der
Melik, der seinen Sohn sehr liebte, sandte sogleich seinen Arzt hin,
daß er die Sache untersuche. Als der Arzt aber zu dem schönen
Jüngling kam, nahm der gar keine Notiz von ihm und blickte immer
nur auf den Ring. Der Arzt versuchte ihm zuzusprechen und fragte
ihn, woher er den Ring habe. Der Jüngling gab aber gar keine Antwort.
Der Arzt drang weiter in ihn, erreichte aber keinerlei Aussprache.
Er blieb nun mehrere Tage in dem Turm mit dem Jüngling
zusammen und kehrte endlich tief bekümmert zu dem Melik zurück.
Er sagte: "Mein Herr, es ist mir schwer, dir die Wahrheit zu sagen,
aber ich muß es tun, da du mich mit der Untersuchung dieser Angelegenheit
betraut hast. Dein Sohn, Herr, ist in dem Turm trübsinnig
geworden, und es ist fürs erste nicht möglich, irgendeinen
Einfluß auf sein Gemüt zu gewinnen. Da er nun aber immer auf
einen Ring blickt, den er an der Hand trägt, so nehme ich an, daß
seine Krankheit mit diesem in irgendeinem Zusammenhang steht."
Der Melik erschrak nicht wenig über diese Mitteilung und zog nun
Nachrichten über den Ursprung des Ringes ein; aber auch die Leute,
welchen man Gelegenheit gab, an dem Jüngling vorbeizugehen und
auf den Ring zu sehen, hatten nie dieses Schmuckstück oder auch
nur ein ähnliches gesehen. Der Melik ließ seinen Sohn zu sich auf
sein Schloß bringen. Er suchte ihm alle Zerstreuungen zu bereiten,
die auszudenken waren; aber niemand vermochte es, den schönen
Jüngling von dem Hinstarren auf den Ring abzubringen, und da er
außerdem nichts mehr zu sich nahm, so siechte er von Tag zu Tag
mehr hin. Das erfüllte nun den Melik und alle seine Leute mit
solchem Schmerz, daß eine große Trauer über das Haus des Melik
und über das ganze Land kam und niemand mehr wagte, sich einer
Fröhlichkeit hinzugeben.
Der Melik ließ viele Ärzte kommen und die Sache besehen und
besprechen. Es drängten sich immer mehr Ärzte hinzu. Aber als
keiner wirklich helfen konnte, bestimmte der Melik, daß jeder Arzt,
der den Fall behandeln zu können vorgabe, sich aber ebenso wie
die andern nachher als unfähig erwies, getötet werden solle, Es
kamen noch einige Ärzte, die ihren Wagemut mit dem Tode bezahlten,
und dann blieb der Melik und sein Serail von fernern Besuchen
verschont. Nur noch der Amir (Wesir) kam von Zeit zu
Zeit, um mit dem Melik Wichtiges zu besprechen. Sonst lag das
Serail verlassen da, und das ganze Volk trauerte.
Nun hatte die Amme (Murda), die die Tochter des Melik in ihrem
Turm behütete und bewachte, einen erwachsenen Sohn, der war
Kaufmann geworden und hatte sich auf einer Reise weit in fremde
Länder begeben. Eines Tages kam der Sohn der Amme heim und
wurde von dieser unter Tränen der Freude begrüßt. Nachdem er
einiges von seiner Reise erzählt hatte, fragte er: "Nun aber erzähle
du, meine Mutter, was es bei dir und hier im Lande inzwischen
Neues gegeben hat!" Die Murda seufzte und sagte: "Hier haben
wir nur eins erlebt und das ist sehr traurig. Als deine Schwester
(die Tochter des Melik und der Sohn der Amme wurden als Schwester
und Bruder bezeichnet, weil sie am gleichen Quell ihre erste Nahrung
nahmen; richtiger wäre also Milchbruder und Milchschwester)
alt genug war, verlangte der Melik, ihr Vater, daß sie sich verheirate
nach eigener Wahl. Das Mädchen, das inzwischen sehr schön geworden
war, konnte sich aber zu keinem Manne hingezogen fühlen,
und zuletzt wurde der Melik ungestüm und böse und ließ sie in einen
alten Turm einschließen. Ich sollte sie bewachen und behüten, kein
anderer Mensch, am wenigsten ein Mann, durfte den Turm betreten.
Da ereignete es sich, daß deine Schwester eines Morgens mit einem
ausgetauschten Ring erwachte und erklärte, sie habe einen wunderbaren
fremden Jüngling nachts in ihrer Kammer gesehen -diesen
und keinen andern Mann wolle sie heiraten, und von diesem und
keinem andern stamme der ausgetauschte Ring. Niemand wußte
um den Ring oder den Jüngling. Das schöne Mädchen ist aber seither
trübsinnig. Sie ißt nicht mehr und geht dem sichern Tod entgegen."
Der Sohn der Murda sagte: "Meine Mutter, laß mich mit meiner
Schwester einige Worte sprechen." Die Mutter sagte: "Mein Sohn,
was denkst du! Kein Mann darf in den Turm. Der Melik hat es
streng verboten." Der Sohn sagte: "Meine Mutter, leihe mir deine
Kleider, ich will nicht als Mann, ich will als Frau hineingehen!"
Der Sohn drängte die Mutter. Endlich versprach sie ihn mitzunehmen.
So geschah es.
Als der in Frauenkleider gehüllte Sohn nun in den Turm kam,
sprach er zu der Tochter des Melik: "Meine Schwester, erschrick
nicht! Ich, dein Bruder, bin es. Ich bin gekommen, dich zu bitten,
mir den Ring zu zeigen, damit ich durch alle Länder reisen und den
Jüngling finden kann, dem der Ring gehört." Die Tochter des
Melik sah auf. Sie sagte: "Du bist es, mein Bruder! Mein Bruder,
ich danke dir, daß du mir helfen willst." Der Sohn der Murda sah
den Ring, er sagte: "Dieser Ring ist nicht aus diesem Lande. Ringe
von ähnlicher Art habe ich in fernen, fernen Ländern gesehen."
Die Tochter des Melik sagte: "Mein Bruder, glaubst du den finden
zu können, von dem dieser Ring eingetauscht ist?" Der Sohn der
Murda sagte: "Ich könnte es versuchen und ich glaube, daß es mir
gelingen würde!" Die Tochter des Melik sagte: "Was brauchst du
dazu?" Der Sohn der Murda sagte: "Ich brauche hierzu zweierlei:
einmal mußt du mir den Ring geben, damit ich ihn überall vergleichen
kann; dann mußt du mir versprechen, am Leben zu
bleiben, bis ich wiederkomme." Die Tochter des Melik sagte: "Du
bist mein Bruder. Dir vertraue ich. Nimm den Ring. Ich will nicht
sterben, ehe du wiederkommst!"
Der Sohn der Murda nahm den Ring. Der Sohn der Murda ging
in den Frauenkleidern aus dem Turm in das Haus seiner Mutter
und bereitete sich gleich am andern Tag zu einer langen Reise vor.
Er reiste nach jener Richtung, in der er Ringe von dieser Art gesehen
hatte, und er reiste in dieser Richtung sehr weit, durch ein
Land nach dem andern. Hier und da suchte er die Silberarbeiter
auf und zeigte den Ring. Nirgends aber wußte man etwas von seiner
Herkunft zu sagen.
Als der Sohn der Murda so schon eine weite Strecke und durch
viele Länder gereist war, kam er eines Tages in eine sehr große
Stadt, in der alle Welt still und geräuschlos einherging. Jeder aber,
ob Mann oder Frau, ließ den Kopf hängen und war so traurig, daß
der Sohn der Murda bei sich sagte: "In dieser Stadt muß gerade der
Melik gestorben, der Melik aber ein sehr guter Mann gewesen sein."
Der Sohn der Murda ging also in ein Kaffeehaus und setzte sich
dahin, ließ sich eine Schale Kaffee reichen und sagte bei sich: "Auch
der Kaffeekoch ist so traurig, als wenn er morgen hingerichtet
werden sollte. In dieser Stadt wird niemand von mir und meinem
Ring Kenntnis nehmen wollen."
Der Sohn der Murda schlürfte seinen Kaffee und hörte darauf,
was die andern Leute sprachen. Er hörte wie ein Mann einen andern
begrüßte und sagte: "Es gibt nichts Neues über den Sohn des Melik!"
Nach einiger Zeit begrüßten sich wieder zwei Leute vor dem Kaffeehaus
mit den Worten: "Es gibt nichts Neues über den Sohn des
Melik!" Der Sohn der Murda wartete noch ein wenig und sah dann,
wie ein anderer Gast in das Kaffeehaus trat und zum Kaffeekoch
sagte: "Es gibt nichts Neues über den Sohn des Melik!"
Der Sohn der Murda sagte bei sich: "Ich habe mich geirrt. Der
Melik ist nicht gestorben, aber sein Sohn scheint verschwunden zu
sein. Ich werde den Kaffeekoch fragen." Der Sohn der Murda
sagte zum Kaffeekoch: "Ich bin ein Fremder." Der Kaffeekoch
sagte: "Das hört ein jeder." Der Sohn der Murda sagte: "Wieso
hört das ein jeder?" Der Kaffeekoch sagte: "Weil Ihr nicht vom
Sohn des Melik sprecht." Der Sohn der Murda sagte: "Höre, mein
Freund, und doch ist es das, was mich am meisten angeht. Freund,
sage mir, was es ist." Der Kaffeekoch sagte: "Das ist eine sehr
traurige Geschichte. Unser Melik hat nur einen Sohn. Den hat er
eines Tages verheiraten wollen, hat aber gesagt, der Sohn solle eine
Frau nach seinen eigenen Wünschen wählen. Der Sohn des Melik
hat kein Mädchen gefunden, das ihm gefallen hat; er fand überhaupt
nichts an den Frauen, und darüber wurde der Melik so unwillig,
daß er eines Tages seinen Sohn in einen Turm, der von der
Welt abgelegen ist, einschließen ließ. Da ereignete es sich aber, daß
der Sohn des Melik eines Morgens mit einem fremden Ring am
Finger erwachte und das Mädchen zur Gattin verlangte, von dem
er nachts den Ring eingetauscht hatte. Nun war aber niemand in
dieser Nacht in dem Turm als der Sohn des Melik und sein Wachtdiener.
Der Sohn des Melik ist aber seither trübsinnig, spricht kein
Wort, ißt und trinkt nichts und schwindet hin. Da er nun ebenso
schön wie liebenswürdig ist, hat das den Melik und die ganze Stadt
in tiefe Trauer versetzt. Der Melik hat einen Wasserlauf mit Palmen
und Blumen am Hause des kranken Sohnes ausbauen und anpflanzen
lassen, um seinen Sinn durch den fröhlichen Anblick zu
erfrischen. Der Melik läßt ihn alle Kostbarkeiten und seltenen Tiere
aller Länder sehen. Der Melik hat Ärzte rufen lassen, und viele,
viele kamen. Aber keiner kann den trübsinnigen Sohn aufheitern.
Er sitzt ununterbrochen über seinen Ring gebeugt und starrt ihn
an, und seitdem der Melik auch noch jeden Arzt, der sein Heil vergeblich
an dem Kranken versucht, hinrichten läßt, wagt sich auch
niemand außer dem Amir (Wesir) in die Nähe des Palastes. Sieh,
Fremder, das ist es, was uns alle so traurig macht, daß keiner von
uns mehr Freude am Leben findet, und jeder es noch für das beste
hielte, wenn der schöne Jüngling weggerafft würde, statt in solcher
Umnachtung einherzutasten."
Der Sohn der Murda fragte nach der Richtung, in der der Kanal
für den Meliksohn angelegt sei, bezahlte seinen Kaffee und ging.
Der Sohn der Murda ging an den Kanal, den der Melik für seinen
Sohn angelegt hatte; er sprang hinein und schwamm bis vor das
Serail. Auf der Treppe des Palastes war gerade der Melik, seine
Gattin, der Amir (Wesir) und andere versammelt. Als der Sohn der
Murda den andern nahe genug war, begann er im Wasser zu
schreien. Er jammerte und schrie: "Helft! Helft! Ich ertrinke!"
Der Melik fragte: "Ist das ein fremder Bursche?" Die Sklaven antworteten:
"Ja, es ist ein Fremder!" Der Melik sagte: "Laßt ihn
ertrinken!" Der Melik wollte die Sache nicht mehr sehen. Der
Amir trat aber zu ihm und sagte: "Verzeiht, Herr! Die Sache mit
diesem Mann ist eigentümlich! Wie, wenn er deinem Sohn helfen
könnte? Noch niemals ist jemand auf diesem Wege zu deinem
Palaste gekommen. Herr, ich bitte dich, laß den Mann retten." Der
Melik sagte: "Sende dann ein Boot hinaus und laß ihm helfen."
Der Amir sandte schnell ein Boot vom Ufer ab. Der Sohn der
Murda wurde aus dem Wasser gezogen und hineingehoben. Er
wurde an Land gebracht, und der Amir sagte: "Nun gehe schnell
durch den Palastgang von dannen; sieh nicht rechts und links;
es könnte dich sonst doch noch das Leben kosten." Dei Sohn der
Murda sagte: "Weshalb solle es mir das Leben kosten? Ich tue
doch nichts Schlechtes. Und wenn mich der Melik aus dem Wasser
hat retten lassen, so wird er mich doch hier nicht in seinem Palast
töten lassen!" Der Amir sagte: "Du weißt, daß der Sohn des Sultans
schwer krank und trübsinnig ist, und daß jeder Arzt oder wer sonst
nach seinem Zustande sieht, getötet wird - es sei denn, daß er den
Sohn des Sultans heilen könne, was noch niemand gelang."
Der Sohn der Murda sagte: "Weshalb soll es denn mir nicht gelingen?"
Der Amir sagte: "Bist du denn Arzt?" Der Sohn der
Murda sagte: "Ja, ich bin Arzt, und die Behandlung des Trübsinns
ist meine besondere Kenntnis." Der Amir sagte: "Du bist noch so
jung und willst schon dieses Schwierigste vermögen?" Der Sohn
der Murda sagte: "Ja." Der Amir sagte: "Du bist noch so jung und
willst dich dieser Gefahr, vom Melik getötet zu werden, aussetzen?"
Der Sohn der Murda sagte: "Ja." Der Amir sagte: "Dann komm
mit mir."
Der Amir führte den Sohn der Murda in den Raum, in dem der
Sohn des Melik war. Der Sohn des Melik saß auf dem Angareb und
blickte auf den Ring. Der Sohn der Murda sah den Ring in der
Hand des Trübsinnigen. Der Sohn der Murda sah, daß dies der Ring
seiner (Milch-) Schwester war. Der Sohn der Murda sagte: "Herr,
ich bitte dich, laß mich mit dem schönen Jüngling einige Stunden
allein." Der Amir ging hinaus und ließ den fremden Burschen mit
dem Sohn des Melik allein.
Der Sohn der Murda ging langsam und schweigend zu dem Sohne
des Melik. Er setzte sich neben jenen auf das Angareb. Er zog den
Ring seiner Schwester aus der Tasche und begann ihn zu betrachten.
Er hielt ihn dann vergleichend und ohne ein Wort zu sagen neben
den Ring, auf den der Sohn des Melik sah. Die Blicke des Prinzen
fielen auf den Ring. Der Sohn des Melik fuhr auf. Der Sohn des
Melik sagte: "Das ist mein Ring! Wo hast du diesen Ring her?!"
Der Sohn der Murda sagte: "Und du hast den Ring meiner Schwester.
Wo hast du den Ring her?" Der Sohn des Melik sagte: "Schnell,
mein Freund, sage mir: lebt deine Schwester ?" Der Sohn der Murda
sagte: "Meine Schwester lebt. Sie lebt aber nur von der Hoffnung,
dich wiederzusehen, und sie hat mich ausgesandt, ihren Ring und
dich zu suchen." Der Prinz sagte: "Komm, mein Freund, wir
wollen sogleich hingehen!"
Der Sohn der Murda sagte aber: "Mein Freund, so wird es nicht
gehen. Du bist schwach, weil du lange nichts gegessen hast, und
kannst den weiten Weg nicht zurücklegen. Dein Vater wird dir auch
nicht die Erlaubnis geben, in diesem Zustande eine so weite Reise
anzutreten, und deshalb bitte ich dich, meine Ratschläge zu befolgen
und alles zu tun, was ich dir vorschlage. Denn ich tue das
nicht nur für dich, ich tue es vielmehr für meine Milchschwester,
die auch krank ist wie du, und die nur gesunden wird, wenn sie dich
wiedersieht. Es muß mir, der ich um dieser Sache willen diese lange
Reise angetreten habe, daran liegen, dich gesund und kräftig zu ihr
zu bringen, und deshalb kannst du mir glauben, daß ich nichts anordnen
werde, was nicht zu deinem wie meiner Schwester Besten
ist. Willst du mir glauben?" Der Prinz fiel nach dieser Rede dem
Sohn der Murda um den Hals und sagte: "Oh, ich sehe, daß du der
beste Freund, den ich bisher traf, und mein Erretter bist. Ich will
mich also mit Geduld in alles fügen, was du anordnest."
Der Sohn der Murda sagte: "Ich danke dir für dein Vertrauen.
Vor allem wollen wir dafür sorgen, daß du kräftiger wirst und dich
wieder an Speise und Trank gewöhnst. Auch ich habe seit gestern
nichts genossen, und so wollen wir uns einige Speisen kommen
lassen. Während des Essens, das heißt während die Sklaven uns
aufwarten, wollen wir von all dem nichts sprechen, damit wir unsere
Wege ungestört gehen können. Nachher werden wir alles andere
ordnen. Ist es dir so recht?" Der Prinz sagte: "Es ist mir sehr
recht, und nun, wo ich so gute Nachricht habe, verspüre ich selbst
wieder Lust nach einem guten Mahle!"
Der Sohn der Murda ging an die Türe, öffnete sie und trat heraus.
Draußen saß der Amir noch auf einem Teppich. Der Sohn der
Murda sagte zum Amir: "Der Sohn des Melik wünscht mit mir zu
speisen. Sorge bitte, daß uns ein gutes Mahl, aber ein Mahl aus
lauter leicht verdaulichen Speisen aufgetragen werde, denn der
Magen des Prinzen ist durch das lange Fasten geschwächt." Der
Amir rief: "Was sagst du? Der Sohn des Melik will speisen?" Der
Sohn der Murda sagte: "Gewiß, er will speisen. Und nach dem
Essen bringt uns auch einen guten und leichten Wein." Der Amir
sagte: "Was ist das? Was ist das?" Der Sohn der Murda lachte
und sagte: "Ordne das nur an. Während wir speisen, könnt ihr
durch die Türe hereinsehen und könnt dann selbst euch mit eigenen
Augen davon überzeugen, daß der Sohn des Melik sein Wesen ganz
geändert hat."
Der Amir lief zum Melik und sagte: "Herr, dein Sohn will speisen
und Wein trinken." Der Melik sagte: "Wie kommt das?" Der
Amir sagte: "Der Bursche, den wir aus dem Wasser retteten, ist ein
Arzt, der danach verlangte, deinen Sohn zu sehen. Er war nur kurze
Zeit bei ihm, dann kam er und verlangte das Mahl!" Der Melik
sagte: "Ich kann das noch nicht glauben. Sieh selbst zu, ob das
alles richtig gehe!" — Der Amir lief weg. Der Amir sagte bei sich:
"Dieser Arzt ist auf eine andere Weise als die andern Ärzte zu uns
gekommen. Deshalb glaube ich, daß er leichter Erfolg haben kann
als die andern." Der Amir lief hin und bestellte das Mahl. Das
Mahl ward bereitet.
Die Speisen wurden auf einer reich geschmückten Platte in den
Raum gebracht, in dem sich der Prinz mit dem Sohn der Murda
befand. Der Amir sagte zu den Sklaven: "Wenn ihr bedienend aus-
und eingeht, laßt die Türe ein wenig offen, so daß man sehen kann,
was darin geschieht!" Die Diener taten es. Der Amir sah in den
Raum. Da sah er, daß der Prinz mit gutem Appetit in die Speiseschüsseln
griff und aß. Der Amir sandte einen Sklaven zum Melik
und ließ ihn bitten zu kommen und zu sehen, wie sein Sohn wieder
esse. Der Melik wollte es nicht glauben. Er kam aber doch und
trat zu dem Amir, und da sah er, daß der Prinz mit gutem Appetit
in die Speisen griff und aß. Der Melik schlug die Hände zusammen,
schüttelte den Kopf und sagte: "Mein Sohn ißt! Mein Sohn ißt!"
Nachdem sie gegessen hatten, ließ der Sohn der Murda die Speisen
abtragen und einen leichten Wein und zwei Becher bringen. Bis
dahin hatten der Prinz und der Sohn der Murda nichts gesprochen.
Nun begann der Sohn der Murda aber Erlebnisse von seinen Wanderungen
und denen anderer Leute zu erzählen. Er wußte das mit
froher Laune zu berichten, und nachdem der Prinz eine Zeitlang
zugehört und sich in die Weise seines neuen Freundes hineingefunden
hatte, begann er vor Fröhlichkeit laut zu lachen. Das
hörten und sahen aber der Melik und der Amir, die draußen standen
und durch die Türspalte hereinschauten. Und als der Prinz immer
lauter und fröhlicher lachte, fiel der Melik seinem Amir um den
Hals und weinte Tränen der Freude.
Einige Zeit nachher sagte der Sohn der Murda: "Mein Freund,
für heute ist es genug. Lege dich nun hin und schlafe, damit du
Kraft und weitere Gesundheit gewinnst. Ich aber will hinausgehen
und mich nach einem Platze für die Nacht umsehen." Da erschrak
der Prinz und sagte: "Mein Freund, ich bitte dich, tue mir das nicht.
Ich will noch ein besseres Angareb hereinbringen lassen; darauf
lege dich und schlafe bei mir!" Der Sohn der Murda sagte: "Es ist
mir recht; ich bleibe auch am liebsten in deiner Nähe." Danach
ließ der Prinz noch ein anderes Angareb hereinbringen, dann legten
sich beide nieder und ließen die Sklaven die Türe schließen.
Einige Zeit nachdem die Diener die Tür geschlossen hatten, sagte
der Prinz: "Mein Freund, ich bitte dich, erzähle mir nur noch ein
wenig von deiner Schwester und von dir selbst. Dann will ich auch
schlafen." Der andere sagte: "Das will ich gern tun und will bei
mir beginnen. Ich bin der einzige Sohn einer guten Frau, die in
der Zeit, da die Gattin unseres Melik in der Hoffnung war, mit mir
schwanger ging. Die Gattin des Melik und meine Mutter wurden
gleichzeitig entbunden, und als die Gattin des Melik gleich darauf
starb, ward meine Mutter die Amme der Tochter des Melik. Diese
Prinzessin nun erlebte ein Schicksal, das genau dem deinen entspricht.
Als sie keinen geeigneten Gatten fand, ließ ihr Vater sie in
den Turm bringen, in dem sie dann eines Nachts dich sah, wie du
sie hier erblicktest. Als sie am andern Morgen erwachte, war der
Ring an ihrem Finger vertauscht, und als niemand imstande war,
diese Sache aufzuklären, verfiel sie in Krankheit. Ich aber entschloß
mich, dich zu suchen, und du weißt, wie ich zu dir gekommen
bin." Der Prinz sagte: "Ich danke dir!" Und danach fiel
er in Schlaf.
Als der Prinz am andern Morgen erwachte, fühlte er sich schon
viel kräftiger und sehr glücklich. Er verabredete nun mit seinem
Freunde, daß sie noch einige Zeit der Kräftigung abwarten und dann
im geheimen die Reise nach dem Lande der Prinzessin antreten
wollten. Der Sohn des Melik sorgte nun aufmerksam für sein
körperliches Wohlbefinden, von dem der Sohn der Murda den Zeitpunkt
der Abreise abhängig gemacht hatte. Er sprach in dieser Zeit
mit niemandem als mit dem Sohne der Murda und weigerte sich
auch, seinen Vater, den Melik, zu sehen. Er hielt so alle unnötigen
Frager fern und erklärte eines Tages seinem Freunde, stark genug
zu sein, um die Anstrengungen der weiten und beschwerlichen Reise
zu ertragen.
Der Sohn der Murda begab sich hierauf zum Melik, der ihn in
ehrenhafter und aufmerksamer Weise empfing, der ihm für das,
was er an seinem Sohne schon bewirkt hatte, dankte und fragte,
was er nun weiter für gut erachte, um die Genesung bis zu Ende zu
führen. Der Sohn der Murda sagte: "Dein Sohn hat seit einigen
Tagen den Wunsch geäußert, in altgewohnter Art wieder einmal auf
die Jagd auszureiten. Ich halte ihn nun nicht nur für kräftig genug,
eine solche Unternehmung zu ertragen, sondern glaube auch, daß
diese Abwechslung das Fortschreiten der Genesung nur fördern
kann. Natürlich wird es gut sein, wenn ich seinem Wunsche gemäß
ihn begleite, und somit bitte ich dich, uns für vierzehn Tage Soldaten
als Wachen und Lasttiere und Zelte, nebst allem, was zu einem
Jagdausflug in die Wüste gehört, zur Verfügung zu stellen." Der
Melik war durch diese Anzeichen fortschreitender Besserung nur
erfreut und erklärte sich zu allem bereit.
Am andern Morgen war schon alles hergerichtet, und der Melik
sah mit dem Amir vom Dache des Gasr aus zu, wie der Prinz an
der Seite seines neuen Freundes und an der Spitze der Reiter in die
Wüste hinausritt. Der Sohn des Melik ritt nun mit dem Sohn der
Murda weit hinaus in die Wüste, bis sie nach mehreren Tagen an
die Grenze des Landes kamen. Sie jagten hier und da, hatten auch
sonst allerhand Spiele angeordnet, führten einen guten Koch mit
sich und genossen somit ein angenehmes Leben, bei dem sich der
Sohn des Melik vorzüglich erholte. Als sie nun eines Nachts an der
Grenze des Landes übernachteten und alle Leute und auch die
Reiter in tiefem Schlafe lagen, weckte der Sohn der Murda den Sohn
des Melik und sagte: "Wach auf! Es ist Zeit, daß wir die Reise zu
meiner Schwester antreten. Wir wollen einfache Kleider anziehen
und den Schlaf der Wächter dazu benutzen zu entweichen." Die
beiden jungen Leute erhoben sich. Der Sohn der Murda ging hinaus,
erlegte ein vorüberspringendes Kaninchen mit dem Speer und rieb
dann seine und des Prinzen Kleider mit dessen Blute ein. Er warf
die Kleider im Kreise umher, zertrat den Boden, so daß es aussah,
als ob ein Kampf hier stattgefunden habe, und eilte mit dem Prinzen
der Grenze des Landes zu von dannen.
Als die Wächter am andern Morgen erwachten, erschraken sie
sehr beim Anblick der blutigen Kleider und leeren Angarebs ihrer
Herren. Sie sahen den zertretenen Boden und meinten nun nicht
anders, als irgendwelche feindlichen Menschen oder Tiere hätten
den Prinzen und seinen Freund ermordet und weggeschleppt, und
nachdem sie noch einige Tage gewartet und die Gegend abgesucht
hatten, kehrten sie mit den blutigen Kleidern sehr niedergedrückt
in die Heimat zurück. Der Melik war von der Nachricht, die ihn
plötzlich traf und alle seine Hoffnungen völlig vernichtete, tief erschüttert
und mit ihm das ganze Land. Je größer allenthalben die
Freude bei den Nachrichten über das Aufwachen des Prinzen aus
seiner Krankheit gewesen war, desto schlimmer war der Schrecken,
der sich aller bei Ausbreitung der Nachricht bemächtigte. Aber niemand
konnte an diesem Tatbestand etwas ändern. Der Melik ließ
die schläfrigen Wachen gefangen setzen und verhängte das Todesurteil
über sie, aber damit war auch nichts erreicht. Alle Welt
glaubte, der Prinz und sein Freund seien getötet.
***Inzwischen eilte der Sohn der Murda schnell mit seinem Freunde
über die Grenze und durch andere Länder von dannen, der
Heimat der Prinzessin entgegen. Sie benötigten trotz aller Eile,
mit der sie die Sache betrieben, mehrere Monate, bis sie endlich
anlangten. Der Sohn der Murda brachte den Prinzen in das Haus
seiner Mutter, die über seine Rückkehr um so glücklicher war, als
sie in dem Antlitz des schönen Begleiters ihres Sohnes sogleich alle
Merkmale jenes Jünglings erkannte, die die Tochter des Melik ihr
geschildert hatte. Am andern Tag zog der Sohn sogleich wieder
Frauenkleider an und begab sich in den Turm zu der Prinzessin.
Die Tochter des Melik sah den verkleideten Sohn der Murda und
schrie auf. Die Prinzessin sagte: "Mein Bruder, du hast mir das
Versprechen abgenommen, daß ich bis zu deiner Rückkehr noch
am Leben bleiben solle. Du bist fortgegangen, um den schönen
Jüngling zu suchen, dem der Ring gehört. Sage mir schnell, ob du
ihn gefunden hast oder nicht!"
Der Sohn der Murda öffnete die Hand, in der er die beiden Ringe
hielt. Die Tochter des Melik schrie wieder auf. Sie rief: "Du hast
ihn gefunden! Wo ist er?" Der Sohn der Murda sagte: "Ja, meine
Schwester, ich habe den schönen Jüngling gefunden; er ist der Sohn
eines Melik. Als ich ihn fand, war er abgehärmt wie du es noch
jetzt bist. Er wird in wenigen Tagen ankommen. Sorge nun dafür,
daß du bis dahin auch wieder kräftiger bist und daß du dich erholst.
Denn er ist ein so schöner Jüngling, daß nur eine ebenso schöne
Gattin seiner würdig ist. Wie du nun aber schnell zu Kräften
kommst, das will ich mit meiner Mutter, deiner Murda, besprechen."
Damit nahm er von seiner Milchschwester Abschied und kehrte zu
dem Haus seiner Mutter zurück, die die Pflege des schönen Mädchens
übernahm.
Der Sohn der Murda ging hierauf zum Melik. Der Melik empfing
ihn und sagte: "Was wünschest du? Du bist der Sohn der Murda
meiner Tochter, sage mir, was du für Wünsche hast." Der Sohn
der Murda sagte: "Verzeihe mir, Herr, wenn ich eine Frage wage."
Der Melik sagte: "Du bist der Sohn der Murda meiner Tochter; du
darfst manches fragen, was ein anderer nicht dürfte." Der Sohn
der Murda sagte: "Du hast deiner Tochter früher gestattet, einen
Gatten nach eigener Wahl zu nehmen. Würdest du das heute noch
erlauben?" Der Melik zog die Stirn in Falten und sagte: "Meine
Tochter hat im Laufe der Zeit ihre Gesundheit verloren." Der Sohn
der Murda sagte: "Deine Tochter hat sie wiedergefunden." Der
Melik sagte:
"Was sagst du?" Der Sohn der Murda sagte: "Deine
Tochter hat ihre Gesundheit wiedergefunden. Du kannst sie selbst
sehen. Geh aber noch nicht zu ihr herein, sondern blicke nur durch
die halbgeöffnete Tür." Der Melik sagte: "Ich komme sogleich mit
dir."
Der Melik ging mit dem Sohn der Murda hinüber zu dem Turme,
in dem seine Tochter wohnte. Er blickte durch die halbgeöffnete
Tür. Da sah er, wie seine Tochter mit der Murda speiste und
zwischendurch laut und fröhlich lachte. Der Melik ging leise, wie
er gekommen war, hinaus und fragte den Sohn der Murda: "Nun
sage mir schnell, wer diese Wandlung erreicht hat und wie sie eintrat."
Der Sohn der Murde sagte: "Niemand kannte den, den deine
Tochter zuletzt doch noch zum Gatten gewählt hatte. Ich bin dann
auf die Wanderschaft gegangen, habe ihn gesucht, gefunden und
mitgebracht. Es ist der Sohn eines mächtigen Melik. Deine Tochter
hat ihn noch nicht wiedergesehen, denn sie muß erst ihre alte Gesundheit
wiedergewinnen. Dann aber bitte ich dich, ihre Hochzeit
vorzubereiten."
Der Melik bereitete ein großes Fest vor. Mit vielen Lampen und
Lichtern ward eines Nachts der große Rasenplatz im Garten des
Melik erhellt. Allenthalben waren Blumen aufgestellt, die ihren
Duft weithin verbreiteten. In der Mitte des Kreises saß der Melik
auf einem reichen Teppich. Unter den Lichtern des Kreises hatten
alle Angesehenen und Vornehmen des Landes Platz genommen, und
nur zur Rechten und Linken des Melik an entgegengesetzten Seiten
hatte man einen Torbogen freigelassen, durch welchen der Prinz
und die Prinzessin auf ihren Pferden mit ihrem Gefolge hineinkommen
sollten. Alle Leute wußten aber, daß beide seit jener
Nacht, in der ihre Ringe gewechselt waren, einander nicht wiedergesehen
hatten.
Der Melik wartete, bis alle Angesehenen sich im Kreise gelagert
hatten. Der Melik gab ein Zeichen, daß alle schweigen sollten. Dann
erhob er sich. Darauf kamen zu den beiden Pforten die Kinder
der Melik hinein, zur einen der Prinz, zur andern die Prinzessin.
Sie kamen in der Mitte zusammen. Sie wurden von den Pferden
gehoben. Sie sahen sich an, und beide begannen zu weinen. Niemand
sprach, aber alle dachten: "Zwei schönere Menschen hat es
auf der Erde noch nicht gegeben." Der Melik aber schloß sie in
seine Arme.
15. Der Hengst Houssan*
Ein Sultan heiratete. Seine Gemahlin ward schwanger. In der
Zeit, da seine Gattin sich schwanger fühlte, ward auch das
beste Pferd des Sultans, eine Stute trächtig, und in der Nacht, in
der die Gattin des Sultans dem Sultan einen Sohn gebar, warf die
Stute ein Fohlen, das war männlich. Der Sohn des Sultans und der
kleine Hengst wuchsen gemeinsam auf. Der Sultan nannte das
Fohlen Houssan und schenkte es seinem kleinen Sohne. Jeden
Morgen nun, wenn der Knabe aufstand, war es sein erstes, daß er
zu dem Pferde lief und es streichelte. Eines Tages nun lag die
Gemahlin des Sultans im Sterben, und sie rief kurz vor ihrem Verscheiden
noch einmal ihren Sohn zu sich und sagte: "Mein Sohn,
was dir auch immer im Leben zustoßen möge, halte dich immer
an Houssan." Dann starb die Frau des Sultans.
Der Sultan heiratete nach kurzer Zeit eine andere Frau. Diese
konnte den kleinen Sultanssohn nicht leiden, und nachdem sie selbst
dem Sultan einen andern Sohn geschenkt hatte, beschloß sie, den
Stiefsohn zu töten. Der Knabe ging aber jeden Morgen, wenn er
aus der Schule kam, zu seinem Houssan, streichelte ihn, gab ihm
gute Worte und ging dann erst in das Haus, um sein Essen zu
nehmen.
Eines Tages kam der Bursche wieder aus der Schule. Er ging
in den Stall, streichelte Houssan und gab ihm gute Worte. Da
wandte Houssan den Kopf, rieb die Stirne an der Brust des Burschen
und sagte: "Mein Schatr Mohammed! Iß heute nichts von der
Speise deiner Stiefmutter, denn deine Stiefmutter hat Gift hineingetan."
Der Bursche umarmte sein Pferd und ging hinein. Als ihm
das Essen aufgetragen wurde, erklärte er, sich nicht wohl zu fühlen
Lind ging von dannen, angeblich, um einen Arzt aufzusuchen, in
Wahrheit aber, um bei einem Freunde zu speisen. Mit dem Freunde
verabredete Schatr Mohammed nun, daß er stets bei ihm essen
wolle, da er von nun ab das Essen seiner Stiefmutter vermeiden
wolle.
An jedem Tage aber ging Schatr Mohammed, wenn er aus der
Schule kam, zu dem Stalle seines Hengstes. Eines Tages streichelte
er wieder Houssan und gab ihm gute Worte. Da wandte Houssan
seinen Kopf, rieb die Stirne an der Brust des Burschen und sagte:
"Mein Schatr Mohammed! Nimm nicht das Kleid, das deine Stiefmutter
dir hingelegt hat. Deine Stiefmutter hat Zaubermittel in
das Kleid genäht. Wenn du es anziehst, wirst du sterben." Der
Bursche umarmte sein Pferd und ging in das Haus. Im Hause überreichten
die Sklaven ihm ein schönes Kleid. Der Bursche aber
sagte: "Ich danke für das Kleid, das sehr schön ist. Ich habe aber
eine Verpflichtung auf mich genommen, daß ich nämlich bis zu
einer gewissen Zeit nur alte Kleidung tragen will." Darauf ging
Schatr Mohammed, um bei seinem Freunde zu essen.
Die Leute, die Schatr Mohammed das Kleid gebracht hatten,
kamen nun zur Gemahlin des Sultans und sagten: "Schatr Mohammed
will das Kleid nicht annehmen, weil er eine gewisse Verpflichtung
auf sich genommen hat." Die Gemahlin des Sultans sagte:
"Gut denn, laßt den Burschen in Lumpen gehen." Die Gemahlin
des Sultans sagte aber bei sich: "Dieser Bursche muß jemand haben,
der ihn warnt. Ich werde der Sache nachgehen." Die Gemahlin
des Sultans sprach also mit einem der alten Sklaven nach dem
andern über die Freunde des Sultansohnes und über alle, die ihm
besonders nahe standen. Der eine führte diesen an, der andere
jenen. Ein alter Sklave aber sagte: "Der beste Freund, den Schatr
Mohammed hat, ist sein Pferd Houssan. Dieses wurde am selben
Tage wie er von der Lieblingsstute des Sultans geboren. Jeden Tag,
wenn Schatr Mohammed aus der Schule kommt, geht er erst zu dem
Hengst und spricht mit ihm."
Die Gemahlin des Sultans erwog alles, was die Leute gesagt hatten
und sprach bei sich: "Es muß dies Pferd Houssan sein, das den
Burschen berät. Der Hengst muß sterben!" Die Frau des Sultans
legte sich auf das Angareb und sagte: "Ich bin krank. Ruft mir
den alten Arzt, der mich von Kindheit an kennt." Die Leute riefen
den alten Arzt, und als er kam, sagte die Frau des Sultans zu ihm:
"Mein Arzt, du kennst mich von Jugend auf. Mein Arzt, du weißt,
daß ich von Zeit zu Zeit erkranke und dann nur wieder gesunde,
wenn mir ein bestimmtes Gelüst, das mit der Krankheit aufkommt,
gestillt wird. Ich bin nun wieder erkrankt und fühle, daß ich nur
dann gesund werden kann, wenn ich die Leber des Houssan
(= Pferd i. arab.) Schatr Mohammeds genieße. Also bitte ich dich,
zu meinem Gatten, dem Sultan, zu gehen und ihm mitzuteilen, daß
ich erkrankt sei und nur wieder gesund werden könne, wenn ich die
Leber des Houssan als Kräftigungsmittel und Medizin erhalte." Der
alte Arzt sagte: "Ich will zum Sultan gehen und will es ihm sagen."
Der alte Arzt ging zum Sultan und sagte: "Deine Gattin ist
schwer erkrankt. Ich war bei ihr und kann sagen, daß sie nur dann
geheilt werden kann, wenn man ihr die Leber des Houssan deines
Sohnes Schatr Mohammed gibt." Der Sultan sagte: "Ich bedaure
die Krankheit meiner Gattin sehr und wünsche, daß sie bald gesund
werden möge. Ich kann aber nicht anordnen, daß man den Houssan
meines Sohnes töte, denn der Houssan gehört eben meinem Sohne,
der jetzt in der Schule ist. Wenn er aber aus der Schule kommt,
soll man meinen Sohn sogleich zu mir rufen, und ich werde ihn
dann selbst bitten, seinen Houssan herzugeben." Der Arzt ging zur
Gattin des Sultans zurück und berichtete ihr.
Die Gattin des Sultans sagte zu ihren Leuten: "Geht Schatr Mohammed
entgegen, wenn er aus der Schule kommt. Trefft ihn, ehe
er noch in den Stall seines Houssan getreten ist und sagt ihm, daß
der Sultan verlange, ihn ungesäumt zu sprechen." Die Leute gingen.
Die Leute trafen Schatr Mohammed, als er aus der Schule kam. Sie
sagten zu ihm: "Der Sultan läßt dir sagen, du sollst ohne Säumnis
sogleich zu ihm kommen." Schatr Mohammed sagte: "Geht und
sagt meinem Vater, daß ich sogleich zu ihm kommen werde. Ich
will aber erst meinen Houssan begrüßen." Die Leute der Stiefmutter
sagten: "Du sollst sogleich und ohne Versäumnis zu ihm
kommen. Geh also nicht erst zu deinem Houssan!" Der Sohn des
Sultans aber wurde zornig und sagte: "Wer seid ihr, Sklaven meiner
Stiefmutter, daß ihr es wagt, mir meine Wege vorzuschreiben!
Wenn mein Vater, der Sultan, so eilig mit mir sprechen wollte,
würde er nicht euch zu mir schicken, sondern seine eigenen Leute.
Macht daß ihr wegkommt und mich nicht auf meinem Wege belästigt,
ihr Giftmischer!" Darüber erschraken die Leute, liefen
schnell von dannen und erzählten alles der Gattin des Sultans. Die
Gattin des Sultans sagte: "Wenn ich nur die Leber des Houssan
erhalte und gesund werde!"
Schatr Mohammed aber trat in den Stall Houssans, streichelte
den Hengst und sagte: "Was gibt es wieder, mein Houssan, mein
Freund, mein Bruder?" Der Hengst rieb seine Stirn an der Brust
des Burschen und sagte: "Mein Schatr Mohammed! Deine Mutter
will meine Leber essen, hat angegeben krank zu sein und vom Sultan
meinen Tod verlangt. Dein Vater will mich aber nicht ohne deinen
Willen töten lassen. Er will mein Leben von dir erbitten. Geh zu
ihm. Wenn er dich um mein Leben bittet, sage es ihm zu, verlange
aber, daß man dir erlaubt, erst noch einmal in deinen besten Kleidern
auf mir um die Stadt zu reiten. Er wird es erlauben, und dann
wird alles andere von selbst erfolgen." Schatr Mohammed streichelte
seinen Hengst und ging.
Der Sultan empfing seinen Sohn und sagte: "Mein Sohn, wie ich
höre, ist meine Gemahlin schwer erkrankt. Der Arzt sagt, sie könne
nur dadurch geheilt werden, daß sie die Leber deines Hengstes genieße.
Ich bitte dich also, den Hengst töten zu lassen und verspreche
dir dafür ein anderes gutes Pferd. Ich weiß, das dir dies
schwer fallen wird, aber ich will versuchen, dir hierin und auch
sonst Ersatz zu schaffen." Schatr Mohammed sagte: "Mein Vater!
da du mich um dieses bittest, will ich es gern tun. Vorher will ich
aber von meinem Houssan Abschied nehmen und will mit ihm einmal
um die Stadt reiten. Nachher kann deine Gattin den Houssan
töten. Ich hoffe, mein Vater, daß du hiermit einverstanden bist."
Der Sultan sagte: "Gewiß, mein Sohn! Dieses ist ein berechtigter
Wunsch." Der Sohn des Sultans ging.
Der Sultan sandte zu seiner Gemahlin und ließ ihr sagen, daß
sein Sohn nur noch einmal auf seinem Houssan um die Stadt reiten
und ihn ihr dann ausliefern wolle. Die Gattin des Sultans hörte
das und rief einige ihrer ergebensten Leute. Die Gattin des Sultans
sagte: "Macht euch bereit mit Pferden und Waffen. Wenn Schatr
Mohammed nachher ausreitet, folgt ihm in einiger Entfernung.
Wenn er in die Wüste entfliehen will, jagt aber hinter ihm her und
tötet sogleich ihn und sein Pferd. Hütet euch aber, daß jemand
euch sieht!" Die Leute sagten: "Meine Herrin! Es soll geschehen!"
Schatr Mohammed zog seine besten Kleider an und nahm seine
Waffen. Dann ging er in den Stall und sattelte den Houssan. Er
streichelte ihn und bestieg ihn. Er sah, daß in einiger Entfernung
bewaffnete und berittene Leute standen, und, als er zum Stadttor
hinausritt, ihm folgten. Schatr Mohammed ritt ein Stück weit um
die Stadt. Die bewaffneten Reiter hielten sich immer in einiger Entfernung.
Als der Sohn des Sultans so eine Weile geritten war,
wandte Houssan den Kopf und sagte: "Mein Schatr Mohammed!
Nun sitze fest! Sieh, wie hinter uns Leute kommen, die uns verfolgen
und töten wollen. Sitze also fest. Ich werde dich durch die
Wüste aus dem Lande heraustragen." Schatr Mahommed sagte:
"Es ist gut! Ich sitze fest!" Houssan sprang einige Schritte von
der Stadt weg der Wüste zu. Sogleich setzten die nachfolgenden
Reiter ihre Pferde in Bewegung. Houssan lief aber nun mit einer
Geschwindigkeit hinaus, die kein anderes Pferd einhalten konnte;
und die Leute der Gattin des Sultans mochten ihre Pferde antreiben
und peitschen wie sie wollten, sie hatten nach einigen Augenblicken
doch den Schatr Mohammed aus den Augen verloren. Sie gaben also
die Verfolgung bald auf, kehrten in die Stadt zurück und teilten der
Gattin des Sultans mit, daß Schatr Mohammed entronnen sei.
Houssan rannte mit seinem Herrn von dannen, bis er über die
Wüste und das Land des Sultans hinaus war; dann trug er ihn vor
die Tore einer andern großen Stadt und blieb stehen. Houssan sagte
zu seinem Herrn: "Mein Schatr Mohammed! Steige hier ab, lege
deine schönen Kleider und Waffen ab und befestige sie auf meinem
Rücken. Ziehe dann aus meiner Mähne sieben Haare und bewahre
diese auf. So oft du diese sieben Haare zwischen den Handflächen
reibst, werde ich zur Stelle sein und dafür sorgen, daß dir jeder nur
erdenkliche Wunsch erfüllt werde. Gehe nun aber in ärmlicher
Kleidung in diese Stadt und vergiß nicht, daß du immer, wenn du
mich brauchst, mich rufen kannst." Darauf umarmte Schatr Mohammed
seinen Houssan. Houssan sprang dann auf und war sogleich
verschwunden.
Der Bursche aber ging in einer ärmlichen Kleidung, unter der
niemand den Sultanssohn gesucht hätte, in die Stadt. Er begab
sich zu dem großen Garten, in dem das Gasr des Sultans dieser, Stadt
und dieses Landes lag und trieb sich darin herum, bis er dem Gärtnermeister
begegnete. Als der Gärtnermeister den fremden, elend
gekleideten Burschen sah, fuhr er ihn an und sagte: "Bursche, wie
kannst du dich unterstehen, im Parke des Sultans einherzugehen!"
Schatr Mohammed sagte: "Verzeiht, Herr! Aber ich bin bei einem
andern Sultan der Gehilfe des Gärtners gewesen; ich habe da allerhand
gelernt, und deshalb brannte ich darauf, den Garten zu sehen,
der unter deiner Leitung steht, zumal alle großen Kaufleute deine
Kunst, wie ich sehe, mit sehr viel Recht hoch gepriesen haben."
Der Gärtner wurde dadurch geschmeichelt und fragte Schatr
Mohammed: "Bei wem hast du denn in Diensten gestanden?"
Darauf nannte der Bursche den Namen des Gärtners seines Vaters.
Sein Vater hatte aber große Liebe zu seinen Gärten und hatte deshalb
immer Gärtner, deren Namen weit über die Grenzen seines
Reiches hinaus bekannt waren. Als der Gärtnermeister nun dies
vernahm, sagte er: "Mein Bursche! Du kommst allerdings aus
einer guten Schule und es freut mich, wenn du dennoch meinen
Garten schöner findest als den deines bisherigen Herrn." Schatr
Mohammed sagte: "Herr, darüber kann kein Zweifel sein, und Ihr
würdet mich außerordentlich glücklich machen, wenn Ihr mir erlaubtet,
einige Jahre in Eurem Garten zu arbeiten. Ich würde Euch
dankbar sein, wenn ich dies dürfte, und es würde mir völlig genügen,
wenn Ihr mich mit einfacher Speise und Kleidung in den Stand
setztet, meine Kenntnisse in Eurem Dienste zu vervollständigen."
Der Gärtner nahm den Burschen unter so angenehmen Bedingungen
gern auf und zog gleich Nutzen aus ihm, indem er ihn fragte, wie
er diese und jene Pflanze behandle und welche Veränderungen er
nach den Lehren seines frühern Herrn vorschlagen könne. Der
Bursche gab ihm geschickte Antwort, und der Gärtner sagte: "Ich
sehe, daß alle guten Gärtner es gleich machen. Ich habe nämlich
diese Veränderungen für die nächste Zeit vor." Am andern Tage
ging der Gärtner aber zum Sultan und brachte die Vorschläge über
die Veränderungen im Garten vor. Und der Sultan, erfreut über die
glücklichen Gedanken, die sein Gärtner ganz gegen sonstige Erfahrungen
an den Tag legte, erklärte sich damit sehr einverstanden.
Einige Zeit, nachdem Schatr Mohammed in den Dienst des Gärtners
getreten war, wurde vor den Toren der Stadt ein großes Fest
abgehalten, und alle Welt zog hinaus. Der Gärtner übergab dem
Burschen die Aufsicht über den Garten und ritt auch hinweg. Als
Schatr Mohammed aber allein war, gedachte er mit Sehnsucht seines
Houssan, und da er sich heute unbeobachtet glaubte, ging er an
einen kleinen Teich, der hinter dem Gasr des Sultans lag, entkleidete
sich und nahm ein Bad. Nun hatte der Sultan aber sieben Töchter,
und die jüngste derselben, die auch die schönste und klügste war,
saß gerade am Fenster und sah, wie der ärmliche Gärtnerknabe sich
entkleidete. Sie sah, wie schön er war und wie er sich beim Baden
im Wasser zu benehmen wußte, ganz im Gegensatz zu der Art der
niedern Leute. Als Schati Mohammed sich aber gebadet hatte,
nahm er die sieben Haare aus der Mähne seines Hengstes und
rieb sie. Da kam Houssan durch den Garten dahergerannt. Der
Bursche umarmte ihn und begrüßte ihn mit freundlichen Worten.
Er legte die schönen Kleider und Waffen an und ritt nun um den
See herum, und alles das sah die jüngste Tochter des Sultans. Sie
war aber dadurch nicht nur sehr erstaunt, sondern sie gewann den
schönen und merkwürdigen Gärtnerburschen auch sehr lieb.
Nachdem Schatr Mohammed sich eine gute Weile so ergötzt hatte,
stieg er ab, legte Waffen und Kleider ab und nahm von seinem
Houssan Abschied. Der Hengst rannte von dannen, und der Bursche
legte seine ärmliche Kleidung wieder an. So fand ihn auch der
Gärtner, als er wieder heimkehrte. Der Gärtner sah aber auch die
Spuren, die Houssan mit seinen Hufen in die Wege geschlagen hatte,
und er fuhr den Burschen an: "Bursche, wie kannst du es dulden,
daß hier auf den Wegen geritten wird! Wer war das?" Schatr
Mohammed sagte: "Es war ein fremder Reiter, der hereinkam. Ich
bin zu jung und unansehnlich, um ihn hinausweisen zu können."
Der Gärtner aber strafte den Burschen. Alles das sah und hörte die
jüngste Tochter des Sultans, und sie sandte nun täglich für den
Gärtnerburschen eine gute Speise, da sie sich sagte, daß dieser von
früher her eine bessere Kost gewöhnt sei. Der Gärtner nahm die gute
Speise aber immer dem Überbringer ab, verzehrte sie selbst und gab
dem Burschen schlechte Nahrung. Dieses währte aber drei Jahre.
Eines Tages kam die älteste Tochter des Sultans zu ihrem Vater
und sagte: "Mein Vater, vergiß nicht, daß du sieben Töchter hast,
die nun alle alt genug sind um zu heiraten. Der Sultan sah seine
Tochter an und sagte: "Ich sehe, meine Tochter, daß du recht hast!
Ich werde ein Fest veranstalten, an dem alle Männer der Stadt anwesend
sein sollen. Sie werden dann an euch vorüberziehen, und
ihr könnt dem, den ihr zum Gatten erwählt, euer Taschentuch zuwerfen."
Die älteste Tochter dankte ihrem Vater und ging.
