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VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN
II. BAND
DAS UNGEHEUERLICHE
HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS 1922
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA
Atlantis Bd_02-0004. |
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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE
MIT 3 BILDERTAFELN (KABYLENZEICHNUNGEN)
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN VORBEHALTEN 1 COPY-RIGHT
1922 BY EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
Das Ungeheuerliche
Das Grauenvolle reizt die Kabylen, nimmt aber nur selten in
ihren Volksdichtungen bedeutsame Formen an. Es sind vielmehr
das Ungeheuerliche und das Fabelhafte, das sich zu märchenhaften
Bildungen verdichtet. Das Ungeheuerliche (vorliegender
Bd. II) überwiegt nun aber so stark im Volksinteresse, daß es wohl
berechtigt ist, seine Aufschlüsse den Ergüssen des eigentlich Fabelhaften
(Bd. III) voranzustellen.
Nicht etwa, als ob es an Grauenvollem mangelte. In Bd. 1 Nr. 24
S. 109 konnte ich schon einiges von den Schrecknissen berichten.
Derartiges gibt es vielerlei. Da sind vor allem die "Zurückkehrenden"
(thahaurith; Plural: tihaurihen; in anderem Dialekt: tharuhauith;
Plural: thiruhainen), die als gespenstische Schatten den Menschen
bedrängen. Dann gibt es die Tiuchilin (Sing.: teauchilt), das sind
Frauen, die am Freitag nacht unsichtbar die Dörfer durchziehen,
die stets unsichtbar bleiben, die angeblich nur Gutes tun, deren gespenstisches
Wesen aber dennoch gefürchtet wird. Ferner ist da
Imsisen (Plural: imsislien), ein mauleselartiges Wesen, das umherläuft,
eine Art Glocke am Hals hat und diese schellend erklingen
läßt; wenn Imsisen einem Menschen begegnet, so nimmt er ihn
auf den Rücken und läuft mit ihm davon. Dann wiederum taucht
hier und da eine Rauch- oder Wirbelsäule auf, die wie eine Wolke
durch den Wald zieht und die Menschen vernichtet. — Dagegen
konnte ich von den Subachen, die in Westafrika und in den Ländern
südlich der westlichen Sahara eine so große Rolle spielen, nichts
finden, und die Irrlichter (assassen luali; Sing.: lulia) sind nur
harmlose Erscheinungen.
Dem Grauenvollen gegenüber das Ungeheuerliche! Für alle
Arten Ungeheuer gibt es nur einen Ausdruck: luachsch; Plural:
leuhausch. Es ist ungemein bezeichnend, daß Löwen und Leoparden
für die Kabylen ganz ebenso "Luasch" sind wie die Riesen und
die Hexen. Die alten Kabylen fürchteten Riesen, Hexen, Leoparden
und Löwen offenbar als gleiche Erscheinungen. Aber ein Grauen
vor ihnen gab es nicht. Die Ungeheuer waren dem Mutigen überwindbar,
was auf die gespenstischen Erscheinungen nicht zutrifft.
Ihrer konnte man sich nur mit Hilfe magischer Mittel erwehren.
Ihnen gegenüber spielte der Mut keine Rolle.
Von den nicht der natürlichen Umwelt angehörigen Ungeheuern
gab es keine große Auswahl: Riesen, Hexen und Drachen. Die Riesen
(wuarssen oder awartheniu; Plural: iwarsnieuen oder iwarthuniän)
sind die gleichen plumpen Wesen wie bei uns. Sie sind kannibalisch,
aber auch dumm-gutmütig und durchaus phantasielos. Ganz
anders der Charakter der Hexen (Sing.: teriel oder tzeriel; Plural:
teriulat oder tzeriel). Diese sind bösartig, gerissen, rachsüchtig,
hinterhältig. Sie repräsentieren den Frauentypus, den der Kabyle
als Setut (Bd. 1 5. 40) bezeichnet. Sie sind Aliverschlinger und
nachts, wenn sie schlafen, erklingen aus ihrem Bauch die Stimmen
von Fröschen, Löwen und anderen Tieren. Merkwürdig ist es, daß
eine ganze Reihe von Abenteuern erzählt werden, die von einem
Zusammentreffen mit Teriel berichten und als wahre Geschehnisse
gelten. Zum dritten endlich gehört die siebenköpfige Schlange, der
Drache leph'ha oder lapha in die gleiche Sippe. Im Bd. III
(S. 294 Nr.
53 Jäger) werden wir aber sehen, daß auch ein schönes
Mädchen sich in ein Luasch, ein Ungeheuer verwandeln kann.
Die Erzählungen, in denen diese Ungeheuer die große Rolle
spielen, nehmen bei den Kabylen etwa ein Drittel im ganzen Bereich
der ursprünglich eigenen, wie der später von anderer Seite
zugeflossenen Volksdichtung ein. So war es ganz selbstverständlich,
daß wir uns oft über die Riesen und Hexen und auch über
ihr Heimatland unterhielten. Als ich in Tirual nun die ersten
Nachrichten über die auch aus dem Lande der Riesen stammenden
Taubenfrauen erhielt, wurde mir zum erstenmal ganz spontan
die Mitteilung zuteil, daß die Wuarssen am Himmel lebten:
"bei den Sternen" (sie sagten aber nicht, daß es die Sterne wären).
Dann kam auch zum ersten Male, ferner bei einer zweiten Erzählung
der Grabwache (Nr. 75) heraus, daß die Helden dieser Erzählungen
ihre Abenteuer am Himmel erleben - sicherlich ein
wichtiger Ausspruch für Jünger der vergleichenden Mythologie.
Die Erzählungen von den Kämpfen und Abenteuern mit Riesen
und Hexen zeigen eine große Mannigfaltigkeit. Alte liebe Geschichten,
wie die von Amor und Psyche, von Polyphem, den Schwanenjungfrauen,
den Amazonen usw. treten in neuen echt kabylischen
Versionen zutage, und zwar - was mir sehr bedeutsam erscheint -
nicht als von Fremden entlehntes Gut, sondern als genetisch mit
der ganzen Fabulei Verwachsenes.
1. Der Amazonenkampf
Man spricht aus alter Zeit von einem Mann, der war sehr reich,
aber er hatte keinen Sohn. Er heiratete eine erste Frau und
erhielt drei Töchter von ihr. Er heiratete eine zweite Frau und erhielt
wiederum drei Töchter von ihr. Er heiratete eine dritte Frau
und erhielt eine Tochter. Er hatte so sieben Töchter. Es waren
sieben Mädchen von großer Schönheit, aber noch größerer Stärke.
Der Mann war darüber, daß er keinen Sohn hatte, sehr traurig. Er
heiratete, als seine Töchter schon heranwuchsen, eine vierte Frau.
Die älteste Schwester nahm ein Schwert und sagte zu ihren
Schwestern: "Kommt, wir wollen auf das Feld reiten und miteinander
uns im Schwertkampf üben. Wir sind stark. Wir wollen
den Kampf üben, bis wir stärker sind, als die Männer. Sechs von
den Schwestern schlossen sich dem Vorschlage an. Die Jüngste aber
sagte: "Ich bin stark genug mit meinen andern Mitteln. Wenn ich
ein Büschel meiner Haare verbrenne, so erhalte ich alle Kunst und
Kraft, die ich nötig habe. Ich habe die Kunst, mit dem Schwerte zu
kämpfen, nicht nötig." Die Jüngste beteiligte sich nicht an den
Kämpfen der sechs Schwestern. Die sechs andern wurden aber so
stark und geschickt, daß jede einzelne von ihnen imstande war, dem
Haufen eines Dorfhäuptlings zu widerstehen und ihn zu überwinden.
Die sieben Schwestern aber lebten nur für sich und mit
Frauen und Mädchen zusammen. Sie wollten mit keinem Mann
etwas zu tun haben.
Eines Tages gebar die vierte Frau dem Vater einen kleinen Sohn.
Es wurde ein großes Fest gefeiert. Die älteste Schwester sagte aber
zu den andern fünf Schwestern, die mit ihr das Schwertfechten
geübt hatten: "Wir wollen für unseren Bruder eine Frau erkämpfen.
Am gleichen Tage mit ihm ist die Schwester des Wuarssen geboren,
die ein überaus schönes und starkes Mädchen sein soll. Die Wuarssen
verteidigen diese kleine Schwester mit aller Tapferkeit. Schon
vierzehn Agelith haben ihr Leben und ihre Mannschaft im Kampfe
mit den Wuarssen eingebüßt, und jetzt kämpfen nur noch wenige
Söhne der Agelith gegen die Wuarssen. Kommt Schwestern, wir
wollen uns die Kleider der Männer anziehen, unsere Pferde besteigen,
die Schwerter ergreifen und gegen die Wuarssen kämpfen."
Die fünf Schwestern waren einverstanden.
Die älteste Schwester ging zum Vater und bat ihn: "Mein Vater,
erlaube mir und meinen fünf Schwestern auf die Reise zu gehen."
Der Vater sagte: "So wartet doch, bis euer Bruder herangewachsen
ist. Dann werdet ihr männlichen Schutz haben. Wenn ihr solange
warten wollt, will ich es gerne erlauben." Die älteste Schwester
sagte: "Mein Vater, erlaube es uns; wir werden uns als Männer verkleiden,
und kein Mensch wird uns als Mädchen erkennen. Du
weißt, wir sind stark; erlaube es uns." Die Mädchen baten lange.
Der Vater gab zuletzt nach. Die sechs Mädchen zogen die Kleider
von Männern an, steckten einiges Essen zu sich, eine jede bestieg
ein Pferd. Sie nahmen von ihrer jüngsten Schwester, den Eltern
und dem jungen Bruder Abschied und ritten fort durch das Land
des Agelith gegen die Wuarssen.
Die Wuarssen waren weit in das Land der vierzehn Agelith eingedrungen.
Die Agelith selbst waren getötet und mit der größeren
Zahl ihrer Mannschaft gefallen. Es lebten nur noch sieben Söhne
der Agelith, die waren jung, schön und stark. (Der Erzähler weiß
nicht, ob dies richtige Brüder waren; er meint, es mögen die Söhne
verschiedener Väter, d. h. Fürsten gewesen sein, die nun eine fürstliche
Brüderschaft gegründet hatten.) Sie zogen eines Tages wieder
gegen die Wuarssen. Der eine der Agelithsöhne war sehr klug. Er
brauchte nur auf seine Fingernägel zu sehen und erkannte, was geschah.
Der kluge Agelithsohn sah auf seine Fingernägel und sagte:
"Brüder, laßt uns schnell und mit aller Kraft die Wuarssen überfallen.
Ich sehe, daß unsere zukünftigen Frauen auf dem Wege
sind. Nur die Frau unseres jüngsten Bruders ist daheim geblieben."
Einer der andern Agelithsöhne sah sich um und sagte: "Ich sehe
unsere Frauen nicht." Der erste Agelithsohn sagte: "Komm nur
schnell!"
Die sieben Agelithsöhne stürzten sich mit aller Gewalt auf die
Wuarssen. Die sechs Schwestern aber teilten sich. Sie wollten die
Wuarssen umfassen. Zwei der Schwestern ritten im weiten Bogen
herum. Ihre Pferde gingen durch. Die Pferde der zwei Schwestern
waren nicht zu halten und führten sie in eine Entfernung, die man
sonst in einem Jahre zurücklegt. Die vier anderen Schwestern
brachen mit großer Gewalt über die Wuarssen herein und schlugen
die Wuarssen. Einigen schlugen sie die Köpfe im Kampfe ab. Die
andern waren über die Kraft und Geschicklichkeit der vier als
Männer verkleideten Schwestern so entsetzt, daß sie besinnungslos
durch den Wald entflohen.
Die vier Schwestern verfolgten die Wuarssen. Die Wuarssen entkamen.
Die vier Schwestern kamen aber auf ihrem Wege an das
Haus, in dem die Wuarssen ihre schöne Schwester unter dem
Schutze einer alten Frau, einer Teriel, bewahrten. Die alte Teriel
kam heraus, als sie die vier als Männer verkleideten Schwestern
kommen hörte. Die Teriel sagte bei sich: "Ich rieche Menschenfleisch"
(wörtlich: nphrach thenphrach bennaden, d. h. man ist zufrieden,
Fleisch zu riechen). Sie begrüßte die vier als Burschen verkleideten
Mädchen und sagte: "Wo wollt ihr eure Pferde anbinden?
Soll ich sie dort am Baum anbinden?" Die als Burschen verkleideten
Mädchen sagten: "Nein, binde sie dort an den Awaruak"
(ein knoblauchartiges Gewächs). Die Teriel sagte "Es ist gut." Die
vier als Burschen verkleideten Mädchen sagten jede ihrem Pferd in
das Ohr: "Wenn dich die alte Frau anrühren will, tritt ihr mit den
Füßen auf den Leib. Zertritt ihr mit den Füßen den Kopf!" Dann
gingen die vier als Burschen verkleideten Mädchen in das Haus.
Die alte Teriel fragte sie: "Was soll ich euern Pferden zu fressen
geben? Sollen sie Gerste oder Weizen haben?" Die vier als Burschen
verkleideten Mädchen sagten: "Jetzt gib ihnen Kohle und nur
am Morgen gib ihnen Korn." Die alte Teriel sagte: "Und was wollt
ihr zu essen haben?" Die vier als Burschen verkleideten Mädchen
sagten: "Wir haben erst gegessen, zeige uns aber die Quelle. Wir
sind durstig und möchten an der Quelle trinken." Die alte Teriel
ging voran. Drei der als Burschen verkleideten Schwestern folgten
ihr. Die klügste Schwester aber blieb im Hause zurück und sagte: "Ich
habe keinen Durst. Ich werde mich gleich hinlegen und schlafen."
Als die alte Teriel mit den drei Schwestern gegangen war, sah die
kluge Schwester sich im Hause um. Sie sah in alle Kammern. Sie
kam in eine Kammer, die war ganz aus Gold hergestellt. In der
Kammer war die schöne junge Schwester der Wuarssen. Die kluge
Schwester begrüßte sie und sagte: "Du bist die schöne Schwester
der Wuarssen. Wir sind sieben Schwestern. Sechs von ihnen
sind wir nun zum Kampf ausgezogen, um die Wuarssen zu besiegen
und dich für unseren jungen Bruder, der am gleichen Tage
mit dir geboren ist, zu freien. Wir sind deinetwegen gekommen."
Die schöne Schwester der Wuarssen sagte: "Dann laß mich nur
alles machen. Ich will euch im Kampf gegen meine schlechten
Brüder helfen und will euren Bruder heiraten."
Als es Nacht war, kam die alte Teriel mit den drei als Burschen
verkleideten Schwestern wieder in das Haus. Die Schwester der
Wuarssen hatte in das Essen der Teriel ein Betäubungsmittel gemischt.
Die Teriel aß davon. Die Teriel schlief ein. Die Schwester
der Wuarssen und die vier als Burschen verkleideten Mädchen
schlossen die Teriel ein. Dann gingen sie hinaus zu den Pferden.
Die Schwester der Wuarssen sagte: "Eure Pferde taugen nichts.
Sie sind für die Wuarssen nicht schnell genug. Ich will in den Stall
der Pferde der Wuarssen gehen und will von dort Pferde holen, mit
denen wir die Wuarssen bekämpfen und töten können." Die
Schwester der Wuarssen ging und holte die Pferde. Sie bestieg
selber eines und ritt mit den vier als Burschen verkleideten Mädchen
noch in der Nacht hinter den Wuarssen her.
Inzwischen waren die zwei anderen Schwestern um die Wuarssen
herumgeritten und hatten sie im Rücken angegriffen. Die vier
anderen Schwestern griffen mit der schönen Schwester der Wuarssen
die Wuarssen von vorne an. Die sieben Söhne des Agelith kämpften
auf der Seite. Der Kampf ging hin und her. Bald wurden die
Wuarssen zurückgeworfen, bald mußten die sieben Mädchen zurückweichen.
Zuweilen hatten die von vorn und hinten angreifenden
Mädchen die Wuarssen ganz dicht zusammengedrängt, dann
aber gewannen die Wuarssen wieder die Oberhand. So kämpften
sie drei Jahre lang.
Eines Tages aber wurde die schöne Wuarssenschwester und die
älteste der sechs als Burschen verkleideten Mädchen verwundet.
Am gleichen Tage wurde auch der kluge Sohn des Agelith, der von
den Fingernägeln ablesen konnte, schwer getroffen und fiel blutend
auf die Erde. Er lag fast im Sterben und allein, während seine
sechs Brüder weiterkämpften.
Inzwischen sagte die jüngste der sieben Schwestern zu ihrem Bruder:
"Mein Bruder, ich weiß, daß der Kampf gegen die Wuarssen
nicht gut geht. Von den vierzehn Agelith, die früher mit den
Wuarssen kämpften, sind nur noch sieben Söhne am Leben und im
Kampfe. Auch von ihnen ist einer schon schwer verwundet und
beinahe am Sterben. Die anderen gehen ihrer Verwundung entgegen.
Unsere Schwestern haben die schöne Schwester der Wuarssen
gefunden und aus dem Hause der Teriel befreit. Die schöne
Schwester der Wuarssen kämpft mit unseren Schwestern gegen ihre
Brüder. Der Kampf geht hin und her. Bald Siegen unsere Schwestern,
die die Wuarssen von zwei Seiten angreifen, bald sind die
Wuarssen siegreich und drängen unsere Schwestern zurück. Eine
unserer Schwestern ist schon schwer verwundet, und die Schwester
der Wuarssen, die du einmal heiraten sollst, ist auch verwundet.
Es wird Zeit, daß wir dem Kampfe, der schon drei Jahre dauert,
ein Ende machen, indem wir unseren Schwestern zu Hilfe kommen.
Gürte also dein Schwert und folge mir."
Die jüngste Schwester ging mit ihrem Bruder zu ihrem Vater und
ihrer Mutter und sagte: "Mein Vater, meine Mutter! Unsere sechs
Schwestern sind im heftigen Kampf mit den Wuarssen. Sie sind
jetzt so weit entfernt, daß ich, um zu ihnen zu kommen, vier Jahre
gebrauchen werde. Erlaubt mir, daß ich mit meinem jungen Bruder
meinen Schwestern zu Hilfe komme. Erlaubt es uns, und ich
schwöre euch, daß ich am ersten Abend nach meiner Ankunft die
sämtlichen Wuarssen vernichtet haben werde." Der Vater sagte:
"Du also, meine jüngste Tochter, die ich mehr liebe als alle andern,
willst mit deinem Bruder, meinem einzigen Sohne, auch dorthin
gehen?" Die jüngste Tochter sagte: "Soll ich denn meine
Schwestern und unsere zukünftigen Gatten im Kampfe mit den
Wuarssen sterben lassen?" Der Vater sagte: "So warne ich dich:
Übernachtet wenigstens nicht in den Wäldern." Die jüngste Tochter
sagte: "Mein Vater, ich schwöre dir bei dem Kopfe deines Großvaters,
daß ich beide Wälder mit meinem Bruder durchziehen und
kein wildes Tier am Leben lassen will!"
Die jüngste Tochter kleidete sich nun als Bursche. Sie nahm
Essen mit. Das Mädchen und der Bruder gürteten die Schwerter
um. Sie bestiegen die Pferde; sie ritten davon. Sie ritten, bis sie an
den ersten Wald kamen, der acht Tage lang war.
Am Rande des Waldes von acht Tagen sagte das Mädchen zu
seinem Bruder: "Ich werde als die ältere zwei Drittel des Waldes
übernehmen. Übernimm du ein Drittel. Ich werde dann sehen, wie
stark du bist. Wir werden viele Löwen, Panther, Teriel und andere
wilde Tiere treffen und wollen sie alle töten." Der Bruder sagte:
"Es ist gut." Die Schwester und der Bruder ritten nun in den Wald.
Sie kämpften mit allen Tieren. Die Schwester war mit ihrem Teile
zuerst fertig. Sie kam aus dem Walde heraus und blickte zurück.
Sie sah den jüngeren Bruder ganz dicht umringt von fünfundzwanzig
Löwen, Panthern und Teriel nahe dem Ausgange des
Waldes. Sie wollte ihrem Bruder zu Hilfe eilen. Der Bruder rief
aber: "Laß nur, das mache ich allein." Dann führte er mit seinem
Schwert drei Hiebe. Da lagen alle fünfundzwanzig Löwen, Panther
und Teriel in viele Stücke zerschlagen tot umher. —Als die jüngste
Schwester das sah, sagte sie: "Mein junger Bruder ist stark, ich
kann ihm Vertrauen schenken."
Die jüngste Schwester und ihr junger Bruder kamen an den Wald
von einem Jahr (d. h. zu dessen Durchwanderung man ein Jahr
braucht). Die jüngste Schwester sagte zu ihrem jungen Bruder:
"Da du so stark und tapfer bist, will ich mit dir diese Arbeit teilen,
nimm du die eine Hälfte des Waldes (d. h. zur Säuberung von den
wilden Tieren), ich werde die andere Hälfte nehmen." Die jüngste
Schwester und ihr junger Bruder ritten in den Wald hinein.
In dem Teile des Waldes, den die jüngste Schwester durchritt, befiel
alle wilden Tiere die Furcht vor dem als Bursche verkleideten
Mädchen. Die Tiere liefen alle fort. Die jüngste Schwester konnte
nur wenige Tiere töten. Die meisten liefen zu dem Teile des jungen
Bruders hinüber und kämpften mit diesem. So war die jüngste
Schwester schon nach einem halben Jahr durch den Wald gekommen
und ritt noch ein halbes Jahr auf der anderen Seite weiter.
Sie machte dann erst Halt und wartete ein Jahr lang' auf ihren
jungen Bruder.
Der junge Bruder kämpfte ein Jahr lang schwer im Wald und
war dann erst mit den wilden Tieren fertig geworden. Er kam aus
dem Walde und nahm einen falschen Weg. Er kam an einen Fluß.
Am Flußufer waren gerade sieben Wassernixen (tirochänien; Sing.:
tarochanith) mit einer alten zusammen. Unter den Wassernixen
war eine, die war so schön wie die Sonne. Sie war die jüngste unter
den Wassernixen, und als sie den jungen Bruder sah, gewann sie
ihn sogleich lieb. Die anderen sechs Wassernixen und die Alte sahen
das und sagten: "Wir wollen den Burschen fangen und töten. So
wie er ein Wort spricht, können wir uns seiner bemächtigen. Veranlasse
ihn zu sprechen." Die junge Nixe liebte aber den jungen
Bruder und sagte: "Ich werde es nicht tun." Da fielen die Schwestern
und die Alte über die jüngste Nixe her, rissen ihr die Kleider
vom Leib, schlugen sie und sagten: "Wenn der Bursche sieht, wie
wir dich mißhandeln, wird er uns Vorwürfe machen und sprechen,
und wir haben ihn!"
Der Bursche sah die schöne junge Nixe und gewann sie lieb. Er
sah, wie die Alte und die sechs Schwestern ihr die Kleider vom
Leibe rissen und sie schlugen. Er wollte hinzugehen und sagen:
"Geht, wie könnt ihr sieben eine einzige schlagen!" Die schöne
junge Nixe machte ihm aber ein Zeichen, daß er stehenbleiben und
schweigen solle. Er tat es. Er blieb in der Entfernung stehen, sah
zu und schwieg. Das Herz tat ihm weh, weil er nicht sprechen
sollte, aber die schöne junge Nixe machte ihm ein Zeichen, und so
Atlantis Bd_02-008a. |
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Der Schluß des Amazonenkampfes. Oben von links nach rechts: der
jüngste Bruder; die jüngste Schwester; eine ältere Schwester und ein
Agelithsohn, ziehen gegen das Gehöft (Mitte des Bildes), in welchem
das älteste Wuarssenpaar (links) wohnt, das die letzten Wuarssen
(unten) beherrscht.
(Zu Nr. i) Originalzeichnung eines Kabylen
blieb er stehen. Er sah ihre ganze Schönheit und konnte nichts als
stehen und zusehen. So blieb er ein Jahr lang stehen und rührte
sich nicht. Er aß nicht und trank nicht, das Herz schmerzte ihn,
aber die jüngste schöne Nixe machte ihm ein Zeichen, und so
schwieg er.
Die jüngste kluge Schwester des Burschen hatte inzwischen ein
Jahr lang auf ihren Bruder gewartet. Als er nicht kam, riß sie sich
einige Haare aus und verbrannte sie, um zu sehen, wo ihr Bruder
sei. Sie sah die Richtung und ritt sogleich an den Fluß. Als sie an
den Fluß kam und den Bruder stehen sah, rief sie: "Willst du hier
verhungern?" Sie zog ihr Schwert und sprengte mit dem Pferde
zwischen die sechs Nixen und die Alte. Sie jagte sie auf und
tötete sie.
Die befreite jüngste Nixe sprang auf, dankte der jüngsten klugen
Schwester und sagte: "Wo gehst du mit deinem Bruder hin?" Die
jüngste kluge Schwester sagte: "Ich bin kein Mann; ich bin ein
Mädchen wie du und die Jüngste von sieben Schwestern. Meine
sechs Schwestern kämpfen seit drei Jahren mit den Wuarssen und
sind daran zu unterliegen. Deshalb muß ich eilen ihnen zu helfen,
denn ich habe noch ein Jahr Weges vor mir." Die junge Nixe sagte:
"Ich will deinen jungen Bruder heiraten. Erlaube mir, daß ich mich
auch als Bursche kleide, ein Schwert umbinde, ein Pferd besteige
und mich am Kampf gegen die Wuarssen beteilige." Die jüngste
kluge Schwester sagte: "Es ist mir sehr recht."
Die jüngste Nixe kleidete sich als Bursche, nahm ein Schwert,
bestieg ein Pferd und ritt mit der jüngsten klugen Schwester und
dem jungen Bruder in das Land, in dem die anderen Schwestern und
die Agelithsöhne mit den Wuarssen kämpften. Sie ritten noch ein
Jahr, dann langten sie an.
Die sechs Schwestern und die sieben Söhne der Agelith waren am
Ende ihrer Kräfte. Sie waren alle verwundet und bluteten an vielen
Stellen. Die Wuarssen glaubten sich schon Sieger und wären es am
andern Tage auch gewesen. Als die jüngste Schwester, die Nixe und
der Bruder ankamen, sahen sie es. Der Bruder stürzte sich an der
Meerseite auf die Wuarssen. Die jüngste Schwester kam von der
Landseite. Die Nixe griff in der Mitte an. Der Bruder warf auf
seiner Seite alle Wuarssen in das Meer. Die Nixe tötete alle Wuars..
Sen, die ihr gegenüber standen. Vor der jüngsten Schwester fielen
alle Wuarssen tot zu Boden.
Im Rücken der Wuarssen standen die Agelithsöhne. Als die
jüngste Schwester alle Wuarssen vor sich getötet hatte, stieß sie
auf die Agelithsöhne. Die jüngste Schwester dachte: "Sind es noch
mehr Wuarssen?" Sie zog ihr Schwert wieder und schlug auf die
Agelithsöhne ein. Ihr Schwert drang aber nicht in die Kleidung der
Agelithsöhne. Die jüngste Schwester sagte: "Was ist dieses? Dies
können keine Wuarssen sein!" Sie zog sich ein Büschel Haare aus
und verbrannte sie. Da erkannte sie, daß ihre Gegner die Agelithsöhne
waren.
Die jüngste Schwester steckte das Schwert ein und sagte: "Haltet
Friede, ich bin kein Wuarssen, wie ihr keine Wuarssen seid. Ihr
seid unsere zukünftigen Ehegatten. Steckt eure Schwerter ein. Der
Krieg mit den Wuarssen ist zu Ende." Die Tarochanith (Nixe) aber
sagte: "Meine kluge Schwester, warte noch; der Krieg ist noch nicht
ganz zu Ende. Es besteht noch ein Haus, in dem sind der große
Wuarssen mit seiner Frau und sieben Haufen (seva l'mhäl) Krieger.
Die bewachen dort die Schätze, die in 199 Kammern untergebracht
sind. Der große Wuarssen und seine Frau schlafen noch. Wir
können sie nur im Schlafe töten. Ich werde euch den Weg zeigen!"
Die jüngste Schwester sagte: "Tu dies, wir wollen sogleich alles zu
Ende führen."
Die Tarochanith ritt voran. Sie kamen an das Haus. Der große
Wuarssen und seine Frau schliefen. Sie schichteten um ihre Kammern
Holz an und entzündeten es. Der große Wuarssen und seine
Frau verbrannten, ehe sie sich noch wehren konnten. Die Jüngste
fand die 199 Schlüssel. Sie öffnete die 199 Häuser und fand sie gefüllt
mit allerhand Schätzen.
Dann ritt die jüngste Schwester umher und suchte die Verwundeten
auf. Sie verband ihre Wunden, verbrannte Haare und
brachte ihnen Speise und Trank. Nach einigen Tagen waren sie alle
gesund. Die sieben Söhne der Agelith kamen zu den Schwestern
und sagten: "Ihr habt das Land von den Wuarssen befreit. Ohne
euch wäre alles vernichtet und die Welt zerschlagen worden. Wir
bitten euch, unsere Frauen zu werden und uns zu helfen, die Welt
neu aufzurichten."
Die jüngste Schwester sagte: "Wir wollen es tun. Wir haben
unserem Bruder die schöne Schwester der Wuarssen gewonnen und
die schlimmen Wuarssen getötet. Unsere Arbeit ist fertig. Wir
wollen aber erst nach Hause reiten, wollen unsere Eltern begrüßen
und die Kleider der Männer ausziehen. Dann werden wir heiraten."
Die sieben Schwestern ritten mit der schönen Schwester der
Wuarssen und der schönen Tarochanith nach Hause. Sie begrüßten
ihre Eltern. Dann legten alle neun Mädchen die Kleider der
Burschen ab. Die sieben Schwestern heirateten die Söhne der
Agelith und ihr junger Bruder die schöne Schwester der Wuarssen
und die schöne Tarochanith.
2. Die undankbare Frau
Ein Mann hatte sieben Söhne. Alle sieben Söhne waren verheiratet.
Eines Tages wurde der Vater sehr krank. Er rief seine
Söhne zu sich und sagte ihnen: "Meine Söhne, ich bin sehr krank;
ich kann nur am Leben bleiben, wenn ihr mir die Herzen eurer
sieben Frauen zu essen gebt. Wenn ihr mich lieb habt, werdet ihr
es tun."
Die sieben Söhne liebten ihren Vater sehr. Sie wußten nicht,
daß ihr Vater die Herzen verlangte, weil er auf die Söhne ihrer
schönen Frauen wegen eifersüchtig war. Die sieben Söhne
sagten: "Wir wollen dir die Herzen unserer jungen Frauen
geben."
Der älteste Sohn tötete seine Frau und brachte seinem Vater ihr
Herz. In der folgenden Nacht brachte der zweite Sohn dem Vater
das Herz seiner Frau. Jeden Tag brachte einer der Söhne dem Vater
das Herz seiner Frau. Am siebenten Tage war die Reihe am siebenten
Sohne. Der siebente Sohn war der stärkste unter seinen Brüdern.
Aber er war schwach am Herzen. Er war verheiratet mit der
Tochter seines Vetters. Er hatte seine Frau sehr lieb. Er vermochte
nicht seine Frau zu töten. Als es Nacht war, sagte er zu seiner
Frau: "Nimm deine Sachen zusammen, wir wollen in den Wald
fliehen. Ich kann dich nicht töten." Er brach mit seiner Frau auf
und ging mit ihr die ganze Nacht hindurch.
Am Ende der Nacht sah der Bursche in der Ferne einen hellen
Punkt, ein Licht. Er sagte zu seiner Frau: "Bleibe du hier zurück.
Ich will hingehen und sehen, was dort ist." Die junge Frau blieb
zurück. Der Bursche ging auf das Licht zu. Er kam in ein Gehöft,
in dem lebten 99 Wuarssen. Die Wuarssen hatten gerade ihr
Nachtmahl gekocht. Es waren 99 tote Menschen in einem Kochtopf
über dem Feuer. Der Bursche trat in das Zimmer und begrüßte
die 99 Wuarssen. Die 99 Wuarssen sagten: "Deinen Gruß erwidern
wir nicht. Wir wollen dich und die Erde, über die du gehst, verzehren.
Was willst du ?" Der Bursche sagte: "Ich will Feuer von
euch haben, um mir im Walde etwas zu kochen." Die 99 Wuarssen
sagten: "So nimm dir Feuer unter dem Topf hervor. Hebe den Topf
auf, oder wir verschlingen dich!" Der Bursche nahm darauf den
Topf mit den 99 Leichen hoch und warf ihn zur Seite. Als die
Wuarssen das sahen, erschraken sie.
Der Bursche sagte: "Nun kommt ihr gegen mich!" Die 99 Wuarssen
kamen auf den Burschen zu, um ihn zu töten und zu verschlingen.
Der Bursche ergriff einen nach dem andern, schnitt ihm
den Hals durch und warf ihn in den Thetheraft. (Der Thetheraft
ist ein Silos, eine Speichergrube im Hause, in der das Korn aufbewahrt
wird. Diese Speichergruben sind oft von bedeutender
Tiefe.) So tötete er 98 von den Wuarssen. Den 99. aber verwundete
er nur am Halse und warf ihn so in den Thetheraft, ohne daß er
ganz tot war. Nachdem der Bursche das vollbracht hatte, schloß er
das Haus, in dem der Thetheraft war, ab und ging in den Wald zu
seiner jungen Frau zurück.
Der Bursche kam zu seiner jungen Frau und sagte zu ihr: "Ich
habe dort ein sehr gutes Gehöft für uns gefunden. Komm mit."
Der Bursche führte seine junge Frau in das Gehöft der Wuarssen,
zeigte ihr alle Kammern und sagte: "Überall kannst du hier hantieren
und arbeiten. Nur in jenes Haus dort darfst du nie gehen.
Versprich mir, daß du es nie tun willst." Die junge Frau versprach
(wörtlich "beschwor") es. Von nun an lebte der junge Bursche mit
seiner jungen Frau in dem Gehöft der Wuarssen. Der Bursche ging
morgens fort auf die Jagd und kam abends wieder.
Eines Tages war der Bursche wieder auf der Jagd, da kam er an
das Haus einer Teriel. Die Teriel stand gerade im Eingangsgelaß
des Gehöftes und mahlte Weizen. Sie hatte lange Brüste (thibuschni);
die hatte sie, damit sie ihr die Arbeit nicht störten, über die
Schulter nach hinten geschlagen, so daß sie auf dem Rücken herunterhingen.
Der Bursche schlich von hinten ganz vorsichtig
(thelihuf heißt "mit Furcht"; wuhadauhadan heißt "leise") heran.
Er ergriff die rechte Brust der Teriel und trank von ihrer Milch.
Die Teriel wandte sich um und sah den Menschen. Sie sagte: "Jetzt
hast du dich an meiner Brust genährt, jetzt werde ich dich wie
meinen Sohn behandeln und dir nur Gutes antun. Komm und iß
von meiner Speise."
Die Teriel setzte dem Burschen Essen vor. Sie plauderte mit ihm
und sagte: "Nicht wahr, du hast die Tochter deines Vetters geheiratet?
Nicht wahr, du hast sie vom Tode gerettet, als dein Vater
ihr Herz essen wollte?" Der Bursche sagte: "So ist es." Die Teriel
sagte: "Trotzdem wird diese Frau dir kein Glück bringen." Der
Bursche sagte: "Ich kann es nicht glauben, daß diese Frau mir Unglück
bringen wird." Die Teriel sagte: "Du wirst es ja sehen!
Komme nur immer zu mir, und wenn du etwas Schweres hast,
dann sage es mir!" — Der Bursche ging nun stets, wenn er auf
die Jagd ging, bei dem Hause der Teriel vorbei und sprach mit
ihr. Seiner Frau sagte er aber hiervon nichts.
Eines Tages, als der Bursche wieder zur Jagd fortgegangen war,
ward die Frau des Burschen neugierig, zu erfahren, was wohl in
dem Hause, das ihr zu betreten verboten war, sein möchte. Sie
ging hin und legte ihr Ohr an die Tür. Sie hörte im Innern Stöhnen.
Die Frau öffnete die Tür. Sie kam herein. Sie fand den Wuarssen,
der die Wunde am Halse hatte. Die junge Frau sah den riesengroßen
Mann und hatte ihre Freude an ihm. Der Wuarssen sagte:
"Schwöre mir, daß du deinem Mann nichts sagen willst und ich will
dir verraten, wer ich bin." Die junge Frau versprach es. Da erzählte
der Wuarssen alles, was sich zugetragen hatte. Die junge
Frau hatte aber ihre Freude an dem großen Mann und verband seine
Wunden, gab ihm Essen und pflegte ihn. Der Wuarssen aber sagte
zu der jungen Frau: "Ich will dich heiraten, wenn du mir helfen
willst, deinen Mann zu töten." Die junge Frau beschwor es. Die
Frau besuchte den Wuarssen nun jeden Tag, sobald ihr Mann zur
Jagd fortgegangen war.
Eines Tages sagte der Wuarssen zu der jungen Fran: "Wenn du
nun willst, daß dein Mann getötet wird, so verlange von ihm bei
seiner Liebe einige von den wiederbelebenden Äpfeln. (Diese mystischen
Äpfel heißen bei den Kabylen sfah' lemadihör.) Diese Äpfel
sind nur auf der anderen Seite des Meeres, und noch niemand ist
von der Reise nach dem Lande der wiederbelebenden Äpfel lebend
wieder zurückgekommen." Die junge Frau sagte: "Das will ich
tun."
Als der Bursche abends von der Jagd nach Hause kam, fand er
seine junge Frau weinend auf dem Bett. Der Bursche trat heran
und sagte: "Was fehlt dir?" Die junge Frau sagte: "Wenn du mich
lieb hast, geh hin und bringe mir von den wiederbelebenden Äpfeln."
Der Bursche sagte: "Steh auf! Ich werde mich morgen sogleich
auf die Reise in das Land machen, in dem die wiederbelebenden
Äpfel wachsen."
Am andern Tage ging der Bursche fort. Er ging zur Teriel und
sagte: "Meine Mutter! Meine Frau verlangt von mir, daß ich, wenn
ich sie lieb hätte, ihr von den wiederbelebenden Äpfeln bringen
sollte." Die Teriel sagte: "Es ist noch niemand von der Reise in
das Land, in dem die wiederbelebenden Äpfel wachsen, lebend
zurückgekommen. Du siehst, was deine Frau will. Ich habe dir
immer gesagt, daß du mit deiner Frau kein Glück erleben würdest.
Du wolltest es mir nicht glauben." Der Bursche sagte: "Wie komme
ich in das Land, in dem die wiederbelebenden Äpfel wachsen?"
Die Teriel sagte: "Wenn du es durchaus willst, gehe also in dieser
Richtung. Du wirst die Ochsen finden, denen Fleisch zum Essen
vorgelegt ist und Hunde, die die Eßnäpfe voll Stroh haben. Gib den
Hunden das Fleisch. Behalte aber davon ein gutes Stück. Den
Ochsen gib dann das Stroh. Unter den Ochsen ist ein großer schwarzer
Stier. Tritt an ihn um ihn zu besteigen. Der Stier wird darüber
so zornig werden, daß er dich mit den Hörnern in die Luft wirft.
Er wird dich so hoch schleudern, daß du über die sieben Meere
hinweggelangst in das Land, in dem die wiederbelebenden Äpfel
wachsen. Pflücke davon, soviel du brauchst. Auf dem Baume hat
ein großer Adler sein Nest. Steige mit dem Stück Fleisch in das
Nest und gib es seinen Jungen zu fressen. Der Adler wird dich dann
nach Hause zurücktragen." Der Bursche dankte der Teriel und
machte sich auf die Wanderschaft.
Nachdem er weit gewandert war, kam der Bursche dorthin, wo
den Ochsen das Fleisch zum Essen vorgelegt war und die Hunde in
den Eßnäpfen Stroh hatten. Der Bursche gab den Hunden das
Fleisch, behielt aber ein Stück davon. Den Ochsen gab er dann das
Stroh. Danach trat er an den großen schwarzen Stier und tat so,
als ob er ihn besteigen wolle. Der Stier ward darüber so zornig,
daß er ihn mit den Hörnern in die Luft warf. Er schleuderte den
Burschen so hoch, daß er über die sieben Meere flog und gerade bei
dem Baume niederfiel, auf dem die wiederbelebenden Äpfel wuchsen.
Der Bursche stieg auf den Baum. Erst pflückte er acht von
den wiederbelebenden Äpfeln und steckte sie in seine Brusttasche.
Dann stieg er noch höher, dahin, wo das Nest des Adlers war und
gab den Jungen des Adlers das Fleisch zu fressen. Nach einiger Zeit
kam der Adler und sah, daß der Bursche seine Jungen gefüttert
hatte. Der Adler sagte: "Ich danke dir; ich danke dir. Ich will
dich hintragen, wohin du willst." Der Bursche sagte: "So trage
mich über die sieben Meere hinweg in meine Heimat." Der
Adler nahm den Burschen auf seine Flügel und trug ihn über
die sieben Meere hinweg nach dem Walde, in dem der Bursche
wohnte.
Der Bursche ging zu der Teriel. Er gab ihr vier von den wiederbelebenden
Äpfeln. Dann ging er in das Gehöft, in dem er seine
Frau zurückgelassen hatte und sagte: "Hier hast du das, was du
von mir wünschtest." Der Bursche gab ihr die vier anderen wiederbelebenden
Äpfel.
Am andern Tage, als der Bursche wieder zur Jagd fortgegangen
war, gab die junge Frau dem Wuarssen die vier wiederbelebenden
Apfel und sagte zu ihm: "Mein Mann ist nicht, wie die andern,
unterwegs umgekommen. Mein Mann hat die wiederbelebenden
Apfel gebracht. Sage mir nun, wie wir ihn töten können." Der
Wuarssen sagte: "Sprich morgen eindringlich mit deinem Mann
und sage ihm: ,Ich fürchte mich hier immer sehr, wenn du fort
bist, denn hier sind viele wilde Tiere. Wirst du sie auch immer bewältigen
können? Darf ich einmal deine Kraft erproben und dich
binden, um zu sehen, ob du auch noch so stark bist wie früher?'
Wenn dein Mann sich dann von dir binden läßt und er nicht
mehr frei kommen kann, will ich ihn töten und verschlingen."
Die junge Frau war damit einverstanden.
Als der Bursche abends von der Jagd heimkehrte, saß seine Frau
auf ihrem Lager und weinte. Der Bursche fragte: "Was hast du?
Was fehlt dir?" Die junge Frau sagte: "Wenn du fort bist, fürchte ich
mich immer so sehr, denn hier sind sehr viele wilde Tiere. Wirst du
sie auch immer bewältigen können? Darf ich einmal deine Kraft erproben
und dich binden, um zu sehen, ob du auch noch so stark
bist wie früher?" Der Bursche sagte: "Ja, versuche es und binde
mich." Der Bursche stellte sich an einen Stützbalken. Die junge
Frau band ihn mit drei starken Stricken an Füßen und Händen um
den Stützpfeiler. Der Bursche sagte: "Bist du fertig?" Die junge
Frau sagte: "Ja, ich bin fertig. Versuche, ob du dies zerreißen
kannst." Der Bursche streckte die Arme und Füße. Die Schnüre
sprangen auseinander. Der Bursche lachte und sagte: "Soviel
Kraft habe ich noch. Da mußt du schon mehr Stricke nehmen."
Die junge Frau band ihren Mann dann mit sieben Stricken an
Füßen und Armen am Stützpfeiler fest. Der Bursche streckte aber
wieder die Füße und Arme, und die Schnüre zerrissen. Zum drittenmal
nahm die junge Frau viele Stricke und band damit den Gatten
an Füßen und Händen. Der Bursche streckte aber wieder Arme und
Beine, und die Schnüre zerrissen. Der Bursche sagte: "Du siehst,
du kannst ruhig sein, ich habe noch meine Kraft."
Am andern Tage ging der Bursche wieder auf die Jagd und in das
Haus der Teriel. Er erzählte der Teriel alles, was sich ereignet hatte,
und die Teriel sagte: "Du siehst, daß ich recht hatte, als ich sagte,
diese Frau würde dir Unglück bringen. Das Unglück ist nun nahe.
Wenn du nun eines Tages in deinem Hause getötet wirst, tue eines.
Ehe du getötet wirst, bitte deine Frau: ,Wenn ich gegessen werde,
zerbrecht nicht meine Knochen. Sammelt alle meine Knochen und
tut sie in einen Sack. Den Sack mit meinen Knochen ladet meinem
Esel auf und sagt zu ihm: thimthäm (Gerste) iseu (rösten) älmäl
(Tier) ousäi' (des Esels)." (Dieser Spruch soll soviel heißen wie:
"Esel geh dahin, wo du gewöhnlich deine Gerste bekommst".)
"Wenn du das gesagt hast, kann noch alles gut werden. Ich weiß
aber jetzt, daß deine Frau dich töten will und wird und deshalb versprich
mir dies." Der Bursche versprach es und kam abends nach
Hause.
Als der Bursche nach Hause kam, sagte seine Frau zu ihm: "Du
hast viele Stricke zerreißen können. Kannst du ein Frauenhaar
zerreißen?" Der Bursche lachte und sagte: "Versuche es!" Die
junge Frau band ihren Gatten mit Händen und Füßen an den Stützpfeiler
und nahm hierzu nur eines von ihren eigenen Haaren. Der
Bursche streckte dann Beine und Arme. Das Haar hielt ihn. Der
Bursche konnte sich nicht rühren. Der Bursche sah, daß er nicht
freikommen konnte. Er rief: "So komm doch hervor, Wuarssen!"
Der Wuarssen fürchtete sich aber so, daß er es nicht wagte. Da
gab die eigene Frau ihm einen Schlag mit der Debus (Schlagkeule)
an den Kopf. Die junge Frau rief: "Sieh, ich kann ihn schlagen,
ohne daß er sich zu wehren vermag." Nun kam der Wuarssen hervor.
Der Bursche sagte: "Ich sehe, ihr werdet mich töten und
fressen. Wenn ihr dies nun tut, so zerbrecht wenigstens meine
Knochen nicht. Sammelt meine Knochen und tut sie in einen Sack.
Den Sack mit meinen Knochen ladet meinem Esel auf und sagt zu
ihm: ,Thimthäm iseu älmäl ousäi'." Der Bursche ward getötet.
Der Wuarssen fraß ihn. Der Wuarssen und die junge Frau zerbrachen
aber die Knochen nicht. Sie sammelten seine Knochen und
taten sie in einen Sack. Den Sack banden sie dem Esel des Burschen
auf und sagten zu ihm: "Thimthäm iseu älmäl ousäi!" Der Esel
lief mit dem Sack voll Knochen davon.
Der Esel lief mit den Knochen des Burschen im Sack zu der
Teriel. Die Teriel empfing den Esel. Sie nahm ihm den Sack ab und
weinte über die Knochen. Die Teriel legte alle Knochen auf der
Erde zusammen, so wie sie gehörten. Dann bedeckte sie die
Knochen mit Seide und Wolle. Jeden Morgen begoß sie die Knochen
mit Milch. Nach einiger Zeit wurde der Körper wieder. Der Körper
nahm zu, bis er war wie vorher. Dann nahm die Teriel einen der
wiederbelebenden Äpfel, die der Bursche ihr geschenkt hatte. Sie
hielt dem Burschen den wiederbelebenden Apfel unter die Nase.
Der Bursch nieste (-arteth). Von nun an konnte er sich bewegen.
Sie gab ihm nun täglich ein Ei und Milch. Er wurde wie früher und
gewann seine Gesundheit wieder.
Eines Tages sagte der Bursche zu der Teriel: "Mutter, ich möchte
in mein Haus zurückkehren." Die Teriel wies ihm einen Sack mit
Salz und einen mit Eisen (-uththiu) und sagte: "Nimm jeden der
Säcke in eine Hand und hebe sie." Der Bursche ergriff sie. Er vermochte
sie kaum zu heben. Die Teriel sagte: "Es ist noch nicht
Zeit." Nach einiger Zeit sagte der Bursche wieder: "Mutter, ich
möchte in mein Haus zurückkehren." Die Teriel hieß ihn die
Säcke heben. Er hob sie bis zum Knie. Die Teriel sagte: "Es ist
noch nicht die Zeit." Nach einiger Zeit sagte der Bursche wieder:
"Mutter, ich möchte in mein Haus zurückkehren!" Die Teriel hieß
ihn die Säcke heben. Er hob sie bis an die Schulter. Die Teriel
sagte: "Es ist noch nicht an der Zeit." Nach einiger Zeit sagte der
Bursche wieder: "Mutter, ich möchte in mein Haus zurückkehren."
Die Teriel hieß ihn die Säcke heben. Er hob sie hoch in die Höhe
und warf sie über die Schulter hinweg weit rückwärts. Die Teriel
sagte: "Mein Sohn, jetzt ist es an der Zeit. Gehe in dein Haus
zurück." Der Bursche zog sich wie ein Bettler an und ging.
Der Bettler kam an sein Haus. Er klopfte an und bat: "Könnt
Ihr mir nicht etwas Essen schenken?" Die junge Frau sprach von
innen: "Mein Mann ist nicht daheim. Deshalb kann ich dir jetzt
nicht öffnen. Mein Mann wird aber heute abend nach Hause kommen.
Warte bis dahin." Der Bettler wartete. Er setzte sich vor
dem Gehöft hin und wartete. Als es Abend war, kam der Wuarssen
nach Hause. Die Frau ging ihm entgegen. Der Wuarssen schloß
hinter sich die Tür. Der Bettler sah, daß er vergessen war.
Der Bettler hustete an der Tür. Die junge Frau sagte zu ihrem
Mann, dem Wuarssen: "Jaso, draußen steht ein Bettler. Wollen
wir ihn hereinlassen und ihm etwas zu essen geben ?" Der Wuarssen
sagte: "Laß ihn hereinkommen." Die Frau öffnete die Tür. Sie
sagte zum Bettler: "Komm herein, mein Mann erlaubt es." Der
Bettler setzte sich in eine Ecke. Die Frau gab ihm Essen. Der
Wuarssen blickte in die Ecke. Er sagte: "Kenne ich diesen Mann
nicht? Ist es nicht dein erster Mann?" Die Frau lachte und sagte:
"Wie doch? Meinen ersten Mann haben wir doch getötet und du
hast ihn gegessen!" Der Wuarssen gab sich zufrieden.
Nach dem Essen sagte der Bettler zu dem Wuarssen und seiner
Frau: "Nun wollen wir uns Märchen erzählen. Wollt ihr eines erzählen?"
Der Wuarssen sagte: "Wir wohnen hier in der Einsamkeit.
Wir sehen und hören niemand. Wir kennen nur den Wald.
Du aber kommst weit herum. Du hörst die Leute sprechen. Erzähle
du uns ein Märchen."
Der Bettler sagte: "Ja, ich werde euch eine Geschichte erzählen.
Hört!" Der Bettler begann seine eigene Geschichte zu erzählen.
Er erzählte, wie er seine Frau vor dem Tode rettete. Er erzählte,
wie er das Haus von den Wuarssen erkämpfte. Er erzählte, wie die
junge Frau mit dem Wuarssen Freundschaft schloß. Er erzählte,
wie seine Frau ihn wegsandte mit dem Wunsche nach den wiederbelebenden
Äpfeln. Er erzählte, wie seine Frau ihn mit Stricken
zu binden versuchte. Er erzählte, wie seine Frau ihn mit einem
Frauenhaar band. Er erzählte, wie seine Frau ihn mit der Debus
schlug und rief: "Sieh, ich kann ihn schlagen, ohne daß er sich zu
wehren vermag." Er erzählte, wie sie ihn töteten, aßen, seine
Knochen in einen Sack auf den Esel banden und fortschickten.
Während der als Bettler verkleidete Bursche dies erzählte, verschlang
(=athvila) die Erde (= achel) den Wuarssen und die
junge Frau. Sie waren beide ganz still und sagten nichts. Nur der
Bettler sprach. Die Erde verschlang sie ganz langsam. Der Wuarssen
und seine Frau saßen ganz still und hörten. Nur der Bettler
sprach und erzählte, was die junge Frau an ihm getan. Die Erde
hatte den Wuarssen und seine junge Frau schon bis an den Kopf
verschlungen. Der Bursche sprang auf, warf das Kleid des Bettlers
fort, zog seinen Säbel und schlug die Köpfe des Wuarssen und seiner
Frau ab, ehe die Erde sie noch verschlungen hatte.
Der Bursche sah sich im Hause um. Er fand eine Wiege (=due'h';
ausklingend in den arabischen l'ha-Laut) und darin ein kleines Kind.
Er nahm die Wiege und das kleine Kind mit sich und machte sich
auf den Rückweg zu der Teriel. Unterwegs erwachte das Kind in
der Wiege und schrie: "Ah, deine Ohren sind rot! Ich möchte Sie
essen!" Der Bursche sagte: "Hä! Du bist also der Sohn des
Wuarssen!" Er ergriff das Kind und warf es gegen einen Stein.
Das Kind starb. Es war das letzte Wuarssenkind in diesem Lande.
Der Bursche kam zu der Teriel und sagte: "Jetzt ist alles in Ordnung."
Die Teriel empfing ihn freundlich, gab ihm zu essen und
pflegte ihn. Der Bursche lebte gut bei seiner Mutter Teriel.
Nachdem der Bursche aber einige Zeit bei der Teriel gelebt hatte,
wurde er traurig. Er kam eines Tages zur Teriel und sagte:
"Mutter Teriel! Erlaube mir, daß ich zu meinem Vater zurückkehre."
Die Teriel sagte: "Mein Sohn, du hast recht. Bereite dich
zu dieser Reise vor. Ich werde dir zwei Geschenke mitgeben."
Dann gab die Teriel dem Burschen eine geschlossene Kiste und einen
Neger als Geschenk und sagte: "Schwöre mir, daß du die Kiste nicht
öffnen willst, ehe du nicht bei deinem Vater angekommen bist.
Wenn du es nicht tust, wirst du großem Unglück entgehen." Der
Bursche versprach es und machte sich mit der Kiste und dem Neger
auf den Weg.
Der Bursche wanderte mit der Kiste und dem Neger in der Richtung
auf den Ort seines Vaters weit fort. Als er eines Nachts im
Walde lagerte, sagte er bei sich: "Ob die Teriel mir nicht doch in
ihrer Verstimmung über meinen Abschied ein Geschenk mitgegeben
hat, welches mich tötet, wenn ich daheim gerade angekommen bin.
Besser wird es sein, ich überzeuge mich hier davon." Der Bursche
öffnete die Kiste. In der Kiste lag ein wunderschönes Mädchen. Es
war die Tochter der Teriel. Sie war so schön, daß sie einen weiten
Glanz um sich verbreitete. Die Tochter der Teriel hatte an ihrem
Finger einen Ring. Mit dem Ringe konnte sie erreichen, was sie
sich an Schätzen und Gold und Besitz wünschte.
Der Bursche war über die schöne Tochter der Teriel über alle
Maßen glücklich. Er zerbrach die Kiste und sagte: "Meine kleine
Frau, du sollst mir nicht wieder in eine so enge Kammer kommen.
Wir wollen sogleich in den Ort meines Vaters zurückkehren und
uns dort ein großes Haus errichten." Der Bursche weckte den
Neger und brach mit dem Neger und seiner schönen jungen Frau
sogleich auf. Sie kamen noch vor Anbruch des Tages an den Ort,
in dem der Vater des Burschen Agelith war. Mit Hilfe des Ringes
am Finger der schönen Frau ließen sie gegenüber dem Haus des
Agelith sogleich ein hohes Haus entstehen. In dem Hause legten
sie sich auf schönen Betten zum Schlafen nieder.
Als die Bewohner am andern Morgen erwachten, sahen sie das
neue schöne Haus und erstaunten. Sie liefen zum Agelith und erzählten
ihm, was vorgefallen war. Der Agelith trat an das Fenster.
Er sah das schöne Haus. Er sandte eine Dienerin, daß diese sehe,
wer in dem Hause wohne. Die Dienerin kam in das neue Haus.
Die Dienerin sah, daß der Herr des neuen Hauses der Sohn des
Agelith war. Sie kam zurück zum Agelith und sagte: "Dieser Mann,
der das neue schöne Haus gebaut hat, ist dein Sohn, der seinerzeit
floh. Dein Sohn hat eine sehr schöne Frau."
Der Agelith machte sich auf den Weg. Der Agelith kam in das
neue Haus. Er sah seinen Sohn. Er sah den Neger. Er begrüßte
den Sohn und sagte: "Ich bin dein Vater, ich will dich begrüßen."
Der Agelith sah die junge Frau seines Sohnes. Er erschrak, so
schön war sie. Er ward von Eifersucht gegen seinen Sohn ergriffen.
Er wollte selbst diese schöne Frau heiraten. Er verließ seinen Sohn
und ging in sein Haus zurück.
Der Agelith rief seine Leute zusammen und sagte: "Mein Sohn
ist zurückgekehrt. Ich will meinen Sohn nicht hier haben. Wer
meinen Sohn fortschafft, wer meinen Sohn tötet, den werde ich
reichlich belohnen." Ein Jude sagte: "Ich will das tun." Der
Agelith sagte: "So nimm das Recht!"
Der Jude besuchte den Burschen in seinem neuen Hause und
sagte zu ihm: "Ich kenne eine Stelle, an der viele Tiere sind. Komm
mit mir und jage mit mir! Wenn es dir recht ist, wollen wir zusammen
zur Jagd gehen." Der Bursche sagte: "Es ist mir recht."
Am andern Tage packte der Jude viel Salzfleisch (=aschedeloch)
und zwei Kürbisflaschen voll Wasser ein. Er holte den Burschen
ab. Er führte ihn in den Busch, in dem viele Tiere waren. Er führte
ihn in die Wüste. Nach einiger Zeit sagte der Bursche: "Jude, ich
habe Hunger; hast du etwas zu essen mitgebracht?" Der Jude zog
das Salzfleisch heraus und sagte: "Hier iß!" Der Bursche aß viel
davon. Als er sich satt gegessen hatte, sagte er: "Nun habe ich
genug gegessen. Hast du zu trinken?" Der Jude sagte: "Ich habe
nur ein wenig Wasser für mich zum Trinken mitgenommen." Der
Jude ging mit dem Burschen weiter.
Als sie in der Wüste ein Stück weitergegangen waren, sagte der
Bursche: "Ich gehe nicht weiter mit, mich dürstet zu sehr." Der
Jude sagte: "So nimm noch ein wenig von dem Fleisch. Dann wird
dein Durst vergehen." Der Bursche aß noch von dem Fleisch. Sein
Durst wurde noch größer. Er ging noch ein Stück weiter, dann
sagte er: "Ich gehe nicht weiter mit. Ich sterbe vor Durst." Er
legte sich in der Sonne hin und stöhnte. Der Jude sagte: "Wenn du
mir eines von deinen Augen gibst, gebe ich dir dafür einen Kürbis
voll Wasser!" Der Bursche sagte: "Nimm eines meiner Augen und
gib mir Wasser." Der Jude nahm dem Burschen ein Auge heraus
und gab ihm die Kürbisflasche voll Wasser.
Der Bursche trank und sagte: "Das verlängert mein Leben nur
um eine Stunde, wenn du mir nicht mehr Wasser geben kannst."
Der Jude sagte: "Wenn du mir auch noch dein anderes Auge gibst,
sollst du noch eine Kürbisflasche voll Wasser haben." Der Bursche
sagte: "Nimm mein anderes Auge und gib mir das Wasser." Der
Jude nahm das andere Auge heraus, gab ihm die Kürbisflasche voll
Wasser und lief mit den beiden Augen des Burschen in den Ort.
Er brachte dem Vater des Burschen die beiden Augen und sagte:
"Dein Sohn ist getötet, hier sind seine beiden Augen."
Der Agelith nahm die Augen seines Sohnes, belohnte den Juden
und sagte: "Nun komm mit. Mein Sohn ist tot; ich will die junge
schöne Frau aus seinem Hause holen. Der Agelith kam mit seinen
Leuten an das Haus seines Sohnes. Er wollte in das Haus eintreten.
Der Neger stand aber mit einem Schwert am Eingang des
Hauses und sagte: "Solange mein Herr abwesend ist, darf niemand
das Haus betreten. Ich werde jeden töten, der das Haus betritt."
Der Agelith sagte zu seinen Leuten: "Schlagt diesen Neger tot!"
Die Leute kamen heran und kämpften mit dem Neger. Der Neger
schlug sie tot. Von dem Tag an kämpften die Leute des Agelith
gegen den Neger. Aber keiner konnte den Neger besiegen. Der
Neger schlug alle seine Gegner tot. Der Agelith ließ überall im
Lande die jungen Leute zusammenrufen, daß sie gegen den Neger
kämpften.
Inzwischen war der blinde Bursche mit Mühe auf Händen und
Füßen aus der hellen Sonne in den Schatten der Bäume gekrochen.
Er ruhte in dem Schatten und schlief ein. Als er wieder erwachte,
hörte er über sich Vögel schreien. Auf dem Baume hatte ein uralter
Adler sein Nest. Der Adler war so alt, daß er keine Federn mehr
hatte. Als es Abend war, fror er. Die Jungen des Adlers kamen
heran. Der alte nackte Adler sagte: "Deckt mich zu!" Die Jungen
des Adlers sagten: "Nein, wir decken dich nicht zu." Der alte Adler
sagte: "Weshalb wollt ihr das nicht tun?" Die Jungen sagten:
"Wir trauen den Alten nicht mehr, wer weiß, was unsere Väter mit
uns tun? Sieh den Mann hier unten. Sein eigener Vater hat dem
Juden den Auftrag gegeben, ihm die Augen auszustechen. Wir
fürchten, unsere Alten könnten es mit uns eines Tages auch so
machen."
Der alte Adler sagte: "Dieser Mann da unten kann sich sehr
leicht helfen. Er braucht nur ein Blatt von diesem Baume abzureißen
und es zwischen den Händen zu zerreiben. Wenn er die zerriebene
Blattmasse nachher auf seine Augen legt, wird er besser
sehen als zuvor." Der Bursche unter dem Baume hörte alles. Er
richtete sich auf, pflückte ein Blatt von dem Baume, zerrieb es
zwischen den Händen und blickte um sich. Er konnte die Sterne
sehen. Er konnte den Mond sehen. Er sah besser als zuvor. Er
dankte den jungen Adlern. Die jungen Adler deckten den alten
nackten Adler zu.
Der Bursche machte sich auf den Heimweg. Er kam nahe dem
Orte seines Vaters in eine Farm; in dem Hause war eine einzige alte
Frau, die weinte. Der Bursche trat in das Haus ein und fragte:
"Kannst du mich zur Nacht beherbergen?" Die Frau sagte: "Ja,
lege dich dorthin." Der Bursche fragte: "Was hast du, meine
Mutter? Du scheinst mir nicht glücklich zu sein." Die Frau sagte:
"Ich soll glücklich sein? Der Agelith will die Frau seines toten
Sohnes heiraten und in dessen Haus eindringen. Vor dem Hause steht
aber ein Neger und schlägt alles tot. Morgen soll nun mein Sohn
mit anderen jungen Leuten gegen den Neger kämpfen. Mein Sohn
und seine Freunde werden totgeschlagen werden wie alle andern."
Der Bursche sagte: "Wenn du mir das Huhn dort zum Abendessen
gibst, damit ich für morgen stark bin - wenn du mir dann
noch die Kleider deines Sohnes gegen meine Kleider austauschst,
so will ich morgen an Stelle deines Sohnes hingehen und mit dem
Neger kämpfen. Die Frau schrie vor Freude (ju-ju-ju). Sie bereitete
nicht das Huhn. Sie schlachtete ein Schaf zum Abend. Sie
machte ein ausgezeichnetes Essen. Der Bursche aß und legte sich
dann zum schlafen nieder.
Am andern Morgen kleidete der Bursche sich in die Kleider des
jungen Bauern und ging nach dem Orte, in dem sein Vater Agelith
war. Er kam zu dem Agelith. Der Agelith erkannte seinen Sohn
nicht. Der Bursche sagte zu seinem Vater, dem Agelith: "Agelith,
was gibst du mir, wenn ich den Neger ganz allein töte ?" Der Agelith
sagte: "Dann will ich mein Amt niederlegen und du sollst, wer du
auch seist, an meiner Stelle Agelith werden. Außerdem gebe ich
dir meine Tochter und mein ganzes Vermögen." Der Bursche sagte:
"Gut, dann will ich den Neger töten."
Der Bursche ging hin zu seinem eigenen Hause. Er kam mit dem
Schwert und begann mit dem Neger zu kämpfen. Er kämpfte mit
dem Neger den ganzen Tag. Am Abend war der Neger ermüdet. Er
ging in das Haus und sagte zu seiner Herrin, der Tochter der Teriel:
"Dieser Mann, der heute mit mir kämpfte, hat ein Blut und eine
Kraft wie mein Herr, dein Gatte." Die Frau des Burschen sagte:
"Ruhe dich morgen aus. Ich werde morgen an deiner Stelle
kämpfen."
Am andern Morgen kämpfte die Tochter der Teriel gegen den
fremden Burschen, ihren eigenen Gatten. Sie hatte mit ihm aber
erst einige Hiebe gewechselt, da erkannte sie den Burschen als
ihren Mann. Sie wollte Freudenschreie (ju-ju-ju) ausstoßen.
Der Bursche aber sagte: "Laß dir nichts merken! Kämpfe
weiter. Schlage immer weiter!" Der Bursche und seine Frau
kämpften weiter miteinander. Der Bursche sagte zu seiner Frau
(während des Kampfes): "Mein Vater hat mir versprochen, von
seiner Stelle zurückzutreten und mich zum Agelith zu machen,
wenn ich den Neger töte. Binde also morgen dem Neger einen
Darm voll Blut um. Den werde ich durchschlagen. Der Neger soll,
wenn das Blut über ihn fließt, hinstürzen. Mein Vater muß mich
dann zum Agelith machen, und ich kann über ihn richten. Das
alles erkläre dem Neger genau, damit morgen alles zu Ende kommt."
Die junge schöne Frau kämpfte weiter und sagte: "Ich habe verstanden,
mein Gatte; ich werde morgen alles so einrichten, wie du
es angeordnet hast."
Am andern Tage trat wieder der Neger vor die Tür des Hauses
um zu kämpfen. Der Bursche begann mit dem Schwerte auf ihn zu
schlagen und fragte ihn während des Kampfes: "Hast du den Darm
mit dem Blut um den Hals?" Der Neger sagte: "Ich habe den Darm
mit dem Blut um den Hals; schlage ihn nur durch." Der Bursche
schlug auf den Darm. Der Darm zerplatzte. Das Blut floß über den
Neger. Der Neger fiel um. Der Bursche wandte sich um zu denen,
die von ferne dem Kampf zugeschaut hatten und sagte: "Ihr seid
meine Zeugen, daß ich den Neger erschlug." Die Leute sagten:
"Gewiß, wir sind deine Zeugen."
Der Bursche ging mit den Zeugen zum Agelith und sagte: "Ich
habe allein den Neger getötet. Hier sind meine Zeugen." Der
Agelith sagte: "Es ist gut, ich will mein Wort erfüllen. Nur will ich
als letzte Handlung als Agelith noch den sieben weisen Leuten des
Ortes eine Frage vorlegen!" Der Bursche sagte: "Damit, daß du
als letzte Handlung als Agelith den sieben weisen Leuten noch eine
Frage vorlegst, bin ich einverstanden."
Der alte Agelith rief die sieben weisen Leute des Ortes zusammen
und sagte: "Ist es erlaubt, daß ich die Frau meines Sohnes heirate?"
Sechs der weisen Leute sagten: "Ja, es ist erlaubt." Der siebente
sagte: "Nein, es ist nicht erlaubt." Der Agelith ließ seine Leute
kommen und sagte: "Schlagt diesen weisen Mann, damit er mir mit
mehr Weisheit antworte." Der Bursche aber sagte: "Laßt das!
Der weise Mann hat recht. Jetzt bin ich Agelith! Es ist nicht erlaubt."
Damit schlug er dem Agelith den Kopf ab.
Der junge Agelith sagte: "Dieser hier hat erst die jungen Frauen
seiner Söhne aus Eifersucht töten lassen. Nun wollte er die letzte
Frau seines jüngsten Sohnes heiraten. Er hat mich selbst zu seinem
Nachfolger ernannt. Tötet den Juden, der mir die Augen ausstach;
bestraft die sechs Weisen, die so schlechten Rat gaben und belohnt
den, der bei der Wahrheit blieb."
Der Bursche ging hinüber in das Haus seiner jungen, schönen
Frau.
3. Odyssade
Ein kleiner Knabe war bei seinem Onkel (= chali; Plural:
chuali ist stets Mutterbruder; der Onkel väterlicherseits heißt
animi; das Wort animi wird von den französisch sprechenden Kabylen
mit cousin übersetzt, was auf seine Anwendungsausdehnung
schließen läßt; im übrigen heißt der Sohn des animi, also der richtige
Vetter, mis-animi). Das Haus des Onkels war von dem seiner
Mutter nur wenig entfernt. Die Nacht war nicht fern. Es regnete.
Der Onkel sagte zu dem Knaben: "Bleibe bei mir zum Abendessen,
nachher bringe ich dich nach Hause." Der Knabe sagte: "Ich will
nicht hier bleiben, ich bin zu fremd hier." Der Onkel sagte: "Du
bist bei deinem Onkel und zwei Schritte entfernt von deinem Hause.
Du sagst, du seist zu fremd hier. Du weißt nicht, was die Fremde
(=l'röbe) ist. Ich will dir deshalb erzählen, wie es ist, wenn man
in der wahren Fremde reist."
Der Onkel erzählte:
Es waren 76; ich war der siebenundsiebzigste. Wir waren auf
Reisen. Wir wanderten Tag und Nacht. Wir reisten bis zum
äußersten. Wir haben herrliche Ebenen durchwandert. Nach
langem Wandern kamen wir an ein großes Meer. Wir waren, als
wir an das Meer kamen, schon sieben Jahre auf Reisen.
Auf dem Ufer bauten wir aus Brettern (=sfina; Plural: sfines)
eine große Fläche (also ein Floß). Alle 77 stiegen darauf. Wir
fuhren hinaus. Wir konnten keine Richtung sehen. Wir sahen nur
Wasser und Himmel. So schwammen wir vier Jahre ohne (genügendes)
Essen und Trinken. Nach vier Jahren zerbrachen die
Planken (das Floß). Die meisten wurden mit den Brettern weggerissen
und gingen unter. Nur ein Rest der gebundenen Bretter
blieb über Wasser. Es waren sechs Mann darauf. Ich war der
siebente. Wir fuhren weiter.
Eines Tages kam der große Vogel Ichidr (Plural: ihuder, wird
als Strauß erklärt; einige sagen, es sei ein großer Adler). Ichidr
packte einen von uns, zog ihn empor und trug ihn fort. Am andern
Tage kam Ichidr wieder und trug einen fort. Er trug einen nach dem
andern fort. Am siebenten Tage war ich nur noch allein übrig. Da
kam Ichidr am siebenten Tage, packte mich, trug mich empor und
hinweg über das Meer. Ichidr flog mit mir sehr schnell und sehr
weit.
Ichidr flog, bis er an einige riesenhöhe Felsen kam. Auf die
Spitze dieser Felsen flog er nieder und setzte mich dann in sein
Nest, in dem seine Jungen waren. Die Jungen schliefen. Der Ichidr
flog wieder fort. Ich sagte mir: "Du bist hier als Nahrung für die
Jungen des Ichidr. Jetzt schlafen sie." Darauf tötete ich die
Jungen des Ichidr. Dann stieg ich auf den Rand des Nestes und sah
mich um. Der Felsen war ungeheuer hoch. Es lagen aber viele
Haare von Frauen herum, die von den Jungen des Ichidr verzehrt
waren. Ich band die Haare zusammen und machte ein Tau. Das
Tau aus Frauenhaar band ich an einer Felsenspitze fest. Ich fing
an, mich langsam und vorsichtig an dem Tau herabzulassen. Ich
war schon ein ganzes Stück weiter, da blickte ich einmal zurück.
Ich sah, daß mir eine siebenköpfige Schlange (=lef'ha, die Hydra)
folgte. Ich erschrak. Ich beschloß, lieber auf der Erde zu sterben,
als in der Luft aufgefressen zu werden. Ich schnitt den Strick
durch. Ich stürzte. Ich kam auf die Erde.
Auf der Erde fiel ich gerade vor der Höhle (=l'hrar) einer Löwin
nieder. Ich hatte mir die Arme und Beine gebrochen. Ich kroch
auf Händen und Füßen in die Höhle. In der Höhle waren nur die
Jungen. Ich versteckte mich zwischen den Jungen. Nach einiger
Zeit kam die Löwin nach Hause. Die Löwin legte sich nieder. Die
Jungen der Löwin drängten sich an ihre Brust und tranken. Ich
drängte mich auch, heran. Ich trank auch von der Brust der Löwin.
Einmal wandte die Löwin den Kopf. Sie sah mich. Sie brüllte und
schrie: "Ein Mensch! Wenn du nicht von meiner Milch getrunken
hättest, würde ich dich verschlingen. Da du aber von meiner Milch
getrunken hast, will ich dich beschützen." Die Löwin brachte mir
alle Tage Essen. Die Löwin pflegte meine zerbrochenen Glieder.
Meine Wunden heilten. Ich wurde wieder gesund und konnte
gehen. Als ich wieder stark war, bat ich die Löwin um die Erlaubnis
weiterzuziehen. Die Löwin erlaubte es mir.
Ich nahm von der Löwin Abschied und wanderte von dannen.
Ich wanderte weiter. Ich traf unterwegs sechs Männer. Ich war
der siebente. Wir sieben gingen zusammen weiter. Wir gingen weit
weg zusammen. Eines Tages begegneten wir aber einem Wuarssen,
der war riesengroß und hatte nur ein Auge auf dem Kopfe. (Der
kabylische Name für den Zyklopen ist thiet' de kuoro, d. h. thiet'
=Auge, de seines; kuoro = Kopfes. Die Zyklopen haben nach
kabylischer Ansicht das Auge sehr hoch auf der Stirne.) Der
Wuarssen hütete seine Schafe. Meine sechs Kameraden sagten
zum Wuarssen: "Wo können wir diese Nacht bleiben?" Der
Wuarssen sagte: "Kommt, schlaft bei mir." Ich erschrak hierüber.
Die sechs Kameraden sagten: "Es ist gut, wir werden bei dir schlafen."
Ich erschrak noch mehr. Aber ich konnte nicht widersprechen;
hätte ich als einziger widersprochen, so hätte der Wuarssen
mich sogleich verschlungen. Ich schwieg.
Der Wuarssen zeigte uns den Weg in seine Höhle (l'hrar). Wir
kamen bei der Höhle an. Der Wuarssen schob einen großen Stein
mit der Kraft von 99 Leuten beiseite. Das war die Tür seiner Wohnung.
Der Wuarssen trieb seine sämtlichen Schafe in die Höhle.
Er ließ uns auch eintreten. Als wir in der Höhle waren, schob der
Wuarssen wieder den Stein vor den Eingang. Die Wohnung war
verschlossen. Der Wuarssen schlachtete dann einen Hammel und
setzte uns gutes Essen vor. Wir aßen gut und viel. Dann legten
wir uns hin und schliefen auch bald ein, denn wir waren müde. Als
es Mitternacht war, erhob sich der Wuarssen. Er kam vorsichtig
heran und sah, ob wir schliefen. Dann nahm er eine Eisenstange
und machte sie im Feuer glühend. Mit der glühenden Eisenstange
stach er in den meiner Kameraden, der ihm am nächsten lag,
hinein. Er stach mit dem glühenden Eisen so lange hinein, bis der
Mann geröstet und gar war. Dann fraß der Wuarssen den Mann.
Am andern Morgen rüstete der Wuarssen zum Weggehen. Ich
sagte zu meinen Kameraden: "Wir wollen den Wuarssen bitten,
daß er uns erlaubt weiterzugehen." Die andern fünf sagten: "Nein,
wir wollen hier bleiben. Hier haben wir wenigstens zu essen." Ich
sagte: "Seht, gestern waren wir noch sieben, heute sind wir nur noch
sechs!" Die andern sagten: "Der eine Fehlende ist vielleicht über
Nacht weggelaufen." Ich sagte: "Glaubt mir doch, daß der Wuarssen
ihn gefressen hat." Die andern sagten: "Wir bleiben." Der
Wuarssen öffnete die Höhle, trieb seine Herde heraus und schob
dann von außen den Stein mit der Kraft von 99 Männern wieder
vor den Eingang. Als es Nacht wurde, kam er wieder, öffnete die
Höhle, trieb die Schafe hinein und schloß hinter sich. In der Nacht
fraß er wieder einen von meinen Kameraden.
So fraß der Wuarssen jede Nacht einen meiner Kameraden. Am
siebenten Tage war ich nur noch ganz allein übrig. Als es Nacht
wurde und wir gegessen hatten, sagte ich zu dem Wuarssen: "Wir
wollen uns heute unterhalten. Wir wollen uns eine Geschichte erzählen.
Soll ich erzählen, oder willst du erzählen?" Der Wuarssen
sagte: "Erzähle du! Wenn ich darüber einschlafe, mach du mit
mir, was du willst. Wenn du darüber einschläfst, werde ich mit dir
machen, was ich will." Ich begann nun eine lange Geschichte zu
erzählen. Ich erzählte und erzählte und erzählte. Der Wuarssen
wurde immer müder. Als es Mitternacht war, war er so müde, daß
er einschlief.
Ich erhob mich. Ich machte die Eisenstange ganz heiß. Ich
machte sie glühend. Als sie glühend war, näherte ich mich dem
schlafenden Wuarssen und bohrte die glühende Stange ihm in das
eine Auge. Es machte: tschuch-tschuk (d. i. das Aufzischen). Der
Wuarssen sprang auf. Der Wuarssen brüllte laut. Der Wuarssen
rannte in der Höhle umher und zerschlug alle Töpfe und Krüge.
Ich rannte vor ihm weg und versteckte mich in den Winkeln. Er
rannte und schlug bald hierhin, bald dorthin. Ich sprang umher
und versteckte mich dort und hier. So jagte er brüllend nach mir
bis zum andern Morgen.
Am Morgen beruhigte sich der Wuarssen etwas. Ich nahm nun
einen der schwarzen Widder, tötete und häutete ihn. Den Kopf des
Widders legte ich auf meinen Kopf und schlang die Haut des
Widders um mich. Nachher aß der Wuarssen. Ich schlich mich
heran und aß auch von einer Schüssel. Als er es merkte, schlug er
nach mir. Ich sprang zur Seite. So lebten wir zwei Tage lang nebeneinander
in der Höhle. Der Wuarssen hörte nicht auf mich zu verfolgen.
Nach zwei Tagen sagte der Wuarssen: "Die Schafe haben zwei
Tage lang nichts zu fressen bekommen. Es wird Zeit, daß sie
fressen. Sie müssen auf die Weide. Aber ich werde wohl darauf
achten, daß nur meine Schafe herauskommen." Der Wuarssen
rückte den Felsblock mit der Kraft von 99 Männern zur Seite.
Dann setzte er sich in den Eingang und sagte: "Kommt heraus, ihr
Schafe. Ich will euch der Reihe nach befühlen. Und welches keine
Wolle hat, das werde ich verschlingen."
Die Schafe drängten heraus. Ich drängte mich an ihre Spitze.
Ich ging auf den Knien, hielt den Widderkopf vor mir mit den
Händen und hielt das Widderfell dicht um mich geknotet. Ich kam
an der Spitze der Schafe an ihm vorbei. Er befühlte mit der Hand
den Kopf und strich mit der Hand über meinen Rücken hin. Er
ließ mich vorüber. Als ich mit den Schafen draußen war, nahm ich
den Kopf des Widders und warf ihn dem Wuarssen zu. Ich rief:
"Hier hast du den Kopf deines schwarzen Widders." Der Wuarssen
schrie vor Wut. Ich ließ den Wuarssen in seiner Höhle.
Ich trieb die Schafherde des Wuarssen vor mir her. Ich ließ sie
weiden und trieb sie den ganzen Tag vor mir her. Abends kam ich
in einen Wald. In dem Wald legte ich mich inmitten meiner Schafe
zum Schlafen nieder. Um Mitternacht kamen sechs Räuber den Weg
entlang. Sie kamen in den Wald und sahen meine Schafe. Sie
weckten die Herde und trieben sie mit sich fort. Einer wandte sich
um und sah nach der Stelle, wo ich lag, zurück. Er sagte: "Da liegt
noch etwas Weißes." Die Räuber kehrten zurück und fanden mich.
Sie nahmen mich mit sich.
Die Räuber kamen mit meiner Herde und mir an einem Dorf
vorüber. Die Räuber gingen an dem Ort vorüber. Es begegnete uns
ein Mann aus dem Dorfe, der weinte und klagte. Wir fragten den
Mann: "Warum weinst du?" Der Mann sagte: "Wir haben hier
eine Hydra (levha), die lebt an der Quelle, aus der wir unser Wasser
holen. Die Hydra läßt uns aber kein Wasser nehmen, wenn wir
ihr nicht täglich eine unserer jungen Töchter geben. Das geht der
Reihe nach in den Familien um. Heute ist nun meine Familie an
der Reihe, und ich muß ihr meine Tochter geben." Die sechs Räuber
sagten: "Wir wollen dir diesen Mann hier geben, vielleicht kann er
dir helfen. Willst du den Mann kaufen?" Der Mann kaufte mich
und nahm mich mit sich nach Hause.
Als wir zu Hause angekommen waren, fragte mich der Mann:
"Kannst du mir helfen?" Ich sagte: "Diese Hydra hat das ganze
Dorf vernichtet. Nun wollen wir die Hydra vernichten. Ich will
dich über und über mit Honig bestreichen. Die Hydra wird dich
ganz und gar ablecken und darüber vergessen, deine Tochter zu
nehmen." Der Mann sagte: "So wollen wir es machen. Du und
meine Tochter, ihr könnt mich zur Quelle begleiten." Ich bestrich
den Mann dann über und über mit Honig. Es blieb aber
auf dem Nacken (= amgurr) eine Stelle von der Größe eines Duro
frei vom Honig. Dann ging der Mann mit seiner Tochter und mir
zur Quelle.
Wir kamen an die Quelle. Die Hydra stürzte, als sie uns sah, sogleich
auf uns. Sie witterte den Honig. Sie begann an dem Honig,
mit dem der Mann bedeckt war, zu lecken. Die Hydra leckte den
ganzen Honig ab. Sie kam an die Stelle, die nicht mit Honig bedeckt
war. Die Hydra begann an der Stelle zu schlürfen (= tsum).
Sie schlürfte von der Stelle am Nacken das Innere des Mannes
aus. Sie schlürfte alle seine Eingeweide, das Blut und das Fleisch
aus. Es blieb nur die Haut übrig. Die Haut fiel wie ein Sack hin.
Dann war die Hydra satt und wandte sich ab. Ich nahm das Mädchen
mit fort.
Wir gingen ein Stück. Da begegnete uns ein Esel, der mit einem
leeren Doppelsack (aus Schilf, in einem Stück geflochten =asimbf)
versehen war. Wir setzten uns jeder auf eine Seite. Wir ritten auf
dem Esel weiter. Wir ritten, bis es Nacht wurde. Als es Nacht war,
trug uns der Esel weiter. Aber wir schliefen ein. Ich war schwerer
als das Mädchen. Ich zog mit meinem Gewicht meine Seite herunter.
Ich fiel herab. Das Mädchen fiel auch herab. Wir waren
aber so müde, daß wir nicht aufwachten, sondern, auf der Straße
liegend, weiterschliefen. Der Esel ging ohne uns weiter.
Gegen Morgen kam ein Löwe. Er begann das Mädchen aufzufressen.
Er begann an den Füßen und fraß es bis zur Hüfte. Als
er soweit war, kamen sechs Agelith des Weges. Der Löwe erschrak
darüber und lief weg in den Wald. Die sechs Agelith kamen
zu uns heran. Sie sahen das halb aufgefressene Mädchen. Sie
sagten zu mir: "Du hast die Hälfte des Mädchens gefressen. Wir
werden dich zu dem großen Agelith führen. Der soll darüber entscheiden,
ob dir der Kopf abgeschlagen werden soll." Ich wurde zu
dem großen Agelith geführt. Der große Agelith ließ mich in ein
Haus einschließen. Ich war gefangen. Am Abend wurde mein
Haus geöffnet, und ich durfte in dem großen Garten spazieren
gehen.
Alle Tage wurde ich eingeschlossen, und nur abends durfte ich im
Garten spazieren gehen. Eines Tages sah ich, daß der Garten an
einer Stelle nur eine niedrige Mauer hatte. Ich sprang über die
Mauer und rannte von dannen. Ich lief, bis ich nach Hause kam.
Sieh, mein Neffe, das ist eine Reise in die Fremde. Das ist die
Fremde.
Als der Onkel geendet hatte, sagte der Knabe: "Onkel, ich gehe
nachher allein in der Nacht nach Hause. Du brauchst mich
nicht zu begleiten. Ich weiß jetzt, was die Fremde ist."
NB. Nach einer anderen Version war der Knabe nach Anhören
der Geschichte für mehrere Monate krank.
4. Die Wuarssentochter
Ein Mann hatte einen einzigen Sohn. Der Sohn war klug und
L.4 sehr geschickt in allem. Er zeigte das aber nicht auf eine vernünftige
Art. Der Sohn wuchs heran, und als er groß geworden
war, tat er nichts anderes, als sich mit schlechten Burschen herumzutreiben
und das Vermögen seines Vaters zu verbringen. Der Vater
wollte zuletzt den Sohn verjagen. Die Mutter war aber hierfür
nicht zu gewinnen. Die Mutter sagte: "Hab' Geduld, dein Sohn ist
klug. Er wird anders werden."
Eines Tages sprach der Bursche mit der Negerin seines Vaters.
Die Negerin sagte: "Du weißt, daß wir in diesem Ort einen sehr
schlechten Agelith haben, mit dem alle Leute unzufrieden sind. Er
ist geizig und teilt nicht mit den Leuten. Wenn ein anderer angesehener
und wohlhabender Mann im Ort wäre, würden die Leute
diesen Agelith schon längst verjagt und den anderen angesehenen
und wohlhabenden Mann an seine Stelle gesetzt haben. Dein Vater
ist angesehen genug. Aber er ist nicht nur nicht sehr wohlhabend,
sondern du, sein Sohn, verbringst auch noch in schlechter Gesellschaft
alles, was er hat. Du bist nun aber so klug, daß du sehr
wohl imstande wärst, statt deinem Vater das Geld zu verbringen,
ihn zu einem reichen Manne und somit zum Agelith zu machen.
Wenn du ein Mann wärst, würdest du das tun."
Der Sohn hörte das mit an. Dann sagte er zu der Negerin: "Ich
schwöre, daß ich mich so bald wie möglich auf den Weg machen
will. Ich will nicht eher heimkommen, bis ich meinem Vater alles
Geld, was ich durchbrachte, zurückgebracht habe, sondern ihn
auch so reich machen kann, daß er Agelith wird." Der Sohn ging
nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Bereite mir Essen: ich
will eine lange Wanderung unternehmen." Die Mutter tat es.
Am andern Tage machte der Bursche sich auf den Weg. Er wanderte.
Er wanderte weit weg, soweit, daß er zuletzt in ein anderes
Land kam, in dem nur Wuarssen lebten. Eines Tages traf er im
Walde den Agelith der Wuarssen. Der Agelith der Wuarssen sagte
zu ihm: "Komme mit mir in mein Haus." Der Bursche ging mit
und kam in das Haus des Wuarssen.
Der Wuarssen hatte daheim eine Frau und drei Töchter. Die
jüngste dieser Töchter war sehr klug. Wenn sie einen Ratschlag
vonnöten hatte, so brauchte sie nur den Nagel ihres kleinen Fingers
zu befragen; der gab ihr Auskunft und Hilfe. Die Frau des Wuarssen
war aber noch klüger als ihre jüngste Tochter. Sie konnte nämlich
von allen Fingernägeln Hilfe und Ratschlag erlangen. Als der
Bursche in das Haus des Wuarssen trat, sah er die jüngste Tochter.
Er sah, daß sie sehr schön war. Der Bursche sagte bei sich: "Dieses
Mädchen möchte ich heiraten." Die Jüngste sah den Burschen. Sie
sagte bei sich: "Diesen soll mein Vater nicht verschlingen, den will
ich für mich haben."
Der Wuarssen brachte den Burschen in das Haus und suchte
nach einem Grunde ihn zu verschlingen. Der Wuarssen wollte
(oder "konnte" nach einer zweiten Wiederholung) ihn nicht verschlingen
ohne eine gute Begründung.
Am andern Tage sagte der Wuarssen: "Komm mit mir zur Arbeit
in die Farm." Der Bursche folgte ihm. Der Wuarssen führte
den Burschen auf ein Gebiet, in welchem alles voller Unterholz
stand. Er gab dem Burschen Fruchtsamen und sagte zu ihm: "Bepflanze
diesen Acker mit diesem Fruchtsamen. Beginne die Arbeit
sogleich. Denn heute abend will ich schon die ersten Früchte genießen."
Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.
Der Bursche begann ein wenig mit der Hacke das Unterholz wegzuschlagen.
Er war aber bald müde, legte sich unter einen Baum
und schlief ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: "Eine von
meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld bringen."
Die älteste und die zweite Tochter des Wuarssen sagten: "Ich
mag nicht." Die jüngste Tochter sagte: "Dann will ich es tun."
Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß
der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß
der Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, am Morgen
Fruchtsamen zu pflanzen, der bis zum Abend aufgehen, aufwachsen
und Früchte tragen sollte.
Im Hause des Wuarssen war ein Stock, mit dessen Hilfe man
alles erreichen konnte. Die jüngste Tochter nahm das Essen für
den Burschen, aber sie ergriff auch den Stock. Mit dem Essen und
dem Stock machte sie sich auf den Weg in den wilden Garten. Als
sie dort ankam, suchte sie überall nach dem Burschen. Sie fand ihn
aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten
eines Baumes.
Die Jüngste weckte ihn und sagte: "Komm und iß!" Der Bursche
wachte auf und sagte: "Das ist schon ganz recht, aber soll ich mich
denn noch fetter machen. Dein Vater hat mir den Auftrag gegeben,
Fruchtsamen hier zu pflanzen, der bis heute abend keimen, aufwachsen
und Früchte tragen soll, die er heute noch genießen will.
Das ist nicht möglich. Kein Mensch kann das. Also will dein Vater
damit nur einen Grund finden, um mich zu verschlingen. Und du
bringst mir nun das Essen, damit ich noch etwas fetter werde."
Die Jüngste lachte und sagte: "Glaubst du, daß ich meinem Vater
hierbei helfen will? Glaubst du, daß ich mir die Mühe gemacht
hätte, dir dein Essen zu bringen, wenn ich nicht gerne bei dir wäre?
Iß nur. Nach dem Essen wollen wir uns vergnügen, und dann wird
uns schon der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche
aß mit der Jüngsten zusammen. Nach dem Essen vergnügten sie
sich miteinander. Dann erhob sich das Mädchen und ergriff den
Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte.
Die Jüngste stieß den Stock auf den Boden und sagte: "Sogleich
soll dieser ganze Garten voller Blumen und Bäume stehen. Sogleich
sollen diese Bäume voller Früchte hängen." Als die Jüngste
ausgesprochen hatte, war der ganze Garten voller Blumen und
Früchte tragender Bäume. Die Jüngste sagte aber zu dem Burschen:
"Wenn es Abend wird, sammle einen Korb frischer Früchte.
Bringe die meinem Vater in das Haus. Sage zu ihm: ,Hier sind
deine reifen Früchte.' Gleichzeitig gib meinem Vater aber einen
starken Schlag ins Gesicht." Der Bursche sagte: "So will ich es
machen." Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach
Hause.
Als es Abend war, sammelte der Bursche seine Früchte in einen
Korb. Den Korb nahm er auf die Schulter und ging heim. Der
Wuarssen sah den Burschen kommen und ging ihm entgegen. Der
Bursche gab ihm die Früchte und sagte: "Hier sind deine reifen
Früchte." Dann gab der Bursche dem Wuarssen einen Schlag ins
Gesicht. Der Wuarssen sagte: "Dies hast du gekonnt." Der
Bursche sagte: "Du glaubst klüger zu sein als ich! Warte das Ende
ab!"
Der Wuarssen ging zu seiner Frau und sagte: "Ich habe dem
Burschen den Auftrag gegeben, Fruchtsamen zu pflanzen, von dem
ich am gleichen Abend noch die Früchte essen wollte. Der Bursche
hat es wirklich gekonnt. Was kann ich nun tun, um ihn zu überwinden.
Sage mir einen Auftrag, den er nicht ausführen kann."
Die Frau des Wuarssen sagte: "Gib ihm ein Sieb, fordere von ihm,
daß er mit dem Sieb das Wasser aus dem Meer in einen Brunnen
schöpft, so daß der Meeresboden frei liegt. Vom trockenen Meeresboden
soll er dir heute abend trockenen Sand bringen."
Am andern Morgen nahm der Wuarssen ein Sieb und sagte zu
dem Burschen: "Komm mit mir an das Meer. Der Bursche ging
mit dem Wuarssen an das Meer. Am Meer sagte der Wuarssen zu
dem Burschen: "Schöpfe mir bis heute abend das Meer aus und in
einen Brunnen, so daß der Meeresboden frei liegt. Heute abend
bringe mir dann von dem trockenen Meeresboden trockenen Sand."
Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.
Der Bursche begann ein wenig mit dem Sieb zu schöpfen. Er sah
aber gleich ein, daß er damit nicht weit kommen werde. Er war
deshalb sehr bald müde, sah sich nach einem Baum um, setzte sich
in den Schatten nieder und schlief ein. Als es Mittag war, sagte der
Wuarssen: "Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das
Essen auf das Feld bringen." Die älteste und die zweite Tochter
des Wuarssen sagten: "Ich mag nicht." Die jüngste Tochter sagte:
"Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel
und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am
Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auftrag
gegeben hatte, bis zum Abend mit einem Siebe alles Wasser
aus dem Meer in einen Brunnen zu schöpfen, so daß der Meeresboden
frei werde und vom trockenen Meeresboden trockenen Sand
zu bringen.
Die Jüngste nahm das Essen und ergriff den Stock, mit dessen
Hilfe man alles erreichen konnte. Mit dem Essen und mit dem
Stock machte sie sich auf den Weg zum Ufer des Meeres. Als sie
dort ankam, suchte sie überall nach dem Burschen. Sie fand ihn
aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten
eines Baumes.
Die Jüngste weckte ihn und sagte: "Komm und iß!" Der Bursche
wachte auf und sagte: "Das ist schon ganz recht, aber ehe ich mich
fetter esse, mußt du wissen, daß dein Vater mich heute abend verschlingen
will und mir durch dich nur deshalb das Essen schickt,
daß ich bis dahin nicht abmagere. Er hat mir den Auftrag gegeben,
mit diesem Sieb alles Wasser aus dem Meere in einen Brunnen zu
schöpfen, so daß der Meeresboden frei liegt. Ich soll ihm bis zum
Abend trockenen Sand vom trockenen Meeresboden bringen. Sage
mir, wie ich das machen kann. Ich nehme an, daß du mich noch
gerne hast und mir helfen willst."
Die Jüngste lachte und sagte: "Wenn es weiter nichts ist, so
wollen wir nun ungestört essen. Nach dem Essen wollen wir uns
wie gestern vergnügen, und dann wird uns der Nagel meines kleinen
Fingers helfen." Der Bursche aß mit der Jüngsten zusammen.
Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich
das Mädchen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen
konnte.
Die Jüngste stieß den Stock auf den Boden und sagte: "Ich stoße
das Meer mit meinem Stock zurück!" Sogleich wich das Meer zurück.
Der Boden des Meeres lag frei da. Das Mädchen nahm von
dem trockenen Meeresboden trockenen Sand und gab ihn dem Burschen.
Die Jüngste sagte: "Nimm diesen Sand. Wenn es Abend
wird, bring diesen Sand nach Hause. Du wirst meinen Vater
neben meiner Mutter vor dem Hause sitzen sehen. Gehe auf
meinen Vater zu und schütte den Sand meinem Vater auf den Kopf.
Sage zu meinem Vater: ,Hier hast du den trockenen Sand vorn
trockenen Boden des Meeres.' Dann gehe unbekümmert in das
Haus." Der Bursche sagte: "So will ich es machen." Die Jüngste
nahm Abschied und ging wieder nach Hause.
Als es Abend war, nahm der Bursche den trockenen Sand vorn
trockenen Meeresboden und ging heim. Als er an das Haus kam)
sah er den Wuarssen neben seiner Frau sitzen. Er ging auf den
Wuarssen zu, schüttete den Sand über den Kopf des Wuarssen
und sagte: "Hier hast du den trockenen Sand vom trockenen
Boden des Meeres." Dann ging der Bursche unbekümmert in das
Haus.
Der Wuarssen sagte zu seiner Frau: "Du siehst, der Bursche hat
auch diesen Auftrag richtig ausgeführt. Was kann ich jetzt tun,
ihn zu überwinden? Sage mir einen Auftrag, den er nicht ausführen
kann." Die Frau des Wuarssen sah auf die Nägel ihrer
Finger und sagte: "Der Bursche hat deine beiden Aufträge ausgeführt
mit dem Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann.
Ich werde diesen Stock an mich nehmen und so verwahren, daß
niemand ihn nehmen kann. Fordere von dem Burschen morgen,
daß er von dem hohen Felsen, auf dem der Adler nistet, dessen Nest
mit den sieben Jungen herabhebe und sie dir zum Abend bringe.
Wenn der Bursche den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen
kann, nicht hat, wird er dies nicht ausführen können."
Am andern Morgen rief der Wuarssen den Burschen und sagte zu
ihm: "Komm mit mir zu dem Felsen!" Der Bursche ging mit dem
Wuarssen zu dem Felsen. An dem Felsen sagte der Wuarssen zu
dem Burschen: "Du siehst dort oben den Adler nisten! Bring mir
das Nest des Adlers mit seinen sieben Jungen herab. Bringe es mir
bis zum Abend." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.
Der Bursche betrachtete den Felsen. Er ging um ihn herum. Er
sah, daß er keinen Aufstieg fand. Er war des Suchens bald müde,
sah sich nach einem Baume um, legte sich in dessen Schatten nieder
und schlief bald ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: "Eine
von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld
bringen." Die älteste und die zweite Tochter sagten: "Ich mag
nicht!" Die jüngste Tochter sagte: "Dann will ich es tun." Die
jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß der
Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der
Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, von dem hohen
Felsen das Nest des Adlers und seine sieben Jungen herabzuholen
und am Abend dem Wuarssen zu geben.
Die Jüngste nahm das Essen. Sie wollte den Stock ergreifen, mit
dessen Hilfe man alles erreichen kann. Sie fand den Stock nicht.
Sie suchte den Stock. Sie sagte sich: "Meine Mutter ist klug. Sie
hat auf ihre Nägel gesehen und erkannt, daß der Bursche seine Aufgaben
mit Hilfe des Stockes, mit dem man alles erreichen kann, ausgeführt
hat, sie hat den Stock verschlossen. Meine Mutter hat aber
noch nicht gesehen, daß ich dem Burschen geholfen habe. Ich muß
also etwas anderes ersinnen." Die Jüngste nahm das Essen und
machte sich auf den Weg. Sie kam zu dem Felsen, auf dessen Spitze
der Adler sein Nest hatte. Sie suchte überall nach dem Burschen;
sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im
Schatten eines Baumes.
Die Jüngste weckte den Burschen und sagte: "Komm und iß!"
Der Bursche wachte auf und sagte: "Das ist schon ganz recht; ich
freue mich darauf, mit dir zu essen, und ich freue mich noch mehr
darauf, mich nachher mit dir zu vergnügen. Ich habe aber von
deinem Vater den Auftrag erhalten, auf diesen hohen Felsen zu
steigen, auf dem der Adler sein Nest hat und das Nest mit den sieben
Jungen herabzuholen. Ich soll es schon heute abend bringen.
Wenn ich es nicht bringe, wird er mich verschlingen. Hast du nun
ein Mittel, diesen Felsen zu besteigen und das Nest herunterzuholen
?"
Die Jüngste sagte: "Das ist nicht so schlimm. Wir können ungestört
essen. Nach dem Essen wollen wir uns wie gestern und vorgestern
vergnügen, und dann wird uns schon der Nagel meines
kleinen Fingers helfen." Der Bursche aß mit der Jüngsten zusammen.
Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann
erhob sich die Jüngste.
Die Jüngste sagte zu dem Burschen: "Wir haben es heute nicht
ganz so einfach wie sonst, weil meine Mutter den Stock, mit dem
man alles erreichen kann, verschlossen hat. Nimm hier dies Messer
und diesen Duft (Wohlgeruch). Mit dem Messer zerschneide mich.
Meine einzelnen Teile werden am Felsen festkleben, und du wirst
an mir bequem hinaufsteigen können. Du wirst das Nest des Adlers
mit den sieben Jungen herabtragen können. Wenn du wieder
herabsteigst, nimmst du die einzelnen Teile von mir wieder mit
herab. Unten setzt du alle Teile wieder zusammen, und wenn alles
wieder zusammengesetzt ist, blase mit diesen Duft in die Nase. Dann
werde ich wieder leben wie zuvor. Hast du mich gut verstanden und
wirst du so handeln?" Der Bursche sagte: "Ich habe dich verstanden
und werde danach handeln."
Der Bursche nahm das Messer. Er zerschnitt die Jüngste in
Stücke. Die einzelnen Stücke klebte er an den Felsen. Sie klebten
sehr fest. Der Bursche stieg nun mit ihrer Hilfe zu dem Felsen
empor. Er kam an das Nest des Adlers, in dem die sieben Jungen
saßen. Der Bursche ergriff es und stieg wieder herab. Beim Herabsteigen
nahm er die einzelnen Teile der Jüngsten vom Felsen ab
und brachte sie wieder auf die Erde. Als er unten angekommen war,
setzte er das Nest mit den sieben Jungen des Adlers beiseite und
fügte die einzelnen Teile der Jüngsten wieder aneinander. Als er
die einzelnen Teile wieder zusammengesetzt hatte, bließ er der
Jüngsten den Duft in die Nase. Die Jüngste erhob sich. Sie lebte
wieder.
Die Jüngste betrachtete sich und sagte: "Du hast alles richtig gemacht.
Du hast aber meine kleine Zehe an dem Felsen kleben
lassen und vergessen, sie wieder mit herabzubringen. Nun fehlt sie
mir. Aber das ist nur gut, dann wirst du mich nun immer wieder
erkennen. Nun merke auf! Bringe meinem Vater heute abend das
Nest mit den sieben Jungen des Adlers. Mein Vater wird dir dann
die Wahl lassen zwischen seinen drei Töchtern. Er wird uns dich
aber nicht so vorführen, wie wir sind. Er wird uns als Rebhühner
vorführen. Sieh dann auf die Füße. Die Zehe, die du oben am
Felsen ließest, wird mir auch als Rebhuhn fehlen. Darauf achte."
Der Bursche sagte: "So will ich es machen!" Die Jüngste nahm
Abschied und ging wieder nach Hause.
Als es Abend war, nahm der Bursche das Nest mit den sieben
Jungen des Adlers und ging heim. Als er den Wuarssen sah, gab er
ihm das Nest mit den sieben Jungen und sagte: "Hier hast du das,
was du wünschtest." Der Wuarssen ging zu seiner Frau und sagte:
"Der Bursche hat auch diesen Auftrag ausgeführt. Was kann ich
jetzt noch tun, um ihn zu überwinden?" Die Frau sah auf die
Fingernägel und sagte: "So gib ihm eine deiner Töchter zur Frau.
Wenn er eine deiner beiden älteren wählt, wird diese dir ihn gleich
geben. Und wenn er wirklich die jüngste nimmt, kannst du ihn
doch immer in der Hochzeitsnacht verschlingen."
Der Wuarssen sagte zu dem Burschen: "Du hast alle drei Aufträge
gut ausgeführt. Zum Lohn hierfür wähle dir eine unter meinen
drei Töchtern zur Frau." Der Wuarssen führte die drei Mädchen
als Rebhühner vor. Er hing dem Burschen ein schwarzes
Tuch über den Kopf. Der Bursche sah unter dem schwarzen Tuch
weg auf die Füße der Rebhühner und erkannte die Jüngste an der
fehlenden Zehe. Er ergriff das Rebhuhn bei den Füßen und sagte:
"Diese hier möchte ich zur Frau haben." Der Wuarssen sagte:
"Nimm doch nicht die, die ist ja häßlich! Nimm die andere!" Der
Bursche sagte: "Nein, diese hier will ich haben." Da gab der
Wuarssen dem Burschen die Jüngste zur Frau.
D er Wuarssen gab dem Burschen und seiner jungen Frau ein
eigenes kleines Haus. Sie gingen hinüber. In der Nacht sagte die
junge Frau zu dem Burschen: "Heute nacht wird mein Vater noch
versuchen, dich zu verschlingen. Wir müssen fliehen. Gehe also
hinüber zum Hause des Vaters und bringe ein Pferd herüber. Wähle
'aber unter den Pferden ja nicht ein wohlgenährtes aus. Du mußt
das magerste und elendeste unter den Pferden wählen, welches im
Stalle ist. Nur dieses kann uns helfen." Der Bursche ging. Er kam
in den Stall des Wuarssen. Er sah das ganz magere und elende
Pferd. Er sagte: "Wie soll ich ein so schlechtes Pferd nehmen, wo
hier so viel gute Pferde stehen?" Der Bursche nahm das beste
Pferd, das er im Staue fand und sagte: "Dies wird uns am schnellsten
auf der Flucht forthelfen." Er brachte das gute Pferd zu dem
Hause, das ihm und seiner jungen Frau angewiesen war, hinüber.
Als die jüngste Tochter des Wuarssen das Pferd sah, erschrak sie
und sagte: "Warum hast du nicht meiner Anordnung gefolgt?
Nun wird mein Vater uns einholen. Wir werden nun andere Mittel
finden müssen, ihm zu entrinnen." Der Bursche bestieg nun mit
der Jüngsten das Pferd und ritt von dannen.
In der Nacht sagte der Wuarssen zu seiner Frau: "Ich will jetzt
den Burschen töten und dann verschlingen." Der Wuarssen nahm
große Felsblöcke und warf sie auf das Haus des Schwiegersohnes.
Das Haus stürzte ein. Der Wuarssen ging hin und suchte den
Burschen unter den Trümmern. Der Wuarssen fand den Burschen
nicht. Er kam zu seiner Frau und sagte: "Der Bursche ist nicht zu
finden." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte zu dem
Wuarssen: "Der Bursche ist mit seiner Frau, deiner jüngsten Tochter,
auf einem deiner Pferde entflohen. Er hat aber nicht das beste
Pferd gewählt, besteige du das beste Pferd und reite schnell hinterher,
so kannst du ihn noch einholen."
Der Wuarssen bestieg das magerste Pferd und ritt schnell hinter
dem Burschen und seiner jüngsten Tochter her. Er kam ganz nahe
an sie heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: "Mein Vater ist
ganz nahe!" Sie wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte:
"Das Pferd soll eine Hütte (=akabub), ich soll ein Garten mit
Melonen, mein Mann soll ein alter Gärtner werden!" Sogleich war
das Pferd eine Hütte, das Mädchen ein Garten mit Melonen, der
Bursche ein alter Gärtner.
Der Wuarssen kam dicht heran. Er sah den alten Gärtner. Er
fragte den alten Gärtner: "Hast du nicht in der Nähe einen jungen
Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferd vorbeireitet
sehen ?" Der alte Gärtner sagte: "Das hängt davon ab, was du dafür
bezahlen willst. Ich habe Melonen für ein Kupferstück und solche
für zehn Kupferstücke." Der Wuarssen sagte: "Ich habe nicht
nach dem Preise der Melonen gefragt. Ich fragte dich, ob du einen
Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferde hier hast vorbeireiten
sehen." Der alte Gärtner sagte: "Ich wiederhole dir meine
Preise. Ich habe Melonen für ein, zwei, drei bis zehn Kupferstücke.
Das ist gewiß nicht teuer." Der Wuarssen sagte (ärgerlich): "Das
ist ein Narr." Er wandte sein Pferd und ritt wieder nach Hause.
Als er nur wenig fort wal, verwandelte die Jüngste das Pferd, sich
und den Burschen wieder in ihre alte Gestalt. Der Bursche ritt mit
ihr lustig weiter.
Der Wuarssen kam nach Hause. Seine Frau fragte ihn: "Hast
du sie nicht eingeholt?" Der Wuarssen sagte: "Nein, ich konnte
sie nicht einholen. Ein alter Gärtner, der in seinem Melonengarten
vor einer Hütte stand, gab mir närrische Antworten. So verlor
ich den Weg." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte:
"Der Garten war deine jüngste Tochter. Die Hütte war dein
Pferd. Der alte Gärtner war der Bursche. — Schnell reite zurück
und sieh, ob du sie nicht doch noch erreichst." Der Wuarssen
wandte das Pferd und ritt so schnell er konnte wieder hinter dem
Burschen her.
Der Wuarssen kam wieder ganz nahe an den Burschen und an
die Jüngste heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: "Mein
Vater ist wieder ganz nahe." Sie wusch ihren Fingernagel mit Wasser
und sagte: "Das Pferd soll ein Weg, ich will ein Korb (= akschueh;
nach anderer Angabe ein Karren), mein Mann soll ein alter
Arbeiter werden!" Sogleich wurde das Pferd ein Weg, die Jüngste
ein Korb, der Bursche ein alter Arbeiter.
Der Wuarssen kam dicht heran. Er sah den alten Arbeiter. Er
fragte den alten Arbeiter: "Hast du nicht in der Nähe einen Burschen
mit einer jungen Frau vorbeireiten sehen?" Der alte Arbeiter
sagte: "Wenn du arbeiten willst, zahlt man dir hier einen
Duro für die Woche; für brauchbare Leute zahlt man aber auch
mehr." Der Wuarsssen sagte: "Ich habe nicht gefragt, ob ich hier
als Arbeiter Arbeit finde und was man zahlt. Ich frage dich, ob du
einen jungen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferde
hier hast vorbeireiten sehen." Der alte Arbeiter sagte: "Ich sagte
dir schon, daß der Preis ganz nach der Arbeit ist. Bis zwei Duro.
Ich finde, das ist gut bezahlt." Der Wuarssen sagte (ärgerlich):
"Das ist ein Narr." Er wandte sein Pferd und ritt wieder nach
Hause. Als er nur wenig fort war, verwandelte die Jüngste das
Pferd, sich und den Burschen wieder in ihre alte Gestalt. Der
Bursche ritt mit ihr eilig weiter.
Der Wuarssen kam nach Hause. Seine Frau fragte ihn: "Hast
du sie nicht eingeholt?" Der Wuarssen sagte: "Nein, ich konnte
sie nicht einholen. Ein alter Arbeiter, der mit einem Korbe auf
einem Wege stand, gab mir närrische Antworten. So verlor ich den
Weg." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte: "Der Weg
war dein Pferd, der Korb war deine jüngste Tochter. Der alte Arbeiter
war der Bursche. Bleib nun hier. Ich werde mich nun selbst
auf den Weg machen." Die Frau des Wuarssen machte sich nun
selbst auf den Weg und eilte so schnell sie konnte hinter dem Burschen
und der Jüngsten her.
Die Frau des Wuarssen kam ganz nahe an den Burschen und die
Jüngste heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: "Meine Mutter
verfolgt uns jetzt! Sie ist schon ganz nahe. Reite an das Ufer."
Der Bursche ritt zur Seite an das Ufer des Meeres. Die Jüngste
wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte: "Das Pferd soll
ein großes Brett im Meere sein!" Sogleich wurde das Pferd ein
großes Brett, das im Meere schwamm. Der Bursche und die Jüngste
sprangen in das Meer und auf das große Brett. Mit dem Brett
schwammen sie vom Ufer weg auf das Meer hinaus.
Die Frau des Wuarssen kam ganz dicht an das Ufer des Meeres
heran. Sie sah den Burschen mit der Jüngsten auf dem Brett im
Meere schwimmen. Die Frau des Wuarssen rief: "Meine Tochter,
willst du nicht mit mir in das Haus deines Vaters zu deinen Schwestern
zurückkehren?" Die Jüngste antwortete: "Nein, meine Mutter;
ich will bei meinem Manne bleiben." Die Frau des Wuarssen
rief: "Du willst deine Mutter verlassen?" Die Jüngste rief:
"Meine Mutter, ich will bei meinem Manne bleiben." Die Frau
des Wuarssen rief: "Eines Tages wird dein Mann zu seinen Eltern
zurückkehren wollen. Dann kann er dich leicht vergessen. Beschwöre
ihn, daß er sich von den Seinen nie küssen läßt. Das ist
mein letztes Wort." Die Jüngste rief: "Ich danke dir, meine Mutter."
Die Frau des Wuarssen kehrte in das Haus ihres Mannes
zurück.
Während dreißig Tagen schwammen der Bursche und seine junge
Frau mit dem Brett auf dem Meere umher. Am dreißigsten Tage
schwammen sie an einen Felsen. Sie stiegen auf den Felsen an das
Land. Auf dem Felsen fanden sie eine große Kiste (=tachasent),
die das Meer herangeschwemmt hatte. Der Bursche öffnete die
Kiste. Sie war angefüllt von Gold. Der Bursche sagte: "Nun bin
ich reich. Ich habe dich und das Gold. Hier wollen wir wohnen."
Die Jüngste sagte: "Gut, dann wollen wir hier wohnen." Sie wusch
ihren Fingernagel und sagte: "Hier soll ein großes Haus stehen!
Hier soll ein großer Garten sein! Hier sollen Bäume mit Früchten
und Felder mit Korn aufwachsen." Sogleich stand ein großes Haus
da, dahinter ein Garten mit Fruchtbäumen, dahinter lagen die
Felder.
Der Bursche lebte mit seiner Frau in dem Lande voll Überfluß
lange Zeit glücklich. Er dachte aber oft an seine Eltern und seinen
Schwur und wurde traurig (=ichak). Die junge Frau sah, daß ihr
Mann traurig wurde und sagte eines Tages zu ihm: "Ich sehe, daß
du traurig bist; sage mir, was du hast." Der Bursche sagte: "Ich
habe daheim Vater und Mutter. Als ich von Hause fortging, schwur
ich, daß ich meinem Vater alles Geld, das ich früher unnütz verschwendete,
ihm zurückerstatten und ihn so reich machen wolle,
daß er Agelith würde. Nun bin ich inzwischen reich geworden und
lebe im Überfluß. Meinen Schwur habe ich aber nicht gehalten, und
das macht mich traurig." Die junge Frau sagte: "So kehre nach
Hause zurück. Nimm alles mit, was dazu gehört, deinem Vater
das Seine zurückzuerstatten und ihn so reich zu machen, daß er
Agelith wird. Was du geschworen hast, sollst du halten. Wenn
du weggehst, mußt du nun aber mir schwören, daß du mich nie
vergessen willst. Du wirst mich aber vergessen, sobald dich eines
deiner Familie auf die Stirne küßt. Darum schwöre mir, daß du
dies nicht zulassen willst." Der Bursche schwor es.
Der Bursche packte Essen ein und so viel Gold, als nur möglich
war. Er nahm von seiner jungen Frau Abschied und ritt von
dannen. Er ritt auf seine Heimat zu. Er ritt sehr weit. Er kam in
dem Ort, in dem seine Eltern lebten, an.
Der Bursche setzte sich bei einem Kaffeewirt nieder. Er blieb bei
dem Kaffeewirt. Eines Tages kamen sein Vater und seine Mutter
vorüber. Sie erkannten ihren Sohn nicht. Er erkannte aber seine
Eltern. Der Bursche sagte zu seinen Eltern: "Kommt und trinkt
mit mir eine Tasse Kaffee." Die beiden Eltern setzten sich neben
ihn und sprachen mit ihm. Sie erkannten ihren Sohn nicht. Der
Sohn ging beiseite und warf in jede der beiden Tassen ein Goldstück.
Der Kaffeewirt brachte den Kaffee. Die Eltern tranken den
Kaffee. Sie fanden auf dem Grunde die Goldstücke. Sie fragten
erstaunt: "Woher kommt dies?" Der Sohn sagte: "Es ist offenbar
euer." Die Eltern bedankten sich und luden den Burschen zum
Abendessen ein. Dann gingen sie. Die Mutter sagte zu dem Vater
auf dem Heimweg: "Sollte das unser Sohn sein?" Der Vater
sagte: "Unser Sohn war ein Verschwender; er kann sicher nur
Geld verbrauchen, aber nicht geben."
Der Bursche kam in das Haus seiner Eltern. Die alte Negerin
öffnete ihm. Die Negerin sah ihn an und erkannte ihn. Sie sagte
aber nichts. Der Sohn aß mit seinen Eltern. Er ließ unter seinem
Platz einen Sack mit Gold liegen, als er ging. Als er gegangen war,
fanden die Eltern an seinem Platz das Gold. Der Vater sagte: "Was
soll das?" Die Mutter sagte: "Glaube mir, das ist unser Sohn."
Der Vater sagte: "Unser Sohn war ein Verschwender, er kann
sicher nur Geld verbrauchen, aber nicht geben."
Auch die Negerin sah das Gold. Sie lief in den Ort. Sie ging
zu den Leuten. Sie sagte: "Ihr wißt doch, daß ihr einen sehr
schlechten Agelith habt, mit dem ihr alle unzufrieden seid?" Die
Leute sagten: "So ist es!" Die Negerin sagte: "Ihr habt ihn doch
bis jetzt nur deshalb nicht verjagt, weil ihr keinen anderen angesehenen
und wohlhabenden Mann unter euch habt?" Die Leute
sagten: "So ist es." Die Negerin sagte: "Der Sohn meines Herrn,
den ihr alle kennt, ist heimgekehrt und hat seinem Vater eine große
Menge Goldes mitgebracht." Die Leute sagten: "So schwöre uns
dies!" Die Negerin schwor.
Da kamen alle Männer am andern Tage zusammen und gingen
zu dem Hause des Agelith und riefen: "Wir haben von diesem
geizigen Manne, der nie mit den andern teilt, genug!" Dann verjagten
sie den Agelith. Hierauf zogen sie zu dem Hause des Vaters
des Burschen und sagten: "Du sollst unser Agelith sein." Der
Vater kam heraus. Er brachte das Gold heraus, das sein Sohn bei
ihm zurückgelassen hatte, legte es hin und sagte: "Dies ist alles,
was ich habe. Teilt dies unter euch; mehr habe ich nicht." Der
Bursche befand sich aber unter den Leuten. Er trat hervor. Er rief:
"Das ist nicht wahr, aber mein Vater weiß es nicht besser." Er zog
aus dem Kleide einige Beutel Gold, legte sie vor seinen Vater hin
und sagte: "Dies ist nur das, was ich von deinem Besitz unnütz verschwendet
habe." — So wurde der Vater des Burschen Agelith.
Sein Sohn zog aber mit seinem Gold zu seinen Eltern und ward
glücklich. Er war nur traurig, wenn er an seine junge Frau
dachte.
Eines Tages kam die Schwester seiner Mutter (=kholti) in den
Ort, um den Sohn ihrer Schwester, der so glücklich heimgekehrt
war, zu begrüßen. Er schlief schon, als sie kam, denn es war spät
am Abend. Sie trat an sein Lager und küßte ihn auf die Stirne. Als
der Bursche am andern Morgen erwachte, hatte er seine junge Frau
vergessen.
Die junge Frau des Burschen, die jüngste Tochter des Wuarssen,
war inzwischen allein in ihrem Hause. Sie wartete auf die Rückkehr
ihres Mannes. Von Zeit zu Zeit sah sie auf den Nagel ihres
kleinen Fingers. Sie sah stets, daß ihr Mann, der Bursche, sie noch
nicht vergessen hatte. Eines Tages betrachtete sie wieder den Nagel
ihres kleinen Fingers. Sie sah, daß der Bursche von seiner Tante
geküßt worden war und sie vergessen hatte. Sie betrachtete wieder
den Nagel ihres kleinen Fingers und sah, daß der Bursche nicht
schlecht geworden war. Da packte sie ihre Sachen, füllte einige
Säcke mit Gold, bereitete sich Essen für die Reise, bestieg einen
Maulesel und machte sich auf den Weg.
Die junge Frau ritt viele Tage, bis sie an den Ort kam, in dem ihr
Mann als Sohn des Agelith im Hause seiner Eltern ein glückliches
Leben führte. Sie ritt in den Ort ein und nahm ein Zimmer bei dem
Kaffeewirt. Am andern Tage fragte sie den Kaffeeinhaber: "Willst
du dein Kaffee nicht verkaufen? Was willst du dafür haben?" Der
Kaffeewirt sagte: "Ich muß 500 Goldstücke dafür erhalten, dann
gebe ich es einem andern." Die junge Frau sagte zu dem Kaffeewirt:
"Komm mit in mein Zimmer, ich will dir die 500 Goldstücke
zahlen, wenn es auch viel zu teuer ist." Der Kaffeewirt erhielt die
500 Goldstücke. Die junge Frau besaß das Kaffeehaus.
Alle Leute erzählten sich in der Stadt: "Der Kaffeeinhaber hat
sein Kaffee an eine sehr reiche junge Frau verkauft; die jetzige Inhaberin
ist schön wie die Sonne." Viele Leute kamen nun in das
Kaffee, um die reiche, junge Kaffeewirtin zu sehen und mit ihr zu
plaudern. Alle jungen Leute gingen bei der jungen, schönen
Kaffeewirtin aus und ein, aber der Sohn des Agelith blieb daheim
und kam nicht in das Kaffee. Die junge Frau blickte wieder auf den
Nagel ihres kleinen Fingers und sagte: "Auf diese Weise werde ich
meinen Mann nicht wiedersehen. Mein Mann hat aber zwei leichtsinnige
Freunde, die werden ihn mit sich zu mir bringen."
Am Abend waren wieder viele junge Leute im Hause der Kaffeewirtin
versammelt. Als es Mitternacht war, sagte die junge Frau
zu ihren Gästen: "Es ist Mitternacht und ich schließe." Die Gäste
sagten wie schon öfter: "Willst du nicht einen von uns bei dir bebehalten,
daß er die Nacht mit dir plaudere?" Die junge Frau
sagte: "Ich weiß, daß jeder von euch mich gerne heiraten möchte,
weil ich reich und schön bin. Ich schließe aber heute mein Kaffeehaus
um Mitternacht. Wenn morgen einer von euch 500 Goldstücke
zahlen will, kann er die ganze Nacht bei mir plaudern." Die Gäste
gingen aus dem Hause. Die junge Frau rief ihre Negerin und ließ
das Haus verschließen.
Unter den Gästen waren zwei reiche junge Leute, die das Geld
ihres Vaters verbrauchten. Sie waren mit dem Sohne des Agelith
befreundet. Sie gingen am andern Tage zu dem Sohne des Agelith
und sagten ihm: "Komm heute nur ein einziges Mal mit in das
Haus der jungen, schönen Kaffeewirtin. Sie will dem, der ihr
500 Goldstücke zahlt, erlauben, die Nacht über mit ihr zu plaudern.
Sie wird den sicher nachher heiraten. Komm mit und sage uns,
ob sie es nicht wert ist, daß man ihr 500 Goldstücke zahlt und sie
zur Frau nimmt." Der Bursche war neugierig, diese Frau zu sehen,
die so schön war, daß seine Freunde bereit waren, 500 Goldstücke
zu zahlen, um eine Nacht mit ihr zu plaudern. Er begleitete seine
Freunde abends mit in das Kaffeehaus.
Als er in das Kaffeehaus kam und die junge Frau sah, erkannte
er sie nicht wieder. Er sagte nur: "Diese Frau ist wirklich
schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann
wieder und lachte ihn an. Er saß mit seinen Freunden zusammen.
Seine Freunde sagten: "Ist sie nicht so schön, daß man gern
500 Goldstücke zahlt, um mit ihr zu plaudern?" Der Bursche
sagte: "Ja, sie ist sehr schön." Die junge Frau setzte sich zu den
drei Freunden. Einer der beiden Freunde des Burschen sagte zu
der jungen, schönen Frau: "Darf ich heute nach Mitternacht bei dir
bleiben, um mit dir zu plaudern? Ich will dir gerne 500 Goldstücke
bezahlen." Die junge, schöne Frau sagte: "Wenn du mir schwörst,
vorher eine kleine Arbeit für mich zu verrichten, darfst du die ganze
Nacht an meinem Lager sitzen und mit mir plaudern." Der junge
Mann sagte: "Was für eine Arbeit ist dies?" Die junge, schöne
Frau sagte: "Das wirst du erfahren, wenn du mir nachher die
500 Goldstücke bezahlt hast." Der junge Mann war einverstanden.
Als es Mitternacht war, schloß die junge schöne Frau ihr Haus.
Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde und allen andern
nach Hause. Die junge, schöne Frau nahm den jungen Mann mit
in ihr Zimmer. Der junge Mann gab ihr die 500 Goldstücke und
sagte: "Welche kleine Arbeit habe ich nun zu verrichten?" Die
junge, schöne Frau sagte: "Es ist nichts weiter, schließe nur das
Fenster. Während du das Fenster schließt, werde ich mich niederlegen
und einschlafen. Wenn du es geschlossen hast, wecke mich und
wir können bis zum Morgen miteinander plaudern." Der junge
Mann sagte: "Es lohnt nicht, daß du erst einschläfst. Ich werde es
gleich geschlossen haben." Die junge, schöne Frau sagte: "Dann
ist es desto besser für dich." Dann legte sie sich nieder und schlief
sogleich ein.
Der junge Mann trat an das Fenster, um es zuzuschieben. Als
er es zugeschoben hatte, ging es aber sogleich wieder auf. Er schob
wieder und das Fenster ging wieder auf. Der junge Mann merkte,
daß er seine Hand nicht eher vom Fenster wegnehmen konnte, als
bis es zu war. So schob er die ganze Nacht das Fenster zu, das
immer wieder aufging. Er schob, bis am andern Morgen die junge,
schöne Frau aufwachte. Sogleich ging das Fenster zu. Der junge
Mann sagte: "Nun wollen wir plaudern." Die junge, schöne Frau
stand aber auf und sagte: "Nun ist es zu spät. Die Sonne ist aufgegangen.
Du hast deine 500 Goldstücke schlecht benutzt." Der junge
Mann ging.
Am Abend kamen die drei Freunde zusammen. Der junge Mann,
der die Nacht im Zimmer der jungen, schönen Frau zugebracht
hatte, sagte zu seinen Freunden: "Es war eine herrliche Nacht.
Das nächste Mal werde ich 1000 Goldstücke bezahlen." Der andere
junge Mann sagte: "Heute nacht werde ich die 500 Goldstücke bezahlen."
Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde wieder in
das Kaffeehaus der jungen, schönen Frau. Als er sie sah, erkannte
er sie wieder nicht. Er sagte aber bei sich: "Diese Frau ist wirklich
schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren
Mann und lachte ihn an.
Er saß mit seinen Freunden zusammen. Der zweite der jungen
Männer sagte zu der jungen, schönen Frau: "Darf ich heute nach
Mitternacht bei dir bleiben, um mit dir zu plaudern? Ich will dir
gerne 500 Goldstücke bezahlen." Die junge, schöne Frau sagte:
"Wenn du mir schwörst, vorher eine kleine Arbeit für mich zu verrichten,
darfst du die ganze Nacht an meinem Lager sitzen und mit
mir plaudern." Der zweite junge Mann sagte: "Was für eine Arbeit
ist das?" Die junge, schöne Frau sagte: "Das wirst du erfahren,
wenn du mir nachher die 500 Goldstücke bezahlt hast." Der zweite
junge Mann war einverstanden.
Als es Mitternacht war, schloß die junge, schöne Frau ihr Haus.
Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde und allen andern
nach Hause. Die junge, schöne Frau nahm den zweiten jungen
Mann mit in ihr Zimmer. Der junge Mann gab ihr die 500 Goldstücke
und sagte: "Welche kleine Arbeit habe ich nun zu verrichten?"
Die junge, schöne Frau sagte: "Es ist nichts weiter.
Fülle mir nur diesen Topf Wasser aus dem Krug! Während du den
Topf füllst, werde ich mich niederlegen und einschlafen. Wenn du
ihn gefüllt hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen miteinander
plaudern." Der junge Mann sagte: "Es lohnt nicht, daß
du erst einschläfst; ich werde den Topf sogleich gefüllt haben."
Die junge, schöne Frau sagte: "Dann ist es desto besser für dich."
Dann legte sie sich nieder und schlief sofort ein.
Der zweite junge Mann ergriff den Topf und wollte ihn aus dem
Kruge füllen. Als er den Topf aber wieder aus dem Wasser emporhob,
war er leer wie zuvor. Er führte ihn wieder in das Wasser und
zog ihn leer wieder heraus. Der zweite junge Mann merkte, daß er
seine Hände nicht eher von dem Topf und dem Krug wegnehmen
konnte, als bis der Topf voll sei. Er schöpfte die ganze Nacht. Der
Topf blieb leer. Er schöpfte, bis am Morgen die Sonne aufging. Als
die Sonne aufging, erwachte die schöne, junge Frau. Sogleich war
der Topf mit Wasser gefüllt. Der zweite junge Mann sagte: "Nun
wollen wir plaudern." Die junge, schöne Frau stand auf und
sagte: "Nun ist es zu spät. Die Sonne ist aufgegangen. Du
hast deine 500 Goldstücke schlecht benutzt." Der zweite junge
Mann ging.
Am Abend kamen die drei Freunde zusammen. Der zweite junge
Mann sagte zu seinen Freunden: "Es war eine herrliche Nacht.
Das nächste Mal werde ich 1000 Goldstücke bezahlen." Der Sohn
des Agelith ging mit seinen beiden Freunden in das Kaffeehaus
der jungen, schönen Frau. Als er sie sah, erkannte er sie
wieder nicht. Er sagte bei sich: "Diese Frau ist wirklich schöner
als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann und
lachte ihn an.
Der Sohn des Agelith saß mit seinen Freunden zusammen. Er
sprach nicht. Als es Mitternacht war, sagte die junge, schöne Frau:
"Es ist Mitternacht. Ich schließe jetzt das Kaffeehaus." Der Sohn
des Agelith sagte: "Ich habe die 500 Goldstücke. Ich werde die
kleine Arbeit vorher verrichten. Darf ich zum plaudern bei dir
bleiben?" Die junge, schöne Frau sagte: "Es ist recht." Die andern
Gäste verließen das Haus. Die junge, schöne Frau schloß das Haus
hinter ihnen.
Die junge, schöne Frau nahm den Sohn des Agelith mit in ihr
Zimmer. Der Sohn des Agelith legte die 500 Goldstücke hin. Die
junge, schöne Frau sagte: "Nun schließ nur die Türe. Während
du die Türe schließt, werde ich mich niederlegen und einschlafen.
Wenn du die Türe geschlossen hast, wecke mich und wir können
bis zum Morgen miteinander plaudern." Der Sohn des Agelith
sagte nichts. Die junge, schöne Frau legte sich nieder und schlief
sogleich ein. Der Sohn des Agelith trat an die Tür, um sie zu schließen.
Er drückte die Tür heran; sie sprang wieder auf. Er drückte die Tür
zum zweitenmal heran; sie sprang wieder auf. Er drückte die Tür
zum drittenmal heran; sie sprang wieder auf. Der Sohn des Agelith
wollte die Hand von der Tür ziehen. Die Hand war fest an der Tür.
Er sah sich um. Er sah, daß die junge, schöne Frau eingeschlafen
war. Da riß er die Tür heraus, trat mit der Türe im Arm an das
Lager der jungen, schönen Frau, weckte sie und sprach: "Sorge,
daß die Tür zugeht." Die junge Frau lachte. Sie sagte: "Du bist
klüger; stelle die Tür wieder hin, wo sie hingehört. Sie wird jetzt
schließen. Dann komm und setze dich an mein Lager." Der Sohn
des Agelith trug die Tür zurück, hängte sie ein und schloß sie. Dann
kehrte er an das Lager der jungen, schönen Frau zurück.
Er setzte sich an das Lager der jungen, schönen Frau. Sie fragte
den Sohn des Agelith: "Du kennst mich nicht?" Der Sohn des
Agelith sagte: "Nein, ich kenne dich nicht." Da gab die junge Frau
ihm einen Schlag ins Gesicht. Im gleichen Augenblick erkannte er
seine junge Frau wieder und fiel ihr um den Hals. Der Sohn des
Agelith lachte. Die junge, schöne Frau lachte. Die junge Frau
sagte: "Du hattest mich vergessen, weil deine Tante dich auf die
Stirne geküßt hat. Du schliefst. Es war nicht deine Schuld." Der
Sohn des Agelith sagte: "Komm morgen mit in das Haus meines
Vaters. Wir wollen hier bleiben." Die junge, schöne Frau sagte:
"Ich will es tun. Du bist klüger als die andern jungen Männer in
der Stadt." Die junge Frau erzählte, wie die beiden Freunde die
ganze Nacht mit dem Schließen des Fensters und dem Schöpfen des
Wassers verbracht hatten, ohne zu wagen, sie zu wecken. Die
junge, schöne Frau und der Sohn des Agelith lachten.
Der Sohn des Agelith blieb die ganze Nacht bei seiner jungen
Frau und plauderte mit ihr. Als es Morgen war, sandte er die
Negerin des Hauses zu seinem Vater und ließ ihm sagen: "Meine
junge Frau ist angekommen. Bereite ein großes Fest. Kommt und
holt uns ein!" Alsbald kam der Vater mit seinen Leuten und einer
Sänfte. Der Agelith begrüßte seine Schwiegertochter und sagte:
"Sie ist wirklich schöner als die Sonne." Er brachte seinen Sohn
und seine Schwiegertochter heim. Unterwegs verteilte die junge
Frau die 1000 Goldstücke, die sie von den jungen Männern empfangen
hatte.
Der Agelith feierte seinem Sohne und seiner Schwiegertochter
ein großes Fest. Alle Leute waren fröhlich und jedermann mit dem
neuen Agelith zufrieden. Als der Agelith aber starb, war sein Sohn
sein Nachfolger.
5. Die Diebe und die Wuarssen
Kassi war ein sehr geschickter und vielgefürchteter Dieb, der
seine Züge meistens allein unternahm und nur dann, wenn es
sich um eine ganz besondere Sache handelte, die einer allein nicht
vollbringen konnte, einen Gesellen mitnahm. Einmal nun hatte
Kassi gehört, daß ein reicher Besitzer einen ganz besonders schönen
Ziegenbock habe, den er ganz außerordentlich schätze und mit aller
Sorgfalt vor Dieben schütze. Kassi beschloß, diesen Ziegenbock zu
stehlen und nahm zu diesem Zwecke einen Gesellen mit. Kassi und
der Geselle gingen in den Ort, wo der Besitzer wohnte, und zwar an
jene Stelle, an der die Knaben spielten. Unter den Knaben war auch
der junge Sohn des Besitzers, und Kassi suchte ihn auf. Er rief ihn
heran, schenkte ihm einige Nüsse und sagte ihm, daß er und sein
Kamerad Freunde seines Vaters wären und fragte nach diesem und
jenem, um so die Gelegenheit zur Kenntnis zu nehmen. Der
Knabe erzählte auch alles, was man von ihm zu wissen verlangte
und sogar noch mehr. So erfuhren Kassi und sein Geselle denn, daß
der schöne Ziegenbock sehr sorgfältig aufbewahrt werde, daß der
Besitzer ihn nachts immer neben sich schlafen lasse und daß es unmöglich
sei, ihm durch die Türe oder gar bei Tage beizukommen.
Nachdem Kassi und sein Geselle dieses und eine Beschreibung des
Gehöfts gewonnen hatten, verabschiedeten sie sich von dem Knaben
und gingen von dannen.
Der Knabe erzählte, als er nach Hause kam, dem Vater von den
zwei freundlichen Männern, die mit ihm gesprochen und ihm Nüsse
geschenkt hätten. Der Vater hörte dem Plaudern des Knaben zu
und sagte bei sich: "Das müssen zwei Diebe gewesen sein, die
meinen Ziegenbock stehlen wollten. Ich werde in der nächsten
Nacht ganz besonders auf meiner Hut sein." Dem Beschlusse
folgend, blieb der Besitzer die ganze kommende Nacht vom Abend
bis zum Morgen wach und hörte aufmerksam auf Geräusche. Es
kamen aber keine Diebe und es war nichts Ungewöhnliches zu
hören. Die Folge des Wachens und Aufmerkens in dieser ersten
Nacht war, daß der Besitzer in der zweiten darauffolgenden um so
fester schlief. Darauf hatte sich Kassi auch verlassen, und noch
lange vor Mitternacht machte er und sein Geselle sich mit eisernen
Brechstangen (Tanugha; Plural: Tinuighuin) daran und brachen
in die Mauer, nahe dem Lager des Besitzers, ein Loch, durch das ein
Mann hineinschlüpfen konnte. Kassi drang also in das Haus und
packte den herrlichen Ziegenbock. Der stemmte sich aber gegen
den Boden und wollte sich durch die Bresche nicht herausziehen
lassen. Kurz entschlossen schnitt Kassi ihm die Kehle durch,
häutete ihn ab, zerlegte ihn und füllte das Fleisch in die abgezogene
Decke. Das Bündel reichte er seinem Gesellen heraus und folgte
dann selbst nach. Er eilte so schnell er konnte von dannen, und der
Geselle mit dem Fell- und Fleischbündel folgte ihm.
Kassi und sein Geselle waren noch auf dem Heimwege, da wachte
der Besitzer auf, faßte nach seinem Bock, fand ihn aber nicht, entdeckte
dafür die Bresche und am Boden das Blut des geschlachteten
Bockes und sagte: "Sie haben ihn also doch genommen. Nun, ich
werde mir den Bock wiederholen." Der Besitzer lief sogleich hinter
den Dieben her. Es dauerte auch nicht lange, so hatte er sie eingeholt.
Er blieb nun ganz dicht bei ihnen. Kassi war etwas voraus,
der Geselle weiter hinten. Unterwegs wollte der Geselle sich etwas
ausruhen, denn die Ziegendecke mit dem vielen Fleisch war schwer.
Der Geselle sagte: "Kassi!" Sogleich antwortete der Besitzer:
"Hier bin ich. Die Last wird dir wohl etwas schwer! Ich werde
dich einmal im Tragen ablösen." Der Geselle glaubte, der Sprecher
sei Kassi und gab ihm die Last. Der Besitzer nahm die Last und
sagte zu dem Gesellen: "Nun geh nur voran, ich komme schon langsam
nach." Der Geselle ging weiter. Der Besitzer folgte noch
einige Schritte weit, dann blieb er zurück, wandte sich um und lief
mit dem zurückgewonnenen Ziegenfleisch nach Hause.
In seinem Gehöft wieder angekommen, weckte er seine Frau, gab
ihr das Ziegenfell mit dem Fleisch darin und sagte: "Verstecke das
gut, denn heute nacht kommen vielleicht die Diebe noch einmal,
um den Ziegenbock noch einmal zu stehlen. Ich bin nun müde und
will mich etwas zum Schlafen hinlegen." Die Frau nahm das Fell
mit dem Fleisch darin und verwahrte es. Der Besitzer legte sich
aber wieder hin und schlief sogleich ein.
Inzwischen blieb der vorausgegangene Kassi stehen und sah sich
nach dem Gesellen mit der Ziegenfleischlast um. Als der Geselle
kam, sagte der: "Was, Kassi, du bist jetzt vor mir?" Kassi fragte
aber den Gesellen: "Wo hast du denn die Last mit dem Ziegenfleisch
?" Der Geselle sagte: "Das Ziegenfleisch hast du mir doch
vor einiger Zeit abgenommen!" Kassi sagte sogleich: "Ho! So ist
der Besitzer also doch hinter uns hergekommen und hat uns den
Ziegenbock wieder abgenommen. Aber warte, wir wollen ihn uns
wiederholen."
Kassi machte sich mit dem Gesellen sogleich auf den Rückweg.
Sie kamen wieder am Gehöft des Besitzers an. Kassi kroch vorsichtig
wieder durch die Bresche und vergewisserte sich, daß der
Besitzer fest schlief. Als er das beobachtet hatte, sagte er bei sich:
"Der kann nur so fest schlafen, wenn er den Ziegenbock seiner
Frau zur Aufbewahrung übergeben hat." Kassi ging zur Frau des
Besitzers und sagte: "Frau, ich kann vor Sorge nicht recht schlafen.
Hast du das Fell mit dem Ziegenfleisch auch wohl verwahrt?" Die
Frau sagte: "So sorge dich nur nicht so, sondern schlafe wohl. Das
Fell mit dem Ziegenfleisch liegt wohlverwahrt im Baerka (Speichertopf
oder Höhle in der kleinen Urnenbank), da werden sie es nicht
suchen." Kassi sagte: "Ich muß mich nun schnell noch einmal vergewissern,
ob es auch da ist." Kassi ging hin, nahm den Fellballen
heraus und sagte: "Er liegt ganz sicher da. Dann schlafe du nur
auch. Im Baerka werden die Diebe nicht suchen." Kassi nahm das
Bündel und schlüpfte damit zur Bresche hinaus.
Kassi eilte mit dem Gesellen von dannen in den Wald. Sie trugen
das Fleischbündel bis auf einen Kirchhof, der mitten im Wald um
eine kleine Kapelle herum angelegt war. Dort zündeten sie ein
Feuer an, holten aus dem Brunnen der Kapelle Wasser, setzten den
Topf auf und begannen das Fleisch zu kochen.
Inzwischen wachte der sorgsame Besitzer auf und fragte seine
Frau: "Frau, hast du auch das Fleisch des Ziegenbockes gut versteckt?"
Die Frau sagte: "Aber Mann, ich habe dir doch vorhin
erst gesagt, daß ich das Fleisch im Baerka versteckt habe, und
du hast dich selbst danach umgesehen. Seitdem hat sich im
Hause nichts gerührt. Der Besitzer sagte: "Was, ich soll dich
schon einmal danach gefragt und im Baerka nachgesehen haben.
Ich bin ja gar nicht wach gewesen, seitdem ich dir das Fleisch übeigeben
habe. Wenn das nur nicht wieder dieser Kassi gewesen ist!"
Der Besitzer stand auf, er ging zum Baerka. Er griff hinein und
sagte: "Es ist wieder gestohlen. Ich werde mir aber meinen Bock
wiederholen."
Der Besitzer nahm ein altes Schaffell mit und lief sogleich hinter
den Dieben her. Er kam an die Kapelle und sah, wie die Diebe das
Fleisch drin kochten. Der Besitzer legte sogleich das Lammfell vor
das Gesicht,* steckte so verhüllt den Kopf in das Kapellenfenster
und brüllte. Die beiden Diebe fuhren auf. Der Geselle schrie: "Das ist
ein Wuarssen" und sprang zur Kapellentür hinaus in den Wald.
Kassi wurde auch von dem Schreck gepackt und lief auch weg.
Dann kam der Besitzer in die Kapelle, hob den Topf mit dem Fleisch
auf und trug ihn von dannen, zurück in sein Haus.
Inzwischen sagte sich Kassi: "Wenn es ein Wuarssen ist, frißt er
das Fleisch gleich auf. Trägt er den Topf mit dem Fleisch fort, so
ist es der Besitzer." Er schlich sich heran und sah, daß der Mann
den Topf forttrug. Da rief er seinen Gesellen heran. Sie liefen beide
ein Stück voran, überfielen den Besitzer im Busch, schlugen ihn
mit der Debus (Keule), so daß er ohnmächtig niederfiel und trugen
den Topf mit dem Fleisch wieder in die Kapelle zurück.
Kassi und der Geselle setzten das Geschäft des Kochens fort und
waren so ungefähr damit fertig, als der wahre Wuarssen, der diesen
Wald bewohnte, in die Kapelle durch die Tür hereintrat. Kassi und
der Geselle erschraken. Kassi faßte sich aber schnell und sagte:
"Darf ich dich einladen, dieses ausgezeichnete Fleischgericht zu genießen?"
Der Wuarssen nahm sogleich Platz und sah in den Topf.
Er begann hineinzugreifen und ein Stück nach dem andern herauszunehmen
und zu verschlingen. Kassi sagte zu dem Gesellen:
"Bleib du zur Gesellschaft hier. Ich will nur hinausgehen und einen
Topf guten Wassers zum trinken holen." Der Geselle blieb also,
Kassi ging aber hinaus, suchte dort einen hohen Baum aus, stieg
hinauf und versteckte sich in den dichten Zweigen.
Der Wuarssen aß inzwischen den Topf vollkommen aus, so daß
auch nicht ein Fleischfetzen mehr darin war. Der Wuarssen ergriff
dann einen Toten, den er aus dem Grabe nahm, hielt ihn den Gesellen
hin und sagte: "Du hast mich zu Gaste geladen und mir
dieses ausgezeichnete Bockfleisch gegeben, das mir vorzüglich geschmeckt
hat. Ich will dir dafür diesen toten Menschen geben, der
dir auch gut schmecken wird. Ich bin nicht undankbar. Da, iß!"
Dabei hielt er dem Gesellen den Toten hin. Der Geselle fiel vor
Schreck in Ohnmacht. Da ergriff ihn der Wuarssen und verschluckte
ihn.
Dann trat der Wuarssen an die Tür der Kapelle und rief in den
Wald: "Wo ist Kassi? Kassi hat mir einen Dienst erwiesen und
mir diesen vorzüglichen Bock vorgesetzt. Ich bin Kassi zu Dank
verpflichtet und ich bin nicht undankbar. Ich will Kassi von meinen
Schätzen geben. Kassi! Komm!" Kassi glaubte dem Wuarssen.
Er wußte, daß der Wuarssen große Schätze besaß. Er stieg von
dem Baume herab. Der Wuarssen packte ihn und verschlang ihn.
6. M'hammed Asserdun bei dem Wuarssen
In alter Zeit war ein Mann, der hatte drei Knaben und ein Mädchen.
Eines Tages ritt er zu einem Fest auf den Markt. Ehe er
wegritt, sagte er zu den Kindern: "Jedes von euch kann sich etwas
wünschen, das ich ihm dann vom Markte mitbringe." Auf dem
Markt konnte er das, was die Knaben sich gewünscht hatten,
kaufen. Das aber, was das Mädchen sich erbeten hatte, konnte er
nicht finden. Der Vater kam ohne das Geschenk für das Mädchen
heim.
Das Mädchen hatte sich vom Vater eine Hose (assaru[e]l) gewünscht,
die nicht genäht war und von selbst tanzte. Als der Vater
sie nun nicht mitbringen konnte, weil er sie nicht fand, wurde das
Mädchen vor Kummer krank. Darüber erschrak der Vater. Er
fragte alle Leute: "Wo kann ich nur eine Hose, die nicht genäht
ist und von selbst tanzt, bekommen?" Niemand konnte es ihm
sagen. Endlich sagte eine alte Frau: "Nur der Wuarssen hat eine
solche Hose!" Der Vater schwor und sagte: "Ehe meine Tochter
darüber stirbt, will ich zum Wuarssen gehen und ihn um die Hose
bitten, bis er sie mir gibt."
Der Vater wanderte und wanderte und wanderte. Endlich kam
er zum Wuarssen. Der Wuarssen fragte den Vater: "Was willst
du?" Der Vater sagte: "Meine Tochter wird sterben, wenn sie nicht
die Hose, die ohne Naht ist und von selbst tanzt, von mir erhält."
Der Wuarssen sagte: "Ich werde die Hose finden; ich weiß aber, daß
du eine Tochter von unvergleichlicher Schönheit hast. Ich werde
dir die Hose nur geben, wenn du mir deine Tochter zur Frau gibst."
Der Vater sagte: "Wenn meine Tochter die Hose, die nicht genäht
ist und von selbst tanzt, für keinen andern Preis erhalten kann, so
gib sie her. Du sollst meine Tochter zur Frau haben." Der Wuarssen
gab dem Vater die Hose und fragte: "Wann kann ich kommen,
deine Tochter abzuholen?" Der Vater sagte: "Komme an einem
Tag, an dem Schnee, Regen, Wind, Donner (=r-äd) und Blitz
(=sorak) zusammentreffen." Der Wuarssen sagte: "Ich werde
an dem Tage kommen, deine Tochter abzuholen."
Der Vater kam mit der Hose heim. Er gab die Hose seiner Tochter
und sagte: "Hier hast du die Hose; du wirst nun aber den
Wuarssen heiraten müssen." Die Tochter bedankte sich und ward
gesund.
Eines Tages war großer Sturm und es schneite, es regnete, donnerte
und blitzte. Es klopfte an die Türe des Hauses. Die Mutter
öffnete. Vor der Türe stand ein ungeheuer großer Mann. Der Mann
sagte: "Ich will ins Haus kommen." Die Mutter bot ihm ein Geschenk.
Der Wuarssen sagte: "Ein Geschenk will ich nicht; ich
will deine Tochter." Der Vater kam. Der Vater bot ihm ein Geschenk.