Der Sultan versammelte nun seine Leute und gab die Anordnungen
zu dem großen Feste. Es wurde ein Mahl veranstaltet, und
darauf zogen alle Männer an dem Fenster vorüber, an dem die
Töchter des Sultans saßen. Einige ritten auf Pferden, andere auf
Kamelen, andere auf Eseln und einige gingen zu Fuß. Eine der
Töchter des Sultans nach der andern erwählte sich einen angesehenen
Mann, warf ihm ihr Taschentuch zu und erkor ihn so zum
Gatten. Als alle Männer vorübergezogen waren, hatten die ersten
sechs Töchter ihre Wahl getroffen. Die jüngste hielt ihr Taschentuch
noch in der Hand. Der Sultan wandte sich an sie und sagte:
"Was ist es, meine Tochter! Alle Männer sind vorübergekommen;
du hast dir aber keinen Gatten erkoren. Willst du denn nicht
heiraten?" Die jüngste Tochter sagte: "Gewiß, mein Vater, würde
ich gern heiraten, aber ich denke, es sind wohl noch nicht alle Leute
der Stadt vorübergekommen." Der Sultan fragte seine Leute, wie
es sich damit verhielte; die aber sagten: "Es sind alle bis auf den
Gärtner und seinen Burschen hier gewesen." Der Sultan lachte und
sagte: "Dann sollen diese beiden auch vorübergehen!" Der Gärtner
und sein Bursche kamen nun; als sie aber unter dem Fenster der
Töchter des Sultans waren, warf die jüngste Tochter dem Gärtnerburschen
in der ärmlichen Kleidung ihr Taschentuch zu.
Der Sultan sah dies und wurde sehr zornig. Der Sultan sagte:
"Sind nicht genug gute Leute hier gewesen? Willst du mich zum
Narren halten? Glaubst du, daß ich diesem Schwiegersohne einen
Platz neben seinen Schwägern geben werde?" Die jüngste Tochter
sagte: "Du hast jeder von uns die Erlaubnis gegeben, sich einen
Gatten zu wählen. Das habe ich getan. Was du nachher mit uns
tun willst, hast du nicht gesagt." Der Sultan ward noch zorniger
und sagte: "Ist das der beste Mann, den du hast finden können?"
Die Tochter des Sultans sagte: "Ja, es ist so!" Der Sultan veranstaltete
darauf für seine ältesten sechs Töchter ein großes Hochzeitsfest,
die jüngste und ihren Gatten wies er aber aus seinem
Haus und in das Quartier der Sklaven.*
Der Sultan wird infolge der Wahl seiner Tochter krank. Der Arzt verordnet
Gazellenmilch. Die sechs reichen Schwiegersöhne marschieren nach
der Steppe. Der siebente wandert langsam hinterher, reibt, als er allein in
der Wüste ist, die sieben Haare und wünscht sich ein großes fürstliches
Zeltlager mit weiblichen milchenden Gazellen. Es entsteht. Der Jüngling
weilt in diesem Zauberlager, als die sechs Schwäger erfolglos von der Jagd
heimkehren und nimmt sie gastlich auf. Sie erkennen ihn nicht, sehen die
Gazellen und erbitten Gazellenmilch. Sie erhalten das Gewünschte, bringen
es heim, finden aber, daß es keine Wirkung hat. Der Mann der Jüngsten
nimmt gute Gazellenmilch, läßt das Zauberlager verschwinden und kommt
dann in alter Weise als Kümmerling heim. Er sendet die gute Gazellenmilch
durch seine Frau, heut zwar seinen königlichen Schwiegervater, findet aber
dennoch keine Anerkennung und verbleibt demnach zunächst in seinen
traurigen Verhältnissen.
Dieser Teil war wie gesagt nur in einer der zwei Varianten erhalten.
Beide Varianten enthielten aber in gleicher Ausführlichkeit die obige treffliche
Fortsetzung.
Eines Tages kamen fremde Reiter bis nahe zu der Stadt. Die
Leute meldeten es dem Sultan, und als der Späher aussandte, kamen
die mit der Botschaft zurück, daß ein fremder Sultan mit großer
Heeresmacht sich auf die Stadt zu bewege und sie anzugreifen beabsichtige.
Darauf rief der Sultan alle seine waffenfähigen Leute
und seine sechs Schwiegersöhne zusammen. Er teilte die Leute in
sechs Haufen und stellte an die Spitze eines jeden je einen seiner
Schwiegersöhne. An seinen siebenten Schwiegersohn dachte er dabei
nicht, denn niemand dachte daran, daß der ärmliche Gärtnerbursche
die Waffen zu führen verstehe. Als der Sultan seine Macht
so bereitgestellt hatte, ließ er sie vor der Stadt aufstellen und dann
dem Feinde entgegenziehen.
Als das Heer mit den sechs Schwiegersöhnen an der Spitze nach
der einen Seite die Stadt verlassen hatte, nahm der Gärtnerbursche
von seiner Frau Abschied und sagte: "Ich will sehen, was es draußen
gibt." Die junge Frau lachte und sagte: "Gehe du nur, wohin du
willst; die andern haben dich vergessen." Schatr Mohammed ging
nun auf der andern Seite zum Tore hinaus, und als die Weiber und
alten Männer das sahen, spotteten sie und schrien: "Gehe dort nur
grade aus, dann wirst du schon zu den Feinden kommen!" Schatr
Mohammed ging unbekümmert zum Tore und dann ein Stück in
die Wüste hinaus. Als er nun sah, daß er unbeobachtet war, zog
er die sieben Haare seines Pferdes heraus und sagte: "Mein Houssan!
Nun komm! Nun wollen wir reiten!" Houssan kam. Houssan rieb
seinen Kopf an Schatr Mohammeds Brust. Houssan scharrte mit
den Füßen. Schatr Mohammed warf aber die alten Lumpen in den
Wind, kleidete sich in seine guten Gewänder, warf den Kettenpanzer
über, ergriff die Waffen, sprang in den Sattel, und dann jagte
Houssan in langen Sätzen um die Stadt dem Kampfplatz zu.
Inzwischen war das Heer unter der Leitung der sechs Schwiegersöhne
nahe an die Kriegsmacht des fremden Sultans herangekommen,
und der fremde Sultan hatte seine Reiter aufgerufen und war
an ihrer Spitze den sechs Haufen entgegengeritten. Der fremde
Sultan wußte nun seine Leute so mit Kampfesfreudigkeit zu erfüllen,
daß die sechs Haufen den Anprall nur sehr schwer aushielten
und sich nur mit Mühe auf dem Platze halten konnten. Ja, die
Sache stand schon recht schlecht, und die sechs Schwiegersöhne
hatten sich schon vorsichtig in eine hintere Reihe gedrückt, als von
der Seite Schatr Mohammed auf Houssan heranstürmte und die erstaunten
Feinde mit seinen Waffen zurückdrängte. Schatr Mohammed
war bald mitten unter den Reitern und wußte mit Geschick den
feindlichen Sultan zum Sturze zu bringen, indem er dessen Pferd
die Kniekehlen durchschnitt. Dadurch entstand ein allgemeines
Gedränge auf einen Punkt. Die feindlichen Reiterscharen drängten
alle um den Platz, auf dem ihr Herr zu Sturz gekommen war und
verloren so die Wucht des Angriffs. Schatr Mohammed aber brachte
die zurückgedrängten Leute seines Schwiegervaters wieder nach
vorn, und da nun die feindliche Macht, in ihrer Mitte den gestürzten
Sultan schützend, sich geschlossen zurückzog, verfolgte er sie noch
eine Zeitlang und umschwärmte sie mit den Reitern seines Schwiegervaters,
bis die Dunkelheit einbrach.
Als es dunkel wurde, ritt Schatr Mohammed unbemerkt von
dannen. Er ritt dahin, wo er vordem seine Kleider weggeworfen
hatte, stieg von dem Pferd, verabschiedete sich von ihm und ging
auf demselben Wege, auf dem er gekommen war, in die Stadt
zurück. Als er durch die Stadt kam, riefen die alten Männer und
Weiber: "Da kommt noch einer von unsern siegreichen Fans."
Schatr Mohammed kümmerte sich aber nicht um den Spott, sondern
ging zu seiner jungen Frau und sagte: "Hier bin ich wieder! Was
gibt es Neues?" Seine junge Frau sagte: "Die Männer meiner sechs
Schwestern haben die Reiter zurückgebracht. Die Reiter meines
Vaters haben erst fast die Schlacht verloren, dann aber ist es einem
Fans gelungen, den fremden Sultan zum Sturz zu bringen. Der
Fans hat die Feinde zurückgedrängt. Nun streiten sich aber alle
Leute, welcher der sechs Schwiegersöhne meines Vaters der Fans
sei. Die sechs Schwiegersöhne meines Vaters streiten sich untereinander
und jeder sagt: "Ich habe den Sieg herbeigeführt!" Schatr
Mohammed sagte: "Welcher von den Schwiegersöhnen glaubst du
denn, daß es gewesen sei ?" Die junge Frau sagte: "Das ist nicht
meine Sache. Ich denke, mein Vater wird es schon finden; denn
morgen wird der Sultan selbst mit in die Schlacht reiten!"
Am andern Tag führte der Sultan alle seine Reiter vor das Dorf.
Er teilte sie wieder in sechs Haufen und stellte einen jeden unter
den Befehl eines seiner Schwiegersöhne. Er sagte dann: "Meine
Schwiegersöhne und ihr andern alle! Heute werdet ihr wieder gegen
den feindlichen Sultan reiten müssen, denn er rückt, wie ich höre,
wieder gegen unsere Stadt heran. Nun will ich mich aber selbst
überzeugen, wer von allen der größte Krieger und somit nach
meinem Tode der würdigste als Nachfolger in meiner Stadt ist. Ich
werde also hinter euch herreiten und aus der Entfernung mit ansehen,
wie alles verläuft. Nun reitet voran!" Danach setzte sich
das Heer in Bewegung, und der Sultan folgte mit einigen andern
alten Leuten in einiger Entfernung. Bald wurden denn auch die
sechs Schwiegersöhne, die an der Spitze ihrer Haufen in einer Reihe
ritten, der Heeresmacht des fremden Sultans ansichtig, die heute
noch stattlicher und kriegsmutiger war als am Tage zuvor. Denn
nachdem der Sultan sich von seinem Sturz erholt hatte, ward er
von einem großen Zorn über sein Unglück ergriffen und hatte die
Seinen mit erhöhter Wärme durch feurige Reden zur Tapferkeit
ermahnt.
Als das feindliche Heer mit seinem Sultan an der Spitze die Heerhaufen
aus der Stadt sah, riefen die Leute einander aufmunternde
Worte zu. Der Sultan aber rief: "Heute, meine Freunde, können
wir gleich die ganze Sache auf einmal erledigen, denn ich sehe, daß
der alte Sultan der Stadt selbst hinter seinen Leuten herreitet. Seht
also, daß ihr den alten Sultan gefangen nehmt!" Der Sultan setzte
dann sein Pferd in Galopp und gab damit das Beispiel zu einem
scharfen allgemeinen Angriff, der hart gegen die sechs Haufen des
Stadtheeres anprallte. Der Sultan hatte seine Leute nicht umsonst
auf die wertvolle Beute aufmerksam gemacht. Von allen Seiten
suchten sie durch und um die sechs Heerhaufen zu reiten, um den
Stadtsultan zu erreichen. Die sechs Schwiegersöhne waren sogleich
beim ersten Zusammenstoßen zurückgedrängt.
Die feindlichen Reiter drangen mit ihrem Sultan an der Spitze
immer weiter und weiter vor, und vergebens und ängstlich suchte
der Stadtsultan unter seinen Leuten nach dem Fans, der heute wie
gestern durch seine Gewalt die Sache retten würde. Der Fans kam
nicht, und nach kurzer Zeit war es dem feindlichen Sultan und
einigen seiner tapfersten Leuten gelungen, so nahe zu dem Stadtsultan
heranzudringen, daß seine Gefangenschaft nahe bevorstand.
Schatr Mohammed hatte, nachdem das Heer unter seinen sechs
Schwägern mit dem Sultan von dannen geritten war, von seiner
jungen Frau Abschied genommen und war zur andern Seite der
Stadt von dannen gegangen. Die Weiber und alten Männer riefen
ihm Schimpfworte nach; aber Schatr Mohammed ging unbekümmert
seinen alten Weg. Wie am Tage vorher rieb der Jüngling dann
in der Wüste die sieben Haare, begrüßte den herankommenden
Hengst, kleidete und wappnete sich und ritt zum Schlachtfelde.
Schatr Mohammed kam gerade an, als der fremde Sultan mit einigen
seiner besten Streiter drauf und dran war, auf den Stadtsultan zuzustürmen
und ihn, der nur von wenigen alten Leuten umgeben war,
gefangen zu nehmen. Zwar hatte der Stadtsultan in Erinnerung an
seine Jugendtaten das Schwert gezogen und hochgehoben, aber er
wäre sicher im Kampfe verloren gewesen, wenn Schatr Mohammed
nicht mit einem Schwertstreich das Schwert des feindlichen Sultans
zurückgeschlagen und mit einem zweiten ihm durch den Lederkragen
des Panzerhemdes die Halsader durchgeschlagen hätte, so
daß er tot zu Boden sank. Nun fielen zwar die Begleiter des fremden
Sultans in Übermacht über Schatr Mohammed her. Er wußte sie
aber in geschickter Weise alle kampfunfähig zu machen, ohne daß
er selbst mehr als eine Armwunde davongetragen hätte.
Als der Sultan den Arm seines Befreiers stark bluten sah, beeilte
er sich, sein eigenes Taschentuch herauszureißen und ihn zu verbinden.
Er konnte aber den Fans, der so plötzlich unter den Seinen
aufgetaucht war, nicht erkennen; er war zu schnell wieder im
Kampfgewühl verschwunden.
Schatr Mohammed jagte zwischen die Kämpfer. Schatr Mohammed
schrie: "Ich habe den fremden Sultan erschlagen!" Seine
mächtigen Schwertstreiche und sein Ruf, die Sätze seines Houssan
und die Kraft bahnten ihm überall einen Weg. Er schlug alle seine
sechs Schwäger, von denen ein jeder schon von Feinden umringt
war, heraus und zwang den Feind schnell zur Flucht. Die Reiter
des Stadtsultans verfolgten die feindlichen Krieger bis zum Lager,
töteten viele, machten viele zu Gefangenen und gewannen im Lager
eine mächtige Beute. Sie wollten die Beute schon unter sich teilen;
da kam auch der Stadtsultan herangeritten und sagte: "Alles, was
heute erbeutet wird, kann nur einem gehören, nämlich dem Fans,
der mich und den Sieg gerettet hat. Wer ist das?" Darauf schrie
ein jeder der sechs Schwiegersöhne: "Ich war es! Ich war es!" Der
Sultan aber lächelte und sagte: "Es waren nicht sechs Helden,
sondern es war nur einer. Wer dieser eine ist, können wir morgen
sehen. Heute bringt alles in die Stadt. Ich werde morgen den berechtigten
Besitzer der Beute ausfindig machen."
Das ganze Heer kehrte zur Stadt zurück, und jeder der sechs
Schwiegersöhne sagte daheim zu seiner Frau: "Ich war heute wieder
der Fans!" Jede der sechs Frauen ging zu der gemeinsamen Mutter
und sagte: "Mein Mann war der Fans." Die Mutter sagte zu ihrem
Gatten, dem Sultan: "Jeder unserer sechs Schwiegersöhne will der
Fans gewesen sein." Der Sultan aber sagte: "Es ist sehr einfach.
Der Fans, der mir das Leben, der den Sieg und uns allen den Besitz
erhalten hat, hat eine schwere Wunde am Arm erhalten. Die habe
ich mit meinem eigenen Taschentuch verbunden. Sage also deinen
Töchtern, daß die, die mir dies Tuch bringen kann, den Fans zum
Gatten hat." Die Mutter ging nun zu ihren sechs Töchtern und sah
selbst zu, ob einer ihrer sechs Schwiegersöhne eine Wunde und das
Taschentuch des Gatten am Arme habe. Sie kam zurück und sagte:
"Keiner deiner sechs Schwiegersöhne war der Fans."
Lange nachdem der Kampf zu Ende war, kam Schatr Mohammed
durch dasselbe Tor, durch das er weggegangen war, in seiner
schlechten Kleidung zurück. Er begrüßte seine Frau, ging dann
aber gleich auf sein schlechtes Lager und warf sich hin, denn er
war müde. Er schlief sogleich ein. Schatr Mohammeds junge Frau
hatte nun aber schon lange den Gesang und die Jubelschreie der
andern aus der Schlacht Gekommenen gehört. Sie war traurig, daß
ihr Mann und sie so ganz einsam und von den andern verlassen
lebten. Sie ging in die Kammer, in der Schatr Mohammed lag,
setzte sich auf das Angareb und weinte. Schatr Mohammed schlief
so fest, daß er das leise Weinen seiner Frau nicht hörte. Nun schien
an diesem Tage der Mond zum ersten Male wieder hell, und sein
Licht fiel in die Kammer und auf Schatr Mohammeds Angareb. Als
die junge Frau sich nun ein wenig beruhigt hatte und aufsah und
als ihr Blick auf ihren Mann fiel, sah sie, daß von Schatr Mohammeds
Arm ein dunkler Tropfen nach dem andern fiel und daß auf
dem Boden eine Blutlache entstand. Da erschrak die junge Frau,
und in ihrer Angst lief sie in das Haus ihrer Mutter, das sie seit
ihrer Verheiratung nicht wieder betreten hatte. Sie fiel vor ihrer
Mutter nieder und weinte und schrie: "Mutter hilf! Schatr Mohammed,
mein Mann, verblutet!"
Die Mutter erhob sich schnell. Sie sagte nichts. Sie ging eilends
ihrer Tochter voran über den Hof in den Teil, in dem die Sklaven
untergebracht waren. Die Mutter trat in den Raum. Die Mutter
sah, wie elend und zerfallen der Raum war. Die Mutter sah Schatr
Mohammed, der im Schlafe lag. Die Mutter sah das Blut herabtropfen;
sie schlug Schatr Mohammeds Kleid zurück und sah, daß
um seinen Arm das Taschentuch des Sultans gebunden war. Die
Mutter gab ihrer Tochter eine Salbe und sagte leise: "Dies, meine
Tochter, ist eine Salbe, welche du auf die Wunde streichen mußt.
Dann wird sie bald heilen. Der Mann aber, mein Kind, den du geheilt
hast, ist der Fans, der deinen Vater und uns alle gerettet hat."
Die Mutter band darauf vorsichtig das Tuch ab, das um Schatr
Mohammeds Arm gebunden war und nahm es mit sich fort. Sie
ging zum Sultan.
Der Sultan empfing von seiner Gemahlin das blutige Taschentuch.
Der Sultan betrachtete es und sagte: "Jawohl, dieses ist es.
Nenne ihn mir!" Die Gemahlin des Sultans sagte: "Es ist der
Siebente! Es ist Schatr Mohammed, der Gärtnerbursche!" Der
Sultan sagte: "Wo wohnt er ?" Seine Gemahlin sagte: "Er wohnt
mit deiner Tochter im Quartier der Sklaven." Der Sultan sagte:
"Meine Gattin, es ist besser, daß einer aus der Erdtiefe zur Sonne
aufsteigt, als daß er vom Himmel zur Erde falle. Ist Schatr Mohammeds
Wunde gefährlich ?" Seine Gattin sagte: "Es ist eine
starke Wunde, aber ich habe deiner Tochter die Wundsalbe gegeben."
Als Schatr Mohammed am andern Morgen erwachte, standen
Boten des Sultans da, die sagten: "Der Sultan möchte Schatr Mohammed
sprechen." Schatr Mohammed besah seinen Arm. Er sah,
daß das Taschentuch abgenommen war. Schatr Mohammed fragte
seine Frau: "Wer nahm das ab?" Seine Frau sagte: "Meine Mutter
kam in der vorigen Nacht, als du schliefst. Sie nahm es ab, um es
dem Sultan zu bringen." Schatr Mohammed sagte zu den Boten des
Sultans: "Dann sagt dem Sultan, daß ich sogleich kommen würde."
Die Boten gingen. Schatr Mohammed nahm aber die sieben Haare
seines Hengstes hervor; er rieb sie zwischen den Händen. Houssan
kam. Schatr Mohammed begrüßte den Hengst, und Houssan rieb
seinen Kopf an Schatr Mohammeds Brust. Schatr Mohammed
sagte: "Mein Freund, die Zeit unseres Elends ist vorüber." Dann
kleidete sich Schatr Mohammed in die prächtigen Gewänder und
legte die Waffen an. Er nahm seine junge Frau vor sich auf das
Pferd und ritt mit ihr fort. Seine junge Frau aber sagte: "So habe
ich dich einmal am Teiche hinter dem Gasr gesehen."
Schatr Mohammed ritt zum Gasr des Sultans. Der Sultan kam
ihm an der Spitze seiner alten angesehenen Leute entgegen und
sagte: "Mein Sohn, ich danke dir für alles, was du für uns getan
hast. Komm mit deiner Gattin zu mir und sage mir, wer du bist!"
Schatr Mohammed setzte seine Gattin zu Boden und ging mit ihr
und dem Sultan in das Prunkzimmer des Serails. Schatr Mohammed
setzte sich neben den Sultan und sagte: "Dieser Platz kommt
mir zu, denn ich bin der Sohn eines Sultans." Danach erzählte er
alles, wie es sich ereignet hatte. Der Sultan, der sich alt fühlte,
setzte Schatr Mohammed jetzt zu seinen Lebzeiten schon als seinen
Nachfolger ein. Der Gärtner aber, der den armen Jüngling seinerzeit
so hart bestraft und ihm die Speise der Sultanstochter nicht
hatte zukommen lassen, ward geschlagen.
16. Der Faris*
Ein wohlhabender Mann hatte einen Sohn, der war ein Fans,
der bekannt war wegen seiner großen Stärke. Der Vater sagte
zu ihm, als er ihn für alt genug hielt: "Mein Sohn, es ist Zeit, daß
du heiratest. Sieh dich nach einer Gattin um." Der Fans sah sich
nun nach allen Mädchen in der Gegend um. Er konnte aber lange
Zeit keins finden, das ihm zusagte. Eines Tages nun ritt er in die
Wüste. Er kam in eine ferne Gegend und sah da Zelte aufgestellt.
Die Leute hatten eine Trommel, trommelten und tanzten. Unter
den Tanzenden war ein Mädchen, das schien dem Fans schöner als
irgendeins, das er je zuvor gesehen hatte, und er liebte es sogleich
sehr.
Der Fans sprach mit dem Mädchen und fragte es, wo es daheim
sei. Das Mädchen sagte: "Mein Vater und wir alle ziehen immer
umher. Bald sind wir hier, bald da. Wir sind nie lange an einem
Ort und ziehen schon in Frage, wenn wir irgendwo angelangt sind,
wo wir am andern Tag hinreisen wollen." Der Fans sprach lange
mit dem Mädchen. Ehe er wegritt, sagte das Mädchen zu ihm:
"Man kann, wenn eine von uns es will, unsere Spur immer finden."
Der Fans nahm Abschied und ritt nach Hause.
Der Fans blieb einige Tage daheim. Dann sagte er zu sich:
"Mein Vater hat mir gesagt, ich solle mir eine Frau suchen. Dieses
Mädchen werde ich aufsuchen und heiraten, denn es gefällt mir.
Das Mädchen hat mir gesagt, wenn eine von ihnen es wolle, könne
man ihre Spur immer finden. Wenn das Mädchen mich nun ebenso
liebt wie ich sie, dann werde ich es finden."
Am andern Morgen sattelte der Fans sein Pferd, band noch
einigen Mundvorrat und einen Beutel mit Wasser auf und ritt von
dannen, der Stelle zu, an der er das Mädchen zuerst zwischen den
Zelten beim Tanzen gesehen hatte.
Als der Fans an die Stelle kam, wo noch vor einigen Tagen die
Zelte gestanden und die Leute getrommelt und getanzt hatten, fand
er nur noch einen kahlen Baumast, an dem hing aber ein Leder.
sack (Ssaen) mit Wasser und ein geröstetes Brot (Gurassa). Er
nahm den Ledersack und das Brot, genoß von der unerwarteten
Speisung und sah sich dann nach der Spur um. Es dauerte nicht
lange, so hatte er den Weg gefunden, auf dem die Leute weggezogen
waren, und als er diesem dann einen Tag lang gefolgt war, sah er
an einem vertrockneten Ast, der aus einem alten Lagerplatz aufragte,
wiederum einen Ledersack mit Wasser und ein geröstetes
Brot hängen. Er fand so wieder seine Speisung, und als er am
dritten Tage die Spur der Weitergezogenen verfolgte, fand er am
Abend auf einem alten Lagerplatz an einem dürren Ast wieder den
Ledersack mit Wasser und ein geröstetes Brot. So ging es zwanzig
Tage lang, und am Abend eines jeden Tages war er wieder am
Lagerplatz der Fremden angelangt und fand für seine Nahrung
gesorgt.
Am Abend des zwanzigsten Tages nun mußte er ganz nahe der
Karawane sein, denn das Brot, das er am Baume fand, war noch
warm. So beschloß er denn, in der Nacht noch weiterzureisen. Er
brach auf. In der Dunkelheit verlor er aber den Weg. Der Fans
ritt nun irrend und suchend in der Wüste umher und kam zuletzt
zu einem hohen Gasr. Er ritt hinein, band sein Pferd an und ging
in das Haus. In dem Hause fand er im ersten Raume sieben junge
Männer, die lagen auf Angarebs und schliefen. Der Fans ging an
ihnen vorüber und kam in ein zweites Gemach. Da stand nur ein
Angareb, und auf dessen einer Seite lag ein junges, schönes Mädchen.
Der Fans sah, daß auf der andern Seite des Angarebs noch
Platz war. Er streckte sich also neben dem Mädchen aus. Zwischen
das Mädchen und sich aber legte er sein Schwert. Der Fans war so
müde, daß er auch sogleich einschlief. Das Mädchen war jedoch
erwacht, als der Fans sein Schwert zwischen sie und sich gelegt
hatte. Als es merkte, daß der Mann schlief, stand es vorsichtig
auf und ging zu den jungen Männern. Es weckte diese und sagte:
"Hört, meine Brüder! Wacht auf! Ihr schlaft hier und nebenan
ist ein fremder Mann angekommen, der hat sich zu mir auf das
Angareb, zwischen sich und mich aber ein Schwert gelegt. Kommt
und seht ihn! Es scheint ein schöner Mann zu sein!" Die sieben
Brüder erschraken hierüber und traten in das Gemach ihrer
Schwester. Da sahen sie nun den fremden Fans liegen und sie
sagten: "Schwester, lege dich nieder und schlafe weiter! Dieser
Fremde hat, wie es scheint, nichts Böses im Sinne. Wir werden
nebenan abwechselnd Wache halten, und wenn er dir etwas tun
will, dann schreie nur und rufe uns damit!" Das Mädchen legte
sich darauf auf ihre Bettseite und schlief auch bald ein. Die Brüder
wachten aber nebenan abwechselnd.
Als der Fans am andern Morgen erwachte, begrüßten ihn die
Brüder. Sie boten ihm Kaffee und wünschten ihm einen angenehmen
Tag. Der Fans sagte: "Ich danke euch sehr dafür, daß ihr
mich so freundlich begrüßt. Ich reise seit zwanzig Tagen hinter
Leuten her, die täglich das Lager wechseln und unter denen sich
ein schönes Mädchen befindet, das ich heiraten möchte. Letzte
Nacht nun habe ich ihre Spur verloren und bin so in euer Gasr gekommen.
Müde, wie ich war, habe ich mich dann auf die leere Seite
eines Angarebs gelegt und bin sogleich eingeschlafen."
Der älteste Bruder sagte: "Es ist uns eine Freude, daß wir dich
beherbergen können. Und eine Freude ist uns in diesem Leben wohl
zu gönnen, da wir sonst Leid genug haben. Wir bitten dich also,
einige Tage lang unser Gast zu sein und sind gern bereit, dir später
den Weg zu dem Lager der Wandernden, das nicht weit von hier
ist, zu zeigen." Der Fans sagte: "Wenn ihr mich in dieser freundlichen
Weise aufnehmt und mir auch noch weiter helfen wollt, dann
darf ich euch wohl bitten, mir zu sagen, was euch bedrängt, und
ob ich euch nicht in eurer Bedrängnis helfen kann." Der älteste
Bruder sagte: "Ich will dir gern erzählen, was uns so schwer beunruhigt.
In der Gegend hier wohnt ein starker Mann mit seinen
Freunden. Der Mann will unsere Schwester zur Frau haben. Da
er aber ein sehr schlechter Mann ist, haben wir seine Bitten zurückgewiesen,
und nun kommt er alle zwei Tage und kämpft mit uns.
Er ist gestern wieder hier gewesen, was uns so ermüdet hat, daß
wir dein Kommen nicht bemerkt haben. Er wird nun zwei Tage
wegbleiben. Diese zwei Tage des Friedens bitten wir dich bei uns
zu bleiben. Nachher wollen wir dann noch einmal kämpfen. Da
wir aber schon sehr ermüdet sind, erwarten wir, daß wir das
nächste Mal im Kampfe unterliegen und somit sterben werden. Die
letzten Tage des Lebens möchten wir nun noch in Freuden mit dir
genießen!"
Der Fans sagte: "Meine lieben Freunde! Ich habe diese Nacht
so herrlich geschlafen, daß ich heute morgen meiner Gewohnheit
nach einen Ritt unternehmen möchte. Erlaubt mir also, daß ich ein
wenig mein Pferd bewege und habt die Güte, mir zu zeigen, in
welcher Richtung die feindlichen Männer wohnen, damit ich diese
vermeide." Die sieben Brüder zeigten nun dem Fans, in welcher
Richtung die feindlichen Männer wohnten. Der Fans ritt in der
entgegengesetzten Seite von dannen, machte aber, als er aus der
Sehweite des Gasr war, einen Bogen und ritt gegen die fremden
feindlichen Leute.
Die Leute sahen kaum aus der Ferne den Fans kommen, da riefen
sie: "Laßt uns schnell auf die Pferde steigen und herausreiten. Es
kommt ein Fremder des Weges, dem wollen wir Pferd und Waffen
abnehmen." Die Leute nahmen also ihre Waffen zur Hand und
ritten dem Fans entgegen. Sie umzingelten ihn und dachten nicht
anders als, da sie so sehr in der Überzahl waren, würden sie den
Fremden schnell und leicht überwinden. Der Fans wartete aber,
bis sie nahe herangekommen waren und sich ein wenig gehäuft
hatten. Dann zog er sein Schwert und sprengte auf sie zu. Nun
erkannten die feindlichen Männer ihren Irrtum, denn rechts und
links fiel sogleich einer der Tapfersten tot zu Boden, und der Fans
räumte so schnell unter ihnen auf, daß sie unter Verlust mehrerer
ihrer Besten und gezeichnet mit klaffenden Wunden, schneller noch
als sie gekommen waren, zurückjagten. Der Fans verfolgte sie noch
ein Stück weit und brachte dem einen und andern noch ein weniger
ehrenhaftes Zeichen auf dem Rücken bei. Dann wandte er sein
Pferd und ritt im Bogen, wie er gekommen war, wieder auf das
Gasr der Brüder zu.
Die sieben Brüder begrüßten ihn aufs herzlichste und fragten ihn,
ob er irgendein Erlebnis gehabt habe, da seine Kleider hier und da
mit Blut bespritzt waren. Er sagte aber, er habe allerdings einen
Büffel verfolgt und angeschossen, aber leider sei es ihm nicht gelungen
ihn zu töten. Den Rest des Tages verbrachte er mit den
Brüdern im angenehmen Zwiegespräch, und als es Nacht wurde,
fand er sein Lager auf der einen Seite des Angarebs der schönen
Schwester bereitet. Als er sich nun niederlegte, nahm das schöne
Mädchen ihm das Schwert aus der Hand und stellte es so an die
Wand, daß er es sogleich ergreifen konnte, daß es aber den Fans
nicht von ihr trennte. Also verbrachten sie die Nacht gemeinsam.
Am andern Morgen rüstete der Fans sein Pferd und prüfte eingehend,
ob auch der Sattel fest sitze. Dann bestieg er es, nahm von
den Brüdern für einige Stunden Abschied und ritt, genau wie am
Tage vorher, im weiten Bogen von dem Gasr weg zu dem Gasr der
feindlichen Leute.
Als am vorhergehenden Tage die Wegfriedensstörer von dem Fans
mit schlimmen Verlusten zurückgeschlagen waren und ihr Gasr erreicht
hatten, hatte der Herr des Gasr sie mit schimpflichen Reden
empfangen und hatte ihnen grobe Worte darüber gesagt, daß sie sich
von einem einzelnen Reiter hätten in die Flucht schlagen lassen.
Die geschlagenen Leute hatten dem Herrn des Gasr gesagt, daß der
fremde Fans ein gewaltiger Mann von besonderer Art oder ein
Aldjann sein müsse, und daß kein Mensch gegen ihn kämpfen
könne; ihr Herr hatte sie aber ausgelacht. Dieser Herr war nun
derselbe, der mit den sieben Brüdern immer wieder ihrer Schwester
wegen kämpfte und der als außergewöhnlich starker Mann hoffte,
das schöne Mädchen bald in seinen Besitz zu bekommen.
Er rüstete gerade einen andern Angriff auf die sieben Brüder für
den andern Tag, als ein Mann zu ihm gelaufen kam und ihm mitteilte,
daß der fremde Fans wieder auf dem gleichen Wege wie
gestern einhergeritten komme. Als der Herr des Gasr das hörte,
rief er nach seinem eigenen Pferde; denn heute wollte er an der
Spitze seiner Leute selbst zeigen, wie man auch stärkere Männer
niederwürfe. Als der Fans also näher zu dem Gasr kam, sah er sich
einer größern Anzahl von Reitern und vor allem dem Herrn des
Gasr gegenüber. Der Fans setzte sich fest in den Sattel und zog sein
Schwert beizeiten. Nun war der Herr des Gasr daran, den gleichen
Irrtum zu begehen, dem seine Leute am Tage vorher zum Opfer
gefallen waren. Mit dem ersten Schlage versetzte der Fans ihm eine
tiefe Wunde, und obgleich die andern auch auf den einzelnen Mann
einstürmten, lagen doch der Herr des Gasr und mehrere seiner bewunderungswürdigsten
Kämpfer tot am Boden. Der Fans begnügte
sich aber heute nicht damit, den Rest der Angreifer vor sich herzutreiben,
sondern er drang hinter ihnen in das Gasr und zwang sie,
sich ihm als Sklaven auszuliefern und ihm alle Türen des an Schätzen
reichen Gasr zu öffnen.
Der Herr des Gasr war einer der größten Harami (Räuber) der
Gegend gewesen, dem keine Karawane hatte widerstehen können
und dem auch alle näherliegenden Schlösser (Gasr) nach und nach
zum Opfer gefallen waren. Es waren somit in dem Hause, das der
Fans jetzt untersuchte, vielerlei Schätze aufgespeichert, und der
Fans mußte viele Esel, einen nach dem andern beladen, bis er all das
Gut ausgeräumt und zur Fortschaffung bereitgestellt hatte. Dann
ließ er die Tiere von den neugewonnenen Sklaven antreiben und
zog also auf das Gasr der sieben Brüder zu.
Als die sieben Brüder aus der Richtung des feindlichen Schloßherrn
Tiere und Menschen in einer Staubwolke auftauchen sahen,
meinten sie zunächst nichts anderes, als jener komme abermals, um
sie mit aller Macht, wahrscheinlich zum letzten Male, anzugreifen.
So warfen sie sich denn auf ihre Pferde, ergriffen die Lanzen und
nahmen von ihrer Schwester Abschied. Sie ritten den fremden
Reitern entgegen. Wie erstaunten sie aber, als sie bei größerer Nähe
den Zug beladener Esel und treibender Sklaven, ganz am Ende aber
den Fans herankommen sahen. Nun hatte der eine oder andere der
Brüder schon manchesmal mit einem oder andern Manne des feindlichen
Schloßherrn gekämpft. Sie erkannten daher gar bald in den
Eseltreibern ihre alten Gegner und wußten somit, daß der Fans den
feindlichen Schloßherrn getötet haben mußte.
Die Beute ward nun in den Hof des Gasr getrieben, und der Fans
übergab sie da den sieben Brüdern. Die Brüder waren durch die
Vernichtung des gefürchteten Gegners schon sehr beglückt. Als der
Fans ihnen nun auch noch diese wertvolle Beute als Dank für die
genossene Gastfreundschaft schenkte, und sie somit unerwartet statt
eines nahen Endes einen großen Besitz vor sich sahen, baten sie den
Fans, er möchte doch noch lange bei ihnen bleiben. Der Fans
dankte den Brüdern für ihre freundliche Gesinnung, und heute zog
er sich früher als am Tage vorher auf das Angareb der schönen
Schwester zurück. Zwar schlossen die Brüder die Türe zu seinem
Gemache und zogen sich, nunmehr der Pflicht aufmerksamer Wachsamkeit
enthoben, in den Hof zurück, um noch einige Stunden über
die glückliche Wendung ihres Schicksals zu plaudern, aber der Fans
kam in dieser Nacht wenig zum Schlafen.
Als der Fans in das Gemach trat und die sieben Brüder die Türe
hinter ihm geschlossen hatten, trat die schöne Schwester auf ihn
zu. Sie nahm ihm das Schwert ab und sagte: "Die Waffe, mein
Herr, brauchst du nun nicht mehr, denn dieses ist ein Raum des
Friedens, und gegen alle Störungen werden meine Brüder draußen
Wache halten." Das Mädchen nahm das Schwert und legte es auf
einen Kursi (Sessel), der am Fußende des Angarebs stand. Danach
schob sie dem Fans eine Schale mit Wasser hin, begann ihm die
Kleider abzunehmen und ihm den Staub vom Körper zu waschen.
Endlich nahm sie duftendes Öl und rieb ihn ein, bat ihn dann, sich
auf dem Angareb, auf dem helle Stoffe ausgebreitet waren, auszustrecken,
und kniete auf der Erde vor ihm nieder. Sie ergriff
die Hand des Fans, küßte sie und sprach: "Ich danke dir, daß du
mich und meine Brüder vor diesem schrecklichen Manne errettet
und mir statt des Lebens einer Sklavin die Freiheit und einen
edlen Freund gegeben hast." Der Fans sagte: "Mein Mädchen, knie
nicht vor mir, sondern komm zu mir herauf und teile mein Lager,
wie ich es in der ersten Nacht neben dir eingenommen habe." Das
Mädchen sagte: "Ich komme. Aber das Schwert liegt nicht mehr
zwischen uns!"
Darauf legte sich das Mädchen neben den Fans. Sie schmiegte
sich an ihn, und wenn sie nun auch nicht mehr vor ihm kniete, so
dankte sie ihm doch in sicher nicht minder inniger Weise, und der
glückliche Fans gab sich in dieser Nacht der Freude über diese
Dankbarkeit gern noch häufig hin. So verbrachten die beiden in
dankbarer Glückseligkeit die Nacht, ohne zu schlafen.
Am andern Morgen sattelte der Fans sein Pferd, nicht um einen
Spazierritt zu unternehmen, sondern um den Weg wieder zu
suchen, den die Leute genommen hatten, unter denen das von ihm
zur Gattin erkorene Mädchen sich befand. Er nahm also von den
Brüdern Abschied. Die sieben Brüder waren sehr betrübt über diese
Entschlossenheit, denn sie hatten gehofft, daß der Fans doch noch
einige Zeit bei ihnen bleiben würde. Der Fans sagte aber: "Meine
Freunde, nur der erscheint mir mit Recht als ein Mann bezeichnet
zu werden, der einen einmal gefaßten Entschluß zu Ende führt. Das
Mädchen nun, von dem ich euch erzählt habe, hat mir überall, wo
ihre Leute lagerten, deutlich wahrnehmbare Zeichen zurückgelassen,
woraus ich ersehe, daß ich durch unser Gespräch Hoffnungen
in ihr erweckt habe, die ich nun erfüllen muß. Es darf mich
darin fürs erste keine neuerwachte Liebe und Freundschaft davon
abhalten, diese Hoffnungen zu erfüllen, wenn ich die Achtung vor
meinen eigenen Handlungen vor mir selbst aufrechterhalten will.
Darum will ich erst dieses Mädchen zu gewinnen suchen. Gelingt
mir das, dann wird mich die Freundschaft, die ich zu euch und eurer
Schwester gefaßt habe, dazu treiben, wenn es euch sonst recht ist,
euch auf dem Rückwege in meine Heimat aufzusuchen." Der älteste
Bruder sagte: "Wir sehen, daß dein Entschluß fest gefaßt ist und
müssen es achten, daß du deinen Vorsatz unentwegt verfolgst.
Wir werden dir deshalb auch gern sagen, wo du die Leute finden
wirst, unter denen das Mädchen weilt. Wenn du es aber gewonnen
hast, bitten wir dich, wieder hier vorbeizukommen und eine Gabe
mit in die Heimat zu nehmen, die dir hoffentlich ebenso wert ist
wie uns, und von der wir uns nur, um dir eine Freude bereiten zu
können, trennen werden!" Der Fans sagte: "Ich sehe zu meiner
Freude, daß unsere Empfindungen und Hoffnungen die gleichen
sind, und daher bitte ich euch, mir meinen Weg zu zeigen, damit
ich um so schneller in den mir lieb gewordenen Raum zurückkehren
kann." Darauf zeigten die sieben Brüder dem Fans die Gegend und
den Weg. Er nahm Abschied und ritt schnell von dannen, ohne eine
Ermüdung zu spüren, trotzdem er die Nacht schlaflos verbracht hatte.
Nach wenigen Stunden kam er denn auch in eine wohlgepflegte
Gegend, und ehe es noch Nacht war, sah er durch die Büsche Zelte
und hörte Menschen. Der Fans stieg also von seinem Pferd, band
es an und blickte durch eine Lücke in den Zweigen. Da sah er denn
die gleichen Leute, denen er solange gefolgt war, und in ihrer Mitte
das Mädchen mit ihrem Vater stehen. Der Vater sagte aber zu den
um ihn versammelten Männern: "Ihr alle, meine jungen Freunde,
begehrt von mir diese meine Tochter zum Weibe. Nun kann ich sie
aber nur einem zur Frau geben, und so mögt ihr denn durch eure
Stärke und Gewandtheit zeigen, wer von euch der Würdigste ist, sie
heimzuführen. Besteigt alle die Pferde und reitet einer nach dem
andern schnell an meiner Tochter vorüber. Im Vorüberreiten versuche
aber ein jeder, sie mit einer Hand zu ergreifen, hochzuheben
und auf dem Pferd mitzunehmen. Nur dem, dem dies gelingt, will
meine Tochter als Gattin folgen! Auf, meine jungen Freunde! Versucht,
wem das gelingt!"
Der Fans sah nun, wie die jungen Männer auf die Pferde stiegen,
und wie einer nach dem andern an dem Mädchen vorüberritt und
sie aufzuheben versuchte. Es gelang aber keinem. Und als der
letzte erfolglos an der Tochter des Schechs vorübergeritten war,
sprang der Fans auf sein Pferd und trieb es mit starkem Schlage
an, so daß es in gewaltigen Sätzen in den Kreis der erschreckten
Menschen hineinsprengte. Der Fans aber lenkte es auf das Mädchen
zu, und als er neben ihm war, hob er es mit dem linken Arm hoch
empor und setzte es im Weiterreiten sanft vor sich auf den Sattel
nieder. Dann kehrte er zu dem Schech zurück, welcher sich inzwischen
gefaßt hatte, und sagte: "Du bist zwar ein mir fremder
Mann, aber du bist ein Fans. Du hast das, was meine Tochter
selbst zur Bedingung gesetzt hat, ausgeführt und kannst demnach
die Frau heimführen."
Das Mädchen selbst hatte sogleich den Mann erkannt, für den sie
überall am Wege Wasser und Brot zurückgelassen hatte. Sie war
also trotz der Mißstimmung und des Neides ihrer Stammesgenossen
mit dieser Wendung des Schicksals sehr einverstanden und erklärte
sich bereit, sobald es ihrem Gatten anstehe, in dessen Gefolge seine
Heimat aufzusuchen.
Der Fans verbrachte also nur vierzehn Tage bei den Leuten unter
den Zelten und brach dann mit seiner jungen Frau auf, um zunächst
zu dem Gasr der sieben Brüder zu reiten.
Nach einem Marsche von wenigen Tagen sah der Fans das Gasr
der Freunde aufsteigen. Die sieben Brüder ihrerseits hatten sorgfältig
Ausschau gehalten und waren außerordentlich glücklich, als
der, der gerade auf dem Turme die Wache hatte, herabrief, daß der
Fans mit seiner Frau durch die Ebene daherkomme. In aller Eile
rüsteten sie nun einen Raum für ihren Retter, um ihn und seine
junge Frau würdig aufzunehmen, und die schöne Schwester war
emsig beflissen, die besten Stoffe über dem Angareb auszubreiten,
das dem Fans und seiner jungen Frau als Nachtlager dienen sollte
und welches das gleiche war, auf dem sie der Ritter die erste Nacht
gefunden und auf dem sie ihrem Retter so herzlich gedankt hatte.
Die sieben Brüder ritten aber dem Fans entgegen und begrüßten
ihn als ihren besten Freund.
Als sie den Fans nun in das Gasr geleitet hatten, sagte der älteste
von ihnen: "Mein Freund, der du unser aller Erretter bist, du hast
unsere Schwester damals vor dem Drängen des schlechten und
starken Freiers errettet. Wir hätten nun unsere Schwester sonst
nicht gern aus unserer Mitte gelassen. Du aber hast dich um sie
und uns so verdient gemacht und ihre und unsere Freundschaft in
so hohem Grade zu gewinnen gewußt, daß wir dir unsere Schwester
gern zur Frau geben, wenn du etwa ebenso wie sie selbst dieses
wünschst." Der Fans hörte diese Worte mit großer Freude und
sagte: "Ich selbst bin eurer Schwester für den Dank, den sie mir
gespendet hat, ebenso verpflichtet wie meiner andern Frau für das
Wasser und das geröstete Brot, mit dem sie in der Wüste für mich
gesorgt hat. Daß ihr euch ungern von der schönen Schwester trennt,
sehe ich; wenn ich dennoch euer Anerbieten annehme, so geschieht
es, weil ich eure Schwester ebenso liebe wie ihr selbst, und weil ich
daheim meines Lebens nicht recht froh werden würde, wenn ich
nicht diese schöne Frau auch in meinem Hause hätte. Wenn ich
also meinem Vater früher dadurch ärgerlich wurde, daß ich kein
Mädchen schön und würdig genug fand, es zu meiner Gemahlin zu
erheben, so fürchte ich fast seine Eifersucht, wenn er nun zwei so
schöne Wesen mit mir heimkommen sieht."
Noch glücklicher aber als ihre sieben Brüder war die Schwester
über die Rückkehr des Fans und die neuerliche Entscheidung ihres
Schicksals, denn sie konnte sich in ihrer Erinnerung an die letzte
Nacht, die der Fans in ihrer Kammer und auf ihrem Angareb verbracht
hatte, nichts Schöneres wünschen als Gelegenheit zu finden,
bis an ihr Lebensende immer wieder sich in Dankesbezeugungen
gegen den Fans ergehen zu dürfen. Es wurde also auch diese Hochzeit
in allgemeiner Fröhlichkeit begangen, und die sieben Brüder
setzten ihren Stolz darein, in den nächsten Tagen in geschickter Abwechslung
ihrem Gast die ausgewähltesten Gerichte auf den Platten
und von den Sklaven darbieten zu lassen, die er selbst dem feindlichen
Gasrherrn abgenommen und ihnen dann zum Geschenk gemacht
hatte.
Nachdem der Fans einen Monat lang im Kreise der sieben befreundeten
Brüder verbracht hatte, bereitete er sich auf die
Heimkehr vor und trat diese in Begleitung seiner beiden Gemahlinnen
an. Nachdem er von den sieben Brüdern herzlich Abschied
genommen hatte, wandte er sich der Heimat zu und ritt auf einem
möglichst kurzen Wege von dannen. Dieser Weg nun führte an
einem Gasr vorbei, das ein starker Mann mit Namen Saidi Abd aus
den Köpfen der Menschen, die er an der Straße überfallen und getötet
hatte, aufgerichtet hatte, indem er sie an Stelle von Backsteinen
verwendete. Als der Fans dieses Gebäude aus Schädeln sah, wurde
er zornig über die Gewalttätigkeit des Saidi, und da er gern mit
jenem kämpfen wollte, stieß er mit seiner Lanze gegen einen der
Schädel, aus denen die Mauer des Gasr aufgeführt war. Der Schädel
nun rollte in das Innere des Gasr, und da Saidi gerade in jenem
Raum saß, diesem gerade vor die Füße. Saidi geriet nun auch in
Zorn. Er schrie: "Warte! Du fremder Mann! Ich hoffe bald deinen
Kopf an die Stelle des herausgeschlagenen setzen zu können. Warte
nur ein wenig, du Fremder! Ich will mich schnell rüsten!"
Saidi kam heraus und sprang auf sein Pferd. Saidi schwang sein
Schwert. Saidi schrie: "Seit Jahren warte ich auf einen Mann, der
stärker ist als ich, aber jeder, den ich anfiel, hat sich als Schwächling
gezeigt. Keiner hat es gewagt, mein Gasr zu berühren. Wie
kommst du nun dazu?" Der Faris sagte: "Vielleicht bin ich der
Mann, der stärker ist als du! Wehre dich also!" Der Fans und
Saidi trafen aufeinander. Der Fans zerschlug das Schwert des Saidi.
Dann ergriff er ihn und hob ihn hoch aus dem Sattel. Er warf ihn
zu Boden und sagte: "Siehst du nun, daß ich der bin, der stärker
ist als du?" Saidi sagte: "Mein Fans, ich war ein schlechter Mann,
weil ich als Sklave geboren war, aber keinen fand, der stärker war
als ich es bin. Nun du mich überwunden hast, bitte ich dich um
mein Leben und bitte dich, mich in deinem Dienste zu verwenden.
Du kannst mir glauben, daß du keinen Mann finden kannst, der
treuer an dir hängt als ich." Der Fans sagte: "Komm mit mir.
Ich werde sehen, was deine Worte und was deine Handlungen
gelten."
Der Fans ritt nun weiter der Heimat zu und brachte so statt einer
Frau zwei Gattinnen und einen Sklaven mit. Der Vater begrüßte
den Sohn und beglückwünschte ihn zu der Vermehrung seines Hausstandes.
Anfangs war der Vater erfreut, seinen Sohn in solcher
Gesellschaft heimkehren zu sehen; nachher aber begab es sich, daß
der Vater die beiden jungen Frauen seines Sohnes sah. Da war er
sehr erstaunt über deren Schönheit und sagte: "Was ist es, daß
mein Sohn erst mit keiner Frau dieses Landes zufrieden ist und
nachher nicht eine, sondern zwei aus andern Ländern bringt, deren
jede unzählige Male schöner ist als ein Mädchen dieses Landes!
Was soll es, daß ein Sohn so viel mehr und Besseres hat als sein
Vater! Ich hatte nichts Besseres als mein Vater; mein Vater nichts
Besseres als mein Großvater. Also soll mein Sohn auch nicht mehr
haben als ich! Ich werde ihn also als Lohn für seine Vermessenheit
totschlagen lassen. Dann fallen mir seine Frauen ohne weiteres
zu!"
Der Vater sagte zu seinem Sohne: "Mein Sohn! Deine Häuser
sind nicht groß und schön genug für deine zwei ausgezeichneten
Frauen und den Freund Saidi, den du mitgebracht hast. Ich will dir
also morgen einige Leute geben; mit denen kannst du in den Busch
reiten und kannst dort die Hölzer schlagen lassen, die zum Bau
nötig sind." Der Vater ging. Als der Vater gegangen war, rief der
Fans Saidi und sagte zu ihm: "Saidi, nun werde ich sehen, ob du
mein Freund und treuer Diener bist. Mein Vater schickt mich
morgen mit Leuten in den Busch. Ich habe beobachtet, wie mein
Vater meine Frauen angesehen hat; ich glaube also, daß er vor hat,
mir etwas antun zu lassen, um sich meiner Frauen zu bemächtigen.
Ich weiß nicht, was mir geschieht und wann ich in der Lage sein
werde zurückzukehren. Jedenfalls mache ich es dir zur Aufgabe,
keinem Menschen, wer es auch sei, den Eintritt in mein Gasr zu
gestatten und meine Frauen vor jedem Menschen zu schützen."
Saidi sagte: "Ich bin betrübt, dich in so schlechter Hoffnung zu
sehen. Ich freue mich aber darüber, meine Treue in deinen Diensten
beweisen zu können."
Der Vater rief indessen einige seiner Leute zu sich und sagte zu
ihnen: "Meine Diener, ihr werdet morgen mit meinem Sohn in den
Busch gehen. Mein Sohn wird keine Waffen bei sich haben. Wenn
ihr allein mit ihm im Busche seid, werft ihn nieder, stecht ihm die
Augen aus und durchbohrt ihm das Herz. Als Beweis dafür, daß
ihr meinen Auftrag ausgeführt habt, verlange ich von euch, daß
ihr mir die ausgestochenen Augen und eine Flasche seines Blutes
mitbringt!" Die Leute versprachen, den Befehl des Vaters zu befolgen.
Am andern Morgen gingen sie zu dem Fans, sagten ihm,
daß der Vater sie gesandt habe, für seinen Hausbau Holz zu
schlagen, und daß er sie führen möge, dem Werke vorzustehen.