Der Wuarssen sagte: "Ein Geschenk will ich nicht; ich will
deine Tochter." Der Vater rief die schöne Tochter und sagte zu ihr:
"Du siehst, dein Tag ist gekommen; nun rüste dich; zahle nun
deinen Wunsch!" Die Tochter packte ihre Sachen zusammen und
kam heraus. Der Wuarssen ergriff das Mädchen am Arm, hob sie
auf seine Schulter und ging mit ihr von dannen. Er brachte sie in
sein Haus.
Die drei Brüder des Mädchens waren herangewachsen. Eines Tages
spielten sie. Eine alte Frau (= setut; unter setut versteht
der Kabyle ein echtes "altes Weib" von verschlagenem, bösartigem,
unheimlichem, mißlaunigem Charakter. Jeder Setut traut der
Kabyle außerdem Böswillen und Zauberkunst zu) kam hinzu. Das
alte Weib sagte: "Wenn ihr Männer gewesen wärt, hätte eure
Schwester nicht durch den Wuarssen geraubt werden können."
Die drei Brüder schwiegen und gingen. Die drei Brüder bereiteten
Essen für die Reise.
Die drei Brüder wanderten und wanderten und wanderten. Sie
kamen eines Tages zu einem Schafhirten mit seiner Herde. Sie
sagten zu dem Schafhirten: "Kannst du uns den Weg zu dem
Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Der Schafhirt
sagte: "Ja, den Weg kenne ich, ich bin der Diener (=achméss)
dieses Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich
warne euch aber. Seht diesen Widder (=ikerri). Nur, wenn ihr
den aufzuheben vermögt, werdet ihr eure Schwester wiedergewinnen
können. Denn jeden Morgen kämpft der Wuarssen mit dem Widder,
ohne daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn ihr den
Widder nicht besiegen könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit
dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Die drei Brüder
sagten: "Wir wollen es versuchen." Der Widder rannte heran.
Der Widder packte die drei Brüder mit den Hörnern und schleuderte
sie hoch. Die drei Brüder flogen weit fort in ein anderes
Land.
In dem anderen Land trafen die drei Brüder einen Ochsenhirten
mit seiner Herde. Sie sagten zu dem Ochsenhirten: "Kannst du uns
den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt
hat?" Der Ochsenhirt sagte: "Ja, den Weg kenne ich; ich bin der
Diener dieses Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuarssen.
Ich warne euch aber. Seht diesen Stier (=a'jenu). Nur, wenn
ihr den aufzuheben vermögt, werdet ihr eure Schwester wiedergewinnen
können. Denn jeden Morgen und jeden Abend kämpft
der Wuarssen mit dem Stier, so daß die Mauern einstürzen, ohne
daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn ihr den Stier nicht
besiegen könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen
überhaupt erst zu beginnen." Die drei Brüder sagten: "Wir wollen
es versuchen." Der Stier rannte heran. Der Stier packte die drei
Brüder mit den Hörnern und schleuderte sie hoch. Die drei Brüder
flogen weit fort in ein anderes Land.
In dem andern Lande trafen die Brüder einen Hühnerhirten mit
seiner Herde. Sie sagten zu dem Hühnerhirten: "Kannst du uns
den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt
hat?" Der Hühnerhirt sagte: "Ja, den Weg kenne ich, ich bin
der Diener des Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem
Wuarssen. Ich warne euch aber. Seht diesen Hahn. Nur, wenn
ihr den aufzuheben vermögt, werdet ihr eure Schwester wiedergewinnen
können. Jeden zweiten Tag kämpft der Wuarssen vom
Morgen bis zum Abend (= arba lukas, d. h. die vier Teile eines
Tages) mit ihm. Einen Tag kämpft er mit ihm, einen Tag führe ich
den Hahn auf die Weide. Sie kämpfen stets miteinander, ohne daß
einer den andern besiegen kann. Wenn ihr den Hahn nicht besiegen
könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen
überhaupt erst zu beginnen." Die drei Brüder sagten: "Wir wollen
es versuchen." Der Hahn sagte aber (verächtlich): "Ihr seid Zedjed
(zu unbedeutend; eigentlich: ,Unbedeutende'). Mit euch kämpfe
ich nicht."
Die Brüder gingen in den Garten. Sie sahen da eine Menge
Melonen (Melone =afkoss) an einer Quelle. An der Quelle trafen
sie eine Negerin (=zächliss; Neger =ächli). Die drei Brüder sagten
zu der Negerin: "Kannst du uns nicht den Weg zu dem Wuarssen
zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Die Negerin sagte: "Ja,
den Weg kenne ich, ich bin eine Negerin des Wuarssen. Eure
Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne euch aber. Seht
diesen großen Korb voll Melonen und diesen Ledersack (=aidid)
voll Wasser. Nur, wenn ihr die gesamten Melonen essen und den
Ledersack austrinken könnt, werdet ihr eure Schwester gewinnen
können. Denn jeden Morgen verzehrt der Wuarssen diese Melonenmenge
und trinkt er diesen Ledersack leer. Wenn ihr das nicht
könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt
erst zu beginnen." Die drei Brüder waren sehr hungrig und
durstig. Sie begannen zu essen und zu trinken. Sie konnten aber
nicht einmal eine Melone gemeinsam verzehren. Da waren sie
schon satt. Sie konnten kaum den obersten Teil des Wassersackes
austrinken, da waren sie schon satt. Die Negerin sagte: "Geht lieber
nicht zu dem Wuarssen. Der Wuarssen wird euch vernichten."
Die drei Brüder sagten: "Wir wollen doch gehen."
Die drei Brüder kamen in das Haus. Der Wuarssen war nicht
daheim. Die Schwester der Brüder war aber im Hause. Die Schwester
sprang auf. Sie begrüßte die Brüder. Sie sagte: "Meine Brüder,
der Wuarssen wird euch verschlingen, wenn er euch hier trifft."
Sie versteckte die Brüder sogleich in einer Grube (=tarischt, d. h.
ein Einstiegloch in einem Haussilos, einen Speicherkeller). Die
Schwester bereitete für die Brüder ein gutes Essen und reichte es
ihnen herab in den Keller.
Abends kam der Wuarssen nach Hause. Er witterte (=uardelli)
umher und sagte: "Ich rieche Menschen. Wer ist hier? Wer hier
versteckt ist, soll hervorkommen. Ich will ihm das Leben lassen,
aber ich verspreche ihm das erst dann, wenn er hervorgekommen
ist." Die drei Brüder verhielten sich still. Die Schwester sagte: "Es
kam ein Krämer (=autas) vorbei. Ich habe ihm etwas geschenkt,
aber ich habe in deiner Abwesenheit nicht gewagt, ihm etwas abzukaufen.
Sein Geruch ist im Hause geblieben." Der Wuarssen
glaubte seiner Frau nicht. Er suchte im ganzen Hause. Er blickte
in den Tarischt hinab. Der Wuarssen sah die drei Brüder. Die
drei Brüder erschraken. Die Schwester erschrak.
Der Wuarssen sagte: "Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?" Die
Schwester sagte: "Dies sind meine drei Brüder." Der Wuarssen
sagte: "Dann sollen sie mir willkommen sein. Bereite uns Essen."
Der Wuarssen pflegte zum Abend ein Schaf und eine Holzschale
(=djifla) voll Kuskus (=suksu) zu verzehren. Der Wuarssen
sagte: "Wie wollen wir es machen? Einer wird essen. Der andere
soll um das Haus gehen. Wenn ich schneller esse, als ihr um das
Haus kommt, oder ihr langsamer eßt, als ich um das Haus zu
kommen vermag, will ich euch verschlingen. Welches wählt ihr?"
Die Schwester winkte den Brüdern. Da sagten die Brüder: "Wir
wollen essen und du sollst um das Haus gehen. Wenn du schneller
um das Haus kommst, als wir zu essen vermögen, dann hast du gewonnen."
Der Wuarssen sagte: "Es ist mir recht."
Der Wuarssen ging heraus. Die Schwester warf den gekochten
Hammel, den Kuskus und, das Wasser in den Tarischt. Der
Wuarssen kam auf der anderen Seite zurück. Er sah, daß die Mahlzeit
verschwunden war. Der Wuarssen erstaunte. Die drei Brüder
sagten aber: "Gib uns noch mehr Essen, wir sind noch hungrig."
Der Wuarssen sagte zu den drei Brüdern: "Wir wollen miteinander
fechten. Wenn ich euch besiege, werde ich euch verschlingen.
Wollen wir kämpfen mit Kopfstoß, mit Faustschlag oder
mit dem Säbel ?" Die Schwester winkte den Brüdern. Da sagten die
drei Brüder: "Faustschlag ist gut für Esel und für dich. Kopfstoß
ist gut für Widder und für dich. Für uns als Söhne eines Agelith
ist nur der Säbel gut." Der Wuarssen war wütend. Er sagte: "So
kann ich euch nicht verschlingen. Aber es soll euch nicht gut
gehen." Er packte die drei Brüder und steckte sie in einen Brunnenschacht
(= lewir oder ellewir).
Die drei Söhne kamen nicht zurück; da weinten die Eltern. Der
Vater sagte zur Mutter: "Komm, wir wollen, sie suchen." Die
Mutter bereitete das Essen für, die Wanderung. Der Vater packte
den Maulesel. Sie wanderten von dannen. Der Vater und die Mutter
kamen in ein wüstes Land. Es war große Hitze. Die Mutter hatte
großen Durst. Der Vater ging herum und suchte Wasser., Die
Mutter wartete und wartete. Der Maulesel schlug sein Wasser ab.
Da fing die Mutter mit der Hand davon auf und trank es. Die
Mutter fühlte sogleich, daß sie guter Hoffnung war. Als der Vater
von der Wassersuche zurückkam, sagte sie: "Ich habe soeben von
dem Wasser des Maulesels aufgefangen und getrunken und fühle,
daß ich davon guter Hoffnung geworden bin." Der Vater sagte:
"Dann wollen wir heimkehren."
Sie waren noch nicht wieder daheim, da ward ein Knabe geboren.
Als der Knabe geboren wurde, bedeckte er sogleich das Gesicht mit
den Händen, denn er hatte den Körper eines Menschen, aber den
Kopf eines Maulesels. Als der Vater das sah, nannte er ihn M'hammed
Asserdun (der Eselköpfige). Der Vater brachte den Sohn auf
den Zwischenböden (=tarorfitz, d. i. turmartiger Speicher über dem
Stall, dem Adäinin) unter. M'hammed Asserdun empfing als Essen
nur Fleisch ohne Knochen. Am ersten Tage verzehrte er schon
eine ganz große Platte voll Kuskus mit Fleisch ganz allein. Am
andern Tage verzehrte er zwei Platten Kuskus. Am dritten Tage
verzehrte er schon vier Platten Kuskus. Am vierten Tage verzehrte
er schon acht Platten Kuskus. Am fünften Tage sechzehn
Platten Kuskus. Der Vater hatte nicht mehr so viel Essen im
Hause, als M'hammed Asserdun verzehren wollte. Er ging zum
Tadjemaid (=Männerversammlungsplatz). Der Vater sagte zu den
Männern: "Ich kann meinen Sohn M'hammed Asserdun nicht mehr
ernähren. Wer kann mir nur sagen, wie ich mich meines Sohnes
M'hammed Asserdun entledigen kann. Wer das vermag, mit dem
will ich den mir von dem Sohne übriggelassenen Rest meines
Besitzes teilen." Die Männer in der Versammlung konnten keinen
Rat geben. Sie gingen aber nach Hause und erzählten es im Dorfe.
Die alte Setut, die die drei Brüder M'hammed Asserduns zu dem
Wuarssen geschickt hatte, hörte es auch und sagte: "Auf meinen
Kopf! Ich kann es." Sie ging zum Vater M'hammed Asserduns
und fragte: "Soll ich es versuchen?" Der Vater sagte: "Versuche
es auf deine eigene Gefahr. Am andern Tage brachte die alte Setut
dem M'hammed Asserdun das Essen auf den Zwischenboden. Sie
hatte aber bei sich in der Brusttasche (= ischuri) einen Knochen,
an dem außen nur wenig Fleisch, der aber in seinem Innern voll
Mark (=adif) war. M'hammed Asserdun sah den Knochen. Er
aß das Fleisch, betrachtete den Knochen und schlug ihn dann gegen
die Mauer. Der Knochen zerbrach. Die Mauer zerbrach auch.
M'hammed Asserdun aß das Mark und blickte dann durch das Loch
in der Mauer heraus.
M'hammed Asserdun sah zum erstenmal die Natur. Er erblickte
draußen Knaben, die spielten Tathuscht (eine Art Sautreiben; der
Ball aus Baummark; die Stöcke zum Schlagen). M'hammed Asserdun
brach die Mauer noch weiter auf und sprang aus dem Tarorfitz
heraus auf den Spielplatz. Auf dem Spielplatz war auch der Sohn
der Setut. Er war immer Sieger im Tathuscht; nie hatte ein anderer
ihn zu besiegen vermocht. M'hammed Asserdun spielte mit den
Knaben. Er besiegte den Sohn der Setut. Der Sohn der Setut war
eifersüchtig. Er wollte M'hammed Asserdun schlagen. M'hammed
Asserdun aber schlug ihn auf die Beine, daß sie zerbrachen, dann
packte er ihn und warf ihn hoch in die Luft. Der Sohn der Setut
kam wieder lebend zur Erde, aber er war todkrank.
Am andern Tage sah M'hammed Asserdun ein Pferd. Er fing es
und bestieg es. Das Pferd brach aber unter ihm tot zusammen. So
tötete er seinem Vater 99 Pferde. Der Vater entsetzte sich. Der
Vater ging zu dem Amrar Asmeni (dem weisen Mann). Er sagte:
"Du bist weiser als wir alle. Hilf mir in einer Sache; ich will auch
alles tun, wie du es rätst." Amrar Asmeni sagte: "Worum handelt
es sich ?" Der Vater sagte: "Ich habe einen Sohn M'hammed Asserdun.
Zuerst aß er so viel, daß ich mein ganzes Vermögen dabei einbüßte.
Nun ist er so stark geworden, daß er alles zerstört. Er hat
schon 99 Pferde unter sich zermalmt. Soll ich den Sohn töten, oder
was rätst du mir sonst?" Amrar Asmeni sagte: "Am Tage der Geburt
deines Sohnes M'hammed Asserdun ist auch ein Pferd geboren
worden. Das ist das rechte Tier für ihn. Für alles andere laß
nur die Setut sorgen."
Der Vater gab dem M'hammed Asserdun das Pferd, das am
gleichen Tage mit ihm geboren wurde. M'hammed Asserdun bestieg
es; es trug ihn. M'hammed Asserdun ritt mit ihm davon. Er
blieb zwei Tage auf seinem Rücken ohne abzusteigen und kehrte
dann erst zurück. Auf dem Heimweg kam er vor dem Orte an einer
Quelle vorbei. An der Quelle saß die Setut mit einem Filter
(= achavbell für Kuskus). M'hammed Asserdun war durstig. Er
sagte zu der alten Setut: "Gib mir zu trinken." Die Alte reichte ihm
Wasser im Filter. Das Wasser rann unten heraus. M'hammed
Asserdun ward zornig. Er schlug die Alte, daß sie hinfiel. Die Setut
sagte: "Wenn du ein Mann wärst, würdest du nicht eine alte Frau
schlagen, sondern den Wuarssen aufsuchen und deine Schwester
und Brüder befreien."
M'hammed Asserdun ritt nach Hause. Er legte sich auf das Lager.
Er aß und trank nicht. Die Eltern fragten ihn: "Was fehlt dir? Bist
du krank? Was wünschst du?" M'hammed Asserdun sagte: "Die
Setut soll mir etwas Heißes bereiten." Die Setut kam. Sie bereitete
ihm ein heißes Getränk. Auf dem Getränk schwamm ein kleines
Stückchen Kohle. M'hammed Asserdun sagte: "Nimm dies heraus!"
Die Alte wollte die Kohle mit dem Finger herausnehmen.
M'hammed Asserdun hielt ihre Hand über dem kochenden Wasser
fest und sagte: "Entweder du sagst mir die Richtung (=djiha,
d. i. die Richtung, in der der Wuarssen wohnt), oder ich verbrühe
deine Hand." Die Setut zeigte mit der Hand: "In dieser Richtung
wohnt der Wuarssen."
M'hammed Asserdun stand auf. Er ging zum Schmied (= ach'..
der) und ließ sich eine Keule (= debus) im Gewicht von zwei
Ochsen machen. Als die Keule fertig war, warf er sie in die Luft
und fing sie mit dem Ellbogen auf. Die Keule zersplitterte an seinem
Ellbogen. M'hammed Asserdun ließ sich eine stärkere Keule
machen. Sie zerbrach. Keiner konnte eine Keule machen, wie
M'hammed Asserdun sie gebrauchte. Als er das sah, riß er sich den
größten Baum des Landes aus und nahm diesen als Keule. Dann
nahm er aus dem Hause einen Akufi (= mannhoher Speichertopf)
als Eßbeutel auf den Rücken und machte sich auf den Weg.
Nachdem er weit gewandert war, kam er eines Tages zu einem
Schafhirten mit seiner Herde. M'hammed Asserdun sagte zu dem
Schafhirten: "Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen,
der unsere Schwester geraubt hat?" Der Schafhirt sagte: "Ja, den
Weg kenne ich, denn ich bin der Diener des Wuarssen. Deine
Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh
diesen Widder. Nur wenn du den aufzuheben vermagst, wirst du
deine Schwester wiedergewinnen können. Denn jeden Morgen
kämpft der Wuarssen mit dem Widder, ohne daß einer den andern
zu besiegen vermag. Wenn du den Widder nicht besiegen kannst,
lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst
zu beginnen." Der Widder rannte heran. M'hammed Asserdun
fing ihn mit einer Hand auf und verschlang ihn. Dann ging er
weiter.
M'hammed Asserdun kam in ein anderes Land. Da traf er einen
Ochsenhirten mit seiner Herde. M'hammed Asserdun sagte zu dem
Ochsenhirten: "Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen,
der meine Schwester geraubt hat?" Der Ochsenhirt sagte: "Ja, den
Weg kenne ich; ich bin der Diener des Wuarssen. Deine Schwester
ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen Stier.
Nur wenn du den aufzuheben vermagst, wirst du deine Schwester
wiedergewinnen können. Denn jeden Morgen und jeden Abend
kämpft der Wuarssen mit dem Stier, so daß die Mauern einstürzen,
ohne daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn du den
Stier nicht zu besiegen vermagst, lohnt es sich nicht, den Kampf
mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Der Stier rannte
heran. M'hammed Asserdun fing ihn mit dem Ellbogen auf, er
packte und verschlang ihn. Dann ging er weiter.
M'hammed Asserdun kam in ein anderes Land. Da traf er einen
Hühnerhirten mit seiner Herde. Er sagte zu dem Hühnerhirten:
"Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der meine
Schwester geraubt hat?" Der Hühnerhirt sagte: "Ja, den Weg
kenne ich; ich bin der Diener des Wuarssen. Eure Schwester ist
noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen Hahn.
Nur, wenn du den aufzuheben vermagst, wirst du deine Schwester
wiedergewinnen können. Denn jeden zweiten Tag kämpft der
Wuarssen vom Morgen bis zum Abend mit ihm. Einen Tag kämpft
er mit ihm. Einen Tag führe ich den Hahn zur Weide. Sie kämpfen
stets miteinander, ohne daß einer den andern besiegen kann. Wenn
du den Hahn nicht besiegen kannst, lohnt es sich nicht, den Kampf
mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Der Hahn
sträubte die Federn und rannte auf M'hammed Asserdun zu.
M'hammed Asserdun fing ihn mit der Schulter auf. Er packte und
verschlang ihn; dann ging er weiter.
M'hammed Asserdun kam in den Garten. Er sah die Melonen,
die Quelle und die Negerin. Er fragte die Negerin: "Kannst du mir
den Weg zu dem Wuarssen zeigen?" Die Negerin sagte: "Ja, den
Weg kenne ich, ich bin eine Negerin des Wuarssen. Deine Schwester
ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen
großen Korb voll Melonen und diesen Ledersack voll Wasser. Nur,
wenn du die gesamten Melonen essen und den Ledersack austrinken
kannst, wirst du auch deine Schwester gewinnen können. Denn
jeden Morgen verzehrt der Wuarssen diese Melonenmenge und
trinkt den Ledersack leer. Wenn du das nicht kannst, lohnt es sich
nicht, den Kampf mit dem Wuarssen erst zu beginnen." M'hammed
Asserdun führte den Korb mit den Melonen zum Munde und verschlang
ihn mitsamt den Früchten. Er setzte den Ledersack an den
Mund, trank ihn aus und verschluckte aus Versehen dann auch
noch den Sack. Als die Negerin das sah, sagte sie: "Da drüben steht
das Haus des Wuarssen."
M'hammed Asserdun kam an das Haus. Am Hause hingen drei
Schlagkeulen. M'hammed Asserdun betrachtete sie und sagte:
"Hier müssen meine Brüder sein, denn auf den Keulen sind die
Marken meines Vaters." M'hammed Asserdun setzte seinen Akufi
nieder und lehnte den Baum, der seine Debus war, neben die kleinen
Schlagkeulen der Brüder an das Haus. M'hammed Asserdun trat
in das Haus.
Der Wuarssen war nicht daheim. Nur die Schwester war im
Hause. Die Schwester erschrak und fragte: "Wer bist du ?" M'hammed
Asserdun sagte: "Ich bin M'hammed Asserdun, dein Bruder,
der geboren wurde, als meine Eltern von der Suche nach deinen drei
andern Brüdern heimkehrten. Sind meine Brüder hier?" Die
Schwester sagte: "Ja, unsere Brüder sind hier. Sie sind im Brunnenschacht
eingeschlossen. Geh weg, mein Bruder M'hammed Asserdun;
der Wuarssen wird dich sonst vernichten." M'hammed Asserdun
sagte: "Dies hat keine Eile. Bereite mir das Essen. Ich habe
heute noch nichts zu mir genommen, als ein paar Melonen."
Der Wuarssen kam abends zu seinem Hause zurück. Er sah am
Hause die Keule und den Akufi M'hammed Asserduns. Der Wuarssen
versuchte die Keule M'hammed Asserduns aufzuheben. Er vermochte
es nicht. Der Wuarssen trat in das Haus. Der Wuarssen
sah M'hammed Asserdun und sagte: "Du bist wohl auch ein Bruder
dieser Frau. Dann sollst du mir gegrüßt sein. Gehe aber aus diesem
Raum; es schickt sich nicht, daß du mit meiner Frau in einem Raum
bist." M'hammed Asserdun blieb sitzen und sagte: "Ich bleibe, wo
ich bin." Der Wuarssen sagte: "Ich sehe, du bist wirklich der
einzige, der hier furchtlos bleibt."
Nach einiger Zeit hatte die Schwester das Essen bereitet und
stellte es hin. Der Wuarssen sagte: "Wie wollen wir es machen?
Einer wird essen. Der andere soll um das Haus gehen. Wenn ich
schneller esse, als du um das Haus kommst, oder du langsamer ißt,
als ich um das Haus komme, will ich dich verschlingen. Welches
willst du?" M'hammed Asserdun sagte: "Ich esse." Der Wuarssen
ging heraus. M'hammed Asserdun schluckte das ganze Essen hinter
und rief: "Wuarssen, komm schnell zurück und gib mir weitere
Nahrung!" Der Wuarssen kam erstaunt herein. Der Wuarssen
sagte: "Was, du hast schon alles aufgegessen?" M'hammed Asserdun
sagte: "Ja, gib mir schnell mehr, ich bin hungrig."
Der Wuarssen sagte: "Wir wollen miteinander fechten. Wenn
ich dich besiege, werde ich dich verschlingen. Wollen wir kämpfen
mit Kopfstoß, mit Faustschlag oder mit Säbeln?" M'hammed
Asserdun sagte: "Rede wie ein Verständiger, natürlich will ich
kämpfen. Aber meine Schwester und meine Brüder sollen dabei
sein. Bring also meine Brüder her!" Der Wuarssen sagte: "Gut,
sie sollen deine Schande mit ansehen!" Der Wuarssen befreite die
drei Brüder aus dem Brunnenschacht. Er rief auch die Schwester
herbei. Die drei Brüder kamen ganz mager, mager wie die Eisennägel,
heran.
M'hammed Asserdun sagte: "Vor dem Kampf will ich mir die
Zähne reinigen. Ich pflege das mit meiner Schlagkeule zu tun.
Wuarssen, bringe mir meine Schlagkeule herein." Der Wuarssen
ging heraus. Er versuchte wieder, den Baum, der M'hammeds
Schlagkeule war, zu heben. Er vermochte es nicht. Da wurde ihm
die Stärke M'hammed Asserduns klar. Er wollte fliehen. M'hammed
Asserdun sprang aber hinter ihm her, packte ihn und sagte:
"Komm und kämpfe, womit du willst. Ich werde dir nur einen
Schlag versetzen." Sie traten einander gegenüber.
Der Wuarssen stürzte auf M'hammed Asserdun zu. M'hammed
Asserdun packte ihn und warf ihn mit einem Schlage nieder; als
der Wuarssen von dem Schlag stürzte, gab es eine Erschütterung,
daß sieben Mauern einstürzten. M'hammed Asserdun schnitt dem
Wuarssen den Kopf ab. Dann sagte er zu seiner Schwester und
seinen drei Brüdern: "Nun kommt mit mir heim." Die Schwester
und die drei Brüder waren über die Maßen froh. Sie packten alle
Schätze des Wuarssen zusammen und machten sich auf den Heimweg.
Als er daheim ankam, sagte er zu seinem Vater: "Mit den
Schätzen des Wuarssen habe ich wohl alles zurückerstattet, was ich
dir weggegessen und an Pferden zerstört habe. Nimm deine andern
Kinder wieder zu dir!" Da entstand große Freude, und der Vater
veranstaltete ein großes Fest. M'hammed Asserdun sagte aber zu
seinen Brüdern und seiner Schwester: "Meine Schwester und meine
Brüder! Ich habe meine Pflicht getan. Ich sehe aber, daß dies
Land mich nicht ernähren kann." M'hammed Asserdun nahm
seinen Akufi auf den Rücken, seine Debus über die Schulter und
ging von dannen.
M'hammed Asserdun wanderte weit fort. Eines Tages kam er zu
einem Manne, der mit seiner Unterlippe einen Fluß aufhielt -
soweit reichte sie herab. Die Oberlippe hatte er aber über den Kopf
geschlagen, und damit reichte er bis weit über den Rücken zur Erde
herab. Der Lippenmann sah M'hammed Asserdun und fragte ihn:
"Wohin gehst du?" M'hammed Asserdun sagte: "Ich suche ein
Land, das mich ernähren kann." Der Lippenmann sagte: "Ich bin
dein Mann, ich komme mit dir." Der Lippenmann stand auf und
schloß sich M'hammed Asserdun an.
M'hammed Asserdun und der Lippenmann wanderten weiter fort.
Eines Tages kamen sie zu einem Mann, der hatte so riesengroße
Ohren, daß er mit dem einen sich vollkommen als Kleidung bedecken
und das andere als Lagerunterlage benutzen konnte. Der
Ohrenmann sah M'hammed Asserdun und seinen Begleiter und
fragte: "Wohin geht ihr?" M'hammed Asserdun sagte: "Ich suche
ein Land, das mich ernähren kann." Der Ohrenmann sagte: "Ich
bin dein Mann; ich komme mit dir." Der Ohrenmann stand auf und
schloß sich M'hammed Asserdun und dem Lippenmann an.
M'hammed Asserdun, der Lippenmann und der Ohrenmann wanderten
weit fort. Eines Tages kamen sie zu einem Manne, der hatte
in seinem Bart eine Herde Schafe. Mit seinem Rücken lehnte er
aber an einem Berg, der wäre, wenn er nicht so gestützt worden
wäre, vornüber gestürzt und hätte ein Dorf begraben, das an seinem
Fuße lag. Der Bartmann sah M'hammed Asserdun und seine Begleiter
und fragte: "Wohin geht ihr?" M'hammed Asserdun sagte:
"Ich suche ein Land, das mich ernähren kann." Der Bartmann
sagte: "Ich bin dein Mann, ich komme mit dir." M'hammed Asserdun
riß ein paar Bäume aus und stützte mit ihnen den Berg. Der
Bartmann stand auf und schloß sich M'hammed Asserdun, dem
Lippenmann und dem Ohrenmann an.
M'hammed Asserdun und seine Begleiter wanderten weiter und
kamen eines Tages in einen riesenhaften Wald, in dem herrschte
Luasch über alle Tiere. Luasch wohnte unter der Erde (=l'rhar).
Luasch war aber ausgegangen und nicht daheim. M'hammed Asserdun
und seine Kameraden gingen in die Wohnung hinein. M'hammed
sagte zu seinen Kameraden: "Hier wollen wir Wohnung nehmen.
Einer von uns soll tagsüber daheim bleiben und für die andern
das Essen kochen. Die andern drei sollen auf die Jagd gehen,"
Am andern Tage blieb der Lippenmann daheim und M'hammed
Asserdun ging mit den beiden Kameraden tagsüber auf die Jagd.
Der Lippenmann bereitete sechs Schüsseln mit Kuskus. Als er
gerade damit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: "Soll ich dich
oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" Der
Lippenmann erschrak und sagte: "Nimm den Kuskus!" Luasch
verschlang allen Kuskus und ging. Der Lippenmann kratzte nun
allen Kuskus aus den Kochtöpfen zusammen, der noch darin geblieben
war. Es war sehr wenig. Als M'hammed Asserdun und die
Kameraden nach Hause kamen, fragte er: "Ist das alles, was du
bereitet hast?" Der Lippenmann sagte: "Ich verstehe mich nicht
auf die Kuskusbereitung."
Am andern Tage blieb der Ohrenmann daheim, und M'hammed
Asserdun ging mit den andern Kameraden tagsüber auf die Jagd.
Der Ohrenmann bereitete sechs Schüsseln mit Kuskus. Als er gerade
damit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: "Soll ich dich,
oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" Der
Ohrenmann erschrak und sagte: "Nimm den Kuskus!" Luasch
verschlang allen Kuskus und ging. Der Ohrenmann kratzte nun
allen Kuskus aus den Kochtöpfen zusammen, der darin geblieben
war. Es war aber sehr wenig. Als M'hammed Asserdun mit den
Kameraden nach Hause kam, fragte er: "Ist das alles, was du bereitet
hast?" Der Ohrenmann sagte: "Ich verstehe mich nicht auf
die Kuskusbereitung."
Am andern Tage blieb der Bartmann daheim, und M'hammed
Asserdun ging mit den andern Kameraden tagsüber auf die Jagd.
Der Bartmann bereitete sechs Schüsseln Kuskus. Als er gerade damit
fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: "Soll ich dich, oder soll
ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" Der Bartmann
erschrak und sagte: "Nimm den Kuskus!" Luasch verschlang
allen Kuskus und ging. Der Bartmann kratzte nun allen Kuskus
aus den Kochtöpfen zusammen, der noch darin geblieben war. Es
war sehr wenig. Als M'hammed Asserdun mit den Kameraden
nach Hause kam, fragte er: "Ist das alles, was du bereitet hast?"
Der Bartmann sagte: "Ich verstehe mich nicht auf die Kuskusbereitung."
Am andern Tage blieb M'hammed Asserdun daheim, und die drei
Kameraden gingen tagsüber auf die Jagd. Der Lippenmann, der
Ohrenmann und der Bartmann sprachen unterwegs zueinander und
erzählten sich, wie es mit dem Kuskus und Luasch gekommen war.
Sie sagten untereinander: "Wir werden heute wieder hungrig zu
Bett gehen, denn auch M'hammed Asserdun wird den Kuskus dem
Luasch geben müssen."
M'hammed Asserdun bereitete 32 Schüsseln Kuskus. Als er gerade
damit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: "Soll ich dich,
oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" M'hammed
Asserdun sagte: "Ich bin M'hammed Asserdun! Sieh dir die
Leute an, mit denen du sprichst!" Luasch sagte: "Ich bin Luasch.
Ich weiß, du stammst vom Maulesel!" M'hammed Asserdun sprang
auf. Er stürzte sich auf Luasch. Er konnte Luasch nicht niederwerfen.
Sie kämpften miteinander. Mauern stürzten, Bäume
brachen zusammen. Alle Tiere im Walde schrien vor Angst.
Kämpfend kamen beide auf einen Berg (= issil). Auf dem Berge
stürzten beide. M'hammed Asserdun und Luasch rollten sich überschlagend
den Berg herunter. Sie stürzten ringend einen Abgrund
herab. Unten kam M'hammed Asserdun auf Luasch zu liegen.
M'hammed Asserdun nahm seinen Säbel und schnitt Luasch den
Kopf und den Bart ab. Aus dem Bart Luaschs machte sich M'hammed
Asserdun ein Armband. Den Kopf nahm er heim. Als er in
das Haus kam, warf er den Kopf unter die Wassertöpfe.
Der Lippenmann, der Ohrenmann und der Bartmann kamen
heim. Sie sahen die 32 Schüsseln mit Kuskus. Sie sagten untereinander:
"M'hammed Asserdun hat Glück. Luasch ist heute nicht
gekommen." M'hammed Asserdun und seine Kameraden aßen sich
satt. Dann sagte M'hammed Asserdun zu dem Lippenmann: "Nun
gehe du hin zu den Wasserkrügen und bring uns zu trinken." Der
Lippenmann ging. Er kam zu den Wasserkrügen. Er sah den Kopf
Luaschs. Er erschrak so, daß er taumelte. Er fürchtete sich, die
Krüge zu ergreifen. Er kam zurück und sagte: "Ich habe mich an
einem Stein gestoßen."
M'hammed Asserdun sagte zum Ohrenmann: "Dann gehe du zu
den Wasserkrügen und bring uns zu trinken." Der Ohrenmann
ging. Er kam zu den Wasserkrügen. Er sah den Kopf Luaschs. Er
erschrak so, daß er taumelte. Er fürchtete sich, die Krüge zu ergreifen.
Er kam zurück und sagte: "Ich habe mich an einem Stein
gestoßen."
M'hammed Asserdun sagte zum Bartmann: "Dann geh du zu
den Wasserkrügen und bring uns zu trinken." Der Bartmann ging.
Er kam zu den Wasserkrügen. Er sah den Kopf Luaschs. Er erschrak
so, daß er taumelte. Er fürchtete sich, die Krüge zu ergreifen.
Er kam zurück und sagte: "Ich habe mich an einem Stein
gestoßen."
M'hammed Asserdun sagte: "Dann werde ich selbst zu den
Wasserkrügen gehen und uns etwas zu trinken bringen." Er ging
hin. Mit der einen Hand. ergriff er einen großen Wasserkrug, mit
der andern den Kopf Luaschs. Er kam mit dem Wasserkrug und
mit dem Kopf Luaschs zurück. Er warf den Kopf Luaschs zwischen
die drei Kameraden. Der Lippenmann, der Ohrenmann und der
Bartmann sprangen entsetzt zur Seite. M'hammed Asserdun aber
sagte: "Ich werde heute nacht noch mit euch zusammenbleiben.
Morgen werden wir uns aber trennen. Ich werde allein das Land
suchen, das mich ernähren kann. Ihr aber seid keine Kameraden
meiner Art. Geht eures Weges." Am andern Tage nahm M'hammed
Asserdun seinen Akufi auf den Rücken und seinen Debus auf
die Schulter und zog allein weiter.
7. Der Wuarssentöter
Ein Mann hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter spielte
.L..4 eines Tages, als sie schon erwachsen war, im Freien vor dem
Gehöft; da kam ein Wuarssen, packte und nahm sie mit zu sich, um
sie zu heiraten. Der Vater und die Mutter des Mädchens hörten von
nun an nichts mehr von der Tochter.
Eines Tages waren die ältesten beiden Brüder herangewachsen,
und als sie glaubten, starke und geschickte Burschen zu sein,
machten sie sich auf den Weg, ihre Schwester zu suchen. Nach
einer langen Wanderung kamen sie dann gegen Abend an das
Haus des Wuarssen, und dieser war auch zu Hause und lud die
beiden Brüder zum Essen ein. Das Essen bestand aber aus einem
gebratenen Ochsen, einer Schlafmatte voll Kuskus und einem
Akufin (=Speichertopf) voll Wasser. Der Wuarssen sagte: "Ich
gehe aus dem Hause und gehe einmal um das Gehöft. Ich hoffe,
daß, wenn ich wiederkomme, das gesamte Essen und Getränk verzehrt
ist."
Die beiden Brüder saßen vor dem gebratenen Ochsen, vor der
Schlafmatte voll Kuskus und dem Speichertopf voll Wasser und
sagten: "Das ist für uns unmöglich." Der Wuarssen kam von
seinem Wege um das Haus zurück und sagte: "Was, ihr habt noch
gar nicht angefangen? Ihr habt das Essen noch nicht verzehrt?"
Danach setzte er sich hin, aß den Ochsen und den Kuskus und
trank das Wasser, so daß von dem ganzen aber auch nicht ein
Happen und nicht ein Schluck übrig blieb. Nachdem er sich derart
gesättigt hatte, erhob er sich und sagte: "Nun wollen wir kämpfen."
Zaghaft erhoben sich die beiden Brüder. Der Wuarssen ergriff sie,
einen nach dem andern, und warf sie ohne weiteres auf den Boden.
Dann ergriff er sie beide, jeden mit einem Arm, und steckte sie in
einen der Speicherkrüge.
Der jüngste der drei Söhne war noch klein, als die beiden älteren
Brüder fortgingen, die Schwester zu suchen. Der jüngste war schon
von Geburt an ein ungemein starkes Kind. Am Tage, als er geboren
wurde, aß er ein Brot. Am zweiten Tage verzehrte er zwei
Brote, am dritten Tage drei. Als er groß und stark war, fragte er
einmal seine Mutter: "Habe ich denn keine Geschwister?" Die
Mutter sagte: "Du hattest eine Schwester, die hat ein Wuarssen geraubt,
als du eben erst geboren warst. Dann hast du zwei ältere
Brüder gehabt, die sind beide aufgebrochen, deine Schwester zu
suchen. Sie sind nicht wiedergekommen; der Wuarssen wird sie gefressen
haben."
Am andern Tage ging der Jüngste zum Schmied. Er ließ sich vom
Schmied eine Debus (=Keule) machen, die war so schwer, daß kein
Mensch sie aufheben konnte. Die Debus hing er über die Schulter,
nahm von seiner Mutter Abschied und machte sich auch auf den
Weg, den Wuarssen zu suchen. Er wanderte lange dahin und kam
endlich an dessen Gehöft.
Der Wuarssen war daheim. Sein Abendessen war bereitet; es bestand
aus einem im ganzen zubereiteten Ochsen, aus einer Matte
voll Kuskus und einem Akufin voll Wasser. Ehe der Jüngste in das
Haus trat, warf er draußen seine Debus auf die Erde. Als der
Wuarssen den Jüngsten sah, begrüßte er ihn und sagte: "Dort steht
das Abendessen. Ich werde einmal um mein Gehöft gehen. Ich
hoffe, daß, wenn ich zurückgekommen sein werde, du alles verzehrt
haben wirst." Damit verließ der Wuarssen die Kammer. Der
Jüngste sagte: "Das ist keine so große Sache." Er aß den Ochsen,
genoß den Kuskus und leerte den Akufin voll Wasser. Als der
Wuarssen zurückkam, war kein Happen und kein Schluck mehr
für ihn übrig. Er sah das und sagte zum Jüngsten: "Komm, wir
wollen kämpfen."
Der Jüngste stand auf und sagte: "Ja, wir wollen kämpfen. Mit
den Fäusten oder mit Waffen?" Der Wuarssen sagte: "Mit Waffen."
Der Jüngste sagte: "Dann geh hinaus, vor der Tür habe ich
meine Debus hingelegt, bring sie mir herein." Der Wuarssen ging
hinaus. Er sah die Debus. Er konnte sie aber nicht heben. Da kam
er zurück und sagte: "Ich kann deine Debus nicht finden." Der
Jüngste sagte: "Ich hoffe, daß die Kraft deiner Arme größer ist als
die deines Augenlichtes." Er ging hinaus, hob die Debus auf, trat
dann dem Wuarssen gegenüber und sagte: "Bist du bereit?" Der
Wuarssen sagte: "Ja, ich bin bereit." Der Jüngste erhob seine
Keule und schlug den Wuarssen tot.
Der Jüngste befreite nun die Brüder aus dem Akufin. Er rief
seine Schwester und sagte: "Kommt, meine Geschwister, ich will
euch nun nach Hause bringen." Dann verließ er mit ihnen das
Haus des Wuarssen und führte sie soweit, daß sie ganz nahe dem
elterlichen Hause waren. Der Jüngste sagte: "Geht nun nach Haus,
wir können nicht mehr zusammenbleiben, denn ihr und ich, wir
sind zwei verschiedene Arten. Ich will mir jetzt die Erde ansehen.
Lebt wohl." Der Jüngste bog seitwärts ab und in den Busch ein.
Nachdem der Jüngste eine Zeitlang gegangen war, begegnete er
einem Manne, der hatte eine Unterlippe, die war so lang, daß sie bis
auf die Erde herabreichte, so daß der Mann sich nicht zu bücken
brauchte, wenn er trinken wollte. Der Jüngste sagte zu ihm: "Ich
glaube, du bist der rechte Kamerad für mich. Komm mit!" Der
Lippenmann ging mit. Nach einiger Zeit trafen sie einen Mann,
der hatte einen riesenhaften Bart, der war so mächtig, daß er eine
ganze Schafherde dahinter verbergen konnte. Der Jüngste sagte
zu ihm: "Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für uns. Komm
mit!" Der Bartmann ging mit den beiden andern. — Nach wiederum
einiger Zeit trafen sie einen Mann, der war so stark, daß er einen
Baum mitsamt den Wurzeln aus der Erde reißen und auf seinem
Kopfe heimtragen konnte. Der Jüngste sagte zu ihm: "Ich glaube,
du bist der rechte Kamerad für uns. Komm mit!" Der Baumstarke
ging mit den andern, so daß sie nun zusammen vier waren.
Nach einiger Zeit sagten der Lippenmann, der Bartmann und der
Baumstarke: "Wir müssen einen Führer unter uns haben." Der
Jüngste sagte: "So wählt einen Führer!" Der Lippenmann, der
Bartmann und der Baumstarke sagten: "Der Stärkste soll der
Führer sein!" Der Jüngste sagte: "So nehmt meine eiserne Debus.
Jeder soll sie in die Luft werfen. Wenn die eiserne Debus dann auf
die Erde zurückfällt, wird sie ein Loch schlagen. Derjenige, nach
dessen Hochwurf die Debus das tiefste Loch schlägt, der soll unser
Führer sein. Seid ihr einverstanden?" Der Lippenmann, der Bartmann
und der Baumstarke sagten: "Wir sind einverstanden."
Erst warf der Lippenmann. Er konnte die Debus etwas in die
Höhe heben, so daß sie nur wenig hoch flog und beim Niederfallen
nur eine flache Mulde in die Erde schlug. Ebenso war es, als
der Bartmann und der Baumstarke warfen. Dann aber ergriff der
Jüngste seine Debus, und der warf sie so hoch in die Luft, daß die
andern drei sie gar nicht mehr sehen konnten. Als die Debus dann
wieder herunterkam, fuhr sie so tief in die Erde hinein, daß man
sie gar nicht sah, und daß das Loch, das sie geschlagen hatte, tiefer
war als der tiefste Brunnen. Man mußte Arbeiter rufen, um sie
wieder auszugraben. Als die ersten drei Werfer das sahen, sagten
sie gemeinsam: "Der Jüngste muß unser Führer sein!" Der
Jüngste sagte: "Gut, dann wollen wir in den Wald gehen und die
Jagd pflegen." Der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke
waren einverstanden.
Die vier kamen in dem Walde bald an ein Haus, in dem einige
Wuarssen lebten. Der Jüngste sagte: "Das ist ein gutes Haus für
uns." Der Jüngste ging hinein und tötete die Wuarssen, dann
richtete er sich mit seinen Kameraden darin ein. Der Jüngste sagte:
"In Zukunft werden wir es so machen, daß immer einer daheim
bleibt und das Essen bereitet. Die andern drei gehen tagsüber in den
Wald und jagen. Seid ihr damit einverstanden?" Die andern drei
sagten: "Wir sind damit einverstanden."
So blieb denn jeden Tag einer daheim und bereitete für die andern
drei das Essen. Einmal war die Reihe an dem Lippenmann. Er bereitete
wie gewöhnlich das Essen, und da es , als es fertig war, noch
früh war, ging er nachher noch etwas vor das Gehöft und legte sich
im Freien hin, um sich auszuruhen. Als er so dalag, kam ein Löwe,
der brüllte und sagte: "Entweder du gibst mir das Essen, das du für
dich und deine drei Kameraden bereitet hast, oder ich verschlinge
dich!" Der Lippenmann erschrak und sagte: "Dann nimm nur
lieber das Essen." Er brachte dem Löwen das Essen, und der verschlang
es. Es blieb nichts übrig, und als die andern abends von
der Jagd nach Hause zurückkehrten, fanden sie nichts zum Essen
vor, und der Lippenmann sagte: "Als ich gerade fort war, brach ein
Löwe ein, fraß alles und lief wieder fort. Ich konnte ihn nicht mehr
einholen."
Am andern Tage blieb der Bartmann zu Hause. Und der Bartmann
kochte beizeiten, legte sich dann ins Freie und ruhte ein
wenig aus. Wie am Tage vorher kam auch bald der Löwe, der
brüllte und sagte: "Entweder du gibst mir das Essen, daß du für die
andern drei gekocht hast, oder ich verschlinge dich." Der Bartmann
erschrak wie der Lippenmann, gab das Essen und berichtete,
als abends die andern drei von der Jagd heimkehrten und kein Essen
vorfanden, ebenso wie am Tage vorher der Lippenmann. Am dritten
Tage hatte der Baumstarke die Küchenpflege, während der Jüngste
mit dem Lippenmann und dem Bartmann zur Jagd fortgingen. Es
kam aber geradeso wie an den beiden Tagen vorher, und als die
heimkehrenden Jäger wieder kein Essen vorfanden, sagte der
Baumstarke: "Ich hatte gerade einen kleinen Weg in den Wald gemacht,
um etwas Holz zum Brennen zu holen, als der Löwe kam,
alles Essen mit sich nahm und so schnell von dannen lief, daß ich
ihn nicht mehr einholen konnte." Der Jüngste sagte: "Morgen
werde ich die Küche besorgen und ihr drei geht in den Wald."
Am andern Tage kochte der Jüngste, nachdem die andern weggegangen
waren, das Essen. Nachdem er damit fertig war, legte er
sich in das Freie, um etwas auszuruhen. Seine Debus legte er aber
neben sich. Er lag noch nicht lange, so kam der große Löwe,
brüllte und schrie: "Entweder du gibst mir das Essen, das du für
dich und deine Kameraden bereitet hast, oder ich verschlinge dich!"
Der Jüngste sagte: "Dann komm und verschlinge mich!" Der Löwe
sprang dicht heran. Der Jüngste nahm seine Debus und schlug ihm
das Genick durch. Als der Löwe tot war, schnitt er ihm den Kopf
ab, warf den Körper in den Busch und legte das Löwenhaupt vor
den Wasserkrug.
Die andern drei kamen nach Hause. Der Jüngste sagte: "Das
Essen ist bereitet. In meiner Abwesenheit ist kein Löwe gekommen,
um das Essen zu verschlingen. Kommt und eßt." Sie setzten sich
alle vier um das Essen. Nach einiger Zeit sagte der Jüngste: "Ich
habe Durst, schöpfe mir doch einer Wasser." Der Lippenmann
ging. Er kam zu der Wasserurne, erschrak, als er den Löwenkopf
sah, kam zurück und sagte: "Ich kann nicht recht sehen." Der
Jüngste sagte: "Ein anderer kann vielleicht besser sehen!" Der
Bartmann stand auf, ging hin, erschrak vor dem Löwenkopf, kam
zurück und sagte: "In dem Kruge ist kein Wasser." Der Jüngste
sagte: "Du hast in den falschen gesehen, es muß Wasser da sein,
denn ich habe es selbst vorher noch gesehen!"
Der Baumstarke ging hinein, erschrak vor dem Löwenkopf, kam
sogleich zurück und sagte: "Der Topf ist zerbrochen, es ist kein
Wasser da." Da erhob sich der Jüngste, ging hin, nahm den Wasserkrug
und stellte ihn neben die andern drei. Er nahm den Löwenkopf,
warf ihn zwischen sie und sagte: "Ihr seid zu schwach und zu
furchtsam. Mit euch zusammen kann ich nicht leben."
Er nahm seine eiserne Debus und ging allein fort in den
Wald.
8. Der Drachenkampf (1. Form)
Ein Mann hatte sieben Frauen, von denen hatte jede einen
Jungen. Als die sieben Burschen erwachsen waren, sagte der
Mann eines Tages zu ihnen: "Jeder von euch soll seine eigene Mutter
totschlagen. Wer von euch das nicht tut, der ist nicht mehr mein
eigener Sohn. Ich erkenne ihn nicht mehr an." Sechs von den
Burschen gehorchten ihrem Vater und erschlugen ihre Mutter. Der
Jüngste aber vermochte es nicht, dem Befehle seines Vaters nachzukommen.
Der Vater sagte zu seinem Sohne: "Geh aus dem Hause,
du bist nicht mehr mein Sohn." Der Jüngste sagte zu seiner Mutter:
"Komm mit mir. Wir verlassen das Gehöft meines Vaters, ich werde
für dich sorgen."
Der jüngste Sohn nahm seinen Säbel und zog sein Pferd aus dem
Stalle. Er hatte zwei Löwen, die hatte er von Jugend an aufgezogen,
und sie folgten ihm überall hin. Der Sohn verließ mit seiner Mutter
das Haus seines Vaters. Die Löwen liefen hinter ihm her. Sie zogen
in die Steppe. Mehrere Tage lang übernachteten sie im Freien.
Eines Nachmittags sah der Bursche in der Entfernung ein Haus.
Er hieß seine Mutter mit den Löwen zurückbleiben und nahm seinen
Säbel. Er ging auf das Gehöft zu, und da er es offen fand, auch
hinein. Der Bursche sah sogleich, daß die eine Seite des Gehöftes
bewohnt war, die andere aber nicht. Er ging also in die leere Kammer,
warf sich auf den Boden und ruhte aus. Er schlief ein. Als es
Abend war, erwachte er von einem starken Geräusch. Er blickte
durch einen Spalt der Haustür und sah, daß die Bewohner des Gehöftes
sieben Wuarssen waren, die soeben heimkehrten.
Einer der Wuarssen sah, daß die Tür zur entgegengesetzten
Wohnung, in der der Bursche weilte, zugemacht war. Er rief also
über den Hof hinüber: "Höre, du Fremder, du kommst uns gerade
zurecht. Wir wollen mit dir kämpfen. Komm heraus." Der
Bursche antwortete: "Das will ich schon tun. Aber es ist nicht
recht, von mir, der ich allein bin, zu verlangen, daß ich gegen
sieben auf einmal kämpfe. Geht also in euer Haus. Dann kommt
einer nach dem andern heraus und kämpft einzeln mit mir." Die
Wuarssen sagten: "Der Fremde hat recht. Es ist billig, daß einer
gegen einen kämpft. Wir wollen in das Haus gehen und nur einen
auf dem Hofe lassen. Den Burschen werden wir auch so bald in
unserem Suppentopf haben."
Sechs der Wuarssen gingen in das Haus. Einer blieb draußen.
Der Bursche trat ebenfalls mit seinem Säbel heraus. Der Wuarssen
kam heran. Der Bursche ergriff seinen Säbel, schlug und trennte
dem Wuarssen den Kopf vom Leibe. Der Bursche rief: "Der zweite
Wuarssen soll herauskommen. Der zweite Wuarssen kam heran.
Der Bursche ergriff seinen Säbel, schlug und trennte dem Wuarssen
den Kopf vom Leibe. Er rief nach dem dritten, dem vierten, dem
fünften und sechsten Wuarssen und schlug allen, einen nach dem
andern, den Kopf ab.
Der Bursche rief: "Der siebente Wuarssen soll herauskommen."
Der siebente Wuarssen kam. Der Bursche ergriff seinen Säbel und
schlug. Er hatte aber nicht mehr so viel Kraft wie im Anfange, und
sein Säbel war außerdem so schartig geworden, daß er neu geschliffen
werden mußte. So vermochte er dem siebenten nicht wie
den anderen mit einem Streich den Kopf vom Rumpfe zu schlagen,
sondern er konnte ihm nur den Hals durchschlagen, so daß der
Wuarssen wie tot hinfiel und der Kopf zur Seite hing. Dann nahm
der Bursche den Wuarssen, trug ihn in die hinterste Kammer und
schloß sie hinter sich zu.
Der Bursche ging im Hause umher und betrachtete den ganzen
Reichtum (=tricha) der Wuarssen. Er sah, daß es ein Haus
war, das sehr geeignet war, darin zu wohnen. Und somit ging
er von dannen und rief seine Mutter und seine Löwen herbei. Alle
richteten sich im Hause gut ein und lebten einige Zeit von den
Vorräten, die die Wuarssen für sich selbst aufgespeichert hatten.
Dann kam eine Zeit, in der das Korn in den Krügen ausging, und
der Bursche mußte hinziehen und auf der Jagd Beute suchen. Der
Bursche ging sehr viel auf die Jagd, und da die Löwen ihn immer
begleiteten, so kam es, daß die Mutter viel im Gehöft allein war.
Eines Tages war der Sohn wieder auf der Jagd. Die Mutter ging
allein im Hofe umher. Sie hörte aus einem Winkel stöhnen. Sie
ging den Lauten nach und sah, daß die Laute aus einer Kammer
kamen, die verschlossen war und die die Mutter noch niemals vorher
betreten hatte. Sie öffnete die Tür und blickte hinein. Da lag
der Wuarssen am Boden, der verwundet war. Der Wuarssen jammerte.
Die Frau sah ihn leiden. Sie ging hin und brachte ihm von
dem Fleische des Wildes, das ihr Sohn erlegt hatte. Sie pflegte ihn.
Als sie ihren Sohn kommen hörte, schlich sie hinaus und schloß die
Tür hinter sich, damit er nicht merke, wo sie gewesen sei.
Jeden Tag ging der Sohn mit seinen Löwen zur Jagd. Jeden Tag
ging die Mutter zu dem Wuarssen hinein und pflegte ihn. Der
Wuarssen kam wieder zu Kräften. Eines Tages war der Wuarssen
genesen. Er sagte zu der Mutter: "Ich danke dir. Ich will dir geben,
was du auch von mir wünschst, und wenn es mein eigener Kopf
ist." Die Mutter sagte: "Ich will nicht deinen Kopf und ich will
nicht dein Geld. Wenn du mir danken willst, so heirate mich."
Der Wuarssen sagte: "Ich will dich sehr gern heiraten, aber ich
fürchte deinen Sohn. Dein Sohn hat sechs Wuarssen getötet. Er
hätte auch mich umgebracht, wenn an dem Tage sein Säbel nicht
schartig geworden wäre. Trifft er mich, so wird er mich jetzt sicher
töten. Dein Sohn wird mich umbringen." Die Mutter sagte:
"Warte, ich werde meinen Sohn selbst töten."
Der Wuarssen heiratete die Mutter. Nachts sagte die Mutter:
"Morgen werde ich meinen Sohn töten." Als am andern Morgen
die Mutter erwachte und der Sohn sich aufmachen wollte zur Jagd,
sagte sie: "Mein Sohn, du bist jetzt immer so viel fort. Ich habe
dich jetzt niemals mehr bei mir. Jeden Tag reitest du zur Jagd.
Heute bleibe nun einmal daheim. Ich bitte dich." Der Sohn sagte:
"Gut, so will ich heute einmal daheim bleiben." Die Mutter sagte:
"Ich danke dir, daß du mir diesen Tag schenkst. Nun wollen wir
miteinander plaudern. Tu mir aber noch einen Gefallen. Diese
beiden Löwen nehmen mir alle Ruhe. Ich bitte dich, sperre sie
für heute einmal in die Baerka (= Olivenspeichertopf), so daß sie
nicht immer zwischen uns herumstreifen." Der Bursche rief die
Löwen in das Haus, hieß sie in die Baerka steigen, ermahnte sie
zur Ruhe und sagte: "Bleibt ruhig hier liegen, bis ich euch rufe."
Dann deckte er die Baerka zu. Er kehrte zur Mutter zurück und
sagte: "Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Die Löwen sind in der
Baerka."
Die Mutter plauderte mit dem Burschen. Die Mutter sagte: "Wir
wohnen hier sehr einsam. Stets, wenn du fort bist, sorge ich mich.
Wenn jemand uns überfallen will, sind wir ihm preisgegeben." Der
Sohn sagte: "Ängstige dich nicht, ich bin stark." Die Mutter sagte:
"Gegen zwei oder drei magst du stark genug sein. Aber weißt du
denn überhaupt, wie weit du dich auf deine Stärke verlassen kannst?
Kennst du denn das Maß deiner Stärke?" Der Sohn sagte: "Gewiß,
ich kenne das Maß meiner Stärke." Die Mutter sagte:
"Komm, erzähle mir." Der Sohn sagte: "Wenn man mich aufrecht
mit den Haaren des Wirbels an einem Holzpfeiler festbindet
und dann meine Hände nach hinten mit einem Tegust (Frauengurtschnur
aus
Wolle, sehr fest) festbindet, bin ich immer noch
imstande, mich loszureißen. Bindet man mich in solcher Stellung
aber mit einem Akursi (Frauengurtschnur aus
Seide, noch viel
fester), so kann ich mich nicht mehr losreißen."
Die Mutter sagte: "Es macht mir Freude, den Beweis deiner
Stärke zu sehen. Darf ich dich mal mit einem Tegust festbinden?"
Der Bursche sagte: "Tue es." Er stellte sich aufrecht an einen
Holzpfeiler. Die Mutter band ihn mit den Haaren des Wirbels am
Hinterkopfe fest. Er schlug seine Hände um den Holzpfeiler, und
sie band sie hinten mit einem Tegust zusammen. Sie trat zurück
und sagte: "Nun zeige mir deine Kraft." Der Bursche streckte sich,
stemmte die Arme an und zersprengte die wollene Gürtelschnur.
Die Mutter sagte: "Es ist wahr, deine Kraft ist ganz außerordentlich.
Sollte es aber doch nicht gelingen, auch die Akursi zu sprengen?"
Der Bursche sagte: "Nein, es wird nicht gelingen." Die
Mutter sagte: "Darf ich das nicht auch sehen? Laß es uns versuchen."
Der Bursche lachte und sagte: "Es ist mir recht."
Der Bursche stellte sich wieder aufrecht an den Holzpfeiler. Die
Mutter band ihn mit den Haaren des Wirbels am Hinterkopfe fest.
Er schlug seine Hände um den Holzpfeiler, und sie band sie hinten
mit einem Akursi zusammen. Sie trat zurück und sagte: "Nun versuche
nochmals deine Kraft." Der Bursche streckte sich und
stemmte die Arme gegen den Pfeiler. Er vermochte sich nicht zu
befreien. Die Mutter sagte: "Du vermagst dich also nicht zu entfesseln?"
Der Sohn sagte: "Nein, ich vermag es nicht. Binde mich
wieder ab." Die Mutter sagte: "Warte einen Augenblick." Die
Mutter lief fort.
Die Mutter lief in die Kammer, in der sich der Wuarssen befand.
Die Mutter sagte zum Wuarssen: "Die Löwen meines Sohnes sind
in der Baerka eingeschlossen. Mein Sohn ist mit dem Kopfwirbel
und mit den Händen festgebunden. Er kann sich nicht bewegen.
Komm schnell und töte ihn." Der Wuarssen trat aus der Kammer.
Der Bursche sah den Wuarssen kommen. Der Bursche erkannte,
daß er verraten war. Der Bursche sagte zum Wuarssen: "Ich werde
doch gleich sterben. Erlaube mir noch einige Worte." Der Wuarssen
sagte: "Du wirst gleich sterben, also kannst du noch einiges
sagen." Der Wuarssen blieb in einiger Entfernung stehen. Der
Bursche sagte laut: "Meine Löwen, wenn ihr wüßtet, wie ich hier
wehrlos angebunden bin, würdet ihr aufspringen und herkommen,
um mich zu retten." Der Bursche sagte es. Die beiden Löwen
sprangen in der Baerka gegen den Deckel und hoben ihn empor.
Sie sprangen heraus und auf den Hof. Sie stürzten sich auf den
Wuarssen und zerrissen ihn. Dann liefen sie zu dem Burschen,
nagten mit den Zähnen die Akursi durch und lösten ihn so. Der
Bursche dankte den Löwen.
Der Bursche ging in den Stall und zog sein Pferd heraus. Er
führte es aus dem Gehöft. Er sprach kein Wort mehr, rief die
Löwen, schloß die Gehöfttür ab, bestieg sein Pferd und ritt allein,
gefolgt von den beiden Löwen, von dannen.
Der Bursche ritt weit von dannen. Seine Löwen folgten ihm stets
nach. Eines Tages kam er an eine Stelle, an der entquoll der Erde
eine Quelle. Die Quelle floß aber ganz schwach, denn es wohnte in
der Quelle eine Schlange mit sieben Köpfen. In der Nähe war eine
Stadt, deren Bewohner das Wasser der Quelle benötigten. Die
Schlange überließ diesen das wenige, das dorthin floß, aber auch
nur unter der Bedingung, daß jeden Tag ein junges Mädchen der
Stadt der Schlange eine große Schale voll s'skou (Kuskus, gesprochen
s'sku) mit einer Hammelkeule brachte. Wenn das Mädchen
die Hammelkeule brachte, verschluckte die Schlange das Essen
mitsamt dem Mädchen. Die Mädchen mußten aber der Reihe nach
das Essen bringen.
An dem Tage, als der Bursche mit den Löwen zur Quelle kam,
war die Reihe, die Schlange zu speisen, an der Tochter des Amin der
Ortschaft. Als der Bursche von der einen Seite heranritt, kam das
Mädchen von der anderen. Der Bursche sagte; "Ich habe Hunger,
du trägst dort reichlich Essen. Gib mir von dem Essen." Die Tochter
des Amin sagte: "Verzeih mir, aber ich darf dir von dem Essen
nichts geben. Es ist für eine siebenköpfige Schlange bestimmt, die
in dieser Quelle wohnt und die das wenige Wasser, welches du dort
zur Stadt rinnen siehst, auch nur unter der Bedingung spendet,
daß jeden Tag ein Mädchen eine Schale Kuskus, eine Keule und
sich selbst ihr zum Essen darbringt. Würde der Kuskus, die Keule
oder das Mädchen der Schlange nicht dargebracht, so würde auch
das wenige Wasser, welches die Bewohner der Ortschaft vor dem
Verdursten schützt, von der Schlange zurückgehalten werden."
Der Bursche sagte: "Meine Löwen und ich haben ebensolchen
Hunger wie diese siebenköpfige Schlange. Uns kann die Schlange
keinen großen Schrecken einjagen. Ich schlage dir also folgendes
vor: Gib meinen Löwen die Keule, gib mir den Kuskus, und wir
sorgen dann dafür, daß du nicht von der Schlange gefressen wirst,
ohne daß die Bewohner deiner Ortschaft deshalb irgendeinen Schaden
erleiden sollen." Das Mädchen sagte: "Wenn du es so machen
kannst, bin ich damit einverstanden."
Die Löwen fraßen die Keule. Der Bursche verzehrte den Kuskus.
Dann sagte er zu dem Mädchen: "Nun setze dich hierher auf den
Boden. Ich werde etwas schlafen und will meinen Kopf in deinen
Schoß legen. Sobald die Schlange sich zeigt, wecke mich." Das
Mädchen setzte sich nieder. Der Bursche legte seinen Kopf auf
ihren Schoß und schlief ein. Als es Mittag war, erhob sich die
Schlange in der Quelle. Sie streckte einen Kopf empor. Da erschrak
das Mädchen so, daß sie weinen mußte, und eine ihrer Tränen
fiel in das Antlitz des Burschen. Der Bursche wachte auf, der
Bursche sah die Schlange, der Bursche sprang auf.
Der Bursche sprang mit dem Säbel auf die Schlange zu und hieb
ihr einen Kopf ab. Die Schlange sagte: "Das war nicht mein
rechter Kopf." Der Bursche sagte: "Es war auch nicht mein rechter
Hieb." Die Schlange erhob einen zweiten Kopf. Der Bursche
hieb ihn ab. Die Schlange sagte wieder: "Das war auch nicht mein
rechter Kopf." Und der Bursche sagte wieder: "Das war auch nicht
mein rechter Hieb." Die Schlange hob so ihren dritten, vierten,
fünften und sechsten Kopf hoch, und jedesmal, wenn der Bursche
ihn abgeschlagen hatte, sagte sie: "Es war nicht mein rechter
Kopf," worauf der Bursche jedesmal antwortete: "Es war auch
nicht mein rechter Hieb." Als aber die Schlange auch den siebenten
Kopf erhob und der Bursche auch den abgeschlagen hatte, sagte
sie: "Das war mein rechter Kopf," und der Bursche antwortete:
"Das war auch mein rechter Hieb." Die Schlange starb am Rande
der Quelle, und sogleich begann die Quelle als ein breiter Strom
nach der Stadt hinzufließen.
Das Mädchen sah dem Kampf weinend vor Angst zu. Als sie
sah, daß der Bursche die Schlange tötete, nahm sie einen der beiden
Schuhe, die er beim Schlafe abgestreift hatte und eilte damit in die
Ortschaft zu ihrem Vater. Als der Bursche von der Quelle und der
Leiche der Schlange zurücktrat, fand er nur noch einen Schuh. Er
schämte sich, mit dem einen Schuh zu gehen, steckte ihn also ein,
bestieg sein Pferd, rief seine Löwen und ritt langsam dem Orte zu.
Im Orte ging er in die Djemaa (= Moschee) und legte sich dort
nieder.
Die Tochter kam zu ihrem Vater, dem Amin, und sagte: "Die
Schlange hat mich nicht verzehren können, es kam ein Mann, der
tötete sie. Sogleich floß das Wasser als breiter Strom; komm auf
das Dach des Hauses und sieh es." Der Amin stieg mit der Tochter
auf das Dach und sah das Wasser als breiten Strom fließen. Da war
er froh, daß seine Tochter gerettet, die Stadt von dem schrecklichen
Untier befreit und für die Zukunft reichlich mit Wasser versorgt
war. Er sagte zu seiner Tochter: "Wer war der Mann, der die
Schlange getötet und mir und der ganzen Stadt das Glück bereitet
hat? Ich will ihn reichlich belohnen." Die Tochter sagte: "Ich
weiß nicht, wer es war. Ich habe dem Mann aber einen Schuh genommen.
Nur der, der den anderen dazugehörigen aufweisen kann,
ist der rechte."
Der Vater ließ alle Leute des Ortes zusammenkommen. Er sagte
ihnen: "Ein Mann hat die siebenköpfige Schlange getötet, meine
Tochter gerettet und der Stadt einen Überfluß an Wasser gespendet.
Der Mann, der uns dieses Glück geschenkt hat, soll sich melden,
denn ich will ihn reichlich belohnen." Die Leute warteten eine
Zeitlang. Es meldete sich niemand. Ein Mann sagte: "Ich war es."
Der Amin sagte: "Geh dorthin." Der Mann ging dorthin, ein
Sklave zeigte ihm den Schuh und fragte: "Hast du den anderen?"
Der Mann sagte: "Nein, ich habe nicht einen solchen." Der Sklave
ging zum Amin und sagte: "Dieser ist nicht der Mann, der die
siebenköpfige Schlange tötete." Der Amin sagte zu den Leuten:
"Der Mann, der sich eben meldete, war nicht der Schlangentöter.
Welcher ist nun der Schlangentöter?" Andere meldeten sich. Die
anderen wurden aufgefordert, den fehlenden Schuh vorzuzeigen.
Sie konnten es alle nicht.
Endlich sagte der Amin: "Keiner von denen, die sich meldeten,
war der, der die siebenköpfige Schlange tötete. Ist denn sonst kein
Mann in dem Orte, der es ausgeführt haben könnte, aber nicht unter
uns ist?" Einer unter den Anwesenden erhob sich und sagte: "Ich
sah einen Fremden ankommen. Er ist in der Djemaa; soll ich hingehen,
ihn zu rufen?" Der Amin sagte: "Ja, gehe hin und rufe
ihn." Der Fremde kam. Hinter ihm gingen zwei Löwen. Der
Amin fragte: "Warst du es, der die Schlange getötet, meine Tochter
gerettet und die Stadt von der Wassersnot befreit hat?" Der fremde
Bursche sagte: "Ich war es." Der Amin sagte: "Hast du keine
Schuhe?" Der Bursche sagte: "Ich habe nur noch einen Schuh,
das ist dieser, der andere ist mir abhanden gekommen." Er reichte
dem Amin den Schuh. Der Amin ließ sich von dem Sklaven den
anderen geben. Es war der rechte Schuh. Der Amin sagte: "Du
hast die Schlange getötet."
Der Amin baute für den Burschen ein Haus. Der Amin gab ihm
seine Tochter zur Frau. Der Bursche lebte sehr glücklich.
Eines Tages wurde der Bursche traurig. Er sagte zu seiner Frau:
"Meine Frau, ich habe Sehnsucht nach meiner Mutter, die ich allein
zurückgelassen habe. Ich will hinreiten und sehen, ob meine Mutter
noch lebt." Der Bursche nahm Abschied. Er bestieg sein Pferd.
Er ritt zurück zu dem Hause, in dem er die Wuarssen getötet und
seine Mutter eingeschlossen hatte. Er klopfte an die Tür. Seine
Mutter öffnete. Der Bursche öffnete das Haus und sagte: "Meine
Mutter, ich hatte Sehnsucht nach dir, komm mit in mein Haus, ich
habe die Tochter eines Amin geheiratet." Er ritt mit seiner Mutter
zurück. Er erzählte seiner Mutter von dem Kampfe mit der
Schlange. Als sie an der Stelle vorüberkamen, an der die tote
Schlange lag, sagte seine Mutter: "Ich will die Köpfe besehen."
Sie beugte sich nieder und brach heimlich die giftigen Zähne der
Schlange heraus und versteckte sie in ihrem Gewande.
Der Bursche kam mit seiner Mutter in seinem Hause an. Die
Mutter sagte zu der jungen Frau ihres Sohnes: "Ich war lange nicht
mit meinem Sohne zusammen. Ich möchte mich heute nacht lange
mit ihm unterhalten. Geh also für diese Nacht, laß mich mit meinem
Sohne allein und schlafe du im Hause deines Vaters." Die
junge Frau ging hinüber in das Haus ihres Vaters. Als der Sohn
für eine Besorgung auf kurze Zeit die Kammer verlassen hatte,
rieb die Mutter eine Stelle seines Lagers mit den giftigen Zähnen
der Schlange ein.
Der Sohn kehrte zurück und streckte sich auf seinem Lager
nieder. Er fühlte sofort einen großen Schmerz. Er fühlte den
Schmerz des Giftes. Der Bursche starb... . Als die junge Frau,
der Amin und die Leute am andern Tage kamen, fanden sie den
Burschen tot auf seinem Lager. Sie wurden alle sehr traurig. Dann
begruben sie den Burschen.
Als der Bursche nun nicht wieder kam, wurden die Löwen
zornig. Sie gingen im Orte hin und her, und alle Leute flohen entsetzt
in die Häuser. Das ging so einige Tage. Dann sagte ein alter
Mann: "Das geht so nicht weiter." Er ging vorsichtig heraus,
machte den Löwen ein Zeichen, daß sie ihm schweigend folgen
sollten und zeigte den Löwen den Weg nach dem Grabe des Burschen.
Er wies auf das frische Grab und entfernte sich. Die Löwen
begannen sogleich zu scharren. Sie scharrten alle Erde weg. Sie
zogen die Leiche des Burschen heraus. Sie begannen die Leiche
abzulecken. Sie leckten die Stelle, wo der Bursche auf dem Schlangengift
gelegen hatte, ganz rein. Als sie alles Gift abgeleckt hatten,
begann der Bursche wieder zu leben, und er erhob sich. Die beiden
Löwen starben aber sogleich, weil sie mit dem Lecken das Gift in
sich aufgenommen hatten. Der Bursche begrub sie in dem Grabe,
das für ihn aufgerissen war.
Nachdem der Bursche die beiden Löwen begraben hatte, begab
er sich traurig nach Hause. In seinem Hause traf er seine Mutter,
die ihn entsetzt anstarrte. Der Bursche sagte: "Ich danke dir. Ich
danke dir. Ich danke dir." Er lachte höhnisch, ergriff seinen Säbel
und schlug seine Mutter in Stücke.
9. Der Drachenkampf (2. Form)
Ein Mann heiratete eine Frau. Die gebar einen Sohn, den
nannte er Ali Eines Tages starb die Mutter dieses Ali da
heiratete der Mann eine Witwe, die brachte einen Sohn mit in die
Ehe, der hieß auch Ali und der zweite Ali war dem ersten Ali zudem
noch so ähnlich, daß die Mutter ihren rechten Sohn von ihrem
Stiefsohn nicht zu unterscheiden wußte und beide Aus ständig miteinander
verwechselte.
Da sie nun ihren Sohn nicht unter den beiden Aus herausfinden
konnte, ging sie zu einem alten Mann und sagte: "Mein Stiefsohn
und mein rechter Sohn heißen beide Ali Sie sehen einander so ähnlich,
daß ich sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Wie
kann ich es nun anfangen, daß ich meinen eigenen Ali vom Stiefali
unterscheide?" Der alte Mann sagte: "Nimm einen kleinen
Topf mit Blut. Laß dich irgendwo in der Nähe, aber außer Sicht der
beiden Ali hinfallen, spritze das Blut um dich und schreie laut:
,Mein Sohn Ali Mein Sohn Ali Ein Ochse hat mich angerannt
und verwundet!' Sofort wird einer der beiden Aus schneller als der
andere All herzuspringen. Das ist dann dein Ali der aber, der
hinterher kommt, das ist der Stiefali." Die Mutter bedankte sich
für den Rat und ging nach Hause.
Daheim füllte sie einen Topf mit Blut, ließ sich bei der ersten Gelegenheit,
als die beiden Brüder in der Nähe waren, hinfallen,
spritzte das Blut um sich und schrie: "Mein Sohn Ali Mein Sohn
Ali Ein Ochse hat mich angerannt und verwundet!" Sogleich
lief der rechte Sohn Ali herbei, während der andere langsamer
hinterher kam. Da merkte sie sich den rechten Ali und verlor ihn
von dem Tage an nicht mehr aus dem Gedächtnis.
Von nun an unterschied die Frau die beiden Ali sehr sorgfältig.
Dem eigenen Ali gab sie stets die beste Speise, dem anderen allerhand
Abfälle. Der eigene Ali wurde mit allen leichten Arbeiten betraut,
der Stiefali mit allen schwierigen. Je älter die Burschen
wurden, desto besser wurde das Essen des rechten Ali und desto
magerer das des Stiefali. Eines Tages nun, nachdem der Stiefali
während einer Woche so gut wie nichts zu essen, desto mehr dafür
aber zu arbeiten bekommen hatte, sagte er zu seinem Bruder:
"Mein Bruder Ali so wie es mir jetzt geht, kann das nicht weiter
bleiben. Sieh selbst, was ich zu essen bekomme und sieh selbst, was
ich arbeiten muß. Und das wird so immer schlimmer, immer schlimmer
werden, bis ich eines Tages wie ein alter verbrauchter Esel tot
am Wege liegen werde." Der rechte Ali weinte fast vor Trauer und
sagte: "Mein Bruder Ali was soll ich dabei tun? Sage mir, was ich
tun kann! Soll ich meine Mutter töten?"
Der Stiefahi beruhigte den rechten Ali und sagte: "Nein, mein
Bruder, du sollst nichts Schlimmes und nichts wider die Natur Gerichtetes
tun. Du sollst die gute Pflege deiner Mutter in Ruhe
weitergenießen. Ich aber will in die Ferne ziehen, weit fort, will
mir selbst eine Stätte suchen, wo ich mich nach meinen Bedürfnissen
einrichte. Ehe ich nun aber fortziehe, will ich zwei Orangenbäumchen
pflanzen, eines für dich, eines für mich. Beobachte mein
Bäumchen. Solange es mir gut geht, wird das Bäumchen grünen
und frisch aussehen. Wenn das Bäumchen aber eines Tages welkt
und die Blätter hängen läßt, dann, mein Bruder Ali geht es mir
schlecht, dann sieh zu, ob du irgend etwas tun kannst, um mir zu
helfen." Damit nahm der Stiefali vom rechten Ali Abschied und
zog von dannen.
Auf der Wanderschaft traf der Stiefali eines Tages Schäfer, die
ihre Hammelherden mit großer Mühe hüteten. Es lebte nämlich
in der Gegend eine große und sehr starke Löwin, die brach jede
Nacht in den Stall ein, schlug einige Hammel und schleppte ein
Tier von dannen. Das erzählten die Hirten dem Ali und sie fragten
ihn, ob er ihnen vielleicht einen Rat geben könne, wie sie sich von
dieser Plage befreien könnten. Ali dachte über die Sache nach und
sagte dann zu den Hirten: "Was gebt ihr mir, wenn ich euch die
Löwin töte und euch so die schwere Last nehme." Die Schäfer
sagten: "Wir geben dir, wenn dir dies gelingt, täglich den Hammel,
den sonst die Löwin mit weggeschleppt hat." Damit war Ali zufrieden.
Er legte sich nachts in das Gebüsch, und als die Löwin
in die Hürde einbrechen wollte, fiel er über sie her und tötete sie mit
einem Säbeistreiche. Er zog ihr die Haut ab und zeigte sie den
Hirten. Die Schäfer waren sehr erfreut und dankten ihm. Sie
schenkten Ali einen Teil der Herde. Ali sagte aber: "Hütet mir die
Herde noch, ich bitte euch darum. Ich will noch weiter wandern,
und bis ich zurückkomme, hütet meine Schafe mit den anderen."
Die Schäfer waren einverstanden, und der Stiefali zog mit der
Löwenhaut weiter.
Nachdem Ali einige Tage lang gewandert war, kam er an eine
Stelle, an der die Hirten eine große Ochsenherde weideten. Die
Hirten lebten aber in ständiger Furcht; denn in der Gegend hauste
ein mächtiger Eber, der fuhr jeden Abend in die Ochsenherde und
schlitzte mit seinen Hauern einem Ochsen den Bauch auf. Die
Hirten verloren aber derart nicht nur viel Vieh, sondern sie fürchteten
auch stets, selbst zerrissen zu werden. Sie klagten also Ali
als er mit seiner Löwenhaut zu ihnen kam, ihr Leid und fragten ihn,
ob er ihnen einen Rat geben könne. Ali dachte eine Weile über die
Sache nach und sagte dann: "Was gebt ihr mir, wenn ich euch von
der Plage befreie und den Eber töte?" Die Hirten sagten: "Wir
schenken dir einen Ochsen." Der Stiefali sagte: "Es ist gut." Er
verbarg sich also abends im Gebüsch neben der Fährte des Ebers und
wartete. Richtig kam nach einiger Zeit das ungeheure Tier, und
Ali stürzte mit dem Säbel auf ihn und schlitzte ihm mit einem
Hiebe den Bauch auf. Danach zog er dem Eber das Fell ab und
ging in das Lager. Am andern Morgen zeigte er den Hirten das
Fell. Die Hirten waren sehr erfreut, dankten ihm und schenkten
ihm einen starken Ochsen. Ali sagte: "Ich bitte euch, treibt den
Ochsen noch einige Zeit in eurer Herde weiter. Ich selbst will nämlich
noch ein wenig weiterwandern und werde mir meinen Ochsen
erst dann, wenn ich zurückgekommen sein werde, ausbitten." Die
Hirten versprachen Ali ihm den Ochsen hüten zu wollen, und Ali
zog mit dem Löwenfell und der Eberhaut weiter.
Ali kam in die Gegend einer Stadt, bei der eine Quelle war, die
aber von einer riesigen Schlange gehütet wurde. Diese Schlange gewährte
den Einwohnern der Stadt nur das allernotwendigste Wasser
und auch dies nur unter der Bedingung, daß ihm jeden Tag ein
junges Mädchen eine große Schale mit Kuskus mit einem Stück
Fleisch darauf brachte. Wenn nun der Kuskus und das Fleisch der
Schlange nicht genügten, so pflegte die Schlange das überbringende
Mädchen mit zu verschlingen. Bei diesem Speisebringen lösten sich
aber die Mädchen der Stadt untereinander ab.
Ali kam an die Quelle. Er wollte trinken, da kam gerade das
Mädchen, das an diesem Tage die Aufgabe hatte, der Schlange das
Essen zu bringen. Es war aber dies die Tochter des Landesfürsten
(Sultan). Ali hatte großen Hunger. Er bat das Mädchen und sagte:
"Gib mir von dem Kuskus ab." Die Fürstentochter antwortete:
"Du bist ein Fremder und weißt deshalb nicht, was es mit diesem
Kuskus für eine Bewandtnis hat. In dieser Quelle lebt eine riesige
Schlange, und jeden Tag muß eine von uns Mädchen der Stadt dem
Tiere eine solche Schale voll Kuskus und Fleisch darauf geben, damit
die Schlange der Stadt das notwendigste Wasser abgibt. Genügt
der Kuskus und das Fleisch der Schlange nicht, so verschlingt
die Schlange die Überbringerin. Du siehst also, daß ich in noch
größere Lebensgefahr, als ich jetzt schon zu erdulden habe, kommen
würde, wenn ich dir von der Speise abgeben würde." Ali hörte
aufmerksam zu, überlegte und warf dann sein Löwenfell und die
Haut des Ebers hin.
Ali sagte: "Überlaß mir getrost den Kuskus. Es genügt, wenn
wir der Schlange das Fleisch geben. Ich kann dir versprechen, daß
wir die Schlange nicht zu fürchten haben werden. Ich habe die
Löwin besiegt, ich habe den Eber überwunden, ich werde auch die
Schlange töten, und dann seid ihr in der Stadt die Plage mit einem
Male los." Das Mädchen weinte vor Angst; es gab aber dem Drängen
Aus nach. Ali aß den ganzen Kuskus auf und sagte: "Ich bin
vom Wandern etwas müde. Setze dich hierher, dicht an die Quelle,
ich will meinen Kopf auf deinen Schoß legen und schlafen. Desto
stärker bin ich dann für den Kampf mit der Schlange. Wecke du
mich nur, wenn die Schlange kommt." Die Tochter des Fürsten
setzte sich hin. Ali legte den Kopf in ihren Schoß und schlief sogleich
ein.
Ali schlief schon einige Zeit, da erhob die Schlange ihr Haupt aus
der Quelle, ängstlich schreckte die Tochter des Fürsten zurück. Sie
mochte aber Ali nicht wecken. Ihre Angst schwoll. Es traten ihr
Tränen in die Augen. Eine große Träne fiel auf Aus Stirn. Ali erwachte
und erhob den Kopf. Ali sah die Schlange. Ali sprang auf,
ergriff seinen Säbel, schlug und traf die Schlange, so daß sie jäh
zurückschreckte. Die Schlange sagte: "Du hast mich nicht getroffen."
Ali sagte: "Es war auch nicht mein rechter Hieb." Ali
schlug wieder und traf wieder die Schlange, so daß diese jäh zurückschreckte.
Die Schlange sagte aber wieder: "Du hast mich nicht getroffen,"
worauf Ali entgegnete: "Es war auch nicht mein rechter
Hieb." Das wiederholte sich sechsmal. Als Ali die Schlange das
siebente Mal schlug, nahm er alle Kraft zusammen, und er traf die
Schlange hart, so daß sie niedersank und sagte: "Jetzt hast du mich
getroffen," worauf Ali entgegnete: "Das war auch mein rechter
Hieb."
Die Schlange starb. Sowie sie gestorben war, begann das Wasser
der Quelle stark zu rinnen, immer stärker und zuletzt als Fluß dahinzufließen.
Ali blickte auf das Wasser und ging ihm ein Stück weit
nach. Er hatte aber seine Schuhe stehen gelassen. Als er sich abwendete,
ergriff die Tochter des Fürsten schnell einen der Schuhe
und schob ihn unter ihr Gewand. Dann nahm sie die leere Kuskusschale
und eilte der Stadt zu. Ali kam zurück. Das Mädchen war
fort. Er suchte seine Schuhe, fand aber nur noch einen. Er steckte
ihn ein, hing das Löwenfell und die Eberdecke um, ging auch in
die Stadt und suchte das Haus eines Kaffeewirtes auf, bei dem
er blieb.
Das Mädchen kam nach Hause. Der Fürst sah erstaunt, daß
seine Tochter schon zurückgekehrt war. Er herrschte sie an und
sagte: "Wie kommt es, daß du schon heim kommst, ehe es noch
Abend ist, ehe du also deine Aufgabe ganz erfüllt hast? Bist du
etwa aus Furcht entflohen?" Die Tochter des Fürsten sagte:
"Glaube nicht so etwas von deiner Tochter. Ich wäre bei der
Schlange bis zur Beendigung des Mahles und bis zum Abend geblieben
und wenn sie mich verschlungen hätte. Die große Schlange,
die uns das Wasser hemmt und die Mädchenspeisung fordert, ist
aber soeben getötet worden!" Der Fürst erstaunte und sagte: "Was,
die Schlange ist getötet worden? Wer hat dies vermocht?" Die
Tochter sagte: "Das tat ein Mann, der mit einem Löwenfell und
einer Eberhaut des Weges kam. Wenn du dich von der Wahrheit
dessen, was ich sage, überzeugen willst, so geh auf das Dach des
Hauses und sieh nach der Seite der Quelle. Du wirst sehen, sie
fließt jetzt, wo die Schlange getötet ist, wie ein Fluß an der Stadt
vorüber. Und wenn du den, der die Schlange getötet hat, erkennen
willst, so nimm diesen Schuh, den ich ihm heimlich entwendet habe.
Nur der kann der Besieger der Schlange sein, der den zweiten
gleichen Schuh vorweist."
Darüber war der Fürst sehr erfreut. Am andern Morgen rief er
alle Männer der Stadt zusammen und sagte: "Die Schlange ist getötet.
Wir sind von unserer großen Plage befreit. Ich will den, der
das getan hat, belohnen und frage euch deshalb, ob irgendeiner den
kennt, der uns dies Gute angetan hat." Nun war es keiner unter den
Anwesenden. Sie fragten lange untereinander herum, fanden es
aber nicht heraus. Endlich sagte der Wirt des Kaffeehauses: "Bei
mir ist gestern ein Fremder angekommen, der sehr ermüdet war.
Er legte sich sogleich zum Schlafe nieder und ist bis heute morgen
nicht aufgewacht. Vielleicht weiß dieser Fremde etwas von der
Sache." Der Fürst sagte: "Gehe hin und rufe ihn."
Ali kam. Ali trat vor den Fürsten. Der Fürst fragte ihn: "Hast
du einen Schuh bei dir?" Ali zog den Schuh aus der Tasche und
stellte ihn vor den Fürsten hin. Der Fürst stellte den Schuh, den
seine Tochter ihm gebracht hatte, daneben. Beide Schuhe waren
ein zusammengehöriges Paar. Der Fürst sagte: "Hast du die große
Schlange getötet?" Ali sagte: "Ja, ich habe die große Schlange getötet."
Der Fürst sagte: "Du hast die ganze Stadt von einem großen
Schrecken befreit. Ich danke dir. Ich will dir meine Tochter zur
Frau geben."
Ali heiratete die Tochter des Fürsten. Der Fürst wies ihm ein
großes Haus an. Ali wohnte einige Zeit als glücklicher und allgemein
geachteter Mann bei dem Fürsten.
Der Fürst schenkte Ali ein Pferd und Hunde. Ali ritt also oftmals
auf die Jagd. Eines Tages war er auch auf der Jagd im Walde
und kam viel tiefer in den Wald hinein als sonst. Er verirrte sich.
Am Abend kam er an ein Haus. Er klopfte. Da öffnete eine Frau,
die sah bestürzt auf Ali und sagte: "Schnell eile hinweg und reite,
so schnell du kannst, denn in diesem Hause wohnt ein Wuarssen als
mein Gatte mit seinen Kindern. Und dieser Wuarssen tötet und verschlingt
jeden Menschen, der ihm in den Weg kommt." Ali sagte:
"Ich habe nicht die Gewohnheit zu fliehen. Laß mich nur ruhig in
das Haus eintreten!" Als die Frau sah, daß sie Ali nicht zur Flucht
überreden konnte, sagte sie: "So merke dir wenigstens eines: Mein
Mann, der Wuarssen, wird dich, wenn er nach Hause kommt und
dich hier trifft, sicherlich zum Essen einladen und nach dem Essen
zum Kampfe herausfordern. Er wird dir die Wahl zwischen einem
Säbel mit einem goldenen Griff und einem Säbel mit einem hölzernen
Griff lassen. Nimm den Säbel mit hölzernem Griff und schlag
ihn damit über den Kopf. Schlage aber nur einmal und ja nicht
öfter und vergiß nichts von all dem, was ich dir jetzt geraten habe."
Ali versprach es.
Nach einiger Zeit kam der Wuarssen nach Hause. Als er Ali sah,
lachte er über das ganze Gesicht und sagte: "Ich freue mich, dich
bei mir zu sehen und bitte dich, mit mir zu essen!" Ali aß also mit
dem Wuarssen. Nach dem Essen sagte der Wuarssen: "Wir haben
eine alte Sitte; wir pflegen nämlich nach dem Essen mit denen, die
mit uns gegessen haben, zu fechten. Hier habe ich nun zwei Säbel.
Wähle einen für dich. Ich nehme den andern für mich. Mit den
beiden Säbeln werden wir kämpfen." Der Wuarssen legte damit
zwei Säbel hin, von denen der eine einen goldenen, der andere einen
hölzernen Griff hatte. Ali betrachtete die Säbel und ergriff dann den
mit dem hölzernen Griff. Der Wuarssen sagte: "Weshalb nimmst
du den Säbel mit dem hölzernen Griff, nimm doch den mit dem
goldenen Griff, er ist viel schöner." Ali sagte: "Der Säbel mit dem
hölzernen Griff sagt mir mehr zu." Der Wuarssen sagte: "Nimm
doch den anderen!" Ali sagte: "Ich habe gewählt." Der Wuarssen
sagte: "So nimm den schöneren Säbel, denn du bist der Schönere
von uns beiden." Ali sagte: "Ich habe gewählt. Komm!"
Der Wuarssen begann mit Ali zu fechten. Ali schlug mit dem
Säbel den Wuarssen quer über den Kopf. Der Wuarssen sagte:
"Schlage noch einmal!" Ali tat es nicht. Der Wuarssen sagte:
"Schlage noch einmal!" Ali tat es nicht. Der Wuarssen sagte:
"Schlage noch einmal!" Ali tat es nicht. Da fiel der Wuarssen zu
Boden und starb. Ali aber ging dahin, wo die sieben jungen Wuarssen
waren und erwürgte sie.
Ali blieb einige Zeit im Walde und wohnte im Hause des Wuarssen.
Eines Tages war er wieder im Walde auf der Jagd und zündete
sich ein Feuer an. Da näherte sich eine Schlange und sagte bittend:
"Erlaube mir, daß ich mich an deinem Feuer erwärme!" Ali sagte:
"Komm heran und wärme dich!" Die Schlange sagte: "Ich fürchte
mich vor deinen Hunden und deinem Pferd. Ich bitte dich, binde
sie an." Ali stand auf und band das Pferd und die Hunde an. Die
Schlange kam. Sie wand sich um Ali und verschlang ihn..
***Seitdem der Stiefali das Haus seiner Mutter verlassen und sich auf die
Wanderschaft begeben hatte, schaute sein Bruder alle Tage nach
dem Orangenbäumchen, welches sein Stiefbruder vor seinem Abschiede
gepflanzt hatte. Eines Morgens sah er, daß die Blätter
herunterhingen und daß das Bäumchen verwelkt war. Der rechte
Ali ging sogleich zu seiner Mutter und sagte: "Meine Mutter, mein
Bruder Ali ist entweder gestorben oder es geht ihm schlecht. Ich
schwöre dir bei Gott, daß ich mich sogleich aufmachen muß, nach
ihm zu sehen. Versuche also nicht, mich aufzuhalten." Die Mutter
sah, daß sie keinen Widerstand leisten konnte. Sie bereitete ihm
Nahrung für den Weg. Ali sattelte sein Pferd, packte es, rief seine
Hunde herbei, nahm von seiner Mutter Abschied und ritt von
dannen.
Nach einiger Zeit kam der rechte Ali bei einigen Hirten vorbei,
die eine große Schafherde hüteten. Als die den rechten Ali sahen,
meinten sie, er sei jener Stiefali, der die Löwin getötet hatte, und sie
riefen ihm ihren Gruß zu und sagten: "Ali, nimm deine Schafe mit."
Der rechte Ali dankte für den Gruß und sagte: "Behaltet die Schafe
noch ein wenig, ich komme sehr bald wieder vorüber und werde sie
dann mitnehmen." Der rechte Ali ritt weiter und sagte für sich:
"Ich sehe, ich bin auf dem Wege meines Bruders."
Wieder einige Zeit später kam der rechte Ali bei einigen Hirten
vorbei, die eine große Rinderherde hüteten. Als die den rechten Ali
sahen, meinten sie, es sei jener Stiefali, der den Eber getötet hatte,
und sie grüßten ihn und riefen: "Ah, nimm deinen Ochsen mit."
Der rechte Ali dankte für den Gruß und sagte: "Behaltet meinen
Ochsen noch ein wenig, ich komme sehr bald wieder vorüber und
werde meinen Ochsen dann mitnehmen." Der rechte Ali ritt weiter
und sagte für sich: "Ich sehe also, daß ich immer noch auf dem
Wege bin, auf dem mein Bruder fortgeritten ist."
Nach einiger Zeit kam der rechte Ali in die Stadt, in der sein
Stiefbruder die Schlange getötet hatte, die das Quellwasser bis dahin
zurückgehalten hatte und durch die Mädchen der Stadt täglich mit
Kuskus und Fleisch hatte gefüttert werden müssen. Als der rechte
Ali durch die Tore einritt, sahen ihn einige Männer, und sie stürzten
auf ihn zu und küßten ihm die Hände und grüßten ihn und sagten:
"Du, Ali der du die Stadt von ihrem großen Unglück befreit hast,
wir grüßen dich! Warum bliebst du so lange auf der Jagd? Wir
hatten schon Sorge, du würdest nicht wiederkommen. Bleibe nicht
wieder solange fort." Dann küßten die Leute ihn wieder. Und wo
nun der rechte Ali durch die Straßen kam, begrüßten Männer und
Frauen ihn auf die gleiche Weise. Viele aber sagten: "Reite nur
gleich zum Fürsten, denn er hat große Sorge um dich." So drängten
sie ihn zum Fürsten.
Ali kam zum Fürsten. Der Fürst kam dem rechten Ali entgegen
und umarmte und küßte ihn. Der Fürst sagte: "Mein Sohn Ali sei
sehr beglückwünscht zu deiner Rückkehr. Warum bliebst du solange
auf der Jagd! Wir alle und deine Frau nicht zum wenigsten
haben uns viel Sorge gemacht über dein langes Fernbleiben. Nun
iß erst mit mir und ruhe dich ein wenig aus. Nach dem Abendessen
magst du dann zu meiner Tochter, deiner Frau, hinübergehen."
Der rechte Ali sagte bei sich: "Was hat mein Bruder alles vollbracht!"
— Der rechte Ali blieb aber lange bei dem Fürsten, und
erst nach dem Abendessen konnte er ihn verlassen und in das Haus
und zur Frau seines Bruders hinübergehen.
Der rechte Ali verließ den Fürsten. Der rechte Ali ging hinüber
in das Haus, das der Fürst dem Stiefahi errichtet hatte. Der rechte
Ali betrat das Haus und trat in das Zimmer der Frau des Stiefahi.
Die Frau des Stiefahi kam ihm entgegen. Die Frau des Stiefali kam
ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Die Frau sah ihn und trat
zurück. Die Frau fragte: "Wer bist du?" Der rechte Ali sagte:
"Ich bin Ali der Stiefbruder jenes Ali der dein Gatte ist. Ich habe
wahrgenommen, daß meinem Bruder etwas zugestoßen sein müsse.
Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht, ihn zu suchen. Dich
aber bitte ich, mir alles zu sagen, was du über den Zweck und die
Richtung des Rittes weißt, zu dem er zuletzt auszog und von dem
er nicht wieder zurückgekehrt ist." Die Frau dankte Ali und
sagte ihm alles, was sie vom letzten Jagdritt seines Stiefbruders
wußte.
Am andern Tage machte sich der rechte Ali zu Pferde mit seinen
Hunden auf den Weg. Die Leute, die ihm begegneten, sagten: "Ali,
warum reitest du schon wieder fort!" Ali sagte: "Es ist etwas im
Walde geblieben, das muß ich holen." Ali ritt in der Richtung auf
den Wald zu. Der rechte Ali kam in den Wald und ritt lange im
Walde dahin.
Abends begann es zu regnen. Der rechte Ali stieg vom Pferde
und begann ein Feuer zu entzünden. Nach einiger Zeit kam die
große Schlange aus dem Busch und sagte bittend: "Du hast ein
warmes Feuer. Ich aber friere bei dem Regen. Ich bitte dich, erlaube
mir, daß ich zu dem Feuer komme und mich wärme." Ali
sagte: "So komm her und wärme dich!" Die Schlange sagte: "Ich
fürchte mich vor dem Pferd und vor den Hunden. Ich bitte dich,
binde sie an, damit ich ohne Furcht zu dem Feuer kommen kann."
Der rechte Ali überlegte die Sache; dann ging er hin und schlang
den Zügel des Pferdes um einen Ast, aber so locker, daß es sich
leicht losreißen konnte. Er band die Hunde an Sträucher, die aber
dünn waren und leicht abbrechen konnten." Der rechte Ali sagte:
"Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Nun komm und erwärme dich
am Feuer!"
Die große Schlange kam heran an das Feuer. Sie glaubte, das
Pferd und die Hunde seien fest angebunden. Am Feuer angelangt,
wollte sie sich auf Ali stürzen und ihn verschlingen. Der rechte Ali
rief sein Pferd und seine Hunde. Das Pferd und die Hunde kamen
herbei. Das Pferd sprang der großen Schlange mit den Füßen auf
den Kopf. Die Hunde packten die große Schlange am Schwanz.
Der rechte Ali ergriff sein Schwert und schlitzte der großen Schlange
den Leib auf. Die große Schlange starb. Der rechte Ali sah aber,
daß im Bauche der Schlange der Stiefali lag. Der Stiefali war tot.
Der rechte Ali nahm seinen Bruder heraus und weinte.
Am andern Tage saß der rechte Ali noch immer vor seinem Bruder
und weinte. Er hörte im Gebüsch ein Geräusch und schaute
auf. Er sah, wie zwei Eidechsen miteinander kämpften. Eine der
Eidechsen schlug die andere (mit dem Schwanze) aber so, daß sie
eine schwere Wunde erlitt und starb. Kaum war die eine Eidechse
tot, so lief die andere hin zu einer Pflanze, riß ein Blatt ab,
trug es dahin, wo die Getötete lag und legte es auf die Wunde.
Darauf lebte die tote Eidechse wieder auf. Der rechte Ali sah das
alles. Der rechte Ali fragte die Eidechse: "Du hast soeben die
andere Eidechse getötet und dann wieder lebendig gemacht. Sieh,
hier liegt mein Bruder Ali der wurde von der großen Schlange verschlungen
und starb. Kannst du, die du die andere getötete Eidechse
wieder lebendig gemacht hast, mir vielleicht einen Rat geben, wie
ich meinen von der Schlange verschlungenen und getöteten Bruder
wieder lebendig machen kann?"
Die Eidechse sagte: "Dein Bruder Ali ist nicht nur einfach getötet
und verschlungen, sondern er ist von der Schlange vergiftet
worden. Wäre er nur getötet durch Verschlingen oder durch eine
Wunde, so könnte er durch Auflegen von Blättern jener Pflanze
wieder lebendig gemacht werden. So aber müßte das Gift entfernt
werden, und das geht nur so, daß die Kinder einer Löwin ihm das
Gift ablecken. Wenn das geschehen ist und du dann die Blätter auflegst,
so wird dein Bruder Ali wieder zum Leben erwachen." Nachdem
die Eidechse das gesagt hatte, lief sie mit der anderen von
dannen.
Ali bestieg sein Pferd. Er ritt aus dem Walde heraus und noch
weiter, bis er auf Hirten stieß, die Rinder weideten. Ali kaufte
ihnen ein Rind ab. Dann fragte er die Hirten: "Wißt ihr vielleicht,
wo hier in der Gegend eine Löwin haust, die Junge hat?" Die
Hirten sagten: "Reite zurück in der Richtung auf den Wald, aus
dem du gekommen bist. Am Rande des Waldes haust eine Löwin."
Ali bedankte sich und ritt zurück.
Sobald er die Spur der Löwin gefunden hatte, band er das Rind
an und hielt sich in der Nähe. Als es Nacht war, kam die Löwin mit
ihren Jungen und wollte sich auf das angebundene Rind stürzen,
um es zu zerreißen. Ali sprengte sogleich herzu und sagte: "Laß
das Rind oder ich töte dich." Die Löwin sagte: "Meine Jungen
haben Hunger. Ich bitte dich, laß mir das Rind. Ich schwöre dir,
daß ich alles tun werde, was ich vermag, wenn du mir das Rind überläßt."
Ali sagte: "So schwöre noch einmal." Die Löwin schwur.
Darauf ließ er der Löwin und ihren Jungen das Rind.
Nachdem die Löwin und ihre Jungen das Rind aufgefressen
hatten, kam die Löwin zu dem rechten Ali zurück und sagte: "Wir
haben unser Mahl beendet. Nun sage mir, was ich tun soll, um
meinen Schwur einzuhalten." Der rechte Ali sagte: "Im Walde
liegt mein Stiefbruder Ali die große Schlange hat ihn verschlungen
und getötet. Sie hat ihn dabei mit ihrem Gift vergiftet. Ich habe die
große Schlange getötet und meinen Bruder aus ihrem Leibe herausgezogen.
Nun kann ich ihn wieder lebend machen, sobald das Gift
durch deine Jungen abgeleckt ist. Um nun deinen Schwur zu halten,
sollen deine Jungen die Wunden meines Stiefbruders Ali auslecken."
Die Löwin sagte: "Das werden meine Jungen tun, zeige
uns den Weg."
Ali ritt voraus in den Wald hinein. Die Löwin und ihre Jungen
folgten. Ali kam an die Stelle, an der er die große Schlange getötet
hatte. Die Jungen der Löwin begannen sogleich, die Wunden Aus
auszulecken. Nachdem dies geschehen war, pflückte der rechte Ali
Blätter von jener Pflanze, die auch die Eidechse genommen hatte.
Er legte die Blätter auf die Wunden des Stiefahi. Kaum hatte er
sie aufgelegt, so schlug der Stiefahi die Augen auf und richtete sich
empor. Die beiden Brüder umarmten sich und weinten vor Freude
darüber, daß sie sich wiedergefunden hatten.
Die beiden Ali machten sich auf den Heimweg. Sie kamen in der
Stadt des Fürsten an. Der Fürst, seine Tochter und alle Leute waren
glücklich darüber, daß der Stiefali mit seinem Bruder zurückgekommen
war. Drei Tage lebten sie glücklich und feierten frohe Feste.
Am dritten Tage sagte der Stiefali: "Wir wollen heimkehren und
uns in Zukunft nicht mehr trennen." Der rechte Ali war einverstanden.
Der Stiefahi ging zum Fürsten und bat um die Erlaubnis,
mit seiner Frau heimzukehren. Der Fürst gewährte es. So sattelten
sie dann ihre Pferde und ritten mit der Tochter des Fürsten heim.
Unterwegs kamen sie erst zu den Hirten, die das Rindvieh hüteten.
Die Hirten riefen: "Ali, nimm deinen Ochsen mit." Darauf
nahm der Stiefali seinen Ochsen. Sie ritten weiter. Einige Zeit
darauf kamen sie zu den Hirten, die die Schafe hüteten. Die Schäfer
riefen: "Ali, nimm deine Schafe m ." Darauf nahm der Stiefali
seine Schafe. Sie ritten weiter. Sie kamen heim.
Als sie daheim ankamen, war die Mutter des rechten Ali die
ihrem Stiefsöhne so viel Leid angetan hatte, gestorben. Sie begruben
sie. Die beiden Ali blieben beieinander wohnen, sie trennten
sich nicht wieder voneinander.
10. Die verheirateten Schwestern
Ein Mann hatte vier Töchter, die waren in dem Alter zu heiraten,
und außerdem vier kleine Söhne. Eines Tages wollte er
in einen großen Ort gehen. Er rief seine Töchter und sagte: "Ich
gehe heute in die Stadt und will jeder von euch vieren ein Kleid mitbringen.
Sagt mir also eine jede, was sie für ein Kleid haben will."
Die älteste sagte: "Ich möchte ein gelbes Kleid haben." Die zweite
sagte: "Ich möchte ein weißes Kleid haben." Die dritte sagte: "Ich
möchte ein graues Kleid haben." Die vierte sagte: "Ich möchte
ein Kleid ohne Schnitt und Naht haben." Der Vater wandte sich
an die ersten drei Töchter und sagte: "Ich werde euch eure Wünsche
erfüllen können." Er wandte sich an seine vierte Tochter und sagte:
"Ob ich deinen Wunsch werde erfüllen können, weiß ich noch nicht.
Ich habe noch nie von einem Kleide ohne Schnitt und Naht gehört."
Danach machte sich der Vater auf die Wanderschaft und kam in
die Stadt.
In der Stadt kaufte der Vater ein gelbes, ein weißes und ein graues
Kleid. Aber die Gandura (= ahakendurth) ohne Naht und Schnitt
konnte er nicht finden. Der Mann lief umher und suchte, aber er
konnte niemand finden, der je eine Gandura ohne Naht und Schnitt
gesehen hätte. Endlich begegnete er einem alten Manne, der fragte
ihn auch, was er suche. Darauf erklärte der bedrängte Vater, was
er suchte. Der Alte sagte: "Es gibt ein solches Kleid. Dies Kleid
ist aber im Besitze eines Wuarssen, und es ist sehr schwer, es von
ihm zu erlangen." Der Vater erschrak, denn er fürchtete sich sehr
vor dem Wuarssen.
Erst sagte der Vater: "Ich werde nicht hingehen zu dem Wuarssen.
Wenn meine Tochter so törichte Wünsche hat, soll sie sich
einen törichten Mann suchen, der sie ihr erfüllen kann." Dann
machte sich der Vater aber doch auf den Weg zu dem Wuarssen.
Er kam in den Wald. Er fragte den Wuarssen: "Hast du ein Kleid
ohne Schnitt und Naht?" Der Wuarssen sagte: "Ja, eine solche
Gandura habe ich." Der Vater sagte: "Willst du mir diese Gandura
für meine Tochter geben?" Der Wuarssen sagte: "Für welche
Tochter?" Der Mann sagte: "Für meine jüngste." Der Wuarssen
sagte: "Ja, ich will dir die Gandura für deine jüngste Tochter
geben. Ich verlange dafür aber deine Tochter zur Frau." Der
Vater wollte dies erst nicht. Dann aber sagte er: "Es ist gut, wenn
du mir die Gandura für meine jüngste Tochter gibst, will ich dir
meine jüngste Tochter zur Frau geben. Wann wirst du kommen,
sie abzuholen?" Der Wuarssen sagte: "Ich werde nachts als Bettler
kommen. Wenn ich nachts um Nahrung bettelnd an deine Haustür
komme, so soll deine Tochter mit einer Schale voll Kuskus
herauskommen. Sage ihr das. Dann werde ich sie nehmen und in
mein Haus bringen." Der Vater war damit einverstanden.
Der Vater kehrte zurück, gab der ältesten Tochter das gelbe
Kleid, der zweiten Tochter das weiße Kleid und der dritten Tochter
das graue Kleid. Dann rief er die Jüngste, gab ihr das Kleid ohne
Schnitt und Naht und sagte: "Hier habe ich dir das mitgebracht,
was du dir so sehr gewünscht hast. Es ist aber eine Bedingung damit
verbunden worden, als ich es erhielt. Wenn es nämlich nachts
einmal klopft und ein Bettler draußen steht, der um Brot bittet, so
mußt du, meine jüngste Tochter, hinausgehen und ihm eine Schale
mit Kuskus reichen." Die Jüngste nahm die Gandura und erklärte
sich zu der Bedingung bereit.
Es verging keine lange Zeit, da klopfte es eines nachts am Hause
des Vaters. Draußen stand ein Mann, der bat um Essen. Die
Jüngste erinnerte sich sehr wohl des Gebotes des Vaters. Sie bereitete
eine Schale mit Kuskus und trug sie hinaus, um dem Manne
diese Speise zu geben. Als sie hinaustrat, ergriff sie der Wuarssen,
nahm sie und lief mit ihr von dannen, seinem Hause zu.
Auf dem Wege begegnete der Wuarssen einem Löwen. Der Löwe
begrüßte den Wuarssen und fragte: "Wo hast du deine Frau herbekommen?
Sage mir doch, wo man eine solche Frau bekommen
kann." Der Wuarssen sagte: "Da drüben steht ein Haus. Wenn
man da nachts anklopft und bettelt, geben sie einem eine Frau."
Der Löwe lief sogleich von dannen. Er lief zu dem Hause,
klopfte und bettelte um etwas Brot. Die älteste Tochter öffnete
und trat heraus. Sogleich ergriff sie der Löwe und trug sie von
dannen.
Einige Zeit später begegnete der Wuarssen einem Widder. Der
Widder begrüßte den Wuarssen und redete ihn an: "Du Vater der
Menschen, wo hast du deine Frau herbekommen? Sage mir doch,
wo man eine solche Frau bekommen kann." Der Wuarssen sagte:
"Da drüben steht ein Haus. Wenn man da nachts anklopft und
um Nahrung bettelt, geben sie einem eine Frau." Der Widder lief
sogleich von dannen. Er lief zu dem Hause, klopfte und bettelte
um etwas Brot. Die zweite Tochter öffnete und trat heraus. Sogleich
ergriff sie der Widder und trug sie von dannen.
Wieder einige Zeit später begegnete der Wuarssen einem Falken.
Der Falke begrüßte den Wuarssen und sagte: "Wo hast du deine
Frau herbekommen? Sage mir doch, wo man eine solche Frau herbekommen
kann." Der Wuarssen sagte: "Da drüben steht ein
Haus. Wenn man da nachts anklopft und um Nahrung bettelt,
geben sie einem eine Frau." Der Falke flog sogleich von dannen.
Er flog zu dem Hause, klopfte und bettelte um etwas Brot. Die dritte
Tochter öffnete und trat heraus. Sogleich ergriff sie der Falke und
trug sie von dannen.
So wurde die jüngste Tochter des Mannes verheiratet mit dem
Wuarssen, die älteste mit dem Löwen, die zweite mit dem Widder,
die dritte mit dem Falken.
Lange Zeit war vergangen, seitdem der Vater gestorben und seine
vier Töchter sich verheiratet hatten. Die vier kleinen Söhne des
Mannes wuchsen heran. Eines Tages kam der älteste der vier Brüder
zu seiner Mutter und seinen Anverwandten und sagte: "Ich will
mich auf den Weg machen, meine vier verheirateten Schwestern zu
besuchen." Er bereitete sich Aenin (Reisenahrung) und machte
sich auf den Weg.
Nach einiger Zeit kam der älteste Bruder an eine Stadt. An Odem
Tor hielt die Tochter des Amin der Stadt Wache, und jeden, der
hindurchgehen wollte, fragte sie, ob er wisse, was Laksär Limmera
sei und jeder, der das nicht beantworten konnte, wurde dann von
Negern, die das Mädchen herbeirief, seines Hauptes beraubt. —
Der älteste der vier Brüder kam also an das Tor, an dem die Tochter
des Amin Wache hielt, und die Tochter des Amin fragte ihn:
"Weißt du, was Laksär Limmera ist?" Der älteste Bruder sagte:
"Nein, das weiß ich nicht." Darauf rief die Tochter des Amin die
Neger herbei, und die hieben dem Burschen sogleich den Kopf ab.
Einen Monat später sagte der zweite Bruder zu Mutter und Verwandten:
"Mein ältester Bruder ist seit einem Monat fort, um nach
den verheirateten Schwestern zu sehen. Er ist nicht wiedergekommen.
Nun will ich mir Reisenahrung zurechtmachen und meine
Schwestern besuchen und sehen, wo mein Bruder geblieben ist."
Er machte sich bereit und brach auf. Er kam auch an das Tor, an
dem die Tochter des Amin Wache hielt, konnte ihre Frage auch
nicht beantworten und wurde ebenfalls von den Negersklaven geköpft.
Im dritten Monat rüstete der dritte Bruder sich zur Wanderschaft
und zur Suche nach Brüdern und Schwestern. Es erging ihm ebenso
wie den ältesten beiden, und als er am Tore der Stadt, durch das
jeder gehen mußte, die Frage der Tochter des Amin nicht zu beantworten
vermochte, wurde auch ihm von den Negern auf das
Geheiß der Amintochter der Kopf abgeschlagen.
Im vierten Monat endlich machte sich der jüngste der vier Brüder
bereit, um seine Schwestern und Brüder aufzusuchen. Der Jüngste
bereitete aber nicht nur seine Wegnahrung, sondern er nahm auch
einen Säbel mit, den steckte er unter seine Gandura. So gerüstet,
wanderte er den gleichen Weg dahin. Er kam an das Tor, an dem
die Tochter des Amin Wache hielt, und diese fragte ihn, als er kam:
"Weißt du, was Laksär Limmera. ist?" Der Bursche merkte sogleich,
wo die Sache hinaus wollte. Er sann einen Augenblick nach
und sagte: "Weißt du aber, was das ist?" Er zog plötzlich seinen
Säbel heraus. Die Tochter des Amin erschrak. Der Jüngste sagte:
"Wenn du noch einmal, solange ich in der Gegend bin, deinen Mund
zu einer so törichten Frage oder einem törichten Rufe öffnest, so
schlage ich dir den Kopf ab." Die Tochter des Amin wagte nicht,
die Neger zu rufen. Der Jüngste ging also unbehindert durch das
Tor und seinen Weg weiter.
Endlich kam der Jüngste an das Haus des Wuarssen. Er klopfte
an. Es war am Tage, und der Wuarssen war auf seinem Felde.
Die Frau öffnete. Die Frau öffnete und erkannte ihren jüngsten
Bruder. Die Schwester erschrak. Sie sagte: "Wenn mein Mann,
der Wuarssen, dich hier sieht, wird er dich verschlingen. Eile
schnell weiter, mein Bruder!" Der Jüngste sagte: "Nein, ich bleibe
hier, ich werde nicht fortgehen." Die Frau sagte: "Mein Mann wird
aber bald heimkehren." Der Bursche sagte: "Ich bleibe doch hier."
Da versteckte die Frau ihn in der Baerka (oder Bärka, äußerste
Speichertopfgrube nahe der Türwand, gerade im Winkel). Die
Frau deckte dann einen Deckel darüber.
Nach einiger Zeit kam der Wuarssen heim. Er witterte die Spur
(=ldjarra) und sagte: "Ich rieche frisches Fleisch!" Die Frau
sagte: "Es kam heute früh ein Händler vorüber, von dem ich einen
Kamm kaufte." Der Wuarssen sagte: "Ist der Händler vielleicht
noch so nahe, daß ich ihn fangen, töten und verschlingen könnte?"
Die Frau sagte: "Er muß schon weit fort sein!" Die Frau weinte.
Der Wuarssen sagte nach einiger Zeit: "Weshalb weinst du?" Die
Frau weinte und sagte: "Du sagst, daß du den armen Händler, der
nichts getan hat, fangen, töten und verschlingen würdest. Mir fiel
nur ein, wenn einer meiner Brüder Händler wäre und hier vorüberkäme,
so würdest du ihn vielleicht auch fangen, töten und verschlingen!"
Der Wuarssen sagte nur: "Es ist mir ganz gleich, ob
einer dein Bruder ist oder nicht. Wenn jemand mein Haus betritt,
so töte und verschlinge ich ihn und dich obendrein. Vergiß das
nicht!"
Die Frau ging unbemerkt zur Baerka, klopfte daran und sagte
leise: "Du hast die Worte des Wuarssen gehört. Sei also vorsichtig
und hüte dich vor jedem Geräusch!" — Als es am andern Tage
hell wurde, verließ der Wuarssen sein Haus und ging hinaus zur
Arbeit auf sein Feld. Der jüngste Bruder kam aber aus der Baerka,
verabschiedete sich von seiner Schwester und ließ sich den Weg zu
dem Löwen, der seine älteste Schwester geheiratet hatte, zeigen.
Der jüngste Bruder ging den Weg hin und kam noch bei Tage im
Hause seines Schwagers an. Der Löwe war abwesend, denn er war
noch auf der Jagd. Als der Jüngste klopfte, öffnete seine Frau. Sie
erkannte ihren Bruder, freute sich ihn wiederzusehen und sagte
dann: "Mein jüngster Bruder, gehe lieber weiter. Wenn mein Mann,
der Löwe, nach Hause kommt, wird er dich vernichten." Der
Jüngste weigerte sich, wie im Hause des Wuarssen, weiterzugehen,
und seine Schwester versteckte ihn in der Baerka, die sie zudeckte.
Der Löwe kehrte heim. Er witterte frisches Fleisch und fragte,
wer hier gewesen sei. Seine Frau antwortete: "Es war ein Händler,
von dem ich Pfeffer für unsere Mahlzeiten kaufte." Der Löwe
fragte: "Ist er schon weit oder kann ich ihn noch mit meinen Zähnen
packen und fressen?" Die Frau sagte: "Ach, er ist schon weit
fort." Die Frau weinte. Der Löwe sagte: "Weshalb weinst du?"
Die Frau weinte und sagte: "Du wolltest diesen armen Händler
fangen und fressen. Ich dachte daran, daß einmal einer meiner
Brüder als Händler vorüberkommen könnte, und du würdest ihn
auch mit deinen Zähnen packen und fressen." Der Löwe sagte:
"Du irrst dich, das würde ich nicht tun, denn dein Bruder ist auch
mein Bruder, und ich würde ihn bitten, bei uns zu bleiben und unser
Gast zu sein."
Da sagte die Frau: "Da du mir sagst, daß du meinen Bruder gut
aufnehmen und als Gast beherbergen würdest, wisse denn, daß die
Spur, die du gewittert hast, die meines Bruders ist und daß mein
Bruder sich hier im Hause befindet!" Der Löwe rief: "Schnell, rufe
deinen Bruder herbei, damit ich ihn kennen lerne und ihm alle
Freundlichkeit erweise. Der Jüngste kam aus der Baerka hervor.
Der Löwe umarmte ihn und befahl seiner Frau, alles, was sie vermöchte,
an guten Sachen zu bereiten. Sie aßen gemeinsam, teilten
danach das Lager und schliefen bis zum andern Morgen.
Am andern Tage nahm der Jüngste Abschied von seiner Schwester.
Der Löwe begleitete ihn noch ein gutes Stück und zeigte ihm
den Weg zu seinem dritten Schwager, dem Widder. Der Jüngste
wanderte weiter. Noch ehe es Abend war, kam er am Hause des
Widder an. Der Widder war aber abwesend, und als es klopfte,
öffnete ihm die Frau des Widders. Die Schwester erkannte sogleich
ihren Bruder und war sehr glücklich; dann aber forderte sie ihn auf,
nicht länger zu verweilen, sondern weiterzugehen, denn sie fürchtete,
daß ihr Mann, der Widder, wenn er heimkäme, ihrem Bruder
etwas anhaben könne. Der jüngste Bruder weigerte sich aber,
weiterzugehen, und so blieb der Schwester denn nichts anderes
übrig, als den Bruder in der Baerka zu verstecken und diese mit
einem Deckel zu schließen.
Als der Widder heimkehrte, stieg der Geruch frischen Fleisches
ihm sogleich in die Nase, und er fragte, woher er stamme. Die Frau
sagte: "Es kam ein Händler vorbei, von dem kaufte ich Agussim
(Lippenpomade aus Nußbaumrinde)." Der Widder sagte: "Ist
er schon weit oder ist er noch nahe genug, daß ich ihn mit meinen
Hörnern fangen und töten kann?" Die Schwester sagte: "Er ist
schon weit fort, und du kannst ihn nicht mehr erreichen." Die
Frau weinte. Der Widder fragte seine Frau: "Weshalb weinst du?"
Die Frau sagte: "Du wolltest den armen Händler mit deinen
Hörnern fangen und töten. Wie schrecklich wäre es, wenn nun
mein Bruder als Händler in das Land käme und du ihn so mißhandeltest?"
Der Widder sagte: "Wenn dein Bruder käme, wäre
das etwas ganz Besonderes. Denn dein Bruder ist auch mein Bruder,
und ich würde ihm an Gutem antun, was ich zu tun vermag."
Die Frau sagte: "Wenn du meinen Bruder gut aufnehmen willst,
sollst du nur wissen, daß von ihm der Geruch des frischen Fleisches
kommt und daß er im Hause ist." Der Widder sagte: "Sogleich
rufe deinen Bruder und bereite schnell das Beste, was wir im Hause
haben, denn wir wollen diesen Tag als einen Festtag begehen." Die
Schwester rief den Bruder aus der Baerka. Der Schwager begrüßte
ihn sehr herzlich. Sie nahmen zusammen in großer Freude das
Abendessen ein, teilten das Lager und schliefen bis zum andern
Morgen.
Am andern Morgen verabschiedete sich der Jüngste von seiner
Schwester und ging mit seinem Schwager noch ein Stück mit, denn
der wollte ihm das Haus des dritten Schwagers, des Falken, zeigen.
Nachdem sie soweit gegangen waren, daß der Jüngste den Weg
nicht mehr verlieren konnte, trennten sie sich, und der Bursche
ging in der Richtung auf das Haus des Falken weiter.
Als der Jüngste an dem Hause ankam, war sein Schwager nicht
daheim, und als er klopfte, öffnete ihm seine Schwester. Die
Schwester erkannte sogleich den jüngsten Bruder und war sehr
glücklich. Nach einiger Zeit bat sie ihn aber, sich zu entfernen,
denn bald müsse ihr Gatte, der Falke, heimkehren, und der wäre
ein sehr gefährlicher Mann. Der jüngste Bruder ließ sich aber nicht
einschüchtern. Er blieb auf seinem Vorsatze, zu verweilen, bestehen,
und so versteckte die Frau ihn zuletzt in der Baerka, die
sie hernach sorgsam zudeckte.
Es wurde Abend. Der Falke kam nach Hause. Er witterte nach
allen Seiten im Hause umher. Er blickte nach allen Seiten im
Hause umher. Er sagte:, "Ich rieche frisches Fleisch!" Die Frau
sagte: "Es ist ein Händler vorbeigekommen, der hat mir Tasult
(Antimon, Augenrandschminke) verkauft." Der Falke sagte:
"Ist er schon weit oder kann ich ihn noch erreichen, so daß ich ihn
mit meinen Krallen packen und töten kann." Die Frau sagte: "Er
ist schon weit fort." Die Frau weinte. Der Falke sagte: "Was
weinst du?" Die Frau sagte: "Du sagst, daß du den Händler, der
dir nichts getan hat, mit den Krallen packen und töten willst.
Wenn dieser Händler nun mein Bruder wäre, so würdest du ihn
auch mit den Krallen packen und töten wollen." Der Falke sagte:
"Nein, das würde ich nicht tun. Deinen Bruder würde ich aufnehmen
wie meinen eigenen Bruder, denn du bist meine Frau.
Deinem Bruder würde ich das Beste geben, was wir haben, und ich
würde glücklich sein, wenn er einige Zeit bei uns bleiben würde und
wir ihm eine angenehme Zeit bieten könnten."
Darauf ward die Frau sehr fröhlich. Sie sagte: "Mein Gatte, der
Mann, den du gewittert hast, ist kein fremder Händler, es ist mein
Bruder, und ich habe ihn im Hause hier versteckt, weil ich nicht
sicher wußte, wie du ihn aufnehmen würdest." Der Falke sagte:
"So rufe schnell deinen Bruder herbei, daß ich ihn begrüße!" Die
Frau lief hin und hieß ihren Bruder aus der Baerka steigen. Der
Falke kam seinem Schwager entgegen und küßte ihn. Er hieß ihn
in seinem Hause herzlich willkommen und hieß seine Frau das
beste Essen zubereiten.
Nachher aßen sie zusammen, und der jüngste Bruder mußte erzählen,
was er bei seinen Schwägern auf der Wanderschaft erlebt
hatte. Der Falke sagte: "Ich werde morgen eine Botschaft umhersenden.
Ich will den Löwen und seine Frau, den Widder und seine
Frau und die Frau des Wuarssen hierher bitten. Ihr Geschwister
und wir Schwäger wollen dann beraten, was wir mit dem Wuarssen,
der ein ganz schlimmer Mann ist, anfangen."
Die Boten flogen am andern Tage über das Land. Es kamen der
Löwe und seine Frau, es kamen der Widder und seine Frau. Es
kam die Frau des Wuarssen, und die Frau des Wuarssen weinte, weil
ihr jüngster Bruder von ihrem Manne nicht so gut aufgenommen
war, wie im Hause ihrer Schwestern. Der jüngste Bruder sagte zum
Löwen und seiner Frau: "Ich danke euch, daß ihr mich so freundlich
aufgenommen habt." Er sagte zum Widder und seiner Frau:
"Ich danke euch, daß ihr mich so freundlich aufgenommen habt."
Er sagte zum Falken und seiner Frau: "Ich danke euch, daß ihr
diese Zusammenkunft veranstaltet habt." Er sagte zu seiner jüngsten
Schwester, der Frau des Wuarssen: "Ich danke dir, daß du gekommen
bist, und ich hoffe, daß du deswegen mit deinem Manne
keine Streitigkeiten bekommst." Die jüngste Schwester, die Frau
des Wuarssen, weinte.
Der Löwe sagte: "Wir wollen den Wuarssen töten." Der Widder
sagte: "Wir wollen den Wuarssen töten." Der Falke sagte: "Wir
wollen den Wuarssen töten." Der Löwe sagte: "Um aber den
Wuarssen töten zu können, muß seine Frau uns sagen, ob seine
Seele nahe oder fern ist. Seine Frau muß erfahren, wo seine Seele
ist und wie wir sie ergreifen können." Die Frau des Wuarssen sagte:
"Ich weiß nicht, wo seine Seele ist. Ich weiß gar nichts davon."
Die Frau des Widders sagte: "Du mußt weinen und traurig sein,
daß du um deinen Mann so besorgt seiest." Die Frau des Falken
sagte: "Du mußt so lange jammern, bis du alles erfahren hast, was
unser Bruder und unsere Schwäger wissen müssen."
Die Frau des Wuarssen kam nach Hause. Sie kochte das Essen.
Als es Abend war, kam auch der Wuarssen und aß. Nach dem
Essen setzte die Frau des Wuarssen sich in einen Winkel und begann
zu weinen. Der Wuarssen sagte: "Weshalb weinst du?" Die
Frau sagte: "Ich weiß es nicht." Nachts lag der Wuarssen schlafend
auf seinem Lager. Die Frau begann zu weinen. Der Wuarssen
hörte seine Frau weinen und erwachte. Der Wuarssen sagte: "Was
weinst du?" Die Frau sagte: "Ich weiß es nicht." Der Wuarssen
erwachte am andern Morgen. Seine Frau weinte. Er fragte sie:
"Weshalb weinst du?" Die Frau sagte: "Ich weiß es nicht." Der
Wuarssen ging auf das Feld. Als er abends nach Hause zurückkehrte,
saß seine Frau am Feuer. Seine Frau weinte. Er fragte:
"Weshalb weinst du?" Die Frau sagte: "Ich weiß es nicht." Der
Wuarssen legte sich aufs Lager und schlief. Nachts wachte er auf.
Seine Frau weinte. Der Wuarssen fragte: "Weshalb weinst du?"
Die Frau sagte: "Ich weiß es nicht."
Der Wuarssen wachte eine Zeit. Seine Frau hörte nicht auf zu
weinen. Der Wuarssen sagte: "Jetzt ist es genug, jetzt sage mir
endlich, weshalb du weinst!" Die Frau sagte: "In der Nacht, nachdem
der Händler hier war, der mir den Kamm verkauft hat und
nachdem du so zornig hierüber warst, träumte mir, du seiest getötet
worden, und ich wäre nun ganz hilflos allein auf der Erde.
Seitdem träume ich immer wieder, daß man dir das Leben wegnimmt
und du stirbst. Ich träume immer wieder, daß man dir die
Seele wegnimmt und ich dich nicht schützen kann." Der Wuarssen
sagte: "Wenn es weiter nichts ist als so ein dummer Traum, dann
schlafe nur getrost weiter. Meine Seele ist gut aufgehoben. Höre
selbst, wie die Sache steht: Meine Seele ist ein Haar, das ruht in
einem Ei, das ein Rebhuhn im Leibe trägt. Das Rebhuhn wohnt
im Bauch einer Kamelstute, und die Kamelstute liegt unter einem
Felsblöcke im Meere. — Nun sage selbst, ob meine Seele nicht gut
aufgehoben ist. Denn wenn es nicht jemand gelingt, dieses Haar
zu finden und zu zerdrücken, dann kann ich nicht getötet werden.
Schlafe also trotz aller Träume weiter, höre auf zu weinen und gib
dich nicht Sorgen hin, die keinen Grund haben." Damit drehte
der Wuarssen sich herum und schlief gleich darauf weiter. Die
Frau prägte sich aber alles genau ein.
Am andern Morgen ging der Wuarssen wie gewöhnlich zum
Acker hinaus. Kaum war ihr Mann fort, so lief seine Frau zu
ihrem Schwager, dem Falken. Alle Geschwister waren wieder bei
dem Falken versammelt. ]Die Frau des Wuarssen sagte: "Die Seele
meines Mannes ist ein Haar, das in einem Ei ruht, das ein Rebhuhn
im Leibe trägt. Das Rebhuhn lebt im Bauche einer Kamelstute,
und die Kamelstute liegt unter einem Felsblock im Meer." Die Geschwister
sagten: "Das ist schwierig." Die Schwäger sagten: "Das
ist schwierig."
Der Löwe sagte: "Ich werde zuerst alle Mücken zusammenrufen
und ihnen befehlen, das Meer auszusaugen, so daß der Felsblock
auf dem Trocknen liegt." Der Widder sagte: "Ich will mit meinen
Hörnern den Felsblock zur Seite wälzen." Der Löwe sagte: "Ich
will mit meinen Pranken den Leib der Kamelstute aufreißen." Der
Falke sagte: "Ich will das Rebhuhn abfangen, wenn es in die Luft
fliegt und ihm mit den Fängen den Leib aufreißen." Der jüngste
Bruder sagte: "Und ich will das Ei auffangen, wenn es herabfällt,
es zerbrechen und das Haar zerdrücken." Die Schwestern sagten
zur Frau des Wuarssen: "Hüte dich aber vor dem Wuarssen, wenn
er im Sterben liegt. Dann wird er zornig sein, daß er auch dich verschlingen
würde." Die Frau des Wuarssen ging.
Der Löwe rief sogleich alle Mücken zusammen und hieß sie das
Meer aussaugen. Von allen Seiten kamen die Mücken und sogen
und sogen. Es kamen so unzählbar viele Mücken, und sie sogen alle
so emsig, daß das Meer mehr und mehr zurücktrat. Sie sogen solange,
daß der Grund des Meeres trocken und mitten drin der Felsblock
in freier Luft lag. Da kam der Widder und stieß nach einem
langen Anlauf mit seinen Hörnern gegen den Felsblock, so daß der
Block umstürzte.
Die I(amelstute bewegte sich und wollte sich erheben. Der Löwe
sprang aber auf sie zu und riß ihr den Leib auf. Der Wuarssen, der
auf seinem Felde war, empfand sogleich einen fürchterlichen
Schmerz, so daß er sich krümmen mußte und dann Hals über Kopf
nach Hause eilte. Gleichzeitig flog das Rebhuhn aus dem aufgerissenen
Leibe der Kamelstute auf und zog von dannen. Der Falke
kreiste inzwischen in der Luft, erkannte das Rebhuhn mit scharfem
Auge, stürzte herab und fing es mit den Fängen. Der Falke riß dem
Rebhuhn mit dem Schnabel den Kopf ab. In diesem Augenblick
kam der Wuarssen gerade zu Hause an und stürzte an der Haustür
halb ohnmächtig vor Schmerz nieder. Der Wuarssen schrie: "Wasser,
Wasser!" Der Wuarssen wollte, daß seine Frau herauskomme.
Er wollte sie verschlingen. Der Wuarssen rief: "Wasser! So bring
doch Wasser!" Die Frau blieb im Hause, sie kam nicht heraus.
Die Frau rief: "Wir haben kein Wasser im Hause."
Das Rebhuhn ließ das Ei fallen. Der jüngste Bruder fing das Ei
in der Luft auf. Er hielt es in der Hand. Der Jüngste zerdrückte
das Ei. Das Ei zersprang. Der Wuarssen schrie vor Schmerz auf.
Der Jüngste preßte das Haar. Der Wuarssen fiel rückwärts zusammen.
Der Jüngste zerdrückte das Haar. Der Wuarssen starb.
Die Frau des Wuarssen sah ihren Mann sterben. Sie war glücklich.
Sie lief sogleich zum Löwen und blieb bei ihrer ältesten
Schwester über Nacht. Auch der jüngste Bruder fand bei dem
Löwen sein Lager.
Am andern Morgen sagte der Löwe zum Jüngsten: "Ich gehe heute
zur Jagd, wenn es dir Freude macht, so begleite mich und
komm mit mir." Der Jüngste war einverstanden, und der Löwe
ging mit seinem Schwager von dannen. Sie waren ein gutes Stück
weit gegangen, da sagte der Löwe bei sich: "Ich weiß nicht, ob ich
klug war. Wenn ich unterwegs eine Gazelle oder ein anderes Tier
treffe und packe es mit den Zähnen und zerfleische es, dann wird
mein Schwager über meine Wildheit erschrecken. Es war nicht
klug von mir, daß ich meinen Schwager mit zur Jagd genommen
habe, und ich will ihn in jenes Dorf dort drüben schicken."
Der Löwe sagte zu seinem Schwager: "Mein Lieber, mein Weg
führt mich heute noch sehr weit und du wirst schon ermüdet sein,
wenn wir ankommen. Dann müssen wir bis zur Nacht aber noch
den gleichen Weg bis zu meinem Hause zurücklegen. Nun siehst
du das Dorf, welches auf jenem Hügel liegt. Du hörst die Musik.
Es ist ein Mann, welcher auf dem Männerplatze singt. Dort ist ein
Kaffee. Ich rate dir, dort hinzugehen und dich dort zu unterhalten.
Du wirst deinen Tag angenehm verbringen und dich nicht
unnötig ermüden. Abends werde ich bei dem Dorfe vorbeikommen.
Ich werde dann rufen, und du wirst mich hören, und wir können
gemeinsam nach Hause gehen." Der Schwager sagte: "Ich danke
dir. Dieser Vorschlag ist mir sehr angenehm." Sie trennten sich.
Der Löwe ging weiter zur Jagd. Der Jüngste ging zu dem Dorfe
hinüber.
Der Jüngste setzte sich in das Dorf zu den Leuten. Die Leute
saßen im Männerhaus und hörten einem Mann zu, der zur Trommel
sang. Der Jüngste setzte sich an die Wand und hörte auch zu. Der
Jüngste sah zum Fenster hinaus. Er hörte zu und sah zum Fenster
hinaus. Da sah er draußen Laksär Limmera. Laksär Ummera war
eine Kugel aus Feuer. (Eine nähere Beschreibung konnte ich bei
aller Sorgfalt nicht gewinnen. Vielleicht handelt es sich um ein
Irrlicht, aber eine Versicherung nach dieser Richtung wurde mir
nicht zuteil.) Der Jüngste erkannte Laksär Limmera. Er eilte sogleich
aus dem Hause und schlich sich dahin, wo er Laksär Ummera
gesehen hatte. Er kam ganz vorsichtig heran. Er fing Laksär
Ummera mit der Hand (der Erzähler macht die Bewegung des
Fliegenfangens) und steckte es in die Tasche. Danach ging er aus
dem Dorfe und zu jener Stadt, in der die Tochter des Amin zwei der
Brüder durch die Neger hatte töten lassen, weil sie nicht hatten
sagen können, was Laksär Limmera war.
Als es Abend war, kam der Löwe an das Dorf, in dem der Mann
die Trommel schlug und sang. Der Löwe rief den Jüngsten mit
dem Namen. Sein Schwager kam nicht. Der Löwe lief um das Dorf
und schrie und schrie. Der Schwager kam nicht. Der Löwe sagte
bei sich: "Meinem Schwager wird die Zeit lang geworden sein. Er
hat wohl den Heimweg angetreten. Ich werde nach Hause gehen."
Der Löwe lief noch einmal um das Dorf und rief. Der Schwager
kam nicht.
Der Löwe kam allein nach Hause. Die Frauen sahen den Löwen
allein nach Hause kommen. Die Frau des Wuarssen erschrak und
fragte: "Du kommst allein? Wo hast du meinen Bruder?" Die
Frau des Löwen fragte: "Du kommst allein? Wo hast du meinen
Bruder? Ich glaube, du hast unsern Bruder heute nun doch mit
den Zähnen gepackt und zerfleischt." Der Löwe sagte: "Nein, das
tat ich nicht. Ich ließ ihn in einem Dorfe zurück, wo ein Mann
trommelte und sang. Ich wollte ihn am Abend abholen. Als ich
am Abend nach ihm schrie und immer wieder schrie, hörte er nicht
und kam nicht. Er muß einen andern Weg weggegangen sein."
Die beiden Frauen weinten und weinten. Die Frauen sagten:
"Du hast unseren Bruder sicher heute mit den Zähnen gepackt
und gefressen. Du hast kein anderes Fleisch gefunden und
hast ihn getötet." Der Löwe sagte: "Ich schwöre, ich habe
euerem Bruder nichts getan, und ich weiß nicht, was aus ihm
geworden ist."
Der Jüngste wanderte weit fort, bis er zu jener Stadt kam, an
deren Tot die Tochter des Amin stand, die jeden fragte, ob er
wisse, was Laksär Ummera sei. Der Jüngste sagte bei sich:
"Die Tochter des Amin hat meine beiden Brüder töten lassen,
weil sie nicht wußten, was Laksär Ummera ist. Jetzt will ich
hingehen und sehen, was sie sagt, wenn ich ihr Laksär Limmera
bringe. Sie soll meine beiden Brüder nicht für nichts getötet
haben."
Der Jüngste kam an das Tor. Die Tochter des Amin stand am
Tore und fragte ihn: "Weißt du, was Laksär Limmera ist?" Der
Jüngste sagte: "Ich weiß es nicht." Die Tochter des Amin ließ
ihren Vater rufen. Die Tochter des Amin sagte: "Mein Vater,
auch dieser Mann weiß nicht, was Laksär Limmera ist." Der
Vater rief den Neger und sagte: "Packt diesen Menschen und
schlagt ihm den Kopf ab." Die Neger kamen herbei. Es waren
viele Neger. Sie griffen den Jüngsten und wollten ihm den
Kopf abschlagen. Da rief der Jüngste: "Laßt, ich habe Laksär
Limmera!"
Die Tochter des Amin sagte: "Wenn du Laksär Limmera hast,
so zeige ihn sogleich." Der Jüngste nahm Laksär Ummera hervor
und reichte ihn der Tochter des Amin. Die Tochter des Amin
nahm Laksär Ummera und sagte: "Es ist wahr. Das ist es. Ich
will deine Frau werden." Der Amin sagte: "Du sollst meine Tochter
heiraten. Ich werde ein großes Fest veranstalten."
Es wurde ein großes Fest veranstaltet. Die Verwandten kamen.
Alle Freunde des Amin kamen. Nachts führte der Jüngste die Tochter
des Amin in das Haus, das der Amin ihm geschenkt hatte. Er
sagte: "Du hast bisher nach der Sitte eures Landes gehandelt. Nun
laß mich einmal nach der Sitte meines Landes handeln. Stelle dich
hierher!" Der Jüngste hieß die Tochter des Amin sich aufrecht an
die Wand lehnen. Er hieß seine Braut, die Tochter des Amin, die
Arme und Hände seitwärts ausstrecken. (Der Erzähler macht es
pantomimisch vor. Es ist die Stellung der Kreuzigung gemeint.)
Der Jüngste nahm Nägel und einen Hammer. Er nagelte die Tochter
des Amin mit einem Nagelschlag durch jede Handfläche an der
Wand fest. Er nagelte den Kopf der Tochter des Amin mit einem
Nagelschlag durch die Stirn an der Wand fest. Darauf zog er quer
durch den Raum ein Kleid, so daß man von der andern Seite des
Raumes aus die Tochter des Amin nicht sehen konnte, wie sie an
die Wand genagelt dastand.
Der Jüngste ging hinaus. Er rief den Amin und sagte zu ihm:
"Du hast, wie deine Tochter, bisher nach der Sitte deines Landes
gehandelt. Du hast deine Tochter nunmehr mir zur Frau gegeben.
Nun laß mich einmal nach der Sitte meines Landes handeln. Komm
in das Haus, das du mir geschenkt hast." Der Amin kam mit ihm
in das Haus.
Der Jüngste hieß den Amin sich aufrecht gegenüber dem Stoff,
den er vor seine Braut gehängt hatte, an die Wand lehnen. Er hieß
den Amin die Arme und Hände seitwärts ausstrecken. Der Jüngste
nahm Nägel und Hammer. Er nagelte den Amin mit einem Nagelschlag
durch jede Handfläche an der Wand fest. Er nagelte den
Kopf des Amin mit einem Nagelschlag durch den Kopf und die Stirn
an der Wand fest.
Dann zog der Jüngste den Stoff, den er vor die Tochter des Amin
gezogen hatte, fort. Der Amin und seine Tochter standen sich nun,
an die Wand genagelt, einander gegenüber. Sie sahen einander
in die Augen. Der Jüngste sagte: "Ihr habt meine ältesten beiden
Brüder getötet, nur weil sie nicht wußten, was Laksär Limmera ist.
Jetzt habe ich euch gezeigt, was Laksär Limmera ist. Nun könnt
ihr einander erzählen, was ihr damit Großes erreicht habt." Der
Amin und seine Tochter blieben sterbend an die Wand genagelt
stehen. Sie starben langsam. Der Jüngste trieb alle Neger aus der
Stadt. Er tötete viele.
Der Jüngste machte sich auf den Heimweg. Der Jüngste ging
zurück zu dem Hause des Löwen. Er traf seine Schwestern. Die
Schwestern fragten: "Wo warst du?" Der Jüngste sagte: "Ich habe
die Tochter des Amin dafür gestraft, daß sie unsere ältesten beiden
Brüder umgebracht hat." Die Frau des Wuarssen sagte: "Wir
haben dem Löwen unrecht getan."
Sie feierten ein großes Fest.
11. Chtaphlaräith
Ein Mann hatte einen Sohn und eine Tochter, aber seine Frau
war gestorben. Seine beiden Kinder waren erwachsen, der
Sohn ein kluger und starker Bursche, seine Tochter aber ein so
schönes Mädchen, daß er sie immer eingeschlossen hielt, damit die
Männer sie nicht sehen und gierig werden sollten. Eines Tages
wollte der Mann nun mit seinem Sohne eine große Reise unternehmen.
Der Vater sagte: "Mein Weg wird mich weit fortführen.
Ich werde vor einem Jahre nicht zurückkommen." Das Mädchen
fing an zu weinen.
Der Vater sah seine Tochter weinen und sagte: "Ich werde ein
Jahr fortbleiben. Ich lasse dir aber für sieben Jahre Vorräte zurück,
so daß du nicht in Not geraten kannst. Ich werde den Agelith
bitten, daß er alle Tage seine Alte sendet, nach dir zu sehen, und ich
werde auch den Usir bitten, für dein Wohl sorgen zu lassen." Der
Vater ging hin und besprach erst alles mit dem Agelith und dann
mit dem Usir. Dann nahm er Abschied, reiste mit seinem Sohn ab
und ließ seine Tochter allein zurück.
Der Agelith sandte nun alle Tage die alte Frau, um nach dem
Mädchen zu sehen. Die alte Frau kam jeden Tag zu dem Mädchen,
begrüßte sie, sprach mit ihr und sorgte für alles, was sie nötig hatte.
Die alte Frau sagte eines Tages zu dem Agelith: "Dies Mädchen ist
die schönste Frau im ganzen Dorfe." Der Agelith wurde neugierig.
Am andern Tage folgte er der alten Frau heimlich und trat, als die
Alte bei dem Mädchen eingetreten war, unbemerkt hinter die Tür.
Als die Alte gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte,
trat der Agelith hervor und sagte: "Guten Tag, meine Tochter."
Das Mädchen antwortete auf den Gruß des Agelith, sprach aber
nichts weiter mit ihm. Der Agelith sah aber das Mädchen. Er sah
die Schönheit des Mädchens und war sogleich verliebt wie ein Narr
(=isselev). Er ging fast besinnungslos (=immechal; soviel wie
entnervt, aller Kräfte beraubt) nach Hause. Der Agelith war von
dem Tage an stumm und verwirrt.
Der Usir sah den Zustand des Agelith. Er fragte die Alte: "Was
ist dem Agelith zugestoßen?" Die Alte sagte: "Der Agelith hat das
schöne Mädchen gesehen und ist von ihrer Schönheit so verwirrt,
daß er wie ein Narr ist." Der Usir sagte: "Ist das Mädchen denn so
schön?" Die Alte sagte: "Es ist die schönste Frau im ganzen Ort."
Der Usir wurde neugierig. Der Usir sandte am andern Tage zwei
Frauen zu dem Mädchen und sagte: "Ich habe dem Vater versprochen,
in seiner Abwesenheit nach dem Wohlbefinden seiner
Tochter Umschau halten zu lassen. Geht von heute ab jeden Tag
hin, und seht, ob dem Mädchen nichts fehlt."
Die beiden Frauen gingen zu dem Hause des Mädchens. Der Usir
folgte ihnen heimlich. Die Frauen gingen hinein und mit dem Mädchen
herum. Der Usir schlüpfte in das Haus und versteckte sich in
dessen Mitte. Die beiden Frauen lachten mit dem Mädchen, scherzten
und gingen dann. Als sie gegangen waren, kam der Usir hervor
und begrüßte das Mädchen. Das Mädchen schrie auf und lief
in eine kleine Kammer, in die verschloß sie sich. Der Usir ging zur
Haustür und warf sie zu. Er ging aber nicht hinaus, sondern er versteckte
sich an einer andern Stelle, denn er war auch von der Schönheit
des Mädchens berauscht wie der Agelith. Er mochte sich nicht
von ihr trennen. Der Usir blieb bis zum andern Morgen in seinem
Versteck.
Am andern Morgen kamen wieder die beiden Frauen, um sich
mit dem Mädchen zu unterhalten. Das Mädchen hörte sie, schloß
die Kammer, in der sie sich verschlossen hatte, auf und kam heraus.
Die beiden Frauen sprachen mit dem Mädchen, scherzten und lachten
mit ihm und gingen dann wieder. Das Mädchen schloß hinter
ihnen die Türe von innen zu. Kaum aber hatte sie zugeschlossen,
so sprang der Usir aus dem Versteck heraus, haschte das Mädchen
und sagte: "Ich bin noch hier."
Das Mädchen erschrak und sagte: "Du hast doch meinem Vater
versprochen, für mich sorgen zu lassen und nun verfolgst du mich!
Mein Vater wird mich töten, wenn er hört, daß du bei mir warst.
Wenn jemand sieht, daß du bei mir bist, wird er es meinem Vater
sagen." Der Usir sagte: "Ich will mich nur ein wenig mit dir unterhalten."
Das Mädchen sagte: "Meinst du es gut mit mir?" Der
Usir sagte: "Gewiß, ich meine es gut mit dir."
Das Mädchen sagte: "Wenn du es gut mit mir meinst, so ziehe
wenigstens die Kleider meines Vaters an. Lege deine Kleider in
diesem Raume ab, gehe dort in die Kammer und ziehe die Kleider
meines Vaters, die du darin findest, an. Ich werde, während
du die Kleider wechselst, umsehen, wer kommt und geht. Wenn
du die Kleider meines Vaters an hast, kannst du dich mit mir auch
draußen unterhalten. Sehen dich die Leute in diesen Kleidern, werden
sie nichts dabei denken, denn mein Vater ist in diesen Kleidern
hier bekannt." Der Usir sagte: "So will ich es tun."