Der Fans nahm also von seinen Frauen und Saidi Abschied und
ging den Männern voran in den Busch.
Als der Fans mit den Männern weit in den Busch vorgedrungen
war, kam der Führer der Leute an ihn heran und sagte: "Höre, es
tut uns leid, daß wir diese Befehle ausführen müssen." Damit sprang
er mit seinen Genossen auf den Fans und warf ihn im Verein mit
den andern rücklings zu Boden. Der Führer der Männer sagte zu
dem Niedergeworfenen: "Unser Herr hat uns befohlen, dich zu töten
und ihm dein Blut und deine Augen als Beweis der Ausführung
mitzubringen. Das Blut kann ich nun anderwärts nehmen. Die
Augen mußt du mir aber geben." Damit drückte der Führer dem
Fans die Augen aus und ging mit den andern von dannen. Er ließ
den Fans lebend liegen und begnügte sich damit, ihm seine Augen
zu nehmen. Auf dem Rückwege töteten die Leute dann eine Gazelle
und füllten von dem Blute in ein Gefäß. Dieses Gefäß voll Blut und
die Augen brachten die Leute in die Ortschaft und sagten: "Herr,
wir haben deinen Sohn getötet. Sieh! Hier sind seine Augen und
hier ist von seinem Blute!"
Als der Vater hörte, daß sein Sohn getötet sei, begab er sich sogleich
zum Hause seines Sohnes, um dessen Frauen zu nehmen.
Vor dem Hause aber stand Saidi, und als der Vater hineingehen
wollte, sagte Saidi: "Herr, in dies Haus darf niemand hineingehen
bis dein Sohn zurückkommt oder ich gestorben bin." Der Vater
sagte: "Wenn mein Sohn nun aber getötet ist, so werde ich, sein
Vater, doch wohl hineingehen dürfen!" Saidi sagte: "Nein, Herr!
Du kannst nicht hineingehen, es sei denn, daß du mich an dieser
Stelle totschlagen läßt und über mich trittst!" Der Vater sagte:
"Gut, ich werde Leute senden, die dich töten sollen." Saidi sagte:
"Es ist gut, ich werde mich rüsten und kämpfen." Der Vater
ging.
Am andern Morgen legte Saidi sein Sarad (Panzerhernd) an, ergriff
Harba (Speer) und Ssaif (Schwert) und bestieg sein Djauwad.
Saidi ritt vor das Tor des Gasr und ritt vor dem Tore auf und nieder.
Er sagte bei sich: "Ich freue mich auf den Kampf und bin nur
traurig, daß ich nicht an der Seite meines Herrn kämpfen kann."
Saidi war noch nicht lange hin und her geritten, da kamen auch
schon die Leute des Vaters des Fans in Waffen und auf Pferden
und drangen auf Saidi ein. Saidi rief: "Ich bin bereit zum Kampfe.
Geht nur ins Tor hinein!" Er schlug mit dem Schwert um sich,
daß Panzerhemden, Schilde und Arme durchschnitten wurden. Er
tötete einige der Leute und jagte die andern von dannen. Der Vater
kümmerte sich aber wenig darum, daß er einige seiner Leute verloren
hatte. Er sandte am andern Tage mehr und besser gerüstete
Männer. Saidi jagte sie wie am Tage vorher von dannen. Der Vater
ließ sich nicht abschrecken. Er sandte jeden Tag neue Leute zum
Kampfe, und jeden Tag wurden sie von Saidi wieder geschlagen.
Der Vater sagte: "Ich muß so ja längere Zeit auf den Besitz dieser
schönen Frauen verzichten; aber einmal wird auch dieser Mann der
Überzahl gegenüber lahm und müde werden." Zunächst hatte der
Vater sich aber noch in Geduld zu fassen, denn Saidi tötete jeden
Morgen zehn oder zwanzig oder dreißig seiner besten Männer.
Inzwischen tastete der blinde Fans sich im Busche weiter. Als er
einmal traurig über sein Schicksal unter einem Busche saß,
schlängelte sich eine Schlange zu einem Vogelnest und hätte den
darin befindlichen Vogel sicher verschlungen, wenn er nicht bis zu
den Füßen des Fans geflattert wäre, der die Schlange verscheuchte
und den kleinen Vogel auf einen Ast setzte. Nach einiger Zeit kam
ein größerer Vogel, das war die Mutter des Kleinen. Und das Kleine
schrie: "Meine Mutter! Meine Mutter! Wenn der blinde Mann
mich nicht aufgenommen und hierhergesetzt und die große Schlange,
die mich verfolgte, weggescheucht hätte, dann wäre ich sicherlich
von ihr verschlungen worden." Der größere Vogel sagte: "So verdanke
ich also die Erhaltung deines Lebens diesem Manne?" Der
kleine Vogel sagte: "Ja, meine Mutter, der Mann hat mich gerettet.
Der Mann ist aber blind." Die Mutter sagte: "Ich weiß es, dieser
Mann ist blind. Sein Vater hat ihm die Augen ausdrücken und sie
zu sich in sein Haus bringen lassen; da liegen sie in einem Winkel."
Der kleine Vogel sagte: "Meine Mutter, du bist so stark, könntest
du nicht hinfliegen und die Augen des Mannes wiederbringen ?"Die
Mutter sagte: "Ja, mein Kind, der Mann hat dir das Leben gerettet;
nun will ich ihm die Augen wiederbringen."
Der größere Vogel flog zu dem Gasr des Vaters. Der Vogel suchte
im Hofe und fand die Augen des Fans im Staube eines Hofwinkels
liegen. Darauf nahm der Vogel die Augen auf, flog zu einem
Brunnen und wusch die beiden Augen sorgfältig. Dann trug er sie
in den Busch, wo der Fans gerade im Schlafe lag und setzte sie
dem Fans wieder ein. Nun machte der Vogel aber eine Verwechslung,
indem er das rechte Auge in die linke Höhle, das linke in die
rechte fügte. Das hatte nun zur Folge, daß der Fans nun wohl
noch schöner aussah als früher, daß man ihn aber deshalb so leicht
nicht wiedererkennen konnte. Als der Fans aber erwachte, dachte
er all sein Unglück geträumt zu haben, denn als er die Augen aufschlug,
konnte er sehen. Der Fans hörte zwar die Vögel über
seinem Kopfe in den Büschen singen und zwitschern, er verstand
sie aber nicht.
Der Fans, der nun wieder sehen konnte, begab sich sogleich auf
den Heimweg. Er kam an seinem Gasr am Nachmittag an. Saidi
lag am Ausgang auf einer Matte. Der Fans setzte sich zu ihm. Er
merkte, daß der Saidi ihn nicht erkannte, weil er nun schöner und
jünger aussah. Er sagte zu Saidi: "Ich bin ein fremder Mann. Sage
mir doch, was es hier für Dinge gibt." Saidi sagte: "Es gibt hier
nichts Besonderes. Ich verteidige nur jeden Tag das Gasr meines
Herrn gegen Leute, die der Vater meines Herrn ausschickt. Mein
Herr ist nämlich ein wenig auf Reisen. Morgen nun wird der Vater
meines Herrn einen Mann gegen diesen Gasr senden, der stark ist
und früher der Freund meines Herrn war. Da werde ich wieder
kämpfen. Anderes Neues weiß ich nicht." Der Fremde sagte:
"Dann kann ich, der Fremde, dir mehr Neues von hier sagen! Dein
Herr, mein Saidi, ist nämlich wiedergekommen!" Saidi sprang auf!
Saidi erkannte seinen Herrn!
Der Fans sagte: "Ich werde morgen selbst gegen meinen Feind
reiten und ihn gefangen nehmen. Du aber reite zum Gasr meines
Vaters. Ich danke dir für deine Freundschaft. Wir wollen immer
Freunde bleiben." Der Fans ging hinein zu den Frauen.
Wie der Fans es angeordnet hatte, so geschah es.
17. Der Faris*
Ein Melik (hier ursprünglich ältere Bezeichnung für König; entspricht
dem bei den Nilvölkern üblichen Mek und endet in dem
abessinischen Menelik, ist heute aber dem in der Volkssprache eingebürgerten
Ausdruck Sultan gewichen) war alt, sehr alt geworden.
Er hatte keinen Sohn, der sein Nachfolger hätte werden können,
und darüber war er sehr traurig und weinte sogar. Nachdem er sich
nun eines Tages wieder sehr abgehärmt hatte, erschien ihm nachts
Aïssa (hier mit Gott übersetzt) im Traum und sagte zu ihm: "Du
wirst einen Sohn erhalten. Er wird ein starker Mann sein, und wenn
er geboren sein wird, nenne ihn Ebaeid-aissa (= Gottes oder Issas,
d. h. Jesus Sohn)." Der alte König wachte am andern Morgen auf,
und ein Sklave trat zu ihm und teilte ihm mit, daß seine Gattin sich
schwanger fühle. So wurde denn dem Melik ein Sohn geboren, wenn
er auch schon sehr alt war. Man nannte ihn Ebaeid-aissa.
Ebaeid-aissa wuchs heran und wurde ein sehr starker Mann. Er
wurde ein großer und schöner Jüngling. Eines Tages ging er über
den Markt und sah beim Aischhandel zu; da hörte er die Leute
untereinander sagen: "Es gibt kein schöneres Mädchen als die
Tochter El-arabi (Tochter des Arabers)." Alle Leute sagten: "Es
gibt kein schöneres Mädchen, als die Tochter El-arabi." Darauf
sagte sich Ebaeid-aissa: "Wenn dies das schönste Mädchen des
Landes ist, dann ist es meine passende Gattin."
Nun ging Ebaeid-aissa zu seinem Vater und sagte: "Mein Vater,
ich möchte diese Tochter des El-arabi, die das schönste Mädchen
der Stadt sein soll, sehen und heiraten." Der Melik sagte: "Mein
Sohn, vergiß nicht, daß ich der reiche Melik der Stadt (Stadt =badia)
bin, daß diese aber einem armen Buschvolk ohne Wohnung entstammt.
Du kannst aber angesehene und schöne Mädchen der
Stadt haben, so viele du willst." Ebaeid-aissa sagte: "Mein Vater,
ich bitte dich, erlaube mir, die Tochter des El-arabi zu sehen."
Dann ritt Ebaeid-aissa hinaus in den Busch zu den Zelten und sah
das Lager und die Zelte. Und er sah das Mädchen. Die Tochter des
El-arabi war sehr schön. Sie sah Ebaeid-aissa und sagte bei sich:
"Dieser Fans ist schöner als irgendein Mann, den ich früher sah!"
Als El-arabi aber hörte, daß der Sohn des Melik im Lager gewesen
sei und den Wunsch habe, seine Tochter zu heiraten, erschrak er,
brach das Lager ab und eilte mit seinen Leuten von dannen.
Als der Melik nun nach der Rückkehr seines Sohnes in die Ehe
einwilligte und alle Vornehmen zur Hochzeit zusammen waren,
wartete man vergeblich auf El-arabis Tochter. Die ausgesandten
Leute kamen zurück und sagten, daß die Araber und mit ihnen das
schöne Mädchen sehr weit weggezogen wären, so weit, daß sie sie
nicht mehr erreicht hätten.
Nun wurde Ebaeid-aissa sehr traurig und sagte endlich: "Ich
habe die Tochter El-arabis gesehen und ich will sie heiraten. Ich
will sie suchen, ich will ihr folgen und will ihr nachreiten, bis ich
sie erreiche." Ebaeid-aissa ging zum Melik und sagte: "Mein Vater,
ich will wegreiten und die Tochter El-arabis suchen." Der König
sagte: "Mein Sohn, laß mich meine Leute senden. Meine Leute
werden sie suchen und finden." Ebaeid-aissa sagte: "Nein, mein
Vater, laß mich selbst reiten!" Danach sattelte der Königssohn
sein Pferd, bestieg es und ritt von dannen.
Ebaeid-aissa ritt auf seinem Djauwad (Pferd) weit in die Wüste
hinein. Der Königssohn ritt den ganzen Tag bis zum späten Abend.
Dann hatte er Durst und war müde. Er überlegte, wie er den nächsten
Tag wohl ohne Wasser noch weiterkommen könne; da sah er
einen gefüllten Wassersack an einem dürren Ast hängen, den hatte
die Tochter des El-arabi für ihn hingehängt. Nun stieg Ebaeidaissa
ab und gab seinem Pferde zu trinken, und er trank auch und
stärkte sich durch Schlaf. Am andern Tag ritt er weiter, und als
es spät abends war, kam er wieder an einen Wassersack, und so
ging es weiter - sechs Tage lang.
Am siebenten Tage ritt der Königssohn weiter, er verirrte sich,
und so kam es, daß er bis in die Nacht hinein ritt, ohne den Wassersack
der Tochter El-arabis zu finden. Als es Nacht und schon sehr
dunkel war, kam er an ein mächtiges Gasr (Schloß), das hatte einen
riesigen Turm und war verschlossen durch ein mächtiges Tor aus
Eisen. Dieses Eisentor war so schwer, daß vierzig gewöhnliche
Männer es nicht bewegen konnten. In dem Schloß wohnten aber
sieben Brüder, die waren weit stärker als andere Männer, und sie
waren imstande, gemeinsam das Tor zu öffnen und zu schließen.
Ebaeid-aissa kam nachts an dieses Tor. Er stieg vom Pferd und
schob es zurück. Er war so stark, daß er allein das vermochte, was
die sieben ungewöhnlich starken Männer sonst nur gemeinsam
konnten. Danach trat der Königssohn ein, band sein Pferd dort an,
wo er die sieben Pferde der sieben Brüder fand, und als er dann in
das nächste Haus kam und dort die sieben Brüder schlafend am
Boden liegen sah, legte er sich neben sie. Er schlief, da er sehr
müde war, sogleich ein.
Von dem Geräusche erwachte einer der sieben Brüder. Er stand
auf und sah über die Brüder hin. Da sah er, daß neben ihm noch
sieben Männer schliefen. Der Mann sagte bei sich: "Wir sind doch
sieben Brüder, und nun liegen hier neben mir sieben Männer, so
daß wir mit mir acht Brüder wären. Das ist nicht in Ordnung."
Der Mann weckte seine Brüder. Die Brüder sahen den fremden
Fans. Ein Bruder sagte: "Wir wollen den fremden Mann töten."
Ein anderer Bruder sagte: "Weshalb willst du ihn töten? Er ist so
stark, daß er allein das große Tor geöffnet hat und uns doch nichts
tat. Weshalb wollen wir ihm nun etwas zuleide tun? Wir wollen
unserer Mutter lieber sagen, daß sie zum Morgen für einen Freund
mehr Essen bereite."
Die Brüder gingen hinaus. Sie sagten zur Mutter: "Wir sieben
Brüder genießen jeden Morgen sieben Lämmer und sieben Töpfe
Merissa. Nur dadurch erhalten wir unsere Kraft. Nun ist diese
Nacht ein Freund zu uns gekommen, der auch ein Fans ist. Bereite
also zum Frühstück acht Lämmer und acht Töpfe Merissa." Das
sagten die Brüder zu der Mutter. Dann trieben sie ihre Herden
hinaus. Als das Essen aber bereit war, sandte die Alte ihre Tochter,
die Schwester der sieben Brüder, auf den höchsten Turm, daß sie
mit dem Garran (Blashorn) zum Essen rufe. Die Tochter stieg auf
den Turm und blies auf dem Garran. Davon erwachte Ebaeid-aissa
und erhob sich. Die sieben Brüder kamen aber heim und schüttelten
dem Fans die Hand und begrüßten ihn. Die Männer gingen alsdann
zum Essen. Jeder der sieben Brüder verzehrte sein Lamm und
trank seinen Topf Merissa. Ebaeid-aissa aber aß nur wenig. Darüber
erstaunten die Brüder und sagten: "Wie kommst du nur mit
so geringer Nahrung aus? Und dennoch bist du stärker als wir.
Denn nur wenn jeder von uns alltäglich sein Lamm ißt und seinen
Topf Merissa trinkt, können wir gemeinsam die schwere Eisentür
öffnen und schließen. Du aber genießt fast nichts und kannst doch
die schwere Eisentür allein handhaben." Der Fans sagte: "Es ist
so. Ich brauche nicht mehr Nahrung."
Ebaeid-aissa blieb bei den sieben Brüdern drei Monate lang.
Während all der Zeit sagte er nicht, was ihn hierher führe und
was er suche. Es war aber in der Nähe der Melik der Djehud (König
der Juden) wohnhaft, dem mußten die sieben Brüder jedes Jahr
Abgaben zahlen. Die Brüder hatten alljährlich diese Bedingung
erfüllt und hatten dem Melik gegeben, was er verlangte. In diesem
Jahre aber hatten die Brüder nichts, was sie dem Melik hätten geben
können. Die sieben Brüder sagten: "Was sollen wir denn geben?
Wir haben nichts!" Die sieben Brüder sagten: "Wir wollen nun
das Eisentor schließen und niemand hereinlassen. Unsere Schwester
soll mit dem Garran auf den Turm steigen und sie soll blasen, wenn
sich ein Feind zeigt." Und die sieben Brüder sagten zu Ebaeidaissa:
"Steig doch mit unserer Schwester auf den Turm des Gasr.
Schau mit ihr um, ob der Melik nicht seine Leute sendet. Und wenn
sie kommen, dann sorge, daß unsere Schwester das Garran blase, so
daß wir unsere Herden ins Gasr treiben und das eiserne Tor schließen
können." Der Fans sagte: "Ich werde mit eurer Schwester vom
Turm aus das Land übersehen."
Ebaeid-aissa stieg mit dem Mädchen auf den Turm. Die sieben
Brüder zogen mit ihren Herden fort. Der Fans blickte mit der
Schwester über das Land hin. In weiter Ferne sah man eine Staubwolke.
Omo-chaijan (die Schwester der sieben Brüder) sagte zu
Ebaeid-aissa: "Dort kommen die Leute des Melik, die von den
Brüdern die Abgabe erheben wollen. Ich will sogleich den Garran
blasen." Der Fans schliff gerade sein Saef (Schwert) mit dem
Schleifstein (=Missann[e] oder Hadjr Miessaenn). Der Fans sah
auf und sagte: "Warte!" Der Fans prüfte sein Schwert, ob es scharf
sei. Omo-chaijan sagte: "Ich werde blasen, denn die Leute des
Melik kommen näher." Der Fans sagte: "Wenn du das Garran
bläst, werde ich dich totschlagen." Dann nahm der Fans dem Mädchen
das Blashorn fort.
Der Fans stieg vom Turm herab. Er sattelte sein Pferd und ritt
den Leuten des Melik entgegen. Der Fans ritt mit gezogenem
Schwert auf die Leute des Melik zu und griff sie an. Die Leute des
Melik wollten sich wehren. Sie sahen, daß der Fans stärker war,
als sie alle. Die Leute des Melik wollten fliehen. Aber der Fans
tötete sie bis auf zwei, die verwundete er, schnitt ihnen Ohr und
Nase ab, setzte sie dann wieder auf ihre Pferde und sagte: "Nun
reitet zurück zu eurem Melik und sagt ihm, daß er in diesem Jahre
keine Abgabe erhalten könne, weil ich, Ebaeid-aissa, es nicht will."
Die beiden Verwundeten kehrten zurück, und der Fans ritt auch
wieder in das Schloß.
Als die Verwundeten zu ihrem Melik zurückkamen, war der sehr
zornig und sandte am andern Tage einen zweiten Trupp von Leuten;
der war stärker und zahlreicher. Aber der Fans kam ihnen wieder
entgegen, und es erging ihnen nicht anders als den ersten. Der
Fans sandte wieder die beiden übriggebliebenen Verwundeten zurück
und ließ wieder sagen, daß der Melik in diesem Jahre keine
Abgabe erhalten würde, weil er, Ebaeid-aissa, es nicht wolle! Ganz
ebenso verfuhr der Fans mit einer dritten Abordnung des Melik,
so daß der König nicht wußte, was er gegen den fremden Fans noch
ausführen könne, um ihn in seine Gewalt zu bekommen. Der Melik
hatte aber eine Tochter, das war eine Sahara, denn sie hatte Macht
über die Aldjann. Sie war sehr schön und hieß Chadjidja. Chadjidja
hörte, was sich ereignet hatte, und sie war neugierig, den
fremden Fans kennen zu lernen. Sie ging also zu ihrem Vater, dem
Melik der Djehud und sagte: "Mein Vater, ich will mit der Kraft,
die mir verliehen ist, den Ebaeid-aissa fangen und hierher bringen."
Chadjidja machte sich also auf den Weg. Sie ritt zu dem Gasr
der Brüder. Als sie nahe war, kam ihr der Fans entgegen um zu
sehen, wer nun wieder mit ihm kämpfen wolle. Chadjidja verfuhr
aber nach der Art der Sahara. Sie schrieb etwas auf einen Zettel
und rief damit die ihr dienstbaren Aldjann herbei. Sie sagte den
Aldjann, sie sollten den Fans mit Blindheit schlagen und ihn binden.
Sie machte ihr Sachr (das ist die verzaubernde Bewegung der Hand).
Sie nahm dann den geblendeten und gefangenen Fans auf ihr Gasr.
Dort gab sie dem Fans das Augenlicht und die Freiheit wieder.
Chadjidja, die Tochter des Melik der Djehud, sah aber, daß der
Fans sehr schön war, und sie sagte zu ihm: "Ebaeid-aissa, ich will
dich nicht meinem Vater übergeben. Mein Vater würde dich töten.
Bist du bereit, mich zu heiraten, so will ich mit dir hingehen, wohin
du willst." Der Fans sagte: "Ich will dich heiraten; aber mit dir
schlafen will ich noch nicht." Chadjidja sagte: "Dieses soll dein
Wille sein. Wir wollen alles halten, wie du es willst." Und als es
Nacht war, ging Chadjidja mit Ebaeid-aissa herab, und sie banden
im Hofe zwei sehr schöne Pferde ab. Damit kehrten sie auf dem
alten Wege zu dem Schlosse der sieben Brüder zurück.
Die sieben Brüder hatten auf den Fans gewartet. Sie waren
hinausgeritten. Sie hatten alle die toten Leute gefunden, die der
Fans in den ersten drei Kampftagen getötet hatte. Sie suchten nach
Ebaeid-aissa und konnten ihn nicht finden. Sie sagten: "Unser
Bruder ist getötet und fortgebracht. Er ist nicht mehr lebend." Der
Fans kam aber mit Chadjidja, der Tochter des Königs der Juden.
Die Schwester der sieben Brüder stand auf dem Turm, und als sie
die Reiter kommen sah, blies sie das Garran. Darauf ritten die
sieben Brüder den Ankommenden entgegen. Sie hatten die Schwerter
gezogen und glaubten, es kämen neue Boten von dem Melik der
Djehud, um die Abgaben einzuziehen. Mit den Boten wollten sie
kämpfen.
Als sie aber ganz nahe zu dem Fans herangekommen waren, erkannten
sie ihn und riefen: "Das ist Ebaeid-aissa. Das ist unser
Bruder." Ihre Freude war groß, und sie hießen ihre Mutter Lämmer
schlachten und Merissa brauen, und sie feierten die Hochzeit des
Fans mit der Tochter des Judenkönigs. Sie dankten dem Fans für
alles, was er für sie getan hatte und sagten zu ihm: "Du bist nun
unser wahrer Bruder (Ausdruck innigster Freundschaft). Du sollst
nicht wieder fortgehen." Sie bauten für Ebaeid-aissa ein schönes
Haus, daß der Fans mit seiner Frau, der Tochter des Königs der
Juden, darin wohne.
Ebaeid-aissa rührte aber Chadjidja, seine Gattin, nicht an. Jeden
Abend, wenn er sich zu ihr auf das Angareb legte, zog er das
Schwert heraus und legte es zwischen sich und seine Frau. Chaddjidja
war aber eine Sahara (das ist ein prophetisch angelegtes Weib,
das etwa einem Kudjur entspricht und alle Dinge durchschauen
kann), und sie wußte, was den Fans bewegte. Chadjidja stand eines
Tages mit der Schwester der sieben Brüder auf dem hohen Turm
des Schlosses und sagte zu dem Mädchen: "Ich weiß, weshalb
mein Mann mich nicht anrührt und weshalb er an jedem Abend
das Schwert zwischen mich und sich legt. Ebaeid-aissa hat seinen
Vater verlassen und ist fortgeritten, um die schöne Tochter des Elarabi
(Arabers) zu freien und zur Gattin zu gewinnen. Ehe er nicht
dies schöne Mädchen zur Gattin gewonnen hat, wird er mich nicht
anrühren. Sieh nun von hier aus in jene Richtung. Der Turm, auf
dem wir stehen, ist so hoch, daß wir weit über das Land sehen
können. Dort drüben kannst du in weiter Ferne ein Feuer sehen.
Das ist das Feuer der Leute El-arabis. Dort ist das schöne Mädchen,
und in zwei Tagen wird das Mädchen von ihrem Vater mit ihrem
Vetter verheiratet werden."
Der Fans stand unten im Turm und hörte alles. Er ging dahin,
wo sein Pferd stand. Er legte seine Waffen an und nahm einen
Beutel mit Gold. Er ritt in der Richtung auf das Feuer zu, denn
alles andere war ihm gleichgültig, wenn er nur zu der schönen
Tochter des El-arabi kam. Der Fans ritt so schnell er konnte. Der
Fans kam im Lager des Arabers an dem Abend an, als die Hochzeit
gefeiert wurde. Der Fans näherte sich vorsichtig der Lagerhecke
und band sein Pferd an einen Ast an.
Der Fans blickte über die Hecke in das Lager. Er sah eine Adjura
(eine alte Frau) vorübergehen. Er rief die alte Frau an. Die alte
Frau erschrak erst; der Fans schüttelte aber mit dem gefüllten Goldbeutel.
Als die Adjura das hörte, kam sie näher heran. Die alte
Frau sagte: "Was willst du?" Der Fans sagte: "Du kennst mich
nicht mehr? Weißt du nicht, daß einmal der Sohn eines Melik bei
euch im Lager war, der um die schöne Tochter El-arabis freite?"
Die alte Frau sagte: "Ich weiß es. El-arabi ist dann fortgezogen,
bis er hierherkam." Der Fans sagte: "Der Sohn des Melik bin ich.
Kennst du mich jetzt?"
Die alte Frau kam heran. Sie sagte: "Ja, jetzt sehe ich es. Du
bist der Sohn des Melik. Was willst du von mir? Weshalb schüttelst
du den Beutel mit Gold?" Ebaeid-aissa sagte: "Wenn du es
machen könntest, daß das schöne Mädchen hier allein vorbeikommt,
so würde ich dir dies Gold schenken." Die alte Frau sagte: "Warte
ein wenig, ich werde sogleich sehen, was ich tun kann. Die jungen
Mädchen sind alle beim Tanz, denn die Tochter El-arabis soll heute
heiraten und nachher dem Zelte ihres zukünftigen Mannes zugeführt
werden. Warte aber ein wenig. Ich werde bald wiederkommen."
Die Mädchen des Arabers tanzten der schönen Tochter El-arabis
zu Ehren, die heute heiraten sollte. Das schöne Mädchen tanzte mit.
Die alte Frau kam heran. Die Mädchen hörten mit dem Tanze auf,
denn sie wollten jetzt das junge Mädchen zum Zelte ihres Mannes
bringen. Die alte Frau sagte: "Es ist nicht gut, wenn das junge
Mädchen gleich in das Zelt ihres zukünftigen Mannes kommt. Es
ist besser, wenn das Mädchen erst als Sibr (=Opfer, Darbringung,
Weihe oder so) mit mir einmal um die Lagerhecke geht. Dann wird
sie ausgezeichnete Kinder haben." Die Mädchen sagten: "Du bist
eine Adjura (alte Frau). Du mußt es wissen. Bringe die Braut nur
bald wieder zurück!" Die Braut sagte: "Du, alte Frau, tue, was
gut für mich ist. Den Mann, den ich liebe, werde ich doch nicht
heiraten können."
Die alte Frau ging mit dem schönen Mädchen weg. Sie führte das
schöne Mädchen zur Dornenhecke aus dem Lager. Die alte Frau
sagte: "Den Mann, den du liebst, wirst du doch noch heiraten
können." Das schöne Mädchen ging schneller und sagte: "Glaubst
du das?" Die Alte lief keuchend neben dem schönen Mädchen her
und sagte: "Lauf nicht gar so schnell. Ich weiß aber, daß du den
Mann, den du liebst, heiraten wirst. Lauf nicht so schnell; ich muß
mit dir um die Hecke bis zu der Ecke dort gehen."
Die alte Frau lief neben dem schönen Mädchen an der Dornenhecke
hin bis zu der Ecke. Als der Fans sie kommen sah, sprang
er auf das Pferd. Der Fans sagte: "Schönes Mädchen El-arabis;
ich bin es! Ich, Ebaeid-aissa!" Der Fans warf der Alten den Beutel
mit Gold zu. Dann hob er das Mädchen auf sein Pferd und ritt mit
ihr fort in der Richtung auf das Gasr der sieben Brüder. Er ritt sehr
schnell. Ehe die Araber den Verlust des schönen Mädchens bemerkten,
war der Fans schon weit fort. Der Fans kam glücklich
im Schlosse der sieben Brüder an. Die sieben Brüder begrüßten ihn
mit herzlichen Zurufen. Die sieben Brüder veranstalteten ein großes
Hochzeitsfest.
Nachdem Ebaeid-aissa so die zwei Frauen geheiratet hatte, sagte
er eines Tages zu den sieben Brüdern: "Ich habe nun die schöne
Tochter El-arabis gewonnen, deretwegen ich das Haus meines
Vaters verlassen habe, und außerdem habe ich noch Chadjidja, die
Tochter des Königs der Juden, geheiratet. So will ich denn nun zu
meinem Vater, der ein alter Mann ist, zurückkehren und werde ihm
die Bürde des Königstums abnehmen." Die sieben Brüder waren
sehr betrübt darüber, daß der Fans sie verlassen wollte. Sie gaben
seinem Drängen aber nach und bereiteten alles zur Abreise vor.
Die zwei Frauen wurden jede auf ein Kamel gehoben, der Fans
bestieg sein Pferd, und die sieben Brüder begleiteten Ebaeid-aissa
ein gutes Stück weit, bis sie nämlich dahin kamen, wo der Weg sich
teilte und ein Arm zur einen, der andere zur andern Seite durch die
Wüste hinauslief. Die sieben Brüder sagten: "Hier wollen wir
sieben Brüder von dir Abschied nehmen und zu unserem Schlosse
zurückkehren. Merke aber auf, teurer Bruder, daß der Weg sich
hier trennt. Dieser Wegarm führt in das Land eines sehr schlimmen
Gui. Du mußt den andern Weg reiten." Damit nahmen die sieben
Brüder Abschied und kehrten zurück.
Ebaeid-aissa setzte seinen Weg fort. Er ritt aber nicht den Weg,
den die sieben Brüder ihm als den guten bezeichnet hatten,
sondern er ritt mit den beiden schönen Frauen hinter sich auf den
Kamelen auf das Land des Gui zu. Bald kam er auch in die Nähe
des Schlosses des Gui, der gerade herausschaute. Als der Gul den
Weg hinsah, erkannte er, daß zuerst ein Mann auf einem Pferd,
hinter ihm aber auf Kamelen zwei sehr schöne Frauen kamen. Der
Gui sagte also bei sich: "Diese beiden schönen Frauen kommen mir
gerade zurecht. Ich werde also den Mann beiseitebringen und die
zwei schönen Frauen zu mir nehmen."
Der Gui stand also auf und ging hinab und auf der Straße hin
dem Fans entgegen.
Der Gui sagte: "Mein Freund, es scheint mir, als ob du ein Fans
seiest. Ich schätze aber den Kampf. Wir wollen miteinander ringen,
wollen uns aber nicht töten. Wer den andern überwindet, kann den
Überwundenen zum Sklaven nehmen." Der Fans sagte: "Es ist
mir recht." Sie packten einander an, und gleich darauf warf der
Fans den Gui so hart gegen den Felsboden, daß es dröhnte. Der
Gui erhob sich. Ebaeid-aissa sagte: "Nun bist du mein Sklave!"
Der Gui sagte: "Nicht doch, wir wollen noch einmal ringen. Wer
den andern wirft, dem gehört all das Besitztum des Geworfenen,
eingeschlossen seine Frauen." Der Fans sagte: "Es ist mir recht!"
Sie packten sich wieder an. Der Gui faßte aber hinterrücks den
Fans am Fuß und brachte ihn so zu Falle. Der Gui sagte: "Nun
bist du mitsamt deinen Weibern mein Eigentum." Ebaeid-aissa
sprang aber wieder auf und sagte: "Nicht doch! Jetzt wollen wir
noch einmal miteinander ringen. Diesmal soll aber der Sieger den
Geworfenen töten." Der Gui wollte dagegen sprechen. Der Fans
aber sagte: "Eile dich! Ich will nicht soviel Zeit verlieren!" Dann
packte Ebaeid-aissa den Gui und warf ihn so hart auf die Erde, daß
der Felsen unter seinem aufstürzenden Falle barst. Der Fans sagte:
"So, nun will ich dich töten!" Und er rief seinen Frauen zu: "Gebt
mir ein Messer her, daß ich dem Gui die Kehle durchschneide."
Der Gui sah nun, daß der Weg hier ein Ende nehmen wollte und
schrie laut: "Nicht doch! Nicht doch! Laß mich am Leben, ich
habe eine schöne Tochter, die will ich dir zur Frau geben. Laß
mich am Leben." Der Fans sagte: "Ich habe schon zwei Frauen,
ich denke, ich töte dich lieber!" Der Gui jammerte aber, schrie und
sagte: "Nein, Fans, so warte doch nur, bis du meine Tochter Luli
gesehen hast." Und der Gui schrie, was er konnte: "Luli! Luli!
Luli!" Als die schöne Tochter des Gui hörte, daß ihr Vater so
jämmerlich schrie, antwortete sie vom Schloß herab: "Ich komme,
mein Vater! Ich komme!"
Dann eilte Luli herab auf die Straße. Als Luli ihren Vater am
Boden liegen und den Fans auf ihm knien sah, schrie sie auf und
warf sich vor Ebaeid-aissa nieder und sprach: "O Fans, ich bitte
dich! Schone meinen Vater!" Und Luli rutschte auf den Knien
zu den Kamelen und flehte die Frauen an und schrie und weinte
und bat: "Ihr schönen Frauen, bittet doch diesen Fans, daß er
meinen Vater am Leben lasse!" Darauf baten die beiden Frauen
Ebaeid-aissa, den Vorschlag des Gui anzunehmen und dessen Leben
gegen die schöne Tochter auszutauschen.
So schenkte Ebaeid-aissa dem Gui das Leben, und dieser beeilte
sich, dem Helden eine herrliche Hochzeit zu veranstalten. So erwarb
denn der Fans sein drittes Weib, und nachdem er einige Tage
bei dem Gui verbracht hatte, zeigte dieser selbst ihm den Weg in
die Heimat. Er nahm also von seinem Schwiegervater Abschied und
ritt an der Spitze der drei Frauen der Stadt zu, in der sein Vater
König war.
Nachdem der Fans vierzehn Tage weit gereist war, kam er an den
Feldern an, die die Stadt seines Vaters umgaben. Da baute er eine
Rekuba im Busch und sagte zu seinen drei Frauen: "Ich werde zu
meinem Vater in die Stadt gehen und ihn begrüßen. Ich komme
bald wieder und hole euch dann ab. Ich bitte dich, Chadjidja, aber
dafür Sorge zu tragen, daß euch nichts widerfährt." Danach machte
der Fans sich auf den Weg zu seinem Vater. Als er in die Stadt
kam, sahen ihn die Leute. Die Leute blieben auf der Straße stehen
und sagten: "Ist das nicht Ebaeid-aissa, der Sohn des Melik, der
vor langer Zeit auf Reisen ging, um eine schöne Araberin zu
freien?" Und das Volk drängte ihm nach zu dem Palast.
Ehe noch der Fans im Palaste ankam, liefen die Vornehmen voraus
und schrien dem Türhüter zu: "Sagt dem Melik, daß sein Sohn
wiedergekehrt ist!" Alles Volk versammelte sich rundum, und der
alte Melik erhob sich von seinem Angareb und kam dem Fans entgegen.
Der Fans aber überragte an Kopfeslänge alles umstehende
Volk, und sein eiserner Helm blitzte weithin im Licht. Der Melik
weinte Tränen der Freude über die Wiederkehr des Sohnes. Und
als der Sohn dem Vater erzählt hatte, daß er drei schöne Frauen
gewonnen hatte, die draußen in einer Rekuba auf ihn warteten, da
drängte er ihn, doch schnell zurückzureiten und seine drei Frauen
zu holen.
***Während nun in der Stadt Ebaeid-aissa den Vater begrüßte, kam
draußen im Busch ein Araber bei der Rekuba vorbei, in der
der Fans seine Frauen zurückgelassen hatte. Der Araber sah zwei
der Frauen und eilte zum Schech aller Araber, der in der Nähe
weilte, und sagte: "In dem Busch ist eine Rekuba mit schönen
Frauen, die hat ein fremder Fans gewonnen, der in die Stadt gegangen
ist. Unter den Frauen ist aber eine schöne Araberin." Als
der Schech der Araber das hörte, sagte er: "Daß ein fremder Mann
eine Araberin zur Frau gewonnen hat, ist eine Schande. Geht hin
und bringt mir die Frau. Drei von euch sollen aber am Wege im
Busch mit Lanzen auf die Rückkehr des Fans warten und sollen
ihm dann die Lanzen in den Leib stoßen und ihn töten."
Die Araber überfielen die Rekuba, noch ehe der Fans aus der
Stadt zurückkam. Chadjidja bemerkte es beizeiten und verwandelte
sich in eine alte Frau. Als die Räuber der Weiber kamen, sagte
Chadjidja: "Ich bin die alte Wärterin dieser Frauen. Ich will sagen,
wann der Zeitpunkt für den Schech gekommen ist, diese schönen
Weiber auf sein Angareb zu nehmen, ohne daß es dem Schech
Schaden bringt." Darauf fürchteten die Araber die Adjura (die
Alte) und ließen ihretwegen die jungen Weiber unbehelligt. Der
Schech sagte aber zu der Adjura: "Sage es mir nur beizeiten, wann
die Zeit gut ist, daß ich diese schönen jungen Frauen mir zu eigen
mache. Ich will dich dann auch beschenken." Die Adjura sagte:
"Es ist recht; ich will es dir schon sagen, denn ich möchte gern
Gold von dir verdienen." Darauf glaubte ihr der Schech.
Inzwischen kam der Fans nichts ahnend auf einem Esel den Weg
zur Rekuba. Als er eben aus dem Busch reiten wollte, warfen ihm
die drei Burschen ihre Speere in den Rücken, so daß er auf die Erde
fiel und viel Blut hervorsprang. Die Burschen hielten ihn nun für
tot, nahmen sein Schwert und liefen von dannen. Nach einiger Zeit
kam aber ein Mann vorbei, der fand Ebaeid-aissa mit den drei
Speeren im Rücken auf dem Wege. Da hob er ihn auf und brachte
ihn in das nicht allzuweit liegende Gehöft einer Frau. Die Frau sah
den Verwundeten, der in Ohnmacht lag und sagte: "Das ist Ebaeidaissa,
der Sohn des Königs." Darauf entkleidete und verband sie ihn,
und als der Fans wieder zu sich kam und sie bat, niemandem etwas
zu sagen, daß er hier und noch lebend sei, da hielt sie das Versprechen
und verschwieg es. Als also der Melik in der Gegend nach
seinem Sohne forschen ließ und seine Leute nur den toten Esel, eine
Blutlache und ein blutiges Kleidungsstück des Helden fanden, da
glaubte er und alle Stadtleute nicht anders, als daß Ebaeid-aissa
durch die wilden Tiere getötet worden sei.
Der Fans sandte aber seine alte Wärterin insgeheim zu dem
Lager des Araberschechs und zu Chadjidja und ließ sie bitten, ihn
wissen zu lassen, wann der Schech sich die Frauen aneignen wolle,
vor allem ihm aber sein Schwert zu senden. Chadjidja sandte
Ebaeid-aissa erst sein Schwert und dann die Nachricht: "Heute
abend will der Schech deine jungen Frauen heiraten und deshalb
für sie tanzen lassen." Als der Fans das hörte, steckte er das wiedergewonnene
Schwert in das Unterkleid, so daß er es auf der Brust und
den Griff handlich am Halse hatte, und hüllte sich dann in Weiberkleider.
In den Weiberkleidern ging er hin in das Lager des Araberschechs,
um den Weibern beizustehen.
Alle Weiber tanzten vor dem Schech, nur der Fans stand in
Weiberkleidern am Kopfende des Angarebs des Schechs und tanzte
nicht mit. Der Araberschech sagte: "Du, Mädchen oder Frau! Weshalb
tanzt du nicht mit?" Der Fans sagte: "So will ich denn auch
tanzen; keiner von euch Räubern und Mördern soll aber je den Tanz
vergessen." Dann zog er das Schwert heraus. Er erschlug den
Schech. Er warf die Weiberkleider ab und sprang unter die Burschen
und Männer. Er tötete die, die ihn mit Lanzen getroffen und
fast getötet hatten. Er tötete an dem Tage viele Araber, und wenige
Männer entkamen dem Tode.
Dann aber nahm er seine drei Frauen mit sich und brachte sie in
die Stadt zu seinem Vater. Der alte Melik war glücklich, daß der
totgeglaubte Sohn nun doch noch lebte und setzte ihn ein zum Melik
an seiner Statt.
18. Der Verarmte
Ein Mann war jung, sehr jung und reich, sehr reich. Der Mann
lebte in einer Stadt, und es gab nichts, was ihm fehlte und was
ihn betrübte. Er hatte Freunde, die waren jung wie er selbst, und
er lud sie häufig zu sich ein. Er verkehrte aber nur mit jungen
Leuten, die sehr gut zu essen verstanden und von guter Familie
waren wie er selbst.
Eines Nachts träumte der junge Mann. Er träumte, daß er eines
Tages alles, was er habe, verliere und nun ein armer Mann sei, der
mit Wassertragen ein oder zwei Piaster verdienen und davon leben
müsse. Der junge Mann träumte das und erwachte dann. Als er
erwacht war, sah er den Traum noch sehr deutlich und er dachte
über den Traum nach. Der junge Mann sagte: "Nach dem Traum
ist es sicher, daß ich eines Tages arm werde und daß ich dann mein
angenehmes Leben und den Kreis meiner Freunde verlieren werde.
Dann werde ich mir in schwerer Weise meinen Unterhalt verdienen
müssen. Das wird mir aber leichter zu erlernen fallen, wenn das
Unglück mich in der Jugend packt, als wenn ich ihm im Alter
anheimfalle. Ich werde also meinem Unglück entgegenreiten und
werde versuchen, es auf solche Weise möglichst bald zu überwinden.
Vielleicht werde ich dann als älterer Mann wieder von seiner Last
befreit."
Der junge, reiche Mann nahm zwei Beutel und füllte sie mit Gold
und Silber. Er schloß sein Haus zu, bestieg einen Esel und ritt von
dannen. Nachdem er viele Tage geritten war, kam er mit seinem
Gelde und mit seinem Esel an den Nil. Der Nil war aber gerade
hoch, und so konnte er einen Teil, den man sonst wohl durchreitet,
nur in der Weise passieren, daß er weiter oberhalb auf einem Boote
mit seinem Esel und seinen Geldsäcken übersetzte. Es war ein
kleines Boot, und der Esel ward nach einiger Zeit unruhig. Nach
einer Weile konnte der junge Mann die Kette, an die er den Esel
befestigt hatte, nicht mehr halten. Der Esel kam über den Rand
des Bootes und versank mit beiden Säcken, in denen Gold und Silber
war. Als der junge Mann an das andere Ufer des Nils kam, hatte
er nichts mehr.
Der junge Mann betrat das Ufer und sagte: "Wie hatte ich recht,
daß ich der Erfüllung meines Traumes entgegenritt. Ich bin noch
jung und werde mich jetzt schnell an die Beschwerden des Wassertragens
gewöhnen."
Der junge Mann ging also auf die Stadt zu, die vor ihm lag und
suchte bei einem andern armen Manne Unterkunft. Am andern
Tag lieh er sich einen Wassersack und begann bei den Leuten der
Stadt sein Wasser auszubieten.
Die Leute der Stadt mochten den jungen Mann bald gern leiden,
denn er wußte jede Sache nach der Art und den Bewegungen einer
guten Erziehung anzufassen. Er war nicht aufdringlich und schrie
nicht wie die andern Wasserträger in lärmender Weise. Er bettelte
nicht. Also nahmen die reichen Leute ihm lieber das Wasser ab
als andern seines Berufes. Unter denen, denen er täglich das Wasser
ins Haus zu bringen hatte, war ein sehr reicher Mann, der hatte
sechs Töchter, und diese sechs Töchter sollten nach einiger Zeit
heiraten.
Der reiche Mann rief eines Tages seine sechs Töchter zusammen
und sagte: "Meine Töchter, ihr seid in dem Alter, in dem die Frauen
heiraten sollen. Nun ist es vielfach Sitte, daß die Väter bei der Verheiratung
ihrer Töchter auf das Geld ihrer Schwiegersöhne sehen.
Ich bin nun so wohlhabend, daß das bei mir nicht so sein soll. Ihr
könnt euch unter den jungen Männern die auswählen, die euch am
besten gefallen. Ich werde eine Azurne (Fest) veranstalten; beachtet
nun, wie ein jeder sich dabei benimmt, und werft dann dem,
der euch als Ehemann paßt, euer Taschentuch (kord. = machrem;
arab. =mandil) zu." Die Töchter dankten ihrem Vater und baten
ihn, ja alle Leute der Bekanntschaft zu dem Feste zu laden. Die
ersten fünf Mädchen hatten sich aber schon in fünf junge Burschen
verliebt und wußten schon, wem sie ihre Taschentücher zuwerfen
wollten. Der Vater sagte: "Ich werde sicherlich alle Bekannten
unseres Hauses zu der Azurne einladen. Und da es ein großes
Freudenfest unserer Familie ist, sollen auch alle niederen Leute,
bis zum ärmsten Wasserträger herab, ihren Anteil an der Azurne
haben."
Der reiche Mann bereitete die Azurne so vor, wie er es seinen
Töchtern gesagt hatte. Es waren viele Leute da, und an dem Essen
beteiligten sich alle jungen Männer, und auch den Zuträgern des
Hauses bis zum niedrigsten Wasserträger hatte man Zutritt gewährt,
so daß sie an dem großen Essen teilnehmen und jeder nach
seinem Belieben von allen Speisen wählen und genießen konnte.
Die ersten fünf Mädchen, die sich schon in ihre Burschen verliebt
hatten, sahen nur eine jede auf ihren Erwählten. Die Jüngste aber,
die noch keinem Manne zugetan war, blickte aufmerksam von
einem zum andern. Die Jüngste sah, wie mancher von den wohlgekleideten
und reichen Burschen gierig in die Schüsseln griff und
herunterschlang, was ihm unter die Finger kam. Sie sah, wie
mancher von den angesehenen Burschen, die für etwas Außerordentliches
galten, sich sein Kleid beschmutzte. Sie sah, daß mancher,
der mit viel Geräusch von der Bedeutung und dem Alter seiner in
einer allen andern unbekannten, fernen Stadt wohnenden Familie
zu sprechen pflegte, die großen und häßlichen Hände der Bauern
hatte. Sie sah aber auch auf den Wasserträger, der unten am Ende
des Raumes saß. Sie sah, daß er mit Wahl in die einzelnen Schüsseln
griff. Sie sah, daß er jene Gerichte bevorzugte, die reiche Leute als
etwas Besonderes zu genießen pflegen. Sie sah, daß er schöne kleine
Hände hatte. Sie sah, daß er mit den kleinen Händen in geschickter
Weise in die Schüsseln griff und ohne Mühe jede Beschmutzung
seiner einfachen Kleider vermied. Sie sah, daß er nicht viel aß, nach
Art der armen Leute, die die Gelegenheit benutzen müssen, um für
einige Zeit vorzusorgen. Sie sah, daß er in geschickter Wahl in
guter Reihenfolge gerade so viel von den angebotenen Speisen nahm,
als einem wohlhabenden Manne gut bekommt und ihm angenehme
Stunden nach dem Genusse bereitet. Sie sah, daß der Wasserträger
ein schöner und junger Mann war.
Nach dem Fest erhob sich der Vater und sagte: "Nun sollen meine
sechs Töchter aus eurer Mitte sich Männer erwählen. Jede mag
dem, den sie zum Gemahl begehrt, ihr Taschentuch zuwerfen. Ein
jeder, den meine Töchter wählen, soll mir als Schwiegersohn willkommen
sein. Ich werde einem jeden ein würdiges Haus in meinen
Gärten anweisen."
Danach winkte der reiche Mann den Sklaven (=Abd). Die
Sklaven trugen die Schüsseln und Wasserkannen und Tücher hinaus.
Dann warf eine der sechs Töchter des reichen Mannes nach
der andern dem Manne ihr Taschentuch zu, den sie als Gatten erwählt
hatte.
Die ersten fünf Töchter warfen ihre Taschentücher den Männern
zu, in die sie sich schon verliebt hatten. Die Leute hatten das schon
vorher gewußt, und da es angesehene junge Männer waren, so
hatte der Vater nichts weiter hierzu zu sagen. Niemand hatte
aber bis dahin gehört, daß die Jüngste, die sechste Tochter des
reichen Mannes, irgendeinem Manne besonders nachgesehen, über
ihn in anerkennender Weise gesprochen oder überhaupt irgendeinen
Mann beachtet habe. Der Vater und alle seine Leute sahen
daher besonders aufmerksam auf die sechste Tochter und waren
neugierig zu sehen, was diese nun tun werde.
Die sechste Tochter saß still da und sagte gar nichts. Der Vater
und alle Leute warteten. Der Vater sagte: "Wen wählst du denn
nun, meine jüngste Tochter?" Die Tochter sagte: "Mein Vater,
bestimme du mir einen würdigen Gatten!" Der Vater sagte: "Nein,
meine Tochter, ich werde dies nicht tun. Ich habe dies Fest veranstaltet,
damit ihr alle jungen Männer sehen und ihre Art untereinander
vergleichen könnt. Deine fünf älteren Schwestern haben
ihre Gatten so gewählt. Du sollst es nun auch tun!" Die Tochter
sagte: "Ich werde dann tun, wie du es willst. Ich verstehe dich aber
so, daß jede von uns den Mann wählen soll, der ihr als der Beste an
guten Sitten und passendste nach ihrem Sinn und Herzen erscheint!"
Der Vater sagte: "Du hast mich recht verstanden." Die sechste
Tochter nahm ihr Taschentuch in die Hand und wandte sich um.
Sie wandte sich von der Tafel der angesehenen Leute ab und warf
ihr Taschentuch nach dem Ende des Raumes. Das Taschentuch fiel
in den Schoß des armen Wasserträgers.
Der reiche Mann ward sehr zornig. Der reiche Mann sagte: "Was
hast du getan?" Die jüngste Tochter sagte: "Ich habe das getan,
was du von mir verlangt hast. Ich habe mir den zum Gatten erwählt,
der mir der Beste an guten Sitten erscheint und der meinem
Sinn und Herzen am meisten zusagt." Der Vater ward noch zorniger
und sagte: "Du hast das nicht getan. Du hast einen gemeinen
Mann gewählt. Du hast dir einen elenden Menschen genommen,
mit dem die angesehenen Männer deiner Schwestern sicher nicht aus
einer Schüssel essen wollen." Die jüngste Tochter sagte: "Deine
sechs Töchter sind verschieden. Die Sinne deiner sechs Töchter sind
verschieden. Daher müssen auch die Männer deiner sechs Töchter
verschieden sein. Mein Mann wird nicht danach drängen, mit
seinen Schwägern gleich genommen zu werden, ebensowenig wie
ich es verlange, daß meine Schwestern in mir das Spiegelbild ihres
Geschmacks sehen." Der reiche Mann sagte: "Jeder soll haben,
was er will. Meine sechste Tochter hat recht, wenn sie jedem
anderes Maß anlegt. Meine ersten fünf Schwiegersöhne sollen also
auch in Zukunft nach ihrem Maße wohnen und leben und mein
sechster nach dem seinen."
Darauf wies der reiche Mann seinen ältesten fünf Töchtern und
ihren Gatten ein großes, schönes Haus in einem weiten Garten an.
Unten waren viele Pferde und Sklaven. Oben duftete jeder Diwan
von Rosenöl, und über die Betten waren kostbare Stoffe gelegt.
Dem Wasserträger und seiner jüngsten Tochter ließ er aber eine
elende Lehmhütte auf dem Hofe unter den Sklaven anweisen. Wenn
es regnete, floß das Wasser an den Wänden herab; es war feucht
in dem Haus und roch nach Moder; und als Bett wurde dem jungen
Ehepaar eine alte Matte angewiesen, die vorüberziehende Djellaba
als verbraucht weggeworfen hatten.