Das Mädchen ging heraus. Es wartete, bis der Usir seine Kleider
abgelegt hatte und in die Kammer gegangen war, in der die Kleider
des Vaters liegen sollten. Als der Usir sich ganz nackt entkleidet
hatte und in die kleine Kammer gegangen war, sprang das Mädchen
herein und schloß die Kammertür zu. Dann nahm sie die Kleider,
lief zu den Nachbarn und sagte: "Seht, der Usir ist eben zu mir gekommen
und hat mich nicht in Ruhe lassen wollen. Ich habe ihn
eingeschlossen. Seht! Hier sind seine Kleider."
Die Nachbarn kamen. Sie schlossen die kleine Kammer auf. Sie
fanden den nackten Usir darin. Denn in der Kammer waren keine
Kleider. Da beschimpften die Leute den Usir und zwangen ihn,
nackt durch die Straßen zu laufen. Alle Leute traten heraus und
riefen dem Usir schlimme Worte nach. — Das Mädchen aber verschloß
die Kleider des Usir.
Der Usir fürchtete von nun an, daß der Vater und der Bruder des
schönen Mädchens bei ihrer Rückkehr von dem Vorgefallenen
Nachricht erhalten könnten und ihn dann zur Verantwortung ziehen
würden. Er wollte dem zuvorkommen und sandte dem heimkehren-
ein Vater einen Boten entgegen mit der Nachricht: "Deine Tochter,
die du mir zur Aufsicht anvertraut hast, konnte ich nicht zügeln.
Sie hat dein Haus allabendlich geöffnet und andere Mädchen und
Burschen eingeladen. Deine Tochter hat sich schändlich benommen,
und ich konnte sie nicht zur Ordnung bringen. Die Folgen ihres
Benehmens werden bald zutage kommen."
Der Vater empfing diese Nachricht und sagte zu seinem Sohne:
"Kehre vor mir heim. Ich will hier bleiben und nicht nach Hause
zurückkehren. Untersuche, was an der Nachricht, die der Usir mir
sendet, wahr ist. Hat deine Schwester sich so schlecht benommen,
so töte sie. Haben aber andere einen schlechten Leumund ohne
Grund über sie verbreitet, so töte die Lügner und sende mir ihr
Blut."
Der Bruder kehrte heim. Er traf seine Schwester. Er sah, daß
seine Schwester abgehärmt und abgemagert war. Er fragte seine
Schwester: "Was ist dir geschehen?" Die Schwester erzählte dem
Bruder, was der Agelith und der Usir getan hatten. Die Schwester
zeigte dem Bruder die Kleider, die sie dem zudringlichen Usir abgenommen
hatte, und rief die Nachbarn als Zeugen herbei. Der
Bruder hörte alles. Er ging hin, tötete den Usir und den Agelith und
sandte deren blutige Kleider seinem Vater. Dann aber verließ er
mit seiner Schwester den Ort. Er ging mit seiner Schwester an
diesem Tage bis an das Meer. Sie legten sich beide am Ufer des
Meeres zum Schlafen nieder und wollten am andern Tage weitergehen.
Nachts aber schwoll das Meer. Eine Welle schlug über das Ufer.
Die Welle hob den Bruder und seine Schwester auf und trug sie,
zurückschlagend, fort. Das Meer trug den Bruder und seine Schwester
weit fort in ein anderes Land und setzte sie am Ufer nieder. Der
Bruder und die Schwester waren im Lande der Chtaphlaräith.
Der Bruder und die Schwester blieben bis zum andern Morgen
am Ufer. Dann kam der Schäfer der Chtaphlaräith und nachher der
Chtaphlaräith selbst. Chtaphlaräith sah aber kaum das schöne Mädchen,
da ergriff er sie, flog mit ihr in die Höhe (oder setzte sie auf
seine Schulter) und trug sie in sein Haus. Das Haus des Chtaphlaräith
lag in einem Felsberg. Er hatte in seinem Hause schon
neunundneunzig schöne Mädchen. Diese Schwester war die hundertste.
Diese Mädchen und seine Schafe waren die Freude des
Chtaphlaräith.
Chtaphlaräith setzte die Schwester in seinem Hause nieder und
sagte zu ihr: "Dich lieb ich mehr als alle andern neunundneunzig
Mädchen. Dich will ich heiraten." Die Schwester sagte: "Ich mag
dich aber nicht. Ich werde dich nicht zum Mann nehmen, und
wenn du mich alle Tage schlägst." Chtaphlaräith sagte: "Wenn
du mich nicht heiraten willst, werde ich dich alle Tage schlagen
lassen." Das Mädchen sagte: "Es ist mir recht. Eher lasse ich mich
alle Tage schlagen, ehe ich heirate." Chtaphlaräith ließ dem Mädchen
morgens hundert Stockschläge geben und abends hundert
Stockschläge geben. Das Mädchen sagte aber jedesmal, nachdem
es geschlagen war: "Ich heirate dich nicht!"
Der Bruder irrte inzwischen wie irrsinnig am Ufer des Landes hin
und her und weinte über den Verlust seiner schönen Schwester.
Endlich hörte er mit Klagen auf, ging zu dem Schäfer des Chtaphlaräith
und sagte: "Wo wohnt Chtaphlaräith ?" Der Schäfer sagte:
"Chtaphlaräith wohnt in einem Felsen." Der Bruder fragte: "Wie
findet man den Weg zu diesem Felsen?" Der Schäfer sagte: "Man
braucht nur diesen schwarzen Widder (kheri - äbecher) zu besteigen.
Der Widder geht am Abend zu dem Hause des Chtaphlaräith."
Der Bruder sagte zu dem Schäfer: "Schäfer, willst du mich an
deiner Stelle heute abend deine Herde zum Hause des Chtaphlaräith
zurücktreiben lassen?" Der Schäfer sagte: "Ich bin es zufrieden,
wenn ich den Dienst beim Chtaphlaräith verlassen kann. Was
gibst du mir aber dafür?" Der Bruder sagte: "Nimm alle meine
Kleider und was ich bei mir habe; gib mir dafür deine Kleider und
sage mir, was ich wissen und was ich sprechen muß, daß der
Chtaphlaräith den Wechsel nicht merkt." Der Schäfer sagte: "Es
ist mir recht." Darauf wechselten sie die Kleider.
Als der Bursche die Kleider des Schäfers angezogen hatte, sagte
der Schäfer zu ihm: "Nun merke dir genau, was du tun mußt, um
in das Haus des Chtaphlaräith zu kommen. Du besteigst diesen
schwarzen Widder. Er wird dich bis zu dem Felsen tragen, in dem
Chtaphlaräith wohnt. Der Widder wird mit den Hörnern gegen den
Felsen rennen, und der Fels wird sich von selbst öffnen. So kommst
du in das Haus. Im Hause hat jeden Tag eines der hundert Mädchen
Wache. Heute ist die Reihe an deiner Schwester. Das Mädchen,
das die Wache bei den Schafen hat, muß die Schafe melken.
Du wirst also deine Schwester gerade heute sehen. Nach einiger
Zeit kommt dann aber der Chtaphlaräith selbst. Er wird dir sechs
Fragen vorlegen. Die erste Frage ist: ,Wo hast du heute geweidet?'
Darauf mußt du antworten: ,Ich habe auf Akaber (eine Weide mit
guten Kräutern) geweidet.' Seine zweite Frage ist: ,Gibt es auch da
viele Arvää (gute Schafskräuter)?' Darauf mußt du antworten:
,Es ist dort grün und trocken.' Seine dritte Frage ist: ,Gibt es dort
einen Schakal?' Darauf mußt du antworten: ,Der Schakal ist der
Genosse des Hirten und verläßt ihn nie.' Seine vierte Frage ist:
,Hat der Schakal etwas gegessen?' Darauf mußt du antworten:
,Der Schakal bleibt nie zurück, ohne seinen Teil zu nehmen.' Seine
fünfte Frage ist: ,Hat er ein junges oder ein altes Schaf genommen?'
Darauf mußt du antworten: ,Der Schakal ist nicht wählerisch, er
nimmt, was ihm gefällt.' Sein sechstes Wort ist: ,Geh wieder zurück!'
Darauf mußt du antworten: ,Gib mir mein Essen.' —Wenn
du alles dieses richtig beantwortest, wird Chtaphlaräith nicht merken,
daß du mit mir gewechselt hast."
Der Bruder bedankte sich, bestieg den schwarzen Widder und
ritt mit ihm und der Herde von dannen. Der Widder trug den
Bruder bis zu dem Felsen. Der Widder rannte mit den Hörnern
gegen den Felsen. Der Felsen öffnete sich. Der Bruder trieb die
Schafe in das Haus. Im Haus sah er seine Schwester. Seine Schwester
begann die Schafe zu melken. Dann kam der Chtaphlaräith
und fragte den Bruder: "Wo hast du heute geweidet?" Der Bruder
sagte: "Ich habe auf Akaber geweidet." Chtaphlaräith fragte:
"Gibt es da viel Arvää?" Der Bruder sagte: "Es ist dort grün und
trocken." Chtaphlaräith fragte: "Gibt es dort einen Schakal?" Der
Bruder antwortete: "Der Schakal ist der Genosse des Hirten und
verläßt ihn nie." Chtaphlaräith fragte: "Hat der Schakal etwas gegessen?"
Der Bruder sagte: "Der Schakal bleibt nie zurück, ohne
seinen Teil zu nehmen." Chtaphlaräith fragte: "Hat er ein junges
oder ein altes Schaf genommen ?" Der Bruder sagte: "Der Schakal ist
nicht wählerisch, er nimmt, was ihm gefällt." Chtaphlaräith sagte:
"Geh wieder zurück!" Der Bruder sagte: "Gib mir mein Essen."
Chtaphlaräith sagte: "Ja, geh hin und laß dir das Essen von dem
Mädchen dort geben, ich sehe, du bist mein guter Hirte." Der
Chtaphlaräith ging.
Der Bruder ging zu seiner Schwester, die die Schafe molk und
sagte: "Gib mir mein Essen, meine Schwester!" Die Schwester
erkannte den Bruder und wollte schreien. Der Bruder hielt ihr den
Mund zu und sagte: "Der Chtaphlaräith darf nicht merken, daß ich
es bin, der jetzt seine Schafe hütet. Sage mir schnell, wie es dir
geht." Die Schwester sagte: "Ich erhalte jeden Morgen und jeden
Abend hundert Stockschläge. Der Chtaphlaräith will mich zwingen,
ihn zu heiraten. Ich werde es aber nicht tun." Der Bruder sagte:
"Meine Schwester, wenn er dich morgen wieder auffordert, ihn zum
Manne zu nehmen, so sage zu ihm: ,Wo ist deine Seele!' Wenn du
zu mir soviel Vertrauen hast, daß du mir sagest, wo deine Seele ist,
will ich dir meine Seele schenken und will dich heiraten, sobald du
das Fest bereitet hast.' Wenn ich erst weiß, wo die Seele des
Chtaphlaräith ist, werde ich dich aus seinen Händen befreien."
Am andern Tage fragte der Chtaphlaräith die Schwester: "Willst
du heute wieder deine Stockschläge haben, oder willst du endlich
bereit sein, mich zu heiraten?"
Die Schwester antwortete: "Mein Chtaphlaräith, ich will dir den
Grund sagen, weshalb ich mich bisher weigerte, dich zu heiraten!
Hier sind noch neunundneunzig andere Mädchen. Ich weiß nicht,
welchem du eines Tages, nachdem du mich geheiratet hast, eine
Stellung über mir einräumen würdest. Ich will den heiraten, der
mir volles Vertrauen und mehr Vertrauen entgegenbringt als anderen,
und der mich nicht eines Tages erniedrigen wird. Zeige mir
also Vertrauen, sage mir, wo deine Seele ist, und ich will dir meine
Seele schenken. Sage mir, wo deine Seele ist, und ich werde dich
heiraten, sobald du das Fest vorbereitet hast."
Chtaphlaräith sagte: "Ich werde es dir sagen. Meine Seele ist
dort in dem Loch in der Wand." Die Schwester stieß einen Jubelschrei
aus. Sie ergriff den Stein der roten Farbe und zeichnete
Bilder (in Wahrheit Ornamente, Punkte und Linien; kabylischer
Ausdruck ist Sing.: hethuicht; Plural: hethuaken) auf die Mauer
um das Loch (ein Zeichen der Verehrung und Hochschätzung).
Chtaphlaräith sagte: "Nicht doch, meine Seele ist nicht in dem
Loche, sie ist in dem Akufi." Die Schwester begann sogleich mit
dem roten Stein Bilder auf den Akufi zu zeichnen. Chtaphlaräith
sagte: "Ich sehe nun, daß du es gut mit mir meinst. Aber meine
Seele ist nicht in dem Loche und nicht in dem Akufi. Jetzt, wo ich
Vertrauen zu dir habe, will ich dir sagen, wo meine Seele wirklich
ist und wo kein Mensch sie je wird erreichen können: Meine Seele
ist ein Seidenfäden (=l'chettr laharir, laharir für Seide, ist arabisch).
Der Seidenfäden ist in einem Ei. Das Ei ist im Leibe eines Rebhuhns.
Das Rebhuhn lebt im Bauche einer Kamelstute. Die Kamelstute
ist in einem Felsen inmitten des Meeres." Das Mädchen sagte:
"Ich danke dir. Nun rüste das Fest!"
Als es Nacht war, schlich das Mädchen zu ihrem Bruder und
sagte zu ihm: "Die Seele des Chtaphlaräith ist ein Seidenfäden. Der
Seidenfäden ist in einem Ei. Das Ei ist im Leibe eines Rebhuhns.
Das Rebhuhn ist im Bauche einer Kamelstute. Die Kamelstute ist
in einem Felsen inmitten des Meeres."
Am andern Morgen trieb der Bruder die Schafe des Chtaphlaräith
auf die Weide am Rande des Meeres. Der Bruder des Mädchens
hörte zwei kleine Vögel, die sprachen miteinander und sagten:
"Wer in das Meer zu dem großen Felsen gelangen will, der muß
den Stock Tha'aquesta-A'asphor haben. Der Stock (= tha'aquesta)
ist der Sohn des Chtaphlaräith, er ist aufbewahrt im Hause
des Chtaphlaräith. Man kann ihn finden. Wer mit dem Stock das
Meer schlägt, macht das Meer zurücktreten. Dann liegt der Weg zu
dem Felsen frei. Der schwarze Widder kann den Felsen zersprengen.
Der Kamelstute können wir zwei das Rebhuhn nehmen. Wir können
das Rebhuhn töten. Der Bursche kann das Ei auffangen."
Der Bruder verstand, was die beiden Vögel sagten. Der Bruder
merkte sich alles genau. Abends bestieg er den schwarzen Widder
und kam nach dem Haus des Chtaphlaräith. Der Bruder ging zu
dem Mädchen, das an diesem Tage die Schafe melkte und sagte zu
ihm: "Mein Mädchen, im Hause des Chtaphlaräith muß der Stock
Tha'aquesta-A'asphor sein. Wenn ihr neunundneunzig Mädchen
mir noch in dieser Nacht den Stock sucht und findet und ihn mir
morgen früh bringt, ehe ich die Schafe zur Weide treibe, kann
ich euch noch morgen aus dem Hause des Chtaphlaräith befreien."
Die neunundneunzig Mädchen suchten die ganze Nacht nach dem
Stocke Tha'aquesta-A'asphor. Sie fanden ihn. Sie brachten ihn
dem Bruder. Er nahm ihn mit sich, als er am andern Morgen die
Schafe auf die Weide trieb.
Der Bruder ging an das Ufer des Meeres. Er schlug mit dem
Stock Tha'aquesta-A'asphor in das Meer. Das Meer trat zurück.
Der Weg zu dem großen Felsen wurde frei. Der Bruder ging mit
dem schwarzen Widder zu dem großen Felsen in der Mitte des
Meeres. Der Widder rannte mit seinen Hörnern gegen den Felsen.
Der Felsen öffnete sich. Die riesengroße Kamelstute trat heraus.
Da wurde daheim Chtaphlaräith schon von einem schweren Fieber
befallen. Einer der beiden Vögel flog auf den Kopf der riesengroßen
Kamelstute und öffnete ihr das Maul. Das Rebhuhn flog aus dem
Maul und wollte in die Ferne fliegen. Der andere Vogel stieß auf das
Rebhuhn herab und riß ihm den Bauch auf. Da fiel das Ei heraus
und der Bruder fing es auf. — Im Hause fiel der Chtaphlaräith in
eine schwere Ohnmacht.
Der Bruder nahm das Ei. Er bestieg den schwarzen Widder und
ritt so schnell er konnte zu dem Hause des Chtaphlaräith. Chtaphlaräith
erwachte aus seiner Ohnmacht und sagte (mit schwacher
Stimme): "Töte mich nicht, und ich will dir alles geben, was ich
habe." Der Bruder sagte: "Nein, ich lasse dich nicht am Leben!"
Der Bruder zerbrach das Ei. Chtaphlaräith fiel hin. Der Bruder
verbrannte den Seidenfäden. Chtaphlaräith starb. Der Bruder warf
die Leiche des Chtaphlaräith in das Meer.
Der Bruder rief nun alle Hirten im weiten Lande zusammen. Er
gab jedem der Hirten eines der neunundneunzig Mädchen zur Frau.
Seine Schwester verheiratete er an den Schäfer, der mit ihm die
Kleider getauscht hatte. Er selbst ward ein großer Agelith und
machte den Schäfer, den seine Schwester geheiratet hatte, zu seinem
Usir.
12. Das Leben im Ei
Ein junger Hirt (= amiksa; Plural: imichsäün) weidete die
L., Schafe seines Vaters in der Steppe (= thamrischt). Der Schakal
hatte großen Hunger. Er kam zu dem Hirten und fragte ihn:
"Kannst du mir nicht etwas zu essen geben?" Der junge Hirt
sagte: "Du weißt, daß du mein Feind bist (Feind =athäu). Und
jetzt willst du von mir Essen haben?" Der Schakal sagte: "Ja, ich
bitte dich darum. Der, der gestern dein Feind war, kann morgen
dein Freund (= äth[e]diak) sein." Der junge Hirt gab darauf
dem Schakal ein Schaf. Der Schakal fraß es.
Abends trieb der junge Hirt seine Herde heim. Der Vater zählte
die Schafe. Er fand, daß eines fehlte. Der Vater fragte den Hirten:
"Wo ist das Schaf geblieben?" Der junge Hirt sagte: "Ein Schaf
war sehr müde. Es blieb zurück und wurde vom Schakal gefressen."
Der Vater schlug seinen Sohn und sagte: "Verlasse mein Haus!"
Der Vater verjagte seinen Sohn.
Der junge Hirt ging. Er legte sich unter einen Feigenbaum. Als
es Abend war, weinte er. Als es Nacht wurde, kam der Schakal
und sagte zu ihm: "Komm, mein Freund und folge mir!" Der Hirt
ging mit dem Schakal. Der junge Hirt blieb in der Nacht bei dem
Schakal. Als aber der andere Morgen anbrach, fror ihn, denn er
hatte nur wenige Kleider bei sich. Der Schakal sagte: "Komm, ich
will dir Kleider verschaffen. Verstecke dich dort am Brunnen. Es
kommen die Burschen vorüber, die zur Schule gehen. Ich werde
sie locken, daß sie mir folgen. Wenn sie mir nachlaufen wollen und
ihre Kleider wegwerfen, nimm die Kleider und komm dann in
jenen Wald. Dort treffen wir uns wieder."
Die Burschen kamen. Der Schakal lief ihnen hinkend über den
Weg. Die Burschen sahen ihn und riefen: "Ein hinkender Schakal!"
Die Burschen warfen die Kleider weg, die sie im Laufen
hinderten und rannten hinter dem Schakal her. Inzwischen aber
kam der Bursche, nahm die Kleider, die er brauchte und lief mit
ihnen in den Wald. Der Schakal lief einige Zeit hinkend vor den
Burschen her. Als er sie weit genug weggelockt hatte, machte er
aber einen weiten Satz und sprang auch in den Wald von dannen.
Im Walde traf er wieder den Burschen.
Der Schakal sagte zu dem Burschen: "Nun komm mit mir. Ich
kenne das Haus einer alten und sehr reichen Frau. Wir wollen
sehen, ob wir nicht ihre Schätze für dich gewinnen können." Sie
gingen zusammen durch den Wald. Sie kamen zu dem Hause der
alten Frau. Sie klopften an und fragten: "Meine Mutter, dürfen wir
uns bei dir zu Gaste laden?" (sich selbst einladen = larath; sich
Selbsteinladender =inävgi; Plural: inäfgauen). Die alte Frau
sagte: "Kommt nur herein. Ich habe eine Kammer, in der könnt
ihr schlafen. Ich habe ein Huhn, das werde ich schlachten, und ich
werde euch ein gutes Essen bereiten. Bis morgen dürft ihr bleiben!"
Der Bursche und der Schakal kamen herein.
Die alte Frau bereitete ihnen ein Essen. Sie aßen. Als es Nacht
geworden war, saßen der Schakal, der Bursche und die alte Frau
noch beieinander und plauderten miteinander (plaudern = l'hathrar;
sprechen im Sinn von gewichtige Ansprachen usw. =
thämthläith). Die alte Frau sagte: "Ich habe viel Gold. Aber es
hat niemand gesehen, und es wird auch niemand sehen." Der
Schakal fragte: "Kann man das Gold einmal betrachten?" Die
Alte sagte: "Das Gold zu sehen ist für dich zu schwer; es ist
nämlich in meinem Bauch (=älrburt)." Der Schakal fragte: "Und
wo hast du deine Seele ?" (=tharuicht, anscheinend aus dem arabischen
aro[a]ch stammend). Die alte Frau sagte: "Meine Seele ist
noch schwerer zu erlangen als mein Gold. Meine Seele ist in einem
Ei. Das Ei ist in einem Rebhuhn. Das Rebhuhn ist in einem
Widder (=ikerri). Der Widder ist in einem Felsen (=adrar).
Der Felsen liegt in der Mitte des Meeres. (Für Meer gebrauchen die
alten Kabylen auch hier das Wort: thämda-misseba, was eigentlich
Seen [=thämda] sieben heißt. Das Meer besteht nach Anschauung
dieser alten Leute aus sieben Seen.) Der Schakal war über diese
Mitteilung sehr erstaunt (erstaunt, verblüfft sein =l'ma'ajba). Er
sagte nichts, ging zum Schlafen und dachte viel darüber nach.
***Am andern Morgen verabschiedeten sich der Schakal und der
Bursche von der Alten und machten sich auf den Weg. Sie waren
ein gutes Stück gegangen, da kamen sie zu zwei Burschen, die
schlugen sich. Der Schakal sagte: "Was schlagt ihr euch?" Die
Burschen sagten: "Wir schlagen uns um einen Stock. Es ist ein
Stock, mit dem kann man das Meer trocken machen." Der Schakal
sagte: "Schlagt euch nicht darum. Gebt mir den Stock. Ich will
mich hier am Waidrande aufstellen. Nun geht dort bis auf den
Hügel. Wenn ich rufe, fangt ihr an zu laufen. Wer zuerst bei mir
ankommt, bekommt den Stock. Seid ihr damit einverstanden?"
Die beiden Burschen sagten: "Ja, so wollen wir es machen." Sie
gingen.
Während die Burschen zu der Stelle gingen, die ihnen bezeichnet
war, begann der Schakal sogleich einen Ast am Waldrande abzubrechen,
und daraus schnitzte er einen Stock, der sah genau so aus,
wie der, mit dem man das Meer trocken machen kann. Die Burschen
waren auf dem Hügel angekommen. Sie riefen: "Sollen wir
anfangen?" Der Schakal sagte: "Seid ihr beide auf dem Hügel?"
Die Burschen riefen: "Ja, wir sind beide auf dem Hügel!" Der
Schakal rief: "Dann lauft." Die beiden Burschen liefen, so schnell
sie konnten. Der eine kam eher an als der andere. Der Schakal gab
ihm den Stock, den er geschnitzt hatte und sagte: "Du hast dir den
Stock, mit dem man das Meer trocken machen kann, redlich verdient.
Nimm ihn." Er gab dem Burschen den falschen (=n'dirri)
Stock und behielt den richtigen (= la'ali).
Der Schakal ging mit dem Burschen und dem Stock, mit dem
man das Meer trocken machen konnte, weiter und kam mit ihm
zu einer Stelle, da hatte ein Schakal einen Adler gepackt und wollte
ihn erwürgen. Der Schakal warf sich auf seinen Bruder, biß ihn
und sagte: "Laß meinen Freund los!" Der gebissene Schakal ließ
den Adler frei. Der Adler stürzte sich auch auf den gebissenen
Schakal. Der gebissene Schakal eilte, sobald er sich drücken
konnte, eilig von dannen. Der Adler sagte: "Jetzt bin ich euer
Freund." Der Schakal sagte: "So komme mit uns."
Der Schakal mit dem Stock, mit dem man das Meer trocken
machen konnte, der Bursche und der Adler gingen weiter und kamen
an eine Stelle, an der ein Löwe mit einem Stier kämpfte. Der Löwe
war dem Stier in den Nacken gesprungen und wollte ihn tot beißen.
Der Schakal sah dies und lief nahe zu dem Besitzer des Stieres:
"Awawdth! Awawdth (Besitzer, Besitzer), komm schnell! Dein
Stier ist in Lebensgefahr!" Darüber erschrak der Löwe und rannte,
so schnell er konnte, von dannen. Der Stier aber sagte zum Schakal:
"Jetzt bin ich dein Freund!" Der Schakal sagte: "So komm
mit uns."
Der Schakal mit dem Stock, mit dem man das Meer trocken
machen konnte, der Bursche, der Adler und der Stier kamen zusammen
an das Meer. Der Schakal schlug mit dem Stock auf das
Ufer. Da ward das Meer sogleich trocken. In der Mitte des Meerbodens
lag ein großer Fels. Der Stier rannte mit den Hörnern auf
den Felsen zu. Der Felsen barst. Aus dem Felsen sprang ein Widder
hervor. Der Schakal sprang auf den Widder, biß ihn tot und riß ihm
den Leib auf. Aus dem Leib kam ein Rebhuhn empor. Das Rebhuhn
flog hoch. Der Adler stieß auf das Rebhuhn und biß es tot.
Als das Rebhuhn starb, fiel ein Ei heraus. Der Bursche sprang
schnell herzu und fing das Ei auf.
Als das Rebhuhn das Ei fallen ließ, bekam die alte Frau in ihrem
Hause das Fieber. Der Schakal und der Bursche kehrten aber mit
dem Ei zu dem Hause zurück. Als sie an die Türe der Hütte der
alten Frau kamen, ließ der Bursche das Ei fallen. Das Ei zerbrach
auf der Schwelle. Die alte Frau starb.
Der Schakal schnitt der alten Frau den Leib auf. Sie fanden darin
ein sehr schönes Mädchen, das hatte im Haare das Bild des aufgehenden
Mondes (=ajur -) und auf dem kleinen Finger einen
Ring (=thächäthend). Als sie das Mädchen herausgenommen
hatten, wuchs es sehr schnell.
Eines Tages steckte der Bursche den Fingerring an die eigne
Hand. Er ging damit in die Stadt. In der Stadt sah er einen Juden.
Der Jude sah den Ring. Er sagte zu dem Burschen: "Verkauf mir
den Ring. Ich will dir den Ring abkaufen. Was willst du für den
Ring haben?" Der Bursche sagte: "Wieviel gibst du mir?" Der
Jude sagte: "Ich gebe dir ioo Goldstücke." Dann sagte er: "Ich
gebe dir 500 Goldstücke." Dann sagte er: "Ich geb dir 1000 Goldstücke."
Der Bursche sagte: "Ich will es mir überlegen." Der
Bursche ging nach Hause und erzählte dem Schakal, was ihm der
Jude für den Ring geboten habe. Der Bursche sagte zu dem Schakal:
"Was meinst du dazu?" Der Schakal sagte: "Nein, gib den
Ring nicht." Der Schakal steckte den Ring dem Mädchen an. Das
Mädchen sprach zum erstenmal. Das Mädchen sprach einen
Wunsch aus. Der Wunsch war sogleich erfüllt.
Der Bursche heiratete das Mädchen. Er ward ein großer Agelith
über alles Land und erhielt, was er wünschte.
13. Die Schatzhöhle der Wuarssen
Es waren einmal (=l'laen) zwei Brüder, von denen war der
ältere reich und seine Kinder waren Knaben, während der
jüngere sehr arm war und als Kinder nur Mädchen hatte. Sie wohnten
in zwei Gehöften, die einander sehr nahe lagen. Der Arme
schlug sich mühsam durch und hatte es schwer, jeden Tag sein
tägliches Brot zu erhalten. Der Reiche half dem jüngeren hierbei
nie.
Eines Tages ging der Arme in den Wald, um Holz zu schlagen,
das er in die Ortschaft tragen wollte, um es zu verkaufen. Nachdem
er lange und schwer gearbeitet hatte, setzte er sich auf einen Baumstumpf
und ruhte aus. Er saß so einige Zeit, da hörte er aus der
Entfernung Geräusch herankommen. Er verhielt sich ganz still und
sah, wie sieben Wuarssen durch den Wald auf einen Felsen zugingen
und da stehen blieben.
Einer der Wuarssen trat dann vor und sagte zu dem Felsen:
"Öffne dich!" ("oelli!"). Darauf sprang der Felsen weit auseinander
und bildete das Tor zu einer großen Höhle, in die der
Arme gut hineinsehen konnte, da sie seinem versteckten Ruheplätze
gerade gegenüber lag. Er sah, daß in der Höhle allerhand
und außerordentliche Schätze aufgespeichert waren. Die sieben
Wuarssen gingen in die Höhle, hielten sich einige Zeitlang darin
auf und kamen dann wieder heraus. Als alle sieben herausgetreten
waren, sagte einer von ihnen zum Felsen gewendet: "Schließe dich!"
("s[e]kórr!") Darauf trat das Felsentor wieder zusammen und
schloss sich, so daß nichts mehr von alledem zu sehen war. Dann
verließen die sieben Wuarssen den Platz vor dem Felsen und entfernten
sich durch den Wald auf demselben Wege, auf dem sie gekommen
waren.
Nachdem einige Zeit seit dem Weggange der sieben Wuarssen
verstrichen war, erhob sich der Arme, legte sein Holzbeil beiseite,
trat auf den Felsen zu und sagte wie der Wuarssen: "Öffne dich!"
Genau wie bei den Worten des Wuarssen klaffte der Felsen auseinander
und zeigte ein großes Tor, durch das der Arme nun viel
deutlicher in die Höhle sehen konnte, weil er dicht davor stand.
Der Arme trat ein. Vornan standen sieben Platten mit Kuskus, der
duftete wundervoll. Daneben lag in einer Nische hoch aufgeschichtet
ein mächtiger Haufen von Gold. Der Arme rührte den
Kuskus nicht an, denn er war an Mäßigkeit gewohnt und hatte nur
den einen Gedanken, bei dieser Gelegenheit für sich und seine Kinder
ohne jeden Zeitverlust soviel zu gewinnen, daß er ein für allemal
für das tägliche Brot genug habe. Er nahm also seinen Burnus
(= teschlucht) ab und füllte ihn voll Gold. Er hob von Zeit zu Zeit
das Bündel, um zu sehen, daß es auch nicht zu schwer werde. Er
war aber als armer Mann, der gewohnt war, sein tägliches Essen
durch Holzschlagen und Holztragen zu verdienen, im Tragen geübt
und konnte so eine ganze Menge von dannen bringen. Er schulterte
seine Last und trat aus der Höhle. Er wandte sich noch einmal um
und sagte: "Schließe dich!" Darauf schloß sich das Tor hinter ihm,
und der Felsen stand als ungetrennte Masse da wie vorher.
Der Arme trug seine Last mit Gold nach Hause und gleich in seine
Kammer. Er legte sie in ein Loch und deckte es zu. Dann trat er
heraus, um sich von der Arbeit etwas zu erholen, und endlich sagte
er zu seiner ältesten Tochter: "Geh doch einmal hinüber zu meinem
älteren Bruder und bitte ihn, mir das Maß für eine Stunde zu
leihen." Das Mädchen lief zu dem älteren Bruder hinüber und
richtete die Bestellung aus. Der ältere Bruder, der sehr reich war,
seinem Bruder aber niemals etwas gönnte, dachte bei sich: "Was
mag dieser arme Tropf zu messen haben! Der Mensch ist doch so
arm, daß er nicht einmal ein Stück Sandfeld besitzt, das er ausmessen
könnte. Ich werde aber schon in Erfahrung bringen, was
es da drüben mit einem Male zu messen gibt." Er strich also auf
den Boden des Meßgefäßes etwas Harz und gab es dann der Tochter
des Bruders. Der jüngere, arme Bruder empfing das Maß, ging damit
in seine Kammer, schloß sie hinter sich ab und begann das Gold
der Wuarssen zu messen. Er verdeckte den Schatz sehr sorgfältig
und gab das Gefäß seiner Tochter mit dem Auftrage, es dem älteren
Bruder wieder zurückzubringen. Er bemerkte dabei aber nicht, daß
an dem auf den Boden des Gefäßes gestrichenen Harz ein Stück Gold
hängen geblieben war.
Als der ältere reiche Bruder, der seinem armen Bruder nichts
gönnte, also das Gefäß aus den Händen seiner Nichte entgegengenommen
hatte, eilte er damit sogleich in das Haus und an das
Feuer, um bei dessem Schein festzustellen, was der Bruder wohl gemessen
habe. So fand er denn am Boden des Gefäßes das am Harze
festgeklebte Gold. Der Mann setzte das Gefäß auf den Boden,
schlug die Hände zusammen und rief: "Was, dieser Bursche, der
immer nichts besitzen will, dieser Tropf, der immer den Armen
macht, dieser Nichtsmensch, der kein Maß voll Ackererde zu haben
behauptet, hat das Gold in solcher Fülle, daß er es schon mit einem
Getreidescheffel ausmißt? Ho! Da soll er denn doch gleich mit mir
teilen. Ho! Mir, dem älteren Bruder, soll er schon genug abgeben."
Der ältere reiche Bruder ergriff ein Beil und rannte voller Wut
in das Haus des jüngeren armen Bruders, den er in seiner Kammer
traf. Sofort lief er mit dem Beile auf ihn zu und sagte: "Du hast
ja jetzt schon so viel Gold, daß du es mit dem Scheffel ausmißt.
Schnell sage mir, wie ich auch zu solchem Reichtum kommen kann,
oder ich töte dich. Schnell, sage es!" Der jüngere Bruder suchte den
älteren zu beruhigen und sagte: "Aber, mein älterer Bruder, ich
dachte immer, du wärest reich und für dich bedeute das Gold und
das Brot nichts! Ich sehe nun, daß du noch mehr besitzen möchtest,
und ich will dir gerne sagen, wie du dazu kommen kannst. Es
ist nicht nötig, mich deswegen totzuschlagen. Ich rate dir überhaupt,
bei der Sache bedächtig und überlegt zu handeln, denn die
Sache ist eine Angelegenheit der Wuarssen, die mit uns Menschen
übel umgehen, wenn sie unserer habhaft werden."
Der jüngere Bruder schilderte also dem älteren alle seine Erlebnisse,
er bezeichnete ihm genau die Stelle, an der er den Felsen
finden würde, und ermahnte ihn zum Schluß, ja recht sorgfältig
und nachdenklich zuwege zu gehen, indem er ihn nochmals auf die
große Gefahr aufmerksam machte. Der ältere Bruder sagte aber:
"Deine Redereien und Ratschläge kannst du dir sparen. Ich weiß
mit Gold besser umzugehen als du, denn ich habe meine Erfahrung.
Und was du, der Jüngere, fertig bekommst, das kann ich, der Ältere,
noch allemal!" Damit entfernte er sich und ging nach Hause.
Am gleichen Abend legte sich der Reiche noch fünf Fellsäcke zurecht,
die er am andern Tage mit Gold zu füllen gedachte. Die ganze
Nacht hindurch schlief er aber nicht, so aufgeregt war er, in der
Hoffnung, morgen diese große Menge Gold nach Haus bringen zu
können. Als die Sonne aufging, hatte er sich schon zurecht gemacht
und lief so schnell er laufen konnte nach dem Walde zu der
Stelle, die der jüngere Bruder ihm bezeichnet hatte.
***Der Reiche erkannte den Felsen sogleich. Er schrie ihn laut an:
"Öffne dich!"worauf der Felsen sich zudem großen Tore öffnete,
das in die Höhle führte. Der Reiche ging hinein. Sein erster Blick
fiel auf die sieben Schalen mit Kuskus, der so wundervoll duftete,
daß der Reiche, der gewöhnt war, alles Leckere, was sich ihm
zeigte, für sich zu fordern, sogleich darüber herfiel. Er warf die
Fellsäcke hin und begann von dem Kuskus der ersten Platte zu
essen, und das schmeckte ihm so ausgezeichnet, daß er mit der
zweiten fortfuhr und nicht eher aufhörte, als bis der letzte Brocken
der letzten Schale völlig verzehrt war. Dann war der Reiche aber
auch so vollgefüllt von Kuskus, daß es ihm schwer wurde, sich zu
erheben.
Er sah nun das Gold, das in der Nische aufgespeichert lag. Er
nahm seine fünf Lederbeutel, hockte sich nieder und füllte alle fünf
mit Gold, bis in keinen einzigen mehr etwas hinein ging. Danach
wollte er sich nun auf den Heimweg machen und nahm die fünf
Säcke mit Gold auf. Er war aber als Reicher nicht gewöhnt, Lasten
zu tragen. Dann hatte er das Maß dessen, was ein Mann zu tragen
imstande ist, vollkommen überschätzt, und endlich hatte er sich so
voll gegessen, daß er sich kaum bewegen konnte. Erst wurde ihm
schon das Aufstehen schwer. Dann konnte er die fünf gefüllten
Säcke kaum emporheben, und endlich kam er mit der Last nicht
durch das Tor, weil er zu gemästet war. Er suchte sich hindurchzuzwängen.
Die Säcke blieben auf beiden Seiten am Felsen hängen.
Er zog mit aller Gewalt. Mit alledem hatte er sehr viel Zeit verloren,
hatte sich nun aber beinahe glücklich durch das Tor hindurchgepreßt,
als er in der Entfernung ein Geräusch hörte, das augenscheinlich
von den sieben Wuarssen ausging, die durch den Wald
auf den Felsen und die Höhle zukamen.
Als der Reiche das Geräusch hörte, packte ihn eine entsetzliche
Furcht. Jetzt fiel ihm erst ein, was der Bruder von der Gefahr erzählt
hatte, in die er sich begeben würde. Der Reiche dachte jetzt
nur noch daran, wie er dem Schicksal, verschlungen zu werden, entgehen
konnte. Er ließ die schweren Ledersacke mit Gold fallen.
Er sprang durch das Tor und vergaß in der Eile dem Felsentor zu
befehlen, sich zu schließen. Das Felsentor blieb offen. Der Reiche
sah sich draußen nach einem Schlupfwinkel um, in dem er sich verstecken
könne. Er sah in der Nähe eine Grube. In diese Grube
pflegten die Wuarssen die Leichen der Menschen, die sie getötet
hatten, zu werfen, um sie für eine Zeit aufzuheben, in der sie Hunger
hatten. Der Reiche stieg in die Grube und versteckte sich zwischen
den Leichen.
Die sieben Wuarssen kamen. Die sieben Wuarssen sahen, daß
das Felsentor geöffnet war. Sie sahen die mit Gold gefüllten Fellsäcke
am Boden liegen. Sie sahen, daß die sieben Schalen mit
Kuskus leer gegessen waren und machten sich sofort auf die Suche
nach dem Diebe, der hier gewesen sein mußte. Einige suchten am
Boden nach der Spur und entdeckten bald die Spur des Reichen, die
in die Grube mit den Leichen führte. Die Spur führte nicht wieder
aus der Grube heraus. Der Dieb mußte sich also zwischen den
Leichen versteckt halten. Die Wuarssen zündeten nun ein Feuer
an und machten ein spitzes Eisen darin glühend. Mit dem glühenden
Eisen berührten sie dann in der Grube einen Körper nach dem
andern. Als sie den glühenden Eisenstachel dem Reichen in den
Leib stachen, schrie er vor Schmerz laut auf. Die Wuarssen sagten:
"Das ist der Lebendige! Das ist der Dieb!"
Die sieben Wuarssen zogen den Reichen aus der Grube. Sie töteten
ihn oben, dann aßen sie einiges, und zuletzt hingen sie den blutenden
Körper zur Warnung für andere an der Decke der Höhle auf,
so daß er lang herunter hing. Nachdem sie dieses getan, verließen
sie die Höhle. Einer von ihnen wandte sich um und sagte: "Schließe
dich!" Da schloß sich das Felsentor, und der Felsen stand wieder
als eine große geschlossene Steinmasse ohne Riß und Fuge da. Die
sieben Wuarssen gingen von dannen wie sie gekommen waren.
***Am gleichen Abend sandte der jüngere Bruder in das Gehöft-des
älteren hinüber und ließ fragen, wo sein Bruder wäre. Die Frau
ließ antworten, der ältere Bruder sei ganz früh am Tage weggegangen
und seitdem noch nicht wiedergekommen. Der jüngere
Bruder sagte bei sich: "Dann ist mein älterer Bruder sicherlich von
den Wuarssen getötet, und das war sowieso zu fürchten, denn er war
von Natur gierig und wollte von allem immer zu viel essen. Ich
werde mich morgen früh selbst auf den Weg machen und nach
meinem Bruder sehen."
Am andern Morgen ging der jüngere Bruder in den Wald zu dem
Felsen, vor dem er am ersten Tage die sieben Wuarssen hatte
sprechen hören. Er sagte zu dem Felsen: "Öffne dich!" Der Felsen
klaffte auseinander, und der jüngere Bruder konnte durch das Tor
in die Höhle sehen, in der dicht am Eingange die fünf Lederbeutel
mit Gold lagen, in der die leergegessenen Kuskusschalen standen
und von der Decke der blutende Leichnam seines Bruders herabhing.
Der jüngere Bruder sagte: "So dachte ich es mir! Er wollte
immer zu viel essen. Aber begraben werde ich ihn doch, und die
Wuarssen sollen seinen Leichnam nicht zur Schande meiner Familie
hängen haben."
Der Jüngste nahm den Leichnam seines Bruders von der Decke
und schleppte ihn auf dem Rücken von dannen. Als er draußen war,
wandte er sich noch einmal zu dem Tore und sagte: "Schließe dich!"
Der Felsen schloß sich. Der jüngere Bruder schleppte den Leichnam
auf dem Rücken immer weiter, bis er in seinem Gehöft ankam.
Unterwegs tropfte der blutende Leichnam und hinterließ eine Spur
von Blutstropfen. Es lief aber eine Schildkröte (= ifkerr) hinter
dem jüngeren Bruder und seiner Leichenlast her und deckte unterwegs
überall Erde auf die Blutstropfen, so daß die Blutspur verwischt
war. Als der jüngere Bruder mit der Leiche des älteren auf
dem Rücken in seinem Gehöft angelangt war, meldete sich die
Schildkröte und sagte: "Ich bin von der Höhle der Wuarssen bis
hierher immer hinter dir hergelaufen und habe über alle Blutstropfen,
die von der Leiche deines Bruders herabgefallen sind, Erde
gestrichen, damit die Wuarssen die Spur verlieren und dich nicht
finden. Für diese Arbeit zahle mir!" Der jüngere Bruder sagte:
"Diese Arbeit zahle ich dir nicht, ich habe dich nicht damit beauftragt;
du hättest mich vorher fragen sollen, ob sie mir recht ist."
Die Schildkröte wurde darüber böse. Die Schildkröte sagte: "Nun
habe ich die ganze Arbeit umsonst gemacht. Wenn ich sie aber
einmal umsonst gemacht habe, kann ich sie auch zweimal umsonst
machen." Die Schildkröte lief also zurück und kratzte von
allen Blutstropfen die Erde wieder ab, so daß sie wieder frei zutage
lagen.
Am Abend kamen die Wuarssen zu ihrem Felsen zurück. Sie
sahen, daß der Felsen geschlossen war. Ein Wuarssen trat vor und
rief: "Öffne dich!" Sogleich öffnete sich der Felsen. Die Wuarssen
blickten durch das Tor. Sie sahen, daß der Leichnam des erschlagenen
älteren Bruders weggenommen war. Die sieben Wuarssen
sahen sich staunend an. Sie wandten sich um. Sie suchten am
Boden. Sie fanden die Spur. Sie liefen der Spur, die die Schildkröte
erst zugedeckt, dann aber wieder freigelegt hatte, entlang. Die
Wuarssen kamen zu dem Gehöft des jüngeren Bruders. Der
jüngere Bruder wußte, daß die Wuarssen kommen würden. Er
schaute hinaus, bis er sie in der Ferne kommen sah. Dann ging er
ihnen entgegen.
Der jüngere Bruder lud die Wuarssen ein, sein Haus zu betreten
und bei ihm zu speisen. Die sieben Wuarssen nahmen an. Er
führte die sieben Wuarssen in eine Kammer, um die an den Wänden
Häcksel und Stroh aufgeschichtet war. Er ging hinaus, das
Essen zu holen. Er zündete den Häcksel und das Stroh an. Das
ganze Haus mit den Wuarssen darin brannte ab.
14. Der singende Vogel (Tir Lemechcheni)
(Vgl. Bd. III Nr. 39 S. 155)
Ein Mann heiratete im Laufe der Jahre drei Frauen, von denen
er je einen Sohn hatte. Am meisten liebte er seine jüngste
Frau und deren Sohn, denn sie waren nicht wie die beiden älteren
Frauen und deren Söhne gierig nach seinem Gelde. Seit er seine
drei Söhne hatte, dachte er viel daran, sie gut zu verheiraten und
ihnen gute Frauen zu geben. Der Charakter seiner beiden ältesten
Söhne war ihm aber bedenklich, und so zögerte er, bis er achtzig
Jahre alt war. Eines Tages bedachte er aber sein Alter, und er sagte
in Gegenwart seiner Frauen: "Ich bin nun achtzig Jahre alt. Meine
Söhne sind alt genug, um Frauen zu bekommen. Mein Schwanken
ist unrecht. Meine Söhne sollen nun nach ihren Verdiensten heiraten."
Nachdem der Alte das gesagt hatte, verfiel er aber wieder in seine
Gleichgültigkeit, kam für einige Zeit nicht wieder auf die Sache zu
sprechen, und da er sowieso niemals sehr viel sprach, so schien die
Sache für einige Zeit erledigt. Nun nahm eines Tages die erste Frau
die zweite zur Seite und sagte zu ihr: "Wir beide sind miteinander
befreundet und wissen, was wir wollen, während die dritte töricht
ist. Trotz dieser Torheit zieht unser Mann die dritte und ihren Sohn
uns und unseren Söhnen vor, und da er alt und schwerfällig wird,
so müssen wir sehen, unsern Söhnen und uns selbst eine hervorragende
Stellung zu geben." Die andere Frau sagte: "Du hast recht.
Wir wollen unsere dritte Frau, und unsere Söhne sollen ihren
jüngsten Bruder zur Seite schieben. Und da unser Mann von einer
Abmessung der Verdienste gesprochen hat, so wollen wir sehen, daß
er allen seinen drei Söhnen eine Aufgabe gibt, bei deren Lösung
unsere beiden Söhne den dritten Burschen in Schande bringen und
damit auch deren Mutter aus der Vorzugsstellung verdrängen
können."
Nachdem die beiden sich derart geeinigt hatten, gingen sie gemeinsam
zu einer alten Frau, die im gleichen Orte wohnte und
durch ihre Schönheit berühmt war. Sie zogen die Alte beiseite,
gaben ihr einiges Geld, sprachen ihre Wünsche aus und versprachen
ihr ein noch größeres Geschenk, wenn sie mit gutem Ratschlag
diene. Die Alte sagte: "Es ist schon gut. Ich werde eurem alten
Manne einen Rat geben, der für eure Söhne alle gewünschte Möglichkeit
gibt, und eure Söhne müssen mehr als dumm sein, wenn es
ihnen im Verlauf der Sache nicht gelingt, ihren Bruder in Schande
und seine Mutter in den Hundestall zu drängen."
Nach einigen Tagen kam die Alte in das Gehöft des achtzigjährigen
Mannes, besprach mit ihm dies und das und sagte endlich:
"Wo bei uns am Berge so tüchtige, junge Männer wohnen, da
sollte doch einer einmal den Tir lemechcheni (den singenden Vogel)
holen. Es wäre ein Stolz für uns alle und eine große Auszeichnung
für den, der die Sache ausführt." Der Alte hörte das und merkte
es sich wohl. Als sie gegangen war, rief er seine Söhne und sagte:
"Ich möchte wohl den singenden Vogel haben. Zieh du, mein
Ältester, zunächst einmal aus und sieh, ob du ihn zu gewinnen imstande
bist." Der älteste Sohn sagte: "Es ist mir recht. Ich will dir
den singenden Vogel bringen." Dann machte er sich sogleich reisebereit.
Der älteste Sohn brach am andern Tage früh auf. Er wanderte
den ganzen Tag über und kam in einen großen Wald. In dem Walde
legte er sich mit Anbruch der Dunkelheit nieder und schlief. Am
andern Tage erhob er sich und sah sich um, wo er wohl irgendeinen
Menschen sähe, der ihm Rat geben könne. Endlich traf er
auf eine alte Frau, die hütete die Schafe. Er begrüßte die alte Frau
und sagte: "Kannst du mir vielleicht sagen, ob ich auf dem rechten
Wege zu dem singenden Vogel bin?" Die Alte sagte: "Gewiß bist
du auf dem rechten Wege. Es ist aber für heute zu spät geworden,
um bis dahin zu gelangen. Kennst du niemand hier im Lande?"
Der Älteste sagte: "Ich kenne niemand." Die Alte sagte: "So sei
heute zum Abendessen mein Gast. Dann kannst du morgen in aller
Frühe den Weg zum singenden Vogel antreten. Willst du das annehmen?"
Der Älteste sagte: "Ich bin damit einverstanden."
Gegen Abend zog er mit der Alten heim. In ihrem Hause angekommen,
fragte sie: "Willst du zum Abendessen ein weibliches oder
ein männliches Tier essen?" Der Älteste sagte: "Es ist mir ganz
gleich. Setze nur vor, was dir paßt." Die Alte schlachtete nun ein
Schaf, kochte es und setzte es auf den Tisch. Der Älteste setzte sich
an den Tisch und aß. Als er fertig war, sagte die Alte: "Ich habe
einen Sohn; mein Sohn kämpft mit jedem, der bei mir eingeladen
ist. Bist du bereit?" Der Älteste sagte: "Ich bin bereit."
Nun war dies Kind der Alten aber kein Sohn, sondern eine
Teriel (Zauberweib), die in Männerkleidung ging, aber sehr stark
war und bis jetzt noch jeden Mann überwunden hatte. Die Teriel
kam herein, der Älteste wollte gegen sie angehen. Sie aber packte
ihn und schlug ihn zu Boden. Hierauf zog sie ihm alle Kleider vom
Leibe, nahm sein Geld an sich und warf den nackten Mann in die
Baerka (ein Speicherloch, in dem gewöhnlich Oliven aufbewahrt
werden). Das Loch deckte sie zu.
Vierzehn Tage verstrichen, ohne daß der achtzigjährige Mann
etwas von seinem ältesten Sohne hörte. Darauf begann er sich um
ihn zu sorgen. Er rief seine andern Söhne und sagte: "Von eurem
ältesten Bruder hörte ich nichts, seitdem er ausgezogen ist, den
singenden Vogel zu finden. Es wird Zeit, daß sich einer von euch
nach ihm umsieht. Willst du, mein Zweiter, ausziehen, deinen
Bruder und den Vogel zu suchen?" Der zweite Sohn war sogleich
bereit. Er machte sich reisefertig, schlief noch eine Nacht daheim
und machte sich am andern Morgen früh auf die Wanderschaft.
Der zweite Sohn wanderte wie der älteste den Tag über, bis er an
den Wald kam, in welchem er übernachtete. Wie der älteste Sohn
traf er am andern Morgen auf die Schafhirtin, die er um Auskunft
bat und die ihn zum Essen einlud. Wie der älteste, sagte er, daß es
ihm gleichgültig sei, ob ihm ein weibliches oder ein männliches
Tier vorgesetzt werde. Wie der älteste aß er zu Abend und erklärte
sich bereit, mit dem "Sohne" der Alten zu kämpfen. Wie den
ältesten schlug die Teriel ihn nieder und beraubte ihn, um ihn dann
zu dem älteren Bruder in die Speichergrube zu werfen.
Wiederum verstrichen vierzehn Tage, ohne daß der achtzigjährige
Mann etwas von seinen ältesten beiden Söhnen hörte. Der
alte Mann wurde sehr besorgt, rief seinen jüngsten Sohn herbei
und sagte: "Mein Sohn, deine älteren Brüder sind beide ausgewandert,
den singenden Vogel zu finden und heimzubringen. Sie
sind beide schon seit langer Zeit fort, und es wird Zeit, daß man
nach ihnen ausschaut. So frage ich dich denn, ob du bereit bist,
auch den Weg anzutreten und deine Brüder zu suchen." Der
Jüngste sagte: "Mein Vater, es ist früh am Tage, ich kann heute
noch gehen." Der jüngste Bursche holte einen Säbel, nahm von
seinem Vater Abschied und ging mit schnellen Schritten in der Richtung
fort, in der die älteren beiden Brüder sich zur Suche nach dem
singenden Vogel auf den Weg gemacht hatten.
Der jüngste Bursche kam auch in den Wald. Er übernachtete
auch im Walde. Er traf ebenfalls am andern Morgen die Alte, mit
der er über den Weg zum singenden Vogel sprach. Der Jüngste
nahm ebenfalls die Einladung der Alten an. Als die Alte ihn aber
fragte, ob er ein weibliches oder ein männliches Tier zum Abendessen
haben wollte, brauste er auf und sagte: "Was, du bietest mir
weibliches Tier an? Sehe ich dir aus, als ob ich weibliche Tiere esse?
Einen Widder will ich essen und nichts andres!" Darauf schlachtete
die Alte einen Widder und setzte ihn dem Burschen vor. Der
Bursche griff gehörig zu und aß sich ordentlich satt. Als der
Bursche fertig war, sagte die Alte: "Ich habe einen Sohn; mein Sohn
kämpft mit jedem, der bei mir eingeladen ist. Bist du bereit?" Der
Bursche lachte und sagte: "Ei, das ist ja ausgezeichnet. Es gibt für
den, der sich ordentlich sattgegessen hat, nichts Angenehmeres als
einen Zweikampf. Laß also deinen Burschen nur sogleich kommen!"
Darauf kam die Teriel herein. Der Bursche stellte sich breit hin
und ließ die Teriel dicht an sich herankommen, dann versetzte er
ihr mit der Rechten einen Schlag auf die Backe, so daß die Teriel
lang hinschlug und sogleich tot war. Als sie niederfiel, sah der
Bursche, daß er gar nicht mit einem Mann, sondern mit einer
Teriel gekämpft hatte, denn sie schrie wie eine Frau. Bei dem
Schrei kam die Mutter der Teriel angelaufen. Der Jüngste rief
ihr sogleich entgegen: "Schnell, sage mir, wo meine Brüder sind."
Die alte Frau schrie: "Ich weiß nichts von deinen Brüdern, ich bitte
dich aber, laß mich am Leben." Dies hörten die in der Vorratsgrube
eingeschlossenen zwei Brüder. Sie erkannten die Stimme ihres Bruders
und riefen mit schwacher Stimme: "Unser Bruder, die Alte
lügt! Wir sind in der Vorratsgrube eingeschlossen." Als der
Jüngste das hörte, schlug er die Alte tot und ging dann hin, seine
Brüder zu befreien.
Der Bursche fand seine Brüder abgezehrt, mit Wunden und Fliegen
bedeckt. Er zog sie heraus, wusch, verband und kleidete sie
und gab ihnen von allem Guten, was er im Hause der Alten fand zu
essen. Darauf nahm er alles Geld und alles Wertvolle, was er im
Hause der Alten finden konnte und zog mit seinen Brüdern von
dannen, um den singenden Vogel zu suchen.
***Sie waren ein gutes Stück gegangen, als sie in der Ferne ein Haus
sahen. Der Jüngste versteckte seine Brüder im Walde, dann ging
er auf das Haus zu und klopfte an. Sogleich öffnete eine Frau. Sie
sah den Burschen und sagte: "Mein Bursche, lauf schnell und sieh,
daß du nicht wieder in die Nähe dieses Ortes kommst. Denn mein
Mann ist ein Wuarssen (= menschenfressender Riese), der die
Kraft hat, fünfzehn Kriegshaufen (= Mahalla) in die Flucht zu
schlagen, und der noch jeden getötet und verspeist hat, der in dieses
Haus kam." Der Bursche sagte: "Der Wuarssen ist also nicht zu
Hause?" Die Frau sagte: Nein, der Wuarssen ist tagsüber nicht daheim,
er kommt aber jeden Abend um mogarob (= mit Sonnenuntergang)
nach Hause. Lauf also schnell, damit dich mein Mann
nicht in der Nähe findet."
Der Bursche lachte und sagte: "Habe keine Furcht für mich, ich
denke, dein Wuarssen wird sich schon mit mir und meinem
kleinen Säbel (=iskin) befreunden." Damit trat der Bursche in das
Haus, und während die Frau voller Furcht fortlief und sich in der
letzten Kammer versteckte, stellte der Bursche sich mit dem Säbel
hinter die Tür und wartete die Zeit des Sonnenunterganges ab.
Als die Sonne dem Untergang nahe war, hörte der Bursche in
der Ferne ein starkes Brüllen und Tosen (der Erzähler setzt ergänzend
und erläuternd hinzu "wie das Brüllen von Stieren und
wie das Tosen des Donners"), das immer näher kam. Das war der
Wuarssen. Mit Brüllen und Tosen kam der Wuarssen immer näher,
bis er an der Haustür ankam, gerade als die Sonne unterging. Der
Wuarssen trat in das Haus. Der Bursche ergriff seinen Säbel und
schlug den Wuarssen über den Kopf, so daß der Wuarssen zur Seite
taumelte. Der Wuarssen sagte: "Schlage noch einmal!" (Typisch
für alle Kämpfe der kabylischen Helden mit den Wuarssen ist es,
daß der einmal getroffene Ogre fordert, noch einmal geschlagen zu
werden. Wenn der Held dem nachkommt, ist der Wuarssen wiederhergestellt.
Ebenso typisch ist die Aufforderung, den Kopf zu
schütteln!) Der Bursche schlug nicht, sondern sagte: "Schüttle
deinen Kopf." Darauf schüttelte der Wuarssen seinen Kopf und
sank mit lautem Krachen zu Boden.
Als der Wuarssen tot war, kam die Frau aus ihrem Versteck. Sie
kniete vor dem Burschen nieder, küßte ihm die Hand und sagte:
"Ich danke dir! Ich danke dir! Ich danke dir! Nie habe ich es zu
hoffen gewagt, daß jemand imstande sein könnte, ihn zu überwinden!
Ich danke dir! Ich danke dir! Ich danke dir! Von nun
an werde ich dir überall hin folgen, wohin du auch gehst." Der
Bursche fragte: "Kannst du mir sagen, wo sich der singende Vogel
befindet und wo ich ihn gewinnen kann?" Die Frau sagte: "Um
den singenden Vogel zu erreichen, mußt du noch an zwei Gehöften
vorbei, die in diesem großen Walde liegen. In jedem Gehöft wohnt
ein Wuarssen, der mit einer meiner Schwestern verheiratet ist. Der
erste Wuarssen verfügt über die Kraft von zwanzig Kriegshaufen.
Der zweite Wuarssen hat die Kraft von fünfundzwanzig Kriegshaufen.
Diese Wuarssen muß derjenige töten, der den singenden
Vogel erlangen will." Der jüngste Bursche sagte: "Dann komm
mit mir. Im Walde sind meine Brüder. Wir wollen morgen früh
mitnehmen, was dieser Wuarssen an Schätzen hatte, und zum
nächsten gehen."
Am andern Morgen packte der Bursche alles Geld, das im Hause
war, zusammen. Der Jüngste rief seine Brüder, und dann zogen sie
im Walde weiter. Den Tag über wanderten sie, ohne einen Menschen
oder eine menschliche Behausung zu sehen. Als es aber gegen
Abend war, sah der Jüngste in der Entfernung wieder ein Haus. Da
versteckte er seine Brüder, die Frau und die Schätze in den Büschen
und ging auf das Gehöft zu.
Er klopfte an die Haustür. Sogleich machte eine Frau auf. Die
Frau kam heraus. Als die Frau den Burschen sah, erschrak sie und
sagte: "Mein Bursche, lauf schnell fort!" Die Frau wollte weiterreden.
Der Bursche sagte: "Ich weiß schon alles. Dein Mann ist
ein Wuarssen, der über die Kraft von zwanzig Mahallas verfügt.
Ich war schon bei deiner ersten Schwester, die auch mit einem
Wuarssen verheiratet war. Den habe ich getötet, und die hat mir
alles weitere gesagt. Sage du mir nur, um welche Zeit dein Wuarssen
immer nach Hause kommt." Die Frau sagte: "Mein Wuarssen
kommt immer um laischa (=zehn Uhr) nach Hause." Der Bursche
sagte: "Dann habe ich noch Zeit genug, um ordentlich zu essen.
Zeige mir, wo ich etwas finde, dann versteck dich und überlasse es
mir und meinem Säbel, mich mit deinem Wuarssen zu befreunden."
Darauf zeigte die Frau dem Burschen alles Nötige und versteckte
sich dann in der hintersten Kammer.
Der Bursche nahm ein gutes Abendessen, streckte sich einige
Male und ging im Hause umher und besah alles, was bei dem
Wuarssen an Geld und Reichtum aufgespeichert war. Als aber die
Zeit um laischa näher kam, hörte man in der Entfernung ein starkes
Gebrüll und Getöse, das immer näher kam und immer stärker anschwoll.
Der Wuarssen kam. Als sein Gebrüll ganz nahe war,
streckte sich der Bursche noch einmal, und dann stellte er sich mit
dem Säbel hinter die Tür.
Der Wuarssen stieß die Tür mit Gebrüll auf und trat ein. Der
Bursche holte einmal tief Atem und schlug dann den Wuarssen so
stark über den Kopf, daß er auf die Knie sank. Der Wuarssen sagte:
"Schlage noch einmal zu!" Der Bursche sagte: "Schüttle den
Kopf!" Der Wuarssen schüttelte den Kopf, sank vornüber und war
tot. Die Frau hörte den Wuarssen hinstürzen. Sie kam aus ihrem
Versteck hervor und sah, daß er tot war. Sie kniete vor dem Burschen
nieder, küßte ihm die Hand und dankte ihm. Die Frau sagte:
"Ich danke dir! Ich danke dir! Ich danke dir! Ich werde dir folgen,
wohin du gehst." Der Bursche sagte: "Morgen früh werden wir die
Schätze deines Wuarssen aufpacken, werden uns dann zeitig auf den
Weg machen, meine Brüder und deine erste Schwester aus ihrem
Versteck im Walde holen und zu dem dritten Wuarssen gehen."
Danach legte sich der Bursche nieder, schlief die ganze Nacht
hindurch ausgezeichnet und erhob sich am andern Morgen früh, um
die Schätze des Wuarssen zusammenzupacken, mit der Frau aufzubrechen
und deren Schwester, sowie seine Brüder aus dem Versteck
herbeizurufen. Den Tag über marschierten sie, bis der
Bursche nach Sonnenuntergang ein Haus erblickte. Da versteckte
er dann seine Brüder, die Frauen und die Schätze wieder und ging
allein auf das Haus zu.
Der Bursche klopfte an die Haustür. Die Frau des Wuarssen
öffnete sogleich, stieß vor Schreck einen Schrei aus und rief: "Mein
Bursche, lauf schnell fort!" Die Frau wollte weiterreden. Der
Bursche sagte aber: "Ängstige dich nicht so. Ich weiß alles. Dein
Mann ist ein Wuarssen, der über die Kraft von fünfundzwanzig
Mahallas verfügt. Ich habe aber schon die beiden Wuarssen getötet,
die deine Schwestern geheiratet hatten und von denen der eine
die Kraft von fünfzehn und der andere die von zwanzig Mahallas
hatte. Von deinen Schwestern, die in der Nähe im Busch versteckt
sind, habe ich alles erfahren. Sage du mir nur, um welche Zeit dein
Wuarssen immer nach Hause kommt." Die Frau sagte: "Mein
Wuarssen kommt immer um ennefsgirth (= Mitternacht) nach
Hause." Der Bursche sagte: "Das ist noch lange hin. Koche mir
zunächst ein sehr gutes Essen. Wenn ich das zu mir genommen
habe, werde ich ein wenig schlafen. Hernach werde ich deinem
Wuarssen schon die Freundschaft für mich und meinen Säbel
lehren." Die Frau sagte: "Ich habe schon das Essen für den
Wuarssen fertig, genügt dir das?" Der Bursche betrachtete es und
sagte: "Nein, das genügt nicht, schlachte noch ein Tier und koche
es." Die Frau tat, was der Bursche verlangte. Danach versteckte
sie sich in der hintersten Kammer.
Der Bursche setzte sich nieder, verspeiste alles, was die Frau
gekocht hatte und legte sich gemächlich zum Schlafe nieder.
Als es gegen ennefsgirth war und der Bursche einige Stunden geschlafen
hatte, näherte sich von weither ein Gebrüll und ein Getöse,
das schnell herankam, so daß endlich sogar das Haus zu wanken
begann. Davon wachte der Bursche auf. Er hörte eine Weile hin
und sagte: "Dies wird wohl der Wuarssen sein." Danach gähnte
er, streckte sich und sagte: "Ich habe recht gut gegessen und
geschlafen." Der Bursche streckte sich noch einmal, erhob sich,
ergriff seinen Säbel und stellte sich hinter die Haustür.
Der Wuarssen kam vor sein Gehöft und brüllte noch einmal so
stark, daß die Tür von selbst aufflog. Der Bursche holte tief Atem,
holte mit dem Arm weit nach hinten aus und schlug dann die Säbelklinge
dem Wuarssen mit solcher Gewalt über den Kopf, daß der
Getroffene lang hinschlug. Der Wuarssen sagte: "Schlage noch
einmal zu!" Der Bursche sagte: "Schüttle den Kopf!" Der Wuarssen
schüttelte den Kopf und starb. Die Frau kam aus ihrem Versteck.
Sie dankte dem Burschen. Sie sagte: "Ich werde dir folgen,
wohin du auch immer gehst. Ich will tun, was du willst."
***Der jüngste Bursche sagte: "Sage mir vor allen Dingen, wo sich
der singende Vogel befindet und wie ich ihn erlangen kann." Die
Frau sagte: "Der singende Vogel ist nicht weit von hier. Aber man
kann ihn nicht mit Kraft und Gewalt gewinnen. Man muß sehr
klug sein, um zu ihm zu kommen, und nur mit Klugheit kann es
gelingen, seiner habhaft zu werden. Der singende Vogel befindet
sich in einem großen Hause. Er ist in einem Käfig eingeschlossen
und steht in der Kammer seines Herrn und seiner Herrin. Vor dem
Hause sind sieben Wächter. Alle diese, wie der Herr und die Herrin
des singenden Vogels sind so ungeheuer stark, daß kein Wesen der
Welt es mit ihnen aufnehmen kann. Nachts nun schlafen zwar die
Wächter wie der Herr und die Herrin. Der Herr und die Herrin
haben aber dem singenden Vogel befohlen zu wachen und zu
wecken, so wie sich jemand dem Hause nähert. Da nun dem
singenden Vogel nichts entgeht und da er unbedingt dem Befehle
seiner jeweiligen Herren gehorcht, so kann nachts niemand durch
das Gehöfttor kommen, wenn auch die Wächter, sowie der Herr und
die Herrin des singenden Vogels schlafen, weil eben der singende
Vogel selbst wacht und nach dem Befehle des Herrn diesen und die
Herrin und die Wächter wecken wird, sowie sich jemand dem Hause
nähert. Du siehst also, daß es unmöglich ist, den singenden Vogel
zu erlangen." Der Bursche sagte: "Ich danke dir, daß du mir das
alles so genau geschildert hast. Ich sehe auch, daß der singende
Vogel sehr gut untergebracht ist. Ich will es aber dennoch versuchen,
ihn zu gewinnen." Die Frau sagte: "Dann will ich dir eine
kluge Mauleselin mitgeben, die hier im Gehöft steht und den Weg
zum Haus des singenden Vogels sehr gut kennt." Der Bursche
sagte: "Ich werde mich morgen sogleich auf den Weg machen."
Hierauf legte er sich nieder und schlief, bis die Sonne ihn weckte.
Nachdem der Bursche sich erhoben hatte, ging er erst in den
Busch und holte seine Brüder und die Schwestern, sowie die
Schätze. Er sagte zu den Brüdern: "Bleibt ihr zwei mit den drei
Schwestern hier im Hause, bis ich zurückkomme. Ich will jetzt den
singenden Vogel holen." Dann bestieg er die Mauleselin und ritt im
Walde weiter dahin bis in die Nacht hinein. Es war schon sehr spät
und dunkel, als die Mauleselin von selbst anhielt.
Der Bursche stieg ab und sah sich um. Er bemerkte, daß er sich
nahe der Hinterwand eines großen Hauses befand. Der Bursche
sagte: "Die Mauleselin hat hier angehalten, also wird dies das Haus
sein, in dem sich der singende Vogel befindet." An der Hinterwand
des Gehöftes stand ein Baum. Der Bursche erstieg den Baum und
klopfte mit einem Stein gegen die Mauer. Kaum hatte er geklopft,
so schrie der singende Vogel im Hause: "Wacht auf! Wacht auf!
Ein Dieb! Ein Dieb will mich stehlen!"
Kaum hatte der Vogel angefangen zu schreien, so sprangen der
Herr und die Herrin auf, liefen durch das Haus und sahen überall
herum, ob etwas von einem Dieb zu sehen sei, und die Wächter
sprangen auf und liefen den Weg zum Hause auf und ab und
schauten rechts und links vom Wege ins Gebüsch, ob eine Diebesspur
wahrzunehmen war. Aber weder der Herr und die Herrin, noch
die sieben Wächter konnten etwas entdecken. Da legten sich alle
wieder nieder, und der Herr sagte zum singenden Vogel: "Tir
Lemechcheni, heute hast du dich zum ersten Male geirrt." Der Herr
und die Herrin und die sieben Wächter schliefen wieder ein.
Nach einiger Zeit klopfte der Bursche von seinem Baume aus
zum zweiten Male gegen die Hintermauer des Hauses. Sogleich begann
der Vogel wieder zu schreien. Sogleich sprang der Herr und
die Herrin auf, um wieder das Haus abzusuchen, und sogleich erhoben
sich die sieben Wächter und rannten suchend auf dem Wege
zum Haustore hin und her. Als nun niemand etwas zu finden vermochte,
legten sich alle wieder hin, und der Herr sagte ärgerlich
zum singenden Vogel: "Tir Lemechcheni, ich glaube, du willst
uns heute zum besten haben." Darauf schlief der Herr und die
Herrin und die sieben Wächter wieder ein.
Nach einiger Zeit klopfte der Bursche von seinem Baume aus zum
dritten Male gegen die Hintermauer des Hauses. Sogleich begann
der Vogel zu schreien. Sogleich sprangen der Herr und die Herrin
auf, um wiederum das Haus abzusuchen, und sogleich erhoben sich
die sieben Wächter und rannten suchend auf dem Wege zum Haustore
hin und her. Sie fanden aber allesamt wieder nichts. Da wurden
sie sehr ärgerlich. Besonders der Hausherr war wütend und
schrie den singenden Vogel an: "Tir Lemechcheni, du hast uns für
heute genügend gestört. Schweig jetzt, laß dich in Gottes Namen
stehlen, laß uns aber schlafen, oder ich drehe dir den Kopf um."
Der singende Vogel sagte: "Ich werde deinem Befehle gehorchen
und schweigen." Danach legten sich alle nieder und schliefen alsbald
ganz fest.
Sobald einige Zeit verstrichen war, stieg der jüngste Bruder von
seinem Baume, schlich sich nach der Vorderseite des Hauses und
überzeugte sich, daß alle Wächter schliefen und die Haustür weit
offen stand. Er ging also hinein und auf die Kammer zu, aus der
er die Stimme des singenden Vogels vernommen hatte. Er kam in
die Kammer und sah beim Schein einer Lampe den singenden Vogel
zwischen der Lagerstätte des Herrn und der der Herrin stehen. Der
singende Vogel sah den Burschen wohl kommen. Er plusterte sich
aber nur auf, nickte mit dem Kopf und schwieg. Denn sein Herr
hatte ihm ja befohlen zu schweigen und sich in Gottes Namen
stehlen zu lassen. Der Bursche sah, daß der Herr und die Herrin
schliefen. So ergriff er denn den Käfig, in dem der singende Vogel
eingeschlossen war, trug ihn erst aus der Kammer, dann über den
Hof durch das Haustor und an den schlafenden Wächtern vorbei
hinaus. Er ging um das Haus herum in den Wald dahin, wo seine
Mauleselin stehengeblieben war, stieg auf und ritt mit dem singenden
Vogel im Arme von dannen und nach dem Hause, indem er seine
Brüder, die drei Frauen und die Schätze der Wuarssen zurückgelassen
hatte.
In der Zeit nun, als der jüngste Bruder fort war, sagten die
älteren beiden Brüder zu den drei Frauen: "Glaubt ihr, daß es
unserem Bruder gelingen kann, den singenden Vogel zu erlangen?"
Die jüngste der Frauen sagte: "Wenn euer Bruder ebenso klug ist,
wie er sich als tapfer und stark erwiesen hat, so wird es ihm sicher
gelingen." Darauf zogen die beiden Brüder sich in einen Winkel
zurück und sprachen leise miteinander. Der eine sagte: "Wenn es
unserem Bruder noch gelingt, den singenden Vogel zu erlangen und
heimzukehren, so wird er und seine Mutter vor uns und unseren
Müttern bevorzugt werden." Der andere Bruder sagte: "Wenn
unser jüngster Bruder mit diesem Glück nach Hause kommt, wird
er über uns sprechen und über uns Schande bringen. Wir wollen
die Frauen also fragen, ob es nicht unterwegs noch eine Sache
gibt, die unser Bruder nicht vollenden kann."