Kurze Zeit danach wurde der reiche Mann sehr krank. Man rief
einen erfahrenen Arzt, der untersuchte den Kranken eingehend.
Danach sagte er zu dem reichen Kranken: "Ich habe jetzt ganz eingehend
alles untersucht und muß dir sagen, daß du eine ganz ungewöhnliche
Krankheit hast, die wohl nur aus einem großen Kummer
gekommen sein kann. Ich glaube dir also sagen zu müssen,
daß du sterben wirst, wenn du nicht sehr bald die gute Milch einer
Gazelle (bei allen Stämmen von Dar For bis nach dem Roten Meer
als Gasal bezeichnet) trinkst. Merke dir aber, daß es fette Milch
sein muß, und daß nicht mehr viel Zeit verstreichen darf, damit
auch dies nicht zu spät kommt." Der reiche Mann sagte: "Daß
meine Krankheit dem Kummer entspringt, mag wohl wahr sein.
Wie soll ich aber die Milch einer Gazelle erhalten?" Der Arzt sagte:
"Wie kannst du danach fragen, da du doch deinen sechs Töchtern
Männer gegeben hast? Kann es für deine Schwiegersöhne etwas
Angenehmeres geben, als für dich, ihren Wohltäter, eine Gazelle
zu fangen und zu melken?" Der reiche Mann sagte: "Ich danke
dir; du hast recht."
Der reiche Mann ließ den fünf Schwiegersöhnen, die in dem
schönen Palast im Garten wohnten, sagen, was der Arzt angeordnet
hatte. Darauf ergriffen die fünf Schwiegersöhne ihre Lanzen und
ihre Wurfhölzer und bestiegen ihre Pferde, um hinaus auf die
Gazellenjagd zu reiten. Der arme Wasserträger stand an der Türe
seines Lehmhauses und sah seine Schwäger von dannen reiten. Er
sah einige Sklaven vorbeikommen und fragte: "Wo reiten die
Herren hin?" Die Sklaven sagten: "Der alte Herr ist krank, und
der Arzt hat gesagt, daß nur fette Gazellenmilch ihn wieder gesund
machen könne." Der junge Wasserträger ging in das Haus. Er
nahm einige Ledersacke (= ssaen) von dem Haken, hing sie über,
nahm einen Stock und Stricke und sagte zu seiner Frau: "Meine
Frau, ich gehe hinaus, um das zu bringen, was deinen Vater wieder
gesund machen kann." Danach ging der junge Wasserträger zu Fuß
hinaus in die Steppe, dahin, wo viele Gazellen vorüberwechselten.
Der junge Wasserträger legte an mehreren Stellen seine Fallen.
Er achtete darauf, wo seine Schwäger zur Gazellenjagd hingeritten
waren und baute überall da eine Falle auf, wo die von den Jägern
verfolgten Tiere auf ihrem Wechsel vorbeikommen mußten. Die
fünf Jäger verfolgten inzwischen auf der weiten Steppe die Gazellenrudel.
Sie kamen überall erst an die Böcke, die rundum die Ricken
und Kitzen bewachten. Die fünf Jäger töteten viele mit Speeren
und Wurfhölzern. Dann stiegen sie ab um zu sehen, wieviel milchende
Tiere unter den erlegten seien. Sie sahen, daß es lauter
Böcke und alte Ricken waren, aber nicht ein einziges milchendes
Muttertier darunter. Sie stiegen wieder auf und ritten den andern
Rudeln nach. Die Rudel waren aber inzwischen weit weggerannt.
Die Jäger sahen kein Tier mehr. Sie folgten den Spuren der entronnenen
Tiere. Sie hatten nicht eine Schale Gazellenmilch gefunden.
Als die fünf Reiter die Böcke mit Speeren und Wurfhölzern
töteten, sprangen die Rudel auf ihrem Rückwechsel von dannen.
Die milchenden Tiere liefen voran und kamen dahin, wo der junge
Wasserträger seine Fallen aufgestellt hatte. Der junge Wasserträger
fing so drei milchende Gazellen. Er molk sie sogleich. Er
schöpfte die beste, fette Milch oben ab und füllte sie in seinen
Ssaen. Den Ledersack steckte er dann zu sich.
Nach einiger Zeit kamen die fünf Reiter an, die den Spuren der
weggelaufenen Gazellen nachgeritten waren. Sie sahen den Wasserträger
und seine drei milchenden Gazellen. Sie sagten: "Gib uns die
Milch der Gazellen. Dir ist sie doch unnütz, denn unser Schwiegervater
wird von dir nichts annehmen." Der Wasserträger sagte: "Es
ist wahr. Hier habe ich Milch von Gazellen. Ich wäre bereit, euch
diese zu geben, wenn ihr mir erlaubt, einem jeden das Halaga-numatrak
(liegendes Kreuz in einem Kreis), ein Brandzeichen, mit
dem früher vielfach die Sklaven gezeichnet wurden) in den Hintern
zu brennen." Die fünf Reiter sagten: "Du elender Wasserträger!
Was wagst du uns zuzumuten!" Der junge Wasserträger sagte:
"Wenn man auf der Straße schimpfen hört, kommt das nie von
den Leuten mit den feinen Sitten, und wenn jemand um etwas
bitten will, pflegt es nicht klug zu sein, mit einem Schimpfwort
seine Rede zu beschmutzen."
Die fünf Reiter traten beiseite. Die fünf Reiter sagten: "Es wäre
eine schlechte Sache, wenn dieser Bursche das brächte, was unseres
Schwiegervaters Leben rettet, während wir nichts bringen." Die
fünf Reiter sagten: "Was kommt es auf ein kleines Körpermal an!"
Die fünf Reiter kamen zu dem Wasserträger zurück und sagten:
"Wir sind damit einverstanden. Gib uns diese Beutel voll Milch und
brenne uns das Halaga-nu-matrak in den Hintern." Der Wasserträger
gab den fünf Schwägern darauf die Milch, von der er das
Beste abgeschöpft hatte, und brannte ihnen dann mit einem Messer
das Halaga-nu-matrak in den Hintern. Darauf nahmen die fünf
Reiter die Säcke mit Gazellenmilch und ritten schnell der Stadt zu.
Der arme Wasserträger folgte ihnen aber mit der Sahne in der
Ledertasche zu Fuß und langsam gehend nach.
Die fünf Schwiegersöhne kamen schnell in die Stadt geritten. Der
Arzt empfing sie und ließ sich die Gazellenmilch reichen. Der Arzt
goß die Milch aus und sagte: "Diese Milch wird eurem Schwiegervater
nichts nützen. Denn einmal ist es keine fette Milch, und dann
ist sie bei dem schnellen Reiten schlecht geworden. Ich werde sie
aber dem Kranken geben und werde sehen, ob sie ihm nicht vielleicht
doch nützt." Der Arzt ging zu dem kranken Vater der sechs
Frauen hinein und sagte: "Fünf deiner Schwiegersöhne haben
Gazellen gefangen und ihre Milch gewonnen. Trinke sie und sieh,
ob sie dir nützt." Der Kranke sagte: "War der Wasserträger unter
den fünf Leuten, die die Milch gebracht haben?" Der Arzt sagte:
"Nein, der Wasserträger ist nicht unter ihnen gewesen." Der
Kranke sagte: "Dann gib mir die Milch!" Der Arzt reichte dem
Kranken die Milch, und der Kranke trank sie. Dann legte er sich
wieder hin und sagte: "Ich fühle es, diese Milch nützt mir auch
nichts; ich will mich also darauf vorbereiten zu sterben. Laßt mich
allein!" Der Arzt und die Leute gingen hinaus.
Nach einiger Zeit kam der Wasserträger in die Stadt. Er ging in
das Haus des Schwiegervaters und traf da den Arzt. Er fragte den
Arzt: "Geht es meinem Schwiegervater besser?" Der Arzt sagte:
"Nein, es geht deinem Schwiegervater nicht besser. Deine fünf
Schwäger brachten ihm Gazellenmilch. Sie war aber mager und
vom Reiten verdorben. Der Vater hat sie getrunken, aber sie hat
ihm nichts genützt. Nun weiß er, daß er sterben muß und er bereitet
sich darauf vor." Der junge Wasserträger zog seinen Ledersack mit
fetter Milch heraus und sagte: "Kann ihm denn diese Milch auch
nicht mehr helfen?" Der Arzt goß die Milch aus und betrachtete
sie. Der Arzt sagte: "Oh, diese Milch ist ganz anders; sie ist fett
und unverdorben. Sie ist ausgezeichnet. Nun wird dein Schwiegervater
genesen. Ich werde sie ihm sogleich bringen!"
Der Arzt ging schnell zu dem Kranken hinein. Der Kranke hörte
ihn kommen und sagte: "Laßt mich doch jetzt allein, damit ich
Ruhe zum Sterben finde!" Der Arzt sagte: "Es wird mir verziehen
werden, wenn ich dich störe. Du brauchst aber nicht zu sterben,
denn eben ist die richtige fette und unverdorbene Gazellenmilch
gebracht worden." Der Vater wandte sich um und sagte: "Wer hat
sie gebracht?" Der Arzt sagte: "Es ist der Gatte deiner jüngsten
Tochter, der sie gewann und brachte!" Der reiche Mann sagte:
"Kann ich denn nicht in Ruhe sterben? Der Kummer darüber, daß
meine jüngste Tochter diesen Wasserträger zum Manne genommen
hat, hat mich krank gemacht, so daß ich sterben muß. Wie kann
ich nun durch das, was dieser Mann mir bringt, gesund werden?"
Der Arzt sagte: "Der Irrtum ist die schlimmste Krankheit der
Menschen; er führt viele unkluge Menschen zum Tode! Willst du
nun auch durch ihn sterben? Denn wie soll die Medizin, wenn sie
sonst gut ist, nur dadurch schlecht werden, daß ein unbeliebter
Mann sie trug? Warum willst du deinen ersten fünf Töchtern dich
durch den Tod entziehen, weil der Mann deiner sechsten Tochter
dir die Möglichkeit, wieder gesund zu werden und weiter zu leben,
reichte?" Der kranke Mann hob den Oberkörper und sagte: "Mein
Arzt, gib mir die Milch. Ich will sie versuchen."
Der Arzt gab dem kranken reichen Manne die Milch. Der kranke
reiche Mann versuchte sie. Der kranke reiche Mann sagte: "Diese
Milch ist gut." Der kranke reiche Mann trank die Milch. Der
kranke reiche Mann sagte: "Ich werde nicht sterben. Ich werde
gesund werden. Diese Gazellenmilch des Wasserträgers hat mich
gesund gemacht." Der reiche Mann legte sich wieder zurück und
sagte: "Mein Arzt, welches nanntest du die schlimmste Krankheit
der Menschen?" Der Arzt sagte: "Den Irrtum!" Der reiche Mann
sagte: "Laß meine jüngste Tochter kommen."
Der Arzt ging hinaus und sandte einen Sklaven über den Hof.
Nach einiger Zeit trat die jüngste Tochter in den Raum, in dem ihr
Vater lag. Der Vater sagte: "Du bist es, meine jüngste Tochter!
Komm, setze dich auf den Teppich neben mein Angareb!" Die
Tochter setzte sich bei ihrem Vater nieder. Der reiche Mann sagte:
"Meine Tochter, ich bitte dich, mir eins zu sagen: Wie kamst du
dazu, den armen Wasserträger zu deinem Gatten zu wählen, wo du
ihn doch vorher weder gesehen noch gekannt hast?"
Die sechste Tochter sagte: "Mein Vater, du hattest gesagt, wir
sollten alle Männer ansehen, die bei dem Fest waren, und sollten
den zum Gatten wählen, der uns der Beste an guten Sitten und einer
jeden am meisten ihrem Herzen und Sinn passend schiene. Ich
achtete beim Essen auf alle Männer. Ich achtete auf die Reihenfolge,
in der sie die Gerichte auswählten; ich achtete auf die Masse,
die ein jeder verzehrte; ich achtete auf die Reinlichkeit beim Essen;
ich achtete auf die Schönheit der Hände; ich achtete darauf, mit
welchen Augen ein jeder das Essen, die Umgebung und deine
Töchter ansah. Dann wählte ich den armen Wasserträger." Der
Vater fragte seine Tochter: "Was sahst du an dem armen Wasserträger?"
Die Tochter sagte: "Seine Sitten waren die eines wohlerzogenen,
gemäßigten Mannes aus guter Familie. Seine Hände
waren so schön, wie es sie nur im Hause eines vornehmen Vaterhauses
geben wird. Seine Augen waren treu und klug wie die eines
Mannes, der eine gute Mutter hatte." Der reiche Mann sagte: "Was
hat dir dieser Mann gesagt, seit du mit ihm verheiratet bist?" Die
Tochter sagte: "Mein Mann hat mir nichts gesagt, denn es ist nicht
meine Sache, ihn zu fragen." Der Vater sagte: "Wessen Sache ist
das?" Die Tochter sagte: "Es ist die meines Vaters." Der Vater
sagte: "In diesem hast du recht. Ich danke dir, meine Tochter!"
Die sechste Tochter des reichen Mannes ging.
Der Vater rief seine ersten fünf Schwiegersöhne herein und sagte:
"Ihr habt meine ersten fünf Töchter geheiratet. Ihr kennt mein
Haus schon lange. Ihr habt einen Schwager. Diesen kennt ihr erst,
seit ihr selbst verheiratet seid. Was könnt ihr mir über diesen,
euren Schwager, sagen?" Die fünf Schwiegersöhne sahen sich an.
Der erste Schwiegersohn sagte: "Er war früher Wasserträger." Der
zweite Schwiegersohn sagte: "Er ist ein schmutziger Mann." Der
dritte Schwiegersohn sagte: "Er weiß sich nicht zu benehmen." Der
vierte Schwiegersohn sagte: "Er wird ein früherer Sklave sein." Der
fünfte Schwiegersohn sagte: "Du hast ihm ja auch ein Haus unter
den Sklaven gegeben." Alle Schwiegersöhne sagten: "Sicherlich,
er ist ein Sklave." Der reiche Mann sagte: "Laßt den früheren
Wasserträger kommen." Ein Sklave lief hinaus.
Nach einiger Zeit kam der frühere Wasserträger. Der reiche
Mann sah ihn von seinem Angareb aus an. Der reiche Mann sagte:
"Tue mir den Gefallen und zeige mir deine Hand." Der frühere
Wasserträger reichte dem Manne seine Hand. Der reiche Mann
sagte: "Ich danke dir, doch sage mir bitte noch, was du hierzu
meinst: Die Gatten meiner ersten fünf Töchter, die hier stehen,
sagen, du seist ein Sklave. Sage mir, bitte, was du hierzu meinst!"
Der frühere Wasserträger sagte: "Ich will dir dieses gern beantworten.
Ich bitte dich aber um deine Gerechtigkeit." Der reiche
Mann sagte: "Meiner Gerechtigkeit kannst du gewiß sein, denn eben
noch habe ich mich auf den Tod vorbereitet gehabt und eben erst
habe ich gelernt, daß der Irrtum die schlimmste Krankheit der
Menschen ist."
Der frühere Wasserträger sagte: "Wenn du also Gerechtigkeit
walten lassen willst, so bitte ich dich um folgendes: Wenn deine
andern Schwiegersöhne mir nachweisen können, daß ich oder einer
meiner Väter je ein Sklave war, so will ich ihnen von heute bis zu
meinem Ende dienen. Wenn ich ihnen aber nachweisen kann, daß
sie die Sklavenzeichen meiner Familie tragen, dann sollen sie mir
dienen." Der reiche Mann sagte: "Diese Forderung ist gerecht. Wie
soll die Sache nun entschieden werden ?" Der frühere Wasserträger
sagte: "Alle Sklaven meiner Familie tragen das Halaga-nu-matrak
auf dem Hintern. Laß deinen ersten fünf Schwiegersöhnen die
Hosen ausziehen und nach dem Halaga-nu-matrak sehen."
Die ersten fünf Schwiegersöhne sagten zornig: "Wie kann dieser
Wasserträger etwas Derartiges verlangen?!" Der reiche Mann
sagte: "Ich finde es gerecht, daß, wenn ihr jenen seiner Niedrigkeit
bezichtigt, ihr erst eure höhere Reinheit beweist." Die Schwiegersöhne
wollten sich weigern. Die Schwiegersöhne schrien. Die
Schwiegersöhne rannten hinaus. Der reiche Mann sandte seine
Sklaven hinter ihnen her. Die Sklaven fingen die fünf Schwiegersöhne.
Sie zogen den fünf Schwiegersöhnen die Hosen aus.
Der reiche Mann sagte zu dem Wasserträger: "Nimm diese fünf
Diener aus meiner Hand. Ich will für dich und deine Frau, welche
meine klügste Tochter ist, das Haus im Garten herrichten lassen.
Jene, deine Diener, können aber von nun ab im Sklavenhof wohnen."
Der Wasserträger sagte: "Ich danke dir. Ich bitte dich aber, mir
für zwei Monate Urlaub zu erteilen, damit ich zu meinem Hause
zurückkehren kann." Darauf fiel dem reichen Manne ein, was seine
Tochter ihm gesagt hatte. Der reiche Mann sagte: "Willst du mir
erzählen, wo du zu Haus bist?"
Der junge Mann sagte: "Ich bin der Sohn reicher Leute. Meine
Eltern starben früh. Ich führte ein annehmliches Leben, bis mir
vor einiger Zeit träumte, ich verlöre mein ganzes Besitztum und
müsse mein Leben als Wasserträger notdürftig fristen. Als ich erwachte,
sagte ich mir, daß es besser sei, wenn ich meinem Schicksal
entgegenreite, und daß ich ein schweres Arbeitsleben je früher um
so leichter kennenlernen müsse. Ich lud viel Geld in die Taschen
eines Eselsackes, schloß mein Haus und ritt, ohne von meinen
Freunden Abschied zu nehmen, fort. Als ich weit gekommen war,
erreichte ich den Nil. Das Wasser des Nils war hoch, und so mußte
ich mit dem bepackten Esel in ein Boot steigen. Unterwegs riß sich
mein Esel los, ich konnte die Kette nicht mehr halten. Der Esel
stürzte ins Wasser und ging mit meinem Gelde unter. Mir aber fiel,
sowie ich am andern Ufer des Nil diese Stadt betrat, mein Traum
ein, und ich begann mich an das Leben eines Wasserträgers zu gewöhnen,
das ich dann führte, bis mich deine Tochter zu ihrem
Manne erkor. Das ist mein Leben, und ich hoffe, daß damit der
schwerste Teil desselben, der mir auch das reichste Gut eingetragen
hat, zu Ende ist. Denn deine kluge Tochter ist von allen Gütern,
die mir jemals zufallen können, das beste."
Als der junge Mann dies erzählt hatte, fiel der reiche Mann ihm
um den Hals und sagte: "Mein lieber Sohn, jetzt erst sehe ich, wie
wahrhaft recht du hast und wie klug meine sechste Tochter ist.
Tue aber, wie es dir paßt. Kehre, wann du es willst, in dein Land
zurück und sieh nach dem Deinen. Gestatte mir nur, daß ich dich
für einige Monate begleite, um deine eigene Heimat kennen und
mich an eurem Glück erfreuen zu können." Der junge Mann sagte:
"Das ist ein schöner Wunsch. Wir können, wenn es dir recht ist,
in wenigen Tagen aufbrechen."
Der reiche Mann stellte eine Karawane zusammen, die nach
wenigen Tagen über den Nil ging. Die fünf ersten Schwiegersöhne
begleiteten die Karawane auf ausdrücklichen Befehl des reichen
Mannes als Diener des sechsten Schwiegersohnes. Als der reiche
Mann mit seinem Schwiegersohn den Nil an der flachen Stelle unterhalb
des Fährbootes durchschritten hatte, beugten sie sich nieder,
um sich im Flusse zu waschen. Dabei aber griff der reiche Mann
das Ende einer Kette, die aus dem Sande des niedrigen Flusses
herausragte. Der Schwiegersohn sah das Ende der Kette in der
Hand seines Schwiegervaters und rief: "Seht doch! Seht doch!"
Der Schwiegervater sagte: "Was hast du, mein Sohn, daß du so
erregt bist?" Der junge Mann sagte: "Oh, mein Vater, was bin ich
glücklich, daß ich dir hier schon die Wahrheit meiner Erzählung
beweisen kann. Dies ist die Kette, die um den Hals des Esels befestigt
war, als er mit meinem Gelde in den Fluß stürzte und versank.
Laß die Kette doch ganz herausziehen." Der Schwiegervater
rief seine Sklaven und die Diener seines Schwiegersohnes herbei.
Alle warfen den Sand beiseite, und zuletzt kam am andern Ende
der Kette unter dem Sand der Kopf des Esels zum Vorschein. Nachdem
man noch weiter gegraben hatte, konnte man den ganzen Leib
des Tieres herausziehen, und da zeigte es sich, daß er noch mit den
Säcken voll Gold und Silber beladen war, in denen nicht ein Piaster
fehlte.
Als die junge Frau das sah, fiel sie ihrem Manne um den Hals
und sagte: "Ich habe mich also nicht geirrt, als ich damals den
Wasserträger heiratete."
Die Karawane setzte ihre Reise fort, bis alle in den Ort des jungen
Mannes kamen. Als er vor sein Haus kam, fand er Diener darin
und Leute. Er sah, daß alles in bestem Zustand war. Seine Freunde
hatten nach seiner stillen Abreise für sein Haus gesorgt, alles instand
gehalten und durch sorgfältige Beaufsichtigung die Besitztümer
des jungen Mannes vermehrt.
So sah der Schwiegervater sogleich, welcher guten Gesellschaft
der Gatte seiner Tochter angehörte, und um diese näher kennenzulernen,
bat er seinen Schwiegersohn, bald eine große Azurne zu
veranstalten. Der junge Mann war hierzu gern bereit und ordnete
mit Hilfe seiner über seine Rückkehr glücklichen Freunde alles aufs
beste an. Die junge Frau bat um die Erlaubnis, daran teilzunehmen.
Die andern fünf Schwiegersöhne des reichen Mannes mußten aber
beim Herumreichen der Platten bedienen.
Der junge Mann hatte alles aufs beste hergerichtet. Es gab ein
ausgezeichnetes Essen und duftenden Scherbett. Während des Essens
beobachtete der reiche Mann sorgfältig die Hände aller Anwesenden
und Gäste. Als die Azurne vorüber war, sagte er zu seiner
Tochter: "Mein Kind, du hast auch darin recht gehabt. Es waren
heute viele schöne Hände eifrig und geschickt beim Essen zwischen
Schüssel und Mund tätig. Keine Hand war aber so geschickt und
so schön, wie die deines Mannes."
19. Magische Flucht
Ein Melik wurde alt, sehr alt, und mit dem Alter wurde er sehr
traurig, denn er hatte keinen Sohn, der nach ihm hätte König
werden können. Eines Tages ging er traurig in seinem Garten umher,
als ein alter Mann kam. Der alte Mann sah, daß jener so
traurig war und sagte: "Melik, sage mir, was dich so traurig macht?"
Der Melik sagte: "Ach, laß es nur! Mir kann niemand helfen."
Darauf sagte der alte Mann: "Weshalb bist du so verzweifelt? Weshalb
willst du nicht mit mir sprechen?" Der Melik sagte: "Mir kann
niemand helfen." Der Alte sagte: "Ich bin ein alter Mann wie du.
Ich bin aber nicht durch die Geschäfte einer Königswürde davon
abgehalten worden, allerhand zu lernen, was sonst den Menschen
unbekannt bleibt." Der alte Melik sagte: "Was willst du aber dagegen
tun, wenn ein König eine Seria (Beischläferin) und eine
Arabia (Ehefrau) hat und doch alt wird, ohne einen Sohn zu erhalten,
der nach ihm Melik werden kann?"
Der alte Mann zog darauf zwei Lemun (Zitronen) aus der Tasche
und sagte: "Wenn du je eine dieser Früchte einer der beiden Frauen,
also eine der Seria und eine der Arabia gibst, so werden beide nach
kurzer Zeit schwanger sein, und die Seria wird einen Sohn, die
Arabia aber eine Tochter gebären. Nur mußt du den Sohn, den die
Seria dir gebiert, mir zurückgeben, sobald er erwachsen ist. Wenn
du damit einverstanden bist, dann nimm diese Zitronen und gib sie
den beiden Frauen." Der Melik war über dieses Angebot sehr erfreut.
Er nahm die beiden Zitronen und ging in den Palast. Er gab
jeder der beiden Frauen eine Zitrone. Die Seria und die Arabia
genossen die Zitronen.
Nach kurzer Zeit waren die Seria und die Arabia schwanger, und
jede trug ihr Kind aus. Als sie aber geboren wurden, war das Kind
der Seria ein Knabe, den der Vater Schatr Mohammed nannte, und
das der Arabia ein Mädchen, das sehr schön war. Beide Kinder
wuchsen heran und waren überall sehr beliebt und angesehen.
Als nun Schatr Mohammed erwachsen war und eines Tages ausritt,
begegnete er einem alten Manne. Der alte Mann redete Schatr
Mohammed an und sagte: "Schatr Mohammed, sage deinem Vater,
dem Melik, daß es nun an der Zeit wäre, mir das zu geben, was er
mir schuldig ist." Schatr Mohammed sagte: "Wenn mein Vater dir
etwas schuldig ist, so wird er sich sicher beeilen, dir das so schnell
als möglich wiederzugeben. Ich werde es meinem Vater sogleich
sagen." Der alte Mann sagte: "Ja, tue dies!" Schatr Mohammed
ritt also heim, suchte den Melik auf und sagte: "Mein Vater, soeben
begegnete mir ein alter Mann, der sprach mich an und sagte: ,Sage
deinem Vater, dem Melik, daß es nun an der Zeit wäre, mir das zu
geben, was er mir schuldig ist!'" Als der König das hörte, wußte
er, daß das der alte Mann war, der ihm dereinst die zwei Zitronen
gegeben hatte und der nun den Sohn der Seria verlangte. Der König
erschrak, und Tränen traten ihm in die Augen.
Als Schatr Mohammed seinen Vater derart traurig und erschrocken
sah, rief er: "Mein Vater, was ist es, was du ihm schuldig
bist? Wenn es Geld ist, können wir es schnell geben, denn wir sind
sehr reich, und wenn dein Reichtum nicht genügt, werden alle Leute
der Stadt dir schnell etwas leihen." Der Melik weinte aber und sprach:
"Es ist kein Geld, mein Sohn! Es ist kein Geld!" Schatr Mohammed
sagte: "Wenn du dem Alten meine Schwester zur Frau versprochen
hast, so werden wir andere schöne Mädchen finden, die
an ihrer Stelle dem Alten gegeben werden können." Der alte König
weinte aber und sagte: "Es ist nicht deine Schwester, mein Sohn!
Es ist nicht deine Schwester!"
Inzwischen verwandelte sich der Alte in einen mächtigen Adler
und flog als Adler über das Schloß des Königs, und er stieg herab
und packte Schatr Mohammed mit den Fängen, hob ihn hoch in die
Luft und trug ihn dann hinweg über die Länder hin an seinen Platz.
An seinem Platze ließ sich der Adler nieder, setzte den Königssohn
auf die Erde und verwandelte sich selbst wieder, so daß er der alte
Mann war. Der alte Mann sagte aber zu Schatr Mohammed: "Erschrick
nicht! Ich will dir nichts Schlimmes antun. Du bist aber
mein Eigentum. Denn einstmals habe ich deinem Vater, als er über
seine Kinderlosigkeit betrübt war, geholfen, so daß seine Seria dich
und seine Arabia deine Schwester gebar. Als Bedingung habe ich
aber gestellt, daß du, wenn du erwachsen sein wirst, mein Eigentum
werden würdest. So habe ich dich denn als mein Eigentum geholt.
Es soll dir nun aber keineswegs schlecht gehen. Vielmehr soll dieser
schöne Park mit dem Schloß und mit allem, was darin ist, dir gehören,
und es soll dir an nichts fehlen, solange du eine Bedingung
einhältst. Diese Bedingung ist aber folgende: Ich gebe dir die
Schlüssel zu allen Gemächern des Palastes, und du darfst alle Gemächer
öffnen und mit ihrem Inhalt nach deinem Belieben verfahren.
Nur jenes Gemach dort in der Mitte, zu dem dieser kleine
Schlüssel gehört, das darfst du nie öffnen. Solange du diese Bedingung
folgsam einhältst, soll es dir hier besser gehen als irgendeinem
andern Menschen, und solange wirst du im Überflusse alles
genießen können, was du wünschest. Aber diese Tür darfst du nicht
öffnen." Damit übergab der Alte dem Jüngling die Schlüssel, führte
ihn in die Räume, die ihm zum Wohnen wohl am besten dienen
konnten und die mit allem ausgerüstet waren, was einen Prinzen
erfreuen kann, und dann verließ er ihn.
Der Alte ging und überließ den Sohn des Melik sich selbst, und der
Sohn des Melik war nun in großer Traurigkeit allein. Nachdem
er sich aber dem Schmerz um den Verlust seines Vaterhauses zur
Genüge hingegeben hatte, begann er, sich in seiner Umgebung umzusehen
und die verschiedenen Teile des Palastes zu besichtigen.
Schatr Mohammed betrachtete alle Räumlichkeiten und schloß mit
den Schlüsseln, die der Alte ihm gegeben hatte, alle Zimmer auf,
bis auf das letzte in der Mitte gelegene. In dem einen fand er Gold,
im zweiten Seide, im dritten Edelsteine, im nächsten Flaschen mit
feinen Wohlgerüchen und so weiter; jedenfalls war das alles so
prächtig und des Reichtums eine solche Fülle, daß Schatr Mohammed
zuletzt bei sich sagte: "Eine solche Fülle von Schätzen habe
ich noch nicht gesehen. Etwas Köstlicheres kann es nicht mehr
geben."
Danach kam Schatr Mohammed aber an die letzte Tür, zu
welcher der Alte ihm auch den Schlüssel, dazu aber das Verbot
gegeben hatte, sie zu öffnen. Schatr Mohammed sah die Tür und
sagte bei sich: "Dieses ist sehr eigenartig. Etwas Köstlicheres als
das, was in jenen Kammern aufgespeichert liegt, kann es nicht
geben; es muß also etwas Absonderliches in jener Kammer sein,
sonst würde der Alte mir den Zutritt nicht verboten haben. Ich
werde jedenfalls die Tür trotz des Verbots einmal öffnen; denn
wenn auch Schlimmes darauf folgt, so ist es mir, nachdem ich
meinem Vaterhause einmal entrissen bin, doch gleichgültig, ob ich
in Armut oder Reichtum lebe. Wenn mich der Alte also zur Strafe
für den Ungehorsam verjagt, ist es nicht so schlimm, dann wandere
ich eben, wenn der Weg auch weit ist, zur Stadt meines Vaters
zurück."
Schatr Mohammed nahm also den kleinen Schlüssel und öffnete
die Tür. Da sah er einen weiten Raum. In seiner Mitte hing, mit
den Haaren an der Decke festgebunden, ein wunderschönes Mädchen.
Zur einen Seite war ein Pferd mit sieben Ketten angefesselt,
dem war als Nahrung ein Becken mit Blut vorgesetzt, und zur
andern Seite war mit sieben Ketten ein Löwe festgebunden, dem
war als Futter ein Bündel duftendes Heu hingelegt. Sonst aber war
der ganze Boden mit einer dicken Schicht alter und frischer abgeschnittener
Köpfe junger Burschen bedeckt, und deren Blut war
über alles hin und auch zu den Wänden hinauf verspritzt. Schatr
Mohammed erschrak bei diesem Anblick zuerst, dann aber ging er
über die Köpfe weg zu dem Mädchen und schnitt sie von der Decke
ab. Er trug sie hinaus aus dem Raume und legte sie draußen auf
einen Teppich. Danach ging er zurück und tauschte das Heu des
Löwen mit dem Blutbecken vor dem Pferd aus. Beide Tiere waren
über die Maßen dankbar und ließen sich, ohne sich zu wehren, von
der Fessel der sieben Ketten befreien und hinausführen.
Als er hinauskam, war das Mädchen zu sich gekommen. Es fiel
dem Sohne des Melik zu Füßen und sagte: "Schatr Mohammed, ich
danke dir!" Schatr Mohammed sagte: "Was, du kennst meinen
Namen?" Das schöne Mädchen sagte: "Ich weiß schon lange, daß
nur Schatr Mohammed imstande sein wird, mich zu retten. "Das
Pferd begann aber zu sprechen und sagte: "Es ist nicht Zeit jetzt
zu sprechen; wenn wir dem Alten entrinnen wollen, müssen wir
uns vielmehr sehr eilen. Sieh, mein Schatr Mohammed, nur die
Köpfe aller an, die den Boden des Raumes bedecken, in dem du uns
fandest. Sie sind alle von dem Alten jungen Leuten abgenommen
worden, die wie du diese Tür geöffnet haben. Also eile dich, daß
wir entkommen. Gehe in jene Kammer und nimm den Sattel und
das Zaumzeug heraus, um mich zu zäumen. Gehe in jene Kammer,
nimm Sarad (Eisenkettenhernd), Chodre (Eisenheim) dazu, Dirra
(Eisenkettenbeinbehang) und Saef (Schwert) heraus. Zieh den
Schlüssel von der Kammer. Besteige dann mit dem schönen Mädchen
meinen Rücken und suche so wenigstens abzureiten, ehe der
alte böse Mann zurückkehrt."
Schatr Mohammed tat sogleich, wie ihm geheißen. Er sattelte
das Pferd, legte sich alle Waffen an, schloß die Kammer ab, hob
das schöne Mädchen herauf und ritt dann, so schnell er konnte, von
dannen. Der Löwe lief aber neben ihm her. Als sie gerade zum
einen Tor des Parkes herausritten, kam zum andern der Alte mit
zwei andern jungen Männern an, die er eingefangen und deren
Köpfe er für die Kammer bestimmt hatte. Das Pferd und der Löwe
liefen so schnell sie vermochten.
Nach einiger Zeit sagte das Pferd zu Schatr Mohammed: "Sieh
dich nach dem um, was es gibt! Der Alte hat entdeckt, daß du die
Kammer geöffnet und uns geraubt hast." Schatr Mohammed
wandte sich im Sattel um. Er sah ganz weit in der Ferne den Alten
laufen. Der Alte lief aber sehr schnell und kam immer näher.
Nach einiger Zeit sagte das Pferd zu Schatr Mohammed: "Sieh
dich nach dem um, was es gibt!" Schatr Mohammed wandte sich
im Sattel um. Er sah, daß der Alte gar nicht mehr weit entfernt
war. Schatr Mohammed sagte: "Der Alte ist uns schon ganz nahe."
Darauf reichte das Pferd Schatr Mohammed einen Moscht (Kamm)
und sagte: "Nimm diesen Kamm und wirf ihn hinter dich!" Schatr
Mohammed nahm den Kamm und warf ihn hinter sich. Es entstand
daraus ein großer dichter Wald hinter dem Pferd und vor dem
Alten. Es war ein dichter Buschwald, und dem Alten wurde es
schwer weiterzukommen. Das Pferd lief aber schnell weiter und
war schon weit entfernt, als der Alte endlich durch den Wald hindurchgekommen
war.
Nach einiger Zeit sagte das Pferd wieder zu Schatr Mohammed:
"Sieh dich nach dem um, was es hinter dir gibt!" Schatr Mohammed
wandte sich im Sattel um. Der Königssohn sah, daß der Alte
gar nicht mehr weit entfernt war. Schatr Mohammed sagte: "Der
Alte ist nun schon ganz nahe." Darauf reichte das Pferd Schatr
Mohammed ein Stück Glas (gathath) und sagte: "Nimm dieses
Stück Glas und wirf es hinter dich!" Schatr Mohammed nahm das
Glasstück und warf es hinter sich, als der Alte schon ganz dicht
hinter dem Pferde war. Es entstand aber sogleich ein weites Feld;
das war bedeckt mit scharfen Glassplittern. Das Glassplitterfeld
dehnte sich weit aus zwischen dem Alten und dem Pferde. Der Alte
betrat das Glasfeld. Die Glassplitter schnitten ihm in die Füße. Er
konnte nur schwankend, fallend und langsam darübergehen. Das
Pferd lief aber schnell weiter und war schon sehr entfernt, als der
Alte endlich mit zerschnittenen Gliedern über das Glassplitterfeld
hinweggekommen war.
Nach einiger Zeit sagte das Pferd wieder zu Schatr Mohammed:
"Nun sieh dich noch einmal nach dem um, was es hinter dir gibt!"
Schatr Mohammed hob sich im Sattel, blickte zurück und sah, daß
der Alte doch wieder ganz nahe herangekommen war. Schatr
Mohammed sagte: "Eile dich! Eile! Der Alte ist wieder da!" Das
Pferd reichte aber dem Königssohn ein Stück Sabun (Seife) und
sagte: "So wirf dies schnell hinter dich!" Schatr Mohammed nahm
die Seife. Schatr Mohammed warf sie in dem Augenblick, als der
Alte nach dem Pferde greifen wollte, zwischen das Pferd und den
Alten. Darauf wurde die Seife zu einem breiten Flusse. Der trennte
das Pferd und den Alten, so daß der Alte wieder weit fort war. Der
Alte trat in das Wasser. Er glitt auf dem Flußbett aus und stürzte
hin. Er stand auf und ging weiter. Er fiel wieder hin. Er wollte
schwimmen. Er kam weiter in das Wasser. Zuletzt aber, als er
mitten im Flusse war, konnte er sich nicht mehr oben halten. Der
Alte ging unter.
Schatr Mohammed ritt aber auf dem Pferd weiter. Der Löwe lief
voraus.
(Von nun an geht die Legende in eine Gorobaform [siehe oben Anmerkung
S. 172] über. Und zwar ist die erzählte Variante folgende:)
Mohammed kommt an eine große Stadt. Das Pferd rät ihm, zwei
Haare der Mähne auszureißen und sie gelegentlich, wenn er
des Pferdes bedürfe, zu verbrennen, im übrigen aber seine Eisenrüstung
auf seinem Rücken festzubinden und als armer Mann in
die Stadt zu gehen. Von dem schönen Mädchen ist nicht mehr die
Rede. Nachdem das Pferd in die Wüste gelaufen ist, betritt Mohammed
die Stadt und wird gegen Beköstigung Gehilfe des Obergärtners
des Melik. Am folgenden Freitag soll, als alle Welt beim Gebete
abwesend ist, Mohammed den Garten hüten. Im Palaste sieht die
jüngste der sieben Meliktöchter den "schmutzigen Gärtnerburschen"
sich baden, dann die Pferdehaare verbrennen, das Pferd kommen,
die stattliche Ausrüstung Mohammeds, der nun kreuz und quer den
Garten durchreitet und alle Beete zerstört. Sie sieht auch, wie
Mohammed die Eisenpracht wieder ablegt, das Pferd entläßt,
dann sich selbst bindet und als "schmutziger Gärtnerbursche" mißhandelt
wird, weil er nicht angeben kann, wer der fremde Reitersmann
war, der den Garten verwüstet hat und dann den Gärtnerburschen
band. Die jüngste Meliktochter verhindert zwar, daß der
Bursche vom Obergärtner mit sieben extra geschnittenen Stöcken
geschlagen wird, auch sendet sie nun alltäglich Entenbraten und
gute Speisen, Mohammed erhält aber nur allerkümmerlichste Nahrung.
Eines Tages geht nun die Prinzessin mit den älteren sechs
Schwestern im Garten spazieren und läßt von ihren Sklaven sieben
reife Wassermelonen, die auf Mohammeds Beet stehen, abschneiden
und sie ihrem Vater als Sendung seiner Töchter vorlegen. Der
König weiß zunächst nicht, was das bedeuten könne, bis der Wesir
ihn darüber aufklärt, daß seine Töchter dadurch ihre Ehereifheit
andeuten wollen. Darauf erfolgt dann die Vorführung aller Vornehmen,
aus deren Kreis die sechs ältesten Meliktöchter durch Zuwurf
der Taschentücher ihre Gatten erwählen, während die jüngste
auch die Anwesenheit der niederen Leute fordert, unter denen sie
den Gärtnerburschen erwählt. Somit erfolgt die große Hochzeit und
herrliche Ausstattung der älteren sechs Töchter und die Verstoßung
der jüngsten und ihres Gatten ins Sklavenlager.
Der Melik erkrankt im Gram über die schmähliche Gattenwahl
seiner jüngsten Tochter, und die Ärzte erklären, daß nur die Milch
junger Gazellen ihn retten könne. Die sechs vornehmen Schwiegersöhne
reiten nun auf stolzen Rossen großartig zur Jagd hinaus,
während der verachtete Mohammed auf einem elenden Klepper
unter Gespött von dannen trottet. Die sechs vornehmen Schwiegersöhne
sind erfolglos. Mohammed zaubert aber mit den Pferdehaaren
ein Zeltlager in die Wüste, läßt durch den Löwen alle möglichen
Tiere einfangen, zumal weibliche Gazellen, und empfängt die auf
der Heimkehr befindlichen sechs Schwäger als ein diesen unbekannter
Fürst. Auf ihre Bitten gibt er ihnen, wenn auch schlechte,
Gazellenmilch, stempelt sie dagegen mit seinem Chatu, das heißt
Brandsiegel, auf der rechten Hinterbacke. Der Brandstempel lautet:
"Das ist mein Sklave von meines Großvaters Zeiten her." Die sechs
vornehmen Schwiegersöhne kehren heim und bringen ihre Milch;
sie hilft nicht. Schatr Mohammed aber kommt auf elendem Pferde
hinterher mit der von den Ärzten sogleich als gut empfohlenen
Milch, die zwar nur zögernd angenommen wird, weil sie von dem
"elenden Gärtnerburschen" kommt, die aber sogleich wirkt. Trotzdem
steigt Mohammeds Ansehen nicht. Nur die eigene Gattin, die
ihn ja seinerzeit im Garten hat reiten sehen, ehrt ihn schweigend
hoch.
Eines Tages erfolgt der Einfall eines fremden Fürsten. Die sechs
vornehmen Schwiegersöhne reiten mit den Edlen hinaus zum
Kampf. Mohammed folgt in jämmerlichem Aufzuge und viel verspottet
dem Zuge. Die Edlen und Vornehmen werden fast geschlagen
und sind in arger Bedrängnis, als endlich Mohammed, der
an entfernter Stelle Pferd und Waffen gewechselt hat, auftaucht und
durch seine glänzenden Heldentaten die fast verlorene Schlacht
rettet. Ehe der unbekannte Retter aber noch nach Namen und Herkunft
befragt werden kann, ist er verschwunden. Stolz und vornehm
und prahlend ziehen die sechs Schwiegersöhne heim, während
Mohammed, wieder arg verspottet, hinterherhinkt.
Am zweiten Tage spielen sich die Vorgänge ganz ebenso ab,
ebenso auch am dritten.
Am dritten reitet der Melik selbst mit seinen Vornehmen hinaus
und sieht nun die Vorgänge, erst die schlechte Stellung der fast
geschlagenen Vornehmen, dann das plötzlich siegreiche Auftreten
des allen unkenntlichen Schatr Mohammed. Der Melik ist nun
aber unbedingt willens, seinen Retter kennenzulernen, und als
der endgültige Sieg gewonnen ist, schlägt er selbst ihm mit der
Schwertspitze am Arme eine Wunde und bindet sein eigenes
Taschentuch darum. Die Vornehmen kehren heim und prahlen
über ihre Leistungen. Der Melik erklärt aber, nur den könne er als
Helden (Fans) und seinen Nachfolger anerkennen, der imstande
sei, die Armwunde und sein Taschentuch vorzuzeigen.
Auch zu seiner jüngsten Tochter, die mit Mohammed im Sklavenviertel
untergebracht ist, dringt das Gerücht von dieser Erklärung
des Melik. Mohammed ist wie immer lange nach den andern, armselig
und verspottet angekommen. Ermüdet hat er sich hingelegt
und schläft. Die Tochter des Melik sieht seine blutende Armwunde
und erkennt das Taschentuch ihres Vaters. Sie läuft hin und ruft
ihre Mutter. Diese will die so gut wie verstoßene Tochter erst kaum
anhören, geschweige denn ihr glauben, sie kommt aber zum Schluß
doch mit hinüber und überzeugt sich von dem Tatbestand. Darauf
geht die Frau des Melik zu ihrem Gemahl, überredet diesen, der
ihre Aussagen erst als Zeichen von Verrücktheit erklärt, doch in das
Sklavenhaus hinüberzukommen und zeigt ihm sein Taschentuch
und Mohammeds Armwunde.
Der Melik sinkt am Lager des schlafenden Mohammed auf die
Knie und weckt ihn durch seine Tränen und Entschuldigungsbitten.
Mohammed wird nun in großen Ehren mit seiner Gattin eigentlich
erst verheiratet, und dabei werden die sechs vornehmen Schwiegersöhne
durch das Brandsiegel als Sklaven Mohammeds enthüllt.
Mohammed soll Melik werden. Er erklärt aber, selbst anderweitig
gleiche Rechte und Pflichten zu haben, kehrt mit seiner Gattin heim
und löst seinen alten, tiefbeglückten Vater in Amt und Würden ab.
20. Die tapfere Fatma*
Ein reicher Mann nahm einem andern auf unehrliche Weise das
Geld ab und brachte ihn dann auch noch um seinen Sohn. Der
Verarmte mußte für den Reichen arbeiten, um überhaupt das tägliche
Essen für sich und seine drei Töchter zu finden. Eines Tages
rief der Reiche den Verarmten und sagte: "Folge mir in eine Stadt.
Du hast drei Töchter. Ich kenne drei junge Männer, denen ich sie
zur Frau geben möchte. Ich werde dabei verdienen und dir von dem
Verdienst abgeben. Komm, wir wollen in die andere Stadt gehen
und die Angelegenheit mit den drei jungen Männern besprechen."
Der Verarmte sagte: "Ich muß tun, was du willst. Ich komme mit
dir!"
Beide machten sich auf den Weg. Der Verarmte nahm aber ein
Fas (Wanderbeil) mit. Dann kam er mit dem Reichen zusammen
und sagte: "Ich bin bereit, mit dir zu gehen." Der Reiche sagte:
"Wozu brauchst du das Fas ?" Der Verarmte sagte: "Ich will damit
unterwegs, wenn es nötig wird, Äste und Früchte abschlagen, deren
Zeit gekommen ist." Der Reiche sagte: "Wie meinst du das?" Der
Verarmte sagte: "Wenn dir ein Zweig im Wege ist, schlägst du ihn
doch ab und hältst seine Zeit für gekommen." Der Reiche sagte:
"So ist es!" Der Verarmte sagte: "Wenn du nachts im Freien
lagerst, suchst du doch Zweige für eine Hütte, läßt sie abschlagen
und hältst ihre Zeit für gekommen." Der Reiche sagte: "So ist
es!" Der Verarmte sagte: "Wenn dich unterwegs friert und du ein
Feuer haben willst, schlägst du doch Zweige ab und hältst ihre Zeit
für gekommen." Der Reiche sagte: "So ist es!" Der Verarmte
sagte: "Warum fragst du also nach dem Fas? Du weißt, daß uns
immer ein Zweig im Wege sein kann!" Dann gingen der Reiche
und der Verarmte zusammen von dannen.
Im Busch ging der Verarmte hinter dem Reichen her. Der Verarmte
sagte: "Dieser reiche Mann hat mich um meinen Wohlstand
gebracht. Dieser reiche Mann hat mich um meinen Sohn gebracht.
Dieser reiche Mann hat mich um meine Freiheit gebracht. Dieser
reiche Mann will mich um meine Töchter bringen, die gute Mädchen
sind. Dieser reiche Mann ist ein Zweig, der mir im Wege ist. Dieser
reiche Mann soll mir aber nicht mehr im Wege sein. Seine Zeit ist
gekommen. Ich will für mich und meine Töchter eine Hütte haben.
Deshalb will ich den Ast abschlagen. Seine Zeit ist gekommen. Ich
will für mich und meine Töchter ein Feuer haben und will deshalb
diesen Ast abschlagen. Seine Zeit ist gekommen." Der Verarmte
rief den Reichen an. Der Reiche wandte sich um. Der Verarmte
sagte: "Deine Zeit ist gekommen. Du wirst nun abgeschlagen."
Der Reiche schrie: "Oh, laß mich!" Der Verarmte erschlug ihn
aber mit dem Fas.
Der Verarmte begrub den Toten, nachdem er ihm die reichen
Kleider ausgezogen hatte, und ging mit diesen in die Stadt, in der
die drei jungen Männer wohnten, an die der Reiche die Töchter des
Verarmten verschachern wollte. Der Verarmte gab ihnen die Kleider
des Reichen und sagte, daß der Reiche gestorben sei und deshalb
aus der ganzen Sache nichts werden würde. Dann machte sich
der Verarmte auf den Heimweg.
Als der Verarmte an die Stelle kam, an der er den Reichen erschlagen
hatte und an der dessen Blut auf die Erde geflossen war,
fand er da eine wundervolle große Wassermelone aufgewachsen.
Der Verarmte betrachtete die Melone und sagte: "Diese Frucht ist
so schön, daß ich sie meinem Sultan als Geschenk mitbringen
werde." Der Verarmte nahm die Melone also auf und mit in die
Stadt, in der er wohnte. Am andern Tag brachte er die Melone
seinem Sultan. Dieser war erfreut und gab den Auftrag, die Frucht
sogleich aufzuschneiden. So wurde sie zum Koch des Sultans gebracht.
Als der nun die Frucht aufschnitt, fand er, daß Blut herausströmte.
Darauf erschrak der Koch und lief zum Sultan und zeigte
ihm die Frucht, aus der das Blut herausströmte. Der Sultan ließ
nun den Verarmten zurückrufen und sagte ihm: "Du brachtest mir
eine schöne Wassermelone als Geschenk. Als mein Koch sie aufschnitt,
fand er, daß nur Blut herausströmte." Der Verarmte sagte
nichts. Der Sultan sagte: "Sage mir sogleich die ganze Wahrheit
oder aber ich lasse dich töten."
Der Verarmte sagte: "Weshalb soll ich nicht die Wahrheit sagen?
Du weißt, daß der reiche Mann mir alles, was ich besaß, nahm. Du
weißt, daß er mir meinen Sohn nahm. Du weißt, daß ich für ihn
arbeiten mußte, um meinen Unterhalt zu erwerben. Nun wollte er
mich zwingen, meine drei Töchter an fremde Leute zu geben, damit
er davon einen Vorteil habe, und er nahm mich mit sich, um in
meiner Gegenwart das Geschäft abzumachen. Sieh, Herr! Da habe
ich ihn unterwegs totgeschlagen und habe dann den drei Männern,
denen er meine drei Töchter verhandeln wollte, seine blutigen Kleider
gebracht. Wie ich aber zurückkam, fand ich an der Stelle, an
der das Blut des reichen Mannes in den Sand gesickert war, diese
Melone, die ich dir brachte. Das ist alles, Herr!" Als der Sultan
das hörte, sagte er: "Ich werde dich für den Totschlag, den du begangen
hast, töten lassen." Er winkte aber seinen Leuten, und die
banden den Verarmten und führten ihn ins Gefängnis.
Die Leute sprachen auf der Straße: "Der Reiche hat des Verarmten
drei Töchter verkaufen wollen. Da hat der Verarmte den
Reichen totgeschlagen, und der Sultan will ihn nun hinrichten
lassen." Die Leute sprachen das so, und die drei Töchter des Verarmten
hörten die Leute untereinander sprechen. Fatma, die
älteste, sagte zu ihren andern Schwestern: "Wenn ihr die Leute
beachtet, werdet ihr sehen, daß sie etwas über uns reden, denn sie
schauen auf uns und unser Haus und gehen auseinander, wenn sie
merken, daß wir kommen oder hinschauen. Ich werde aber selbst
danach sehen." Darauf warf Fatma ein Tuch um und ging auf den
Markt. Die Leute sprachen untereinander und Fatma hörte, wie sie
sagten: "Der Reiche hat die drei Töchter des Verarmten verkaufen
wollen, da hat der Verarmte den Reichen totgeschlagen, und der
Sultan will ihn nun hinrichten lassen."
Als Fatma das hörte, machte sie sich sogleich auf den Weg und
ging zum Sultan. Und als sie vor dem Sultan stand, sagte sie:
"Sultan! Töte meinen Vater nicht, denn das sage ich dir: um unsert seiner
Töchter willen, hat unser Vater den Reichen totgeschlagen.
Wenn du ihn also deswegen töten lassen willst, wirst du durch
unsere, seiner Töchter Hand getötet werden!" Der Sultan lachte
aber und sagte: "So willst du wohl den Krieg mit mir beginnen?"
Fatma aber sagte: "Wenn du unsern Vater tötest, wirst du in der
Tat gegen Frauen kämpfen müssen." Der Sultan sagte: "Ich bin
ein Mann und fürchte keine Frauen." Fatma sagte: "Wir werden
sehen, wer früher stirbt: unser Vater oder du!" Dann ging Fatma
in die Stadt. Sie kaufte Waffen, lieh Pferde, ging bei den Freundinnen
umher und fand noch sieben Mädchen, die bereit waren,
gegen den Sultan um den Gefangenen zu kämpfen.
Der Sultan ließ aber am andern Tage die Tore der Stadt öffnen
und den Gefangenen hinausführen, um ihn draußen auf einem
Hügel hinrichten zu lassen. Der Sultan selbst ritt in einiger Entfernung
hinter dem Gefangenen her. Als der Gefangene an den
Ort gebracht war, legte man Matten und Kissen hin; der Sultan ließ
sich darauf nieder, um der Hinrichtung zuzusehen. Rund herum
stand aber des Sultans Wache. Der Sultan ließ dem Gefangenen
noch einmal sagen, weshalb er hingerichtet werden müsse und gab
dann das Zeichen der Vollstreckung. Alle Leute aber, die außen
standen und besonders die Reiter, wandten den Kopf vom Sultan
und seinem Gefangenen ab und der Stadt zu. Der Sultan wurde
ärgerlich darüber, daß man seinen Befehl nicht schnell ausführe
und sagte: "Macht schnell! Tut, was ich euch sagte! Was gafft
ihr da!" Darauf trat der Oberste seiner Reiter zu ihm und sagte:
"Von der Stadt her kommen zehn Frauen auf Pferden und mit
Waffen. Die treiben das Volk auseinander und werden gleich hier
sein!"
Der Oberste der Reiter hatte noch nicht ausgesprochen, da hörte
man Schreie und Waffenklirren, und als der Sultan sich erhob und
auf sein Pferd gestiegen war, sah er, daß die zehn Mädchen nach
allen Seiten die Reiter auseinander getrieben hatten und über Tote
hinwegritten. Der Sultan sah aus der Ferne das Gesicht der ersten
Reiterin. Sie war hoch gewachsen und stark. Das Kleid war ihr
herabgeglitten. Sie schlug mit den starken Armen nach beiden
Seiten, und ihr Schwert tötete hier einen Mann und da einen Mann.
Der Sultan sah, daß das Mädchen schön und daß es Fatma war.
Er erschrak, denn er sah, daß sie stärker war als seine Reiter. Er
befahl, den Gefangenen schnell wieder zur Stadt zu bringen, und ritt
auch eilig dahin zurück.
Die Leute brachten den Sultan und den Gefangenen fort. Die
Leute flüchteten schnell in die Stadt. Die Reiter fochten lange gegen
die Mädchen. Die zwei Schwestern Fatmas fielen im Kampf. Als
der Sultan in der Stadt sicher war, folgten ihm auch die Soldaten.
Die Soldaten flohen vor Fatma, die noch viele tötete. Sie flohen in
die Stadt und schlossen das Tor hinter sich. Als Fatma aber an das
geschlossene Tor kam, rief sie in die Stadt: "Ich gehe für einige Zeit
fort. Sorgt, daß wenn ich wiederkomme, mein Vater noch am Leben
ist, sonst lasse ich es die ganze Stadt büßen." Als der Sultan das
hörte, erschrak er sehr und sagte: "Laßt den Gefangenen im Gefängnis.
Tut ihm aber nichts Übles, sondern haltet ihn gut, denn
diese Fatma ist schrecklich!"
Fatma kehrte aber mit ihren sieben Freundinnen um. Die Mädchen
begruben Fatmas Schwestern. Dann sagte Fatma: "Hört,
meine Freundinnen! Wir wollen in fremde Länder ziehen. Wir
wollen starke Familien gewinnen und wollen mit denen hierher
zurückkommen und die Stadt erobern. Fürs erste wollen wir aber
unsere Pferde und Waffen zurücklassen und unsere Wanderung
antreten." Die sieben Freundinnen sagten: "Wie du es willst, soll
es geschehen." Darauf stachen sie an dem Grabe der beiden
Schwestern ihre Pferde tot, legten ihre Waffen nieder und gingen
zu Fuß weiter.
Fatma wanderte mit ihren Freundinnen weit weg. Sie wanderten
viele Tage. Dann kamen sie zu einem alten Rai (Hirten), der lag
unter einem Baum im Schatten. Der Hirte war ein sehr alter Mann,
und als er Fatma gesehen hatte, sagte er: "Falini! Lause mich!
Komm her und suche mir die Läuse (gammel) aus dem Haar."
Fatma setzte sich zu dem Alten und sagte: "Mein Alter, ich will
tun, was du wünschst!" Fatma nahm den Kopf des Alten auf den
Schoß und lauste ihn. Als sie damit fertig war, sagte sie: "Mein
Alter, wie kann man es doch machen, daß man dir die Haut vom
Körper zieht?" Der Alte sagte: "Das ist sehr einfach. Man muß
Schog (Dornen) in meine Kopfhaut stecken und die Haut dann
herabstreifen." Danach schlief der alte Hirte im Schoße Fatmas ein.
Fatma rief ihre Freundinnen herbei und sagte leise zu ihnen:
"Bringt mir doch Schog her." Darauf brachten die Freundinnen
Dornen. Fatma steckte sie in die Kopfhaut des Alten und zog ihm
dann langsam die ganze Haut ab. Als das geschehen war, zog
Fatma die Haut selbst über. Vorher war sie ein schönes junges
Mädchen gewesen, nun aber sah sie aus wie ein alter häßlicher
Mann.
Fatma nahm aus der Herde des Hirten zwei Schafe, ging mit ihren
Freundinnen weiter und kam nach langer Zeit zu einer Frau, das
war eine Gula. Die Gula sagte: "Kommt, ihr Leute, ich werde euch
eine Assida (Speise) bereiten! Setzt euch nur! Ich werde euren
Hunger stillen! Kommt und setzt euch!" Die acht Mädchen setzten
sich. Die Gula ging in ihr Haus. Sie nahm die Knochen der Leute,
die sie aufgefressen hatte, und rieb sie auf Steinen zu Mehl. Fatma
aber folgte ihr heimlich und sah, was die Gula tat. Sie schlich sich
zu ihren Genossinnen zurück und sagte: "Wir sind hier, wie ich
sehe, bei einer Gula. Wir dürfen nichts von der Speise, die sie uns
reicht, genießen." Die andern Mädchen sagten: "Wie sollen wir
aber hier wieder fortkommen?" Fatma sagte: "Laßt mich nur
machen. Wir haben noch die gerösteten Schenkel der Hammel des
Hirten bei uns, brauchen also das Essen der Frau nicht. Ich werde
schon mit der Gula alles ordnen."
Nach einiger Zeit hatte die Gula die Assida bereitet. Sie brachte
sie und sagte: "Hier, ihr Leute, eßt nur, denn ihr müßt hungrig
sein!" Fatma sagte: "Ich danke dir! Nun bitten wir dich, uns
Wasser zum Trinken zu bringen. Wir können allerdings, unserer
Sitte nach, nur aus einem Siebe (rurban) trinken. Bring uns also
bitte, damit wir uns sättigen können, Wasser in einem Rurban."
Die Alte ging. Als die Gula gegangen war, sagte Fatma: "Kommt
nun und lauft schnell mit mir von dannen, damit wir weit genug
fort sind, wenn das Sieb gefüllt ist." Fatma und die Mädchen liefen
so schnell sie konnten von dannen.
Fatma und die sieben Mädchen liefen, bis sie an den Nil kamen.
Sie wußten aber nicht, wie sie über den Nil hinwegkommen sollten.
Es lag da nun ein Krokodil (timsa), das sonnte sich. Fatma ging
zu ihm und sagte: "Mein Krokodil, wir haben hier die gerösteten
Schenkel zweier Schafe. Wenn du uns acht Mädchen über den Nil
bringen willst, wollen wir mit dir gern unser Essen teilen." Das
Krokodil sagte: "Steigt nur auf meinen Rücken. Wenn ihr mir ein
wenig zu essen gebt, will ich euch gern ans andere Ufer des Nils
bringen." Darauf stiegen alle acht Mädchen auf den Rücken des
Krokodils, und dieses schwamm mit ihnen von dannen. Nach einiger
Zeit wandte das Krokodil seinen Kopf um. Fatma saß in der Haut
des alten Mannes am weitesten vorn und steckte dem Krokodil einen
Schenkel des Schafes in den geöffneten Rachen. Das Krokodil
schlang ihn hinunter, schwamm ein wenig weiter und wandte seinen
Kopf wieder zurück. Darauf gab ihm Fatma den zweiten Schenkel
eines Schafes, und so ging es weiter, bis sie am andern Ufer waren.
Da stiegen die Mädchen an das Ufer, bedankten sich und begaben
sich mit dem Rest des Hammelfleisches ans Land.
Die Gula hatte inzwischen Wasser in das Sieb gegossen, um es
darin den acht Mädchen zu bringen. Sie war aber nur einige Schritte
weit auf die Mädchen zugegangen, da war alles herausgeflossen,
und sie kehrte zurück, um das Sieb aufs neue zu füllen. Sooft die
Gula aber auch das Sieb füllte, immer floß das Wasser wieder unten
heraus. Endlich wurde die Gula wütend und sagte: "Dieser alte
Mann und die sieben Mädchen betrügen mich. Niemand kann
Wasser in einem Sieb tragen." In großem Zorn kam die Gula also
dahin gelaufen, wo vorher die Mädchen gesessen hatten. Sie sah sie
aber nicht, wohl aber die Spuren, die sie bei der Flucht zum Nil hin
in den Sand getreten hatten. Nun erkannte die Gula noch deutlicher,
daß sie genarrt war, ergriff einen dicken Stock und rannte
der Spur nach zum Nil hin.
Als die Gula an das Ufer kam, sah sie Fatma in der Haut des
alten Mannes und die sieben Mädchen weit fort auf dem andern
Ufer laufen; vor ihr aber lag das Krokodil und sonnte sich. Die
Gula sagte zum Krokodil: "Wie sind der alte Mann und die sieben
Mädchen über den Nil gekommen?" Das Krokodil sagte: "Ich habe
sie hinübergetragen." Die Gula sagte: "Dann trage mich nur auch
schnell hinüber!" Das Krokodil sagte: "Dann steige auf meinen
Rücken." Die Gula stieg auf den Rücken des Krokodils, und dieses
schwamm vom Ufer ab. Nach einiger Zeit wandte es den Kopf
herum und öffnete den Rachen. Das Krokodil dachte, es würde
von der Gula nun auch einen Hammelschenkel erhalten. Als die
Gula aber den geöffneten Rachen sah, schlug sie dem Krokodil auf
die Schnauze und sagte: "Schwimme schnell zu, sonst entrinnen
mir der alte Mann und die sieben Mädchen." Das Krokodil
schwamm ein Stück weiter, bis es in der Mitte des Flusses war.
Dann wandte es wieder den Kopf zurück und öffnete den Rachen.
Die Gula schlug sie jedoch abermals auf die Schnauze und sagte:
"Schnell! Schnell! Eile dich, damit mir diese Leute nicht entgehen."
Da erkannte das Krokodil, daß es von der Gula kein Essen
zu erwarten habe, und in seinem Zorn über die getäuschte Hoffnung
tauchte es unter und nahm die Gula mit in die Tiefe. So kam
die Gula um.
Fatma in der Haut des alten Mannes und die sieben Mädchen
waren inzwischen auf das hohe Ufer gekommen und fanden da in
den Felsen eine Höhle, in der gerade acht Menschen Platz hatten,
wenn einer sich in dem Eingang lagerte. Fatma legte sich in der
Haut des alten Mannes in den Hintergrund, und neben ihr streckten
sich die andern sieben Mädchen aus, so daß die letzte am Ausgang
lag. So schliefen sie die Nacht durch bis zum andern Morgen.
Nun waren grade in dieser Nacht der Sohn des Sultans dieses
Landes und sieben Söhne der angesehensten Herren auf der Jagd.
Gegen Morgen kamen die jungen Leute nun so auseinander, daß
die sieben jungen Leute den Sohn des Sultans aus den Augen verloren.
Als sie das wahrnahmen, hielten sie an, ließen ihre Pferde
grasen und zerstreuten sich, um den Sohn des Sultans zu suchen.
Die sieben Pferde aber, die sich selbst überlassen waren, grasten
langsam in der Richtung auf die Berge zu und kamen mit Sonnenaufgang
zu der Höhle, in der Fatma und die sieben Mädchen
schliefen. Das Mädchen, das am Eingang schlief, wachte auf, als
ein Pferd seinen Kopf hineinsteckte. Das Mädchen erschrak, nahm
einen Stein, schlug das Pferd auf die Nase und warf ihn, als es
davonrannte, dem Tiere nach. Hierdurch aufgescheucht, rannten
die sieben Pferde von dannen und auf ihre Herren zu. Die sieben
Jünglinge aber sahen ihre Pferde daherstürmen und sagten: "Es
muß etwas da am Berg sein, das die Tiere aufgescheucht hat. Wir
wollen einmal nachsehen."
Die sieben jungen Männer gingen also zum Berg, sahen im Lichte
der aufgehenden Sonne die Höhle und bemerkten nun die Mädchen,
die sich darin aufhielten. Nun hatten die jungen Leute in diesem
Land damals keine Mädchen, die sie hätten heiraten können. Somit
war ihre Freude, als sie die Bewohner der Höhle sahen, sehr
groß. Die Mädchen ihrerseits sahen, daß die jungen Männer zwar
erstaunt waren, junge weibliche Wesen in diesem Lande zu finden,
daß sie sich aber außerordentlich sittsam und als Söhne angesehener
und wohlhabender Väter benahmen. Also kamen alle sieben Mädchen
heraus, und jede war gern bereit, sich von einem der jungen
Männer zuerst aufs Pferd heben zu lassen und ihm dann in seine
Stadt zu folgen. Die Jünglinge ihrerseits sprachen mit Freuden von
den Hochzeitsfesten, die ihre Väter ihnen veranstalten würden. Sie
machten sich auf, die hier doppelt geschätzte Beute mit heimzunehmen,
als auch der Sohn des Sultans ankam.
Der Sohn des Sultans rief: "Meine Freunde, was habt ihr da für
eine merkwürdige Jagdbeute!" Die sieben Jünglinge sagten: "Sieh,
Herr! Wir fanden gerade sieben Mädchen, die aus einem andern
Land hierhergeflohen sind und die nun unsere Gattinnen werden."
Der Sohn des Sultans sagte: "Ich kann euch hierzu nur Glück
wünschen. Weshalb seid ihr Mädchen denn aber hierhergeflohen?"
Die Mädchen sagten: "Wir haben gegen Reiter gekämpft und viele
erschlagen. Dann sind wir weitergezogen und sind hierhergekommen."
Der Sohn des Sultans sagte: "Meine sieben Freunde
haben ihr Glück gemacht. Nun bin ich zu spät gekommen." Das
eine der Mädchen aber rief den Sultanssohn heran und sagte ihm:
"Sieh dich nur gründlich in der Höhle um; wenn du noch etwas erbeutest,
ist es sicherlich nicht das schlechteste von allem."
Der Sohn des Sultans sprang also vom Pferd und ging zur Höhle.
Er ging hinein und fand den alten Mann darin. Denn seitdem Fatma
die Haut des alten Mannes übergezogen hatte, konnte man nichts
mehr von ihrer früheren Jugend, Schönheit und Stärke sehen. Der
Sultanssohn zog den alten Mann aus der Höhle ans Tageslicht,
lachte und sagte: "Wer zuletzt kommt, kann nicht erwarten, daß
ihm noch das Beste zufällt. Immerhin sollst du, mein alter Mann,
es doch deshalb nicht schlecht haben. Du sollst mit deinen schönen
Freundinnen mit in die Stadt kommen und ich will für dich sorgen."
Damit nahm er den alten Mann auf sein Pferd, wie es die andern
mit den Mädchen gemacht hatten, und alle ritten der Stadt zu.
Als die Leute in der Stadt den Sultanssohn und seine sieben
Freunde mit den sieben Mädchen und dem alten Mann ankommen
sahen, jubelten sie und grüßten die Mädchen mit lautem Geschrei.
Dem alten Mann auf dem Pferde des Sultanssohnes riefen sie
Spottworte über sein häßliches Äußere zu. Der Sultanssohn aber
lachte und sagte zu dem Alten: "Mein Alter, sei nicht traurig. Wir
müssen den Spott der Menschen heute beide ertragen." Damit ritt
der Sultanssohn heim und begrüßte seinen Vater. Der Sultan sagte
zu seinem Sohne: "Mein Sohn, deine Freunde haben es verstanden,
in diesem Lande, in dem es uns an Mädchen fehlt, schöne Frauen
zu gewinnen. Du bringst mir nichts als einen alten Mann ins Haus.
Damit machst du mir nicht besondere Freude." Der Sohn sagte:
"Mein Vater, jeder von uns muß das nehmen, was das Schicksal
ihm bietet. Ich hoffe, daß es mir nichts Schlimmes gibt."
Der Sohn des Sultans nahm den alten Mann mit in sein Haus,
ließ ihm zu essen und zu trinken geben, rief ihn dann wieder zu
sich und sagte: "Mein Alter! Was machen wir nun mit dir, daß du
ein wenig nützlich bist und so die Achtung der Menschen gewinnst?
Kannst du etwa meine Ziegen und Schafe hüten?" Der alte Mann
sagte: "Sieh, Herr, ich bin sehr alt! Wenn ein Schakal oder eine
Hyäne in die Herde bricht, werde ich nicht imstande sein, die Herde
zu schützen. Gib mir das nicht, Herr! Ich bin zu alt dazu." Der
Sohn des Sultans sagte: "Ich will nichts von dir, was dir schwere
Mühe und auch etwa noch mehr Spott einträgt, weil du nicht imstande
bist es auszuführen. Also sage mir, ob du vielleicht die
Gänse in meinem Garten hüten kannst?" Der alte Mann sagte:
"Ja, mein Herr, deine Gänse werde ich dir hüten können." Der
Sohn des Sultans sagte: "Es ist gut, dann hüte mir die Gänse. Ich
werde dir jeden Mittag das Essen in den Garten schicken."
Am andern Tag trieb der alte Mann die Gänse in den Garten und
brachte sie weit weg in den hintersten Teil. Als es Essenszeit war,
sandte der Sohn des Sultans einen Sklaven mit einer Schüssel voll
Speisen zu dem alten Gänsehirten. Der Sklave trug seine Schüssel
und suchte einige Zeit vorn im Garten, fand den Gänsehirten nicht
und ging weiter, bis er endlich ganz am Ende an einem Brunnenteiche
die Gänse hörte und sah. Der Sklave suchte mit den Augen
nach dem alten Manne. Da sah er ein Mädchen am Brunnen stehen,
das war groß, stark und schön. Das Mädchen wusch sich und sah
den Sklaven mit der Speisenschüssel nicht. Da nun aber niemand
in diesem Lande junge Mädchen zu sehen gewohnt war und da
dieses an Schönheit alle Mädchen, die es überhaupt gab, übertraf,
schrie der Sklave vor Überraschung auf. Als Fatma aber den
Sklaven schreien hörte, schlüpfte sie schnell wieder in die Haut des
alten Mannes zurück, die sie abgestreift hatte, um sich zu waschen
und kam so dem Sklaven entgegen.
Fatma wollte nicht, daß der Sklave in dem Hause des Sohnes des
Sultans etwas davon erzähle, was er gesehen habe, und so lud sie
ihn ein, an dem Essen teilzunehmen. Der Sklave war noch ganz
befangen von der Schönheit des Mädchens, das er unter der Haut
des alten Mannes gesehen hatte. Er nahm zögernd und gleichsam
geistesabwesend an dem Essen teil. Als er einige Brocken zum
Munde geführt hatte, sagte Fatma zu ihm: "Mein junger Freund,
zeige einmal deine Zungenspitze heraus. Du hast ein kleines Insekt
darauf, ich will es dir abnehmen." Der Sklave zeigte Fatma die
Zunge. Fatma ergriff sie und schnitt schnell ein Stück heraus, so
daß jener fürs erste nicht sprechen konnte.
Der Sklave schrak bei dem Schnitt auf. Er sprang entsetzt empor
und lief so schnell er konnte durch den Garten zum Haus. Er lief
zum Sohn des Sultans hinein und wollte ihm von dem, was er erlebt
hatte, berichten. Er zeigte mit den Händen nach der Brust, machte
die Bewegung des An- und Auskleidens und Waschens. Dazu
stammelte er allerhand unverständliche Worte, die aber niemand
verstehen konnte, da es ihm die Wunde an der Zunge unmöglich
machte, sich verständlich auszudrücken. Nachdem der Sohn des
Sultans das Zappeln und Plappern des Sklaven eine Zeitlang mit
angesehen und gehört hatte, sagte er zu seinen andern Leuten:
"Nehmt den armen Menschen mit fort. Er ist wahnsinnig geworden.
Es soll morgen ein anderer Sklave das Essen zu dem alten Gänsehirten
herausbringen, denn dieser hier würde den armen alten Mann
zu sehr erschrecken."
Am andern Tage ging also ein anderer Sklave mit der Schüssel voll
Essen in den Garten, um sie dem alten Gänsehirten zu bringen. Es
ging aber diesem Mann auch nicht um ein Kleines anders oder besser
als dem ersten. Er überraschte wieder Fatma, entsetzte sich über
ihre Schönheit und ward von dem klugen Mädchen in gleicher Weise
in die Zunge geschnitten. Er kam also in gleichem Zustande zu
dem Sohne des Sultans zurück. Als dieser am dritten und vierten
Tage jedoch andere Sklaven mit gleichem Erfolg hinaus zum Gänsehirten
geschickt hatte, sagte er bei sich: "Mir scheint, daß alle Leute,
die ich mit Essen zu dem alten Gänsehirten hinausschicke, wahnsinnig
werden, dort draußen also etwas Besonderes erleben. Dieses
nun will ich mir ansehen. Auch sind dieser alte Mann und die
sieben Mädchen auf so eigentümliche Weise in unsere Gegend gekommen,
daß es sehr wohl eine besondere Bewandtnis mit ihnen
haben könnte."
Als daher am andern Tage wieder ein anderer Sklave das Essen
zu dem alten Gänsehirten hinaustrug, folgte ihm der Sohn des
Sultans heimlich und in einiger Entfernung. Der Sultanssohn sah
nun, wie der Sklave den alten Mann erst vergeblich im vorderen
Teil des Gartens suchte und dann immer weiter ging. Er sah dann,
wie der Sklave die Gänse an dem Brunnensumpf fand und wie er
heftig zurückprallte, als er Fatmas ansichtig wurde, die sich wusch
und deshalb die Haut des alten Mannes abgezogen hatte. Der
Sultanssohn sah aus seinem Versteck Fatma und er sah auch, wie
jung und stark und schön das Mädchen war. Der Sultanssohn war
darüber fast noch mehr erschrocken als der Sklave, denn er wußte,
daß er hier seine zukünftige Gemahlin in ihrer Schönheit überrascht
hatte, und diese Schönheit blendete ihn schlimmer als die Sonne.
Dann sah der Sultanssohn, wie die schöne Fatma, sobald sie den
Sklaven gewahrte, in die Haut des alten Mannes schlüpfte, den
Sklaven zum Essen einlud und ihn dann in die Zunge schnitt. Nun
wußte der Sultanssohn alles - und er eilte, so schnell er konnte,
seinem Hause zu, um noch vor dem Sklaven anzulangen, der ihm
dann mit vielen Handbewegungen und unverständlichen Lauten zu
berichten suchte.
Am gleichen Tage noch sandte der Sultanssohn einige ältere Leute
in den Garten, die den alten Mann ablösen und ihn in sein Haus
bringen sollten. Seinem alten Haussklaven sagte der Sultanssohn
aber: "Heute abend wünsche ich nicht allein zu speisen. Bringt mir
den alten Mann in das oberste Zimmer meines Gasr herauf. Er soll
heut mein Gast sein."
Der Aufwärter sagte zu dem alten Mann: "Ich weiß nicht, was
der Sohn des Sultans an dir gefunden hat; er will aber heut abend
mit dir essen, und du sollst in das oberste Zimmer des Gasr hinaufsteigen."
Der alte Mann sagte: "Ach, sage doch dem Herrn, daß
ich ihm sehr danke. Ich kann aber nicht so hoch hinaufsteigen, ich
bin zu alt dazu." Der Aufwärter sagte zu dem alten Manne: "Du
weißt wenigstens, was sich schickt. Ich werde es dem Sohn des
Sultans sagen, und du kannst dann bei uns im Bedientenzimmer
essen." Der Aufwärter sagte seinem Herrn, daß der alte Mann sich
zu schwach fühle, um bis zum Gasr hinaufzusteigen und glaubte,
daß damit alles erledigt sei. Der Sohn des Sultans sagte jedoch:
"Wenn der alte Mann zu schwach ist, allein da heraufzukommen,
dann tragt ihr ihn eben herauf!"
So wurde denn der alte Mann abends hinaufgetragen und oben
vom Sohne des Sultans freundlich empfangen. Der Sohn des Sultans
sagte: "Komm, alter Mann, setze dich hier auf das Angareb!" Der
alte Mann aber sagte: "Mein Herr, was willst du von mir! Ich bin
dein niedrigster Diener. Laß mich hier auf der Bodenmatte sitzen."
Der Sohn des Sultans sagte aber: "Laß nur, alter Mann! Wir
haben zusammen auf einem Pferd gesessen und sind gemeinsam
verspottet worden. Da können wir auch gemeinsam auf dem Angareb
sitzen und gemeinsam essen." So mußte denn der alte Mann
neben dem Sultanssohn niedersitzen und mit ihm essen, und der
Sultanssohn hatte seine Freude daran, wie geschickt der alte Mann
die Hände zum Speisen gebrauchte.
Als sie gegessen hatten, befahl der Sultanssohn, daß der Aufwärter
das Mangala bringe, da er mit dem alten Manne spielen
wolle. Der alte Mann sagte: "Herr, spotte nun nicht weiter und laß
mich gehen. Vergiß nicht, daß ich dein Sklave, aber ein alter Mann
bin." Der Sultanssohn sagte: "Wo denkst du hin, alter Mann! Ich
will nicht spotten. Ihr alten Männer kennt dieses Spiel ausgezeichnet,
und ich kann sicher nur von dir lernen." Der Aufwärter
brachte das Spiel. Der Sultanssohn sagte dann zu ihm: "Geh nun!
Ich brauche dich nicht mehr. Ich will jetzt mit dem alten Mann
ungestört spielen." Der Aufwärter ging. Der Sultanssohn sagte
aber zu dem alten Manne: "Wir spielen nun gegeneinander! Wer
gewinnt, kann vom andern verlangen, was er will." Der alte Mann
sagte: "Herr, was sollte ich dir geben, wenn du gewinnst?" Der
Sultanssohn sagte: "Laß das nur meine Sache sein!"
Der Sultanssohn spielte mit dem alten Manne. Beim ersten Spiel
siegte der alte Mann. Beim zweiten Spiel siegte wieder der alte
Mann. Beim dritten Spiel aber siegte der Sultanssohn. Der Sultanssohn
jauchzte auf und rief: "Nun darf ich mir etwas wünschen und
du mußt es erfüllen." Damit hatte der Sultanssohn unter die Haut
des alten Mannes unversehens ein Messer hineingeschoben und
schnitt die alte Haut mit einem Ruck auf. Fatma stand vor dem
jungen Sultanssohn in ihrer Jugend, Schönheit und Kraft. Der
Sultanssohn aber sagte: "Wer du auch seist, ich bitte dich, meine
Gemahlin zu werden!"
Fatma sagte: "Du weißt nicht, wer ich bin. Ich bin die Tochter
eines Mannes, der verarmt ist, weil ein Reicher ihm seinen Besitz,
seinen Sohn und seine Freiheit raubte und der den Reichen dann
erschlug, weil der auch noch seine Töchter an andere Leute verkaufen
wollte. Ich bin also die Tochter eines Mannes, der von
seinem Sultan zum Tode verurteilt ist, und ich habe mit meinen
sieben Freundinnen gegen diesen Sultan und seine Reiter gekämpft
und ihrer viele getötet. Ich bin ein Mädchen, das nur deine Frau
werden kann, wenn du mit ihr und deinen Leuten ausziehst und
ihren Vater befreist." Der Sohn des Sultans sagte: "Es ist mir alles
recht. Wir werden erst dann heiraten, wenn dein Vater befreit ist."
Am andern Tage rüstete der Sultanssohn seine Leute. Auch die
Männer, die um die andern sieben Mädchen freiten, bereiteten sich
und ihre Leute zum Streite, und kurze Zeit später zog das ganze
Heer, geführt von Fatma, ihren sieben Freundinnen und dem Sultanssohn
und seinen sieben Freunden gegen die Stadt, in der der
Verarmte gefangen lag. Als die Leute dieser Stadt heraussahen,
sahen sie nahebei viele Zelte aufgeschlagen, liefen zum Sultan und
sagten: "Es ist ein anderer Sultan gekommen, um dich zu begrüßen."
Der Sultan sandte darauf einige Boten und ließ bei dem
fremden Sultan anfragen, was ihm behebe. Der Sultanssohn war
mit seinen sieben Freunden versammelt, als die Boten aus der Stadt
kamen. Der Sultanssohn hörte die Boten an und antwortete: "Sagt
eurem Herrn, daß ich die Herausgabe des Verarmten, der wegen
Totschlags des Reichen zum Tode verurteilt ist, erbitte. Das ist
alles!"
Die Boten kehrten zurück und meldeten ihrem Herrn die Antwort.
Der Sultan fragte sie: "Habt ihr Fatma gesehen?" Die Boten
sagten: "Nein, wir haben Fatma nicht gesehen." Der Sultan sagte:
"Wenn Fatma nicht unter den Fremden ist, fürchte ich sie nicht.
Dann wollen wir morgen mit den Fremden kämpfen."
Am andern Tage rückten die Leute des Sultanssohnes und seiner
sieben Freunde gegen die Stadt. Die Reiter des Sultans kamen
darauf heraus und rückten gegen die Fremden heran; der Sultan
war inmitten der Seinen auch herausgekommen.
Als nun aber die beiden Heere einander dicht gegenüberstanden,
öffneten die Leute des Sultanssohnes ihre Reihen. Fatma und ihre
sieben Freundinnen kamen mit den Schwertern in der Hand hervorgesprengt.
Als die Reiter des Sultans das sahen, erschraken sie und
riefen: "Fatma kommt! Fatma kommt!" Sie hielten sich zwar zusammen,
Fatma und ihre Freundinnen schlugen aber nach rechts
und links zwischen sie, so daß sie tot zu Boden sanken. Fatma
schlug sich mit ihren sieben Freundinnen eine Straße in die Reiter,
bis sie zu dem Sultan kam, den sie gefangennahm.
Der Sultanssohn hatte mit seinen Freunden staunend das Werk
der Mädchen gesehen und jagte hinter ihnen her, um ihren Rücken
zu schützen. Nachdem der Sultan gefangen war, wagte niemand
mehr gegen die Fremden die Waffen zu erheben. Der Sultan selbst
mußte vor Fatma, ihren Freundinnen, dem Sultanssohn und seinen
Freunden in der Stadt dem Gefangenen die Ketten abnehmen. Dann
wurde der Sultan gezwungen, dem Manne, der soviel und solange
geschmachtet hatte, eine hohe Summe auszuzahlen und ihn mit
Ehren noch weithin zu begleiten.
So erlebte der Verarmte denn in kurzer Zeit, daß er, selbst ein
wohlhabender Mann, dem Sultanssohne seine Tochter zuführen
durfte. Fatma und ihre sieben Freundinnen heirateten aber an
einem Tage.
SCHWÄNKE
21. Der bekehrte Räuberhauptmann
Ein armer Mann Namens Said war verheiratet. Er hatte zwei
kleine Kinder, und es wurde ihm schwer, jeden Tag das Nötige
zu verdienen. Der Mann hatte einen Ochsen. Eines Tages hatte
der Mann nichts Rechtes zum Essen finden können. Da sagte
seine Frau zu ihm: "Mein Said, wir haben diesen Ochsen, der uns
nichts nütze ist. Ein Ochse kann unsern Kindern nicht täglich
etwas zur Nahrung bieten wie Ziegen oder Schafe. Ich rate dir
also, den Ochsen zu verkaufen und dafür einige Ziegen oder Schafe
zu erstehen." Said sagte: "Du hast recht; ich will den Ochsen
forttreiben und einen Käufer suchen."
Said machte sich mit dem Ochsen auf den Weg, um den nächsten
Marktplatz aufzusuchen. Als er aber ein Stück weit gekommen
war, kamen ihm vierzig Räuber (Haramia, Sing. Harami) mit
ihrem Schech an der Spitze entgegen. Der Räuberhauptmann sagte:
"Du kommst uns gerade zu recht in den Weg; denn da ich heute
abend meinen Leuten ein Essen geben soll, brauche ich ein Schaf.
Dein Schaf ist mir nun sehr geeignet!" Said sagte: "Verzeih Herr,
es ist ein Ochse!" Der Räuberhauptmann sagte: "Schweige; wenn
ich dir sage, daß es ein Schaf ist, dann ist es so! Ich werde dir
also den Preis für ein Schaf dafür zahlen." Said sagte: "Herr, bedenke,
daß ich ein armer Mann bin und Kinder habe. Zahle mir
also den Ochsen." Der Räuberhauptmann aber sagte: "Welches ist
denn der Beweis, daß es ein Rind ist? Ich sehe nur ein Schaf!"
Said sagte: "Herr, sieh doch nur den Schwanz an!" Der Räuberhauptmann
lachte und sagte: "Wenn das alles ist, so soll dir schnell
geholfen werden." Er schnitt den Schwanz des Ochsen ab, warf
ihn Said zu, zahlte vierzig Piaster als Preis für ein Schaf und ritt
mit seinen vierzig Räubern und dem Ochsen von dannen.
Said nahm die vierzig Piaster und den Ochsenschwanz und machte
sich auf den Heimweg. Nachdem Said ein Stück weit gegangen
war, sagte er bei sich: "Es wird besser sein, ich sehe mich nach
dem Wege um, den mein armes Schaf gegangen ist, damit ich
nachher Bescheid weiß." Er wandte sich also um und suchte die
Fährte der Räuber. Er sah nun, daß sein Ochse infolge des Schwanzschnittes
viel Blut verloren und so eine gute Spur gezeichnet hatte.
Er folgte ihr, bis er in der Ferne das Haus des Räuberhauptmannes
sah; dann kehrte er zu seiner nicht allzu entfernten eigenen Behausung
zurück.
Als er daheim angekommen war, sagte er: "Zunächst habe ich
unsern Ochsen verkauft, aber nur die Anzahlung im Preise eines
Schafes erhalten." Die Frau sagte: "Hast du denn von dem
Käufer eine Sicherheit dafür erhalten, daß er auch den Rest zahlt?"
Said sagte: "Gewiß, eine solche Sicherheit habe ich." Dabei zog
er den Schwanz des Ochsen heraus und zeigte ihn. Die Frau sagte:
"Das ist eine merkwürdige Sicherheit." Said sagte: "Warte nur!
Du wirst schon sehen, daß der Mann gern ganz außerordentliche
Summen zahlen wird. Komm nur heute abend mit mir."
Als es Abend geworden war, zog Said die schönsten Kleider seiner
Frau an, band sich aber darunter den Ochsenschwanz um den Leib.
Dann sagte er: "Nun komm mit mir. Wir sind jetzt beide Frauen."
Die Frau begleitete ihren Mann, und als sie in die Nähe des Gehöfts
des Räuberhauptmanns gekommen waren, sagte Said: "Meine Frau,
nun halte dich hier versteckt. Du siehst dort drüben die große
Seriba (Ansiedlung, Gehöft) mit dem großen Haus. Ich werde dort
hineingehen und werde längere Zeit brauchen, um die zweite Zahlung
für unsern Ochsen einzustreichen. Warte hier auf mich und
hilf mir dann, das Geld heimzutragen." Die Frau blieb also zurück.
Said ging aber in seinen Frauenkleidern bis zur Seriba des Räuberhauptmanns.
Dort setzte er sich in der Stellung einer bittenden
Frau am Tore nieder. Der Räuberhauptmann war gerade damit
beschäftigt, das Fleisch des geschlachteten Ochsen unter seine
Leute zu verteilen. Als er damit fertig war und sein Blick auf die
fremde schöne Frau, als die Said sich verkleidet hatte, fiel, sagte
er: "Frau, wer bist du? Was willst du?" Die Frau (Said) sagte:
"Ich bin aus einer andern Gegend und wollte heimkehren. Ich
verlor die Spur meines Mannes und finde mich im Dunkeln nicht
mehr zurecht. Ich bin mit jedem Lager zufrieden, das du mir
etwa für die Nacht anweisen kannst." Der Räuberhauptmann
sagte: "Wenn du still sein und kein Geräusch machen willst, so
daß meine Frau nichts von deiner Anwesenheit hört, dann will ich
dich wohl mit in meine Kammer nehmen." Die fremde Frau sagte:
"Ich werde sicher kein Geräusch machen, wenn du keines machst."
Darauf brachte der Räuberhauptmann die fremde Frau in die
Kammer, in der er zu schlafen pflegte und in der außer seinem
Angareb auch der Sanduk (Koffer, Truhe) mit seinen Schätzen
stand und ging dann hinaus.
Der Räuberhauptmann ging zu seiner Frau hinüber und sagte:
"Meine Gattin, schlafe du nur heute allein; ich werde dich nachts
nicht besuchen können, da ich noch auswärts eine Sache einzurichten
habe."
Dann ging der Räuberhauptmann wieder in seine Kammer zu
der fremden Frau zurück. Said hatte sich inzwischen umgesehen.
Er hatte die eiserne Truhe betrachtet und hatte einen starken Strick
entdeckt, der von der Decke ziemlich weit herabreichte und in einer
Schleife endigte, die man heraufziehen konnte. Said setzte sich
dann auf das Bett. Der Räuberhauptmann kam herein und sagte:
"So, nun wird uns niemand mehr stören. Nun können wir ein wenig
miteinander spielen." Die fremde Frau sagte: "Das ist gut." Dann
zog Said das Tuch vom Gesicht. Said hatte aber ein schönes Gesicht.
Der Räuberhauptmann wollte sich zu der fremden Frau auf
das Angareb setzen. Die fremde Frau aber sagte: "Ich denke in
einem fort darüber nach, wozu dieser Strick ist, der dort von der
Decke herabhängt und in einer Schleife endet." Der Räuberhauptmann
sagte: "Dieser Strick ist dazu da, meine Leute, wenn sie
einen Fehler machen, an den Beinen aufzuziehen und dann zu
züchtigen." Die fremde Frau sagte: "Das ist merkwürdig. Ich verstehe
das nicht. Ziehe mich doch einmal daran empor." Der
Räuberhauptmann sagte: "Nicht doch! Du bist eine Frau. Aber
wenn du es einmal sehen willst, so ziehe doch mich herauf." Die
fremde Frau sagte: "Strafen dich deine Leute denn nicht auch,
wenn du einen Fehler machst?" Der Räuberhauptmann lachte und
sagte: "Nein, das wagt kein Mensch mich zu strafen. Ich mache
auch keine Fehler." Die fremde Frau sagte: "Ich kann mir das
nicht vorstellen." Der Räuberhauptmann sagte: "Zieh mich nur
ruhig einmal hinauf, dann siehst du die Sache."
Da stand die fremde Frau auf. Der Räuberhauptmann legte sich
auf die Erde und steckte die Füße in die Schlinge. Der Räuberhauptmann
sagte: "Nun braucht nur ein starker Mensch den Strick
in die Höhe zu ziehen. Du bist aber als Frau nicht stark genug."
Die fremde Frau ergriff aber den Strick und zog den Räuberhauptmann
mit einem Ruck in die Höhe, so daß er in der Luft hing. Der
Räuberhauptmann erschrak und sagte: "Langsam, das schmerzt."
Die fremde Frau sagte: "Und dann bekommen die, die einen Fehler
begangen haben, auch noch Streiche ?" Der Räuberhauptmann
sagte: "So ist es!" Said warf die Frauenkleidung weg und zog den
Ochsenschwanz heraus. Der Räuberhauptmann erschrak. Said
sagte: "Etwa hiermit? Etwa so ?" Der Räuberhauptmann erkannte
Said und schrie: "Laß doch! Ich bitte dich! Laß doch! Ich will
dir den Ochsen ja voll bezahlen." Said aber schlug mit dem
Ochsenschwanz, daß dem Räuberhauptmann der Schweiß und das
Blut herabliefen.
Als der Räuberhauptmann nun so baumelte und sich an dem
Strick hin und her wand, fiel aus seiner Brusttasche der Schlüssel
zu der eisernen Truhe. Said sah es. Said nahm den Schlüssel auf
und sagte: "So so! Du willst mir also meinen Ochsen gut bezahlen."
Said ging zur eisernen Truhe und schloß sie auf. Der Räuberhauptmann
sagte: "Es war ja nur ein Ochse, und vierzig Piaster
habe ich dir schon gezahlt." Said sagte: "Mein Freund, du hast
keine klare Vorstellung.
Heute morgen sagtest du, es sei ein Schaf. Heute abend sagst
du, es sei ein Ochse. Morgen wirst du sagen, es sei eine Ochsenherde,
übermorgen, es seien zwei Ochsenherden gewesen. Du weißt
also nicht so genau damit Bescheid, und es ist einfacher, ich greife
deiner Meinung von morgen vor und nehme gleich das Geld für
die ganze Ochsenherde!" Damit nahm Said einen ganzen Sack voll
Gold und hob ihn auf die Schulter. Er trug ihn aus dem Hause.
Als er aus der Türe war, rief der hängende Räuberhauptmann ihm
Schimpfworte nach. Said aber sagte bei sich: "Diese letzten Worte
bezahlt er mir morgen."
Said trug den Goldsack und seine Kleider zur Seriba hinaus. Er
traf seine Frau. Seine Frau sagte: "Ich hörte einen Mann schreien."
Said sagte: "Das war mein Freund, der mir den Ochsen abgekauft
hat und nun bezahlte. Beim Zahlen segnete er aber seine Münze
und ich dankte ihm. Das machte einiges Geräusch, wie es bei allen
Geschäftsverhandlungen mit dieser Art Leuten üblich ist. — Merke
dir übrigens den Weg. Du mußt morgen früh hierher zurückgehen
und hören, was die Leute sprechen." Dann gab Said seiner Frau
die Kleider zu tragen, nahm selbst das Gold und den Ochsenschwanz
über die Schulter und ging mit seiner Frau nach Hause.
Am andern Morgen war die Frau Saids früh an der Seriba des
Räuberhauptmanns. Es waren schon viele Leute zusammengekommen
und standen um das Haus. Sie banden ihren Schech los
und sagten: "Wer tat das nur? Wie konnte das nur geschehen?"
Der Räuberhauptmann sagte: "Das hat der Mann getan, dem ich
gestern den Ochsen als Schaf abkaufte und der sich mit dem
Ochsenschwanz gleich für eine ganze Herde bezahlt gemacht hat."
Die Leute banden den Schech los. Der Schech war so zerschlagen,
daß er kaum stehen konnte. Der Schech sagte: "Legt mich auf
mein Angareb, und wenn ein Arzt vorbeikommt, ruft ihn herein und
bittet ihn nach mir zu sehen." Die Frau Saids hörte das. Die Frau
Saids ging heim und erzählte alles ihrem Manne.
Said kaufte sich in aller Eile im Basar die Kleidung eines Arztes.
Dann machte er sich auf den Weg und ging am Hause des Räuberhauptmanns
vorbei. Said hörte den Räuberhauptmann im Hause
wimmern. Er trat mit einem Gruß herein und sagte: "Ich hörte
hier einen Menschen klagen, und da er nun anscheinend leidend
ist, ich aber Arzt bin, so will ich ihm helfen." Der Räuberhauptmann
sagte: "Komm her und sieh nur meine Wunden und Striemen."
Said besah sie und sagte: "Ich sehe, die Sache will ernst
behandelt sein. Ich will nach Hause gehen und Medikamente bereiten.
Mit Dunkelheit will ich wieder hier sein und kann dich
dann dem Wesen der Sache entsprechend behandeln."
Der Räuberhauptmann sagte: "Tu das, lieber Arzt. Wenn du
mich so behandelst, wie es mein Zustand wünschenswert macht,
will ich dich meinem Besitztum entsprechend bezahlen." Said ging.
Said ging nach Hause. Er band sich den Ochsenschwanz unter
den Rock, nahm einige Flaschen mit sich und ging zu dem kranken
Räuberhauptmann zurück. Er trat bei ihm ein und sagte: "So, nun
will ich dich deinem Zustande entsprechend behandeln. Vorher
aber erzähle mir, wie diese Striemen und Wunden entstanden, denn
je nachdem ob sie durch Stock oder Schnur oder Peitsche oder
Kette entstanden sind, muß ich das Heilmittel erwählen." Der
Räuberhauptmann sagte: "Ich hatte mit meinen Genossen einem
armen Mann seinen Ochsen weggenommen und ihn nur als Schafbock
mit vierzig Piastern und dem abgehackten Schwanz des
Ochsen bezahlt. Da kam der Mann gestern abend, hing mich auf
und schlug mir die Wunden mit dem Ochsenschwanz!" Said riß
den Ochsenschwanz unter den Kleidern hervor und sagte: "Ist es
der hier?" Der Räuberhauptmann schrie auf. Der Räuberhauptmann
sagte: "Ja, das ist er! Jetzt erkenne ich dich! Laß mich!
Laß mich!" Said aber begann den Räuberhauptmann mit festen
Streichen zu behandeln und sagte: "Warte, mein Freund, erst will
ich dich behandeln, wie es dein Zustand wünschenswert macht.
Außerdem hast du gestern hinter mir hergeschimpft." Der Räuberhauptmann
schrie: "Laß mich! Laß mich! Ich habe ja deine
Ochsenherde bezahlt. Laß mich! Laß mich!" Said schlug aber
weiter auf den Räuberhauptmann und sagte: "Wenn du genügend
behandelt bist, sage es, dann kannst du mich deinem Vermögen
entsprechend bezahlen!" Der Räuberhauptmann riß den Schlüssel
zur Truhe aus der Tasche und sagte: "Nimm deine Bezahlung und
geh!" Said sagte: "Endlich kommst du zur Vernunft! Ich habe
mich auch ganz müde gearbeitet. Wenn du nun still liegst, wird
dir bald Gesundheit werden." Dann band sich Said wieder den
Ochsenschwanz unter den Rock, ging zur Truhe, öffnete sie, nahm
einen Beutel mit Gold heraus und sagte: "So, mein Freund, nun
wird dir leichter ums Herz werden." Said ging. Als er aus der
Türe herausgegangen war, rief der Räuberhauptmann Schimpfworte
hinter ihm her. Said sagte: "Diesem Manne muß noch viel
Blut abgezapft werden, ehe er gesund wird!"
Said ging nach Hause, übergab seiner Frau das Gold zur Verwahrung
und sagte: "Der Mann will morgen noch einmal mit mir
sprechen. Gehe also in der Frühe hin und höre, was es gibt."
Am andern Morgen ging die Frau Saids schon früh zu dem
Hause des Räuberhauptmanns. Seine Kameraden drängten sich
um ihn und fragten: "Wer hat das nur wieder getan? Wie hat das
nur wieder geschehen können?!" Der Räuberhauptmann sagte:
"Der Mann, dem ich den Ochsen weggenommen habe, ist gestern
als Arzt wiedergekommen und hat mich mehr geschlagen. Seht
nur, daß keine Frau und kein Arzt wieder in meine Nähe kommen.
Bringt mich auf meinem Bett draußen hinter dem Garten ins Freie
und stellt mein Angareb unter den Palmen auf, wo kein Mensch
außer den Hirten vorbeikommt. Unter mein Kopfkissen legt aber
den Beutel mit Edelsteinen, den wir als Preis für den Listigsten
unter uns ausgewählt haben und der mir hier im Hause jetzt nicht
sicher genug scheint." Die Leute taten wie befohlen. Sie brachten
den Räuberhauptmann auf seinem Angareb weit hinaus, stellten
das Lager mit dem Kranken unter den einsamen Palmen auf und
legten ihm den Beute! mit Edelsteinen unter den Kopf.
Die Frau Saids ging aber heim und erzählte ihrem Manne alles.
Said ging darauf zu einem Freunde, der Schafhirt war und sagte:
"Leih mir nur heute für diesen Tag deine Kleider, deine Herde und
deine Arbeit. Heute abend will ich dir alles wiedergeben und außerdem
noch für ein gutes Geschenk sorgen." Der Freund war damit
einverstanden. Said nahm die Kleider des andern, band den Ochsenschwanz
unter und trieb dann seine Herde dahin, wo der Räuberhauptmann
auf dem Angareb unter den Palmen lag.
Als Said in die Nähe des Räuberhauptmanns kam, hörte er jenen
wimmern. Said aber tat so, als ob er es nicht hörte. Er ging langsam
mit der Herde weiter und sang: "Welcher Hirte kennt nicht
die Kräuter, die die blutenden Wunden der Liebe heilen! Welcher
Hirte kennt nicht die Kräuter, die die klaffenden Wunden der
Fans (Krieger, Held, Reiter) heilen! Welcher Hirte kennt nicht
die Kräuter, die den Schmerz der sterbenden Könige stillen!"
Der Räuberhauptmann hörte den Gesang. Der Räuberhauptmann
rief: "Du, Hirte, komm! Rai (Hirte), komm doch!" Said tat so,
als ob er es nicht höre; er ging hinter seiner Herde her und sang:
"Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die die blutenden Wunden
der Liebe heilen! Welcher Hirte kennt nicht die Kräuter, die die
klaffenden Wunden der Fans heilen! Welcher Hirte kennt nicht
die Kräuter, die den Schmerz der sterbenden Könige stillen!" Der
Räuberhauptmann schrie: "Rai! Raf, so komm doch!" Said sagte:
"Wer ruft da?" Der Räuberhauptmann sagte: "Komm hierher
unter die Palmen!" Said sagte: "Ich fürchte mich!" Der Räuberhauptmann
sagte: "Wie kannst du dich vor mir krankem Manne
fürchten, wo du jung und stark, ich aber elend und zerschlagen
bin!"
Said kam näher und sagte: "Was willst du? Ich kann meine
Herde nicht lange allein lassen!" Der Räuberhauptmann sagte:
"Ich bin zerschlagen. Ich bin ganz wund. Kannst du mir Kräuter
auf die Wunden legen, daß sie heilen?" Said sagte: "Herr, ich bin
jung und unerfahren." Der Räuberhauptmann sagte: "Du hast
selbst eben anders gesungen. Hilf mir. Es soll dir auch vergütet
werden." Said sagte: "Ich kann nur die rechten Kräuter bringen,
wenn ich weiß, wie du zu den Wunden kamst." Der Räuberhauptmann
sagte: "Das kann ich dir nicht sagen." Said sagte: "Siehst
du, ich wußte, daß ich dir nicht helfen kann, weil du kein Vertrauen
zu mir haben kannst, wo ich so jung bin." Said wandte sich ab.
Der Räuberhauptmann rief hinter Said her: "Rai, bleib! Ich
will dir alles erzählen. Ich hatte einem armen Manne einen Ochsen
weggenommen; da hat er mich zweimal mit einem Ochsenschwanz
geschlagen." Said riß seinen Ochsenschwanz heraus und sagte:
"Mit einem solchen?" Der Räuberhauptmann schrie: "Er ist es
wieder. Nun muß ich sterben!" Said aber schlug heftig auf den
Räuberhauptmann ein und brachte ihm eine große Reihe guter
Schläge bei. Der Räuberhauptmann schrie zuletzt: "Laß sein!
Laß sein! Nimm mir, was du willst, aber laß mich am Leben. Ich
habe dir schon all deine Ochsenherden bezahlt, was willst du noch
mehr!"
Said sagte: "Was ich noch mehr will? Vor allem, daß du nicht
hinter mir herschimpfst, wenn ich gehe; dann, daß du zu einem
ehrlichen Lebenswandel zurückkehrst, und endlich den Preis, den
ihr für den Listigsten unter euch ausgesetzt habt." Der Räuberhauptmann
stöhnte. Er sah aber den Ochsenschwanz, zog also den
Beute! mit Edelsteinen hervor und sagte: "Du bist wirklich der
Listigste. Willst du mich nun aber in Frieden lassen?" Said nahm
den Beutel und sagte: "Wenn du nicht mehr hinter mir schimpfst
und zu einem ehrlichen Lebenswandel zurückkehrst, habe ich nichts
mehr mit dir zu tun." Danach band Said seinen Ochsenschwanz
um, steckte den Beutel mit Edelsteinen in die Kleider und trieb
seine Herde wieder nach Hause.
Erst brachte Said seinem Freunde die Herde zurück, dann brachte
er seiner Frau den Sack mit Edelsteinen und sagte: "Nun gehe
morgen noch einmal hin, höre, was es gibt und berichte mir. Wenn
der Räuberhauptmann jetzt noch einmal abgestraft wird, dürfte es
genügen."