Die Brüder kehrten zu den Frauen zurück und fragten: "Gibt
es auf irgendeiner Seite des Waldes noch eine Gefahr, die wir zu bestehen
haben, wenn wir heimkehren." Die älteste der drei Frauen
sagte: "Wenn wir auf dem Wege heimkehren, auf dem euch euer
Bruder hierher gebracht hat, so gibt es nichts Besonderes mehr. Es
gibt aber noch einen andern Weg, der endet in der großen Ebene, an
deren Rand Chtaf Laräis,* der Oberherr aller Wuarssen, Wache hält.
Diesem Chtaf Laräis hat noch kein Wesen dieser oder einer andern
Welt standhalten können, denn es ist der Herr der Welt unter uns."
Als die Brüder das hörten, traten sie wieder zur Seite und sagten
untereinander: "Wir wollen unsern jüngsten Bruder in die Hände
des Chtaf Laräis bringen. Dem wird er nicht gewachsen sein. Wir
werden sehen, was kommen wird."
Als es Abend wurde, sahen sie die Mauleselin mit dem jüngsten
Burschen kommen. Die Frauen eilten heraus und schrien vor
Freude und riefen: "Er hat den singenden Vogel! Er hat den
singenden Vogel!" Die beiden älteren Brüder standen aber entfernt
und konnten es nicht über sich gewinnen, ein freundliches
Wort zu sprechen.
Der jüngste Bruder kam an. Er sagte: "Wir wollen sogleich
alles aufpacken und alle miteinander zu unserem Vater und unseren
Müttern heimkehren." Der älteste Bruder fragte: "Welchen
Weg sollen wir nehmen?" Der jüngste Bruder fragte: "Gibt
es denn außer dem Weg, auf dem wir gekommen sind, noch einen
anderen?" Der zweite Bruder sagte: "Wir dachten, du wolltest
vielleicht noch bei dem starken Chtaf Larais vorbeiwandern und
ihm seine Reichtümer nehmen." Der jüngste Bruder fragte: "Wer
ist dieser Chtaf Laräis ?" Der älteste Bruder sagte: "Es ist der
Herr der Welt unter uns, der Herr aller Wuarssen, der Besitzer
der größten Reichtümer, das stärkste aller Wesen, das noch nie
überwunden wurde." Der jüngste Bruder sagte: "Natürlich werde
ich bei diesem ausgezeichneten Chtaf Larais vorbeigehen. Ich
danke euch, daß ihr mich auf ihn aufmerksam gemacht habt."
Alle drei Frauen warfen sich aber vor dem jüngsten Bruder nieder,
sie weinten und sprachen: "Du hast so viel vollbracht und so Großes
getan, daß es genug ist! Begib dich nicht in diese neue größte Gefahr.
Bring uns in Frieden heim aus diesem grauenvollen Walde."
Der Jüngste lachte aber und sagte: "Auf, zeigt mir den Weg zum
Chtaf Larais!"
Den ganzen Tag gingen sie durch den Wald. Am Abend sagte
der Jüngste: "Schlachtet drei von den Widdern, die wir den Wuarssen
abgenommen haben, für mich zum Abendessen und laßt mich
in Ruhe schlafen, ohne mich zu stören. Die Frauen bereiteten für
den Jüngsten die drei Widder; der Bursche aß sie auf und legte sich
dann nieder. Er schlief sogleich ein und wachte nicht eher auf, als
bis die Sonne hoch am Himmel stand. Er blinzelte die Sonne an,
streckte sich, gähnte und sagte: "Also heute werde ich den Chtaf
Laräis treffen. Nun, dann werde ich noch ein wenig schlafen."
Er drehte sich um, schlief wieder ein und wachte nicht vor einigen
Stunden auf.
Danach brachen sie dann alle auf. Der Bursche ritt auf der
Mauleselin vor seinen Brüdern her. Nach einiger Zeit kamen sie
an die Grenze des Waldes, und als der Jüngste eben ins Freie kam,
traf er auch schon auf Chtaf Laräis, der in großem Zorne sogleich
nach ihm schlug, so daß die getroffene Mauleselin zu Boden sank.
Der Jüngste rief: "Oho! Du glaubst wohl, ich habe für nichts so
gut gegessen und geschlafen!" Der Jüngste schlug mit der geballten
Faust und traf den Chtaf Larais so schwer, daß er erst
blutend zusammenbrach und sich nur mühsam aufrichten konnte,
um dann, so schnell er konnte, von dannen zu eilen.
Der Jüngste sagte: "So billig wollen wir den guten Chtaf Laräis
denn nun doch nicht wegkommen lassen." Er setzte sich in Bewegung
und rannte hinter dem Fliehenden her. Es war auch nicht
schwer, den Weg zu finden, denn eine breite Blutspur zeigte ihn
an. Der Jüngste kam nach einiger Zeit an einen Brunnen, in dem
verlief sich die Blutspur. Er setzte sich nieder und wartete, bis
seine Brüder auch herangekommen waren. Dann sagte er zu ihnen:
"In diesen Brunnen ist der verwundete Chtaf Laräis hinabgestiegen.
Hier hinab führt also offenbar der Weg in seine Welt, die
unter der Erde liegt. Ich will hinabsteigen, macht ihr mir also aus
Gras eine feste Schnur!"
Die Brüder machten sich sogleich daran. Bald kamen auch die
drei Frauen und halfen dabei. Sobald die Schnur lang und stark
genug war, sagte der Jüngste: "Bleibt ihr, meine Brüder, mit den
drei Frauen und mit dem singenden Vogel zunächst hier. Laßt mich
an der Schnur jetzt herab und wartet auf das Zeichen, das ich euch
geben werde, damit ihr mich dann wieder in die Höhe zieht."
Darauf verabschiedete sich der Jüngste von allen, ließ sich anseilen
und in den Brunnenschacht hinablassen.
Kaum war der Jüngste an dem Seil auf dem Boden angelangt,
kaum hatte er sich abgebunden, da sah er auch schon einen alten
Mann sitzen, dessen Augenbrauen waren so lang und dicht gewachsen,
daß sie bis zum Kinn herabfielen, so daß er nichts zu sehen
vermochte. Der jüngste Bursche zog sogleich sein Messer heraus
und schnitt dem Alten die Brauen über dem einen Auge ab. Erstaunt
hob der Alte den Kopf und sagte: "Was? So sieht die Welt
aus, in der ich mich befinde? Ach! Wie die Welt aussieht! Ich
bitte dich! Ich bitte dich, schneide mir auch die Brauen auf der
andern Seite ab, damit ich auf beiden Augen sehen kann!" Der
jüngste Bursche sagte: "Ich will es schon tun, du mußt mir aber
schwören, daß du mir nachher das Haus des Chtaf Laräis zeigen
willst." Der Alte sagte: "Ich schwöre dir bei Gott, daß ich dir das
Haus des Chtaf Larais zeigen werde, sobald du mir die Brauen auf
der andern Seite abgeschnitten hast, womit ich dann selbst jeden
Weg sehen und finden kann." Der Jüngste schnitt dem Alten
darauf auch auf der andern Seite die Brauen ab. Der Alte konnte
nun wie jeder andere sehen und ging sogleich voran, dem Jüngsten
das Haus des Chtaf Larais zu zeigen.
Der Alte und der Bursche schritten gut aus, und so kam es, daß
sie gerade am Hause ankamen, als just eben der Chtaf Larais selbst
hineingestolpert war. Der Bursche nahm schnell vom Alten Abschied
und blickte vorsichtig durch den Durchgang. Er sah, wie
der Chtaf Larais soeben vor Schmerz brüllend und schwer blutend
auf dem Teppich zusammengesunken war. Er sah, wie die beiden
schönen Frauen des Chtaf Larais sich um ihren Herrn und Meister
bemühten, und er sah, wie schön diese beiden Frauen Jtreisch (die
Sonne) und Aigur (der Mond) waren. Der Bursche beobachtete,
wie die Frauen den Verwundeten betteten und für ihn sorgten. Er
ließ aber zunächst nichts von seiner Gegenwart merken. Er zog
sich wieder bis nahe zur geschlossenen Haustür zurück.
Nach einiger Zeit kam aber Jtreisch heraus. Sie sah den Jüngsten,
erschrak, schloß aber schnell hinter sich die Tür zu dem Krankenzimmer,
trat an den Burschen heran und sagte: "Sage mir, bist du
es, der den abscheulichen Chtaf Laräis so schwer getroffen hat?
Sage es mir, damit ich die Hand, die es tat, küssen kann!" Der
Bursche sagte: "Den Anfang habe ich allerdings gemacht. Es wird
aber sehr schwer sein, den Chtaf Laräis vollständig zu töten." Die
Frau sagte: "Du hast recht. Er hat sein Geheimnis."
Der Bursche sagte: "Der Chtaf Laräis muß sein Geheimnis haben,
sonst wäre er bei dem Schlage, den ich ihm versetzt habe, gestorben.
Er muß ein anderes Leben haben als seine Diener, die Wuarssen.
Niemand als er allein wird wissen, wo er sein Leben hat und wie
man ihn töten könnte, wenn ihr, seine Frauen, ihm das Geheimnis
nicht zu entlocken versteht. Ihr beide könnt das aber vielleicht erreichen.
Ich rate euch, daß ihr nachher beim Mehlreiben an der
Mühle laut klagt und weint, so daß er aus dem Schlafe, in den er
jetzt gesunken ist, erwacht. Er wird euch fragen, warum ihr jammert.
Ihr müßt ihm sagen, daß ihr seinen Tod fürchtet und daß ihr
vor seinem Tode große Furcht habt, weil ihr dann niemand mehr
habt, der für euch sorgt. Laßt euch nicht mit Versicherungen seiner
Lebenskraft abspeisen, sondern bittet ihn darum, daß er euch, damit
ihr von der Sicherheit seines Lebens überzeugt und damit beruhigt
werdet, das Geheimnis anvertraut. Wenn ihr aber dieses
Geheimnis erfahrt und mir mitteilt, kann ich euch die Versicherung
geben, daß ich ihn vollkommen vernichten werde." Jtreisch versprach
ihm mit Aigur alles auszuführen, wie er es so klug vorgeschlagen
habe, und dann versteckte sie ihn nahe der Kammer,
in dem Chtaf Laräis lag, damit er nachher die ganze Unterredung
mit anhören könne.
Chtaf Laräis war noch nicht so sehr lange eingeschlafen, da begannen
die beiden Frauen das Korn auf der Mühle zu mahlen und
dazu zu weinen und zu klagen, und das taten sie so laut, daß der
Chtaf Larais aufwachte und laut nach ihnen rief. Die Frauen verließen
darauf die Mahlsteine, kamen zu Chtaf Laräis und knieten
weinend und schluchzend an seinem Bette nieder. Chtaf Larais
fragte: "Was habt ihr? Was weint ihr?" Die Frauen sagten: "Wir
klagen und weinen aus Furcht. Wir fürchten, daß du sterben
könntest. Und wenn du sterben würdest, hätten wir niemand, der
für uns sorgt." Chtaf Larais sagte: "Darum sorgt euch nicht. Ich
sterbe nicht so einfach, wie ein gewöhnlicher Wuarssen. Mein Leben
ist gut aufgehoben. Niemand, der es nicht weiß, wird mein Leben
finden und so meinen Tod herbeiführen können." Die Frauen weinten
weiter. Chtaf Laräis sagte: "Was weint ihr denn nun noch
weiter? Ich habe euch doch nun erklärt, daß es sehr schwer ist,
mein Leben zu finden!" Jtreisch sagte: "Sieh, das alles sind Worte.
Wer deine Wunde sieht, wer deine Schwäche sieht, wer dein Blut
fließen sieht, wie wir beide, der ist nicht durch Worte zu beruhigen.
Wenn du uns Ruhe geben willst, so sage uns, wo dein Leben sich
befindet, damit wir erkennen und deutlich sehen, wie schwer es ist,
dieses Leben zu finden. Nur das allein kann uns unsere Ruhe wiedergeben."
Chtaf Larais sagte: "So hört denn zu, ihr törichten Frauen. Meine
Seele ist ein Haar (= insis), das ist verborgen in einem Ei (= tamlalt).
Das Ei befindet sich in dem Leibe eines Rebhuhnes (= taskurth).
Das Rebhuhn lebt aber im Leibe einer Kamelstute (= talromth).
Die Kamelstute liegt unter einem Felsblöcke (=tathruth)
und der Felsblock auf dem Grunde des Meeres, da wo es am tiefsten
ist (Meer =lebharr). Solange das Haar nicht zerbrochen ist, kann
ich nicht sterben, und nur der, der das Haar findet, kann mich
töten. Ihr seht also, ich bin meines Lebens sehr sicher!" Aigur
sagte: "Ja, du bist deines Lebens ganz sicher, da die Kamelstute
immer unter dem Felsblock auf dem Meeresboden liegt." Chtaf
Larais sagte: "Ja, die Kamelstute ist immer in der Meerestiefe unter
dem Felsblock. Nur einmal, genau in der Sonnenhöhe (Mittags),
kommt die Stute für einen Augenblick an die Küste des Meeres, um
ein einziges Mal Atem zu holen." Jtreisch sagte: "Wir danken dir,
daß du uns mit dieser Mitteilung einen glücklichen Ausblick für die
Zukunft eröffnet hast. Wir werden hoffnungsvoll nun alles Schwere
und Besorgliche leicht ertragen." Damit gingen die Frauen heraus.
Der Bursche hatte in seinem Verstecke alles mit angehört. Sowie
die Frauen das Zimmer des Kranken verlassen hatten, kam er auch
heraus, nahm von ihnen Abschied, schloß die Tür hinter sich und
marschierte dem Ufer des Meeres entgegen. Am Meeresufer legte
er sich nieder, den Säbel in der Hand, und wartete den Mittag ab.
Er hielt nach allen Seiten scharf Umschau, und kaum stand die
Sonne in der Mitte des Himmels, da entstanden auch schon Kreise
im Wasser, in deren Mitte erst die Ohren der Kamelstute und dann
deren Kopf sichtbar wurde.
Der jüngste Bursche eilte so schnell er konnte zu der Stelle der
Meeresküste, auf die die Kamelstute zuschwamm, und kaum war sie
an das Ufer gestiegen, so sprang er zwischen den Steinen hervor auf
sie zu und schnitt ihr mit einem Säbelhieb den Bauch auf, worauf
ein Rebhuhn herausfiog. Sowie der Säbel des Burschen in den
Leib der Kamelstute drang, schrie Chtaf Lands in seinem Krankenzimmer
vor Wut und Schmerz, so daß seine beiden Frauen erschreckt
herbeiliefen.
Der jüngste Bursche hatte scharf auf das Hervorfliegen des Rebhuhnes
geachtet und sprang flugs hinter ihm her. Er griff einen
Stein auf und warf. Er traf so glücklich, daß dem Vogel der Kopf
zerquetscht wurde und er im Todesschreck das Ei fallen ließ. Als
der Kopf des Rebhuhnes zermalmt wurde, bäumte sich Chtaf Larais
in seinem Krankenzimmer brüllend auf, so daß seine beiden Frauen
entsetzt von dannen liefen.
Der jüngste Bursche bemerkte sehr wohl, daß das sterbende Rebhuhn
das Ei zwischen die Kiesel der Küste herabgleiten ließ und
fing es schnell auf. Er schlug das Ei gegen einen Stein, so daß
es zersprang und das Haar herabfiel. Als das Ei zersprang, schlug
Chtaf Larais in seinem Krankenzimmer so wild um sich, daß das
Haus zu wanken begann und die Beobachtungskammer einstürzte.
Die beiden Frauen flüchteten aber entsetzt in eine Grube, die als
Speicher für Oliven diente.
Als das Haar aus dem Ei fiel, zog ein Wind über die Küste, von
dem wollte das Haar sich forttragen lassen. Der jüngste Bursche
haschte es aber schnell und zerbrach es zwischen seinen Händen.
In dem Augenblick streckte sich Chtaf Larais in seinem Krankenzimmer
lang aus und war tot.
Der Jüngste begab sich, sowie er das Haar zerbrochen hatte,
auf den Rückweg. Als der Jüngste im Hause ankam, traten ihm
Jtreisch und Aigur entgegen und sagten: "Es ist dir gelungen, du
hast Chtaf Larais getötet. Wir danken dir. Wenn es dir recht ist,
so wollen wir deine Gemahlinnen werden, und du kannst überzeugt
sein, daß wir unser ganzes Leben hindurch emsig danach trachten
werden, dir dafür zu danken, daß du uns von diesem schrecklichen
Ungeheuer befreit hast."
Der jüngste Bursche lachte vor Freude über das Glück, das ihm
beschieden war. Dann ging er mit den beiden Frauen im Hause umher
und packte alle Kostbarkeiten zusammen, die ihm und ihnen
mitzunehmen begehrenswert erschienen.
Jtreisch sagte aber zu dem jüngsten Burschen: "Hier habe ich
ein ganz besonderes Schmuckstück, das ist der Tachasims lebri
(wörtlich der Ring des Willens oder Wunsches). Nimm ihn an dich
und stecke ihn an deinen Finger. Hast du noch irgendeinen Wunsch,
so wende den Ring an deinem Finger und sprich den Wunsch
aus, so wird er dir allsogleich erfüllt werden. Es ist nun sehr wohl
möglich, daß wir im Leben einmal getrennt werden, sei es durch die
Eifersucht deiner Brüder, sei es durch eine andere Ursache. Du
kannst mit Hilfe dieses Ringes aber überall zu mir gelangen." Der
Jüngste steckte den Ring an seinen Finger, bedankte sich und begann
zum Fortgange zu rüsten.
Der Jüngste und die beiden Frauen packten die begehrenswerten
Schätze zusammen, und dann zogen sie zu dem Brunnenschacht, in
dem das Seil der Brüder aus der oberen Welt herunterragte. Der
Jüngste sagte: "In welcher Reihenfolge wollen wir uns nun heraufziehen
lassen?" Jtreisch sagte: "Es wird vorsichtiger sein, wenn
wir Frauen uns zuerst heraufziehen lassen. Wenn deine Brüder die
Absicht haben, dich herabstürzen zu lassen, so werden sie denken,
du seist der erste. Du aber kannst mit deiner ungeheueren Stärke
jede von uns leicht auffangen, wenn die Brüder sie, in der Meinung,
du seiest es, herabstürzen lassen." Der Jüngste sagte: "Ihr habt
recht." Er gab das Zeichen am Seil. Jtreisch ließ sich festbinden.
Jtreisch nahm vom jüngsten Burschen Abschied und sagte nochmals:
"Vergiß nicht den Ring!" Dann ließ sie sich heraufziehen.
Die zwei älteren Brüder hielten inzwischen mit den drei Frauen
der Wuarssen und dem singenden Vogel am Rande des Brunnenschachtes
Wache. Die zwei älteren Brüder sprachen abseits untereinander.
Der ältere sagte: "Wenn unserm jüngsten Bruder dort
unten nicht etwas ganz Besonderes widerfährt, so wird er noch mehr
Ehre und Schätze gewinnen." Der zweite sagte: "Und unsere
Schande wird noch wachsen." Der ältere Bruder sagte: "Wenn
unser jüngster Bruder übersteht und lebend zurückkehren will,
wollen wir ihn, statt ihn heraufzuziehen, herunterstürzen lassen."
Der zweite Bruder sagte: "Er wird aber zuerst die Schätze, die er gewinnt,
an das Seil binden, und die können wir so an uns nehmen.
Wir werden es schon am Gewicht merken, wenn er es selbst ist,
und können ihn dann herabstürzen lassen." Der älteste Bruder
sagte: "Und dann ziehen wir heim mit dem singenden Vogel, mit den
Frauen, den Schätzen und der Ehre. Über den Tod unseres jüngsten
Bruders bringen wir aber ein schändliches Gerücht."
Unten wurde am Seil das Zeichen gegeben. Die zwei Brüder
zogen am Seile und sagten: "Das ist zu leicht, das ist nicht unser
Bruder." So kam Jtreisch herauf. Als sie ans Licht kam, waren
alle erstaunt über ihre Schönheit. Die Brüder ließen das Seil wieder
herunter, zogen wieder an und sagten: "Das ist zu leicht, das ist
nicht unser Bruder." So kam Aigur herauf. Als sie ans Licht kam,
waren alle wieder erstaunt über solche Schönheit. — Die Brüder
ließen das Seil wieder herunter. Diesmal band sich der jüngste
Bruder selbst an das Seil und nahm dazu noch die Schätze Chtaf
Laräis in die Arme, so daß die Last sehr schwer war, als die Brüder
anzogen. Die Brüder zogen das Seil nur ein Stück hoch. Dann sagte
der älteste Bruder: "Das ist unser Bruder, wir wollen das Seil durchschneiden."
Darauf nahm der zweite Bruder sein Messer heraus
und schnitt die Schnur durch. Der jüngste Bruder stürzte mit seinen
Schätzen im Arme und mit dem Seil auf die untere Welt, auf den
Boden.
Der älteste Bruder sagte: "Nun wollen wir mit allem, was wir gewonnen
haben, heimkehren." Er rief die Frauen zum Aufbruch zusammen.
Alle Frauen weinten, als sie hörten, daß der jüngste
Bruder unten geblieben war, weil das Seil gerissen sei. Der zweite
Bruder sagte: "Jeder von euch, die heute oder in Zukunft noch einmal
hierüber weint, schneide ich den Hals durch." Darauf unterdrückten
sie die Tränen. Sie zogen vom Brunnenschacht fort.
Jtreisch sagte insgeheim zu Aigur: "Wenn unser jüngster Bursche
nur an seinen Ring denkt." Aigur sagte: "Ja, wenn er nur den
Tachasims lebri nicht vergißt!"
Die älteren zwei Brüder kamen mit dem singenden Vogel, mit
Jtreisch und Aigur, mit den drei Frauen der Wuarssen und mit
vielen Schätzen in der Stadt ihres Vaters an. Der achtzigjährige
Mann und seine ältesten beiden Frauen begrüßten sie freundlich.
Die Mutter des Jüngsten stand hinten und schaute nach ihrem Sohne
aus. Der achtzigjährige Mann fragte: "Wo ist mein jüngster Sohn?
Wo ist euer jüngster Bruder?" Der älteste Sohn sagte: "Dein
jüngster Sohn ist feige geflohen, als die Wuarssen den Kampf
begannen; die Wuarssen liefen hinter ihm her und haben ihn totgeschlagen."
Da schlug der achtzigjährige Mann sich voll Zorn die
Faust vor die Stirn und rief: "Was war ich für ein Narr! Ihn hielt
ich für den Mutigen und Klugen! Ihn liebte ich am meisten! Und
er brachte mir die Schande ins Haus. Wehe der Mutter, die mir
einen solchen erbärmlichen Sohn gebar." Und in seinem Zorn
sperrte er die Mutter des jüngsten Burschen zu den Hunden in einen
Stall.
Seinen älteren beiden Söhnen veranstaltete der achtzigjährige
Mann aber ein großes Fest. Bei dem Feste sagte der Älteste insgeheim
zu Jtreisch: "Ich werde dich und mein Bruder wird Aigur
heiraten." Jtreisch sagte: "Ihr mögt uns zwingen nicht zu weinen.
Ihr mögt die Weiber der Wuarssen zwingen, euch in allem zu
Willen zu sein. Aber wenn ihr beiden Aigur und mich zwingen
wollt, euch zu heiraten, ehe ihr nicht unsere Bedingungen erfüllt
habt, werden wir die furchtbare Wahrheit erzählen, ob ihr uns nachher
tötet oder nicht. Unsere Bedingungen werden wir euch sagen,
wenn es uns gut dünkt." Da ließen die beiden Brüder von dem
Drängen ab. Sie waren zu verliebt und zu furchtsam, den beiden
Frauen Gewalt anzutun.
***Als der Jüngste mit dem abgeschnittenen Seil auf den Boden
stürzte, vergaß er, daß er den Tachasims lebri am Finger hatte.
Einen Monat lang dachte er nicht an den Ring. Eines Tages rang
er aber voller Wut über die Schlechtigkeit seiner Brüder und über
die eigene Ohnmacht die Hände. Da verschob sich der Ring, so daß
die Innenseite nach außen kam, und sogleich sagte der Ring: "Was
wünschst du ?" Der Jüngste erstaunte und rief: "Wie töricht ich
war, den Ring zu vergessen! Schnell, bringe mich zunächst einmal
auf die Erde!" Sogleich befand sich der Bursche auf der Oberfläche
der Erde. Der jüngste Bursche sprach wieder zum Ringe: "Jetzt
möchte ich schwarze Kleider und eine schwarze Stute haben." Sogleich
hatte er schwarze Kleider und eine schwarze Stute.
Der jüngste Bursche ritt auf dem Wege zu der Stadt, in der sein
Vater, seine Mutter und seine Geschwister wohnten. Er kam an.
Er ließ die Stute vor den Toren der Stadt. Er ging hinein und suchte
das Haus eines armen Mützenmachers auf, trat bei dem Mützenmacher
ein und sagte: "Gestatte mir, daß ich bei dir das Handwerk
erlerne und für dein Geschäft arbeite." Der Mützenmacher sagte:
"Mein guter Bursche, ich würde dich sehr gerne aufnehmen und
dich mein Geschäft lehren. Ich bin aber sehr arm und verdiene
jeden Tag genau ein Brot, so daß ich gerade allein satt zu essen
habe. Es ist mir unmöglich, noch einem zweiten Menschen Nahrung
zu bieten, geschweige denn, daß ich ihm einen Lohn zahlen könnte."
Der jüngste Bursche sagte: "Ich habe noch genug, um dir etwas zu
zahlen dafür, daß du mich das Handwerk lehrst. Das wird lange
genug reichen, bis ich genügend gelernt habe, um deinen Verdienst
so zu vermehren, daß du noch etwas erübrigst." Der Mützenmacher
sagte: "Dann ist es mir recht."
Der jüngste Bursche blieb bei dem Mützenmacher und lernte
dessen Geschäft. Er gab dem armen Mützenmacher soviel, daß beide
gut davon leben konnten. Auch lernte er das Geschäft sehr schnell,
so daß der Mützenmacher bald mehr verdiente als vordem. Danach
begann der jüngste Bursche im geheimen in seiner Kammer den
Ring zu drehen und sich besondere Stücke zu wünschen, die er dem
Meister dann übergab. Der war sehr erstaunt über die ungewöhnliche
und schnell wachsende Geschicklichkeit seines Gesellen, dessen
Werkstücke seine eigenen Erzeugnisse weit übertrafen, so daß er
bald wohlhabend wurde und in den Ruf eines ungewöhnlich geschickten
Mannes kam.
***Eines Tages drang der älteste Bruder wieder in Jtreisch, daß sie
ihn doch heiraten möge. Jtreisch sagte: "So will ich dir denn
meine erste Bedingung sagen: Sieh zu, ob du irgendwo im Lande,
hier oder auswärts, ein Kleidungsstück von so besonderer Eigenart
auftreiben kannst, wie es sonst kein Mann im Lande herstellen
kann. Gelingt dir dies, so werde ich dir meine weiteren Wünsche
sagen." Der Älteste dachte nach und ging hinaus zum Versammlungsplatz
der Männer und sagte dort: "Ich möchte wohl ein Kleidungsstück
von ganz besonderer Eigenart erwerben, wie es sonst kein
Mann im Lande herstellen kann, und es soll mir dabei auf den Preis
nicht ankommen. Kann mir einer von euch sagen, wo ich so etwas
kaufen kann?" Einer der Anwesenden sagte: "In unserer Stadt ist
ein Mützenmacher, dessen Kunstfertigkeit in der letzten Zeit derartig
gewachsen ist, daß er alle Leute seines Geschäftes weit übertrifft.
Vielleicht kannst du von diesem erhalten, was du wünschst."
Der älteste Bruder ging sogleich zu dem Mützenmacher und trug
diesem sein Anliegen vor. Der Mützenmacher sagte: "Ich will
sehen, was sich machen läßt. Komme in einigen Tagen wieder."
Der älteste Bruder ging, und der Mützenmacher teilte den Auftrag
seinem Gesellen mit. Der jüngste Bursche ließ sich genau auseinandersetzen,
wer der Besteller sei und wie der Auftrag gelautet
habe und sagte: "Mit diesem Auftrag sollst du Geld und Ehre gewinnen."
Dann ging der Jüngste in seine Kammer, drehte den
Ring und forderte sich eine goldene Mütze von so außerordentlicher
Eigenart und so großer Schönheit, daß noch niemals jemand etwas
Ähnliches hergestellt oder gesehen habe. —Sogleich lag die goldene
Mütze vor ihm.
Nach einigen Tagen kam der älteste Bruder wieder zu dem
Mützenmacher, nahm das herrliche Werkstück erstaunt entgegen,
zahlte einen außerordentlichen Preis dafür und eilte, so schnell er
konnte, nach Hause. Er ging zu Jtreisch, legte ihr die Mütze vor
und sagte: "Hiermit habe ich deine erste Bedingung erfüllt, sage
mir nun die zweite." Jtreisch betrachtete die Mütze von allen Seiten
und erkannte auf den ersten Blick, daß die Mütze nur mit Hilfe des
Wunschringes gewonnen sein konnte, daß also der jüngste Bursche
in der Nähe sein mußte. Sie sagte zu dem ältesten Bruder: "Mein
zweiter Wunsch ist der Besitz einer Gandura aus einem Stück ohne
Naht. Wer solche Mütze herstellen kann, vermag wohl auch
solche Gandura anzufertigen." Der älteste Bruder sagte: "Ich will
sehen, was ich machen kann."
Der älteste Bruder ging zu dem Mützenmacher und trug ihm
seinen Wunsch vor. Der Mützenmacher schüttelte den Kopf und
sagte: "Ich bin ein Mützenmacher, aber kein Weber oder Schneider."
Der älteste Bruder sagte: "Wer solche Mütze herstellen kann,
vermag wohl auch solche Gandura anzufertigen. Es soll mir auf
den Preis nicht ankommen. Ich werde nach einigen Tagen wiederkommen
und nach der Gandura sehen." Der älteste Bruder entfernte
sich. Der arme Mützenmacher blieb erschrocken zurück,
denn die beiden ältesten Söhne des achtzigjährigen Mannes waren
ihrer Grausamkeit wegen sehr gefürchtet.
In seiner Bedrängnis trug der Mützenmacher die Sache seinem
Gesellen vor und sagte: "Ich fürchte, diese Angelegenheit wird für
uns einen schlechten Ausgang nehmen." Der jüngste Bursche
sagte: "Fürchte dich nur nicht, sondern wiederhole mir noch einmal
genau, wie der Besteller seinen Auftrag begründet hat." Der
Mützenmacher sagte: "Er hat gesagt: Wer solche Mütze herstellen
kann, vermag wohl auch solche Gandura anzufertigen." Der
jüngste Bruder sagte: "Dies ist nicht unrichtig. Ich bin früher
Weber und Schneider gewesen und verstehe einiges davon. Also
werde ich die Sache versuchen. Ängstige dich nicht zu sehr." Dann
ging der jüngste Bursche in seine Kammer, drehte seinen Ring,
sprach seinen Wunsch aus und hatte allsogleich die Gandura aus
einem Stück ohne Naht vor sich liegen. Er gab sie seinem Meister,
der sich über das schöne Stück und die Geschicklichkeit seines Gesellen
nicht genug verwundern konnte.
Nach einigen Tagen kam der älteste Bruder, nahm die Gandura
voller Freude in Empfang, zahlte einen hohen Preis, trug sie ZU
Jtreisch und sagte: "Hier ist die gewünschte Gandura. Hast du nun
noch eine Bedingung?" Jtreisch betrachtete die Gandura und sagte:
"Ja, ich habe noch eine Bedingung. Ich will sogleich den Verfertiger
der Gandura hier im Hause sehen. Also merke dir wohl, daß
es der wirkliche Verfertiger und nicht etwa irgendein Vermittler
sein muß. Wenn ich den wirklichen Verfertiger der Mütze und dieser
Gandura hier vor mir sehe, werde ich mich sogleich bereit erklären,
mich zu verheiraten." Der älteste Bruder eilte sogleich zu dem
Mützenmacher und sagte: "Ich will sogleich wissen, wer die Mütze
und die Gandura hergestellt hat. Sage es mir sogleich und rufe mir
sogleich den Mann, oder ich lasse dir heute noch den Kopf abschlagen."
Der Mützenmacher zitterte vor Angst und sagte: "Gehe
nur nach Hause, ich will dir sogleich den Mann senden." Der
älteste Bruder sagte: "Tue es nur sogleich, oder ich lasse dir bei
Gott den Kopf abschlagen." Der älteste Bruder ging.
Der erschrockene Mützenmacher begab sich, als der andere das
Haus verlassen hatte, in die Kammer des jüngsten Burschen. Er
schrie vor Angst und sagte: "Oh, warum habe ich dich in meinem
Hause aufgenommen! Oh, du bringst mir mit deinen Kunstwerken
noch den Tod ins Haus!" Der jüngste Bursche sagte: "Was gibt
es denn?" Der Mützenmacher sagte: "Der älteste Sohn des achtzigjährigen
Mannes, an den ich die Mütze und die Gandura verkauft
habe, war soeben bei mir und hat gedroht, mir heute noch den
Kopf abschlagen zu lassen, wenn ich nicht sogleich den Mann zu
ihm schicke, der sie hergestellt hat. Du hast diese Sachen aber so
schnell hergestellt, daß es dabei sicher nicht mit rechten Dingen
zugegangen ist, und dafür wird man mich jetzt sicher zur Verantwortung
ziehen." Der jüngste Bursche lachte und sagte: "Habe
nur keine Furcht, ich werde sogleich hingehen und verantworten,
was ich gemacht habe. Dir wird nichts geschehen." Der Mützenmacher
wurde ärgerlich und sagte: "Ich weiß nicht, wie du darüber
lachen kannst. Du weißt offenbar nicht, wie grausam die beiden
Söhne des achtzigjährigen Mannes sind."
Der jüngste Bursche ging in seine Kammer, drehte seinen Ring
und sagte: "Mache mich unkenntlich!" Sogleich war er unkenntlich.
Dann machte er sich auf den Weg zum Hause seines Vaters,
des achtzigjährigen Mannes. Er trat ein. Der achtzigjährige Mann
und seine ältesten beiden Söhne waren im Zimmer. Aber niemand
erkannte ihn. Der älteste Bruder begrüßte ihn und fragte: "Warst
du es, der die Mütze und die Gandura hergestellt hat?" Der jüngste
Bursche sagte: "Ich war es." Der älteste Bruder sagte: "Nimm eine
Tasse Kaffee mit uns. Verweile einen Augenblick. Eine schöne
Frau will dir für die Mütze und die Gandura danken. Der älteste
Bruder ging hinaus. Er bestellte den Kaffee. Der Kaffee wurde gebracht.
Dann kam der älteste Bruder mit Jtreisch in das Zimmer.
Jtreisch betrachtete den jüngsten Burschen. Sie erkannte den
Ring an seinem Finger. Sie sah, daß er der jüngste Bursche war,
wenn er sich auch verändert hatte. Sie sagte zu ihm: "Du hast mir
mit der Mütze und der Gandura eine große Freude bereitet. Wenn
wir dir nun einige Wünsche erfüllen können, so soll es geschehen."
Sie wandte sich zum ältesten Bruder und sagte: "Nicht wahr, du
bist damit einverstanden." Der älteste Bruder sagte: "Ich bin damit
einverstanden."
Der jüngste Bursche sagte: "Wenn ich mir einiges wünschen
darf, so bitte ich, zunächst darum, daß ihr den singenden Vogel
bringt, damit ich ihn höre." Der älteste Bruder brachte den singenden
Vogel und stellte ihn in die Mitte des Zimmers. Der jüngste
Bursche fragte den singenden Vogel: "Wer hat dich aus deinem
Hause genommen und wem gehörst du?" Der singende Vogel
sagte: "Du allein hast mich aus meinem Hause genommen und dir
allein gehöre ich!" Die ältesten Brüder sahen sich an. Sie sahen
den Vater an.
Jtreisch sagte: "Hast du noch einen Wunsch?" Der jüngste
Bruder sagte: "Bringt mir die drei Frauen herein, die mit den
ältesten zwei Söhnen des achtzigjährigen Mannes angekommen
sind." Jtreisch rief die drei Frauen. Sie kamen herein. Der jüngste
Bursche drehte den Ring am Finger und sagte: "Nimm die Veränderung
von mir." Da erkannte der achtzigjährige Mann und
seine ältesten Söhne und die drei Frauen der Wuarssen den jüngsten
Burschen, und die drei Frauen knieten vor ihm nieder, küßten ihm
die Hände und dankten ihm wieder und wieder dafür, daß er sie
aus dem Walde gerettet habe. Die beiden ältesten Brüder versteckten
sich aber, und der achtzigjährige Mann erhob sich und
schaute den jüngsten mit großen Augen an.
Jtreisch sagte: "Hast du noch einen Wunsch?" Der jüngste
Bursche sagte: "Kommt, ihr beide, Jtreisch und Aigur, die ihr übrig
geblieben seid von der Reise in die untere Welt des Chtaf Larais,
und die ihr mir treu bliebt, nachdem meine Brüder mich zu töten
versucht hatten, zu mir, und dann will ich meine Mutter aufsuchen,
die einzige Frau, die meinem Vater einen seinen Wünschen
entsprechenden Sohn geboren hat." Als der achtzigjährige, Mann
das hörte, sank er vor Scham tief in die Erde, denn er konnte es
nicht verwinden, daß er die beste seiner Frauen zu den Hunden in
einen Stall gesperrt hatte. Die beiden ältesten Brüder sanken aber
vor dem jüngsten Bruder nieder und baten ihn um Gnade.
Der jüngste Bruder ging mit Jtreisch und Aigur hin und befreite
seine Mutter. Er vertrieb die Mütter seiner Brüder aus dem Hause
und machte den einen derselben zu einem Schlächter, den andern
zum Mistträger. (Bei den Kabylen sind die Schlächter stets vera
achtet und in dieser Gegend wenigstens stets Neger.) Danach veranstaltete
er ein großes Fest und heiratete Jtreisch und Aigur,
Sonne und Mond. Bei dem Fest stand aber der singende Vogel
mitten im Zimmer und sagte immer wieder: "Der jüngste Bursche
allein hat mich aus meinem Hause genommen. Dem jüngsten
Burschen allein gehöre ich."
15. Die sieben Schwestern
Ein Mann hatte sieben Töchter; sie waren alle erwachsen, aber
noch nicht verheiratet. Ein Agelith wollte die älteste Tochter,
die sehr klug und schön war, heiraten. Der Vater gab sie ihm aber
nicht.
Eines Tages wollte der Vater eine lange Reise antreten. Er richtete
im Hause alles her und sagte zu seinen Töchtern: "Ich werde eine lange
Reise machen und vor zwei Jahren nicht zurückkommen. Verlaßt, solange
ich fort sein werde, nicht das Haus. Ihr habt im Hause alles,
was ihr braucht. Habt ihr etwas nötig und kommt ein Händler vorbei,
so kauft durch das Fenster des Tarorfiz (oder Tarurfiz vergl. Bd. i S. 18
=Obergeschoß). Öffnet aber nie die Haustüre." Der Vater reiste ab.
Der Vater war schon lange fort, da hatten die sieben Mädchen
eines Tages kein Wasser mehr im Hause. Die Älteste nahm einen
Ziegenfellsack (für Wasser) und ging damit fort zur Quelle, um
Wasser zu holen. Sie kam an ein Haus, in dem wohnten sieben
Wuarssen. Sechs von ihnen waren auf der Jagd und nur einer war
daheim, für das Haus zu sorgen.
Als der Wuarssen das Mädchen sah, sagte er: "Was willst du,
mein Mädchen?" Die Älteste sagte: "Ich wollte Wasser an der
Quelle holen." Dem Wuarssen gefiel das schöne Mädchen über
alles, und er sagte: "Komm, mein Mädchen, iß etwas und nimm
dann Wasser aus unserm Brunnen." Die Älteste trat herein. Sie
aß, was der Wuarssen ihr bot. Die Älteste sagte nach dem Essen:
"Es riecht hier nach Weizen (= irthen; Gerste =thimsin)." Der
Wuarssen sagte: "Sieh hier den Thetheräft (= Silos im Hause, Getreidegrube)!
Er ist ganz voll Weizen. Nimm dir davon, soviel du
willst." Die Älteste sah in die Getreidegrube herab und sagte: "Da
lange ich nicht herab. Hebe du mir herauf." Der Wuarssen bückte
sich, um in die Tiefe hinabzugreifen. Die Älteste gab ihm einen
Stoß. Der Wuarssen stürzte hinab. Die Älteste sah sich dann im
Hause um, fand viel Gold und Kleider und Korn, nahm von allem
und kehrte heim.
Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück.
Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Sie hörten
Rufe und Stöhnen aus dem Thetheräft. Sie sahen hinein. Sie fanden
den Wuarssen. Sie halfen ihm heraus. Sie fragten ihn, wie er da
hinab gekommen sei. Der Wuarssen sagte: "Es war ein Mädchen
hier, das war so schön. Wenn ihr es einmal seht, so gebt ihr euer
ganzes Vermögen für es hin." Der zweite Wuarssen fragte: "Wird
es morgen wiederkommen?" Der erste Wuarssen sagte: "Vielleicht
kommt es wieder."
Am andern Tage blieb der zweite Wuarssen daheim und die anderen
sechs gingen zur Jagd. Nach einiger Zeit kam wieder die Älteste.
Der Wuarssen war froh. Die Älteste trat in das Haus des Wuarssen
und schaute sich um. Der Wuarssen sagte: "Was machst du?" Die
Älteste sagte: "Ich sehe mich um." Die Älteste löste den Ring vom
Finger und ließ ihn fallen. Sie schrie. Der Wuarssen sagte: "Was
ist?" Die Älteste sagte: "Mein Ring ist in die Schischma (= Laterine)
gefallen. Wenn ich ohne meinen Ring heimkomme, werden
meine Eltern mich schlagen." Der Wuarrsen sagt: "Warte, ich
will ihn dir heraufgeben." Der Wuarssen bückte sich über die
Schischma. Die Älteste gab ihm einen Stoß. Der Wuarssen fiel in
die Schischma. Dann nahm sich die Älteste von dem Golde und den
Kleidern und dem Korn der Wuarssen, was ihr gefiel und kehrte
heim.
Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück.
Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Der Dritte
ging aber einmal zur Schischma. Da hörte er den Bruder von unten
rufen und zog ihn herauf. Der Wuarssen fragte ihn: "Wie kommst
du dahinunter?" Der Wuarssen sagte: "Das schöne Mädchen war
hier. Ich umarmte sie. Nachher aber stürzte sie mich dort hinab."
Der dritte Wuarssen sagte: "Morgen bleibe ich daheim. Wenn das
Mädchen wiederkommt, werde ich es töten."
Am nächsten Tag blieb der dritte Wuarssen daheim und die
andern sechs gingen zur Jagd. Nach einiger Zeit kam die Älteste,
begrüßte den Wuarssen und sah sich um. Der Wuarssen vergaß,
daß er das Mädchen töten wollte. Er sah, wie schön sie war. Er
sagte: "Was siehst du ?" Die Älteste sagte: "Was ist euer Haus
schön! Wie reich ihr seid!" Der Wuarssen dachte bei sich: "Ich
werde sie auf den Tarorfiz locken und dort umarmen." Der Wuarssen
sagte: "Wie würdest du erstaunen, wenn du sähst, was auf dein
Tarorfiz alles ist." Die Älteste sagte: "Zeige es mir." Der Wuarssen
sagte: "Dort ist die Leiter, steige hinauf." Die Älteste trat auf die
erste Sprosse und sagte dann: "Die Leiter wackelt. Steige du voran
und halte die Leiter von oben." Der Wuarssen stieg zum Tarorfiz
herauf. Als er oben war, zog die Älteste die Leiter weg. Der
Wuarssen konnte nicht wieder herunter. Dann nahm sich die
Älteste von dem Gold und den Kleidern und dem Korn der Wuarssen,
was ihr gefiel und kehrte heim.
Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück.
Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Endlich
hörten sie ihn vom Tarorfiz herunterrufen. Sie stellten die Leiter
an, so daß er heruntersteigen konnte und fragten ihn: "Hast du sie
umarmt?" Der Wuarssen sagte: "Nein, es kam nicht dazu." Der
vierte Wuarssen sagte: "Morgen werde ich daheim bleiben. Ich
werde sie euch festhalten."
Am nächsten Tage blieb der vierte Wuarssen daheim und die
andern sechs gingen zur Jagd. Nach einiger Zeit kam die Älteste
in das Haus der Wuarssen, begrüßte den Wuarssen und begann in
alle Töpfe zu sehen. Der vierte Wuarssen sagte: "Was schaust du
dich um?" Die Älteste sagte: "Ich bin so schnell gelaufen, zu dir
zu kommen, daß ich sehr durstig geworden bin. Ich möchte Wasser
trinken." Der Wuarssen sah, wie schön sie war und vergaß darüber
alles. Die Älteste sagte: "Hast du nicht einen Stolle (= eiserner
Schöpfeimer oder -löffel), daß ich mir schöpfen kann." Der Wuarssen
gab ihr den Schöpfeimer. Die Älteste ging hinaus zur Quelle.
Der Wuarssen folgte ihr. Die Älteste blickte in den Quellschacht
und sagte: "Ah, das ist zu tief für mich, ich kann meinen Durst
nicht löschen." Der Wuarssen trat heran und sagte: "Ich will für
dich schöpfen." Der Wuarssen bückte sich. Die Älteste gab ihm
einen Stoß. Der Wuarssen fiel in den Quellschacht. Die Älteste
sagte: "Nun bleib da! Ich komme nicht wieder; es war das letztemal,
daß ich euch besuchte!" Dann ging die Älteste in das Haus
und nahm von dem Gold und den Kleidern und dem Korn der
Wuarssen, was ihr gefiel und ging damit heim.
Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück.
Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Endlich
hörten sie seine Stimme aus dem Quellschacht. Sie zogen ihn heraus
und fragten: "Hast du das Mädchen gesehen?" Der vierte Wuarssen
sagte: "Ja, ich sah sie, sie war durstig." Der fünfte Wuarssen
sagte: "Mir soll sie morgen nichts anhaben." Der vierte Wuarssen
sagte: "Du irrst dich, das schöne Mädchen kommt morgen nicht
wieder."
Am andern Tage sagte der fünfte Wuarssen: "Ich werde zu dem
schönen Mädchen gehen und es im eigenen Hause fangen. Ich
will sie hierher bringen." Der fünfte Wuarssen machte sich einen
(falschen) Bart um und verkleidete sich als Händler (=artär;
Plural: eartärren). Er hing sich einen Beutel um mit Stickereien
und Seide und Schmuck. Der verkleidete Wuarssen machte sich
auf den Weg. Er kam zu dem Haus der sieben Mädchen. Der
Wuarssen klopfte. Der Wuarssen rief: "Ich bin ein Händler und
möchte euch gerne einige Sachen verkaufen. Macht mir doch die
Tür auf, damit ihr seht." Die Älteste sagte zu den Schwestern:
"Laßt die Tür geschlossen. Ich will mit dem Manne verhandeln.
Ich werde mit ihm aus dem Fenster (= thak; Plural: thakath)
vom Tarorfiz sprechen." Die Älteste stieg zum Tarorfiz hinauf.
Die Älteste öffnete oben das Fenster und sagte zu dem Händler:
"Was willst du von uns?" Der Wuarssen sagte: "Wollt ihr nicht
Gürtel (=aguth; Plural: iguther) von Seide kaufen?" Die Älteste
sagte: "Was willst du denn dafür haben?" Der Wuarssen sagte:
"Zwei Duro." Die Älteste ließ eine Schnur herunter und sagte:
"Ich will den Gürtel betrachten." Der Wuarssen band den Gürtel
an die Schnur. Die Älteste zog ihn herauf. Dann band die Älteste
einen Korb an die Schnur, legte zwei Duro hinein und ließ die Schnur
wieder herunter.
Der Wuarssen nahm das Geld aus dem Korb. Der Wuarssen
sagte: "Ich habe sehr schöne Schleier (= thimharmith; Plural:
thimharmir). Ich habe noch andere Gürtel. Willst du denn von
alledem nichts für deine Schwestern kaufen?" Die Älteste sagte:
"Lege nur alles in den Korb, ich werde es heraufziehen und dann
sehen, was wir nehmen können." Der Wuarssen legte alle seine
Gürtel, Schleier und Stickereien in den Korb. Die Älteste zog den
Korb an der Schnur herauf. Als sie alles oben hatte, rief die Älteste:
"Nun geh du als Händler verkleideter Wuarssen, oder ich werfe mit
der Debus (=Schlag- und Wurfkeule) nach dir!" Der Wuarssen
ging.
Der fünfte Wuarssen kam heim. Die Brüder fragten ihn: "Warst
du im Hause des Mädchens? Hat sie dir etwas abgekauft?" Der
fünfte Wuarssen sagte: "Sie hat mir einen Gürtel abgekauft und
alles andere hat sie mir weggenommen, ohne mir dafür ein Kupfer..
stück zu zahlen." Der sechste Wuarssen sagte: "Ich werde dieses
Mädchen in seinem eigenen Hause töten und verschlingen. Ich
komme nicht ohne das wieder."
Der sechste Wuarssen ging zu einer alten, verschlagenen Frau
(einer Setüt). Der sechste Wuarssen sagte zu der Frau: "Kannst
du mich in das Haus des Mädchens bringen? Wenn du mich in das
Haus des Mädchens bringst, bekommst du alles von mir, was du
willst." Die alte Frau sagte: "Dies kann ich machen. Komm und
steige in meinen Rückentragkorb" (=thakofitz; Plural: thakofthin,
diese Tragkörbe werden von den Frauen mit einer Horizontalschnur
über Oberarme und Brust getragen; Stirngurttragen kommt
nicht vor!). Der sechste Wuarssen stieg in den Rückenkorb der
alten Frau. Die alte Frau nahm den Korb auf den Rücken und ging
mit ihm zum Hause der sieben Mädchen.
Die alte Frau kam an das Haus der sieben Mädchen. Die alte
Frau klopfte und rief: "Wollt ihr Töpfe kaufen?" Die jüngste
Tochter rief: "Da ist eine alte Frau mit Töpfen." Die Jüngste lief
hin und öffnete. Die alte Frau kam herein, stellte den Korb in eine
Ecke und begrüßte die sieben Mädchen. Die alte Frau sprach mit
den sieben Mädchen. Die Jüngste lud die Frau zum Essen ein. Die
alte Frau blieb zum Abendessen. Die alte Frau blieb über Nacht.
Als es Nacht war, ging die Älteste leise mit einer Nadel zu dem
Korbe und stach hinein. Die Älteste fragte leise: "Wachst du?"
Der Wuarssen dachte, es sei die alte Frau und sagte: "Ja, ich wache.
Soll ich jetzt herauskommen und sie töten?" Die Älteste stach mit
einer spitzen Eisenstange durch den Korb in den Wuarssen (spitze
Eisenstange = athfurth; Plural: ithfurthen) und sagte: "Warum
hast du nur so früh gehustet, ich glaube, nun sind sie alle geflohen."
Der Wuarssen sagte: "Ich habe ja nicht gehustet." Die Älteste
sagte: "Du hast doch gehustet." Sie machte die Eisenstange heiß
und stieß immer wieder durch den Korb in den Wuarssen. Sie sagte
dabei: "Gewiß, du hast gehustet." Nachdem sie eine Zeitlang so mit
der Eisenstange zugestoßen hatte, war der Wuarssen tot.
Am andern Tage sagte die alte Frau zu den sieben Schwestern:
"Wollt ihr mir also keine Töpfe abkaufen?" Die Älteste sagte:
"Nein, wir danken dir. Nimm deine Last und bring sie wieder heim."
Die Älteste half der alten Frau die Last auf die Schultern und begleitete
sie zur Tür. Die alte Frau ging mit ihrer Last von dannen.
Die alte Frau kam mit ihrem Korbe zu dem Hause der Wuarssen.
Sie setzte den Korb ab und sagte: "Hier habt ihr euren Bruder, ich
habe ihn in das Haus der sieben Mädchen gebracht. Da ist er eingeschlafen.
Das ist nicht meine Sache. Ich habe Wort gehalten."
Die andern sechs Wuarssen öffneten den Korb. Sie fanden den
toten Wuarssen. Sie sagten: "Er ist nicht lebend wiedergekommen;
er hat Wort gehalten." Der siebente Wuarssen sagte: "Wenn der
Vater dieses Mädchens wiederkommt, werden wir zu ihm gehen und
seine Tochter von ihm für mich zur Frau verlangen, oder aber ihn
selbst verschlingen."
***Am andern Tage kam der Vater der sieben Mädchen von seiner
Reise zurück. Die sechs Wuarssen kamen zu seinem Hause und
sagten ihm: "Gib unserm jüngsten Bruder deine älteste Tochter zur
Frau, oder wir verschlingen dich und alle deine Töchter. Wir wollen
die älteste Tochter mit Gewalt oder Güte." Der Vater erschrak. Der
Vater gab sein Wort (schwor) und sagte: "Ich werde dir meine
älteste Tochter zur Frau geben. Geh jetzt wieder heim und komme
wieder, wenn sie zur Hochzeit gerüstet ist." Die sechs Wuarssen
kehrten wieder heim.
Der Vater ging zur ältesten Tochter und sagte: "Du wirst den
siebenten Wuarssen heiraten." Die Älteste sagte: "Mein Vater,
nimm davon Abstand. Ich habe den Wuarssen soviel Übel getan,
sie werden mich töten." Der Vater sagte: "Ich habe mein Wort gegeben,
es muß geschehen." Die Älteste sagte: "So gib mir am Tage
der Hochzeit vier Ziegenhautsäcke mit, zwei gefüllt mit Honig und
zwei gefüllt mit Butter." Der Vater sagte: "Das sollst du haben."
Als der Tag gekommen war, brachte der Vater die Älteste mit
ihren vier gefüllten Ziegenhautsäcken in das Haus der Wuarssen.
Der siebente Wuarssen nahm sie in Empfang und führte sie in das
kleine Haus, das die Neuvermählten bewohnen sollten. Dann ging
der Wuarssen zu seinen Brüdern, um mit ihnen und den Gästen bis
in die Nacht hinein das Fest zu feiern.
Die Älteste rief eine alte Frau und sagte zu ihr: "Bring mir die
Kleider deiner Tochter. Hilf mir, daß ich heute abend entfliehen
kann. Ich will dich reich beschenken." Die alte Frau sagte: "Wie
soll ich das machen?" Die Älteste sagte: "Bringe mir nur die Kleider
deiner Tochter. Ich kleide mich in sie, und wenn es dunkel ist,
gehe ich mit dir von dannen. Wenn die Leute dich fragen: ,Wer ist
das?' so sagst du: ,Das ist meine Tochter, die muß ihr schreiendes
Kind nähren'." Die Alte lief und holte die Kleider ihrer Tochter.
Die Älteste zog inzwischen ihre Kleider aus und machte aus den
vier Ziegenhautsäcken eine Puppe. Der Puppe zog sie ihre Kleider
an und legte die Puppe in ihr Bett.
Die Alte kam. Die Alte brachte die Kleider ihrer Tochter mit.
Die Älteste zog die Kleider an. Die Alte ging mit der verkleideten
Ältesten aus dem Hause. Die Wuarssen fragten: "Wer ist diese
junge Frau?" Die alte Frau sagte: "Es ist meine Tochter, die bei
der Braut war. Ich habe sie gerufen, weil ihr Kind daheim schreit.
Sie soll ihr Kind nähren." Die Wuarssen ließen die alte Frau mit
der verkleideten Ältesten gehen. Sie gingen weiter. Die Älteste beschenkte
die alte Frau, dankte ihr und lief so schnell sie konnte
von dannen.
Als es Nacht war, sagte der siebente Wuarssen zu seinen fünf
Brüdern: "Alle Leute sind jetzt bei dem Fest. Sie werden nichts
merken. Kommt jetzt; wir wollen das schöne Mädchen töten."
Die sechs Wuarssen ergriffen ihre Säbel und liefen in das kleine
Haus und zu dem Lager des schönen Mädchens. Auf dem Lager
sahen sie im Dunkeln eine Person. Sie begannen mit den Säbeln
auf die Person zu schlagen. Sie zerschlugen die Säcke mit Honig.
Sie leckten an den Säbeln und sagten: "Wie süß das Fleisch und
das Blut (=ithamen) ist." Sie zerschlugen die Säcke mit Butter.
Sie leckten an den Säbeln und sagten: "Wie fett dieses Mark
(=athif) ist."
Nachher zündeten sie eine Öllampe an, um damit zu beginnen,
das zerhackte schöne Mädchen aufzuessen. Als sie Licht gemacht
hatten sahen sie, daß sie statt in das schöne Mädchen in ein paar
Ziegensäcke geschlagen hatten. Sie sagten zu dem siebenten Wuarssen:
"Nun hat sie dich ebenso betrogen, wie uns andere alle." Die
sechs Wuarssen wurden wütend. Sie machten sich auf den Weg,
um den Vater des schönen Mädchens aufzusuchen. Sie sagten zu
dem Vater: "Wo ist deine älteste Tochter?" Der Vater der sieben
Mädchen sagte: "Ich habe sie euch gegeben; was nachher aus ihr
geworden ist, weiß ich nicht. Bei mir ist meine älteste Tochter
nicht." Da machten sich die Wuarssen auf den Weg und suchten
das Mädchen überall. Sie fanden das schöne Mädchen aber nicht.
***Das schöne Mädchen lief noch in der Nacht weit fort. Es legte
sich an einen Felsen nieder. Da schlief es. Als es Morgen war,
öffnete sich der Felsen. Eine Schlange kam heraus. Die Schlange
sah das schöne Mädchen. Da verwandelte sie sich in einen Mann.
Der aus der Schlange verwandelte Mann trat zu dem schönen Mädchen
und sagte: "Wer bist du?" Das schöne Mädchen sagte: "Ich
bin ein Mensch wie du!" Der Mann sagte: "Wenn es dir recht ist,
will ich dich als meine Tochter bei mir behalten bis an mein Ende.
Ich werde dir nichts tun. Wenn du aber einen Mann heiraten willst,
der dir zusagt, so sage nur, welcher es ist, und ich werde zustimmen.
Ich will nichts Schlechtes, sondern nur das Beste. Bist du einverstanden?"
Das schöne Mädchen sagte: "Ja, ich bin einverstanden!"
Der Mann sagte: "Ich bin kein Mensch, ich bin eine Schlange.
Ich bin wohlhabend und will dir geben, was du dir wünschst."
Die Schlange führte das schöne Mädchen in den Felsen. In'
Felsen war das Haus der Schlange. Das Mädchen trat herein. Im
Hause war alles sehr reich. Die Schlange suchte die schönsten
Schmucksachen zusammen und schmückte das schöne Mädchen
damit. Dann führte sie das schön geschmückte und gekleidete Mädchen
auf den Felsen hinauf und sagte: "Wenn du die Natur sehen
oder dich kämmen willst, so setze dich hier auf den Felsen, geh aber
nicht weiter fort." Das Mädchen wohnte bei der Schlange. Es saß
oft auf den Felsen und kämmte dort ihr schönes Haar.
Nicht weit entfernt wohnte ein Agelith, der hatte einen Widder
(= ikerri), den liebte er über alles, und er schmückte ihn reichlich
mit Gold. Eines Tages sah der Widder das schöne Mädchen, und er
ward von ihrer Schönheit ergriffen (Schönheit =ahathin). Der
Widder begann darauf zu singen. Der Widder trat an den Felsen,
auf dem das schöne Mädchen saß und sang: "Die Schlange macht
dich fett, und wenn du fett genug bist, wird die Schlange dich eines
Tages fressen." Als das schöne Mädchen das hörte, begann es zu
weinen und ward traurig. Sie mochte nicht essen und magerte ab.
Am andern Tage kam der Widder wieder und sang dasselbe. Er
kam alle Tage. Er kam während vierzehn Tagen (elnud'da = zwei
Wochen) jeden Tag. Das schöne Mädchen hörte es und magerte ab
und war zuletzt mager wie ein Nagel (=amthmar; Plural:
imthmarren). Die Schlange sah, daß das schöne Mädchen ganz
mager wurde. Sie fragte: "Was fehlt dir?" Das schöne Mädchen
sagte: "Es ist nichts."
Am andern Tage versteckte sich die Schlange in der Nähe des
Felsens. Die Schlange sah alles. Das schöne Mädchen kam, setzte
sich auf den Felsen und kämmte ihr schönes Haar. Nach einiger
Zeit kam die Herde des Agelith und der Widder mit dem Goldschmuck.
Der goldgeschmückte Widder kam an den Felsen und
begann zu singen: "Die Schlange macht dich fett, und wenn du fett
genug bist, wird die Schlange dich eines Tages fressen." Als das
schöne Mädchen das hörte, begann es zu weinen.
Abends verwandelte sich die Schlange in einen Mann, kam zu
dem schönen Mädchen und sagte: "Warum hast du mir das mit dem
Widder nicht gesagt? Ich habe alles mit angehört. Gräme dich
nicht. Wenn morgen der Widder wiederkommt und gesungen hat,
so singe du: ,Ich werde morgen aber den Sohn des Agelith heiraten,
und am Festtage wirst du geschlachtet werden'."
Am andern Tage kam der goldgeschmückte Widder wieder zum
Felsen und sang: "Die Schlange macht dich fett, und wenn du fett
genug bist, wird die Schlange dich eines Tages fressen." Das schöne
Mädchen hörte es und sang dann: "Ich werde morgen aber den Sohn
des Agelith heiraten, und am Festtage wirst du geschlachtet werden."
Als der Widder das hörte, begann er vor Furcht zu zittern,
so daß alles Gold, mit dem er geschmückt war, von ihm herabfiel.
Voller Angst und nackt ohne Schmuck, kam er heimgelaufen. Die
Schlange kam aber hervor, sammelte den Goldschmuck auf und
hängte ihn dem schönen Mädchen um.
Als der Widder ohne Schmuck heimkam, gab der Agelith ihm
neuen Goldschmuck. Der Hirt trieb die Herde seinen Weg. Der
Sohn des Agelith ging heimlich hinter dem Widder her. Der Sohn
des Agelith sah, wie der Widder zu dem Felsen ging. Der Sohn des
Agelith sah das schöne Mädchen auf dem Felsen sitzen. Er hörte
den Widder singen; er hörte das schöne Mädchen singen. Er sah
den Widder zittern und das Gold herabfallen. Der Sohn des Agelith
war von der Schönheit des Mädchens betäubt, so daß er nach Hause
wankte, ohne den Weg zu sehen. Der Sohn des Agelith kam heim
und erzählte alles seinem Vater, dem Agelith.
Am andern Tage ward der Widder aufs neue mit Gold behangen.
Der Hirt trieb die Herde seinen Weg. Der Agelith ging heimlich
hinter dem Widder her. Der Agelith sah, wie der Widder zu dem
Felsen ging. Der Agelith sah das schöne Mädchen auf dem Felsen
sitzen. Er hörte den Widder singen; er hörte das schöne Mädchen
singen. Er sah den Widder zittern und das Gold herabfallen.
Der Agelith ging zu der Schlange und sagte: "Ich will deine
Tochter für meinen Sohn; er soll sie heiraten. Was willst du von
mir?" Die Schlange sagte: "Ich will nur sieben Ziegenhäute voll
Eiter." Der Agelith ging. Er rief einen weisen Mann und sagte:
"Wie kann ich mir sieben Ziegenhäute voll Eiter (=arthed) verschaffen?"
Der weise Mann sagte: "Stich alle deine Schafe und
Ochsen. Es werden Beulen entstehen. Drücke sie aus. So wirst du
in acht Tagen sieben Ziegenhäute voll Eiter sammeln können."
Der Agelith tat so. Nach sieben Tagen hatte er sieben Ziegenhäute
voll Eiter. Er sandte sie der Schlange. Die Schlange war einverstanden.
Die Schlange verabschiedete sich von dem schönen Mädchen.
Die Schlange sagte: "Geh, nimm all deine Sachen. Geh zu deinem
Gatten. Vergiß nichts. Wende dich aber, wenn du mein Haus einmal
verlassen, nicht wieder um, auch nicht, um etwas Vergessenes
zu holen. Finde ich etwas, was du vergaßest, so werde ich es dir
schon bringen." Das schöne Mädchen versprach es und ging. —
Als aber das Mädchen schon gegangen war, fiel ihm ein, daß es
seinen Kamm und Spiegel vergessen hatte. Es dachte nicht an das,
was die Schlange ihr gesagt hatte; es lief zurück ins Haus. Als es
in das Haus trat, sah es die Schlange den Eiter trinken. Die
Schlange sagte aber: "Was hast du getan! Ich habe dich gewarnt.
Nun mußt du dein Unglück tragen." Das schöne Mädchen erschrak,
nahm Kamm und Spiegel und lief zu dem Dorf des Agelith.
***Die schöne junge Frau wurde von den andern Frauen gehaßt.
Der junge Agelith liebte sie aber sehr. Eines Tages gebar sie dem
jungen Agelith einen Knaben. Als es Nacht war, kam die Schlange,
biß dem Knaben den kleinen Finger ab und warf den Finger der
Mutter in den Schoß. Dann nahm die Schlange den Knaben mit
sich fort. Am andern Morgen wollte der Agelith seinen jungen
Sohn sehen. Die Frauen sagten (insgeheim): "Die Mutter hat ihr
eigenes Kind gegessen."
Als wieder ein Jahr vergangen war, gebar die schöne junge Frau
wieder einen Knaben. In der Nacht kam aber wieder die Schlange,
biß dem Knaben den kleinen Finger ab, warf den kleinen Finger
der Mutter in den Schoß und nahm den Knaben mit sich fort.
Nachts aber kamen noch die anderen Frauen, strichen der Mutter
das Blut des kleinen Fingers um den Mund und sagten laut: "Seht,
die junge Mutter hat ihr eigenes Kind gefressen." Als der Vater
des jungen Agelith das hörte, wurde er zornig. Er ließ die junge
Frau packen, ihr Lumpen anziehen und sie im Adäinin bei den
Tieren anbinden.
Die Schlange hatte die beiden Knaben mit nach Hause genommen
und zog sie auf. Die Knaben wuchsen schnell auf; es wurden
starke und schöne Jünglinge. Die Schlange unterwies sie in allem,
es wurden kluge und kenntnisreiche Burschen. Eines Tages sagte
die Schlange zu den beiden Burschen: "Heute will ich euch zu
euren Eltern bringen." Die Burschen sagten: "Haben wir Eltern?"
Die Schlange sagte: "Ja, euer Vater ist der Agelith des Landes.
Wenn ihr aber zu ihm kommt, laßt euch nicht in dem schönen Haus
der Gäste unterbringen. Verlangt, daß ihr im Staue ein Lager erhaltet
und weigert euch zu essen, ehe nicht die Frau, die dort angebunden
ist, mit euch essen darf. Nachher werde ich dann schon zu
euch kommen."
Die beiden Jünglinge machten sich auf den Weg zu dem Agelith.
Der junge Agelith sah sie. Er war überrascht von ihrer Schönheit.
Er dachte bei sich: "Hätte ich doch solche Söhne." Er begrüßte die
Jünglinge und bat sie in das Haus der Gäste zu kommen. Die beiden
Jünglinge sagten: "Wir danken, laß uns im Stalle übernachten."
Die Jünglinge gingen in den Stall. Der junge Agelith ließ die beiden
Jünglinge bitten, mit ihm zu essen. Die Jünglinge sagten: "Wir
essen nur, wenn die Frau, die hier im Stalle angebunden ist, freigelassen
wird und mit uns ißt." Der Agelith sagte: "Laßt sie; sie
hat ihre eigenen Kinder gefressen." Die beiden Jünglinge sagten:
"Wie sollte das sein! Das ist nicht möglich. Wenn die Frau nicht
mit uns ißt, können wir auch nicht essen."
Der junge Agelith gab den Befehl, die junge Frau loszubinden.
Die andern Frauen taten es. Aber sie stachen und kniffen dabei die
Frau und sagten ihr (leise): "Morgen wirst du wieder angebunden."
Die beiden Jünglinge hörten das. Die Jünglinge saßen und aßen mit
der jungen Frau an einer Tafel. Die Schlange verwandelte sich in
einen Mann und trat an die Tafel. Die Schlange fragte die
losgebundene Frau: "Könntest du deinen Sohn nicht wiedererkennen?"
Die junge Frau sagte: "Nein, denn ich habe nur diesen
kleinen Finger von ihm." Die Schlange sagte: "Gib ihn mir." Die
junge Frau gab ihn. Die Schlange spie darauf und setzte ihn dem
älteren Sohne an. Der Schlange sagte zu der jungen Mutter:
"Hast du auch den Finger des anderen Knaben?" Die Mutter sagte:
"Hier ist er." Die Schlange spie darauf und setzte ihn dem anderen
Jüngling an. Die Schlange sagte zu dem jungen Agelith und seiner
Frau: "Dies sind eure Söhne. Wärst du nicht auf dem Weg von
meinem Hause umgekehrt, so wäre dies Unglück nicht geschehen."
Der junge Agelith veranstaltete ein großes Fest. Alle Leute umjubelten
die junge Frau und ihre schönen Söhne. —Die Frauen, die
aber das Unglück der jungen Frau vermehrt und sie gequält hatten,
ließ der Vater des Agelith auf ein Pferd binden. Das wurde durch
die Berge und Wälder gejagt, so daß von ihnen kein Teil mehr am
andern blieb.
Die Schlange kehrte wieder in ihr Haus, in das Haus in dem
Felsen zurück. Sie kam später nie wieder in die Stadt des Agelith.
16. Brunnenfahrt
Ein Agelith hatte drei Söhne. Diese waren so stark, daß sie es
allein mit einem ganzen Stamm (arabisch: Duar; kabylisch:
thed-dorth) aufnehmen konnten. Die zwei Älteren waren jeder
allein einem Kriegshaufen eines Agelith gewachsen. Der Jüngste
war imstande, die Leute von sieben Agelith ganz allein zu besiegen,
ohne hierzu irgendeiner Hilfe zu benötigen. Der Agelith wußte aber
von der Stärke seiner Söhne nichts.
Sie alle drei verließen schon an jedem Morgen das Haus und
ritten in das Freie, wo niemand sie sah. Dort unterrichtete der
Jüngste sie in der Handhabung des Schwertes. Eines Tages aber
sahen die Leute das. Sie verstanden solches nicht und gingen zum
Agelith und sagten: "Du bist ein großer und kluger Mann, deine
drei Söhne aber sind Narren." Der Agelith hatte aber einen Angestellten.
Dessen Sohn ging fleißig zur Jagd. Er kam jeden Abend
reich mit Beute beladen nach Hause. Der Angestellte sagte zum
Agelith: "Es ist unrecht, daß die Leute so schlecht von deinen
Söhnen sprechen. Sie spielen. Das ist wahr. Es kann aber nicht
jeder Mann so ordentliche Söhne haben, wie der meine ist, der jeden
Abend mit reicher Jagdbeute heimkehrt." Als der Agelith das hörte,
ward er traurig und sagte bei sich: "Statt der drei schwachen Söhne
möchte ich lieber einen einzigen tapferen Sohn haben, wie ihn dieser
mein Angestellter hat."
Der Agelith hatte einen herrlichen Garten. Eines Tages ging er
in den Garten, um all die vielen Früchte und Wurzeln zu besehen,
die dieser Garten hervorbrachte. Wie er aber durch den Garten
ging, sah er, daß dieser Garten täglich beraubt wurde. Er sah die
Fußspuren eines Wuarssen, der täglich in den Garten kam, um sich
an den Früchten und Wurzeln des Agelith satt zu essen. Der Agelith
sah die Verwüstung. Er wurde zornig. Er kehrte zornig nach Hause
zurück. Daheim wurde er traurig und ging betrübt in seine Kammer,
ohne seine Söhne gesehen zu haben. Der Agelith war krank.
Er legte sich auf das Bett. Er ließ seinen Angestellten rufen. Er
fragte seinen Angestellten: "Hast du die Verwüstung gesehen, die
der Wuarssen in meinem Garten angerichtet hat?" Der Angestellte
sagte: "Ja, ich habe das gesehen. Es ist traurig, daß deine
Söhne, deren Aufgabe es wäre, den Garten zu bewachen, ihr Leben
im Spiel verbringen. Wenn du es willst, so soll mein Sohn den
Garten bewachen. Mein Sohn ist fleißig und tapfer." Der Agelith
sagte: "Ich werde es mir überlegen."
Am andern Morgen ritten die drei Brüder wie alle Tage hinaus
zum Zweikampf. Der Jüngste sagte draußen zu den beiden älteren
Brüdern: "Wißt ihr, was gestern abend das Herz unseres Vaters
bewegte? Wir müssen darauf achten, was daheim vorgeht, wenn
wir nicht dort sind. Ihr wißt, daß unser Vater sein Ohr allzuleicht
den Worten der anderen leiht, die nichts Gutes von uns sprechen.
Und dann wißt ihr auch, daß unser Vater nicht weiß, wie nützlich
das Waffenspiel (=träd[e]; arabisirt: l'harb) ist, welches wir alle
Tage üben. Wir müssen wissen, was die Leute gestern wieder dem
Vater gesagt haben." Die beiden älteren Brüder sagten: "Du hast
recht; wir müssen das in Erfahrung bringen."
Als es Abend war, kehrten die Brüder heim. Die Mutter sandte
ihnen das Essen. Die drei Brüder sagten: "Wir wollen nichts von
dem Essen mehr anrühren, solange sich unser Vater nicht zu uns
setzt und mit uns ißt." Die Mutter hörte es. Die Mutter ging zum
Vater und sagte: "Deine drei Söhne wollen das Essen nicht anrühren,
wenn du nicht mit ihnen ißt." Der Agelith sagte: "Ich kann
nicht mit meinen Söhnen essen; ich bin krank." Die Mutter kam
zu den Söhnen und sagte: "Der Vater kann nicht mit euch essen;
er ist krank."
Die drei Söhne gingen darauf zu dem Vater und sagten: "Vater,
sage uns, was du in deinem Herzen hast." Der Agelith unterdrückte
seinen Kummer und sagte: "Es ist gut, meine Söhne; wir
wollen gemeinsam essen."
Der Vater aß mit den Söhnen zusammen. Nach dem Essen sagte
der Agelith: "Meine Söhne, ich habe einen Angestellten; von dem
höre ich alle Tage, wie tapfer und fleißig sein Sohn auf der Jagd ist.
Alle Leute rühmen mir diesen jungen Mann, von dem ich oft Jagdbeute
erhalte. Gestern noch hat mir dieser Angestellte seinen Sohn
für eine schwere Sache zur Verfügung gestellt. Sein Sohn ist nicht
ein spielender Narr, sondern ein tapferer Mann. Ich habe nicht
einen solchen Sohn. Ich war gestern noch im Garten (=tib[rlherth)
und habe gesehen, daß ein Wuarssen dort große Verwüstungen anstellt.