Am andern Morgen ging die Frau in aller Frühe hin. Sie traf
die Räuber, die ihren Schech umgaben und immer wieder fragten:
"Wie kann das nur immer wieder geschehen? Wer hat das nun
wieder getan?" Der Räuberhauptmann sagte: "Es ist immer
wieder derselbe Mann, dem ich den Ochsen abnahm." Dann beschimpfte
der Räuberhauptmann Said und sagte: "Er hat mich
gestern als Hirt überfallen. Dieser Mensch verlangt nun von mir,
ich solle einen ehrlichen Lebenswandel anfangen. Wenn er aber
hört, daß ich das nicht vorhabe, wird er mich wieder zu schlagen
wissen. Sagt also aller Welt, daß ich gestorben sei und bringt mich
und meine Schätze in eine Höhle, die hier in der Nähe ist, die als
Grabkammer dienen und die man verschließen kann. Stellt mir
Essen und Wein herein, daß ich einige Tage darin leben kann, und
dann wird alle Welt, also auch der Mann mit dem Ochsenschwanz,
glauben, ich sei gestorben." Die Freunde sagten: "Es ist recht. So
wollen wir es tun." Die Frau Saids hörte das, lief nach Hause und
erzählte alles ihrem Mann. Said ging darauf schnell hin, kaufte sich
das Kleid eines Priesters und ein heiliges Buch. In dem Kleide
mit dem Ochsenschwanz darunter und dem heiligen Buche in der
Hand ging er dann zu dem Hause des Räuberhauptmanns. Die
Leute hatten den Räuberhauptmann auf sein Angareb gelegt. Sie
hatten ihn mit wertvollen Kleidern bedeckt. Sie hoben ihn auf
und trugen ihn hinaus. Einige Leute hatten die goldenen Leuchter
und die goldenen Schalen genommen, die der Räuberhauptmann
einst erobert hatte. Andere schleppten die Truhe, in der das Gold
des Schechs war, und wieder andere brachten Körbe mit Speise
und Krüge mit Wein. Die Leute schrien alle: "Unser Schech ist
tot! Unser Schech ist tot!" Es waren aber Weiber dazu gekommen,
die klagten und schrien nach der Sitte.
Als alle Leute aufbrachen und den Schech forttrugen, kam Said
im Priesterkleide mit dem heiligen Buche. Er sagte: "Dies ist ein
Toter. Ich will für ihn lesen!" Einige Männer sagten: "Er braucht
wohl keinen Priester!" Die Frauen schrien aber: "Was? Keinen
Priester? Gewiß muß er einen Priester haben!" Der Priester trat
also an die Spitze des Zuges, und der wanderte nun den Bergen zu.
Am Berge wurde der Fels vom Eingang einer Höhle zurückgeschoben
und das Angareb mit dem Räuberhauptmann hineingetragen.
Das Angareb wurde niedergesetzt und die goldenen
Schalen und Leuchter wurden rund herum gestellt und die Truhe
mit Gold zur Seite und die Körbe mit Speise und Trank in die Nähe.
Die Leuchter wurden angezündet, der Priester setzte sich auf die
Truhe und schlug eine andere Stelle seines Buches auf und las.
Die Männer sagten: "Nun wollen wir Abschied nehmen und
herausgehen." Sie gingen alle an dem Angareb vorüber und schritten
hinaus. Die Männer sagten: "Der Priester muß auch herauskommen."
Die Frauen sagten: "Nein, laßt den Priester beten!"
Die Männer sagten: "Der Fels muß aber vorgeschoben werden,
damit die wilden Tiere nicht hinein können." Die Frauen sagten:
"Die wilden Tiere kommen erst nachts. Laßt die Höhle tagsüber
offen und den Priester bei dem Räuberhauptmann." Es gingen
alle nach Haus.
Nachdem alle gegangen waren, blieb der Priester noch einige
Zeit auf der Truhe über das Buch gebeugt sitzen. Dann aber richtete
er sich auf und sagte: "Ich habe nun nachgerade Hunger und Durst.
Die guten Leute haben, wie mir schien, allerhand Speise und Trank
mit hereingebracht. Der arme Tote kann das nun nicht mehr genießen.
Deshalb will ich mich ein wenig stärken."
Der Priester schlug sein Buch zu und legte es auf die Truhe.
Dann ging er zu den Körben und nahm von den besten Speisen
und vom Wein heraus. Er ging zur Truhe zurück, setzte sich neben
den zugedeckten Räuberhauptmann hin und begann zu speisen
und zu trinken. Der Priester sagte: "Diese Hammelkeule, dies
Kisra und dieser Wein sind ausgezeichnet. Wie traurig ist es, daß
der arme Mann hier das nun nicht mehr genießen kann!" Dann
aß er wieder und trank eine Weile und sagte: "Die armen Toten
haben es doch zu schlecht, daß sie an solchen Dingen keinen Genuß
mehr haben." Dann aß er wieder und trank eine Weile und sagte:
"Dafür haben sie aber auch bei Mangel keinen Hunger und Durst.
Die Toten leiden nicht, wenn sie einen guten Lebenswandel führten.
Ich will nachher wieder lesen! Wie schmeckt das aber gut!"
Dann nahm der Priester noch einen Bissen, den er schmatzend
verzehrte, und trank von dem Wein, so daß man es hörte.
Der Räuberhauptmann hatte es am Morgen in der Eile unterlassen,
gründlich zu speisen, hatte das vielmehr für die lange Zeit
in der Höhle aufgespart. Außerdem lag er schon lange Zeit unter
den wertvollen dicken Decken, und so ward ihm schwül und er
hatte Durst und Hunger. Als der Priester nun laut und vernehmlich
neben ihm eine Zeit gegessen und getrunken und die Trefflichkeit
der Speisen gelobt hatte, konnte er sich nicht mehr versagen,
einmal laut zu seufzen. Als er derart laut seufzte, setzte der
Priester die Flasche, die er gerade zum Munde geführt hatte, ab
und sagte: "Dieser Tote seufzt anscheinend über den schlimmen
Lebenswandel, den er geführt hat. Wenn dem so ist, werde ich
mehrere Tage an seiner Bahre lesen müssen, um ihm den Frieden
im Jenseits zu erwirken. Es ist gut, daß die Leute so viel Speise und
Trank hereingesetzt haben, daß es einige Tage für mich reicht!"
Dann trank der Priester wieder.
Der Räuberhauptmann dachte: "Was? Dieser Priester will
mehrere Tage hier bleiben? Dann werde ich vor Hunger und
Durst sterben! Das ist unmöglich!" Der Räuberhauptmann erschrak.
Der Räuberhauptmann warf die dicken wertvollen
Stoffe von sich und richtete sich auf. Der Priester sagte: "Oho!
Der Tote bewegt sich. Er muß eine große, schlimme Sache begangen
haben, daß er nicht Ruhe im Tode finden kann. Sage mir,
Toter, was dich bedrängt!" Der Räuberhauptmann fühlte nach der
Bewegung die Schmerzen in den Gliedern. Er sagte: "Wie das
schmerzt! Gib mir zu trinken!" Der Priester sagte: "Was schmerzt
dich? Sage mir, Toter, was dich bedrängt! Denke, daß ich ein
Priester bin."
Der Räuberhauptmann sagte: "Ein Armer, den ich bestahl,
schlug mich mit einem Ochsenschwanz!" Said riß den Ochsenschwanz
unter dem Priesterkleid hervor und sagte: "Etwa mit dem
da?" Als der Räuberhauptmann das sah, schrie er vor Angst auf.
Said aber zog ihm einige harte Schläge über. Er sagte: "Hast du
mich heute morgen nicht etwa wieder beschimpft? Nennst du
diesen Betrug vielleicht den Anfang eines ehrlichen Lebenswandels?"
Darauf stürzte der Räuberhauptmann vor Said auf die
Knie und sagte: "Nimm mich mit dir. Teile mit mir alles, was ich
habe und lehre mich einen ehrlichen Lebenswandel!"
Darauf hob Said den Räuberhauptmann auf. Er legte den
Ochsenschwanz beiseite, führte ihn zu seinem Angareb und reichte
ihm Speise und Trank. Dann rief er Leute aus der Nachbarschaft,
die den Räuberhauptmann und alle seine Schätze in Saids Behausung
trugen, so daß die Räuber, als sie abends zurückkamen,
die Höhle leer und verlassen fanden.
Der Räuberhauptmann ward von Said verbunden und von ihm
und seiner Frau gepflegt, bis er gesund war. Said gründete mit ihm
einen Handel und gewann ihn mehr und mehr lieb. Sie hatten sich
zuletzt so aneinander gewöhnt, daß sie beide gemeinsam im hohen
Greisenalter an einem Tage starben.
22. Räuberlist
Ein Harami (Räuber, Dieb) ward häufig bei seinen Unternehmungen
ergriffen und dann jedesmal drei oder vier
Monate eingesperrt. Zuletzt wurde der Harami ganz traurig und
sagte: "Bei dieser Sache kommt für mich nichts Gutes mehr heraus.
Ich werde also das, was ich als Harami gelernt habe, in einem
andern Berufe auszunutzen versuchen und werde ein Markib
(Segelboot) mieten. Auf den Segelbooten wird viel geraubt, und nun
wird es sich ja zeigen, ob ich das, was ich als Räuber zum besten
meiner Erwerbungen lernte, zur Erhaltung des Gutes anderer und
somit zur Ernährung in anderer Weise nützlich anwenden kann."
Der frühere Harami kaufte sich also ein Segelboot. Ein Kaufmann
gab ihm viele Gefäße (Gidr) mit Butter, daß er sie weit weg
auf dem Nil an einem fernen Hafenort abliefere. Der neue Rais
(Kapitän) belud sein Schiff und fuhr dann ab. Eines Nachts
schliefen alle Leute des Rais, nur er allein nicht. Es kamen fünf
Harami. Die Harami besahen das Schiff und sahen nach allen
Leuten. Der Schech der Harami sagte: "Die Leute schlafen alle.
Wir können uns an die Arbeit machen." Der Rais sagte: "Nun
werde ich sehen, ob ich etwas gelernt habe." Der Rais stellte sich
auch schlafend.
Die Räuber stiegen also in das Schiff, hoben geräuschlos eine
ganze Reihe Butterfässer heraus und trugen sie ans Land. Mit den
fünf Lasten machten sie sich dann auf den Weg nach dem Hause
ihres Hauptmanns. Der Rais aber folgte ihnen leise, und als der
Räuberhauptmann aufgeschlossen hatte und alle hineingingen,
folgte er ihnen. Die Räuber stellten ihre Lasten nieder und gingen
wieder. Der Rais blieb aber im Hause des Hauptmanns in einem
dunkeln Winkel hinter der Tür.
Als die andern Räuber gegangen waren, sagte der Hauptmann
zu seiner Frau: "Frau, nimm den Schlüssel zu der kleinen Kammer
hinten und leuchte mir. Ich will die Buttergefäße wegstellen."
Die Frau nahm die Schlüssel, und der Mann trug die Buttergefäße
hinaus. Sie waren beide herausgegangen, und es war nun außer
dem Rais nur noch das ganz kleine Kind des Hauptmanns im
Hause, das schlief. Der Rais nahm das schlafende Kind, ging mit
ihm von dannen und trug es in sein Schiff.
Nachdem der Räuberhauptmann mit seiner Frau die Buttergefäße
in der kleinen Kammer weggestellt und den Raum verschlossen
hatten, kamen sie wieder in das vordere Haus zurück
und legten sich nieder. Dabei sah die Frau des Räuberhauptmanns
nach ihrem Kind. Sie fand es aber nicht. Die Frau schrie auf.
Der Räuberhauptmann fragte: "Was hast du?" Seine Frau sagte:
"Unser Kind ist verschwunden." Der Mann stand auch auf. Der
Mann und die Frau suchten. Sie konnten nichts von dem Kind
finden. Das Kind war nicht mehr im Hause. Die Frau weinte aber
die ganze Nacht hindurch.
Am andern Morgen ging der Räuberhauptmann zu einem Freunde
und sagte: "Höre, mein Freund! Du mußt mir in einer ernsten
Sache helfen." Der Freund sagte: "Was ist es?" Der Räuberhauptmann
sagte: "Gestern abend ist uns unser Kind gestohlen
worden." Der Freund sagte: "War denn deine Frau nicht bei dem
Kind?" Der Räuber sagte: "Sie war nicht bei dem Kind. Sie war
nur für kurze Zeit mit mir zu der kleinen Kammer gegangen, die
hinter dem Hause ist." Der Freund sagte: "Was habt ihr da in der
Nacht gemacht?" Der Räuber sagte: "Das hat nichts damit zu
tun." Der Freund sagte: "Wenn du mir nicht alles sagst, was hiermit
in Verbindung steht, kann ich dir auch nicht raten. Sage also
genau, was ihr in der Zeit getan habt. Dann finden wir vielleicht,
wo dein Kind zu suchen ist." Der Räuber sagte: "Wenn du es
denn wissen willst, werde ich dir also sagen, was wir taten. Du
mußt aber als mein Freund die Sache für dich behalten." Der Freund
sagte: "Natürlich werde ich als dein Freund nicht weiter darüber
sprechen. Du mußt mir aber sagen, was sich ereignet hat, damit
ich den Zusammenhang finde."
Der Räuber sagte: "Ich war mit einigen Freunden in der Nacht
ausgegangen und habe auf einer Barke einige Gefäße mit Butter
gefunden. Diese brachten wir in mein Haus. Nachdem meine
Freunde gegangen waren, trugen meine Frau und ich die Buttergefäße
in die kleine Kammer, und genau in der Zeit, während der
meine Frau und ich in der kleinen Kammer waren, ist unser Kind
gestohlen worden." Der Freund sagte: "Ich kann an der Sache
nichts Merkwürdiges finden." Der Räuber sagte: "Mein Freund,
weißt du, wo mein Kind ist?" Der Freund sagte: "Hat denn der
Kapitän geschlafen, als er euch die Buttergefäße in der Nacht gab,
oder hat er gewacht?" Der Räuber sagte: "Ich denke, er hat geschlafen."
Der Freund sagte: "Ich denke, er hat nicht geschlafen."
Der Räuber sagte: "Wie meinst du das ?" Der Freund sagte: "Wenn
der Kapitän im Schlafe euch die Buttergefäße gegeben hat, hat er
euch vielleicht im Schlafe dafür das Kind genommen. Geh also,
wenn du glaubst, daß der Kapitän jetzt wach ist, zu dem Kapitän
und sprich mit ihm über die Buttergefäße und das Kind." Der
Räuberhauptmann sagte: "Ich will sehen." Der Räuber ging.
Der Kapitän hatte das Kind in sein Schiff gebracht und hatte
sich, als die Sonne aufging, von seinen Leuten eine Matte ans Ufer
legen lassen und trank da eine Schale Kaffee. Der Räuberhauptmann
kam, begrüßte ihn und setzte sich zu ihm.
Der Kapitän ließ dem Räuber eine Schale Kaffee reichen. Der
Räuber trank ihn. Der Räuber sagte: "Ich habe heute nacht mein
Kind verloren." Der Kapitän sagte: "Das ist schlimm. Ist das
Kind gestorben?" Der Räuber sagte: "Nein, es ist nicht gestorben;
es ist gestohlen." Der Kapitän sagte: "Das ist eigenartig. Uns ist
in der gleichen Nacht ein gleiches Schicksal geworden. Mir ist in
der Nacht ein Teil meiner Butterladung gestohlen." Der Räuber
sagte: "Wenn das Schicksal uns so gleichmäßig behandelte, wollen
wir zusammen Freundschaft schließen." Der Rais sagte: "Du
schlägst mir Freundschaft vor. Was willst du mir als Zeichen der
Freundschaft erweisen?" Der Räuber fragte: "Was soll ich dir
als Zeichen der Freundschaft erweisen?" Der Rais sagte: "Denke
einmal nach!" Der Räuber sagte: "Ich will versuchen, dir deine
Buttergefäße wieder zu beschaffen." Der Rais sagte: "Siehst du,
du verstehst mich!" Der Räuber fragte: "Was willst du mir denn
als Freundschaftszeichen bieten?" Der Rais sagte: "Wenn du mir
meine Buttergefäße wieder beschaffen könntest, könnte ich dir
vielleicht dein Kind wiederbringen!" Der Räuber sagte: "Das
würde allerdings sehr gut sein. Ich bin damit einverstanden."
Der Rais sagte: "Also gut! Da du die Freundschaft angeboten
hast, bringst du erst die Butter. Erst die Buttergefäße, dann das
Kind!" Der Räuber sagte: "Ich bin einverstanden." Der Rais
sagte: "Mach aber schnell, denn ich will weiterfahren!"
Der Räuber brachte dem Rais die Buttergefäße zurück. Der Rais
bändigte dem Räuber das Kind aus. Der Räuber sagte: "Wie hast
du nur mein Kind wiederfinden können?" Der Rais sagte: "Wie
hast du nur meine Buttergefäße wiederfinden können?" Der Räuber
sagte: "Ja, ich will es nur sagen; ich bin ein Harami." Der
Rais sagte: "Siehst du, mein Freund, und ich war früher der größte
Harami am Nil." Der Räuber sagte: "Dann verstehe ich es!"
Seitdem wagte nie wieder ein Harami dem Rais etwas zu stehlen.
23. Ausgetriebene Geilheit
Ein Mann heiratete eine Frau, die war sehr schön. Die Frau
war sehr schön und sehr klug. Die Frau war aber auch über
alle Maßen geil, und da der eine Mann, der sie geheiratet hatte, ihr
nicht genügte, so wußte sie jede Gelegenheit wahrzunehmen, ihre
Klugheit zur Ausführung eines Zwieschlafes mit einem Freunde
oder hübschen Fremden auszunutzen. Wenn die Frau auf den
Markt ging, so traf sie einen Freund auf dem Wege dahin und tat
sich an ihm gütlich. Auf dem Markte suchte sie einen hübschen
Fremden und wußte stets einen verborgenen Winkel zu finden, an
dem sie sich mit ihm belustigte. Auf dem Heimwege besuchte sie
dann eine Freundin, deren Mann ihr sicher gern willfährig war,
und wenn sie dann heimkam, war ihre Freude an der Sache so
gewachsen, daß sie ihren Gatten jedesmal noch einmal zu einer ehelichen
Unterhaltung auf dem Angareb zu bewegen wußte. An dem
Zustand aber, in dem die Geschlechtsteile seiner Gattin sich befanden,
bemerkte der Ehemann aber stets, daß er an diesem Morgen
sicher nicht der erste Beglücker der schönen Frau war. Und wenn
die Frau dem Manne auch mehr Kraft abzunehmen bereit war,
als er geben konnte, so war er doch sehr unzufrieden damit, daß
die Frau, die er doch allein geheiratet hatte, den größten Teil von
Vergnügungen, den sie beanspruchte, sich bei andern Männern
lieh.
Dabei hatte der Ehemann für diese emsige Freude an geschlechtlichen
Ergüssen seiner Frau keinen andern Beweis als eben den
Zustand ihres erregten und mit Wärme und Feuchtigkeit und ständiger
Sehnsucht nach Mehr erfüllten schönen Körpers. Die Frau
war viel zu klug, als daß der Mann jemals hätte ihre geheimen
Zusammenkünfte beobachten können. Sie wußte ihrem Gatten auf
ihren Seitenwegen stets auszuweichen, und nicht selten geschah es,
daß der Mann an einem Strohzaun stand und den Weg entlang
nach seiner vermutlich ein Abenteuer suchenden Frau ausschaute,
während sie, die Kluge, gerade nur durch die Strohmatte von ihrem
Manne getrennt eben dies Abenteuer in vollen Zügen genoß.
Nachdem der Mann dies eine Zeitlang mit angesehen hatte,
sagte er: "Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß meine
Frau nicht nur vergnügungssüchtiger, sondern auch klüger als ich
ist. Deshalb werde ich die Sache mit einem Freunde besprechen."
Der Ehemann ging also zu einem Freunde und trug ihm die ganze
Sache vor. Er sagte: "Mein Freund, ich bitte dich, mein wahrer
Freund zu sein und mir in einer Sache zu helfen. Du weißt, daß
ich mit einer schönen Frau verheiratet bin, die aber auch klug ist
und außerdem mit der Gabe beliehen ist, die geschlechtliche Kraft
vieler Männer genießen zu können, ohne selbst dabei ihre Kraft
auch nur im Geringsten zu erschöpfen. Ich nehme an, daß alle
meine Freunde von dieser letzten Tatsache durch eigene Erfahrung
genau unterrichtet sind, und es liegt mir nichts ferner, als ihnen
und somit auch dir diese Nutzung schöner Gelegenheitsgenüsse zu
verübeln. Ich weiß, daß meine Frau nicht hinaus zum Pissen gehen
kann, ohne das Organ, durch das sie ihr Wasser abläßt, auch noch
zu dem andern von der Natur gewährten Dienst zu nutzen, und daß
sie in jedem Augenblick einen Mann zu finden weiß, der mit ihr
dies Vergnügen teilt, ohne daß ich um Erlaubnis gefragt werde
oder es früher als zu spät wahrnehme. Ich nehme an, daß du dies
weißt und schäme mich nicht dir zu sagen, daß ich erstens nicht
klug genug bin, die mir durchaus unerwünschten Ausschweifungen
meiner Frau zu entdecken, und zweitens auch noch dadurch leide,
daß sie, einmal von einem andern erregt, von mir auch noch die
Wiederholung der Übung verlangt, was meine Kräfte um so mehr
erschöpft, je mehr Freunde und Teilhaber an dem eigentlich nur
mir zustehenden Genuß sie findet. Ich sehe also den Zeitpunkt
kommen, in dem ein jeder Einwohner dieser Stadt durch Teilnahme
an meinem Eheglücke mich zu Kraftausgaben zwingt,
die mich, da ich der Zahl nach dann als einzelner ebensoviel leisten
muß als sie in guter Teilung alle gemeinsam, bald an den Rand
des Grabes bringen müssen. Ich bitte also dich, mein Freund, mir
einen Rat zu geben, wie ich meine Gattin der Männergemeinsamkeit
entziehen und mir die Erholung und Ruhe gönnen kann, deren
ich dringend bedarf."
Der Freund sagte: "Ich sehe, daß du diese Sache mit gelassener
Ruhe und würdig besprichst und will gar nicht leugnen, daß die
ungeheure Aufnahmefähigkeit und Klugheit deiner Frau stadtbekannt
sind. Auch würde eine Erschöpfung deiner Kräfte in der
Tat gar bald eintreten, da niemals ein einzelner Mann allein das
vollbringen kann, was alle Männer der Stadt gemeinsam im Spiel
erledigen. Du würdest also in diesem Wettkampf bald unterliegen,
wenn du dem nicht bald abhilfst, und das kannst du nur in der Weise
tun, daß du in eine andere Stadt ziehst. Ich werde dich dorthin
begleiten, werde einen Tag dort bleiben und dann fortgehen.
Du wirst sehen, daß der Zustand sich ändern wird, und ich hoffe,
daß, wenn du deine Frau nun noch regelmäßig mehrere Stunden
des Tages in dem kalten Wasser, das der Stadt eigen ist, sitzen läßt,
die Sache sich völlig ändert. Nur mußt du mir erlauben, daß ich
am Tage, an dem wir in der Stadt anlangen, noch einmal mit deiner
Frau zusammenkomme; denn dieses wird nötig sein, um sie in den
neuen Lebenswandel einzuführen und ihr Lehren zu erteilen. Wo
du so viel Glücksgenossen bislang gehabt hast, kann es dir jetzt
nicht auf diese eine Freundschaftsteilung ankommen, zumal dir
hinterher völliger Alleinbesitz gesichert ist."
Der Ehemann war damit sehr einverstanden. Er ordnete die
Verpackung aller seiner Sachen an, machte sich mit seinem
Freunde und seiner Frau auf die Reise in die fremde Stadt und
langte eines Nachmittags vor deren Toren an. Der Freund sorgte
nun dafür, daß zuerst jeden Tag weite Wege zurückgelegt wurden;
und da die Frau außerdem immer zu Fuß gehen mußte, so war sie
jeden Abend derart erschöpft, daß ihr sonst übliches Bedürfnis der
übergroßen Müdigkeit wich. Am letzten Tag, an dem sie vor den
Toren der fremden Stadt ankamen, war der Tagesmarsch aber sehr
klein gewesen, auch hatte die Frau sich schon an die ihr neuartige
Verwendung der Beine gewöhnt, daß ihr früheres Bedürfnis mit
doppelter Kraft erwachte.
Somit ging die Frau hinter die Seriba des Lagers, schlug ihr
Wasser ab und wußte den Freund ihres Mannes herbeizuwinken,
der mit Vergnügen der Aufforderung Folge leistete und mit ihr
eilig eine Ubung veranstaltete. Als er das erledigt hatte, sagte er:
"Es wird dir gut tun, wenn wir dem Kamelhaar noch einen Dorn
einsetzen." Die Frau war damit sehr einverstanden und wollte,
nachdem auch diese Handlung erledigt war, sich erheben, als der
Mann sagte: "Arme Frau, du gehst einer freudearmen Zukunft
entgegen, und es wird gut sein, wenn ich den Sattel noch einmal
auflege." Die Frau, deren Freude an der Sache mit der Wiederholung
wuchs, sagte: "Komm nur schnell, denn ich kann leicht
noch einen Reiter tragen." Danach fragte sie: "Weshalb meinst
du denn, daß ich eine arme Frau sei, die einer freudelosen Zukunft
entgegengehe?" Der Freund sagte: "Alle Männer der Stadt, in der
du von nun an mit deinem Manne wohnen wirst, haben statt eines
zwei männliche Glieder, die außerdem von Eisen sind, so daß die
armen Weiber, die sich mit ihnen einlassen, statt eines Genusses
einen schlimmen Schmerz empfinden." Die Frau erschrak und
sagte: "Komm, mein Freund, und versuche schnell noch einen
Sprung in den Graben." Der Freund kam den Wünschen nach und
sagte dann zu der Frau: "Nun aber geh zu deinem Manne, der
sicher schon wie ein wildes Tier auf seine Beute wartet, und überlasse
nun ihm den weiteren Lämmerraub!" Damit trennten sie sich,
und die Frau ging in das Zelt und nahm ihrem Manne alles ab, was
er an diesem Tage abzugeben hatte. Der Ehemann sagte aber bei
dem ersten Eintritt in das gastliche Tor seiner Gattin bei sich:
"Wahrhaftig, mein Freund hat die Gelegenheit ergiebig ausgenützt
und meiner Frau fleißig Lehren erteilt. Wenn es aber helfen sollte,
mag es mir recht sein."
Der Ehemann zog mit Freund und Weib in die Stadt ein und
ließ sich in einem angesehenen Hause bei einem freundlichen Manne
nieder. Während er nun mit seiner Frau die Einrichtungen traf,
setzte sich der Freund mit dem freundlichen Hausherrn und andern
angesehenen Männern in einem Kaffeehaus nieder, und da er von
früheren Reisen mit den Eingeborenen der Stadt schon bekannt
war, so fragten diese ihn nach dem ihnen noch unbekannten Ehemann
aus. Darauf sagte der Freund: "Dieser Mann ist sehr bedauernswürdig,
denn er hat in jeder Stadt, in die er mit seiner
Frau kommt, große Schwierigkeiten. Diese schöne Frau hat nämlich
die Leidenschaft, alle Männer zu sich auf das Lager zu ziehen,
ihnen aber nachher mit einer Schere das männliche Glied abzuschneiden.
Da nun die Frau außerordentlich verführerisch ist und
die Männer durch sie immer sehr eingenommen sind, so hat der
Mann in jeder Stadt immer nach einem schweren Streit Abschied
nehmen müssen und überall eine Reihe entmannter Jünglinge
zurückgelassen." Diese Erzählung machte auf die Leute großen
Eindruck. Man plauderte noch lange, und dann nahm man Abschied.
Der Freund verabschiedete sich am andern Tage vom Ehemann
und sagte: "Ich würde unehrlich handeln, wenn ich noch länger
bei dir und in der Nähe deiner Frau bliebe. Ich reise ab. Vergiß
die kalten Sitzbäder nicht und glaube mir, daß in Zukunft alles
einen guten Weg gehen wird."
Die Frau blickte nun alle Tage nach den Männern der Stadt, die
ihr schön gewachsen und kräftig und sehr begehrenswert erschienen.
Sie dachte bei sich: "Diese Sache mit den doppelten Eisengliedern
ist sehr merkwürdig." Die Männer der Stadt sahen überall der
fremden Frau nach, bewunderten ihre Schönheit und sagten bei
sich: "Diese Leidenschaft der Scherenanwendung ist sehr merkwürdig."
Am meisten brannte aber der freundliche Mann, in dessen
Haus der Ehemann abgestiegen war, darauf, dieser schönen Frau
einmal beizuliegen, und da er ihren Winken der nächste, sie außerdem
in der Handhabung der Winke und Zeichen sehr geschickt
war, so verabredeten sie eine geheime Zusammenkunft auf ihrem
Lager für eine Stunde, in der der Ehemann in der Stadt zu tun hatte.
Nun dachte der freundliche Mann bei sich: "Es wird gut sein, wenn
ich mich gegen die Angriffe mit der Schere mit einem Messer bewaffne."
Er versteckte also unter seinem Kleid ein Messer, kam
herüber und legte sich neben die schöne Frau auf das Angareb.
Die schöne Frau aber dachte: "Es scheint mir sicherer zu untersuchen,
ob nicht doch etwas Wahres an der Geschichte mit den
beiden Eisengliedern ist." Als der Mann sich ihr also auf dem
Angareb näherte, strich sie möglichst vorsichtig unter seinen Kleidern
entlang. Sie war schon ziemlich nahe bis an den Gegenstand
ihrer Sehnsucht und Untersuchung gekommen, da stießen ihre silbernen
Ringe gegen den Dolch, den der freundliche und vorsichtige
Mann unter dem Kleide trug. Unwillkürlich berührte sie nun auch
mit der Hand die Klinge des Messers und ritzte die Hand auf.
Als der Mann das Klappern der Ringe hörte, schrie er auf. Als
die Frau den Dolch berührte, schrie sie auf. Die Frau sprang entsetzt
in den Winkel des Zimmers und zitterte. Der Mann raffte
sein Kleid zusammen und rannte von dannen. Die Frau sah das
Blut über ihre Hand rinnen und sagte bei sich: "Welcher Gefahr
habe ich mich ausgesetzt! Es ist also doch wahr! Wie schrecklich,
wenn die harten Eisenglieder dieses Mannes das zarte Erdreich
meines Freudengartens aufgerissen hätten! Die Männer dieser
Stadt sind fürchterlich!"
Bald darauf kam ihr Mann nach Hause und sagte: "So, meine
Gattin, nun nimm einmal ein Bad in dem herrlichen Wasser dieser
Stadt."
Abends kam der freundliche Mann in das Kaffeehaus. Er saß
verstört unter den Männern und sah nicht freundlich aus. Die
andern Männer sahen ihn. Sie rückten näher. Ein älterer Mann
sagte endlich: "Sprich dich aus, Freund. Du bist so erschöpft!
Was ist geschehen? Ist er abgeschnitten?" Der freundliche Mann
sagte: "Nein, es ist nicht dazu gekommen. Die Schere klapperte.
Da merkte ich es und sprang noch im letzten Augenblick weg!"
24. Die Rache des betrogenen Ehemannes*
Ein Mann hatte eine junge Frau geheiratet und das vor nicht
langer Zeit. Da erschien ihm eines Nachts sein Vater im Traum
und sagte ihm, er müsse nach Mekka pilgern. Am andern Morgen
rüstete der Mann sogleich sein Gepäck, ging zu seiner Frau und
sagte: "Meine junge Frau, mein Vater ist mir im Traum erschienen
und hat mich aufgefordert, nach Mekka zu reisen; das
will ich nun sogleich tun. Nun ist es sehr wohl möglich, daß du
in den wenigen Tagen, die wir miteinander verheiratet sind, empfangen
hast. Ich hoffe aber, wenn du das Kind ausgetragen hast,
zurückzukehren, so daß ich zu der Zeit der Geburt dann in deiner
Nähe bin. Wende dich aber immerhin, wenn du die ersten Anzeichen
der Schwangerschaft wahrnimmst, an eine alte Frau, der
ich den Auftrag geben werde, für dich zu sorgen." Darauf nahm
der junge Ehemann von seiner jungen Frau Abschied und trat seine
Pilgerfahrt an.
In der gleichen Stadt wohnte nun ein Muezzin (Gebetsausrufer),
der täglich von dem Minarett der großen Moschee aus seiner Berufspflicht
nachkam. Dieser Muezzin hatte die junge Frau gesehen,
und er hatte auch aus dem eigenen Munde des Mannes derselben
gehört, daß dieser zu einer Pilgerfahrt nach Mekka abgereist sei.
Der Muezzin sagte bei sich: "Diese junge Frau führt jetzt ein sehr
stilles Leben und wird diese Stille um so schmerzlicher empfinden,
als sie erst wenige Tage die Freuden der Ehe kennengelernt hat.
Diese junge Frau ist aber so schön und gut gebildet, daß es mir
scheint, ich könne derzeit nichts Angenehmeres erleben, als das
weiterzuführen, was dieser Mekkapilger an ihr begonnen hat. Ich
werde also mit der Alten, die bei der jungen Frau ein und aus
geht, Freundschaft schließen. Vielleicht kann sie mir in meinem
Drange, die junge Schöne über die Einsamkeit hinwegzutrösten,
helfen."
Der Muezzin sprach also eines Tages die Alte an und bat sie,
ihn einmal aufzusuchen, da er mit ihr etwas besprechen wolle. Die
Alte kam dem Wunsche sehr bald nach, und als der Muezzin sich
mit ihr allein sah, sprach er zu ihr: "Meine liebe Frau, ich denke,
du mußt eine reiche Erfahrung haben und mußt es wissen, daß die
Bedürfnisse und Wünsche der Leute recht verschieden sind." Die
Alte sagte: "Gewiß weiß ich das und kann selbst viel darüber
sagen." Der Muezzin sagte: "Dann wirst du wissen, daß einigen
Menschen dann und wann im Kopfe das herzlichste Bedürfnis aufwacht,
nach Mekka zu pilgern, während andere Leute an tiefer gelegenen
Körperteilen einen ebenso starken Drang empfinden, näher
gelegene Ziele zu erreichen. Du wirst dieses wissen." Die Alte
sagte: "Hierin hast du sicherlich recht, und ich darf wohl annehmen,
daß du mich nicht hast zu dir kommen lassen, um mich
über den Weg nach Mekka zu befragen." Der Muezzin sagte: "So
ist es! Ich habe nicht im geringsten vor, nach Mekka zu pilgern."
Die Alte sagte: "Dann wohnt deine Bedrängnis also wohl tiefer und
das Ziel deiner Sehnsucht näher." Der Muezzin sagte: "Ganz so
wollte ich es gesagt haben. Ich habe in der Tat eine Beschäftigung,
die mich den halben Tag mit den Dingen des Propheten in so
engem Zusammenhang erhält, daß ich nicht daran denken kann, den
oberen Teil meines Leibes in der Richtung nach Mekka weiter wegzuführen,
als das Gebet es vorschreibt. Ich habe auch vor einigen
Tagen wieder einen Bekannten nach Mekka pilgern sehen, der mir
außerdem versprach, für mich dort zu beten, so daß für den oberen
Teil meines Körpers gesorgt ist." Die Alte sagte: "Wenn du also
dem Bedürfnis deines Kopfes durch deinen Freund in Mekka
Rechnung getragen siehst, so meinst du wohl, daß du dafür hier
jenen Pflichten nachkommen könnest,. die jener Mekkapilger hier
in der Stadt derweilen versäumt?" Der Muezzin sagte: "Ich sehe,
du bist eine kluge Frau. Ich werde um die Welt nicht undankbar
sein, weder gegen einen andern noch gegen dich."
Die Alte sagte: "Wenn die Sache so steht, so will ich gern sehen,
wie ich dich den Zielen deiner Sehnsucht näherbringen kann, und
ich denke mir, daß mir das nicht schwer werden kann, wenn du
nämlich den Wunsch hast, die Tätigkeit fortzusetzen, die der jungverheiratete
Mekkapilger so plötzlich unterbrochen hat." Der
Muezzin dankte darauf der Alten, und diese eilte schnell zu der
jungen Frau des Mekkapilgers hinüber. Die Alte sagte zu der
Jungen: "Wenn ich es recht überlege, muß ich doch sagen, daß
dein Mann sehr schlecht an dir gehandelt hat und daß du sehr zu
bedauern bist!" Die junge Frau sagte: "Weshalb beschimpfst du
meinen Mann?" Die Alte sagte: "Ich beschimpfe deinen Mann
nicht; ich finde nur, daß er mit dem unfertigen Kinde sehr schlecht
an dir gehandelt hat, und daß er erst einmal das Kind seiner Frau
ausarbeiten konnte, ehe er sich entfernte, um den Wunsch seines
Vaters so schnell zu erfüllen." Die junge Frau sagte: "Was meinst
du mit dem unfertigen Kinde?" Die Alte sagte: "Nun, er hat dein
Kind nicht fertig ausgearbeitet! Er hat nur für den Körper gesorgt.
Wenn das Kind so geboren wird, werden ihm der Kopf und
alle Glieder fehlen. Er ist von der unfertigen Arbeit fortgelaufen,
und dir wird die Schande widerfahren, diesen Krüppel gebären zu
müssen." Die junge Frau erschrak sehr und sagte: "Ist es sicher so ?"
Die Alte sagte: "Sicher ist es so! Du kannst jeden Menschen
fragen, der davon genug versteht. Noch vor wenigen Tagen sprach
ich mit dem Muezzin des großen Minaretts, der durch seine ausgezeichnete
Kinderarbeit bekannt ist, über eine ähnliche Sache." Die
junge Frau sagte: "Ach, was ist mein Mann schlecht! Was ist
mein Mann schlecht! Aber sage mir doch, kann mir jener Muezzin,
der durch seine ausgezeichnete Kinderarbeit so bekannt ist, nicht
noch helfen, so daß das Kind fertig wird ?" Die Alte sagte: "Gewiß
kann er das. Du mußt ihn nur bitten!" Die junge Frau sagte:
"Meine Freundin, ich bitte dich, gehe schnell zu dem geschickten
Muezzin und sprich mit ihm. Willst du es tun?" Die Alte sagte:
"Wenn du durchaus willst, soll es geschehen!" Die Junge sagte:
"Ja, ich bitte dich! Und er soll auch schnell kommen, damit es
nicht zu spät wird." Die Alte sagte: "Ich will sogleich gehen.
Wann soll der Muezzin kommen?" Die Junge sagte: "Bitte ihn
herzukommen, sobald er Zeit hat." Die Alte ging.
Die Alte kam zum Muezzin und sagte: "Geh nur schnell hinüber,
mein Freund. Die junge Frau des Mekkapilgers bittet dich, nur
ja recht schnell zu ihr zu kommen!" Der Muezzin bedankte sich
bei der Alten und machte sich sogleich auf den Weg. Er kam zu
der jungen Frau des Mekkapilgers. Die junge Frau begrüßte ihn
und sagte: "Ich danke dir, daß du gekommen bist. Mein Mann hat
mir ein unfertiges Kind zurückgelassen und ist nach Mekka gepilgert,
ehe noch die Glieder angefangen waren. Ich habe dich
bitten lassen hierherzukommen, damit du diese Arbeit, in der du
sehr geschickt bist, zu Ende führst." Der Muezzin sagte: "Ich will
das gern ausführen." Die junge Frau sagte: "Wie lange wirst du
hierzu benötigen?" Der Muezzin sagte: "Man kann das nicht auf
einmal machen. Denn ich will die Arbeit gut machen, zumal dein
Mann auch für mich in Mekka betet." Die junge Frau sagte: "Es
ist gut. Fange nur schnell an, damit wir keine Zeit verlieren."
Der Muezzin sagte: "Es ist gut, lege dich nur gleich auf das Angareb.
Ich will dann schon mit allen Kräften arbeiten."
Die junge Frau legte sich also auf das Angareb. Der Muezzin
kam aber seinem Bedürfnis nach und erfüllte sein Versprechen, daß
er mit allen Kräften arbeiten wolle, vollkommen, so daß die junge
Frau über die Maßen zufrieden war. Als sie sich wieder von ihrem
Angareb erhob, sagte sie: "Es ist wahr, du verstehst diese Arbeit
wirklich besser als mein Mann. Komm nur recht häufig wieder
und bleibe weiter so bei der Sache." Der Muezzin sagte: "Ich verspreche
dir dieses und hoffe, daß du mit der Sache immer gleich
zufrieden sein wirst. Nur mußt du, wenn du besondere Wünsche
hast, mir diese beizeiten sagen, so daß ich alle Maßnahmen immer
im betreffenden Augenblick beobachten kann." Die junge Frau
sagte: "Wenn du so freundlich sein willst, für alles beizeiten Maßnahmen
treffen zu wollen, so vergiß doch ja nicht, daß das Kind,
wenn es ein Junge wird, ein gleich gutes Arbeitswerkzeug erhält
wie du. Es würde mir leid tun, wenn es bei dem Kinde so klein
und schwächlich würde wie bei seinem Vater." Der Muezzin sagte:
"Alles das kann ich dir versprechen. Denn gerade in der Ausführung
solcher Einzelheiten bin ich, wie ich glaube, geschickter als
nur irgendein anderer Kinderarbeiter dieser Stadt." Die junge Frau
sagte: "Mußt du jetzt schon wieder gehen oder könntest du noch
ein wenig in der Sache weiterwirken ?" Der Muezzin sagte: "Ich
habe soeben den Mund des Kindes angebracht. Wenn du nicht zu
ermüdet bist, so lege dich nur noch einmal hin; ich will dann die
Nase einsetzen." Die junge Frau sagte: "Ich bin ganz und gar nicht
so müde, daß ich das Einsetzen der Nase nicht noch ertragen könnte,
vielmehr scheint es mir, daß deine heftige Arbeitsweise mir mehr
zusagt als die sanftere meines Mannes." Damit legte die junge Frau
sich noch einmal auf das Angareb, und der Muezzin setzte die Nase
so stark an, daß die angehende Mutter bei der Wahrnehmung der
geschickten Tätigkeit des Muezzin freudig stöhnte.
Von nun an kam der Muezzin so oft es ihm behagte zu der jungen
Frau des Mekkapilgers, und diese war über seine emsige Arbeit
ganz außerordentlich glücklich. Um sich nun aber ganz und ungeteilt
der Tätigkeit bei der jungen Frau hingeben zu können,
sandte der Muezzin seine eigene Frau, die auch noch jung, ihm aber
gewohnter und deshalb gleichgültiger war, zu deren Eltern, damit
sie diese für einige Monate besuche. Dann widmete er sich mit
doppelter Kraft der jungen Frau des Mekkapilgers.
Inzwischen hatte der Mekkapilger seine Gebete verrichtet und
kehrte eines Tages unerwartet nach Haus zurück. Als seine Frau
ihn kommen sah, gewann sie es aber nicht über sich, ihn freundlich
zu begrüßen. Vielmehr wandte sie dem eintretenden Gatten
den Rücken zu und kümmerte sich nicht weiter um ihn, und als
er sie dann nachher freundlich ansprach, ging sie ohne Antwort
mit böser Miene von dannen. Der Mekkapilger sagte darauf bei
sich: "Hier muß irgend etwas vorgefallen sein. Ich muß das erfahren."
Er sprach seine Frau bei der nächsten Gelegenheit wieder
freundlich an. Sie aber wandte sich abermals mit schlimmer Miene
ab und wollte von dannen gehen.
Der Mekkapilger sagte aber zu seiner jungen Frau: "Warte einmal!
Bleib einmal hier und sage mir, warum du mir nicht antwortest
und mir ein so unfreundliches Gesicht zeigst!" Die junge
Frau wandte sich nun wohl ihrem Manne zu; sie sah ihn aber sehr
zornig an und sagte: "Weshalb ich unfreundlich zu dir bin? Nun,
weil du ein schlechter Mann bist, ein sehr schlechter Mann! Deinem
toten Vater zuliebe bist du weggelaufen nach Mekka und hast
mich, deine lebende junge Frau, mit einem unfertigen Kinde
zurückgelassen. Und einen Krüppel hätte ich bei derart abgebrochener
Arbeit mir zur Schande geboren! Dank aber dem
fleißigen Muezzin vom großen Minarett, der in vorzüglichster Weise
las unterbrochene Werk fortgesetzt hat und in so unermüdlicher
Tätigkeit dem Rumpfe alle Glieder, von der Nase bis zur großen
Zehe, zugearbeitet hat!"
Als der Mekkapilger das hörte, sagte er bei sich: "Oho, steht
die Sache so!" Zu seiner Frau sagte der Mekkapilger nichts. Am
gleichen Tage ging er aber zu dem Muezzin, den er von früher wohl
kannte, erzählte ihm, daß er die versprochenen Gebete ausgeführt
habe, und schloß mit ihm herzliche Freundschaft. Diese Freundschaft
pflegte der Mekkapilger mit aller Sorgfalt und besuchte seinen
neuen Freund alle Tage. So erfuhr er denn bald, daß dieser seine
Frau in eine einige Tagereisen entfernte Stadt gesandt habe, damit
sie dort für einige Monate bei ihren Eltern verbleibe. Der Mekkapilger
merkte sich dieses alles ganz genau und besuchte außerdem
seinen Freund, den Muezzin, so häufig, daß jener nicht imstande
war, etwas ohne Wissen des Mekkapilgers auszuführen.
Einige Tage lang empfand der Muezzin die Behinderung an der
ihm gewohnt gewordenen Nebenarbeit sehr angenehm, denn gerade
in den letzten Tagen hatte die junge Frau des Mekkapilgers bei
der Ausarbeitung der großen Zehen große Rührigkeit an den Tag
gelegt und hatte mehr Geduld und Aufnahmefähigkeit gezeigt, als
er auf die Dauer zu ertragen vermochte. Nachdem der Muezzin
also einige angenehme Tage der Ruhe an der Seite des neuen
Freundes genossen hatte, begann er sich nach einer frischen Betätigung
zu sehnen und sagte bei sich: "Zwar wünsche ich mir auf
die Dauer nicht eine Frau wie die dieses Mekkapilgers, eine Frau,
die mehr Bewegungsfreude und Ausdauer besitzt als ein Mann.
Sehr angenehm wäre es mir aber, wenn meine eigene Frau nun
wieder zu mir zurückkehrte, denn ihre Sanftmut ist auf die Dauer
doch genußreicher und leichter zu ertragen als das Ungestüm der
andern."
Nachdem der Mekkapilger nun also einige Zeit in der Stadt und
viel in der Umgebung des Muezzin geweilt hatte, sagte er eines
Tages zu seinem Freunde: "Ich werde morgen wieder für einige
Tage verreisen und werde jene Stadt aufsuchen." Dabei nannte
der Mekkapilger den Namen der Stadt, in der die Frau des Muezzin
bei dessen Schwiegereltern wohnte. Als der Muezzin dies hörte,
dachte er bei sich: "Dieser Mann verreist offenbar nur, um einmal
wieder seiner Frau für einige Zeit zu entgehen und sich auszuruhen.
Da seine Frau ihn also sehr in Anspruch genommen haben wird,
scheint er mir für einige Zeit gänzlich ungefährlich für alle Frauen."
Der Muezzin sagte aber laut zu dem Mekkapilger: "Hast du in
jener Stadt irgend jemand, bei dem du unterkommst ?" Der Mekkapilger
sagte: "Nein, ich kenne in dieser Stadt niemand." Der
Muezzin sagte: "Höre, mein Freund, das trifft sich ausgezeichnet.
In jener Stadt wohnen nämlich meine Schwiegereltern, bei denen
augenblicklich meine Frau zu Besuch weilt. Ich will dir also einen
Brief an meinen Schwiegervater mitgeben, so daß du bei ihm
wohnen kannst. Ich bitte dich aber um die Gefälligkeit, wenn du
heimkehrst, meine Frau unter deinem Schutze mitzubringen und
darauf zu achten, daß ihr auf dem Wege durch die Wüste nichts
abhanden kommt." Der Mekkapilger sagte: "Ich hatte zwar an
ein anderes Unterkommen gedacht; wenn dir aber, meinem
Freunde, daran gelegen ist, so will ich deinem Wunsche gern nachkommen."
Am andern Tage machte sich also der Mekkapilger mit dem
Briefe auf den Weg und kam nach einer längeren Reise auch bei
den Schwiegereltern des Muezzin an. Er weilte bei diesen einige
Tage und bereitete die Rückwanderung vor, und dem Inhalt des
Briefes entsprechend, bat der Gastwirt den Mekkapilger, sich seiner
Tochter anzunehmen und sie zu seinem Schwiegersohne zurückzuführen.
Der Mekkapilger reiste also mit der Frau des Muezzin
ab. Nachdem er am ersten Tage nur einen kleinen Marsch zurückgelegt
hatte, schlug er am zweiten den Weg in die Wüste ein, der
ein gut Teil kürzer als der übliche, aber für den ersten Tagesmarsch
sehr anstrengend war, zumal die Reisenden die folgende Nacht
unter einigen Bäumen allein in der Wildnis übernachten mußten.
Also kamen der Mekkapilger und die Frau des Muezzin abends
sehr ermüdet an diesem einsamen Lagerplatz unter den Bäumen
an. Der Mekkapilger sagte zu der Frau des Muezzin: "Höre, wir
sind hier in großer Einsamkeit, und es wird gut sein, daß immer
einer von uns wacht, damit wir auf das Herankommen von Dieben
oder Raubtieren vorbereitet sind. Laß mich nun erst zwei Stunden
schlafen, so daß ich ganz frisch bin. Dann wecke mich und ich
werde den Rest der Nacht wachen, so daß du ungestört und unbesorgt
dich bis zum Morgen ausschlafen kannst. Wecke mich also
nur nach zwei Stunden." Die Frau des Muezzin sagte: "Damit
bin ich ganz einverstanden." Der Mekkapilger sagte: "Wecke mich
nur nach zwei Stunden!"
Dann legte sich der Mekkapilger hin und schlief sogleich ein.
Die Frau des Muezzin nahm sich zwar vor, wach zu bleiben, der
Tagesmarsch war aber sehr beschwerlich gewesen, und so kam es,
daß auch sie nach einiger Zeit einschlief. Der Mekkapilger erwachte
aber bald darauf. Er sah vorsichtig hin, ob die junge Frau
auch fest schlief; dann ging er zu ihr und nahm ihr vom Hals und
von den Händen allen Goldschmuck, den sie umhatte und steckte
ihn in seine Beinkleider. Nun legte er sich an seinen alten Platz
und schlief bis zum nächsten Morgen.
Am andern Morgen erwachte die Frau des Muezzin zuerst. Sie
bemerkte sofort, daß ihr gesamter Schmuck abhanden gekommen
war. Sie erschrak sehr und weckte sogleich den Mekkapilger.
Dieser fuhr aus dem Schlafe und sagte: "Warum hast du mich
nicht in der Nacht geweckt? Es hätte uns sehr leicht etwas geschehen
können!" Die Frau des Muezzin sagte: "Es ist auch etwas
geschehen. Ich bin vor Müdigkeit eingeschlafen, und da ist ein Dieb
vorbeigekommen und hat mir meinen ganzen Goldschmuck gestohlen."
Der Mekkapilger fuhr auf und sagte: "Was, ein Dieb hat
dich bestohlen? Wir müssen sogleich die Fußspuren im Sande
suchen, um so zu erfahren, auf welchem Wege er von dannen
gelaufen ist. Sieh gleich auf allen Seiten um dich. Ich gehe selbst
auch umher." Die Frau des Muezzin sah um sich. Sie blickte nach
allen Seiten. Die Frau sagte: "Ich sehe nur die Spuren, die wir
selbst getreten haben, als wir gestern abend unser Gepäck aufschichteten."
Der Mekkapilger schüttelte den Kopf und sagte:
"Diese Sache ist sehr ernst; ich kann auch nicht mehr sehen. Wie
kann das nur geschehen sein!"
Der Mekkapilger setzte sich hin und dachte nach. Die Frau des
Muezzin setzte sich neben ihn und dachte nach. Die Frau des
Muezzin sagte nach einiger Zeit: "Fällt dir nichts ein?" Der
Mekkapilger sagte: "Es fällt mir schon etwas ein, aber es ist eine
schwierige Sache!" Die Frau des Muezzin sagte: "Sage es mir,
denn das ist mir eine schlimme Angelegenheit mit dem Verlust!"
Der Mekkapilger sagte: "So höre denn, du Frau meines Freundes!
Du weißt doch, daß Männer und Frauen einen Unterschied haben!"
Die Frau sagte: "Das weiß ich!" Der Mekkapilger sagte: "Nun
gut. Der Unterschied vieler Frauen ist diebisch und stiehlt sehr
gern. Das Stehlen ist dem Unterschied der Frauen angeboren.
Meist stiehlt der Unterschied der Frauen nun allerdings den
Männern. Wenn er aber lange Zeit nichts bei Männern zu stehlen
gehabt hat, so stiehlt er sehr leicht auch einmal seiner eigenen
Herrin etwas. Da nun rund herum keine fremde Fußspur zu sehen
ist, so kann ich es nicht anders annehmen, als daß dein eigener
Unterschied, wenn er sonst längere Zeit nicht seinen Mann zu bestehlen
Gelegenheit gehabt hat, dich selbst bestohlen und den Raub
in seinem Innern verborgen hat." Die junge Frau des Muezzin
sagte: "Daß mein Unterschied bei Männern gern stiehlt, habe ich,
seitdem ich verheiratet bin, oft bemerkt. Auch hat er in letzter
Zeit keine Gelegenheit gehabt, etwas zu stehlen. Sage mir nur, ich
bitte dich, wie kann man dem Unterschied die Schmucksachen
wieder wegnehmen?"
Der Mekkapilger wiegte den Kopf hin und her und sagte: "Das
kann eine Frau nicht allein machen. Ein Mann muß langsam und
vorsichtig seinen eigenen Unterschied in das Innere führen und
danach suchen. Es muß aber bald nach dem Raube und langsam
und vorsichtig geschehen, denn sonst wird der Raub immer weiter
im Innern versteckt, und du weißt, daß er dann erst als Kind wieder
herauskommen kann. Dein Unterschied wird aus dem Schmuck
also wohl ein steinernes Kind machen." Die Frau des Muezzin
schrie vor Schreck auf. Die Frau des Muezzin sagte: "Was? Ein
steinernes Kind soll ich gebären? Daran sterbe ich!" Der Mekkapilger
sagte: "Ja, daran sterben die Frauen." Die Frau des Muezzin
warf sich vor dem Mekkapilger auf die Erde und sagte: "Ich bitte
dich! Ich bitte dich! Versuche es schnell, ob du die gestohlenen
Sachen wieder aus meinem Unterschiede herausholen kannst! Ich
bitte dich!" Der Mekkapilger sagte: "Lege dich hin! Ich verspreche
dir, daß ich alles tun werde, um deinem Unterschiede den
Raub wieder zu entreißen!"
Die Frau legte sich hin. Der Mekkapilger aber begann mit großer
Vorsicht mit seinem Unterschiede die Untersuchung; und als er dies
eine Weile so ausgeführt hatte, daß auch die Frau seine Sorgfalt
und Fürsorge bemerken mußte, griff er mit der Hand nach unten
und langte aus seinem Hosenbein ein Armband heraus! Die Frau
des Muezzin sagte: "Ja, das ist das erste! Ich danke dir! Ich danke
dir! Schnell suche auch das andere!" Der Mekkapilger begann
also nach einer kleinen Ruhepause die Untersuchung aufs neue und
brachte diesmal das zweite Armband hervor. Die junge Frau war
darüber sehr glücklich und hätte nun gern die Untersuchung sogleich
zu Ende geführt gesehen. Der Mekkapilger bestand aber
darauf, daß sie erst ein Frühstück einnähmen und einigen aus einer
Flasche mitgenommenen Wein tränken, um so die Unterschiede
iur Ruhe zu bringen.
Der genossene Wein hatte aber zur Folge, daß die junge Frau
noch viel emsiger auf die Durchsuchung ihres diebischen Unterschiedes
bestand. Sie sagte: "Mein Unterschied empfindet es gar
nicht unangenehm, daß du ihn nach allen Richtungen auf den gestohlenen
Schmuck hin untersuchst, und mir will es so scheinen,
als ob er die gestohlenen Sachen auf diese Weise sehr gern wieder
hergibt, ja, als ob er nach jeder Untersuchung nach einer Wiederholung
dränge." Der Mekkapilger sagte: "Dieses ist sehr erklärlich.
Denn dein Unterschied hat deine Steine und dein Gold nur
deshalb gestohlen, weil er solange bei einem Manne nichts stehlen
konnte." Die Frau des Muezzin sagte: "Nun eile dich und suche
noch nach der Halskette!" Der Mekkapilger kam der Aufforderung
wiederum nach und überreichte der jungen Frau diesmal den
Halsschmuck.
So hatte die junge Frau denn allen ihren Schmuck wiedererhalten,
und der Mekkapilger hätte nun ohne weiteres mit der Frau
des Muezzin weiterreisen können. Nachdem beide sich aber noch
ein wenig an Speise und Wein gestärkt hatten, sagte die Frau des
Muezzin: "Höre, du freundlicher Mann! Vor einiger Zeit wurde
im Hause meines Vaters ein Ring vermißt. Es scheint mir nun
wohl möglich, daß mein Unterschied der Dieb auch dieses Gegenstandes
ist. Ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du ganz hinten
einmal danach suchen wolltest!" Der Mekkapilger, dem der Wein
auch noch mehr Freude an der annehmlichen Tätigkeit erweckt
hatte, sagte: "Gewiß, du freundliche Herrin eines räuberischen
Unterschiedes! Dieses soll sogleich geschehen!"
Der Mekkapilger begann die Untersuchung also zum vierten
Male, und zwar betrieb er sie nunmehr so weitgehend und energisch,
daß zum Abschluß die Frau des Muezzin einen Wind streichen
lassen mußte. Der Mekkapilger, der sowieso an der Grenze aller
Kräfte angekommen war, sagte also: "Hörst du? Eben hat dein
Unterschied laut geschworen, daß er nun kein gestohlenes Gold und
keine gestohlenen Steine mehr verborgen halte." Damit erhob er
sich. Die junge Frau richtete sich auch auf und sagte: "Ich habe
es wohl gehört; außerdem spüre ich nun auch, daß die Widerstandskraft
meines Unterschiedes gebrochen ist. Ich sage dir
Dank!"
Der Mekkapilger und die Frau ruhten sich noch ein wenig aus,
und dann machten sich beide auf den Weg und kamen zur guten
Zeit wieder in der Stadt an, in der der Mekkapilger sogleich seine
Frau, seine Begleiterin aber ihren Mann, den Muezzin, aufsuchte.
Der Muezzin empfing seine Frau aufs freudigste, und da er nun
schon längere Zeit ein sehr zurückgezogenes Leben geführt hatte,
so war er doppelt zudringlich in seinen Freudenbezeugungen. Seine
Frau wehrte ihn aber ab und sagte: "Unterwegs ist mir eine
schlimme Sache widerfahren, an der du schuld bist. Du weißt, daß
die Unterschiede der Frauen sehr diebisch sind. Du weißt, daß sie
eigentlich nur die Männer bestehlen. Da du mich nun aber solange
allein bei meinen Eltern gelassen hast und ihm so jede Gelegenheit,
sein angeborenes Diebsgelüst zu befriedigen, geraubt war,
hat er mir nachts alle meine Steine, Silber- und Goldsachen gestohlen,
um sich daraus ein steinernes Kind zu bilden, bei dessen
Geburt ich dann nachher natürlich gestorben wäre. Dank aber dem
freundlichen Mekkapilger, der jedes Schmuckstück eines nach dem
andern schnell und mühsam dem Dieb wieder entrissen und ihn
zuletzt zu dem Schwur, nichts anderes Derartiges gestohlen zu
haben, gezwungen hat. Ohne seine unterschiedlichen Bemühungen
ginge ich nun, infolge deiner Gleichgültigkeit, dem sicheren Tode
entgegen!"
Als der Muezzin das hörte, ging er hinaus und sagte bei sich:
"Dieser Mann hat den Tauschhandel anscheinend so gründlich betrieben,
daß meine Frau für die nächsten Tage mich wohl kaum
freundlich aufnehmen wird." Der Muezzin ging fort. Er traf
unterwegs den Mekkapilger und sagte: "Meine Frau hast du so
sicher zurückgebracht, daß ich für deine eingehende Fürsorge nicht
dankbar genug sein kann." Der Mekkapilger sagte: "Wie hätte
ich dir sonst die freundliche Nachhilfe, die du mir früher gewidmet
hast, danken können!"
FREMD GUT
25. Wudandahasch
1. Das Schicksal der Geschwister Wudandahasch
Ein Melik hatte drei Kinder, eine Tochter und zwei Knaben, die
Achmet und Hassan hießen. Das Mädchen wuchs heran und
wurde sehr, sehr schön. Die Leute kamen von allen Seiten, das
Mädchen zu sehen. Alle angesehenen Leute und die Söhne anderer
Könige kamen, um sich das schöne Mädchen zur Frau auszubitten.
Der König wollte sie aber niemand geben. Er wies jeden Freier,
ob es der Sohn eines Königs oder ob es der Sohn eines Vornehmen
war, zurück. Das tat er aber, bis er eines Tages starb. Kaum war
der Melik gestorben, da kam ein Rul (oder Gui) und bat das Mädchen
um ein Glas Wasser. Das Mädchen ging gern hin und gab
dem ihm unbekannten Rul das Wasser. Kaum aber reichte sie
ihm das gefüllte Gefäß, da faßte der Rul sie und trug sie im Nu weit
fort in sein Gasr.
Die Mutter hatte so hintereinander den Gatten und die Tochter
verloren und hatte jetzt nur noch zwei Söhne, den Achmet und
den Hassan. Die beiden Söhne waren noch klein und wuchsen
langsam heran. Sie spielten auf der Straße und lärmten, wie es die
Art der Burschen ist. Eines Tages nun spielte Achmet mit andern
Burschen, indem sie Holzstücke hin und her warfen, und als eine
Frau mit einem gefüllten Wasserkrug vorbeiging, hatte Achmet das
Unglück, das Gefäß zu treffen und mit dem Wurfe zu zerstören,
so daß das Wasser über die Frau herablief. Dadurch wurde die
Frau ärgerlich und sie sagte zu Achmet: "Wenn du schon so
stark bist, Achmet, dann wird es Zeit, daß du dich aufmachst und
deine Schwester von dem Rul befreist." Damit ging die alte Frau
fort.
Achmet lief aber sogleich heim zu seiner Mutter und sagte:
"Koche mir Wasser, daß ich ein Bad nehme!" Die Mutter setzte
Wasser auf das Feuer. Als das Wasser aber kochte, packte Achmet
die Mutter bei den Haaren und hielt ihren Kopf über das Wasser.
Dazu sagte Achmet: "Mutter, wenn du mir nicht sogleich sagst, wo
meine Schwester ist, dann werde ich deinen Kopf in das kochende
Wasser stecken. Mutter, wenn du mir nicht erlaubst, mich aufzumachen
und meine Schwester zu befreien, dann stecke ich deinen
Kopf in das heiße Wasser." Die Mutter erschrak und sagte: "Bist
du auch stark genug?" Achmet sagte: "Mutter, laß mich gehen!"
Darauf sagte die Mutter: "Dann geh, mein Sohn Achmet. Der Rul
Ibrahim hat deine Schwester geraubt."
Achmet nahm hierauf von seiner Mutter Abschied, bestieg sein
Pferd, ergriff seine Waffen und ritt erst dahin, wo sein Bruder
Hassan weilte. Achmet sagte zu Hassan: "Mein Bruder Hassan,
ich habe gehört, daß unsere Schwester von dem Rul Ibrahim geraubt
ist, und ich will hinreiten sie zu befreien. Nun nimm diesen
Ring hier und setze ihn auf den kleinen Finger. Wenn dich nun
der Ring anfängt zu drücken, so weißt du, daß es mir schlecht
geht. Dann sieh zu, daß du es möglich machst mir zu helfen."
Hassan nahm den Ring, setzte ihn auf den kleinen Finger und sagte:
"Es ist gut. Ich werde sehen, ob es dir schlecht oder gut geht."
Achmet ritt nun von dannen.
Achmet ritt sehr lange durch die Wüste hin. Es war sehr heiß,
und Achmet wurde sehr durstig. Nachdem er weit durch die Wüste
geritten war, kam er an einen Brunnen. An dem Brunnen stand
ein Feigenbaum. Neben dem Brunnen lag ein alter Mann. Achmet
sagte zu dem alten Mann: "Ich bin so durstig. Ich bitte dich, gib
mir zu trinken." Der alte Mann blieb liegen und sagte: "Da ist
der Schöpfsack und das Tau, hebe doch selbst das Wasser, denn
du bist ein junger Mann, und mir als einem alten Mann gib dann
auch zu trinken." Achmet nahm den Schöpfsack und ließ ihn in
den Brunnen herab. Dann begann er ihn wieder heraufzuziehen.
Achmet fühlte, daß der Sack sehr schwer war. Achmet zog aber
mit allen Kräften. Achmet zog und zog. Er war aber nicht imstande,
den Wassersack wieder heraufzuziehen.
Als der Alte sah, daß Achmet nicht imstande war, das Tau wieder
emporzuziehen, sagte er: "Sage mir doch einmal, mein Bursche,
was du hier eigentlich vorhast?" Achmet sagte: "Ich will meine
Schwester befreien, die von dem Rul Ibrahim gefangengenommen
ist." Der Alte sagte: "Wenn du nicht einmal imstande bist, den
Schöpfsack wieder heraufzuziehen, dann wirst du auch nicht mit
dem Rul kämpfen können. Ich rate dir also, wieder zurückzukehren."
Achmet sagte: "Ich kann und will nicht zurückkehren.
Ich muß zu dem Rul. Ich bitte aber dich, der du hier alles weißt,
mir den Weg zum Rul zu zeigen." Der Alte sagte: "Siehst du die
Schafe dort?" Achmet sagte: "Gewiß sehe ich die Schafe." Der
Alte sagte: "Folge nur immer den Schafen; dann kommst du sicher
zum Rul."
Darauf bestieg Achmet wieder sein Pferd, ritt hinter den
Schafen her und kam so zu dem Hause des Rul. Die Schwester
Achmets schaute gerade oben zum Fenster hinaus. Sie sah, daß
hinter den Schafen ein Mensch kam. Sie erkannte den Burschen.
Die Schwester erschrak und sagte: "Bist du es wirklich, mein Bruder
Achmet?" Achmet sagte: "Gewiß bin ich es!" Die Schwester rief:
"Was willst du denn hier, mein Bruder Achmet?" Achmet sagte:
"Ich will dich von dem Rul befreien, der dich gefangengenommen
hat." Die Schwester sagte: "Achmet, Achmet, fliehe schnell von
dannen! Du kannst den Rul nicht bekämpfen. Du bist verloren,
wenn er dich sieht. Flieh, mein Bruder! Flieh schnell!" Achmet
sagte aber: "Nein, meine Schwester; ich werde nicht fliehen,
sondern ich werde hier bleiben und werde mich mit dem Rul
messen."
Der Rul kam nach Hause. Der Rul sah Achmet. Der Rul kam
auf Achmet zu und drückte ihm zur Begrüßung die Hand. Er tat
das aber mit soviel Kraft, daß er Achmet den Arm ausdrehte, so
daß Achmets Arm kraftlos herunterhing. Der Rul sagte aber: "Bist
du nicht Achmet, der Bruder des schönen Mädchens?" Achmet
sagte: "Das bin ich." Der Rul sagte: "Was wünschest du von mir?
Sage es mir, womit ich dir eine Freude bereiten kann." "Ich will
meine Schwester wieder mit nach Hause zurücknehmen", sagte
Achmet. Der Rul sagte: "Gut; ich werde dir deine Schwester
morgen früh zurückgeben. Zunächst komm aber mit mir herein
und nimm Speise und Trank zu dir, denn du mußt von der weiten
Reise sehr ermüdet sein."
Achmet wurde also von dem Rul hineingeführt, und der Rul ließ
ihm ausgezeichnetes Essen und erfrischende Getränke bieten. Nach
dem Essen sagte der Rul aber: "Komm mit mir heraus und betrachte
meinen Garten." Achmet wollte hinter dem Rul hergehen.
Der Rul sagte aber: "Gehe du nur voran." So gingen sie
hinaus in den Garten, Achmet voraus, hinter ihm dann der Rul.
Sie gingen ein gutes Stück weit durch den Garten, dann kamen sie
an den Eingang einer Höhle, die sich weit, weit unter der Erde ausdehnte;
in der wohnten alle Menschen, die sich der Rul gefangen
hatte, damit er sich von Zeit zu Zeit einen darunter zum Mahle
heraussuche. Der Eingang dieser Höhle war schmal und mündete
nach oben in den Garten. Als der Rul nun mit Achmet an den
Höhleneingang kam, sagte er zu dem vor ihm gehenden Achmet:
"Schaue dort hinein; dort drunten ist das beste, was ich habe."
Achmet beugte sich vornüber und blickte hinab. Da gab der hinterhergehende
Rul ihm einen Stoß, und so stürzte er auch in die dunkle
Höhle hinab, in der der Rul alle seine Gefangenen hatte.
Kaum hatte der Rul den Achmet in die Höhle hinabgestoßen,
da begann der Ring, den Achmet Hassan gegeben und den Hassan
auf den kleinen Finger gesteckt hatte, sich zusammenzuziehen
und zu drücken. Hassan fühlte, daß der Ring ihn drückte und
sagte bei sich: "Meinem Bruder muß etwas zugestoßen sein."
Hassan ging also zu seiner Mutter und sagte: "Meine Mutter, ich
fühle durch den Ring, den Achmet mir zurückgelassen hat, daß
Achmet etwas sehr Schlimmes zugestoßen ist. Deshalb bitte ich,
mir die Erlaubnis zu geben, Achmet zu suchen und ihm zu helfen."
Die Mutter sagte: "Mein Sohn Hassan! Euer Vater ist gestorben.
Deine Schwester hat der Rul geraubt. Dein Bruder ist in die Hände
des Rul gefallen. Ich habe nur noch dich. Wenn ich dich auch
noch verliere, habe ich kein Kind mehr. Deshalb bitte ich dich,
stehe ab von deinem Verlangen und bleibe bei mir. Ich bitte dich!"
Hassan sagte: "Meine Mutter! Achmet, mein Bruder, verlangt
nach mir. Vielleicht kann ich ihm helfen und vielleicht können wir
gemeinsam etwas erreichen, was dein einer Sohn nicht allein vermöchte.
Laß mich also gehen."
Hassan drängte seine Mutter so, daß sie ihm zuletzt die Erlaubnis
zum Fortreiten gab. Hassan nahm seine Waffen, bestieg sein
Pferd und ritt wie Achmet in die Wüste hinaus. Er ritt lange, lange
Zeit durch die Wüste hin und kam auch zu dem Brunnen mit dem
Feigenbaum, in dessen Schatten der alte Mann lag. Hassan sagte:
"Alter Mann, ich bin sehr durstig! Gib mir etwas von dem Wasser
dieses Brunnens!" Der alte Mann sagte: "Ich bin auch durstig,
aber zu alt, selbst zu schöpfen. Dort liegt nun der Schöpfsack, laß
ihn herunter und ziehe Wasser herauf, trinke und gib dann mir, dem
alten Manne, auch etwas davon ab." Hassan stieg also ab und ließ
den Schöpfsack hinab, und als er fühlte, daß er voll Wasser war,
begann er den Strick anzuziehen. Er bemerkte nun sogleich, daß
der Sack sehr schwer war, und zog und strengte im Ziehen alle
seine Kräfte an. Dann trat er aber zurück. Er war nicht imstande,
den vollen Wasserschöpfsack wieder heraufzuziehen.
Als der alte Mann das sah, fragte er Hassan: "Weshalb kommst
du diesen Weg? Was willst du in diesem Lande?" Hassan sagte:
"Ein Rul hat meine Schwester geraubt. Mein Bruder hat sich aufgemacht,
meine Schwester zu befreien. An einem Ringe nun, den
mein Bruder mir zurückgelassen hat, bemerkte ich, daß es ihm
schlecht geht. Deshalb bin ich aufgebrochen, um meinen Bruder
und meine Schwester zu befreien." Der alte Mann sagte: "Laß ab
und kehre heim! Wenn du den Schöpfsack nicht hochziehen,
kannst, wird es dir so wie deinem Bruder und vielen, vielen vor
ihm gehen. Du bist zu schwach, um den Rul zu überwinden!"
Hassan sagte: "Lieber Alter! Ich will es versuchen. Sage mir doch
den Weg, den ich gehen muß, um das Haus des Rul zu finden, in
dem meine Schwester und mein Bruder weilen." Der alte Mann
sagte: "Folge nur den Schafen dort!" Darauf folgte Hassan den
Schafen und kam in die Nähe des Hauses des Rul.
Die Schwester der Brüder sah zum Fenster hinaus. Sie erkannte
Hassan und erschrak. Die Schwester rief schon von weitem: "Mein
Bruder Hassan, kehre schnell um! Schnell kehre um! Sogleich
kommt der Rul, und dann wird er mit dir verfahren, wie er es mit
deinem Bruder Achmet getan hat." Hassan sagte: "Meine
Schwester, du und mein Bruder, ihr lebt. Deshalb will ich sehen,
ob ich euch helfen kann." Die Schwester rief: "Fliehe, mein
Bruder Hassan!" Hassan sagte: "Nein, meine Schwester; ich
kann und will nicht fliehen!"
Der Rul kam. Er begrüßte Hassan und drückte ihm die Hand.
Er drückte ihm die Hand so stark, daß er ihm den Arm ausrenkte.
Der Rul fragte: "Du bist Hassan; was wünschest du von mir? Was
kann ich für dich tun?" Hassan sagte: "Ich möchte meine
Schwester und meinen Bruder wieder nach Hause zurückbringen."
Der Rul sagte: "Das kann morgen geschehen. Heute sollst du mit
mir essen und trinken, denn du wirst von der Reise ermüdet sein."
Dann begleitete der Rul Hassan ins Haus, setzte ihm Speise und
Trank vor und forderte ihn endlich auf, mit ihm hinaus in den
Garten zu gehen, womit Hassan einverstanden war.
Der Rul ließ Hassan vor sich her in den Garten gehen und führte
ihn herum, damit er alles sehe. Als er nun an den Eingang der
großen unterirdischen Höhle kam, in der schon Achmet und viele,
viele andere Menschen gefangen waren, forderte er Hassan auf,
sich vornüber zu beugen und hinabzuschauen, und als Hassan das
tat, gab er ihm von hinten einen Stoß, so daß er kopfüber tief
hinabfiel. So waren also beide Brüder in der Höhle, die Schwester
aber in dem Hause des Rul gefangen.
2. Wudandahaschs Geburt und Jugendstreiche
a) Die Geburt
Die Mutter wußte aber, daß nun auch Hassan in der Höhle des D Rul gefangen war. Die Mutter weinte und sagte: "Was soll
ich nun! Auch Hassan, mein jüngster Sohn, ist von dem Rul gefangen.
Ich habe nun keine Kinder mehr, als die bei dem Rul.
Ich will also auch zu dem Rul reiten." Danach bestieg die Mutter
ihren Esel und ritt in die Wüste hinaus.
Die Mutter ritt weit in die Wüste hinaus. Es war heiß, und sie
empfand großen Durst. Als nun der Esel, auf dem sie ritt, einmal
sein Wasser abschlug, fing sie davon mit den Händen auf und trank
es. Gleich danach fühlte die Mutter, daß sie schwanger war. Die
Frau weinte aber und schrie und sagte: "Drei Kinder habe ich geboren,
die sind alle vom Rul genommen! Wie soll es nun mit dem
vierten Kinde werden?" Da sprach das Kind im Leibe der Mutter
und sagte: "Um mich sorge dich nicht, meine Mutter. Ich werde
bald jedem Rul gewachsen sein! Zunächst will ich nur bald geboren
werden." Kurze Zeit danach gebar die Mutter in der Wüste,
und das Kind konnte laufen, als es geboren wurde. Das Kind hatte
aber wohl auf der einen Seite das Ohr des Menschen, auf der
andern jedoch das eines Esels. Deshalb erhielt der Knabe den
Namen Wudan (Ohr) Dahasch (Esel).
Wudandahasch lief gleich nach seiner Geburt neben der Mutter
her und zeigte ihr den Weg aus der Wüste. Sie gingen einige Zeit,
dann kamen sie an eine große Stadt. Die Mutter weinte aber und
sagte: "Nun sind wir in einer fremden Stadt, und ich habe kein
Geld, um Butter und Honig zu kaufen, und ich bin zu müde, um
noch in den Basaren nach dem nötigsten auszuschauen." Wudandahasch
sagte: "Aber meine Mutter, weshalb weinst du denn? Du
hast doch mich jetzt, daß ich dir helfe und beistehe. Ich werde
sogleich in die Basare gehen und werde alles besorgen, was du
brauchst!"
Darauf ging Wudandahasch in den Basar und kaufte Butter bei
einem Manne. Als der Mann sah, wie klein Wudandahasch war,
da lachte er und sagte: "Seht den kleinen Butterkäufer!" Darauf
sagte Wudandahasch: "Du sollst nicht lachen über mich!" Und er
schlug den Butterhändler so, daß ihm der Kopf schief auf dem
Halse sitzenblieb. Dann ging Wudandahasch zu einem andern
Manne und kaufte Honig. Der andere Mann aber lachte auch und
sagte: "Seht den kleinen Honigkäufer!" Darauf sagte Wudandahasch:
"Du sollst nicht lachen über mich!" Und er schlug den
Honighändler so, daß ihm der Kopf schief auf dem Halse sitzenblieb.
Von da an fürchteten die Leute Wudandahasch und lachten
nicht mehr über ihn.
Wudandahasch ging mit seiner Mutter nun in die Wüste (soll
offenbar heißen, daß sie an der Grenze der Wüste nahe der Stadt
Wohnung nahmen). Die Mutter fragte Wudandahasch: "Mein
Sohn, was brauchst du nun?" Wudandahasch sagte: "Ich brauche
vor allen Dingen einen Stock. Besorge mir einen Stock, meine
Mutter." Die Mutter ging nun hin und suchte einen Stock. Es
war ein fester Holzstock. Den gab sie dem kleinen Wudandahasch;
Wudandahasch nahm ihn aber und zerbrach ihn zwischen den
Fingern. Die Mutter brachte einen großen und schweren Stock.
Wudandahasch zerbrach ihn zwischen den Händen und sagte: "Es
muß ein Stock aus Eisen sein!" Die Mutter brachte nun einen
Eisenstock, der fünfzig Ratl (= Pfund) wog. Wudandahasch zerbrach
ihn aber über dem Knie. Wudandahasch sagte: "So laß mir
doch einen starken Stock schmieden." Darauf ging die Mutter zu
den Schmieden und ließ einen Stock schmieden, der wog (tultumi)
300 Rat!. Wudandahasch nahm den Stock und hob ihn in die Luft.
Wudandahasch sagte: "Das ist ein Stock, wie ich ihn gebrauchen
kann."
b) Der Kampf mit Madina Rula
Dann ging Wudandahasch an die Straße, dahin, wo viele Leute
vorbeikamen. Und Wudandahasch begann mit dem Eisenstock
die Leute in die Seite zu stoßen. Wudandahasch verwundete
die Leute nicht, sondern brachte sie damit nur zum Hinfallen. Das
freute ihn und er lachte. Die Leute waren aber böse darüber. Sie
liefen zum Melik der Stadt und sagten: "Am Tore ist ein Bursche mit
Namen Wudandahasch. Der stößt uns immer mit seiner Eisenstange,
so daß wir hinfallen. Dieser Wudandahasch ist aber sehr stark."
Der Melik sagte zu seinem Wesir: "Was fange ich mit diesem
Wudandahasch an, der so stark ist und der die Leute immer belästigt?
Er ist so stark, daß niemand unter meinen Leuten es wagt
ihn anzupacken." Der Wesir sagte: "Herr, das ist vielleicht in
der Weise möglich, daß du ihn einem Stärkeren überantwortest.
Du hast doch hier den großen Garten, in dem die schönsten Früchte
des ganzen Landes wachsen. Du weißt, daß seit Jahren den Garten
niemand betreten kann, weil die große Madina Rula jetzt darin
lebt und jeden tötet. Wenn du nun den Wudandahasch beseitigen
willst, so gib doch dem Burschen die Schaf- und Ziegenherden und
beauftrage ihn, sie in dem großen Garten zu hüten. Wenn Wudandahasch
dann in den Garten kommt, wird Madina Rula ihn schon
töten." Der Melik hörte den Wesir an und sagte: "So werde ich
es tun." Der Melik ließ alsdann Wudandahasch kommen und sagte
zu ihm: "Wudandahasch, du bist ein starker Bursche, und ich
kann dich deshalb sehr gut dazu gebrauchen, meine Herden zu
hüten. Du kannst also morgen die Schafe und Ziegen in dem großen
Garten hüten." Wudandahasch sagte: "Das will ich tun."
Am andern Tage kam Wudandahasch mit den Ziegen und Schafen
und trieb sie auf den großen Garten zu, in dem Madina Rula lebte.
Als er an den Garten kam, fand er, daß das große Tor geschlossen
war. Darauf nahm er seine Eisenstange und schlug die Tür mit
einem Schlage ein. Er trat in den Garten, und sogleich kam Madina
Rula ihm entgegen. Madina Rula sagte: "Komm herein, Wudandahasch!"
Der Bursche sagte: "Was, du kennst meinen Namen?"
Madina Rula sagte: "Gewiß, ich kenne deinen Namen schon lange.
Ich weiß schon lange, daß du kommen würdest. Ich werde dir
etwas vorschlagen, Wudandahasch! Bleibe du dort drüben. Ich
bleibe hier. So nimmt jeder einen Teil des Gartens für sich, und
keiner stört den andern. Auf diese Weise vermeiden wir Unfrieden
und Streit. Der Wezir und der Melik wollen uns aneinanderbringen,
aber wir wollen Frieden halten." Wudandahasch sagte:
"Es ist mir recht!"
Wudandahasch hütete an diesem Tage seine Herde auf der Seite
des Gartens, die ihm nach der Verabredung mit der Madina Rula
zufiel. Er sah die schönen Früchte an den Bäumen und pflückte
viele und steckte sie in seine Tasche. Nachher trieb er dann seine
Herde fort. Er ging aber zum König und sagte: "In dem Garten,
in dem ich heute deine Herde hüten sollte, fand ich viele schöne
Früchte. Ich habe dir deshalb einige der besten mitgebracht." Der
König war über die schönen Früchte sehr erfreut und sagte: "Ich
danke dir, Wudandahasch, für diese Früchte. Du darfst dir auch
irgendein Geschenk von mir wünschen." Wudandahasch sagte:
"Ich will kein besonderes Geschenk haben. Ich bitte dich nur, mir
auch ferner zu erlauben, die Leute an der Straße mit meinem Stock
zu stoßen, so daß es etwas zum Lachen gibt."
Der König ließ Wudandahasch gehen und sagte zum Wesir:
"Was sagst du nun hierzu, Wesir? Ich denke mir, daß auch die
große Madina Rula vor diesem Wudandahasch solche Furcht hat,
daß sie ihn nicht anzufassen wagt!" Der Wesir sagte: "Ich glaube
das dem Wudandahasch nicht! Ich glaube, er ist gar nicht in dem
Garten gewesen, sondern hat diese Früchte nur über den Zaun weg
gepflückt. Willst du ihn mit seiner Herde morgen noch einmal in
den Garten schicken, so will ich Leute hinterhersenden, die zusehen
sollen, ob der Bursche wirklich in den Garten geht oder
nicht." Der Melik war mit dem Vorschlag des Wesirs einverstanden
und ließ Wudandahasch noch einmal rufen, um ihm zu
sagen, daß er am andern Tage noch einmal in den Garten der
Madina Rula gehen solle, um seine Herde da zu hüten.
Also trieb Wudandahasch am andern Tage wieder seine Schafe
und Ziegen in den Garten der Madina Rula. Der Wesir sandte
aber Leute nach, die sagen sollten, was er tue. Die Leute folgten
Wudandahasch bis an den Garten. Die Leute sahen, wie er mit
seiner Eisenstange das Tor öffnete. Die Leute sahen, wie er seine
Herde in den Garten trieb. Die Leute liefen also zum König zurück
und sagten ihm, daß Wudandahasch seine Herde wirklich in den
Garten getrieben habe, nachdem er das Tor mit der Eisenstange
geöffnet hatte. Abends kam aber Wudandahasch selbst mit seiner
Herde wieder und brachte dem König einige der schönen Früchte
mit. Der König war über die Früchte sehr erfreut und sagte:
"Wudandahasch, ich danke dir für die schönen Früchte. Du
kannst dir auch ein Geschenk von mir wünschen." Wudandahasch
sagte: "Ich will keine besonderen Geschenke haben. Ich bitte dich
nur, mir auch fernerhin zu erlauben, die Leute an der Straße mit
meinem Stocke zu stoßen, so daß es etwas zum Lachen gibt."
Wudandahasch trieb seine Herde von nun ab alle Tage in den
Garten der Madina Rula. Eines Tages* aber fand er, als er wieder
in den Garten kam, Madina Rula schlafend. Da brachte er von allen
Seiten Holz und trockenes Strauchwerk herbei und schichtete das
über Madina Rula auf. Dann entzündete er es, und so entstand
ein mächtiges Feuer, in dem Madina Rula starb. Als er sah, daß
Madina Rula gestorben war, schnitt er ihr den Kopf ab. Dann
nahm er den Kopf und brachte ihn dahin, wo ein mächtiger Felsblock
lag. Er hob den Felsblock mit seiner Eisenstange auf (vom
Erzähler pantomimisch als hebelnd angedeutet), legte den Rulakopf
darunter und ließ den Felsblock wieder fallen, so daß er den
Kopf völlig bedeckte. Dann trieb er seine Herde aus dem Garten
und sagte zu den Leuten, denen er begegnete: "Ihr könnt jetzt
ruhig in den Garten gehen. Die Rula ist tot." Dem König brachte
er aber wie immer Früchte mit. Der König sagte: "Ich danke für
die schönen Früchte. Du kannst dir auch ein Geschenk von mir
wünschen." Wudandahasch sagte aber: "Ich will keine besonderen
Geschenke haben. Ich bitte dich nur, mir auch fernerhin zu erlauben,
die Leute an der Straße mit meinem Stocke zu stoßen, so
daß es etwas zum Lachen gibt."
Die Leute aber, denen Wudandahasch auf seinem Heimwege gesagt
hatte, daß jeder jetzt in den Garten gehen könne, da die
Madina Rula tot sei, gingen zu dem Garten. Sie fanden das Tor
offen. Sie gingen vorsichtig hinein. Da fanden sie den riesigen
Leib der Madina Rula, der der Kopf abgeschnitten war. Erst erschraken
sie bei dem Anblick, dann aber lief ein jeder, der das gesehen
hatte, zum König und sagte: "König, ich bitte dich um ein
Geschenk, denn ich habe die Madina Rula getötet." Der König
hörte den ersten an und war sehr zufrieden. Dann kam ein zweiter,
dann ein dritter. Es kam eine ganze Reihe von Leuten, und jeder
verlangte ein großes Geschenk und behauptete, Madina Rula getötet
zu haben.
Der König sagte: "Das ist eigenartig. Es können nicht so viele
Leute die eine Madina Rula getötet haben. Ich werde diese Sache
selbst ansehen." Er begab sich also mit dem Wesir und andern
Leuten in den Garten und betrachtete den Körper der Madina Rula,
dem der Kopf abgeschlagen war. Der König sagte zu seinem Wesir:
"Es kann kein Zweifel sein, daß Madina Rula getötet vor uns liegt.
Nun behauptet von allen diesen Leuten ein jeder, er allein habe die
Rula getötet. Wie kann ich nun die Wahrheit erfahren?" Der
Wesir sagte: "Der einzige, der hierüber etwas sagen kann, ist wohl
Wudandahasch, der alle Tage hier im Garten war." Der König
sagte: "Das ist richtig; wir wollen Wudandahasch rufen!" Also
wurde Wudandahasch gerufen.
Als Wudandahasch kam, fragte ihn der König: "Weißt du vielleicht,
wie ich in Erfahrung bringen kann, wer Madina Rula getötet
hat?" Wudandahasch sagte: "Das ist sehr einfach. Wer
Madina Rula getötet hat, wird auch wissen, wo der abgeschnittene
Kopf ist." Der König sagte zu denen, die die Rula getötet haben
wollten: "Wer kann denn sagen, wo der Kopf der Madina Rula
ist?" Die Leute sahen sich verlegen um; es konnte aber keiner
sagen. Der König sagte zu Wudandahasch: "Von diesen hier kann
es keiner sagen. Weißt du sonst nichts?" Wudandahasch sagte:
"Gewiß weiß ich etwas. Ich weiß genau, wo der Kopf Madina
Rulas liegt. Er liegt unter jenem Felsblock dort. Es kann aber nur
der Madina Rula getötet haben, der imstande ist, den Felsblock
hochzuheben. Also meine ich, müßten alle, die die Rula getötet
haben wollen, zeigen, ob sie den Felsblock hochheben können."
Darauf ließ der König alle die, die vorher gesagt hatten, sie hätten
die Rula getötet, nochmals herantreten und verlangte von ihnen,
sie sollten versuchen, den Felsblock emporzuheben. Einer nach dem
andern trat heran und versuchte den Felsblock zu heben. Aber
nicht ein einziger vermochte ihn auch nur ein wenig zu bewegen.
Als alle gezeigt hatten, daß sie nicht imstande waren, den Felsblock
zu heben, sagte Wudandahasch: "Nun ist es wohl ersichtlich,
daß diese Leute gelogen haben. Jetzt werde ich zeigen, wer Madina
Rula getötet und wer den Kopf Madina Rulas abgeschnitten hat."
Wudandahasch ging also hin, hob mit seiner Eisenstange den Felsblock
auf, nahm den Kopf Madina Rulas heraus und warf ihn vor
die Füße des Königs. Wudandahasch sagte: "Jetzt wißt ihr es!"
Da sahen alle Anwesenden, daß nur Wudandahasch es gewesen sein
konnte, der die Madina Rula getötet und den Kopf abgeschnitten
habe. Der König sagte: "Wudandahasch, ich will dich in einer
meiner Städte zum König machen." Wudandahasch sagte: "Ich
will nicht König einer deiner Städte werden. Ich bitte dich nur,
mir auch fernerhin zu erlauben, die Leute auf der Straße mit
meinem Stocke zu stoßen, so daß es etwas zum Lachen gibt." Der
König sagte: "Du hast etwas Großes getan. Willst du denn sonst
nichts?" Wudandahasch sagte: "Nein, sonst will ich nichts."
Wudandahasch ging.
c) Die Überwindung der Wasserrula
Wudandahasch tat nun wie bisher. Er stieß die Leute auf der
Straße mit seiner Eisenstange in die Seite. Er tötete sie nicht
und verwundete sie nicht, sondern er warf sie nur hin. Die Leute
fürchteten sich aber, und alle Welt war zornig und alle Leute
kamen zum König und sagten: "Wudandahasch stößt uns immer
mit seiner Eisenstange, so daß wir hinstürzen." Darauf sagte der
König: "Ist denn niemand da, der Wudandahasch überwinden
kann?" Die Leute sagten: "Nein, es ist niemand da, der Wudandahasch
überwinden kann." Der König sprach darauf mit seinem
Wesir und sagte: "Was kann man nur tun, um Wudandahasch
beiseite zu bringen? Wudandahasch ist für das Land eine Plage,
und es ist niemand da, der ihn überwinden kann." Der Wesir
dachte nach und sagte endlich: "Jetzt weiß ich, wer Wudandahasch
aus dem Wege bringen könnte. Du hast hier bei deiner großen
Stadt den schönen Fluß mit ausgezeichnetem Wasser. Nun muß
aber ein jeder aus dem Brunnen das schlechte Wasser holen und
keiner kann das gute Wasser des Flusses nehmen, weil zwei Rula
in dem Flusse leben, die jeden töten, der an das Wasser kommt.
Sende doch Wudandahasch an den Fluß mit deinen Schafen und
Ziegen. Er soll die Herde am Ufer des Flusses hüten. Dann werden
die beiden Rula ihn töten, und du hast deinen Vorteil. Sollte
aber Wudandahasch die Rula umbringen, was nicht anzunehmen
ist, so kannst du damit auch zufrieden sein." Der Melik hörte den
Wesir an und sagte dann: "Du hast recht! So werde ich es
machen."
Der Melik ließ Wudandahasch kommen und sagte zu ihm:
"Nimm die Schafe und Ziegen und hüte sie am Ufer des Flusses!"
Wudandahasch sagte: "Das will ich gern tun." Am andern Tage
trieb Wudandahasch also die Schafe und Ziegen wieder aus und
diesmal an das Ufer des Flusses. Wudandahasch trank von dem
schönen Wasser des Flusses. Er stieg in den Fluß und badete. Er
füllte einen Wassersack mit dem herrlichen Wasser. Es zeigte sich
an diesem ersten Tag aber keine Rula. Wudandahasch nahm also
den Sack mit Wasser, trieb die Herde heim und trug dann den
Sack mit Wasser zum König. Er sagte: "Ich habe so, wie du es
mir gesagt hast, deine Herde am Ufer des Flusses hingetrieben und
habe dir hier von dem schönen Wasser etwas mitgebracht." Der
König versuchte das Wasser und sagte: "Dies Wasser ist wirklich
sehr gut; es ist viel besser als das schmutzige Wasser aus dem
Brunnen. Nun bringe mir nur häufiger etwas von dem Wasser.
Zuerst sage mir aber, was ich dir schenken kann." Wudandahasch
sagte: "Ich will kein besonderes Geschenk von dir haben. Ich
bitte dich nur, mir auch fernerhin zu erlauben, die Leute auf der
Straße mit meinem Stock zu stoßen, so daß es etwas zum Lachen
gibt."
Am andern Tage trieb Wudandahasch seine Herde wiederum zu
dem Ufer des Flusses. Wudandahasch sah sich um und sah, daß
eine der Rula im Wasser schwamm, während die andere schlief.
Da näherte er sich vorsichtig der Rula und zog ihr, ehe sie es sich
versah, einen silbernen Fußring vom Bein. Mit dem silbernen Fußring
eilte er heim, gab ihn seiner Mutter und sagte: "Meine Mutter,
bewahre mir diesen silbernen Fußring auf und bewache ihn." Die
Mutter nahm ihn.
Am andern Tage trieb Wudandahasch wieder seine Herde an das
Ufer des Flusses. Die beiden Rula sahen Wudandahasch nicht.
Die beiden Rula sprachen miteinander. Die beiden Rula sagten:
"Dieser Wudandahasch war erst täglich mit der Herde im Garten
Madina Rulas. Er hat Madina Rula getötet. Er kommt jetzt täglich
an unsern Fluß. Gestern hat er schon unsern silbernen Fußring
genommen. Wudandahasch wird uns noch töten, wenn wir
nicht Freundschaft mit ihm schließen. Wir haben unsere Errukhs
(Errukhs sind ca. 2-4 cm lange und ca. 1/2 cm dicke Zweigstücke
mit Rinde und ohne Ornamente, welche zu allerhand Verwandlungen
gebraucht werden. Viele Leute tragen solche Errukhs als
schützende und fördernde Amulette in der Tasche), mit deren Hilfe
können wir die häßliche Haut der Rula anlegen und sind dann die
schlimmsten Feinde der Menschen. Oder aber wir können diese
häßliche Haut ablegen und sind dann schöne Frauen. Wir wollen
nun unsere Errukhs anwenden und wollen die häßliche Haut ablegen.
Wir wollen als schöne Frauen mit ihm Freundschaft
schließen. Wir wollen aber unser Gerät mitnehmen, damit wir
immer, wenn wir es brauchen, Rula sein können. So wollen wir
es tun."
Wudandahasch hörte es, wie die beiden Frauen so miteinander
sprachen. Wudandahasch merkte sich die Worte. Er ging um den
Platz herum und kam von der andern Seite. Er trieb seine Herde
an den Fluß. Am Flusse saßen zwei sehr schöne Mädchen. Wudandahasch
sagte: "Ihr seid zwei schöne Frauen." Die beiden Frauen
sagten: "Wir wollen mit dir kommen und in deinem Hause mit dir
Freundschaft schließen. Wir wollen nur jede ihren Korb mitnehmen.
Bist du damit einverstanden?" Wudandahasch sagte:
"Ich will euch mitnehmen und mit euch Freundschaft schließen.
Jede kann in ihrem Korbe ihre Sachen tragen. Aber ihr müßt mir
in allem gehorsam sein, was ich will. Seid ihr damit einverstanden?
Sagt es, denn wie ihr wißt, bin ich Wudandahasch." Die beiden
Frauen sagten: "Wir wissen, daß du Wudandahasch bist und deshalb
nur wollen wir mit dir gehen und wollen dir gehorchen. Wir
sind damit einverstanden."
Wudandahasch sagte: "Dann kommt mir mir. Wir wollen erst
beim Hause des Königs vorbeigehen und nachher könnt ihr bei
meiner Mutter wohnen." Dann ging Wudandahasch mit den
beiden schönen Frauen in die Stadt zum Hause des Königs. Jede
der Frauen hatte aber ihren Korb bei sich. Als sie nahe am Hause
des Königs waren, blieb Wudandahasch stehen. Er stützte sich
auf seinen Eisenstock und sagte: "Nun ist es an der Zeit, daß ihr
eure Errukhs herausnehmt und eure alten Häute als Rula anlegt."
Die schönen Frauen erschraken und sagten: "Weißt du denn, daß
wir Rula sind?" Wudandahasch sagte: "Ihr könnt Rula sein und
könnt schöne Frauen sein, je nachdem wie ihr eure Errukhs anwendet.
Ich habe aber euren Silberfußring und bin, wie ihr wißt,
Wudandahasch. Ich will euch noch einmal als Rula dem König
zeigen. Mehr will ich nicht." Wudandahasch hob seinen Eisenstock
hoch.
Da fürchteten sich die zwei Rula und sie sagten: "Wir wollen
tun, was du sagst." Sie nahmen die Errukhs und aus den Körben
die Häute der Rula. Sie verwandelten sich in Rula und gingen nun
folgsam vor Wudandahasch her. Die Leute aber, die die Rula
sahen, erschraken und liefen kreischend von dannen. Die Leute
liefen überall schreiend weg und flüchteten sich zum König und
riefen: "Hilf uns, Melik! Wudandahasch hat die zwei Rula aus
dem Flusse gebracht und treibt sie hierher. Er wird uns den zwei
Rula ausliefern, so daß wir getötet und gefressen werden! Hilf
uns, Melik!" Der Melik erschrak und sagte zu dem Wesir: "Was
ist das? Was wird das? Was tun wir?" Die Leute schrien: "Du,
der Melik, und du, der Wesir, ihr beide waret es, die Wudandahasch
zum Flusse hinabsandten. Ihr seid schuld daran, wenn Wudandahasch
uns nun die zwei Rula in die Stadt bringt, so daß sie uns
alle fressen werden. Ihr müßt uns helfen! Ihr müßt Wudandahasch
entgegengehen und müßt ihn bitten uns zu schonen."
Der Wesir sagte zum Melik: "Wir müssen tun, was alle die Leute
verlangen. Wir wollen Wudandahasch entgegengehen und wollen
ihn bitten, das Volk der Stadt nicht vernichten zu lassen." Der
Melik und der Wesir standen auf. Sie gingen aus dem Palast her-
aus. Da sahen sie auch, wie Wudandahasch die beiden Rula auf
die Stadt zuführte. Als ihre Augen aber die beiden Rula sahen,
erschraken sie und wollten fortrennen und sich im Palast verstecken.
Sie wandten sich schon um; Wudandahasch rief ihnen aber
zu: "Bleibt! Bleibt! Ich wollte euch die beiden Rula nur zeigen.
Sie werden euch und niemand etwas tun, denn ich bin der Herr
ihrer Kleider (dies ,Ich bin der Herr ihrer Kleider' ist wörtlich).
Bleibt und seht nur!" Nun blieben der König und der Wesir
stehen.
Der Melik und der Wesir standen still und sahen die zwei Rula.
Die zwei Rula waren aber schrecklich zu sehen. Alle Leute sahen
die Rula, und Wudandahasch stand hinter ihnen und war ihr Herr.
Wudandahasch sagte: "Nun ist es aber genug. Ihr sterbt sonst alle
vor Furcht!" Dann machte Wudandahasch ein Feuer und sagte
zu den zwei Rula: "Nehmt eure Errukhs! Legt die Rulahäute ab,
denn ich bin Wudandahasch!" Darauf nahmen die beiden Rula
ihre Errukhs zur Hand, und gleich darauf hatten sie die zwei Rulahäute
abgelegt und standen als schöne Frauen da. Darauf riefen
der Melik und der Wesir und alle Leute: "O seht! Wie schön sie
sind!" Alle Leute staunten.
Wudandahasch nahm aber die Errukhs und die Rulahäute der
zwei Frauen und warf alles ins Feuer, so daß es verbrannte. Wudandahasch
sagte: "Schöne Frauen sollt ihr bleiben. Nie wieder sollt
ihr Rula werden." Dann brachte Wudandahasch die schönen
Frauen zu seiner Mutter und sagte: "Bewahre und beschütze diese
beiden schönen Frauen gut!" Der Melik ließ aber Wudandahasch
kommen und sagte: "Wudandahasch, du hast etwas Großes vollbracht!
Alle Leute brauchen nun nicht mehr das schmutzige
Wasser aus dem Brunnen zu trinken, sondern können ungefährdet
an den Fluß gehen und können von dort herrliches Wasser holen.
Sage mir, ob ich nun etwas tun kann. Soll ich dir etwa eine große
Hochzeit veranstalten, wenn du jetzt die beiden schönen Frauen
heiratest?" Wudandahasch sagte: "Ich will diese beiden Frauen
nicht heiraten, wenn sie auch sehr schön sind. Ich will jetzt nicht
heiraten und will auch keine Geschenke von dir haben. Ich bitte
dich nur, mir auch fernerhin zu erlauben, die Leute auf der Straße
mit dem Stock zu stoßen, so daß es etwas zum Lachen gibt." Wudandahasch
ging dann heim.
Wudandahasch tat nun wie bisher. Er stieß die Leute an der
Straße mit seiner Eisenstange in die Seite. Er tötete sie nicht und
verwundete sie nicht, sondern warf sie nur hin. Die Leute fürchteten
sich aber vor Wudandahasch, und alle Welt war zornig. Alle
Leute liefen zum König und sagten: "Wudandahasch stößt uns
immer mit seiner Eisenstange, so daß wir hinstürzen." Darauf
ward der König sehr traurig. Der König sagte: "Nicht Wudandahasch
ist schlecht, sondern ihr seid schlecht! Ihr habt mir
Wudandahasch verdorben. Wudandahasch hat große Dinge ertragen.
Ihr alle seid aber ganz kleine Kinder!"
Die Leute kamen wieder und wieder zum Melik und beschwerten
sich über Wudandahasch. Es kam der Wesir zum König und
sagte: "Es geht nicht mehr so. Es ist unerträglich! Dieser Wudandahasch
muß aus der Welt geschafft werden. Gib ihm einen Auftrag!"
Der Melik sagte: "Niemand wagt, den Wudandahasch anzurühren.
Wudandahasch ist stärker als jeder. Auch die Rula
fürchten ihn. Wer soll es mit Wudandahasch aufnehmen?" Der
Wesir dachte bis zum andern Tag nach. Dann kam er wieder zum
Melik und sagte: "Melik, ich weiß, wie man Wudandahasch beseitigen
kann." Der König sagte: "So sage es!" Der Wesir sagte:
"Du hast dort deinen Feind, den andern König, der im vorigen
Jahre mit dir Krieg gemacht hat. Der König ist über die Maßen
machtvoll und stark. Er kann den Wudandahasch leicht überwinden.
Sende Wudandahasch auf einem Schiffe mit vieler schlechter
Ladung und mit einem Briefe an jenen König, dann wird er
schon getötet werden, und du bist alle Sorge mit diesem Wudandahasch
ein für allemal los." Der König sagte: "Es ist gut, so werde
ich es tun! Ich werde Wudandahasch mit einer Ladung von Geschenken
an den König des andern Landes senden und diesen
so zornig machen, daß er Wudandahasch tötet."
Der Melik ließ nun viele Säcke mit Mist füllen und belud damit
ein großes Boot. Dann schrieb er einen Brief, der war so gehalten,
daß, wenn Wudandahasch mit der Mistladung ankam, er am andern
Tag auf jeden Fall getötet werden mußte. Danach ließ der
Melik Wudandahasch zu sich kommen und sagte: "Wudandahasch,
du sollst als mein Bote zu dem andern König fahren und
sollst da mit allen Ehren empfangen werden, denn ich will dir
große Geschenke für ihn mitgeben. Sieh, dort habe ich schon ein
Boot beladen lassen. Nimm nun den Brief und übergib ihn dem
andern König." Wudandahasch nahm den Brief und sagte: "Ich
werde alles so ausführen, daß es dir zur Ehre gereicht."
Wudandahasch ging hin, um von seiner Mutter Abschied zu
nehmen. Unterwegs sagte er vor sich hin: "Ob dann aber auch
mein Stock für die Reise genügt?" Und Wudandahasch versuchte
ihn mit den Händen zusammenzubiegen. Da zerbrach die Eisenstange
von 300 Rat! in seiner Hand wie ein Sumpfrohr. Wudandahasch
ging dann zu einem Schmiedemeister und ließ alle Schmiede
zusammenkommen. Er baute einen Schmiedeofen, der war sehr
groß. Dann ließ er einen andern Eisenstock schmieden, der wog
10 Gontar (i Gontar = 100 Rat!, also 10 Gontar etwa = 10 Zentner).
Er hob ihn in die Luft und schwang ihn wie einen Stock
hin und her. Er sagte: "Dieser Stock ist gut für mich." So stark
war Wudandahasch geworden.
Wudandahasch ging dann an das Ufer und bestieg das Boot.
Wudandahasch stieß mit seinen Leuten vom Ufer ab und fuhr hinaus.