Dieser Wuarssen betrügt mich um die besten Früchte und
um die besten Wurzeln in meinem Garten. Ich habe weiter nichts
zu sagen, als daß niemand in meinem Hause zu sein scheint, der
den Garten schützen kann." Die drei Söhne sprangen auf. Der
jüngste der drei Söhne sagte: "Vater, erlaube uns zu gehen, wir
haben auch nichts mehr zu sagen." Die drei Brüder gingen in ihre
Kammern.
***Am andern Tage ritten die Brüder wie sonst auch fort und sagten:
"Wir gehen wieder zum Waffenspiel." Sie ritten auch bis zu
einem Baum an der Quelle, der nahe dem Platze stand. Der Jüngste
sagte: "Meine Brüder, hier wollen wir uns besprechen. Laßt uns absteigen."
Die drei Brüder stiegen ab und setzten sich im Schatten
des Baumes nieder. Der Jüngste sagte: "Das erste, was jetzt zu
tun ist, betrifft diesen Sohn des Angestellten unseres Vaters. Ich
bitte euch, mir das zu überlassen, mit ihm abzurechnen. Sein Vater
hält ihn für stärker und tapferer als uns. Ich will sehen, wie es
darum steht. Das zweite ist die Verwüstung, die der Wuarssen im
Garten unseres Vaters angerichtet hat. Dieser Wuarssen kommt
stets des Nachts. Wenn also jede Nacht einer von uns im Garten
Wache hält, kann uns der Wuarssen nicht entgehen. Seid ihr hiermit
einverstanden?" Die Brüder sagten: "Wie du es sagst, wollen
wir es machen." Darauf begannen sie wie alle Tage ihr Waffenspiel.
Als es gegen Abend war, setzten die drei Brüder sich unter den
Baum und warteten auf die Rückkehr des Sohnes des Angestellten,
der, von der Jagd kommend, hier immer vorbeiritt. Der Sohn des
Angestellten kam. Der jüngste der drei Brüder ging ihm entgegen
und sagte zu ihm: "Dein Vater rühmt deine Tapferkeit und deine
Kraft. Hast du etwas getan, was dies erklärt? Dein Vater redet
Schlechtes über die Faulheit und Schwäche der drei Söhne des
Agelith. Hast du etwas getan, um dieses Gerede zu beenden?" Der
Sohn des Angestellten sagte höhnisch: "Wer bist du? Was hast du
bis jetzt getan? Was ist von dem närrischen Spiel zu erwarten, das
ihr jeden Morgen feiert? Was bist du? Du bist nichts als ein Name.
Was bin ich? Ich bin Arbeit. Sieh meine Jagdbeute! Jede tote
Gazelle sagt soviel Gutes über mich, wie die flachen Säbelhiebe
eures Spieles Schlechtes über euch. Hää! Hat mein Vater da nicht
recht?" Der jüngste der drei Brüder sagte: "Du spielst mit mir?"
Der Sohn des Angestellten sagte: "Ja, ich spiele mit dir wie mit
einer Gazelle." Der Jüngste sagte: "So komm, steig vom Maulesel!
Leg die Beute weg und zieh auch deinen Säbel. Ich will dir
heute den Ruhm, den du statt unser unrechtmäßig erworben hast,
abnehmen; denn er ist mein Erbteil, und ich werde ihn mehren. Du
aber sollst wieder zu dem Nichts werden, aus dem du geboren
wurdest."
Der Sohn des Angestellten sagte: "Ich will mich nicht mit dir
schlagen. Ich könnte dich töten!" Der Jüngste sagte: "Ich will es
aber. Wenn du nicht absteigen willst, so wirst du es müssen." Der
Sohn des Angestellten sagte: "Du bist ein Narr. Geh zur Seite und
laß mich nach Hause reiten." Der Sohn des Angestellten wollte
an dem Jüngsten vorbeireiten. Der Jüngste zog aber seinen Säbel
und schlug dem Maulesel mit einem Schlage den Kopf ab. Der Sohn
des Angestellten erschrak. Er sprang von dem gefallenen Tier auf
und sagte: "Sohn des Agelith! Ich bitte, laß nun die Scherze. Laß
mich nach Hause gehen." Der Jüngste sagte: "Zieh deinen Säbel,
wie ich es getan habe und wirf die Tierleichen zur Seite." Der Sohn
des Angestellten sagte: "Ich bitte dich! Laß mich. Ich will nicht
mit dem Sohn des Herrn meines Vaters kämpfen." Der Jüngste
sagte: "Ich sage dir nun zum dritten Male: "Zieh deinen Säbel und
kämpfe. Wenn du es nun nicht tust, so stecke ich auch meine
Waffe ein. Ich werde dann aber einen Knüppel nehmen und dich
schlagen, wie man einen Hund verprügelt. Du bist ja im Umgang
mit Tieren so geübt, daß dir dies vielleicht lieber ist."
Der Sohn des Angestellten legte seine Gazellen zur Seite. Er zog
den Säbel. Der Jüngste sagte: "Schlag du zuerst. Schlag scharf!
Ich werde dann flach schlagen, um dich nicht deinem Vater zu
rauben." Der Sohn des Angestellten schlug mit aller Kraft. Der
jüngste Sohn des Agelith fing mit der Säbeispitze den Schlag auf
und sagte: "Nun steh!" Der Jüngste schlug. Er schlug flach. Sein
Schlag warf den Sohn des Angestellten um. Der Sohn des Angestellten
überschlug sich dreimal. Der Sohn des Angestellten schrie
und fiel zwischen die Leiche des Maulesel und die Leichen der
Gazellen. Dann aber sprang er auf und lief, so schnell er konnte,
nach Hause.
Der Sohn des Angestellten lief zu seinem Vater und sagte: "Mein
Vater, die drei Söhne des Agelith sind heute abend mit Knüppeln
über mich hergefallen. Sie haben meinen Maulesel getötet. Sie
haben mir die erbeuteten Gazellen weggenommen und haben mich
geschlagen." Der Vater sagte: "Mein Sohn, beruhige dich. Du
weißt, die drei Söhne des Agelith sind faule Burschen, mit denen
nichts zu machen ist. Ich werde aber schon dafür sorgen, daß ihr
Vater sie eines Tages verjagt und dich an ihrer Stelle dafür zu
seinem Nachfolger einsetzt." Als der Angestellte das sagte, kam
gerade der jüngste der drei Brüder am Hause vorbei. Er hörte die
letzten Worte. Er warf die vier Gazellen in das Haus und sagte:
"Hier, Angestellter meines Vaters, sind die Lumpen, die dein fliehender
Sohn verloren hat. Gib ihm nur viel zu essen, daß er stark genug
wird, um der Nachfolger meines Vaters zu werden, nachdem der
Agelith seine Söhne verjagt hat." Der Angestellte und sein Sohn
erschraken.
Als es Nacht geworden war, machte sich der älteste der drei
Brüder auf den Weg. Er ging in den Garten, um auf den Wuarssen
zu warten und mit ihm zu kämpfen. Als es Mitternacht war, überfiel
den Burschen aber die Müdigkeit. Er schlief ein. Er schlief
fest. Der Wuarssen kam. Der Wuarssen pflückte sich eine Menge
Früchte, riß Wurzeln aus dem Boden, zertrat die Büsche. Dann
kehrte er in seinen Wald zurück. Als es Morgen war, erwachte der
Älteste. Er sah um sich und bemerkte, was der Wuarssen angerichtet
hatte, während er schlief. Da wurde er traurig und ging betrübt
nach Hause.
Am zweiten Abend machte sich der zweite der drei Brüder auf
den Weg. Er ging in den Garten, um auf den Wuarssen zu warten
und mit ihm zu kämpfen. Er nahm sich fest vor, nicht einzuschlafen.
Als es aber um Mitternacht war, konnte er der Müdigkeit
nicht mehr widerstehen, sondern schlief ein wie sein ältester Bruder.
Er schlief, als der Wuarssen kam. Er wachte auch nicht auf, als der
Wuarssen Äste mit Früchten von den Bäumen brach und Sträucher
mit Wurzeln aus dem Boden riß. Er hörte es auch nicht, als der
Wuarssen mit seiner Beute wieder in den Wald zurückkehrte. Er
wachte erst auf, als es Morgen war. Als er dann um sich sah, gewahrte
er die Verwüstung, die der Wuarssen angerichtet hatte,
wurde traurig und ging betrübt nach Hause.
Am dritten Abend wollte der Jüngste nun in den Garten gehen,
um zu wachen. Seine Mutter fiel ihm aber in die Arme, weinte und
bat ihn: "Mein Sohn, du bist mir der Liebste von allen, du wirst
nicht einschlafen wie deine Brüder. Ich, eure Mutter, kenne euch.
Ich weiß, daß du mit dem Wuarssen kämpfen wirst. Er würde dich
töten oder schwer verwunden. Mein Sohn, ich fürchte mich statt
deiner. Mein Sohn, bleib!" Der Jüngste sagte: "Meine Mutter,
die Worte unseres Vaters brennen schlimmer als Wunden. Die
Worte unseres Vaters sind ein Gift, das einen schlimmen Tod herbeiführt,
wenn sie nicht bald ausgewischt werden." Die Mutter
weinte.
Der Jüngste nahm seinen Säbel und ging in den Garten. Im
Garten trug der Jüngste sich spitze Steine und Dornen zusammen;
daraus machte er sich ein Lager, das war so hart und kantig, daß
er nicht einschlafen konnte. Als es Mitternacht war, hörte der
Jüngste von Ferne her ein starkes Brummen kommen. Das Brummen
wuchs an zu einem Sturm. Als es ganz nahe war, wurde es zu
einem Donner. Der Wuarssen kam näher und näher. Als der
Wuarssen über die Hecke des Garten stieg, packte der Jüngste seine
Lanze (=an'schav; Plural: inschaven) und warf sie auf ihn. Der
Wuarssen brüllte. Der Jüngste zog seinen Säbel und lief zu der
Stelle, an der der Wuarssen über die Hecke gestiegen war. Der
Wuarssen war nicht mehr da. Es war da eine Lache von Blut.
Eine Blutspur lief von da aus zum Walde.
Der Jüngste kehrte am Morgen in das Haus zurück. Er begegnete
seinem Vater. Der Vater sagte: "Mein Sohn, du bist voll
Blut bespritzt. Woher kommt dies?" Der Jüngste sagte: "Ich habe
mich verwundet. Ich hatte ein kleines Unglück in den Bergen."
Der Vater sagte: "Mein Sohn, du bist sonst nicht ohne Lanze gegangen.
Wo hast du heute deine Lanze gelassen?" Der Jüngste
sagte: "Ich habe im Spiel in dem Walde meine Lanze verloren.
Mein Vater, ich bitte dich, erlaube mir und meinen Brüdern eine
Wanderung zu unternehmen, damit wir die Lanze wiederfinden
können." Der Vater erlaubte es.
Der Jüngste lief zu seinen Brüdern und sagte: "Meine Brüder,
ich habe mit der Lanze den Wuarssen getroffen. Der Wuarssen ist
geflüchtet. Er hat eine lange Blutspur hinterlassen. Kommt mit
und helft mir, die Blutspur zu verfolgen und den Wuarssen zu töten.
Unsern Vater bat ich, uns einige Tage für eine Wanderung zu gewähren.
Wir wollen uns sogleich Essen bereiten lassen." Die drei
Brüder rüsteten ihre Waffen. Sie packten Essen in ihre Taschen
und machten sich auf den Weg.
Die Blutspur führte in den Wald. Die drei Brüder folgten der
Blutspur. Die Blutspur führte aus dem Walde in eine Ebene. Die
drei Brüder kamen in die Ebene. Die Blutspur führte bis an einen
Brunnen. Die drei Brüder folgten bis zu dem Brunnen. Der Jüngste
sagte: "Meine Brüder, der Wuarssen ist hier in den Brunen herabgestiegen.
Ich will dem Wuarssen hinab in den Brunnen folgen.
Wartet ihr hier am Brunnen. Wartet aber nicht länger als einen
Monat. Wenn ich in einem Monat nicht zurückgekehrt bin, so
kehrt heim und tröstet meine Mutter." Die drei Brüder nahmen
von einander Abschied.
***D er Jüngste stieg in den Brunnen hinab. Der Jüngste kam auf
den Boden des Brunnen und ging hier ein langes Stück, bis er in
der Ferne ein Licht sah. Der Jüngste ging auf dieses Licht zu. Je
weiter er kam, desto heller und schöner wurde das Licht. Er sah
endlich, daß es von einem Hause ausging. Er betrat das Haus und
sah, daß ein junges Mädchen darin saß. Dies war das Licht. Denn
sie war so schön, daß sie wie die Sonne strahlte und der Jüngste geblendet
wurde.
Als das Mädchen den Jüngsten sah, erschrak sie, stieß einen
Schrei aus, weinte und bat den Jüngsten: "Geh schnell von hier
fort. In diesem Hause wohnt ein gewaltiger Wuarssen. Der Wuarssen
wurde gestern verwundet, und nun ist er zornig und denkt an
nichts als an Vernichtung. Flieh! Flieh schnell, ehe der Wuarssen
dich bemerkt." Der Jüngste lachte und sagte: "Das Fliehen ist
nicht meine Sache. Zeige mir lieber den Weg zu dem Wuarssen."
Das schöne Mädchen sagte: "Ich bitte dich nochmals, flieh! Ich
weiß, wie stark dieser Wuarssen ist. Ich bin die Tochter eines
Agelith, und als der Wuarssen mich raubte, hat mein Vater alle
seine Leute gegen den Wuarssen kämpfen lassen. Der Wuarssen
hat sie aber alle getötet. Und so, wie es den Leuten meines Vaters
erging, so ging es auch den Brüdern und Vätern der anderen Frauen
und Mädchen, die du in den nächsten Häusern sehen würdest.
Fliehe also, ehe der Wuarssen dich bemerkt." Der Jüngste sagte:
"Ich bitte dich, zeige mir den Weg."
Das schöne Mädchen sagte: "Geh dorthin, wo du das nächste
Licht siehst." Der Jüngste ging auf das nächste Licht zu. Er kam
wieder zu einem Haus, in dem ein sehr schönes Mädchen war.
Auch diese war die Tochter eines Agelith und sagte zu ihm: "Fliehe,
fliehe, ehe der Wuarssen dich bemerkt!" Der Jüngste ließ sich
aber den Weg zeigen und setzte die Wanderung fort.
Der Jüngste kam wieder an ein Haus, von dem ein Licht ausging.
Dies Licht war aber noch viel heller und strahlender als das, welches
von der Schönheit des ersten und zweiten Mädchens ausgegangen
war. In diesem Hause lag der verwundete Wuarssen, und am Rande
seines Lagers saß das junge Mädchen, das so schön war, wie die
Sonne. Das Mädchen pflegte den Wuarssen. Das Mädchen stand
vom Lager des Wuarssen auf und ging in die Eingangskammer.
Es sah den Jüngsten kommen. Es schrie auf und weinte. Es fiel
vor dem Jüngsten auf die Knie und sagte: "Oh deine Schönheit!
(=schvaha). Oh, daß deine Schönheit nicht durch den Wuarssen
zerstört werde!" Der Jüngste hob das Mädchen auf und sagte:
"Ich will den Wuarssen töten!"
Das Mädchen sagte: "Ich sehe, daß wenn es möglich ist, den
Wuarssen zu töten, so kann es nur durch dich geschehen. Nun
merke! Wenn der Wuarssen mit dir kämpfen will, wird er dich in
eine Kammer führen, in der vier Säbel hängen, einer von Gold,
einer von Silber, einer von Ton und einer von Kork. Er wird dich
unter diesen wählen lassen. Nimm den Säbel aus Kork. Er wird
dir dann erlauben, den ersten Schlag zu führen. Das nimm nicht
an. Laß ihn den ersten Schlag führen. Schlage aber nicht öfter als
einmal, wenn der Wuarssen es auch verlangt. Hast du genug Kraft,
um den Wuarssen mit dem ersten Schlage zu spalten, so verlange
von ihm, daß er den Kopf schüttele. Du mußt siegen. Der Wuarssen
muß getötet werden. Denn der Wuarssen hat alle Töchter der Agelith
des Landes geraubt." Der Jüngste sagte: "Ich danke dir!"
Der Wuarssen rief aus seiner Kammer: "Ich höre sprechen. Wer
spricht dort?" Der Jüngste der drei Brüder rief: "Ich bin es, der
Sohn eines Agelith." Der Wuarssen rief: "Komm zu mir, daß ich
dich begrüßen kann." Der Jüngste sagte: "Ich bin schon auf dem
Wege." Der Jüngste kam zu dem Wuarssen. Der Wuarssen sagte:
"Was willst du?" Der Jüngste sagte: "Ich will mit dir kämpfen."
Der Wuarssen lachte und sagte: "Das soll geschehen. Komm, wir
wollen uns Waffen aussuchen!"
Der Wuarssen führte den jüngsten Sohn des Agelith in eine
Kammer, in der ein Säbel aus Gold, ein Säbel aus Silber, ein Säbel
aus Ton und ein Säbel aus Kork hingen. Der Wuarssen sagte:
"Wähle dir einen Säbel. Der Jüngste ergriff den Säbel aus Kork
und sagte: "Diesen Säbel will ich nehmen." Der Wuarssen sagte:
"Weshalb wählst du den schlechtesten Säbel? So nimm doch den
aus Gold oder aus Silber." Der Jüngste sagte: "Dieser Säbel aus
Kork ist mir gerade der beste." Der Wuarssen sagte: "Nun wollen
wir kämpfen! Führe du den ersten Schlag; denn du bist der Sohn
eines Agelith." Der Jüngste sagte: "Nein, führe du den ersten
Schlag, denn du hast die Töchter des Agelith geraubt."
Der Wuarssen sagte: "Es ist mir recht!" Der Wuarssen schlug
mit aller Kraft zu. Der Jüngste sprang zur Seite. Der Schlag des
Wuarssen ging in die Luft. Der Jüngste hob seinen Säbel. Er schlug.
Er traf den Wuarssen auf den Kopf. Er spaltete den Kopf. Er
spaltete den Leib des Wuarssen. Der Wuarssen stand in zwei Teile
zerschlagen vor dem Jüngsten. Der Wuarssen sagte: "Schlage
noch einmal!" Der Jüngste gedachte der Worte des schönen Mädchens.
Er sagte: "Nein, ich schlage nicht. Schüttle den Kopf!"
Der Wuarssen schüttelte den Kopf. Da fiel der Wuarssen auseinander,
die eine Hälfte zur Rechten, die andere zur Linken. Der
Wuarssen war tot.
Das schöne Mädchen, das im Vorraum gewartet hatte, jubelte
und stieß Freudenschreie aus. Die andern beiden schönen Töchter
der Agelith kamen herbei, jubelten und stießen Freudenschreie
aus. Der Jüngste sagte: "Nun wollen wir wieder nach oben gehen."
Er wandte sich an die zwei schönen Frauen der ersten Häuser und
sagte: "Ich werde erst euch hinaufbringen. Meine Brüder warten
oben auf mich. Sie werden für euch sorgen." Er sagte zu dem
schönen Mädchen, das er am Lager des Wuarssen getroffen hatte:
"Warte du, die du mir so gut geraten hast, bis ich zurückkomme
und dich hole. Packe alles zusammen, was wir aus den Häusern des
Wuarssen mit uns nehmen werden."
Der Jüngste führte die beiden schönen Frauen der ersten Häuser
zum Brunnenschacht. Er brachte sie nach oben. Er übergab sie
einen Brüdern und sagte: "Wartet, ich kehre gleich zurück und
bringe das andere." Die beiden Brüder warteten mit den beiden
jungen, schönen Frauen und ließen sich alles erzählen, was ihr
jüngster Bruder unten verrichtet hatte. Der Jüngste kehrte aber
zurück, holte das junge, schöne Mädchen, das ihn so gut beraten
hatte und führte es mit einer großen Menge von Schätzen, die sie
im Hause des Wuarssen aufgespeichert gefunden hatten, zum
Brunnenschacht. Sie stiegen hinauf und kehrten durch den Wald
in das Haus des Vaters der drei Söhne zurück.
***Als der Jüngste mit den zwei Brüdern, dem schönen Mädchen
und den zwei schönen, jungen Frauen, dazu mit all den Schätzen
zum Hause des Vaters zurückkehrte, begegnete er dem Angestellten
seines Vaters und dessen Sohn. Der Jüngste sagte im Vorüberreiten
zu ihnen: "Was wollt ihr nun meinem Vater erzählen von der Narrheit
seiner Söhne und von den flachen Säbelhieben des Waffenspieles?
Wenn es euch an Lügen mangelt, fragt mich und meine
Brüder. Denn nur, wer die wahre Handlung kennt, kann sie auch
umkehren zu einer Lüge und kann das Gold in Mist verwandeln."
Als der Vater seinen jüngsten Sohn mit den drei Frauen und all
den Schätzen kommen sah, trat er ihnen entgegen und sagte: "Mein
Sohn, ich danke dir. Meine Söhne, ich danke euch. Ich habe nicht
gut von euch gesprochen. Verzeiht mir." Der Jüngste sagte:
"Mein Vater, dies alles, auch das, was wir mit dem Wuarssen erlebt
haben, gehört der Vergangenheit an. Wolle nur in Zukunft dem
Arm deiner Söhne mehr vertrauen, als den Zungen der niedrigen
Leute."
Der Agelith veranstaltete ein Fest. Der Jüngste heiratete die
Agelithtochter, die er am Lager des Wuarssen getroffen hatte. Den
Brüdern gab er die beiden schönen Agelithtöchter der ersten Häuser
des Wuarssen zur Frau.
17. M'hamd Laschälschis Brautwerbung
Ein Agelith (Fürst) hatte sieben Töchter. Alle sieben waren
sehr schön. Die Jüngste übertraf sie aber alle an Schönheit.
Sie waren alle sieben klug. Die Siebente war aber klüger als alle
andern. Der Agelith liebte alle seine Töchter. Die Jüngste aber
liebte (lieben thamthient) er mehr als alle andern. Der Agelith
sagte: "Wer es wagt, meine Tochter heiraten zu wollen, der mag
kommen. Ich will sie dem zur Frau geben, dem es gelingt, sie zum
Sprechen zu bringen. Jedem aber, der sich um meine Tochter bemüht
und dem dies nicht gelingt, werde ich den Kopf abschlagen
lassen."
Alle Leute in diesem wie in den andern Ländern wußten von der
Schönheit und Klugheit der jüngsten Tochter des Agelith. Deshalb
kamen viele von allen Seiten und ließen sich in die Kammern der
jüngsten Tochter des Agelith führen. Da sprachen sie denn das
Klügste und Lustigste, was sie nur wußten. Es wurde nirgends im
Lande so viel Kluges und Lustiges erzählt, als in der Kammer der
jüngsten Tochter des Agelith. Aber die jüngste Tochter des Agelith
hörte all das Kluge und Lustige an und sagte gar nichts dazu. Sie
lachte nicht und sprach nicht. Wenn sie nicht die Augen und die
Hände bewegt und dazu von Zeit zu Zeit gegähnt hätte, hätte man
meinen können, es sei kein menschliches Wesen. Sie aber war ein
Mensch wie alle andern. Nur wurde ihr das Kluge und das Lustige
allmählich so fade, wie eine Speise ohne Salz.
Zuletzt glaubten alle Leute, es werde nicht mehr gelingen, das
schöne Mädchen zum Sprechen zu bringen. Auch die, die sich um
das Mädchen bewarben und die doch nachher getötet wurden, glaubten
nicht mehr an den Erfolg. Aber es war nun einmal wie eine
Krankheit über die Leute gekommen. Sie liefen ohne Hoffnung hin,
erzählten das Klügste, was sie wußten und ließen sich dann köpfen.
Die schöne Tochter des Agelith selbst wurde dabei aber immer
müder und müder. Zuletzt sah sie die Leute, die zu ihr kamen und
ihr Klügstes und Lustigstes sagten, gar nicht mehr an, sondern
schlief über all der Klugheit und Lustigkeit ein.
Im Lande lebte aber ein Mann, der hieß M'hamd Laschäischi
(Laschäischi der Lustige). M'hamd Laschäischi hörte viel von
der jüngsten Tochter des Agelith reden. Seine klügsten und besten
Freunde machten den Versuch, sie zum Sprechen zu bringen und
verloren den Kopf. Da machte sich M'hamd Laschäischi eines
Tages selbst auf den Weg, ging zum Agelith und sagte: "Ich möchte
deine jüngste Tochter heiraten." Der Agelith sagte: "Gut, M'hamd
Laschäischi, gehe in die Kammern meiner jüngsten Tochter und
versuche sie zum Sprechen zu bringen. Gelingt es dir, so sollst du
sie zur Frau haben. Gelingt es dir nicht, so lasse ich dir den Kopf
abschlagen." M'hamd Laschäischi sagte: "Ich bin damit ebenso
einverstanden wie soundsoviele andere vor mir."
M'hamd Laschäischi wurde nun in die Kammern der jüngsten,
schönsten Tochter des Agelith geführt. Das schönste Mädchen saß
auf einem Stuhl von Gold. Daneben stand ein leerer Stuhl, der war
nur von Silber. M'hamd Laschäischi ging auf das schönste Mädchen
zu und sagte: "Es gehört sich nicht, daß meine zukünftige Frau auf
einem Stuhl von Gold sitzt und mir, ihrem zukünftigen Gatten, nur
einen Stuhl von Silber anbietet." Damit ergriff er das schönste
Mädchen, hob sie von dem goldenen Stuhle auf und setzte sie auf
den silbernen Stuhl. Dann setzte er sich auf den goldenen Stuhl
und sagte: "Dieses ist nur, damit es uns nicht etwa einfällt, zu
gähnen."
Das schönste Mädchen besah den M'hamd Laschäischi. M'hamd
Laschäischi sagte nichts. Das schönste Mädchen wünschte sich in
Gedanken (tzathim = mit heimlichen Gedanken) eine Tasse Kaffee.
Die Tasse kam sogleich in ihre Hand. Das schönste Mädchen trank
den Kaffee. M'hamd Laschäischi fuhr die Tasse aber an und sagte:
"Was, du Tasse, bist du so wenig höflich (=l'mana), daß du mir,
als dem zukünftigen Manne deiner Herrin, nicht einmal einen Gruß
sagen kannst, wenn du in das Zimmer kommst?" Die Tasse erschrak
und sagte: "Sei gegrüßt, M'hamd Laschäischi." M'hamd
Laschäischi sagte: "Sei gegrüßt, meine Tasse!"
Das schöne Mädchen besah M'hamd Laschäischi. M'hamd Laschäischi
sagte nichts. Das schönste Mädchen wünschte sich in
Gedanken einen Schleier (=thimhärnd), um sich den Mund zu
wischen. Der Schleier kam in ihre Hand. Das schönste Mädchen
strich sich mit ihm über den Mund. M'hamd Laschäischi sagte zu
dem Schleier: "Ho, Schleier! Du bist ebensowenig höflich wie die
Tasse! Weißt du nicht, daß du den zukünftigen Gatten deiner
Herrin zu grüßen hast, wenn du in das Zimmer kommst?" Der
Schleier erschrak und sagte: "Sei gegrüßt, M'hamd Laschäischi!"
M'hamd Laschäischi sagte: "Sei gegrüßt, mein Schleier! Mein
Schleier erzähle mir etwas Kluges!"
Der Schleier sagte: "Ich verstehe nur (=am) die Orakelsprache
(l'charuf lechales = die versteckte Sprache) der Frauen.
Diese Sprache ist sehr teuer (weil schwer verständlich). Wirst du
mich denn verstehen und meine Fragen beantworten können?"
M'hamd Laschäischi sagte: "Versuche es doch. Wenn es etwas
Kluges ist, kann ich vielleicht antworten."
Der Schleier sagte: "Es waren vier geschickte Männer. Der eine
konnte ein Ei unter einem Huhn wegnehmen, ohne daß das Huhn
es merkte. Der zweite konnte es hören, wenn der Tau niederfiel
(Tau =n'thä oder n'thyä). Der dritte wußte stets, ob die Menschen
schlafen oder wachen. Der vierte konnte mit seinem Stock die Erde
spalten. Alle vier kamen einmal zusammen und nahmen einem
Rebhuhn ein Ei. Der eine schlich sich heran und beobachtete, ob
das Rebhuhn schlief. Der zweite horchte, ob sie niemand beobachte.
Der dritte nahm das Ei. Welcher von den vieren hat nun das
Hauptverdienst am Gewinn des Eies?"
M'hamd Laschäischi sagte naiv (=naya): "Nur der, der mit
seinem Stocke die Erde zu spalten vermag!" Da sprang das schönste
Mädchen erregt von seinem silbernen Stuhle auf und sagte: "Was,
so (= sufl'ha) obenhin behandelst du die klugen Fragen (eigentlich
Rätsel = l'charuf lechäles) der Frauen. Du wählst als Verdienten
den einzigen, der gar nichts getan hat. Bisher waren lauter kluge
Männer hier, und bisher ist in diesen Kammern nur Kluges gesprochen
worden!" M'hamd Laschäischi lachte und sagte: "Ich
spreche nicht mit dir, meine zukünftige Gattin! Ich spreche mit
dem Schleier!" Das schönste Mädchen sagte: "Wenn ich solche
schlechte Antwort höre, juckt es mich (= cetschäiya) zu schelten."
M'hamd Laschäischi sagte: "Sei nicht böse, meine zukünftige
Gattin. Alle Leute haben hier so viel Kluges gesagt, daß es nicht
möglich war, dich mit Klugheit zum Sprechen zu bringen. Ich verspreche
dir aber, in Zukunft neben dem Dummen auch Kluges zu
sagen."
Die Zeugen gingen zum Agelith. Sie sagten zum Agelith: "Deine
jüngste und schönste Tochter hat soeben mit M'hamd Laschäischi
gesprochen." Der Agelith sagte: "Meine Tochter hat gesprochen?
So soll denn M'hamd Laschäischi sie zur Frau haben. Sagt mir doch
aber, wie M'hamd Laschäischi dies erreicht hat?" Die Zeugen sagten:
"M'hamd Laschäischi hat es mit einer dummen Antwort erreicht."
Der Agelith sagte: "Eine richtig angebrachte Dummheit
ist oft ein Zeichen der höchsten Klugheit."
***M'hamd Laschäischi heiratete die jüngste Tochter des Agelith.
IVI Der Agelith veranstaltete ein großes Fest. Nachdem das Fest
vorüber war, sagte M'hamd Laschäischi zu dem Agelith: "Nun erlaube
mir, daß ich mit meiner jungen Frau heimkehre." Der
Agelith sagte: "Geh denn. Für den Rückweg muß ich dir aber noch
etwas sagen, das darfst du nicht vergessen. Auf dem Rückwege
kommst du an eine Wegkreuzung. Der eine Weg ist länger, der
andere kürzer. Nimm den langen Weg, er ist der gefahrlose. Vermeide
den kurzen. Er ist so gefährlich, daß du kaum daheim ankommen
wirst."
M'hamd Laschäischi nahm Abschied und kam an den Kreuzweg
Am Kreuzweg sagte er: "Ich werde nicht den langen nehmen. Ich
gehe auf dem kurzen Wege." M'hamd Laschäischi kam bis zur
Mitte des Weges, da trat ihm ein gewaltiger Wuarssen entgegen
dessen Keule bestand aus einem Baum, dem nur einige kleine Äste
abgeschnitten waren, so daß er in einen ordentlichen Astballen auslief.
Der Wuarssen kam auf M'hamd Laschäischi zu, brüllte und
sagte: "Sogar die Ameisen und Fliegen haben geschworen, dieser
Weg in Zukunft nicht mehr nehmen zu wollen. Und du gehst ausgerechnet
(eigentlich ausdrücklich =lametha) gerade diesen Weg."
M'hamd Laschäischi sagte: "Der Weg war mir angenehmer. Aber
wenn du willst, können wir zusammen ringen. Wir wollen sehen,
wer den andern in die Höhe zu werfen imstande ist." Der Wuarssen
legte seine Keule fort und sagte: "So komm!"
Der Wuarssen packte M'hamd Laschäischi und hob ihn in die
Luft. Dann setzte er ihn wieder auf die Erde. M'hamd Laschäischi
lachte. Er hatte neunundneunzigmal mehr Kraft als der Wuarssen.
M'hamd Laschäischi packte den Wuarssen, warf ihn in die Luft,
so daß er höher flog als der höchste Baum, fing ihn auf und legte
ihn über seine Knie, um ihn zu töten. Der Wuarssen aber schrie:
"Dreimal!" (wörtlich: schrä thietha [31 ibethen [Weg]). M'hamd
Laschäischi sagte: "Es ist mir recht." Der Wuarssen hob erst
M'hamd Laschäischi in die Luft. Er konnte ihn aber schon nicht
mehr so hoch heben wie das erstemal. M'hamd Laschäischi warf
dann aber den Wuarssen in die Luft, so daß er so hoch flog wie ein
Hügel. Er fing den Wuarssen auf und stellte ihn auf die Erde.
M'hamd Laschäischi sagte: "Nun ruhe dich ein klein wenig aus, und
dann versuche es noch einmal." Der Wuarssen stürzte sich zornig
auf M'hamd Laschäischi und packte ihn. Er war jetzt aber schon
so ermüdet, daß er M'hamd Laschäischi kaum bis an die Hüften
heben konnte. M'hamd Laschäischi sagte: "So, mein Wuarssen,
nun hole noch einmal tief Atem und paß auf, daß du beim Herunterfallen
die Erde nicht verfehlst." M'hamd Laschäischi faßte den
Wuarssen fest an. Er warf ihn in die Lüfte. Der Wuarssen flog so
hoch wie der Djurdjurra ist und war zuletzt in der Luft kaum mehr
zu sehen. M'hamd Laschäischi fing ihn aber mit seinen Armen auf
und sagte: "Bist du nun zufrieden, mein Wuarssen?"
Der Wuarssen sagte: "Ich schwöre (= gullau; infinitiv = limin)
dir, daß, wenn du mich leben lassen willst, ich dir als Sklave die besten
Dienste leisten will." M'hamd Laschäischi sagte: "Es ist recht,
komm mit mir." Dann ging M'hamd Laschäischi mit seiner jungen
Frau und dem Wuarssen bis an seinen Ort. Am Orte angekommen,
verabschiedete sich der Wuarssen und sagte: "Nimm hier einen
Büschel von meinen Haaren. Wenn du mich je vonnöten hast,
brauchst du nur die Haare zu verbrennen, und ich werde dir sogleich
zu Hilfe kommen." M'hamd Laschäischi nahm die Haare,
steckte sie ein, verabschiedete sich von dem Wuarssen und ging mit
seiner jungen Frau in den Ort.
Der Vater M'hamd Laschäischis kam seinem Sohn entgegen, begrüßte
ihn und führte ihn und dessen junge Frau in das Haus. Im
Hause entschleierte M'hamd Laschäischi seine junge Frau. Kaum
aber sah der Vater die Schönheit der Tochter des Agelith, so entbrannte
er in schwerer Eifersucht (=ttthmin) gegen seinen Sohn;
er hatte keinen andern Gedanken mehr und sehnte sich danach,
seinen Sohn zu töten, um seine Schwiegertochter selbst heiraten
zu können.
Der Vater M'hamd Laschäischis sagte auf dem Männerplatz zu
seinen Freunden: "Wer meinen Sohn tötet, den will ich reich belohnen."
Ein Mann sagte: "Überlaß das mir; ich werde das besorgen."
Der Mann kam zu M'hamd Laschäischi, lud ihn ein und
sagte: "Komm mit mir auf jenen Hügel dort. Wir wollen zusammen
Kiff (heute Hanf) rauchen." M'hamd Laschäischi war einverstanden.
M'hamd Laschäischi ging mit dem Mann auf den Hügel und
rauchte mit ihm Hanf. Nach einiger Zeit bekam M'hamd Laschäischi
einen heißen Kopf und dann schlief er ein. Da sprang
der Mann auf M'hamd Laschäischi und riß ihm die Augen aus. Der
Mann lief mit den Augen M'hamd Laschäischis zurück in den Ort
zu dem Vater M'hamd Laschäischis und sagte: "Hier sind die
Augen deines Sohnes."
M'hamd Laschäischi lag einige Tage auf dem Hügel. Dann bekam
er einen großen Hunger. Er fühlte in seine Tasche, ob er nicht
etwas Brot fände. Dabei fielen ihm die Haare des Wuarssen in
die Hände. M'hamd Laschäischi zog das Feuerzeug (= thanischa)
aus der Tasche, schlug Feuer und verbrannte die Haare des
Wuarssen.
Sogleich kam der Wuarssen. Der Wuarssen weinte. Er nahm
M'hamd Laschäischi auf den Rücken und trug ihn aus der Sonne
in den Schatten eines Baumes. Am Baume stritten sich gerade zwei
Schlangen miteinander. Die eine Schlange tötete die andere. Der
Wuarssen sah es und schalt die Schlange. Der Wuarssen sagte:
"Ihr habt wohl keine Scham, daß bei euch ein Bruder den andern
tötet?" Die Schlange sagte: "Oh, mein Bruder ist nicht tot. Das
hat gar nichts zu bedeuten. Denn wenn ich meinen Bruder getötet
habe, so kann ich ihn auch wieder lebendig machen." Dann lief die
Schlange hin, riß etwas Kraut ab und rieb es. Sie legte das Kraut
der toten Schlange auf die Wunde. Die tote Schlange erhob sich
und lief mit der andern fort in den Busch.
Der Wuarssen ging sogleich auch zu dem wiederbelebenden
Kraut (= thachschicht thelaja) und pflückte eine gute Maß voll.
Er zerdrückte das Kraut zwischen den Händen und legte es dann
auf die Augen M'hamd Laschäischis. M'hamd Laschäischi schlug
die Augen auf. M'hamd Laschäischi konnte sehen. Er sah besser
als vorher. M'hamd Laschäischi umarmte den Wuarssen.
M'hamd Laschäischi ging mit dem Wuarssen in den Ort herunter,
in dem sein Vater sein Haus hatte und in dem sein eigenes
Haus stand. M'hamd Laschäischi und der Wuarssen kamen gerade
an, als der Vater mit dem Manne, der M'hamd Laschäischi die
Augen ausgerissen hatte, in das Haus einbrechen und die junge
Frau rauben wollten. M'hamd Laschäischi tötete den Vater und
dessen Freund.
Der Wuarssen blieb im Hause M'hamd Laschäischis. Der Wuarssen
blieb M'hamd Laschäischis bester Freund.
18. Die Taubenfrauen (1. Form)
Ein Jäger jagte immer nur auf seinem eigenen Gebiet. Er erlegte
anfangs viel Wildpret. Mit der Zeit aber wurde seine
Beute immer geringer, denn er hatte alles abgejagt, und nun lebten
keine Tiere mehr in seinem Gebiet, so daß er nichts mehr erlegen
konnte. Darauf machte er sich eines Morgens auf und zog weiter, um
ein neues Jagdrevier zu erreichen. Er wanderte weit in die Wildnis
hinein und kam eines Tages an ein Haus, in dem wohnten zwei
Mädchen. Der Jäger bat um Unterkunft. Er erzählte, daß er auf
der Suche nach einem neuen Jagdgebiet sei, denn in seinem eigenen
habe er alles getötet, so daß er da nichts mehr zu suchen habe. Die
beiden Mädchen sagten: "Wir nehmen dich sehr gerne auf. Bleibe
bei uns wohnen. Sei du unser Bruder, und wir wollen deine Schwestern
sein. Wenn es dir recht ist, lehrst du uns das Jagen." Der
Jäger war damit einverstanden.
Der Jäger blieb bei den Schwestern wohnen. Er ging tagsüber
auf die Jagd und zeigte ihnen das Handwerk. Eines Tages ging die
erste Schwester allein auf die Jagd und kam erfolgreich wieder heim.
Am andern Tage ging die andere Schwester auf die Jagd und kehrte
erfolgreich wieder heim. Am dritten Tage gingen beide Schwestern
zur Jagd, und der Jäger blieb allein zu Haus.
Der Jäger saß beim Hause und sah zur Quelle, die nebenan hinter
den Büschen gelegen war. Es kamen zwei Tauben. Sie flogen zur
Quelle. Die beiden Tauben legten ihr Federkleid ab und wurden
zwei schöne Mädchen. Das eine der Mädchen war so schön, daß er
kein Auge von ihm wenden konnte. Die beiden Mädchen badeten
sich. Der Jäger sah ihnen zu. Der Jäger schlich sich durch das
Gebüsch. Er wollte das Schönere von den beiden Mädchen greifen.
Als er aber gerade neben ihr war, bemerkte sie ihn. Das schöne
Mädchen pfiff. Der Jäger wurde sogleich in einen Stein verwandelt.
Die beiden Mädchen ergriffen ihre Federkleider, legten sie an und
flogen als Tauben von dannen.
Kurze Zeit darauf kamen die beiden Schwestern mit Beute beladen
von der Jagd zurück. Sie sahen verwundert, daß das Haus
geschlossen war, sie riefen nach ihrem Bruder. Sie riefen ihn, sie
suchten ihn und stiegen zuletzt in das Fenster, ohne ihn finden zu
können. Die Schwestern sagten: "Es muß sich etwas ereignet
haben. Wir wollen uns morgen im Gebüsch verstecken und sehen,
ob wir es nicht finden können." Sie versteckten sich am andern
Tage im Gebüsch und saßen da noch nicht lange, als die beiden
Tauben wiederkamen, um sich zu baden.
Die beiden Tauben flogen herab auf die Quelle, sie legten ihr Federkleid
ab, es waren zwei sehr schöne Mädchen, von denen die eine
die andere aber noch weit an Schönheit übertraf. Die beiden Taubenmädchen
badeten. Eine der zwei Schwestern schlich sich hin und
nahm das Federkleid der schöneren fort und versteckte es. Nach
einiger Zeit stiegen die beiden Mädchen aus dem Bade. Die eine
nahm ihr Federkleid, legte es an und flog als Taube von dannen.
Die Schönere sah aber überall nach ihrem Federkleide, suchte und
suchte und sagte zuletzt weinend: "Wer hat mein Federkleid genommen
?" Die eine Schwester sagte leise zur anderen: "Du kannst
getrost hervortreten. Diese Taubenfrauen tun nur den Männern
etwas, nie aber den Frauen." Die Schwester, die das Federkleid genommen
und versteckt hatte, trat also hervor und sagte: "Dein
Federkleid habe ich dir genommen. Gib du mir erst meinen Bruder
wieder, dann können wir weiter über das Federkleid sprechen."
Das schöne Mädchen legte ihre Hand auf den Stein, in den sie den
jungen Jäger gestern verwandelt hatte, und sogleich stand er wieder
als Mann da.
Die Taubenfrau sagte: "Nun gebt mir aber mein Federkleid wieder."
Die Schwestern sahen aber, daß der Jäger immer noch wie
ein Stein dastand und die Schönheit des Mädchens anstarrte. Die
Schwestern sagten: "Du siehst, wie unser Bruder dich ansieht. Wir
bitten dich, werde seine Frau und bleibe als unsere Schwester bei
uns." Die Taubenfrau sagte: "Die Frauen in meinem Dorfe heiraten
nie. Sie wollen keine Männer unter sich nehmen. Wenn ein
Mann in unser Dorf kommt, wird er gefressen. Ich kann also euern
Wunsch nicht erfüllen." Die Schwestern sagten: "Du kannst ja
unter uns bleiben und brauchst deinen Mann nicht solcher Gefahr
auszusetzen." Zuletzt willigte die Taubenfrau in die Ehe ein.
Der Jäger heiratete die Taubenfrau. Er hielt aber sorgfältig das
Federkleid verborgen, denn von Zeit zu Zeit bekam die junge Frau
Heimweh nach dem Dorfe ihrer Schwestern. Die junge Frau
wurde Mutter und schenkte dem Jäger einen Sohn. Darauf wurde
die junge Frau ruhiger und verlangte nicht mehr so oft ihr Federkleid.
Nachdem der kleine Junge schon einige Monate alt war, bekam
der Jäger Heimweh nach seiner Mutter und sagte zu den
Schwestern: "Hütet ihr, meine Schwestern, meine Frau und meinen
kleinen Sohn wohl. Ich will auf einige Tage nach Hause wandern
und meine Mutter besuchen."
Der Jäger machte sich auf den Heimweg. Er traf seine Mutter
sehr wohl an und sagte: "Ich habe mich auch verheiratet, habe eine
sehr schöne junge Frau und einen kleinen Sohn." Die Mutter schalt
aber und sagte: "Was, du bist verheiratet und hast einen Sohn und
kommst allein, ohne Frau und Kind? Schnell, kehre zurück und
zeige sie mir, damit wir uns über dein Glück freuen können. Nachher
lasse sie aber auch einige Zeit bei mir, denn ich will die Frau
meines Sohnes näher kennen lernen."
So kehrte denn der Jäger zurück, um seine Frau und sein Kind
auch zu holen. Er nahm außerdem das Federkleid heimlich mit,
weil seine Frau ihn einmal gebeten hatte, es ja stets in ihrer Nähe
zu halten, damit sie es zur Hand habe, wenn ihr einmal etwas zustieße.
Der Jäger brachte Frau und Kind und Federkleid zu seiner
Mutter und sagte: "Halte das Federkleid ja gut verborgen und laß
es meine Frau nie wissen, wo es ist. Halte meine Frau stets im Gehöft
und laß sie nie ausgehen, denn sie ist so schön, daß es sicher
ein Unglück gibt, wenn andere Männer sie sehen." Die Mutter versprach
es, und der Jäger nahm Abschied, um wieder in den Wald zu
den Schwestern auf die Jagd zu gehen.
Am andern Tage hatte die Mutter die Befehle ihres Sohnes schon
vergessen. Als es Morgen war, sagte sie zu der jungen Frau:
"Komm, wir wollen zusammen aufs Feld zur Arbeit gehen." Sie nahm
ihre Harke und folgte der Alten durch den Ort. Alle Leute im Orte
blieben erstaunt über solche Schönheit stehen. Niemand, der einmal
die Augen zu ihr gewandt hatte, konnte sie wieder abwenden.
Ein Barbier, der auf der Straße einem Mann den Kopf rasierte,
schnitt diesem aus Versehen und ohne es beim Hinsehen auf die
schöne Frau zu merken, ein Ohr ab, und der, dem das widerfuhr,
merkte nicht einmal, daß ein Ohr abgeschnitten war, so war er
durch den Anblick dieser Schönheit gefangen genommen. Am Ende
des Ortes trafen sie den Amin. Der sah die schöne junge Frau auch,
blieb stehen, sah ihr nach, bis sie auf den Feldern verschwunden war
und sagte für sich: "Die schöne junge Frau muß ich heiraten."
Nachdem sie den Tag über gearbeitet hatten, kamen die alte und
die junge Frau abends vom Felde heim. Kaum waren sie in ihr
Haus getreten, so kam der Amin herein und sagte zu der alten Frau:
"Entweder du gibst mir die Frau deines Sohnes oder ich töte dich."
Die alte Frau sagte: "Wie kann ich dir denn die Frau meines Sohnes
geben?" Der Amin sagte: "Ich sage dir noch einmal, ich will diese
junge Frau hier heiraten; entweder du gibst sie mir oder ich werde
dich töten." Die alte Frau wußte vor Angst nicht, was sie sagen
sollte. Die alte Frau schwieg. Die junge Frau sah, daß ihre
Schwiegermutter schwieg. Da sagte sie zu der alten Frau: "Dieses
soll kein schlimmes Ende nehmen. Ich will nicht, daß der Amin
dich tötet. Deshalb rate ich dir, gib mir meine Goldsachen und mein
Federkleid. Wenn ich das habe, kannst du dem Amin sagen, er
solle mich nehmen." Die alte Frau lief in ihrer Angst hin und holte
das Federkleid und den Goldschmuck der jungen Frau. Die junge
Frau sagte zum Amin: "Warte einen Augenblick draußen. Du
wirst mich gleich herauskommen sehen." Der Amin ging hinaus.
Die junge Frau nahm ihren kleinen Sohn auf den Arm. Sie
hängte den Goldschmuck um. Sie nahm das Federkleid um und
flog gleich darauf als Taube mit dem Kinde zum Fenster hinaus.
Die Taube setzte sich auf das nächste Dach und rief von da aus:
"Du, Mutter meines Gatten, höre mich. Sage meinem Mann, wenn
er wiederkommt und nach mir fragt, —sage ihm, wenn er dann über
meinen Verlust unglücklich ist: ,Deine Frau ist im Dorfe Wuak-Wuak.
Im Dorfe Wuak-Wuak kannst du sie abholen'." Dann flog
die Taube mit dem Kinde von dannen.
Wenige Tage später kam der Jäger aus dem Jagdgebiet zurück
zu seiner Mutter. Er trat in das Haus und fragte nach seiner Frau.
Er sah seiner Mutter sogleich an, daß seine Frau fort war. Er sagte:
"Meine Mutter, habe ich dir nicht gesagt, du solltest meine Frau
nie auf die Straße gehen lassen, da sie zu schön ist? Meine Mutter,
habe ich dir nicht gesagt, du solltest das Federkleid sorgfältig verborgen
halten, damit sie es nie sähe?" Die Mutter sagte: "Mein
Sohn, habe ich es gewußt, daß du eine Taube geheiratet hast? Ich
habe nicht gewußt, daß sie eine Taube war. Ich dachte, sie sei eine
Frau wie andere. Deine Taube hat dir hinterlassen, daß, wenn du
ihren Verlust nicht verschmerzen könntest, du sie im Dorfe Wuak-Wuak
wiederfinden würdest. Nun schilt deine alte Mutter nicht
ob einer Torheit, die du begangen hast, denn ich habe noch nicht
gehört, daß ein vernünftiger Mann eine Taube aus einem Orte
namens Wuak-Wuak geheiratet hat."
Der Jäger machte sich auf und begab sich sogleich auf die Suche
nach dem Dorfe Wuak-Wuak. Der Jäger wanderte sehr weit, er
fragte überall nach dem Dorfe Wuak-Wuak, er konnte aber nirgends
jemand finden, der das Dorf Wuak-Wuak kannte.
Eines Tages wanderte er wieder des Weges dahin, da traf er zwei
Leute, die sich sehr stritten. Die beiden Leute hatten eine Mütze
und zwei Stöcke neben sich liegen. Der Jäger trat heran und sagte:
"Was ist die Ursache eures Streites? Kann ich euch behilflich sein
ihn zu schlichten?" Der eine der beiden Streitenden sagte: "Die
Sache ist folgende: Hier haben wir eine Mütze, wer diese Mütze aufsetzt,
den kann niemand sehen. Er kann ungesehen durch das Dorf
Wuak-Wuak gehen, das dort hinten liegt. Dann haben wir hier
zwei Stöcke. Wenn man diese beiden Stöcke gegeneinanderschlägt,
so entsteht aus der Erde ein Kriegshaufe, der kämpft jeden nieder,
der sich feindlich in den Weg stellt. — Wir beide streiten uns nun
um den Besitz dieser beiden Sachen. Sage uns, ob einer von uns
beide Sachen haben soll und welcher von uns beiden, oder welcher
von uns den einen und welcher den anderen Gegenstand haben soll.
Wir werden dir dankbar sein, wenn du den Streit schlichtest, daß
keiner dabei besser wegkommt als der andere." Der zweite sagte:
"So ist es, wir möchten, daß keiner von uns beiden besser aus der
Trennung hervorgeht als der andere." Der Jäger sagte: "Wenn es
euch darauf ankommt, daß keiner von euch beiden bei der Teilung
besser wegkommt als der andere, so kann euch geholfen werden.
Legt beide Sachen hier auf den Boden und geht dann bis auf die
Spitze jenes Hügels. Wenn ihr dort angelangt seid, wendet euch
um und fangt beide an zu laufen. Dann werden wir sehen, wer von
euch zuerst hier ankommt."
Die beiden Leute waren einverstanden. Sie gingen in der Richtung
auf den Hügel fort. Kaum aber waren sie fortgegangen, so
setzte der Jäger die Mütze auf, nahm die beiden Stöcke in die Hand
und ging mit großen Schritten nach der Gegend zu, in der nach Angabe
der Burschen das Dorf Wuak-Wuak liegen sollte.
Der Jäger erreichte das Dorf Wuak-Wuak. Er begegnete nur
Frauen. Da er seine Mütze auf hatte, konnte keine Frau ihn sehen.
Der Jäger ging im Dorfe Wuak-Wuak umher. Keine Frau sah ihn.
Er trat endlich in eine Hütte. In der Hütte war seine Frau mit
seinem Kinde. Der Jäger setzte sich neben ihr nieder und nahm
seine Mütze ab. Seine Frau erkannte ihn, sie erschrak. Sie sagte:
"Mein Gatte, wenn meine Schwestern dich sehen, werden sie dich
töten und essen. Denn meine Schwestern wollen keine Männer in
ihrem Dorfe haben. Fliehe daher sogleich wieder, wie du gekommen
bist."
Der Jäger blieb sitzen. Der Jäger sagte: "Ich bin weit gegangen,
um dich zu finden, ich bin so weit gegangen, wie du geflogen bist.
Nun kehre ich nicht wieder ohne dich und mein Kind zurück. Wenn
es dir recht ist, gehen wir morgen ganz früh zusammen zurück.
Wenn du es nicht willst, will ich mich lieber von deinen Schwestern
töten und essen lassen. Allein kehre ich nicht zurück." Als die
Frau das hörte, sagte sie: "So bleibe heute nacht hier. Morgen früh
wollen wir dann gemeinsam mit unserm Kinde zurückgehen."
Am andern Morgen brach der Jäger mit seiner Frau und seinem
Kinde so früh auf, daß noch keine der Bewohnerinnen Wuak-Wuaks
auf war. Eine der Frauen von Wuak-Wuak wachte auf und
schnupperte umher. Sie schrie laut: "Meine Schwestern! Meine
Schwestern! Ich rieche einen Mann! Kommt schnell, wir wollen
ihn töten und verschlingen." Alle Frauen von Wuak-Wuak sprangen
auf. Alle Frauen von Wuak-Wuak eilten aus den Häusern.
Alle Frauen eilten auf die Straße und stürzten sich hinter dem Jäger
her. Die junge Frau weinte und sagte: "Mein Gatte, jetzt werden
dich meine Schwestern töten und essen." Der Jäger sagte: "Habe
keine Sorge."
Der Jäger ging mit seiner Frau und seinem Kinde gelassen seine
Straße. Die Frauen von Wuak-Wuak waren ganz dicht hinter ihm.
Da nahm der Jäger die beiden Stöcke und schlug sie gegeneinander.
Sofort stieg aus dem Boden ein ganzer Haufe von Kriegern auf, die
wandten sich gegen die Frauen von Wuak-Wuak. Die Frauen von
Wuak-Wuak mußten mit den Männern kämpfen und konnten nicht
an ihnen vorbei zu dem Jäger und seiner Frau gelangen.
Der Jäger aber ging mit seiner Frau und seinem Kinde wieder in
den Wald zu den Schwestern und blieb da wohnen.
19. Die Taubenfrauen
(Kurze Inhaltsangabe)
IVI an spricht von einem Alten, der außerordentlich reich ist. Er
hat mehrere Häuser mit verschiedenen Sorten von Geld
(=itherinnen). Sein Sohn ist aber ein Verschwender, der mit dem
Gelde nichts anzufangen weiß, als es unnütz auszugeben. Der Vater
hat einen Freund, der ist auch sehr reich; er hat sieben Häuser voll
Reichtum und dazu noch sieben Töchter.
Eines Tages beschließen die beiden Alten eine Pilgerfahrt
(=laheidj) anzutreten. Sie geben ihren Kindern gute Ratschläge.
Sie sagen, daß sie ein Jahr lang unterwegs und fortbleiben werden.
Der Vater des Burschen läßt seine Frau und seinen Sohn in besten
Umständen zurück. Beide reisen ab.
Der Bursche verkehrt nun nur mit Verschwendern. Er verbringt
sehr schnell in dieser schlechten Gesellschaft, was sein Vater im
Laufe des Lebens gesammelt und dem Sohn zur Verwaltung zurückgelassen
hat. Zuletzt verkauft er das Haus des Vaters und lebt nun
in einer elenden Hütte (= taaschiuth).
Es ist vor allem ein Jude, der die Torheit des Burschen ausgenutzt
und sich an ihr bereichert hat. Der Jude hat sich hinter die schöne
Mutter des Burschen gemacht und lebt mit ihr zusammen. Er gibt
dem Burschen jeden Tag so viel Geld, als er braucht, bis eines Tages
seine anständigen Freunde zu ihm sagen: "Was, du verbringst erst
dein Geld, und dann leihst du von einem Juden, der mit deiner
Mutter in Abwesenheit deines Vaters zusammenlebt, noch Geld?"
Der Bursche schämt sich nun. Als die Mutter ihm am andern Tage
wieder Geld schickt, das sie für ihn vom Juden geliehen hat, weist
der Bursche es zurück.
Der Bursche geht nun auf den Markt und beginnt einen Handel
mit Bohnen. Damit verdient er jeden Tag vier bis fünf Kupferstücke
(=legirsch; Plural: gerusch; sind 10 Centesimestücke, alte
westliche Mittelmeerwährung). Für das Geld kaufte er sich Mehl
und alles, was er zur Nahrung nötig hat.
Eines Tages hört nun der Jude, daß die Pilgerfahrer auf dem
Heimweg und nicht mehr weit fort sind. Er bekommt es mit der
Angst und sendet dem Vater des Burschen einen Boten mit folgender
Mitteilung entgegen: "Dein Sohn hat all dein Besitztum verschwendet,
so daß nichts mehr vorhanden ist; der Jude heiratete
deine Frau. Bleibe du fort, denn es ist für dich nichts mehr am
Orte als die Schande." Der Bote geht ab. Er trifft den Vater und
seinen Freund unterwegs. Er sagt alles, was ihm aufgetragen ist
und fügt hinzu, daß alles das wahr ist, und daß der Vater daheim
nicht einmal etwas zu essen und zu trinken vorfinden werde.
Der Vater bespricht sich mit seinem Freund, dem Vater der sieben
Töchter, und sagt: "Kehre du allein nach Haus zurück. Sage
meinem Sohn, daß ich unterwegs gestorben sei. Ich will allein an
diesem Ort bleiben, wo mich niemand kennt. Ich will meine
Schande nicht sehen." Der Vater der sieben Töchter macht sich
auf den Heimweg.
Der Vater der sieben Töchter kommt nach Hause. An dem Tag
hat der Bursche gerade den Beruf gewechselt und ist Fischer geworden.
Der Alte kommt an ihm vorüber und erkennt den Burschen,
dieser aber den Alten nicht. Der Alte sagt zudem Burschen:
"Bursche, nimm meinen Reisesack auf und trage ihn mir nach
Hause. Da werde ich dir dann etwas dafür bezahlen." Der Bursche
trägt dem Alten das Gepäck ins Haus. Im Hause frägt der Alte:
"Bursche, kennst du mich nicht?" Der Bursche sagt: "Nein, ich
kenne dich nicht." Der Alte sagt: "Ich bin der Freund, der mit
deinem Vater zusammen auf die Pilgerfahrt auszog. Nun sage mir,
wie es kommt, daß ich dich als armen Fischer treffe? Hat dein
Vater dir nicht Geld hinterlassen?" Der Bursche sagt: "So ist es."
Der Alte fragt: "Wo ist das Geld?" Der Bursche sagt: "Meine
Mutter ist die Geliebte des Juden geworden, und ich habe all mein
Geld in schlechter Freundschaft ausgegeben, so daß heute alles das,
was vorher meinem Vater gehörte, Eigentum des Juden ist."
Der Alte sagt: "Bringe zunächst einmal deine Mutter zu mir.
Dann bleibe auch du in meinem Hause. Ich will alles wieder in
Ordnung bringen und dann deinem Vater eine Nachricht senden,
daß er nach Hause zurückkehren soll, daß ich alles, was er besaß,
in deinen Händen vorgefunden habe und daß du sein Besitztum
noch vermehrt hast." So siedeln die Mutter des Burschen und der
Bursche in das Haus des Alten über.
Der Alte stellt nun eine goldene Ziege auf einem goldenen Kasten
her. Er läßt diese durch die Straßen tragen und ausrufen, wer sie
kaufen wolle. Im ganzen Orte sind aber nur zwei Männer, die wohlhabend
genug sind, ein so wertvolles Stück zu kaufen, nämlich der
Vater der sieben Töchter und der Jude. Der junge Mann zieht mit
der goldenen Ziege durch die Straßen. Der Jude kommt. Er sieht
das Stück und bietet lautschreiend 1000 Goldstücke. Der Vater der
sieben Töchter kommt des Wegs; hört das und bietet laut 2000 Goldstücke.
Der Jude bietet höher. Der Alte treibt ihn herauf, so daß
der Jude zuletzt eine ganz ungeheure Summe bietet, eine Summe,
die seinen Besitz weit übersteigt. Er bekommt die goldene Ziege
auf dem goldenen Kasten.
Der Jude soll nun bis zum andern Tage zahlen; nur dann bekommt
er die Ziege. Kann er nicht zahlen, so bekommt er die
goldne Ziege nicht und wird außerdem um den Betrag, den er geboten
hat, gepfändet. Der Jude verkauft nun umgehend alles, was
er hat. Der Alte kauft es auf. Der Jude will nun noch bei andern
Leuten leihen. Niemand leiht ihm etwas. Am andern Morgen kann
er nicht zahlen. Er wird zum Richter gebracht. Der entscheidet
im Sinne des alten Gesetzes. Der Jude muß alles, was er hat, herausgeben
und bekommt auch die Ziege nicht, da er sie nicht zahlen
kann. Der Jude ist nun ganz arm.
Der Jude will nun nicht aus dem Hause des Pilgerfahrers. Der
Agelith wird gerufen. Der Agelith hört alles, hört auch die Schande
der Mutter. Der Agelith läßt den Juden töten, und der Bursche tötet
seine schändliche Mutter.
Der vom Vater der sieben Töchter durch Botschaft herbeigerufene
Vater des Burschen kommt inzwischen an. Der Vater des
Burschen sieht, daß sein Haus und all sein Besitz, sogar noch
mehr, vorhanden ist. Der Vater ist entzückt und fragt nach
seinem Sohn. Der Sohn ist aber, von Scham getrieben, in den
Wald gelaufen.
***Im Walde trifft der Bursche einen Wuarssen. Der Bursche erschrickt.
Der Wuarssen hat aber den Burschen sogleich sehr gern.
Er fragt ihn, wo er herkommt und wo er hin wolle. Der Wuarssen
mag den Burschen gut leiden und sagt ihm, daß, wenn er, der
Bursche, ihn, den Wuarssen, von Zeit zu Zeit besuchen wolle, so
würde er sich darüber sehr freuen. Er werde ihm außerdem jedesmal
etwas schenken.
Der Wuarssen sagt zum Burschen: "Komm!" Er führt ihn an
einen Berg, den er öffnet und zeigt, was darin ist. Da ist nun alles
Silber, Gold und Edelstein. Der Wuarssen sagt: "Nimm, was dir
Freude macht." Der Bursche wählt zwei Diamanten (=liakuth).
Zum Abschied sagt der Wuarssen zum Burschen: "Schwöre mir,
daß du in einem Jahr mit bloßen Füßen hierher zurückkehrst."
Der Bursche sagt: "Ich schwöre dir, daß ich im nächsten Jahr mit
nackten Füßen hierher zurückkommen will, auch wenn es einen
Wuarssen hier gibt, der mich verschlingen will."
Der Bursche kommt heim. Er findet den Vater wieder im Besitze
alles dessen, was er früher hatte und was er durch die Güte des
Freundes, des Vaters der sieben Töchter, zurückgewonnen. Ja, statt
der sieben Goldhaufen von früher sind es jetzt zehn Goldhaufen.
Der Bursche zeigt dem Vater alles und zuletzt die Diamanten. Er
sagt: "Das ist das Wertvollste. Die Diamanten haben nämlich
die Eigenschaft, daß sie alles Wasser, das in einem Gefäß ist,
in das man sie wirft, in Gold verwandeln." Der Vater ist tief beglückt.
Der Vater heiratet nun eine junge hübsche Frau. Er redet dem
Sohn zu, auch zu heiraten. Der Sohn will dieses aber nicht. Er will
nicht heiraten, ehe er nicht den versprochenen Besuch beim Wuarssen
abgestattet hat. Nach einem Jahr sagt er dann auch zu seinem
Vater: "Nun behalte du alles hier; ich werde eine kleine Wanderung
antreten." Der Vater sagt: "Du hast ja aber keine Schuhe an."
Der Bursche sagt: "Ich gehe lieber so." Der Bursche sagt sonst
nichts und geht.
Der Bursche wandert nun durch den Wald. Der Wuarssen sieht
ihn, verwandelt sich in eine alte Frau, tritt ihm unterwegs entgegen
und bietet dem Burschen Schuhe an. Der Bursche hat zwar Fußschmerzen,
er schlägt die Schuhe aber mannhaft ab. Er sagt: "Ich
habe geschworen, mit nackten Füßen zu kommen." Die alte Frau
geht. Der Wuarssen nimmt eine andere Gestalt an und tritt dem
Burschen an einer andern Stelle wieder unkenntlich und mit dem
Schuhangebot entgegen. Er wiederholt dies ein drittes Mal. Der
Bursche bleibt standhaft.
Der Bursche kommt wie beschworen mit nackten Füßen am Berg
an. Am Berg lauert der siebenköpfige Drachen (=leph'ha) auf
ihn und schleudert ihm Feuer entgegen. Der Bursche bleibt unerschrocken
und sagt: "Du willst mich erschrecken." Leph'ha
kommt ganz nahe an den Burschen; da tritt aber auch der Wuarssen,
für den Burschen unsichtbar, heran und schlägt Leph'ha hinter die
sieben Köpfe, daß Leph'ha betäubt zur Seite fliegt. Der Bursche ist
aber auch in Ohnmacht gefallen.
Er erwacht und geht weiter. Nun kommt ihm die Frau des
Wuarssen, eine gutmütige Teriel, entgegen. Der Bursche sieht sie
und sagt: "Ich erkenne deine Absicht. Du willst mich hindern, in
den Berg zu kommen. Ich werde aber doch hineingelangen." Die
Teriel fragt: "Weshalb bist du gekommen?" Der Bursche sagt:
"Des Berges wegen." Der Bursche kommt an der Stelle an, an der
er vor einem Jahr den Wuarssen verließ.
Am Berge ist es sehr kalt. Der Bursche findet aber einen Korb
voll Federn. Dahinein legt er sich und schläft nun ganz fest. Während
er schläft, kommen der Wuarssen und seine Frau, schließen
den Berg auf, setzen den Burschen hinein und machen wieder zu.
Als der Bursche erwacht, ist er im dunkeln Berg. Nur in weiter
Ferne sieht er ein wenig Licht; dahin führt ein dunkler Gang. Er
geht den Gang entlang und kommt am Ende in das Haus des
Wuarssen.
Der Bursche wird vom Wuarssen sehr herzlich aufgenommen.
Er erhält zum Schutz gegen alle schlechten Wuarssen und Teriel im
Lande ein Stück Leder mit Zeichen darauf. Er kann im Gehöft
schalten und walten wie er will. Er darf alles öffnen und schließen.
Nur ein kleines Häuschen ist da. Das zu öffnen verbietet ihm der
Wuarssen. In dem Hause ist nämlich ein Bad. Dieses Bad suchen
von Zeit zu Zeit die Tochter eines Agelith mit ihrer Dienerin auf.
Die kommen dahin in Taubenkleidern, legen sie ab, baden als Menschen
und fliegen, nachdem sie die Federkleider übergenommen
haben, als Tauben wieder von dannen.
Der Bursche öffnet, als der Wuarssen einmal abwesend ist, aber
doch das Badehäuschen und sieht die beiden bildschönen Frauen.
Die Agelithtochter nimmt schnell ihr Federkleid und fliegt fort
(Taube =tithebi[a]th). Das Kleid der Dienerin erwischt der
Bursche aber gerade noch schnell genug und behält es trotz alles
Bettelns. Der Bursche heiratet die schöne Frau und ist zunächst
sehr glücklich. Dann aber wird er unglücklich und traurig, weil er
mit seiner insgeheim verheirateten Frau heimkehren möchte. Der
Wuarssen begreift erst die Traurigkeit des Burschen nicht, kommt
dann aber hinter die Geschichte.
Der Wuarssen sagt: "Dann weiß ich, was geschehen ist. Du warst
in dem Hause, das ich vor dir verschloß. Kehre also heim. Merke
dir aber, daß, wenn du irgendeine Sache vorhast, die schwer ist, du
dich immer am besten an mich wendest." Der Bursche bedankte
sich und kehrt mit seiner jungen Frau und deren Federkleid
heim.
Der Bursche stellt seine Frau seinem Vater vor. Dann zeigt er
ihm insgeheim das Federkleid und sagt, daß dieses der jungen Frau
nie wieder zu Gesicht kommen darf. Nach einiger Zeit schenkt die
junge Frau ihrem Manne zwei Knaben; sie weint aber immer, da
sie sich in das Land der Heimat zurücksehnt.
Eines Tages ist Tanz. Die junge Frau des Burschen tanzt wunderschön.
Der Agelith sieht es und sagt: "Noch einmal! Noch einmal!
Diese junge Frau tanzt am schönsten von allen." Die junge Frau
sagt: "Du sollst nun aber erst einmal sehen, wie schön es aussieht,
wenn ich in meinem Federkleid tanze!" Das muß der Agelith
sehen. Er fragt: "Wo ist das Kleid? Wer weiß, wo das Kleid ist?"
Die junge Frau, die den Vater des Burschen geheiratet hat, weiß,
wo ihr Mann es versteckt hat. Die beiden Frauen gehen, das Kleid
zu holen. Die junge Frau des Vaters gibt das Kleid heraus. Die
junge Frau des Burschen zieht es an, nimmt ein Kind auf den
linken, eines auf den rechten Arm und sagt, Abschied nehmend:
"Wenn mein Mann um mich weint, sagt ihm, ich sei im Lande
Wakwak!" Dann fliegt sie als Taube mit den beiden Kindern fort.
Der Bursche kommt heim, hört die Geschichte, weint und macht
sich auf die Suche nach dem Lande Wakwak. Er sucht den
Wuarssen und erzählt dem, was sich ereignet hat. Der Bursche
hört nun vom Wuarssen: "Es gibt einen See, der liegt dort. An den
See kommen die beiden Tauben alle Tage ans Ufer, legen ihre Federkleider
ab und baden als schöne Frauen. Dort gehe hin und nimm
die Federkleider."
Der Bursche kam zum See. Er wartet. Die beiden Frauen kommen.
Sie legen ihre Federkleider ab und baden als schöne Frauen.
Der Bursche schleicht sich heran und stiehlt die beiden Federkleider.
Die beiden Frauen betteln und betteln um ihre Kleider.
Der Bursche gibt sie nicht. Sie sind zuletzt bereit, seine Frauen zu
werden. So kehrt er dann also mit der ersten Frau, die die Dienerin
war, und mit der zweiten, noch schöneren, die die Tochter eines
Agelith im Lande Wakwak ist, heim.
Als er abends in den Ort seiner Eltern kommt, zaubert die Tochter
des Agelith in Wakwak ein Haus hervor, das von Gold und Edelsteinen
glänzt und strahlt und am nächsten Morgen das Erstaunen
aller Leute des Ortes ist. Der Agelith des Ortes erschrickt über den
Anblick des Bauwerkes so, daß er flieht.
Der Bursche mit den zwei schönen Frauen wohnt nun als Agelith
in dem herrlichen Hause.
NB.: Den Schlußteil erachte ich für falsch. Die Reise in das Land
Wakwak, die mir die Leute von Ait bou Mahdi so schön erzählt
haben (vorige Geschichte), fehlt hier. Der zweite Taubenfang
am
See scheint eine junge Version. — Dagegen ist es ausgeschlossen,
daß diese zweite Seefangversion etwa ganz neu interpretiert ist,
denn ich habe sie 1914 schon in Beni Yenni gehört.
Ferner ist beachtenswert, daß der Wuarssen und seine Frau hier
eine so sehr gutartige Rolle spielen. Es sind augenscheinlich unter
dem Begriff Wuarssen verschiedene Typen zusammengeflossen.
Bei den nomadischen Berbern ist dies noch ausgesprochener. Bei
diesen sind unter der Bezeichnung Ghul oder Chul (arabischen Ursprungs)
alle Wuarssen, Teriel, Tarochenin (oder Trochannin) usw. zu
einem Begriff verschmolzen.
20. Die Grabwache
Man spricht von einem Agelith, der hatte drei Söhne, die waren'
IVI jung, schön, stark und einander so ähnlich, daß sogar der
Vater sie zuweilen miteinander verwechselte. Eines Tages wurde
der Agelith sehr krank. Er lag im Sterben. Der Jüngste sagte zu
seinen Brüdern: "Kommt, wir wollen den Vater sehen!" Die Söhne
gingen zu ihrem Vater.
Die Söhne sagten: "Vater, was wünschest du? Sollen wir dir von
den wiederbelebenden Äpfeln (=tzefa-zrun) bringen, die den Greis
wieder zum Kind machen? Oder sollen wir dir von dem Wasser aus
der Quelle zwischen den zusammenklappenden Felsen holen ?"Der
Agelith sagte: "Ich danke euch, meine Söhne. Ich kann nicht
weiterleben. Ich werde sterben. Um zweierlei will ich euch nun noch
bitten. Ich bitte euch, mein Grab noch drei Tage lang, nachdem ich
bestattet bin, zu bewachen. Dann aber lebt und sorgt für einander.
Nehmt diese drei Stöcke und pflanzt sie in den Garten. Sie werden
grün werden. So oft nun einer von euch abwesend ist, schaut nach,
ob sein Stock grünt, oder ob er zu welken beginnt. Daraus werdet
ihr dann ersehen, ob er sich wohl befindet, oder ob es ihm schlecht
geht." Bald nachdem der alte Agelith das gesagt hatte, starb er.
Er wurde auf dem Tachluit (Versammlungsplatz der ganz Alten,
auf dem diese zu sehr ernsten Beratungen zusammenkommen) begraben.
Am ersten Abend nahm der älteste Sohn des Agelith seinen Säbel
und eine Matte (=tajäthilt), ging auf den Tachluit und legte sich
zur Nachtwache am Grabe nieder. Um Mitternacht kam eine Teriel
an das Grab heran. Der Älteste sprang auf und versetzte der Teriel
einen Säbelschlag, so daß ihr Kopf zu Boden rollte. Der Älteste
schnitt dem Kopf die Ohren ab, er steckte sie in seine Tasche. Dann
vergrub er die Leiche der Teriel nahe dem Grabe seines Vaters. Am
Morgen kehrte er in den Ort zu seinen Brüdern und den Frauen
zurück. Er sagte aber nichts von dem, was er in der Nacht erlebt
hatte.