Nachdem Wudandahasch eine Zeitlang gefahren war, begann
er die Zahl der Säcke, die ihm der König mitgegeben hatte, zu
zählen.
Nachdem Wudandahasch damit einige Zeit verbracht hatte, die
Säcke zu zählen, sagte er: "Es sind sehr viele Säcke. Sehr schwer
können sie nicht sein." Wudandahasch hob einen Sack auf und
wog ihn. Wudandahasch sagte: "Es scheint, diese Könige schenken
einander Hühnerfedern." Wudandahasch wog einen zweiten Sack,
der ebenso leicht war und sagte: "Ich muß mir den Inhalt dieses
Sackes doch einmal ansehen." Wudandahasch begann einen Sack
zu öffnen. Die Schiffsleute sahen das und schrien: "Wudandahasch,
niemand darf die Säcke öffnen als der König, zu dem sie
gesandt sind. Laß es, Wudandahasch!" Wudandahasch lachte aber
und sagte: "Was gehen mich diese Könige an. Diese Könige achten
ihre Diener gering, wenn sie auch vieles vermögen, und suchen sie
nur zu vernichten, wenn sie ihnen einmal ärgerlich sind. Diese
Könige achten ihre Diener nicht. Weshalb soll ich nun diese Könige
achten ?"
Wudandahasch öffnete den Sack und fand, daß Mist darin war.
Wudandahasch lachte und sagte zu den Leuten: "Seht! Diese
Könige senden einander Mist. Heute finde ich in der Tat etwas zum
Lachen." Die Leute sagten: "Wudandahasch, wir bitten dich,
schließe den Sack. Wudandahasch, wir bitten dich. Denn sieh, es
ist der Mist der Könige." Wudandahasch sagte: "Was scheren
mich die Könige! Wenn sie Mist verschicken, sollen sie es nicht
gerade auf meinem Boote tun." Wudandahasch schüttete den Mist
in das Wasser. Die Leute schrien: "Wudandahasch, was tust du!
Es ist der Mist der Könige!" Wudandahasch sagte: "Ihr Klugen,
glaubt ihr denn wirklich, daß der Mist, den Könige sich als Gabe
senden, anders ist als der Mist der Esel, Pferde und Kamele anderer
Leute!" Die Leute weinten aber und baten: "Wudandahasch, es
ist nun einmal der Mist der Könige, und die Leute werden uns
töten, wenn wir ihn nicht bringen." Wudandahasch sagte: "Mist
wird überall gemacht. Ich will nicht der Überbringer solcher
Gaben sein!" Wudandahasch schüttete also den Inhalt aller Säcke
in das Wasser.
Danach öffnete Wudandahasch den Brief, den der Melik ihm für
den andern König mitgegeben hatte. Aus dem Brief ersah er, daß
der Melik den andern König veranlassen wollte, Wudandahasch,
wenn er mit der Mistladung ankomme, zu töten. Wudandahasch
las den Brief. Wudandahasch verbrannte den Brief. Wudandahasch
schrieb dann einen andern Brief, in dem der andere König
aufgefordert wurde, Wudandahasch mit großen Ehren zu empfangen.
Nachdem Wudandahasch diese Änderung vorgenommen
hatte, fuhr er mit seinen Leuten weiter, bis er bei der Stadt des
andern Königs ankam.
Wudandahasch sandte einen Mann mit dem Brief zu dem Könige
in die Stadt. Der König las den Brief und sagte zu seinen Leuten:
"Der Mann, der diesen Brief gebracht hat, muß mit aller Pracht
aufgenommen werden. Deshalb sollen alle Trompeten geblasen und
alle Trommeln geschlagen werden, und ich will ihm selbst entgegenziehen."
Die Leute kamen mit Pferden und Waffen und vielen
Musikinstrumenten und machten großes Geräusch, als sie hinter
ihrem König her zu Wudandahasch zum Boote hinabzogen. Als
sie so kamen, sagten die Bootsleute zu Wudandahasch: "Das war
die gleiche Musik mit Trompeten und Trommeln, die sie im vorigen
Jahre machten, als sie gegen den Melik unseres Landes Krieg führten."
Wudandahasch sagte: "Dann wollen wir unserm Melik
diese Musikinstrumente als Geschenk mitbringen." Die Bootsleute
erschraken und sagten: "Wudandahasch, sage nicht so schlimme
Sachen!"
Wudandahasch wurde mit allen Ehren empfangen und speiste
mit dem Melik. Er besichtigte die Stadt und sah, daß da eine große
Tabia (das ist eine Art Fort, eine Burg) war. Es war aber tagsüber
niemand in der Burg. Wudandahasch sagte: "Wozu haben die
Leute diese Tabia ?" Als es nun Abend wurde, sah er, daß alle
Einwohner der Stadt in die Tabia gingen und darin schliefen. Er
aber ging in sein Boot und schlief auf dem Wasser. Am andern
Tage wurden wieder die Trompeten geblasen und die Trommeln geschlagen,
und es war ein großes Fest. Als es Nacht wurde, zogen
aber alle Leute der Stadt wieder in die Tabia. Als Wudandahasch
das sah, ging er nicht in das Boot, sondern er blieb mit seiner
Eisenstange in der Stadt, und als alle Leute der Stadt in der Tabia
eingeschlafen waren, ergriff er seine Eisenstange und begann auf
die Tabia zu schlagen. Seine Schläge fielen so schwer auf die Burg,
daß sie einstürzte. Wudandahasch ging herum und schlug von
allen Seiten darauf, und sie fiel so ganz zusammen, und alle Leute,
die in der Tabia waren, wurden von den einstürzenden Balken und
von der Eisenstange Wudandahaschs getötet. So tötete Wudandahasch
den großen freundlichen Melik und alle seine Leute auf
einmal.
Danach ging Wudandahasch herum und trug alle Trommeln und
Trompeten zusammen. Er trug sie zum Boote hinab und belud sein
Boot damit, und er zeigte seinen Leuten, wie sie die Musikinstrumente
handhaben sollten. Dann fuhr er ab und der Stadt des Melik
zu, der ihn ausgesandt hatte. Nach langer Fahrt kam das Schiff
nahe der Stadt an. Wudandahasch sagte zu seinen Leuten: "Nun
blast und trommelt, so laut und so stark ihr könnt, denn der Melik
und seine Leute müssen merken, daß wir für den Mist ein gutes
Gegengeschenk mitgebracht haben!" Die Leute begannen nun auf
dem Schiffe mit allen Kräften zu trommeln und zu blasen.
Als die Leute der Stadt das sahen und hörten, erschraken sie und
liefen zu ihrem Melik. Der Melik hörte die Musik auch und sagte
zu seinem Wesir: "Wesir, wir haben unklug gehandelt. Wir
haben Wudandahasch mit einem schlechten Geschenk zu dem
König gesandt, mit dem wir vorher Krieg gemacht haben. Nun ist
er sicher empört gewesen über das, was wir von ihm verlangt
haben, und er hat nicht nur Wudandahasch totgeschlagen, sondern
er kommt mit allen seinen Leuten und mit seiner Musik, um genau
wie früher mit uns zu fechten. Oder erkennst du etwa die Musik
nicht wieder?" Der Wesir sagte: "Es kann kein Zweifel darüber
sein, daß dies die Musik ist, von der du sprichst. Wir müssen aber
abwarten, was geschieht."
Als Wudandahasch an die Stadt kam, ließ er das Boot anlegen
und stieg mit seinen Leuten aus. Seine Leute machten die Musik
und gingen hinter Wudandahasch her auf den Palast des Melik zu.
Die Leute lugten aber hier und da zu den Türritzen heraus und
erkannten Wudandahasch. Sie sahen Wudandahasch und stürzten
aus ihren Häusern heraus und schrien: "Wudandahasch ist wiedergekommen!
Wudandahasch ist wiedergekommen! Wudandahasch
hat den großen König getötet und bringt seine Musikinstrumente
mit!" Als der Melik die Schreie der Leute hörte, fiel er dem Wesir
um den Hals und sagte: "Wesir, es ist Wudandahasch!"
Wudandahasch kam mit seiner Musik zu dem Melik. Er hieß
seine Leute alle Instrumente vor dem König hinlegen und sagte:
"Du hast mich mit köstlichen Geschenken zu dem feindlichen Melik
gesandt. Der feindliche König hielt nichts von der Köstlichkeit
deiner Geschenke und nannte sie Mist. Darauf habe ich den Melik
und seine Leute totgeschlagen und bringe dir hier als Gegengeschenk
seine Musikinstrumente. Sage es mir nur, wenn wieder
einmal irgendein anderer König deine Geschenke als Mist bezeichnet,
ich will dann gern alle Könige belehren in dem, was
wertvoll und was wertlos ist." Der Melik war über diese Tat und
über die Eroberung der Musikinstrumente sehr entzückt. Er sagte
zu Wudandahasch: "Du hast nun wiederum etwas Großes vollbracht;
sage mir, was ich dir schenken kann." Wudandahasch
sagte aber: "Ich will keine Gabe von dir haben. Ich bitte dich nur,
mir auch fernerhin zu erlauben, die Leute auf der Straße mit
meinem Stocke zu stoßen, so daß es etwas zum Lachen gibt." Der
Melik sagte: "Dein Stock ist aber größer geworden. Wirst du den
Leuten auch nicht schaden?" Wudandahasch sagte: "Mein Stock
wird noch mehr wachsen, aber nur dem Widrigen wird er schaden.
Die Freunde wird er nur scherzend berühren."
Wudandahasch verließ darauf den Melik und ging zu seiner
Mutter, um sie zu begrüßen.
3. Wudandahasch befreit die Geschwister und alle Rulgefangenen
Wudandahasch wollte am andern Tage tun, wie er es früher getan
hatte und wollte die Leute mit seinem Stocke stoßen, damit sie
fielen und damit es etwas zum Lachen gäbe. Seine Mutter sagte
aber zu ihm: "Wudandahasch, du willst weggehen?" Wudandahasch
sagte: "Ja, ich will hinausgehen und will mit meinem
Stock spielen." Die Mutter sagte: "Wudandahasch, ehe ich dich
gebar, hatte ich schon eine Tochter und zwei Söhne." Wudandahasch
sagte: "Was sagst du, meine Mutter?" Die Mutter sagte:
"Du hast eine Schwester und zwei Brüder." Wudandahasch sagte:
"Leben denn meine Schwester und meine Brüder noch?" Die
Mutter sagte: "Ja, deine Schwester und deine Brüder leben noch."
Wudandahasch sagte: "Meine Mutter, nun sage mir schnell
alles, was von meiner Schwester und meinen Brüdern zu sagen ist.
O meine Mutter, warum hast du mir das nicht früher gesagt? Ich
wußte, daß ich etwas zu tun hätte, aber ich wußte nicht, was es
sei. Nun sage es mir, meine Mutter!" Die Mutter sagte: "Als der
Vater dieser drei Kinder noch lebte, wollte er seine Tochter, deine
Schwester, die sehr schön ist, keinem Manne zur Frau geben. Kaum
war aber dein Vater gestorben, da kam ein Rul, ließ sich Wasser
von ihr reichen und raubte sie. Deine Brüder waren noch jung, als
sie dies hörten. Erst ritt Achmet hin und wurde von dem Rul gefangen,
denn Achmet war noch zu schwach. Danach ritt Hassan
aus, um seine Schwester und seinen Bruder zu befreien. Hassan
war aber auch noch zu schwach und ward auch vom Rul gefangen.
Ich wollte nun selbst hinreiten. Unterwegs wurde ich aber
schwanger und gebar dich." Wudandahasch sagte: "Meine Mutter,
warum hast du mir das nicht früher gesagt. Nun sage mir aber
schnell, welches der Weg ist, den ich einzuschlagen habe." Darauf
gab die Mutter Wudandahasch den Weg an.
Wudandahasch ging zum König. Der Melik fragte: "Was willst
du, Wudandahasch ?" Wudandahasch sagte: "Ich will einen Rul
überwinden, der jenseits der Wüste wohnt; gib mir ein Pferd!"
Der Wesir sagte heimlich zum Melik: "Das ist ausgezeichnet!
Noch niemals ist jemand diesem Rul entgangen, denn es gibt nichts,
was ihm an Kraft gewachsen ist. Es ist ausgezeichnet, daß Wudandahasch
gegen ihn ausziehen will. Wenn kein anderer Wudandahasch
töten konnte, so ist es dieser Rul. Gegen diesen ist auch
Wudandahaschs Kraft machtlos. Gib ihm also ein Pferd!" Der
Melik sagte: "Gewiß, mein Wudandahasch! Ich werde dir ein
gutes Pferd geben. Töte nur diesen Rul! Wenn du das vermagst,
kannst du nachher von mir verlangen und erhalten, was du willst."
So erhielt Wudandahasch vom Könige das Pferd und ritt von
dannen.
Wudandahasch ritt weit fort durch die Wüste. Wudandahasch
ward durstig. Wudandahasch sagte: "Wenn ich Durst und etwas
zu trinken habe, dann ist das gut. Wenn ich aber nichts zu trinken
habe, so hat auch der Durst nichts zu sagen. Es macht nichts!"
Wudandahasch kam an den Brunnen, neben dem der Feigenbaum
stand. Neben dem Brunnen lag der alte Mann. Wudandahasch
blickte sich um und sagte: "Da liegt der Schöpfsack und der
Strick. Erlaubst du mir, alter Mann, daß ich für mich und mein
Pferd etwas Wasser schöpfe?" Der alte Mann sagte: "Gewiß
darfst du dir Wasser schöpfen. Wenn du dich und dein Pferd gesättigt
hast, gib mir aber auch zu trinken, denn auch ich bin
durstig."
Wudandahasch stieg vom Pferd. Wudandahasch sagte: "Gewiß
sollst du Wasser haben." Danach ließ Wudandahasch den Schöpfsack
in den Brunnen, ließ ihn voll Wasser laufen, und wenn er
nun auch sehr schwer war, hob er ihn doch mit einer Hand empor
und aus dem Brunnenschacht herauf. Er gab dann seinem Pferd
zu trinken, bis es satt war; er gab dem alten Mann und trank
dann selbst. Der alte Mann sagte, als alle gesättigt waren: "Du
starker Mann kannst mir wohl auch einige von den Feigen dieses
Baumes geben!" Wudandahasch sagte: "Das ist sehr einfach!"
Wudandahasch schlug mit der flachen Hand gegen den Baum.
Darauf knickte der Baum um. Wudandahasch nahm die Früchte
und gab sie dem Alten.
Der Alte sagte darauf zu Wudandahasch: "Ich danke dir! Nun
sage mir, weshalb du diesen Weg gehst." Wudandahasch sagte:
"Ich suche einen Rul, der meine Schwester und meine Brüder gefangenhält."
Der alte Mann sagte: "Du bist auf dem richtigen
Wege. Folge nur noch den Schafen, die dort hinziehen, dann
kommst du an das Gasr des Rul. Deine Schwester ist im Hause des
Rul. Sie sieht oben zum Fenster hinaus. Du kannst sie bald sehen
und sprechen. Deine Brüder sind aber mit allen Menschen in einer
Höhle, die der Bauch der Erde ist (wörtlich!). Du kannst sie erst
nachher sehen." Wudandahasch bedankte sich bei dem alten
Manne für die Auskunft, dann bestieg er sein Pferd und ritt hinter
den Schafen her, dem Gasr des Rul zu.
Als Wudandahasch zu dem Hause des Rul kam, sah er, daß ein
schönes Mädchen oben zum Fenster hinaussah. Das Mädchen
sprach ihn an und sagte: "Fremder Mann, was willst du hier?
Jeder, der hierher kam, verfiel noch der Macht des Rul. Gehe also
von dannen, solange es noch Zeit ist." Wudandahasch sagte: "Ich
bin dir kein fremder Mann! Ich bin dein jüngster Bruder und heiße
Wudandahasch!" Da weinte das schöne Mädchen und sagte:
"Mein kleiner Bruder Wudandahasch, eile schnell von dannen,
denn deine Brüder Achmet und Hassan sind schon in der großen
Höhle mit all den andern Menschen." Wudandahasch sagte:
"Weine nicht, meine kleine Schwester! Mit meinem Stock hier will
ich die Höhle aufbrechen und will euch alle herausbringen." Die
Schwester weinte aber und sagte: "Ich sah so viele kommen und
keinen gehen."
Der Rul kam mittlerweile heran. Der Rul begrüßte Wudandahasch
und sagte: "Sage mir doch, mein Freund, was du hier willst?
Zuerst reiche mir aber die Hand, daß ich sie schüttle und daß wir
so Freundschaft schließen können." Wudandahasch reichte dem
Rul die Hand. Der Rul wollte ihm den Arm ausrenken wie den
Brüdern. Wudandahasch aber preßte dem Rul, als er seine Absicht
bemerkte, die Hand so stark, daß der Rul aufstöhnte und aus seinen
Fingerspitzen das Blut tropfte. Wudandahasch sagte: "Gewiß
wollen wir Freundschaft schließen und uns die Hand reichen."
Dann drückte er die Hand des Rul noch ein wenig mehr, so daß
aus den Fingerspitzen noch mehr Blut heraustropfte und der Rul
schreien mußte.
Wudandahasch sagte: "Ich danke dir für diesen Begrüßungsschrei.
Was ich nun wünsche, ist sehr schnell gesagt. Ich will
meine Schwester und meine Brüder abholen." Der Rul sagte: "Das
ist mir sehr recht. Ich werde dir deine Schwester und deine Brüder
morgen früh zuführen. Heute aber bitte ich dich, mein Gast zu
sein und mit mir zu speisen und zu trinken. Wudandahasch sagte:
"Dieses ist mir sehr recht!" Wudandahasch kam dann mit dem Rul
in das Haus und teilte mit ihm Speise und Trank.
Nach dem Essen sagte der Rul: "Nun, mein Freund Wudandahasch,
bitte ich dich, mit mir zu kommen und dir mit mir meinen
Garten anzusehen." Wudandahasch sagte: "Gern will ich den
Garten sehen. Geh nur voran." Der Rul sagte: "Nein, geh du nur
voran. Du bist mein Gast!" Wudandahasch sagte: "Sprich nicht
so viel, sondern geh voran. Fertig!" Darauf mußte der Rul voran
in den Garten gehen, und im Garten machte er nun den ihm folgenden
Wudandahasch auf alles Schöne aufmerksam. Wudandahasch
sagte: "Es ist wahr; es ist alles sehr schön. Das Wundervollste
wirst du mir aber wohl noch zeigen."
Der Rul führte Wudandahasch zu dem Eingange der Höhle und
sagte: "Nun, mein Freund Wudandahasch, beuge dich einmal
zur Erde herab und schaue in diese Öffnung, denn nun sollst du in
der Tat das Schönste sehen, das ich besitze." Wudandahasch sagte:
"Mein Freund, du gehst ja vor mir her, mache es mir doch ein-
mal vor, wie ich es machen muß, um geschickt in die Höhle zu
sehen."
Der Rul sagte: "Weshalb soll ich es vormachen? Beuge dich
nur vornüber." Wudandahasch sagte: "Ich habe keine Erfahrung!
Mache es schnell vor. Fertig!"
Darauf beugte der Rul sich vornüber, wie es alle die hatten
machen müssen, die er dann in die Höhle hinabgestoßen hatte.
Wudandahasch sagte aber nichts mehr, sondern nahm seinen
Eisenstock und schlug den Rul auf den Rücken, so daß ihm der
Länge nach der Leib aufsprang. Danach schnitt Wudandahasch
den Rul noch in Stücke. Als das geschehen war, rief er: "Der Rul
ist getötet; nun kommt nur alle heraus!" Die Menschen, die das
hörten, stiegen heraus. Sie sahen, daß es licht war. Sie stiegen aus
der dunklen Höhle empor und betraten, mitten durch den zerschnittenen
Leib des Ruls schreitend, die Erde.
Erst kamen Achmet und Hassan und dann viele, viele Menschen,
so viele, daß man Städte und Länder damit füllen konnte. Alle
diese Menschen dankten aber Wudandahasch und sagten ihm, daß
sie ohne seine Hilfe ohne Zweifel hätten sterben müssen. Nachdem
er allen Menschen die Freiheit gegeben hatte, bestieg er sein Pferd,
nahm seine Schwester zu sich hinauf und führte alle Menschen
zurück durch die Wüste, nach der Stadt zu, in der seine Mutter
wohnte.
Eines Tages sahen die Leute des Melik in der Ferne eine große
Menge Menschen ankommen. Es waren deren aber so viele, daß
sie die ganze Ebene ausfüllten, soweit das Auge sehen konnte.
Und die Leute kamen zum Melik gelaufen und schrien: "Melik,
hilf uns! Melik, hilf uns! Ein ganzes Volk kommt dahergezogen
und will uns vernichten." Der Melik stieg mit dem Wesir auf einen
Turm und sah nun auch die Menschenmenge. Da erschrak er wie
die Leute und sagte: "Es ist ein ganzes Volk, das mit uns kämpfen
will. Hätte ich doch den Wudandahasch nicht gegen den Rul
ziehen lassen! Hätte ich ihn nur nicht ziehen lassen! Er wäre
dann noch hier, und er wäre der Mann dazu, um dieses Volk zu vernichten."
Der Wesir sagte: "Melik, wir sehen noch nicht genug.
Laß uns erst mehr wissen. Dann läßt sich etwas sagen!"
Inzwischen war Wudandahasch mit seiner Schwester vor sich
und an der Spitze des Volkes über das Land gezogen und kam an
das Tor der Stadt. Als er nun an die Stadt kam, erkannten ihn
einige Leute, die sich an der Mauer versteckt hatten. Die Leute
schrien sogleich auf und riefen: "Es ist ja Wudandahasch! Es ist
ja Wudandahasch! Und er bringt ein sehr schönes Mädchen mit!"
Die Leute rannten durch die Straßen und einer schrie es dem andern
zu: "Es ist ja Wudandahasch! Es ist ja Wudandahasch!
Und er bringt ein sehr schönes Mädchen mit!" Zuletzt hörte es
der König.
Der Melik sagte zum Wesir: "Du hast mir nicht immer dem
Wudandahasch gutgesinnte Ratschläge gegeben. Aber es ist gut
abgelaufen. Wudandahasch hat den Rul überwunden. Komm mit
mir, wir wollen ihm entgegenreiten!" Der Melik bestieg sein Pferd
und ritt Wudandahasch entgegen. Der Wesir folgte ihm. Der König
begrüßte Wudandahasch. Er zog mit Wudandahasch in die Stadt
ein. Der Melik gab seine Tochter Wudandahasch zur Frau, und
Wudandahasch wurde Melik. Seine Schwester verheiratete Wudandahasch
aber mit dem Sohn des Melik.
26. Das Löwenweib
Im Lande der Djur war früher eine Frau, die war tagsüber ein
schönes Weib, nachts aber wurde sie zu einer Löwin, die sich
im Menschenmord nicht genug tun konnte. Die Frau war reicher
als irgend jemand anderes, und als Löwin hatte sie einen Schweif
von Gold.
Eines Tages sagte ein junger Mann zu seinem Vater: "Ich will
hingehen und dieses Weib, das nachts eine Löwin ist, sehen." Der
Vater sagte: "Tue das nicht. Die Löwin hat schon sehr viele getötet."
Der Sohn sagte: "Wenn sie die andern getötet hat, braucht
sie noch nicht mich zu töten. Ich will hingehen!" Der junge Mann
nahm seinen Speer und begab sich auf den Weg.
An einem Nachmittag kam der junge Mann zu dem Hause, in
dem die Löwin wachte und in dem alle ihre Schätze aufgespeichert
lagen. Als der junge Mann kam, war aber nur eine alte Frau da,
die der Löwenfrau dienstbar war. Die alte Frau sagte: "Junger
Mann! Eile, daß du von dannen kommst, denn die Löwin wird
bald nach Hause kommen." Der junge Mann sagte: "Verstecke
mich doch, daß die Löwin mich nicht sieht." Die alte Frau sagte:
"Die Löwin wird dich riechen." Der junge Mann sagte: "Ich gehe
nicht wieder fort!" Darauf versteckte die alte Frau ihn in einem
Korbe und warf viele Felle über ihn.
Bald darauf ging die Sonne unter und die Löwin kam nach
Hause. Sie hatte über jeder Schulter eine Antilope, die sie erlegt
hatte. Die Löwin witterte umher und sagte: "Ich rieche einen
Menschen." Die alte Frau sagte: "Du mußt dich irren, denn du
weißt selbst, daß keine Menschen kommen." Die Löwin witterte
weiter umher, blickte überall hin und schaute in jeden Winkel. Die
Löwin sagte: "Ich rieche einen Menschen." Die alte Frau sagte:
"Es ist möglich, daß von dem letzten Menschenfleisch, das du hierher
brachtest, noch etwas Geruch blieb." Die Löwin sagte: "Das
kann es sein." Die Löwin fand den jungen Mann nicht. Sie verzehrte
ihr Nachtmahl und legte sich hin.
Die Löwin schlief ein. Als der junge Mann nun hörte, daß die
Löwin eingeschlafen war, kam er aus seinem Versteck hervor.
Er nahm die prächtigen Sachen, die an den Wänden waren, ab
und packte sie zu einem Bündel zusammen. Er nahm dann seinen
Speer und schnitt mit ihm den Schwanz der Löwin, der aus Gold
war, ab. Dann rannte er mit dem Schwanz und mit dem Schatzbündel
von dannen, so schnell er konnte. Der junge Mann rannte
auf dem Wege nach der Seriba seines Vaters dahin.
Die Löwin erwachte langsam von dem Schlage und wurde durch
das heraustropfende Blut ganz erweckt. Die Löwin stand auf und
sah, daß ihr goldener Schwanz abgeschlagen war. Die Löwin sprang
zum Hause hinaus und hinter dem jungen Manne her. Die Löwin
lief auf dem Wege zur Seriba des jungen Mannes. Die Löwin lief
sehr schnell. Die Löwin lief schneller als der junge Mann, der vor
ihr floh. Die Löwin kam ganz dicht zu dem jungen Manne. Die
Löwin erreichte den jungen Mann beinah. Der junge Mann kam
gerade an die Tür der Seriba seines Vaters. Die Löwin wollte auf
ihn springen, da eilte der junge Mann durch das Tor und schlug
die Tür hinter sich zu.
Die Löwin rannte um die Seriba, nach einem andern Eingang zu
suchen. Der junge Mann begann aber die Nugarra zu schlagen
und mit der Trommel die Männer der andern Seriben herbeizurufen.
Die Männer kamen herbei mit ihren Lanzen. Die Männer kamen
von allen Seiten. Die Löwin lief um die Seriba. Sie traf auf die
Männer. Die Männer töteten die Löwin mit ihren Lanzen.
27. Abu Seraera*
Eine Mutter hatte vier Söhne, die waren herangewachsen. Die Frau
war wieder schwanger, und in diesem Zustande ging sie eines
Tages in den Busch, um Holz aufzulesen. Sie sammelte ein große$
Bündel und band es zusammen. Dann wollte sie es auf den Kopf
heben. In dem Zustand aber, in dem sie sich befand, war sie zu
schwach und vermochte das Bündel nicht zu heben. Die Frau
stöhnte und sah sich um, ob niemand in der Nähe sei ihr zu helfen.
Die Frau stöhnte wieder, denn sie sah niemand.
Darauf begann das Kind unter ihrem Herzen in ihrem Bauche
zu sprechen, und das Kind sagte zuerst: "Soll ich dir helfen?" Die
Mutter erschrak und sagte: "Was, mein Sohn, du bist noch nicht
geboren und sprichst schon?" Das Kind sagte: "Ja, meine Mutter,
ich bin Abu Seraera und frage dich, ob ich herauskommen und dir
helfen soll?" Die Mutter sagte: "Mein Kind, du erschreckst mich!
Wenn du aber willst, so komme heraus." Das Kind sagte: "Welchen
Weg soll ich herauskommen?" Die Mutter sagte: "So komm doch
auf dem Wege deiner Brüder heraus." Abu Seraera sagte: "Nein,
den Weg meiner Brüder will ich nicht gehen." Die Mutter sagte:
"So komm doch durch meinen Mund heraus!" Abu Seraera sagte:
"Nein, den Weg durch deinen Mund will ich nicht nehmen." Die
Mutter sagte: "Welchen Weg willst du denn nehmen?." Abu
Seraera sagte: "Wasche deinen kleinen Finger, daß er ganz sauber
ist. Dann will ich aus der Spitze deines kleinen Fingers herauskommen."
Die Frau wusch sich den kleinen Finger. Darauf kam Abu
Seraera heraus. Er kam aber mit voller Bewaffnung, mit Speer und
Schild hervor, und mit ihm kam ein weißer Widder heraus, dessen
Schwanz war mit Rasiermessern besetzt. Sobald Abu Seraera
herausgekommen war, half er seiner Mutter die Last auf den Kopf
heben, bestieg dann selbst den Widder und ritt neben der Mutter
dem Dorfe zu. Als sie am Dorfe waren, stieg Abu Seraera ab. Er
band seine Waffen auf dem Kopfe des Widders fest, riß ihm einige
Haare aus der Mähne und hieß ihn zurück in den Busch laufen.
Dann ging er neben der Mutter her in das Dorf. Als die Brüder
den fremden Burschen neben der Mutter kommen sahen, fragten sie:
"Wer ist der Bursche, der da mit dir kommt?" Die Mutter sagte:
"Es ist mein Sohn, den ich im Busche geboren habe; es ist euer
Bruder!" Die Brüder Abu Seraeras sahen aber Abu Seraera mit
bösen Augen an und konnten ihn nicht leiden. Als sie am andern
Tage zur Jagd gingen, sagten sie zur Mutter: "Wir gehen zur Jagd.
Behalte du den Burschen daheim. Wir mögen nicht, daß er bei
uns ist." Darauf ergriffen die vier Brüder ihre Speere, bestiegen
ihre Pferde und ritten von dannen.
Abu Seraera schrie, als er seine Brüder fortreiten sah. Er sagte
zu seiner Mutter: "Meine Mutter, ich will meine Brüder auf der
Jagd begleiten." Die Mutter sagte: "Nein, nein, Abu Seraera, bleibe
daheim." Abu Seraera sagte: "Wenn ich meine Brüder nicht begleite,
werden sie umkommen." Abu Seraera ging aus dem Dorfe.
Er verbrannte die Haare von der Mähne des Widders im Feuer.
Sogleich war der Widder da. Abu Seraera nahm seine Waffen, stieg
auf den Rücken des Widders und folgte seinen Brüdern. Bald war
er bei seinen Brüdern angelangt. Die vier Brüder waren aber unwillig
und sagten: "Wir haben doch gesagt, daß wir mit dir nichts
zu tun haben wollen!" Weshalb bist du nicht im Dorfe geblieben?"
Abu Seraera sagte: "Ich bin nicht im Dorfe geblieben und bin euch
gefolgt, weil ihr zur Jagd geritten seid und ich von euch die Jagd
lernen möchte!" Abu Seraera ritt also mit seinen Brüdern weiter.
Nach einiger Zeit kamen sie an eine Seriba, in der wohnte eine
Rula (es war mir unmöglich, einen Kredjnamen für diese Menschenfresserin
zu finden) mit vier schönen Töchtern. Als sie an deren
Gehöft ankamen, sagten die vier Brüder: "Wir wollen hineingehen."
Abu Seraera sagte aber: "Wenn ihr hier bleiben oder ruhen
wollt, achtet darauf, daß sich keiner von euch mit den Mädchen
abgibt und daß keiner von euch oder von euren Pferden etwas von
dem Getränk und den Speisen genießt, die die Alte euch vorsetzen
wird." Die Brüder wurden darauf ärgerlich und sagten: "Siehst
du, da haben wir es! Schon willst du uns vorschreiben, was wir
zu tun oder zu lassen hätten. Du bist der Jüngste und willst der
Erste sein. Bleibe du nur hier draußen bei den Tieren, sorge, daß
sie gut angebunden werden und kümmere dich im übrigen nicht
um Sachen, die nur uns und nicht dich angehen."
Die vier Brüder gingen hinein. Abu Seraera band wie gewünscht
die Pferde der Brüder an, riß dann seinem Widder einige Mähnenhaare
aus, band ihm seine Waffen auf und ließ ihn in die Wildnis
laufen, daß er sich selbst sein Futter suche. Dann kam auch die
Rula heraus und brachte für die vier Pferde Milch zu saufen.
Abu Seraera ging auch mit in das Gehöft und sagte nichts mehr.
Als es nun Abend war, gab die Rula jedem der vier Brüder je
eine ihrer schönen Töchter, daß er mit ihr schlafe, und ging dann
in ihr eigenes Haus zurück. Abu Seraera ging ein wenig umher
und ging erst hinein, als die vier Brüder und die vier Mädchen eingeschlafen
waren.
Als die Brüder und die Mädchen schliefen, begann Abu Seraera
die Haare der Brüder in der Weise der Frauentracht und die Haare
der Mädchen in der Weise der Männertracht zu flechten. Er war
noch nicht fertig mit dieser Arbeit, da kam die alte Rula nahe
heran und rief hinein: "Abu Seraera, schläfst du? Abu Seraera
sagte: "Nein, ich schlafe noch nicht. Ich kann noch nicht schlafen,
weil deine Tiere zu viel Geräusch machen." Darauf ging die alte
Rula hin und tötete ihre Tiere. Während sie das aber tat, hatte Abu
Seraera Zeit genug die Haare der Burschen nach Mädchenart und
die der Mädchen nach Burschenart fertig zu flechten.
Als nun die Alte mit der Tötung ihrer Tiere fertig war, kam sie
wieder heran und fragte durch die Türe: "Abu Seraera, schläfst
du nun?" Abu Seraera antwortete aber (wie aus dem Traume):
"Ja, meine Mutter, ich schlafe." Darauf wetzte die alte Rula
draußen ihr Messer, kam herein und tastete sich zu dem Lager,
auf dem die vier Brüder mit den vier Mädchen schliefen. Sie faßte
nach den Haaren und schnitt die Köpfe, deren Haartracht nach
Männerart geflochten war, ab. Da Abu Seraera aber allen Mädchen
die Haare nach Männerweise geflochten hatte, so tötete die alte
Rula ihre eigenen Töchter und überging die vier Brüder, weil sie
tastend deren Haare nach Mädchenart geflochten fand.
Danach ging die alte Rula. Abu Seraera kam nun aber aus dem
Winkel, in dem er geschlafen hatte, heraus, weckte seine Brüder
und sagte ihnen: "Seht, wie die alte Rula die Köpfe ihrer eigenen
Töchter abgeschnitten hat, weil ich eure Haartracht geändert
habe und sie euch vier töten wollte." Als die vier Brüder das
sahen, erschraken sie und sagten: "Abu Seraera, hilf uns, daß wir
schnell und schadlos von dannen kommen!" Abu Seraera brachte
seine Brüder hinaus und hieß sie ihre Pferde besteigen. Dann verbrannte
er die Mähnenhaare seines Widders, und als der herankam,
bestieg er ihn und ritt mit seinen Brüdern von dannen. Die vier
Brüder und Abu Seraera ritten so schnell als nur möglich.
Nach einiger Zeit, als es hell ward, kam die alte Rula wieder
heraus aus ihrem Haus und ging dahin, wo die Brüder sich mit
den Mädchen hingelegt hatten. Sie blickte hinein, und nun sah sie
im Lichte, daß die Brüder entronnen waren, daß sie aber ihren
eigenen Töchtern die Köpfe abgeschnitten hatte. Die alte Rula
ward sehr zornig und sagte: "Das kann nur Abu Seraera angestiftet
haben. Ich will dem Burschen und seinen Brüdern aber
sogleich folgen und werde sie noch erreichen." Damit rannte die
alte Rula so schnell sie konnte hinter Abu Seraera und seinen
Brüdern her.
Als Abu Seraera und seine vier Brüder eine Zeitlang geritten
waren, wandte er sich um. Er sah, daß die alte Rula ihnen folgte,
und rief seinen Brüdern zu: "Reitet so schnell ihr könnt! Die Rula
kommt!" Die Brüder ritten schnell von dannen.
Die Rula kam dichter heran. Die Brüder ritten schneller. Die
Rula aber rief: "Ihr Tiere, die ihr meine Milch getrunken habt,
sterbt!" Da fielen die vier Pferde der vier Brüder tot hin. Die
Brüder lagen auf der Erde. Abu Seraera aber sagte: "Steht auf
und steigt schnell mit auf meinen Widder!" So standen die Brüder
auf und stiegen mit auf den Widder, und Abu Seraera ritt weiter.
Nach einiger Zeit kam die Rula aber näher und näher und zuletzt
kam sie ganz nahe und packte den Schwanz des Widders. Der
Schwanz des Widders war aber nicht mit Wolle, sondern mit Rasiermessern
besetzt. Die alte Rula packte hinein und schnitt sich die
Hände wund. Die Rasiermesser schnitten so in die Hände der
Alten, daß sie ablassen und von der weiteren Verfolgung abstehen
mußte. So entkamen die vier Brüder mit Abu Seraera in das Dorf.
Am Dorfe stiegen sie aber ab, und Abu Seraera riß seinem Widder
wieder einige Mähnenhaare aus, band ihm seine Waffen auf den
Kopf und ließ ihn in die Wildnis laufen. Dann kam er mit den
geretteten Brüdern in das Dorf.
Nachdem die alte Rula in ihre Seriba zurückgekehrt war, verwandelte
sie sich in ein sehr schönes Mädchen und machte
sich auf den Weg in das Dorf der Mutter Abu Seraeras. Das junge
schöne Mädchen kam im Dorfe an und begrüßte die Mutter Abu
Seraeras und sagte: "Ich bitte dich, bringe mich bei einem deiner
Söhne unter, bis ich weiterreise." Abu Seraera und seine vier Brüder
waren abwesend. Die Mutter brachte das schöne junge Mädchen
in das Haus Abu Seraeras. Nach einiger Zeit kam Abu Seraera
aber heim, und die Mutter sagte zu ihm: "Es kam ein junges
schönes Mädchen hier durch. Sie wollte bei einem meiner Söhne
schlafen, da ließ ich es in deine Hütte treten." Abu Seraera sagte:
"Dieses Mädchen werde ich ansehen." Dann ging er hin und betrachtete
das Mädchen. Und als er sie näher angesehen hatte,
packte er die schöne Frau und warf sie ohne weiteres aus dem Haus.
Das schöne Mädchen lief weinend zu dem ältesten Bruder und
sagte: "Abu Seraera hat mich mißhandelt!" Der älteste Bruder
nahm das Mädchen hierauf in seine Hütte auf, ging hinüber zu
Abu Seraera und schlug ihn in seinem Zorn. Dann ging der älteste
Bruder zurück in sein Haus und legte sich zu dem schönen Mädchen
auf das Angareb. Er sagte zu dem schönen Mädchen: "Kraue mir
die Haare!" Das schöne Mädchen tat das sogleich; darüber aber
schlief er ein, und als das Rulamädchen das merkte, bohrte es ihm
einen Finger in die Augenhöhle und riß ihm ein Auge heraus. Der
Bruder schrie auf, aber die Rula lief mit dem ausgerissenen Auge
von dannen und trug es in ihre Seriba.
Als der älteste Bruder so schrie, liefen alle Leute im Dorfe erschreckt
zusammen. Sie kamen in das Haus des Ältesten, als die
alte Rula mit dem gestohlenen Auge längst weggelaufen war.
Der älteste Sohn sagte: "Dies Mädchen hat mir ein Auge herausgerissen
und ist mit ihm von dannen gelaufen." Abu Seraera kam
dazu und sagte: "Das hat die alte Rula getan. Sie hat meinem
ältesten Bruder das Auge gestohlen." Die Leute sagten: "So gehe
hin, Abu Seraera und bringe das gestohlene Auge wieder." Abu
Seraera sagte: "Das ist nicht meine Sache. Mein Bruder hat mich
vorher ja sogar geschlagen, weil ich dieses Mädchen auswies. Wie
soll ich denn jetzt etwas damit zu tun haben, was seine Schutzbefohlene
mit ihm beginnt? Es wird noch ganz anders kommen,
wenn ihr mir nicht glaubt!"
Die Leute baten Abu Seraera. Der älteste Bruder kam und sagte:
"Abu Seraera! Ich habe dir vorher unrecht getan und dich geschlagen.
Ich bitte dich aber, mir nun zu verzeihen und mir das
Auge wiederzubringen. Außer dir kann das keiner!" Abu Seraera
sagte: "Wollt ihr mir denn ein anderes Mal glauben, wenn ich euch
etwas sage?" Die vier Brüder und alle Leute sagten: "Gewiß, wir
werden dir ein anderes Mal glauben, Abu Seraera, wenn du vor
etwas warnst. Bringe nur dieses Mal noch das gestohlene Auge
deines ältesten Bruders zurück!" Abu Seraera sagte: "Es ist gut!
Ich werde es tun!"
Darauf verwandelte sich Abu Seraera in ein altes Weib. Er nahm
dann Schafhaare und Menschenhaare und Knochen und Fellstücke
in sein Kleid und machte sich so auf den Weg zu der Seriba der
Rula. Als die Rula sah, daß das alte Weib ankam, sagte sie zu dem
ihr dienenden Mädchen: "Geh der Fremden entgegen und sieh,
wer es ist." Das dienende Mädchen kam der alten Frau entgegen.
Die alte Frau sagte: "Ist deine Herrin, die Rula, zu Hause? Ich
bin ihre Schwester und will sie besuchen." Das Mädchen ging
hinein und bestellte es. Dann kam die alte Frau herein und begrüßte
die Rula. Die alte Frau sagte aber: "Meine Schwester,
warte noch einen Augenblick; ich will noch einmal aus der Seriba
treten und mich entleeren." Dann trat die alte Frau zur Seite.
Die Rula sagte zu dem dienenden Mädchen: "Folge der Alten
und sieh, woraus das besteht, dessen sie sich bei der Entleerung
entledigt. Dann kann ich sehen, welches ihre Nahrung ist."
Das dienende Mädchen ging hinaus und folgte der Alten. Inzwischen
entleerte sich Abu Seraera in der Form der alten Frau. Er ließ aber
Schafhaar und Menschenhaar, Knochen und Fellstücke in den
Abgang fallen. Das kleine dienende Mädchen sah das aber, lief
zur Rula zurück und sagte: "Die alte Frau hat Schafhaare und
Menschenhaare, Knochen und Fellstücke fallen lassen." Da freute
sich die alte Rula und sagte: "Das ist wahrhaftig meine Schwester,
denn sie hat die gleiche Nahrung, die ich habe!"
Die alte Rula ging der zurückkehrenden Alten entgegen und sagte:
"Sei mir herzlich gegrüßt, meine Schwester; wie geht es dir?" Die
Alte kam mit der Rula zurück ins Haus und sagte: "Es geht mir
gut!" Die Rula fragte: "Und wie geht es deinen Herden und
Sklaven?" Die Alte sagte: "Meinen Herden und Sklaven geht es
nicht gut. Das ist auch der Grund, warum ich nicht lange von daheim
fortbleiben kann. Denn mein erster Sklave, der die Aufsicht
über alle Leute und Herden hat, verlor ein Auge, und nun sieht er
schlecht und merkt es nicht, wenn von der Herde etwas abgetrieben
wird. Du weißt aber, daß es überall von allerhand Räubervolk
einen Überfluß gibt." Die Rula sagte: "Das weiß ich!"
Die Alte sagte: "Deshalb laufe ich überall umher und suche,
ob ich nicht jemand finde, der mir ein Auge geben kann, damit ich
es dem Sklaven wieder einsetze. Denn nur so kann er wie früher
seine Pflicht tun." Die Rula sagte: "Ich kann dir ein solches Auge
wohl geben. Ich habe nämlich kürzlich dem ältesten Bruder Abu
Seraeras ein Auge abgenommen." Die Alte sagte: "Willst du mir
dies Auge für meinen Sklaven geben?" Die Rula sagte: "Ja, ich
will es dir geben." Die Alte sagte: "Wie muß man es denn einsetzen?"
Die alte Rula sagte: "Man muß erst die Milch einer
schwarzen Ziege in die leere Augenhöhle träufeln; dann kann man
es einfügen." Die Alte sagte: "Ich danke dir sehr!"
Die Rula gab darauf der Alten das Auge. Die Alte bedankte sich
sehr und begab sich mit dem Auge auf den Rückweg. Als er ein
Stück weit entfernt war, nahm aber Abu Seraera seine alte Gestalt
an, ließ seinen Widder kommen und ritt heim. Daheim setzte er
seinem Bruder das Auge wieder ein. Der älteste Bruder und alle
andern dankten ihm. Abu Seraera aber sagte: "Ein anderes Mal
müßt ihr mir aber glauben oder müßt mir teuer zahlen." Und alle
versprachen ihm, in Zukunft auf seine Warnungen zu hören.
Die alte Rula merkte sehr bald, daß sie von Abu Seraera hintergangen
sei. Sie sagte: "Nun werde ich dem Dorfe und den
Leuten Abu Seraeras einen Streich spielen, den sollen sie nie wieder
vergessen. Ich werde ihnen alle ihre Nachkommenschaft rauben."
Die alte Rula verwandelte sich also in einen Baum, der wuchs
mitten in dem Dorfe Abu Seraeras, und es ward ein gewaltiger,
mächtiger Baum, dessen Zweige sich weithin ausdehnten und dessen
Wurzeln fest wie Eisen auf dem Boden lagen. Weithin dehnte
dieser Baum seinen Schatten aus.
Die Kinder des Dorfes, die kleinen wie die großen, begannen aber
alsbald unter dem Baume zu spielen. Sie sprangen auf seinen
Wurzeln umher und kletterten in seine Zweige. Die Kinder des
Dorfes kannten nur noch das Spiel in den Zweigen des Baumes.
Das geschah, als Abu Seraera abwesend war. Als er nun heimkam
und den gewaltigen Baum und das Spiel der Kinder in den Baum-Zweigen
sah, nahm er einen Stock und jagte die Kinder von dem
Baume weg. Er sagte ihnen: "Wenn ihr in den Zweigen des
Baumes spielt, seid ihr verloren!" Die Kinder liefen schreiend von
dannen, ein jedes zu seinen Eltern und sagte: "Abu Seraera ist
zurückgekommen und hat uns das Spiel in den Zweigen des alten
Baumes verboten."
Als die Eltern der Kinder dies hörten, sagten sie: "Abu Seraera
redet in alles hinein und will allen vorschreiben. Dieser Abu Seraera
will jetzt nicht einmal den Kindern ihr Spiel gönnen." Die Eltern
gingen also hinaus und kamen zusammen, stritten gegen Abu
Seraera und sagten: "Laß die Kinder! Es sind unsere Kinder!
Es sind nicht deine Kinder! Wir sind auch nicht dumm und haben
auch Augen, so daß wir sehen können, was den Kindern gut und
schlecht ist. Laß das Unserige also uns, den Kindern ihr Spiel in den
Baumzweigen und kümmere du dich nur um deine Sachen."
Abu Seraera sagte: "Ihr habt mir versprochen, auf meine
Warnungen zu hören. Wenn ihr das jetzt nicht wollt, so müßt ihr
es nachher eben teuer bezahlen." Die Leute sagten: "Wir haben
gar nichts teuer zu bezahlen.!" Abu Seraera sagte: "Es ist gut!"
Abu Seraera ging also heim und holte eine Axt. Er ging zu dem
alten Baum und begann dessen Wurzeln, die wie Eisen auf dem
Boden lagen, durchzuschlagen. Da begann die alte Rula Schmerzen
zu empfinden, ihre Füße empfingen schwere Wunden und sie
sagte bei sich: "Wenn ich meine Sache hier erledigen will, so muß
ich es gleich tun." Als die Kinder, die großen wie die kleinen, nun
also wieder in den Zweigen spielten, nahm sie plötzlich ihre alte
Gestalt an und brachte die Kinder fort. Es blieb auch nicht ein
einziges Kind im Dorf. Die alte Rula führte sie alle miteinander
fort in ihre Seriba, und als die Eltern nach ihren Kindern sahen
und schrien, da waren die Kinder wie der alte Baum spurlos verschwunden.
Die Eltern liefen suchend in dem Dorfe und in der
Umgebung herum. Es war nichts von den Kindern zu finden.
So kamen denn alle Eltern zu Abu Seraera und weinten und
schrien: "Ach, Abu Seraera, hilf uns! Alle unsere Kinder sind
fort, und nur du allein kannst uns helfen!" Abu Seraera sagte:
"Ihr habt mir gesagt, ich solle mich nur um meine Sachen kümmern;
ich sollte euch das Eurige und den Kindern das Spiel in den
Baumzweigen lassen. Das habe ich getan; und als ich euch dann
sagte, daß ihr es teuer zu bezahlen haben würdet, wenn ihr meinen
Ratschlägen nicht folgtet, da habt ihr mich ausgelacht und habt
gesagt, ihr hättet gar nichts zu bezahlen. So habt ihr die Sache
hingestellt, und so steht sie jetzt. Seht nun selbst nach euren
Sachen." Abu Seraera ging fort in sein Haus.
Die Eltern weinten und klagten und sprachen untereinander:
"Nur einer kann helfen, das ist Abu Seraera. Wir wollen ihn mit
einem großen Geschenk besänftigen, damit er wieder Frieden mit uns
macht und uns unsere Kinder zurückbringt. Wir wollen Abu
Seraera für jedes abhanden gekommene Kind zwei Kühe schenken.
Dann wird er uns die Kinder vielleicht zurückholen." Sie brachten
also viele Kühe zusammen, für jedes verlorene Kind zwei, und alle
Kühe trieben sie in eine Seriba. Danach gingen sie wieder zu Abu
Seraera und baten ihn herauszukommen. Als er herauskam,
zeigten sie ihm die Seriba voller Kühe und sagten: "Abu Seraera,
nimm dies Geschenk und bringe uns unsere Kinder wieder!" Abu
Seraera sagte: "Habe ich euch nicht gesagt, daß ihr es teuer würdet
bezahlen müssen? Da ihr aber von selbst damit kommt und eure
Torheit einseht, will ich hingehen und euch eure Kinder zurückbringen."
So machte sich denn Abu Seraera wieder auf den Weg
zur alten Rula.
Die alte Rula hatte in ihrem Hause eine alte Büffelkuh. (Diese
Büffelkuh wird mit Sobo bezeichnet. Sobo ist aber das wahre
Kredjwort für Büffel!) Dieser Sobo hatte sie eine Glocke umgehängt,
und diese Sobo hütete die geraubten Kinder, wenn sie
tagsüber im Busche waren. An dem Geläute der Glocke der Sobo
konnte die alte Rula immer hören, wo sich die Kinder befanden.
Die Büffelkuh war aber trächtig. Als Abu Seraera sich
nun zu der alten Rula auf den Weg machte, schlich er sich zu der
Sobo heran, schlüpfte in sie hinein, tötete das Kalb, mit dem sie
schwanger ging, warf es hinaus und blieb selbst in der Büffelkuh.
Darauf warf die alte Sobo ihr Kalb. Das Kalb war (nun aber) Abu
Seraera. Dies Kalb war weiblich, und als die alte Rula das sah, war
sie darüber sehr erfreut. Sie band das Kalb am andern Tag im Staue
an und ließ die Sobo wie alle Tage als Führerin die Kinder in den
Busch treiben. Das Kalb aber benahm sich im Stalle sehr unwirsch.
Es zertrat alles und zerstieß alles. Es rannte die Wände
des Stalles ein und sprang in die Futterkrippe, daß sie zerbrach.
Die Leute der Rula kamen also zur Rula und sagten: "Das Kälbchen
zerbricht im Stall alles, denn es will mit seiner Mutter durchaus
hinaus in den Busch." Die Rula sagte: "Es ist gut! Dann mag das
Kalb morgen mit der Büffelkuh und den Kindern in den Busch
gehen."
Am andern Tage sagte die Rula zu den Kindern: "Das Kalb
kann heute mit der Sobo hinaus in den Busch und kann euch begleiten.
Achtet mir aber darauf, daß es nicht an die Milch seiner
Mutter heran kann." Die Sobo mit dem Kälbchen zog also wieder
hinaus in den Busch. Als sie weit weg von der Wohnung der Rula
im Busch waren, verwandelte Abu Seraera sich wieder in seine
eigene Gestalt. Er sprang auf die Sobo und tötete sie. Er schlug
ihr den Kopf ab und hängte ihn mit der Glocke an einen Ast im
Busch auf, so daß der Wind sie hin und her wehte und daß die Rula
ihr Läuten hörte. So merkte also die Rula von dem Tode der Sobo
nichts.
Dann begrüßte Abu Seraera die Kinder und brachte sie so schnell
als möglich in das Dorf, in dem die Eltern alle sehr erfreut und bereit
waren, von nun ab Abu Seraeras Ratschlägen in allen Dingen zu
folgen. So kam es aber, daß keines der Kinder verlorenging.
Von einem Kredj hinzugefügt: "Wenn dunkle Wolken aufsteigen,
so ist Seraera nicht zu sehen. Wenn es dann blitzt,
so wirft er immer ein Rasiermesser aus dem Schwanz des Widders
herab und kann damit Bäume zerspalten und Menschen töten."