Am Abend des zweiten Tages nahm der Zweite seine Matte und
seinen Säbel, ging auf den Tachluit und legte sich zur Wache am
Grabe des Vaters nieder. Als es Mitternacht war, schlich sich ein
Löwe (= issem) heran. Der Zweite sprang auf, ergriff seinen Säbel
und versetzte dem Löwen einen Schlag, so daß er gleich tot war.
Der Zweite schnitt darauf dem Löwen die Ohren ab und steckte sie
in seine Tasche. Den toten Löwen verscharrte er aber nahe dem
Grabe seines Vaters. Als es Morgen war, nahm er seine Matte und
seinen Säbel und kehrte in das Haus zu seinen Brüdern und deren
Frauen zurück. Er sagte aber nichts von dem, was er nachts erlebt
hatte.
Am Abend des dritten Tages nahm der Jüngste seine Matte und
seinen Säbel und ging auf den Tachluit, um die Wache am Grabe
seines Vaters zu halten. Er legte sich nieder und lag mehrere Stunden
unbekümmert da. Um Mitternacht aber kam Lep'ha (oder
Leph'ha), der Drache mit den sieben Köpfen. Lep'ha kam auf das Grab
des Agelith zu. Der Jüngste sprang auf, er ergriff seinen Säbel. Er
schlug Lep'ha einen Kopf ab. Lep'ha sagte: "Wer kratzt mich da
am Halse ?" Dann stieß Lep'ha seinen Atem auf den Jüngsten.
Der Atem Lep'has war wie Feuer. Er verbrannte die Kleider des
Jüngsten. Der Jüngste aber schlug mit dem Säbel wieder zu und
Lep'ha den zweiten Kopf ab. Lep'ha und der Jüngste kämpften
miteinander. Die Erde zitterte, die Steine auf dem Tachluit stürzten
um. Es war wie heller Tag, so leuchtete der Atem Lep'has. In der
Luft war es wie ein starker Sturm, durch den Blitze (=theakath)
fallen. Der Jüngste schlug Lep'ha sechs Köpfe ab. Lep'ha richtete
sich dann mit aller Kraft auf. Lep'ha blies den flammenden Atem
auf den Jüngsten und sagte: "Hier ist mein letzter Kopf!" Lep'ha
wollte den Jüngsten verbrennen. Der Jüngste aber ergriff seinen
Säbel und rief: "Und dies ist mein letzter Schlag." Der Jüngste
traf gut. Der siebente und letzte Kopf Lep'has fiel auf die Erde. Das
Blut floß aus dem Leibe Lep'has. Es floß wie ein Strom im Gebirge.
Das Blut bedeckte den ganzen Tachluit und verlöschte die Lampe,
die der Jüngste sich entzündet hatte. Der Jüngste wußte nun nicht,
wie er den Leib Lep'has begraben sollte. Er fürchtete, daß, wenn
er dies nicht tue, seine Brüder am andern Tage die Geschichte erfahren
würden. Der Jüngste blickte zwischen den Steinen des
Tachluit hindurch hinaus und sah in der Entfernung ein Licht.
***Der Jüngste sprang zwischen den Steinen (des umfassenden
[Chromlechs]) des Tachluit hindurch hinaus in das Freie. Er lief
auf das Licht zu, das er in der Entfernung sah. Er kam am Wege
zu zwei Männern, von denen wickelte der eine einen schwarzen
Wollfaden auf ein Knäuel (=thäkkurin), der andere wickelte einen
weißen Faden von einem Knäuel. Der Jüngste fragte die beiden
Männer: "Was macht ihr beide hier?" Die Männer sagten: "Wir
sind hier, um den Tag zu erarbeiten und ihn wieder in der Nacht
zur Ruhe zu legen." Der Mann mit dem schwarzen Faden sagte:
"Ich wickle die Dunkelheit auf. Es will bald Tag werden." Der
Mann mit dem weißen Faden sagte: "Ich wickle die Helligkeit ab.
Die Nacht ist bald zu Ende." Der Jüngste sagte: "Laßt den Tag
mit eurer Arbeit so lange in Ruhe, bis ich das Licht von dort herbeigeholt
habe." Die Männer sagten: "Das dürfen wir nicht. Es gibt
Kranke, die mit Ungeduld den Tag erwarten. Es gibt Tote, die
herumstreifen und die allzulange Nacht zu Unheil nützen." Der
Jüngste aber zog den Säbel und sagte: "Entweder ihr tut, wie ich
euch sage, oder ich schlage euch mit dem Säbel die Köpfe ab." Die
beiden Männer erschraken und sagten: "Es ist gut; wir wollen dir
versprechen, die Arbeit liegen zu lassen; du aber versprich uns,
deine Unternehmung so schnell zu erledigen, als es dir möglich
ist." Der Jüngste sagte: "Ich verspreche euch, meine Unternehmung
so schnell zu Ende zu führen, als es mir möglich ist."
Der Jüngste lief dann in großer Schnelligkeit auf das Licht zu. Er
kam an einen Wald, im Walde an ein Haus, von dem ging das Licht
aus. Das Haus gehörte 99 Wuarssen. Als der Jüngste in das Haus
kam, sah er, daß die 99 Wuarssen ausgegangen waren, daß aber
70 Leichen von Menschen am Boden lagen. Der Jüngste sah sich
noch um, da kamen die 99 Wuarssen heulend nach Hause. Der
Jüngste versteckte sich zwischen den Leichen. Die 99 Wuarssen
witterten in der Luft umher und riefen: "Es muß ein Lebender
zwischen den Leichen liegen." Die 99 Wuarssen nahmen Nadeln
(=tissinith) und stachen in die Leichen. Sie sagten: "Der Lebende
wird schreien." Sie stachen auch in den Jüngsten. Der Jüngste
aber regte sich nicht. Die 99 Wuarssen sagten: "Wir müssen uns
geirrt haben. Vielleicht ist an einer der Leichen noch der Geruch
des Lebendigen."
Die 99 Wuarssen begannen nun ihr Abendessen zu bereiten. Die
99 Wuarssen hatten 99 Rebhühner und 99 Eßlöffel. Die 99 Wuarssen
setzten das Wasser über das Feuer. Der Jüngste kam aber heimlich
heran und stürzte den Wasserkessel, so daß das Feuer erlosch
und nun alles dunkel war.*
Die 99 Wuarssen setzten sich nun im Dunkeln hin. Sie wollten
essen. Der Jüngste setzte sich zwischen sie. Sie konnten ihn nicht
sehen. Der erste Wuarssen sagte: "Ergreift eure Löffel!" Die
Wuarssen und auch-der Jüngste ergriffen je einen Löffel. Der erste
Wuarssen sagte: "Ergreift jeder sein Rebhuhn." Die Wuarssen und
auch der Jüngste ergriffen je ein Rebhuhn. Ein Wuarssen aber rief:
"Ich habe keinen Löffel!" Ein anderer Wuarssen rief: "Ich habe
kein Rebhuhn." Der erste Wuarssen sagte: "So legt alle eure
Löffel und Rebhühner wieder hin, damit ich sie zähle." Alle
Wuarssen und auch der Jüngste legten ihre Löffel und Rebhühner
hin. Der erste Wuarssen zählte sie; es waren 99 Rebhühner und
99 Eßlöffel. Der erste Wuarssen sagte: "Es sind 99 Eßlöffel und
99 Rebhühner. Also nehme jeder das seine!" Die Wuarssen und
der Jüngste nahmen jeder einen Löffel und ein Rebhuhn. Es rief
aber wieder ein Wuarssen: "Ich habe keinen Löffel," und ein
anderer: "Ich habe kein Rebhuhn." Der erste Wuarssen ließ sie
wieder Löffel und Rebhühner zusammenlegen. Er zählte wieder.
Er fand 99 Löffel und 99 Rebhühner. Er hieß sie wieder jeden das
Seine aufnehmen. Sie taten es. Wieder rief ein Wuarssen: "Ich
habe keinen Löffel!" und ein anderer: "Und ich habe kein Rebhuhn."
Alle 99 Wuarssen schrien nun: "Es muß ein Fremder zwischen
uns sein." Die 99 Wuarssen sagten: "Wenn ein Fremder unter uns
ist, so soll er es sagen. Wir schwören ihm, daß wir ihm nichts tun
werden, sondern daß wir ihn wie unseren Bruder unter uns aufnehmen
wollen." Der Jüngste stand nun auf und sagte: "Ich bin
unter euch." Die 99 Wuarssen luden ihn darauf ein, bei ihnen
zu bleiben und ihr Mahl zu teilen. So aß der Jüngste mit den
99 Wuarssen.
Nach dem Essen erhoben sich die 99 Wuarssen und legten ihre
Gürtel um, um zu gehen. Der Jüngste fragte die 99 Wuarssen:
"Wohin geht ihr?" Die 99 Wuarssen sagten: "Wir kämpfen jeden
Tag gegen einen Agelith, der in einem hohen Hause (=thräja;
Plural: thräjes) wohnt. Der Agelith hat sieben Hunde, die schützen
sein Haus. Hätte er nicht diese Hunde, so würden wir das Haus
längst zerstört und seine Tochter, die sehr schön ist, genommen
haben." Der Jüngste sagte: "Darf ich euch begleiten?" Die
99 Wuarssen sagten: "Gewiß kannst du uns begleiten." Der
Jüngste sagte: "So nehmt mir ein Themuetz (ein weibliches, fast
erwachsenes Kalb, das noch nicht gedeckt ist) mit." Die 99 Wuarssen
machten sich mit dem Jüngsten und dem Themuetz auf den
Weg. Sie kamen zu der Burg (=thraja) des Agelith.
Der Jüngste schlachtete das Themuetz; er schnitt es in sieben
Teile. Er sagte zu den Wuarssen: "Nun versteckt euch." Die
99 Wuarssen versteckten sich. Der Jüngste ging mit den sieben
Teilen des Themuetz hin und warf jedem der sieben Hunde einen
Teil des Themuetz vor. Die sieben Hunde stürzten sich darauf. Die
sieben Hunde fraßen. Der Jüngste rief die Wuarssen herbei und
sagte zu ihnen: "Nun stellt euch einer auf den andern, so daß ihr
eine Leiter bildet, die bis zu dem Fenster des Tarorfiz der Burg
(=thraja) reicht. Dann werde ich hinaufsteigen und euch einen
nach dem andern in das Fenster helfen."
Die Wuarssen taten es so. Sie stellten sich einer auf den andern
und bildeten so eine Kette, die bis zum Fenster des obersten Geschosses
reichte. Der Jüngste stieg hinauf. Er stieg in das Fenster.
Er rief herunter: "Nun kommt einer nach dem andern herein."
Der erste Wuarssen kam in die Kammer. Kaum war er darin, so
schlug der Jüngste ihm den Kopf ab. Der zweite kam. Der Jüngste
schlug ihm den Kopf ab. Alle 99 Wuarssen kamen zum Fenster
hinein in die Kammer. Der Jüngste schlug allen 99 Wuarssen den
Kopf ab. Die ganze Kammer war mit Blut gefüllt.
Der Jüngste ging aus der Kammer in die andern Räume des
Schlosses. Er kam in eine Kammer, in der lag die schöne Tochter
des Agelith auf ihrem Lager. Eine Lep'ha mit sieben Köpfen lag
aber neben dem Mädchen zu seinem Schutze. Der Jüngste trat
herein. Der siebenköpfige Drache wollte sich auf den Jüngsten
stürzen und ihn töten. Der Jüngste ergriff sein Schwert und schlug
alle sieben Köpfe der Lep'ha ab.
Der Jüngste trat an das Lager der Tochter des Agelith. Am Kopfende
des Lagers stand eine Lampe aus Gold. Am Fußende des
Lagers stand eine Lampe aus Silber. Der Jüngste stellte die golden
Lampe vom Kopfende an das Fußende und die silberne Lampe von
Fußende an das Kopfende. Der Jüngste sah, daß am Kopfende und
am Fußende je ein Kissen (= thathumta) lag. Der Jüngste wechselte
sie um. Der Jüngste sah, daß an dem Finger der Tochter des
Agelith ein Ring mit eingeschnittenen Zeichen war. Der Jüngste
zog den Ring ab und steckte ihn selbst auf. Er nahm den Ring mit
den Zeichen seiner Duar (= Sippe) von seinem Finger und steckte
ihn an den Finger der Tochter des Agelith. Der Jüngste schnitt der
Tochter des Agelith dann eine Locke (=theg[ge]toscht, die alte
Form; heute sagt man meist: temsurth) ab. Die Locke steckte der
Jüngste in seine Tasche. Der Jüngste ging aus der Burg. Er kehrte
zurück zu dem Hause der Wuarssen. Er nahm dort das Feuerzeug
(= lekao) und machte sich dann auf den Heimweg zu dem Tachluit,
auf dem sein Vater begraben lag. Unterwegs kam er an den beiden
Männern vorbei, die den Faden der Nacht und den Faden des Tages
auf ihren Knäueln hatten. Die beiden Männer waren zornig und
sagten: "Du hast sehr lange gebraucht. Wir haben viel Zeit für
unsere Arbeit verloren." Der Jüngste sagte: "Ich habe euch versprochen,
meine Unternehmung so schnell zu erledigen, wie ich
könnte. Ich habe es getan. Wenn ihr einen Mann findet, der in
einer Nacht so viel zu tun hat, wie ich zu tun hatte, so ist euer Zorn
gerecht."
Der Jüngste ging dann auf den Tachluit. Er entzündete ein
Feuer. Er verscharrte die Leiche der Lep'ha nahe an dem Grabe
seines Vaters. Die sieben Köpfe der Lep'ha steckte er in seine
Tasche. Danach legte er sich hin und schlief. Als es Morgen war,
nahm er seine Matte und seinen Säbel und ging zurück in das Haus
seiner Brüder. Er sagte aber zu seinen Brüdern und den Frauen
im Hause nichts davon, was er in der Nacht erlebt hatte.
***Als der nächste Morgen graute, rief der Agelith der Burg eine
Magd und rief: "Bringe mir Wasser zum Waschen." Die Magd
lief aus dem Hause und wollte zum Brunnen gehen. Sie hörte es
aber vom Tarorfiz her herabrieseln und sagte: "Ah! Es hat die
Nacht also geregnet, und nun läuft das Wasser vom Dache ab.
Ich kann dort also Wasser nehmen und brauche nicht bis zum
Brunnen zu laufen." Die Magd hielt ihr Gefäß unter die Flüssigkeit,
bis es (Tongefäß = thabakith) voll war und brachte es dem
Agelith herauf.
Der Agelith wusch sich mit der Flüssigkeit, die die Magd aufgefangen
hatte und ging, als es Tag geworden war, zu dem Thimamorth
(=Versammlungsplatz der Männer und Burschen). Die
Alten begrüßten den Agelith und sagten: "Weshalb hast du dein
Gesicht und deine Hände mit Blut gefärbt?" Der Agelith betrachtete
seine Hände und sagte: "Sie sind rot, und doch habe ich
mich nur gewaschen." Die Alten sagten: "Dann hast du dein Gesicht
und deine Hände mit Blut gewaschen." Der Agelith rief die
Magd und fragte sie: "Wo hast du heute morgen das Blut genommen,
mit dem ich mich gewaschen habe?" Die Magd erschrak und
sagte: "Ich habe kein Blut genommen, sondern in meinem Gefäß
das Regenwasser aufgefangen, das vom Dach des Tarorfiz herabrieselte."
Die Alten sagten: "Es hat heute nacht aber nicht geregnet."
Der Agelith sagte: "Kommt, wir wollen das ansehen." Der Agelith
ging mit den Alten zu dem Tarorfiz. Sie sahen, daß das Blut
noch immer aus der obersten Kammer herausfloß. Sie gingen
zurück in die Burg und stiegen die Leiter hinauf. Sie öffneten die
Kammer. Sie sahen die Leichen der 99 Wuarssen und ihre 99 Köpfe
im Blute liegen. Alle Leute kamen herauf. Alle Leute stießen
Schreie der Freude aus. Alle Leute jubelten.
Von dem Jubel erwachte die Tochter des Agelith. Die Tochter
des Agelith sah um sich. Sie sah, daß das Kissen an ihrem Kopfende
und das Kissen an ihrem Fußende umgewechselt waren. Sie
sah, daß die goldene Lampe vom Kopfende am Fußende und daß
die silberne Lampe vom Fußende am Kopfende ihres Lagers stand.
Sie sah, daß die Lep'ha tot war. Sie sah, daß ihre Locke abgeschnitten
war. Sie sah, daß auf ihrem Finger ein fremder Ring mit
fremden Zeichen statt des ihrigen steckte. Sie hörte die Leute wieder
in der Burg schreien: "Die 99 Wuarssen sind tot! Die 99 Wuarssen
sind tot." Die Tochter des Agelith schrie vor Freude! Sie sagte:
"Diesen Mann, der das tat und keinen andern will ich heiraten."
Der Agelith rief alle Leute zusammen und sagte: "In dieser Nacht
hat ein Mann die 99 Wuarssen getötet, die jeden Morgen mit uns
Krieg führten. Der, der das getan hat, der soll mein Nachfolger
werden. Ich will ihm meine Tochter zur Frau geben und mit ihm
alles teilen, was ich besitze. Wer sich aber meldet und nachher
überwiesen wird, daß er gelogen hat, den werde ich töten lassen."
Bald darauf kam ein Mann und sagte: "Ich habe die 99 Wuarssen
getötet." Der Agelith ließ ihn kommen und fragte: "Hast du einen
Ring?" Der Mann sagte: "Was soll ich für einen Ring haben?"
Da ließ der Agelith ihn töten. Es kam ein Mann, der zeigte einen
goldenen Ring und sagte: "Ich habe die 99 Wuarssen getötet." Der
Agelith besah den Ring und sagte: "Dies sind nicht die Zeichen
meiner Tochter." Der Agelith ließ ihn töten. Es kam ein dritter
Mann und sagte: "Ich habe die 99 Wuarssen getötet, und hier ist
der goldene Ring mit den Zeichen deiner Tochter." Der Agelith
sagte: "Wo hast du die Locke?" Der Mann sagte: "Was für eine
Locke ?" Der Agelith ließ ihn töten. Es kamen 99 Leute und logen:
"Ich habe die 99 Wuarssen getötet." Der Agelith ließ jeden einzeln,
er ließ alle 99 Lügner töten. Danach kamen keine Lügner mehr.
Es kam aber ein Mann zu dem Agelith, der sagte: "Laß mich im
Dorf ein Haus bauen, in welchem ich Tee (früher aus zwei Kräutern
bereitet) an alle Durchziehenden verschenke und laß alle Durchziehenden
bei mir übernachten. Auf diese Weise werde ich es innerhalb
eines Jahres erfahren, wer die 99 Wuarssen getötet hat." Der
Agelith sagte: "Es ist mir recht. Aber wenn du es nicht innerhalb
eines Jahres erfährst, lasse ich dich töten, wie die 99 andern." Der
Mann baute sein Haus, verschenkte seinen Tee und hatte lange
Monate hindurch viele durchziehende Gäste. Aber er konnte die
Leute befragen, soviel er wollte. Er erfuhr nicht, wer der Mann gewesen
war, der die 99 Wuarssen getötet hatte. Der Mann erhielt
vom Agelith viele Hammel für viele Abendessen, die er den durchreisenden
Leuten vorsetzte. Das Jahr, das er sich ausbedungen
hatte, strich hin, und den Namen des Töters der 99 Wuarssen erfuhr
er nicht. Der Mann ward sehr betrübt und sagte zu seinem Freunde:
"Mein Kopf sitzt nur noch ganz kurze Zeit auf meinem Körper."
Die drei Söhne des Agelith waren inzwischen daheim in einen
Zwiespalt gekommen. Sie stritten untereinander, wer von ihnen
der Tüchtigste sei. Der älteste der drei Brüder sagte eines Tages:
"Kommt, wir wollen zusammen eine Wanderung unternehmen;
da werden wir es ja sehen, wer von uns der Tüchtigste ist." Die
andern waren damit einverstanden. Die drei Brüder machten sich
gemeinsam auf den Weg.
***Die drei Brüder kamen eines Abends zu dem Teewirt. Der Tee-1)
wirt begrüßte sie und sagte: "Ihr seid zur rechten Zeit gekommen.
Morgen wird mich der Agelith töten lassen, weil ich ein Versprechen
nicht erfüllt habe. So helft mir denn, diesen Abend noch recht fröhlich
zu verbringen. Ich bitte euch, nehmt mit mir ein gutes Abendessen
ein und bleibt bis morgen früh mit mir wach." Die drei
Brüder waren gerne bereit, dem Teewirt diesen Gefallen zu tun.
Der Teewirt ließ von dem Agelith einen Hammel holen. Er ließ
seine Frau ein gutes Essen bereiten. Er aß mit den drei Brüdern
zusammen und sagte nach dem Essen: "Nun wollen wir einander
erzählen, was wir erlebt haben." Die drei Brüder sagten: "Wir
sind einverstanden." Der Teewirt sagte: "Dann soll der Älteste von
euch beginnen."
Der Älteste sagte: "Ich habe nicht viel erlebt. Als aber unser
Vater gestorben war, hatte ich als Ältester in der ersten Nacht sein
Grab zu bewachen. Um Mitternacht kam eine Teriel. Ich tötete sie.
Hier im Beutel habe ich noch ihre Ohren. Das ist alles." Der
Zweite sagte: "Ich habe nicht mehr erlebt. Als unser Vater gestorben
war, hatte ich auf seinem Grabe die zweite Nacht Wache.
Um Mitternacht kam ein Löwe. Ich tötete ihn und schnitt ihm die
Ohren ab. Hier im Beute! habe ich sie noch. Das ist alles." Der
jüngste Sohn sagte: "Ich habe auch nicht viel mehr erlebt. Als
unser Vater gestorben war, hatte ich die dritte Nachtwache auf
seinem Grabe. Als es Mitternacht war, kam ein siebenköpfiger
Drache. Ich schlug ihm den Kopf ab. Das Blut löschte die Lampe
auf dem Grabe aus. Ich ging und suchte Licht. Ich traf 99 Wuarssen.
Die 99 Wuarssen wollten eine Burg zerstören. Ich tötete die
99 Wuarssen. In der Burg war ein sehr schönes Mädchen, die von
einem Drachen bewacht wurde. Ich tötete den Drachen, wechselte
die Kissen und Lampen an ihrem Lager und nahm ihren Ring und
eine Locke mit. Auf dem Rückweg holte ich das Feuerzeug aus
dem Hause der Wuarssen, zündete auf dem Grabe meines Vater
wieder die Lampe an, und das ist alles."
Der Teewirt sprang auf und schrie: "Zeige mir den Ring und die
Locke der Tochter des Agelith." Der Jüngste öffnete seinen Beute!
und sagte: "Hier sind die sieben Köpfe der Lep'ha. Hier ist die
Locke der Tochter des Agelith. Und hier am Finger ist der Ring der
Tochter des Agelith." Als der Teewirt das sah, stieß er einen Schrei
der Freude aus und rief: "Morgen brauche ich nicht zu sterben!
Morgen werde ich nicht getötet! Der Mann, der die 99 Wuarssen
getötet hat, ist gefunden." Der Teewirt sprang auf den Jüngsten zu,
er umarmte und küßte ihn und veranstaltete ein großes Fest.
Der Agelith hörte von der Burg aus die Töne des Festes zu sich
herüberklingen. Er rief einen Boten und sagte: "Geh zum Teewirt
und frage ihn, was die Ursache des Festes ist, das er veranstaltet."
Der Bote ging. Er kam zu dem Teewirt und sagte: "Der Agelith
läßt fragen, warum ihr ein Fest feiert." Der Teewirt sagte: "Es ist
weiter nichts. Ich feiere nur den letzten Tag meines Lebens, denn
morgen will der Agelith mich ja töten lassen."
Am andern Morgen wollten die drei Brüder sich auf den Weg
machen und weiter wandern. Der Teewirt beschwor sie und sagte:
"Bleibt heute noch über Tag hier und helft mir, daß ich nicht getötet
werde." Die drei Brüder sagten: "Wie sollen wir dir helfen,
daß du nicht getötet wirst?" Der Teewirt sagte: "Es genügt, wenn
ihr dabei seid, wenn der Agelith über mein Leben entscheidet.
Weiter verlange ich nichts von euch." Die drei Brüder sagten:
"Wenn es nichts weiter ist, so wollen wir bei dir bleiben." Die drei
Brüder blieben. Als es Mittag war, kam ein Bote des Agelith und
sagte zu dem Teewirt: "Das Jahr ist abgelaufen. Der Agelith erwartet
dich auf dem Platze der Männerversammlung." Der Teewirt
sagte: "Ich komme."
Der Teewirt ging mit den drei Brüdern zu dem Platze der Männerversammlung.
Der Bote führte ihn zu dem Agelith; neben dem
Agelith stand der Mann, der dem Teewirt den Kopf abschlagen
sollte. Der Agelith fragte den Teewirt: "Du hast vor einem Jahr
dich anheischig gemacht, innerhalb von zwölf Monaten den Mann
zu finden, der die 99 Wuarssen in meiner Burg getötet und uns damit
vor unserm Untergang bewahrt hat. Das Jahr ist heute verstrichen.
Hast du den Mann gefunden, so werde ich dich nach
meinem Versprechen reich beschenken. Hast du ihn aber nicht gefunden,
so werde ich dich, wie ich es vorher gesagt habe, jetzt töten
lassen. Sage also, ob du ihn gefunden hast?" Der Teewirt sagte:
"Ja, ich habe den Mann gefunden. Hier ist er." Der Teewirt zeigte
auf den jüngsten der drei Brüder.
Die Männer in der Versammlung sprangen auf. Sie riefen: "Ist
es wahr, oder ist es gelogen? Hat er den Ring mit den Zeichen der
Tochter des Agelith? Hat er die Locke von dem Kopfe der Tochter
des Agelith? Hat er die Köpfe des Drachen?" Der Jüngste öffnete
den Sack und zog die Köpfe des Drachen, den er auf dem Grabe
seines Vaters getötet hatte, hervor. Er zog die Köpfe des Drachen,
den er in der Kammer der Tochter des Agelith getötet hatte, hervor.
Er zog die Locke vom Kopfe der Tochter des Agelith, die er
abgeschnitten hatte, hervor. Er zeigte den kleinen Finger und
sagte: "Hier trage ich den Ring mit den Zeichen der Tochter des
Agelith; sie hat an ihrem Finger den Ring mit den Zeichen meines
Duar." Die Leute riefen: "Es ist wahr; es ist keine Lüge. Dieser
Mann hat die 99 Wuarssen getötet." Der jüngste der drei Brüder
erhob sich und sagte zu seinen Brüdern: "Kommt, meine Brüder,
wir wollen nun unsere Wanderung fortsetzen."
Der Agelith fiel dem Jüngsten in die Arme und sagte: "Nein, du
darfst nicht gehen, du mußt meine Tochter heiraten. Du sollst
mein Nachfolger werden. Du sollst am Morgen Herr sein, und ich
werde am Abend Herr sein." Der Agelith führte den Jüngsten in
seine Burg. Er führte ihn zu seiner Tochter. Er sagte: "Dies ist
der Mann, der uns von den 99 Wuarssen befreit hat." Die Tochter
des Agelith sah ihn. Sie sah, daß er schön war. Der Jüngste sah
die Tochter des Agelith und sah, daß sie schöner war, als irgendeine
Frau auf dieser Erde. Der jüngste der drei Brüder sagte: "Ich trage
deinen Ring auf meinem Finger." Die Tochter sagte: "Ich trage
deinen Ring auf meinem Finger und werde ihn nicht wieder abziehen."
Der Agelith veranstaltete ein Fest, das währte sieben Tage und
sieben Nächte. Der jüngste der drei Brüder heiratete die Tochter des
Agelith. Der Agelith beschenkte den Teewirt reich. Nach sieben
Tagen nahmen die beiden Brüder von dem Jüngsten Abschied und
sagten: "Wir wissen nun, wer der Tüchtigste unter uns dreien ist.
Wir werden nun nach Hause zurückkehren. Laß es uns wissen,
wenn du uns brauchst." Der jüngste Bruder sagte: "Lebt wohl und
habt Dank dafür, daß ihr mich hierher begleitet habt. Seht von Zeit
zu Zeit auf die drei Stöcke, die uns unser Vater im Garten hat pflanzen
lassen und vergeßt nicht, daß es, solange sie grün sind, mir gut
geht, daß ich aber, wenn einer von ihnen welkt, eure Hilfe nötig
habe." Die drei Brüder nahmen von einander Abschied. Die beiden
älteren wanderten wieder nach Hause. Der Jüngste blieb bei seiner
jungen, schönen Frau in der Burg des Agelith.
***Eines Tages gingen alle Leute des Agelith auf die Jagd. Der Agelith
fragte seinen Schwiegersohn: "Möchtest du wohl auch mit
auf die Jagd gehen?" Der Jüngste sagte: "Ich habe große Lust
hierzu." Der Agelith sagte: "So nimm deine Waffen, besteige auch
einen Maulesel und jage, wo du Lust hast. Nur jenen Hügel darfst
du nicht betreten." Der Jüngste sagte: "Ich werde deine Worte
nicht vergessen."
Der Jüngste bestieg den Maulesel und ritt zur Jagd. Aber wo er
auch ein Tier traf, immer lief es fort, gerade auf den Hügel, den zu
betreten der Agelith ihm verboten hatte. Der Jüngste wurde zornig.
Endlich traf er eine Gazelle, die er eine Zeitlang verfolgen konnte.
Plötzlich aber bog die Gazelle von ihrer Richtung ab und lief auch
auf den Hügel. Da vergaß der Jüngste die Worte des Agelith; er
ritt hinter der Gazelle her, in den Wald auf den Hügel.
In dem Walde auf dem Hügel wohnte aber eine Teriel. Die
Teriel kam dem Jüngsten entgegen. Die Teriel sagte: "Sei mir gegrüßt,
mein Sohn! Ich habe dich lange nicht gesehen." Danach
verschlang die Teriel den Jüngsten samt seinem Maulesel.
Drei Tage, nachdem der Jüngste von der Teriel verschlungen war,
ging der älteste Bruder daheim einmal durch den Garten. Er sah
die Stöcke, die der Vater vor seinem Tode die drei Brüder hatte
pflanzen lassen und die sonst mit grünem Laub bedeckt waren.
Der älteste Bruder blickte auf die Stöcke und erschrak. Der Stock
des jüngsten Bruders war verdorrt. Der älteste Bruder ging zu
seinem zweiten Bruder und sagte: "Mein Bruder, unserm jüngsten
Bruder muß ein Unglück zugestoßen sein. Ich sah soeben, daß sein
Stock verdorrt ist und werde sogleich zu der Burg reiten und sehen,
was ihm geschehen ist."
Der älteste Bruder bestieg einen Maulesel und ritt zur Burg des
Agelith. Der Agelith sah ihn. Der älteste Bruder war aber dem
jüngsten so ähnlich, daß der Agelith sie nicht voneinander unterscheiden
konnte. Der Agelith sagte: "Du bist lange ausgeblieben,
mein Sohn! Deine Frau erwartet dich mit Ungeduld." Der Älteste
ging zu der jungen Frau. Die junge Frau sah nicht, daß es der
Bruder ihres Gatten war. Sie hielt ihn für ihren Mann. Die junge
Frau sagte: "Mein Mann, du warst vier Tage lang auf der Jagd.
Weshalb bliebst du so lange fort! Jetzt wirst du müde sein, komm
schnell mit mir schlafen." Der Älteste ging mit der jungen Frau
in die Kammer. Er legte sich nieder. Er legte aber zwischen sich
und die junge Frau sein Schwert. Nachts erwachte die junge Frau.
Sie sah das Schwert zwischen sich und dem Manne. Sie begann zu
weinen. Sie lief zu ihrer Mutter und sagte: "Mein Mann hat eine
andere Frau lieber als mich. Er hat heute nacht sein Schwert
zwischen mich und sich gelegt." Die Mutter sagte: "Warte ab
mein Kind! Du kannst noch nicht wissen, was das zu bedeuten
hat! Dein Mann wird sich dir offenbaren."
Der Älteste stand inzwischen früh auf. Er ging zum Agelith und
sagte: "Ich will wieder zu der Jagd, dahin, wo ich her kam." Der
Agelith sagte: "Es ist recht, mein Sohn. Aber wie vor vier Tagen
warne ich dich auch heute, den einen Hügel zu betreten." Der
Älteste sagte: "Sage mir noch einmal, mein Vater, welcher Hügel
es ist; ich habe es vergessen." Der Agelith sagte: "Es ist jener
Hügel dort!"
Der älteste Bruder bestieg seinen Maulesel und ritt auf den Hügel
zu. Er sagte bei sich: "Dieser Hügel muß es sein, auf dem meinem
Bruder ein Unglück widerfahren ist." Der Älteste ritt auf den
Hügel zu. Er kam in den Wald auf den Hügel. Die Teriel kam.
Der Älteste erkannte sogleich, daß diese Frau eine Teriel war. Er
sprach zu seinem Maulesel: "Mein Maulesel paß auf. Diese Frau
dort ist eine Teriel. Ich werde sie zuerst begrüßen, damit sie mich
dann nach ihrer Art fragt, von welcher Seite sie anfangen soll, mich
zu verschlingen. Ich werde sagen: ,Von hinten.' Sie wird sogleich
anfangen, dich von hinten zu verschlingen. Ich halte dich aber am
Ohr, und du kannst ihr dann deine Hufe zeigen." Der Maulesel
war einverstanden.
Die Teriel kam näher. Der Älteste rief ihr aus der Ferne zu: "Sei
gegrüßt, meine Mutter!" Die Teriel sagte: "Ich danke dir. Da du
mich so freundlich grüßt, will ich zu dir nachher auch freundlich sein.
Was hast du auf der Jagd erlegt?" Der Älteste sagte: "Ich habe
Rebhühner erlegt. Hier hast du eines." Der Älteste warf der Teriel
ein Rebhuhn zu. Die Teriel verschlang es und sagte: "Gib mir
mehr." Der Älteste warf ihr ein zweites, ein drittes und noch mehr
Rebhühner zu, bis er keine Rebhühner mehr hatte. Die Teriel war
aber nicht satt, sondern sagte: "Was gibst du mir nun, damit ich
satt werde?" Der Älteste sagte: "Nimm meinen Maulesel!" Die
Teriel sagte: "Soll ich von vorn oder von hinten anfangen, ihn zu
verschlingen?" Der Älteste sagte: "Fange von hinten an."
Der Älteste stieg vom Maulesel. Er hielt den Maulesel am Ohr.
Die Teriel kam von hinten an den Maulesel; als sie aber ganz dicht
herangekommen war, schlug der Maulesel nach hinten aus und
traf die Teriel gerade vor den Kopf. Der Schlag war so stark, daß
die Teriel sogleich der Länge nach ins Gras fiel. Der Älteste sprang
aber hinzu, zog das Schwert und hieb ihr mit einem Schwertschlag
den Kopf ab.
Dann öffnete er mit einem zweiten Schnitt den Leib der Frau. Er
fand darin seinen jüngsten Bruder und dessen Maulesel. Sie waren
beide scheintot (= tharan). Der älteste Bruder glaubte aber, sein
jüngster Bruder sei ganz tot. Er legte ihn in das Gras und weinte
über ihn bis tief in die Nacht hinein. Nachts flogen zwei Vögel über
seinem Kopfe. Sie sagten zueinander: "Da ist ein Mann, der hat
seinem jüngsten Bruder erst Gutes getan; dann aber hat er damit
aufgehört und weint nur noch. Wenn er klug ist, sucht er das
Kraut Taschischt und hält es seinem scheintoten Bruder unter die
Nase." Der-älteste Bruder hörte, was die beiden Vögel zueinander
sprachen. Er stand sogleich auf und suchte das Kraut Taschischt.
Er fand es und hielt es seinem Bruder unter die Nase. Sogleich
richtete sich sein jüngster Bruder auf und sagte: "Du bist es, mein
ältester Bruder." Beide fielen sich in die Arme und weinten vor
Freude.
Als es Morgen war, bestiegen beide Brüder ihre Maulesel und
ritten zurück zur Burg des Agelith. Sie wurden herzlich empfangen.
Der Jüngste ging zu seiner jungen Frau. Er fand sie weinend. Er
fragte sie: "Was hast du? Weshalb weinst du? Freust du dich nicht,
mich zurückerhalten zu haben?" Die junge Frau sagte: "Weshalb
hast du gestern das Schwert zwischen mich und dich gelegt? Hast
du eine andere lieber als mich ?" Der jüngste Bruder sagte: "Das
muß mein ältester Bruder gewesen sein. Denn ich konnte das
gestern nicht tun. Ich war noch im Bauche der Teriel im Walde
auf dem Hügel."
21. Die Flucht vor Wuarssen und Teriel
Ein Mann hatte sieben Söhne und eine Tochter. Als die Tochter
herangewachsen war, kam ein Mann und bewarb sich um sie.
Der Vater gab sie ihm, ohne daß er wußte, wer der Mann eigentlich
war. Der Mann war aber ein Wuarssen, der nach der Hochzeit
seine Frau mit sich nahm und mit ihr weit fort zog in sein Gehöft.
Danach hörte der Vater nichts mehr von der Tochter, und wenn
seine Söhne ihn fragten: "Wo ist unsere Schwester," so sagte er:
"Sie ist verheiratet und wohnt mit ihrem Manne weit fort von hier
in jener Gegend." Als die ältesten vier Söhne nun herangewachsen
waren, kamen sie eines Tages zu ihrem Vater und sagten: "Vater,
wir wollen uns heute auf den Weg machen und in jene Gegend
ziehen, um unsere Schwester, die mit dem fremden Manne verheiratet
ist, zu besuchen." Der Vater stimmte zu. Die vier Söhne
machten sich am andern Tage auf den Weg und wanderten weit
fort, bis sie in die Gegend kamen, in der das Gehöft des Wuarssen
gelegen war. In jener Gegend trafen sie den Wuarssen gerade,
als er in sein Haus trat und seine Frau, die Schwester der vier Brüder,
das Haus öffnete. Der Wuarssen aber sah und verschlang die
vier Brüder.
Der Vater und seine jüngsten drei Söhne hörten nichts mehr von
den vier ältesten Söhnen. Der Vater und seine jüngsten drei Söhne
warteten lange auf eine Nachricht über die Rückkehr der vier Burschen.
Es kamen aber weder Nachrichten noch die vier Burschen.
Als nun so eine lange Zeit verstrichen war, waren auch die jüngsten
drei Söhne des Vaters herangewachsen und traten eines Tages vor
den Vater und sagten: "Seitdem unsere Schwester verheiratet ist,
haben wir alle nichts mehr von ihr gehört. Nach langer Zeit sind
unsere vier Brüder herausgezogen, unsere Schwester zu suchen und
sind auch verschwunden, ohne daß wir wieder etwas von ihnen
vernommen hätten. Nun wollen wir drei uns auf den Weg machen
und wollen nach dem Schicksal unserer Schwester und unserer
Brüder Ausschau halten. Wir bitten dich, uns dies zu erlauben."
Der Vater war sehr betrübt darüber, daß seine letzten drei Kinder
nun auch den Weg in jene Gegend antreten wollten. Zuletzt gab
er aber mit trauriger Miene seine Zustimmung. Die drei Söhne
brachen am andern Tage auf.
***Diese drei Söhne hatten ihre besonderen Eigenschaften. Der
jüngste hieß Chsaß. Er hörte so ausgezeichnet, daß er, wenn er
sein Ohr anstrengte, vernehmen konnte, ob ein Mensch, der hinter
ihm stand, seine Augenlider öffnete oder schloß. Der älteste der
Brüder brauchte nur mit dem Fuße auf den Boden aufzustampfen,
so öffnete sich sogleich unter ihm die Erde. Und der zweite war so
geschickt, daß er imstande war, einem Huhn das Ei aus dem Leibe
zu stehlen, ohne daß das Huhn es merkte.
Die drei Brüder machten sich auf den Weg, ihre verheiratete
Schwester und ihre vier verschollenen Brüder zu suchen. Sie wanderten
weit, sehr weit, bis sie eines Tages an das Gehöft kamen, in
dem ihre Schwester als Frau des Wuarssen lebte. Sie klopften an
die Tür und sogleich öffnete die Schwester. Sie erkannte auch sofort
ihre Brüder und sagte: "Meine jüngsten drei Brüder, eilt so
schnell ihr könnt von dannen. Mein Mann ist ein Wuarssen, der
alle Menschen, die in seine Nähe kommen, verschlingt. Vor langer
Zeit sind schon eure ältesten vier Brüder angekommen, und ich
habe es selbst mit ansehen müssen, wie der Wuarssen, mein Mann,
sie verschlungen hat. Eilt deshalb so schnell als möglich von
dannen. Denn es ist bald Abend, und dann kommt mein Wuarssen
nach Hause und wird euch, wenn er euch noch in der Nähe antrifft,
sicherlich verschlingen. Ich bitte euch, meine jüngsten drei
Brüder, lauft schnell von dannen."
Die drei Brüder sagten: "Liebe Schwester, wir sind froh, daß wir
dich endlich gefunden haben und nun etwas über dein und unserer
Brüder Schicksal erfahren. Wir wollen nicht gleich wieder von
dannen laufen, sondern wollen uns deine Art zu leben und deinen
Mann ansehen. Verstecke uns also bis morgens und sorge dich im
übrigen nicht so sehr." Die Schwester versuchte es, die Brüder zur
Änderung ihrer Absicht zu bewegen. Die Brüder ließen sich aber
nicht einschüchtern, sondern bestanden auf ihrem Vorhaben. Es
blieb der Schwester also nichts übrig, als dem Wunsche der Brüder
nachzugeben. Sie hieß sie in eine Grube in der Kammer steigen,
die sie leicht bedeckte.
Als es Abend war, kam der Wuarssen vom Felde nach Hause.
Der Wuarssen setzte sich mit seiner Frau zum Essen nieder, und
nachdem er alles, was sie ihm auftischte, verschlungen hatte,
streckte er sich mit ihr auf seinem Lager aus, um der Nachtruhe
zu pflegen. Ehe er jedoch einschlief, nahm er die Haare seiner
neben ihm liegenden Frau und schlang sie mehrfach so fest wie
nur möglich um seinen eigenen Arm, so daß sie sich nicht, ohne
ihn zu wecken, von ihrer Schlafstatt erheben konnte.
Bald darauf erhob Chsaß seinen Kopf und strengte sein Ohr an.
Nachdem er einige Zeit lang zu dem Wuarssen hingehört hatte,
sagte er bei sich: "Der Wuarssen schläft bis jetzt nur ganz leicht."
Er zog den Kopf wieder zurück. Nachdem wieder einige Zeit verstrichen
war, erhob Chsaß den Kopf abermals und strengte sein
Ohr an. Nachdem er einige Zeit gehorcht hatte, weckte er den
zweiten Bruder und sagte: "Der Wuarssen schläft jetzt ganz fest,
gehe hin und löse die Haare unserer Schwester so von dem Arm des
Wuarssen, daß weder unsere Schwester noch der Wuarssen etwas
davon merken." Der zweite Bruder stieg aus der Grube, schlich
hin und begann ein Haar nach dem andern von dem Arm des
Wuarssen zu lösen. Nachdem dies geschehen war, sagte er es
Chsaß.
Chsaß weckte nun den ältesten Bruder und die Schwester, hieß
den zweiten Bruder geräuschlos die Tür öffnen und lief dann mit
der Schwester und den beiden Brüdern so schnell als möglich von
dannen.
***Die Schwester und die drei Brüder eilten so schnell wie möglich
in der Richtung auf das Haus ihres Vaters von dannen. Nachdem
sie ein gutes Stück weit gelaufen waren, sagte Chsaß: "Wartet ein
wenig!" Die Brüder und die Schwester standen still. Chsaß strengte
sein Ohr an und horchte in der Richtung auf das Haus des Wuarssen.
Nach einiger Zeit sagte er: "Der Wuarssen ist erwacht und
sucht das ganze Haus nach uns ab. Laßt uns weiterlaufen."
Die Schwester und die drei Brüder eilten wieder so schnell wie
nur möglich von dannen, immer in der Richtung auf das Haus ihres
Vaters. Sie waren wieder ein gutes Stück weit gekommen, da sagte
Chsaß: "Wartet wieder ein wenig. Ich will hören, was der Wuarssen
macht!" Die Schwester und die Brüder hielten im Laufen an.
Chsaß strengte sein Ohr an und horchte nach rückwärts. Nach
einiger Zeit sagte er: "Soeben verläßt der Wuarssen sein Haus und
beginnt hinter uns herzulaufen. Er kann anscheinend sehr schnell
laufen, und wir müssen eilen, noch ein Stück weiterzukommen."
Die drei Brüder und die Schwester rannten nun mit aller Kraft und
so schnell es nur möglich war, immer in der Richtung auf das Haus
ihres Vaters.
So kamen sie denn wieder ein gutes Stück weiter und hatten eine
lange Wegstrecke zurückgelegt, als der jüngste Bruder sagte:
"Meine Schwester, meine Brüder, haltet ein wenig im Laufen an,
damit ich horchen kann, ob wir nicht etwa plötzlich von dem
Wuarssen überrascht werden können." Die Brüder und Schwester
hielten an. Chsaß strengte sein Ohr an. Er hatte aber noch nicht
lange hingehört, als er sagte: "Ho! Der Wuarssen ist schon ganz
nahe und wird gleich hier sein. Mein ältester Bruder, öffne nur
schnell die Erde, so daß wir hineinkriechen können."
Der älteste Bruder stampfte mit aller Gewalt auf den Boden, und
sogleich spaltete sich die Erde so weit, daß die drei Brüder mit ihrer
Schwester hinabsteigen konnten. Über ihnen schloß sich die Erde
wieder. Sie waren noch nicht lange unter die Erde geschlüpft, da
kam auch schon der zornige Wuarssen angerast. Der Wuarssen
lief immer auf der Spur der Brüder und der Schwester. Er sah
immer auf die Erde, um die Spur nicht zu verlieren. Er kam bis
dahin, wo die Schwester mit den Brüdern in die Erde gestiegen war.
Er blickte rund umher. Er konnte die Fortsetzung der Spur nicht
finden. Er lief ein Stück vorwärts; er fand die Spur nicht. Er lief
ein Stück nach links; er fand die Spur nicht. Er lief ein Stück nach
rechts; er fand die Spur nicht. Er lief im Kreise herum durch das
Gebüsch. Er fand nirgends die Spur. Da machte er sich denn
auf den Heimweg und lief durch den Wald wieder seinem Gehöft
zu.
Chsaß strengte unter der Erde sein Ohr an. Chsaß sagte: "Soeben
hat der Wuarssen den Rückweg angetreten." Sie blieben noch eine
gute Weile unter der Erde. Dann strengte Chsaß wieder sein Ohr
an. Er horchte lange hin und sagte dann: "Soeben ist der Wuarssen
wieder in sein Gehöft zurückgekehrt. Kommt, wir wollen wieder
aufbrechen."
Die drei Brüder und die Schwester stiegen wieder aus der Erde
herauf und gingen weiter in der Richtung auf das Haus ihres Vaters
zu. Sie waren ein langes Stück weitergegangen, da begegneten sie
einer Teriel. Die Teriel begrüßte die drei Brüder und die Schwester
und sagte: "Seht, ich habe keine Kinder und liebe doch die jungen
Leute so sehr. Seid meine Kinder, ich will euch eine Mutter sein;
kommt mit zu mir, eßt bei mir, schlaft bei mir, seid meine Kinder!
Kommt mit in mein Haus!" Die drei Burschen und das Mädchen
sahen, daß es eine Teriel war. Sie fürchteten aber, die Teriel möchte
sie gleich verschlingen, deshalb nahmen sie die Einladung an und
folgten der Teriel in ihr Haus. Die Teriel holte sogleich Aghertum
(= Brot) und setzte es ihnen vor.
Chsaß schaute indessen überall herum und sagte zur Teriel:
"Meine Geschwister haben großen Durst. Bei uns ißt man nicht,
ehe man nicht etwas getrunken hat. Ich sehe, es ist aber kein
Wasser hier. Bring uns doch etwas Wasser!" Die Teriel nahm
einen Krug auf und lief damit zur Quelle. Als sie fort war, sagte
Chsaß zu seinen Brüdern und zu seiner Schwester: "Die Quelle der
Teriel ist ein gutes Stück entfernt. Deshalb habe ich sie um Wasser
gebeten. Lauft ihr zwei Brüder und du meine Schwester nur schnell
von dannen. Ich selbst werde noch hierbleiben, um sie festzuhalten
und werde dann schon wissen, wie ich mich nachher aus der Angelegenheit
herausfinde. Macht ihr nur, daß ihr fortkommt." So
machten sich denn die Schwester und die beiden ältesten unter den
drei Brüdern auf den Weg und liefen fort, während Chsaß, der
jüngste, noch im Hause der Teriel blieb.
Die Teriel kam mit dem Wasser zurück. Der Jüngste sagte:
"Meine zwei Brüder und meine Schwester sind drüben auf den
Hügel gegangen. Es fiel uns ein, daß die große Herde von Rindvieh,
die wir dort haben, ohne Hirt und Treiber ist, wenn wir solange
bei dir sitzen. Deshalb sind sie hinübergelaufen und treiben
das Vieh hierher, um es bei dir unterzustellen. Denn wenn du uns
als deine Kinder aufnimmst, wollen wir dich auch als unsere Mutter
ansehen und unser schönes Vieh bei dir unterstellen."
Die Teriel war in dem Gedanken an eine neue schöne Rinderherde
sehr erfreut und sagte: "Es ist recht, daß ihr mir soviel Vertrauen
zeigt. Ihr sollt mitsamt eurem Vieh bei mir gut aufgehoben sein.
Wann denkst du denn, daß deine Brüder, deine Schwester und die
Viehherde hier sein können?" Chsaß sagte: "Das kommt darauf
an, wie leicht sich das Vieh treiben läßt. Aber ich denke, sie werden
sicher morgen kommen."
Am andern Tage sagte Chsaß zur Teriel: "Wir wollen noch einige
Stangen brechen und ein Gatter bauen, in das wir das Vieh hineintreiben,
wenn es ankommt, denn in deinem kleinen Viehstall kann
nur ein kleiner Bruchteil unterkommen. Komm, Mutter, hilf mir!"
Er ging mit der Teriel zusammen in den Busch, brach Stangen,
trug sie mit der Teriel nach Hause und baute mit ihr zusammen
ein großes Viehgatter. Als es am Abend fertig war, sagte er zur
Teriel: "So, jetzt könnte das Vieh kommen. Die Unterkunft ist bereitet.
Das Vieh wird sich durch den Busch aber nicht so schnell
treiben lassen!"
Am zweiten Tage sagte die Teriel: "Wo bleiben nur deine
Schwester, deine Brüder und die Viehherde?" Chsaß sagte: "Ich
will dir einen Vorschlag machen. Ich glaube sicher, für die Armen
ist der Hin- und Herlauf beim Treiben der großen Herde durch den
Busch sehr schwer. Sie werden vielleicht, wenn wir sie allein lassen,
erst zur Nacht ankommen. Ich schlage dir also vor, daß wir beide
ihnen entgegengehen und ihnen beim Treiben helfen. Wenn fünf
treiben, geht es schneller, als wenn nur drei hin und her laufen.
Komm, Mutter, wir gehen ihnen entgegen. Dann kommen sie
sicher vor Nacht an."
Die Teriel sagte: "Es ist besser, wenn ich hierbleibe und die Hausarbeit
verrichte. Geh du deinen Geschwistern und der Herde entgegen
und hilf ihnen, inzwischen will ich einen Hammel schlachten
und euch als Abendgericht kochen. Lauf aber, daß ihr mir nicht
zu spät wiederkommt." Chsaß sagte: "Ich will es machen, wie du
denkst, meine Mutter!"
Chsaß ging hinaus. Er lief bis dahin, wo er seine Geschwister
fand, die sich versteckt hatten und auf ihn warteten. Er kam mit
seinen Brüdern und seiner Schwester heim, und der Vater war sehr
glücklich.
22. Waldschrecken
(Wahre Terielgeschichte*)
Ein Mann, dessen Beruf es war, in den Dörfern herumzuziehen und
Burnusse zu verkaufen, baute sich ein Haus im Walde an einer
Stelle, die von Bäumen umgeben und ein wenig von den Nachbarn
entfernt war. Er hatte eine Frau, die webte seine Ware (Burnusse),
und eine Tochter, die half der Mutter dabei. Meist war der Händler
unterwegs auf Reisen, und dann schlossen die Frau und die Tochter
die Tür mit Sonnenuntergang ab.
Eines Tages war der Mann wieder abwesend. Die Frau und das
Mädchen webten. Es war kurz vor Sonnenuntergang und die Haustüre
noch nicht geschlossen. Da trat eine Teriel in das Haus. Die
Teriel aß an einem Menschenbein. Sie trat in den Raum, steckte
das Menschenbein zwischen zwei Akufin, setzte sich am Webstuhl
hin und begann zu weben. Die Teriel webte; sie webte, bis sie alle
Wolle verbraucht hatte. Die Teriel sagte: "Gebt mir mehr Wolle."
Die Frau sagte: "Wir haben keine Wolle mehr." Die Teriel sagte:
"Dann gebt mir Diß (= Schilf)." Die Frau gab ihr Schilf. Die
Teriel webte bis tief in die Nacht hinein.
Die Frau sagte endlich: "Ich will nun Essen bereiten." Die Frau
begann den Teig zu kneten und sang dabei ganz laut: "Alle meine
Nachbarn hört! Es ist ein Ungeheuer in meinem Haus; kommt und
helft mir!" Die Nachbarn hörten die Frau aus der Ferne singen und
sagten untereinander: "Die Frau arbeitet sogar bei Nacht." Die
Nachbarn kamen aber nicht. Die kleine Tochter nahm inzwischen
aus dem Feuerloch ein brennendes Scheit, löschte es, beiseite
gehend, aus und bemalte sich mit Ruß das Gesicht schwarz.
Die Teriel sah es. Sie wollte das nachmachen. Sie nahm auch
einen Scheit aus dem Feuer, löschte ihn aber nicht erst aus, sondern
strich sich mit dem glühenden Ende über das Gesicht. Das Haar
fing sogleich Funken. Das Haar begann in hellen Flammen zu
brennen. Die Teriel schrie: "Mein Haar brennt und mein Kopf
brennt auch." Die Teriel lief aus dem Hause und schrie immerfort:
"Mein Haar brennt und mein Kopf brennt auch." Die Schwester
der Teriel hörte die Rufe im Wald. Sie rief ihrer Schwester zu:
"Stürze dich in einen See!" Die brennende Teriel lief an ein Wasser
und löschte die Flammen.
Mittlerweile schlossen die Frau und die Tochter die Tür. Als die
Teriel nun das Feuer auf ihrem Kopfe gelöscht hatte, kam sie
zurück, klopfte an die Tür und sagte: "Öffnet eurer Schwester die
Tür, ich will euch helfen." Die Frau und ihre Tochter sagten: "Wir
wollen jetzt nicht mehr arbeiten. Wir wollen schlafen." Die Teriel
sagte: "So werft mir die Mannskeule heraus, die ich zwischen den
Akufin gesteckt habe. Ich will sie aufessen." Die Tochter nahm
die Mannskeule und warf sie zum Fenster heraus der Teriel zu.
Die fing sie auf und lief damit in den Wald.
Am andern Morgen wachten die Leute auf. Die Frau sagte zu
den Nachbarn: "Weshalb seid ihr in der vorigen Nacht nicht gekommen,
als ich Euch rief?" Die Nachbarn sagten: "Wir dachten,
du arbeitetest." Am Abend kam der Burnushändler von der Wanderung
nach Hause. Seine Frau und seine Tochter erzählten ihm, was
sie erlebt hatten. Der Burnushändler sagte: "Ihr müßt die Tür des
Abends noch früher schließen." Am andern Tage reiste der Händler
wieder ab. Eines Tages waren die Frau und ihre Tochter wieder
allein zu Hause. Die Frau rieb gerade das Korn auf der Handmühle,
um Mehl für den Abend zu haben. Da kam Athrajen (geschildert
als wilder Mann mit vorstehenden Zähnen. Der Richter der Toten.
Siehe in der Schöpfungsmythologie die Erzählung von Ferraun)
herein. Athrajen begann sogleich an der Stelle der Frau das Korn
zu mahlen. Die Frau sang in ihrer Angst: "Ihr Nachbarn hört mich!
Bei mir ist ein menschliches Ungeheuer." Athrajen grunzte: "Sing
nicht! Mach deine Arbeit! Mach deine Arbeit!"
Athrajen mahlte und mahlte. Er mahlte fünf Maß Weizen. Er
sagte dann: "Nun gib mir mehr Weizen." Die Frau sagte: "Ich
habe nicht mehr Weizen. Jetzt will ich aber das Essen bereiten.
Was ißt du ?"Athrajen sagte: "Ich esse ein Maß Salz und ein halbes
Maß Weizen." Die Frau sagte: "Ich habe nicht so viel Salz im
Hause." Athrajen warf die Frau an die Wand und sagte: "Ich
werde dir die Knochen zerbrechen." Die Frau sagte: "Ich habe
nicht mehr." Athrajen sagte: "So koche, was du hast." Die Frau
kochte alles, was sie hatte. Athrajen aß alles auf.
Athrajen sagte: "Ich habe Durst. Gib mir zu trinken!" Die
Frau gab Athrajen alles, was sie im Hause hatte. Athrajen trank
alles aus. Er sagte: "Gib mehr!" Die Frau nahm einen Ziegensack
und sagte: "Ich will zur Quelle gehen und schöpfen." Sie ging.
Athrajen folgte ihr. Die Frau schöpfte. Athrajen trank den ganzen
Ziegensack leer. Athrajen und die Frau gingen zurück. Im Hause
packte Athrajen die Frau an der Schulter und sagte: "Wenn du mir
nicht so viel Essen bereitest, als ich nötig habe, fresse ich dich."
Die Frau sagte: "Sieh selbst zu, ob du etwas zu essen findest."
Athrajen sah in alle Akufin, in die Speichergrube und alle Töpfe.
Er sah, daß nichts mehr im Hause war. Darauf lief er aus dem
Hause in den Wald.
Der Mann kam wieder von der Reise zurück. Die Frau erzählte
ihm alles, was sich ereignet hatte. Sie zeigte ihm die Flecken auf
der Schulter, die von den Griffen des Athrajen geblieben waren.
Der Mann verkaufte das Haus im Walde und zog in einen Ort der
Ebene.
23. Die Tapfere
(Wahre Terielgeschichte)
E in Mann, der sehr reich war, hatte eine Tochter, die an einen
Mann im benachbarten Duar (=thedärth; Plural: thüdär)
verheiratet war. Im Sommer wohnte der Mann in einer Farm
(=la[ha]thib). Im Herbst zog er in den Ort.
Eines Tages hatte die Tochter mit ihrem Manne Streit. Sie lief
aus dem Hause. Sie wollte zu ihrem Vater laufen und seinen Rechtsspruch
erbitten. Sie lief nach der Farm, weil sie nicht wußte, daß
ihr Vater in diesem Jahr schon früh in den Ort gezogen war. Unterwegs
kam sie über einen Bach. Am Bache streiften ein Löwe und
eine Teriel umher. Die Teriel sah die junge Frau und rief: "Meine
Tochter! Komm!" Die Tochter wußte aber sogleich, daß dies eine
Teriel war. Sie lief so schnell sie konnte zur Farm des Vaters. Die
Teriel und der Löwe folgten ihr in einiger Entfernung.
Die junge Frau kam an die Farm. Sie fand das Farmhaus geschlossen.
Sie holte den Schlüssel aus dem Versteck, öffnete, ging
hinein, schloß hinter sich die Tür und machte sogleich ein starkes
Feuer. Sie legte eine Eisenstange in das Feuer und machte sie am
spitzen Ende glühend. Dann nahm sie die Debus ihres Vaters.
Inzwischen strich der Löwe mehrmals um das Haus. Als er sah,
daß er nirgends hereinkam, sprang er auf das flache Dach, um von
da aus in den Hof zu gelangen. Die junge Frau kam mit der heißen
Eisenstange heraus. Als der Löwe herabspringen wollte, stieß sie
ihm die Stange in den Leib. Der Löwe stürzte auf dem Hofe nieder.
Die junge Frau schlug ihm mit der Debus (die Keule) den Kopf
entzwei. Danach zog sie die spitze Eisenstange aus dem Leib des
Löwen und legte sie wieder in das Feuer, so daß die Spitze wieder
glühend heiß wurde.
Die Teriel kam mittlerweile an die Tür, klopfte und rief: "Meine
Tochter, öffne! Ich bin deine Mutter!" Die junge Frau rief: "Zeige
deinen Kopf am Fenster, damit ich sehe, ob du eine Frau bist."
Die Teriel richtete sich auf und zeigte ihren Kopf am Fenster. Die
junge Frau ergriff die glühende Eisenstange und sagte: "Wende ihn
so, daß ich dein Gesicht von der Seite sehe." Die Teriel wandte den
Kopf zur Seite. Die junge Frau stieß die glühende Eisenstange
durch das Ohr in den Kopf der Teriel. Sie stieß mit solcher Gewalt,
daß die Spitze der Eisenstange am andern Ohr wieder herauskam.
Die Teriel starb sogleich.
Inzwischen war der Mann der jungen Frau nach Hause gekommen.
Er fand seine Frau nicht daheim. Er lief sogleich in den benachbarten
Ort zu seinem Schwiegervater und sagte: "Deine Tochter
ist mir weggelaufen. Ist sie nicht bei dir?" Der Vater sagte:
"Nein, meine Tochter ist nicht hier; ich will dir aber helfen, sie zu
suchen. Ich werde sie verfolgen und totschlagen, weil sie dir nachts
entlaufen ist." Der Vater und der Mann der jungen Frau machten
sich auf den Weg. Sie kamen, als es Morgen war, zu der Farm. Als
sie nahe herankamen, sahen sie, daß am Fenster die Teriel stand.
Sie sahen in der Eile nicht, daß die Teriel an der Eisenstange aufgespießt
und tot war. Sie erschraken. Sie erschraken so, daß sie
gleich zurück in den Ort liefen.
Im Orte riefen sie andere Leute zur Hilfe. Viele Männer machten
sich auf den Weg. Sie hatten Waffen und wollten gemeinsam mit
der Teriel kämpfen und sie töten. Der Vater und der junge Mann
kamen mit den Leuten zurück zur Farm. Nun sahen sie, daß die
Teriel getötet war. Sie öffneten die Tür der Farm und kamen auf
den Hof. Auf dem Hofe lag der getötete Löwe. Alle Leute staunten
und riefen: "Wer hat dies alles getan? Wer hat dies alles getan?"
Die Leute kamen in den Wohnraum. Sie fanden die junge Frau auf
dem Lager, mit der Hand unter dem Kopfe. Die Leute fragten:
"Was ist geschehen?" Die junge Frau gähnte und sagte: "Die
Teriel und den Löwen habe ich getötet." Die junge Frau erzählte
alles. Die Leute brachen in Jubeirufe aus und riefen: "Eine solche
Frau ist noch nicht dagewesen!" Alle Leute rühmten die junge Frau.
Ihr Mann war sehr stolz auf sie und sagte: "Nun komm aber wieder
mit mir nach Hause." Die junge Frau sagte: "Hast du noch nicht
begriffen, daß ich von dir weggegangen bin? Lieber schlage ich
mich allein mit Löwe und Teriel herum, als daß ich mich wieder mit
dir streite." Die Leute aus dem Orte des Vaters riefen: "Die junge
Frau hat recht, sie soll nicht wieder zu dem Manne zurückkehren.
Wir wollen sie in unserm Ort behalten." Der Vater sagte (barsch)
zu seinem Schwiegersohn: "Du siehst, was diese meine Tochter für
eine Frau ist. Sie ist zu gut für dich." Der Schwiegersohn mußte
allein nach Hause zurückkehren.
Der Vater und die Leute seines Ortes führten die junge Frau
jubelnd in den Ort und nach Hause. Der Vater gab seine Tochter
einem angesehenen Manne seines Ortes zur Frau. Nach einiger Zeit
kam der erste Schwiegersohn mit den Männern seines Ortes und mit
Waffen. Er forderte seine Frau. Er erhielt sie nicht. Es entstand ein
langer Kampf. Viele Männer wurden getötet. Der Schwiegersohn
und die Leute seines Dorfes waren die Schwächeren. Sie wurden
geschlagen und mußten ohne die junge Frau wieder zurückkehren.
24. Weizenkorn und Teriel
Ein Mann hatte einen Sohn, der hieß Ireth, das heißt Weizenkorn.
Ireth war auch nur so klein wie ein Weizenkorn. Er war also
sehr klein. Jedoch war er über alles Maß schlau (=ihär[a]sch;
Schlauheit heißt theharschi). Kein Tier und kein Mensch war so
schlau wie Ireth.
Eines Tages sagte Ireth bei sich: "Ich will einige Tage gut essen.
Er ging im Lande umher. Er kam zu einem Feigenbaum (=thäuekdetz;
Feige =thäthirth), der gehörte einer Teriel, die wohnte nahebei
mit ihrer Tochter Aischa. Aischa, die Tochter der Teriel, hatte
nur ein Auge. Ireth ging zu dem Hause der Teriel und sah durch
das Fenster hinein. Die Teriel erblickte ihn und sagte: "Ich werde
dich fressen." Ireth sagte: "Du hast wenig an mir, ich bin mager."
Damit zeigte er der Teriel ein Stückchen Holz und sagte: "Sieh, wie
mager mein Finger ist." Die Teriel sagte: "Soso!" Ireth sagte:
"Hast du aber nicht einen Akufin (=Speichertopf) voll Feigen?
Setze mich in den Akufin voll Feigen und du wirst sehen, wie ich
nach einiger Zeit fett werde."
Die Teriel sagte: "Einen Akufin voll Feigen habe ich. Ich werde
dich hineinsetzen." Die Teriel setzte Ireth in den Speichertopf voll
Feigen. Da saß er mehrere Tage zwischen den Feigen, aß und sang.
Eines Tages kam die Teriel zum Speichertopf und fragte: "Ireth,
bist du nun fett?" Ireth hielt das Hölzchen durch die obere Tür
des Speichertopfes heraus und sagte: "Sieh selbst und versuche
meinen Finger." Die Teriel biß in das Holzstückchen und rief:
"Dein Finger ist hart wie Holz. Du mußt mehr essen." Ireth blieb
in dem Akufin, aß und sang.
Eines Tages sang aber Ireth nicht mehr in dem Akufin. Die Teriel
kam an den Speichertopf heran und sagte: "Höre, Ireth! Du bist
doch nicht etwa krank, daß du nicht mehr singst?" Ireth seufzte
und sagte: "Nein, ich bin nicht krank, aber deine Feigen kann ich
nicht mehr essen. Hast du nicht einige Datteln (= tzmar; Sing.:
tatzemartz) ?" Die Teriel sagte: "Gewiß habe ich Datteln, einen
ganzen Speichertopf voll!" Die Teriel setzte also den Ireth in den
Speichertopf voll Datteln. Ireth aß nun alle Tage Datteln und sang
auch wieder. Die Teriel kam eines Tages an den Speichertopf und
sagte: "Ireth, bist du noch nicht fett?" Ireth steckte sein Holzstück
zur Speichertür heraus und sagte: "Beiße einmal in meinen
Finger. Ich weiß es selbst nicht." Die Teriel biß in den Finger. Sie
sagte: "Hart wie Holz. Ireth, du ißt nicht genug." Ireth sagte:
"Ich glaube, diese Nahrung ist nicht die richtige. Hast du nicht
Butter und Honig?" Die Teriel sagte: "Gewiß habe ich Butter und
Honig. Ich werde dich in den Speichertopf voll Butter und Honig
setzen."
Ireth wurde also in den Speichertopf voll Butter und Honig gesetzt.
Es aß jetzt Butter und Honig und sang dazu. Eines Tages
sagte er zur Teriel: "Meine Mutter, jetzt bin ich fett. Wenn du mich
jetzt essen willst, wird es gut sein. Damit mein Fleisch aber recht
wohlschmeckend wird, muß ich nun ein paar Tage frische Feigen
essen." Die Teriel sagte: "Frische Feigen sollst du haben." Die
Teriel ging mit ihrer Tochter heraus zum Feigenbaum, um ihn zu
schütteln. Ireth kletterte aber oben zum Speichertopf heraus. Er
nahm erst den Schlüssel (= tetharutz; Plural: tithüra; das Schloß
=miphta; Plural: le miphätha; das ist das bekannte Dornen-Schubschloß
der Nordwestafrikaner) zu dem Hause und der Kammer
(=thachant) und kletterte dann durch das Fenster auf den
Feigenbaum.
Auf dem Feigenbaum aß Ireth jetzt alle reifen Feigen, und als die
Teriel und ihre Tochter schüttelten, warf er die unreifen und
schlechten Früchte herab. Die Teriel wunderte sich über die vielen
schlechten und unreifen Feigen und sagte: "Aischa, ich glaube, das
ist Ireth, der das tut!" Ireth sagte: "Ja, das bin ich." Die Teriel
sagte: "Wer hat dir die Türe geöffnet?" Ireth sagte: "Das war
deine Tochter Aischa." Aischa sagte: "Das ist nicht wahr." Ireth
sagte: "Wer hat den Schlüssel ?" Die Teriel und Aischa suchten den
Schlüssel und fanden ihn nicht. Die Teriel sagte: "Das ist deine
Schuld, Aischa." Aischa sagte: "Nein, Mutter, es ist deine Schuld."
Ireth sagte vom Baume herunter: "Nun kommt und zankt euch
nicht. Es wird Zeit, daß ihr mich vom Baume nehmt, denn es wird
Abend." Dann versteckte sich Ireth zwischen den Ästen und Blättern.
Die Teriel kam und blickte von unten allerorts zwischen die
Blätter und Äste. Sie rief: "Wo bist du denn?" Ireth rief: "So
blicke doch hierher!" Die Teriel kam an die Stelle, und als sie
gerade mit nach oben gerichteten Augen unter Ireth stand, preßte
er ihr den Saft von ein paar Feigen in die Augen. Die Teriel schrie
und konnte nicht mehr sehen. Ireth sagte zu Aischa: "Komm,
Aischa, nimm du mich. Deine Mutter ist von den Wespen verunreinigt
worden. Bringe mich in die kleine Kammer, damit ich
noch einige Tage frische Feigen esse." Aischa nahm darauf Ireth
und brachte ihn in die kleine Kammer.
Nach einigen Tagen sagte Ireth bei sich: "Nun habe ich genug
gegessen; nun will ich wieder nach Hause gehen." Ireth rief aus
seiner kleinen Kammer die Teriel an und sagte: "Nun bin ich so
fett und wohlschmeckend, daß ich nicht besser werden kann. Nun
bereitet mich. Ich bin nun aber so fett, daß ihr mich nicht allein
essen könnt. Ladet also alle eure Tanten und Basen ein. Gehe du
hin und rufe sie zusammen. Aischa kann mich inzwischen zubereiten.
Ich werde es ihr genau sagen, wie sie es machen soll, damit
ihr heute abend ein sehr gutes Gericht habt." Die Teriel sagte:
"Du bist ein gescheiter Junge. Die Aischa soll alles bereiten. Ich
gehe inzwischen bei den Tanten und Basen herum und lade sie ein."
Damit ging die alte Teiiel fort.
Aischa nahm Ireth aus der Kammer. Ireth sagte: "Nun schlage
Holz und setze den großen Topf mit Wasser an das Feuer." Aischa
schlug Holz und setzte den Topf mit Wasser auf das Feuer. Inzwischen
saß Ireth auf der Bank und kratzte sich mit dem Zinkenschlüssel
auf dem Kopfe, schloß die Augen und sagte: "Tut das gut!
Tut das gut! Tut das gut!" Als Aischa den großen Topf auf das
Feuer gesetzt hatte, sagte sie zu Ireth: "Kratze mich auch so auf
Atlantis Bd_02-208a. |
Flip
|
|
Das kleine Weizenkorn
(unten links) hat statt seiner den Stein an den
Baum gehängt, zu dem die Flammen hochlecken. Um das Feuer drei
Teriel. (Zu Nr. 24.)
Eine Beeinflussung fand lediglich insofern statt, als der Darsteller bei diesem
Bilde veranlaßt wurde, alle Figuren nebeneinander und vor das Feuer zu stellen
dem Kopfe!" Ireth stellte sich auf die Bank und sagte: "Setze dich
hier vor mich. Ich will dich von hinten kämmen und kratzen."
Aischa setzte sich. Ireth sagte: "Beuge den Kopf weiter vor."
Aischa tat so. Da zog Ireth ein Messer aus der Tasche und schnitt
der Tochter der Teriel von hinten den Hals durch. Danach zog er
Aischa die Kleider aus und die Haut ab und zerschnitt sie. Die
Kleider Aischas zog er an. Die Haut Aischas legte er beiseite, und
ihre einzelnen Teile warf er in den Kochtopf. Dann setzte sich
Ireth in den Kleidern Aischas auf das Bett Aischas.
Als es Abend war, kam die Teriel mit ihren Basen und Tanten.
Ireth saß in den Kleidern Aischas auf Aischas Bett und weinte. Die
Teriel fragte ihn: "Was weinst du?" Ireth weinte und sagte: "Jetzt
ist der kleine Ireth tot; mit wem soll ich jetzt spielen?" Die Teriel
sagte: "Beruhige dich; ich werde einen andern Jungen finden, mit
dem du spielen kannst, bis er auch fett genug ist. Nun komm, iß
mit uns, und du wirst sehen, wie ausgezeichnet der Ireth dir
schmeckt!" Ireth saß in den Kleidern der Aischa auf dem Bett der
Aischa und weinte und sagte: "Ich mag nicht!"
Die Teriel und ihre Basen und Tanten saßen um den großen Topf
und aßen das Fleisch der Aischa. Die Teriel fischte das Auge
Aischas aus dem Topfe, führte es zum Munde und verschluckte es.
Eine Katze kam durch den Raum, strich an der Teriel vorüber und
sagte: "Mau! Mau! Die Mutter ißt das Auge ihrer Tochter!"
Ireth sprang aus dem Fenster. Ireth warf die Haut Aischas zwischen
die Teriel, ihre Tanten und Basen und sagte: "Ja, die
Katze hat recht, du hast das Auge deiner Tochter gegessen. Wenn
du mich nun essen willst, so komme unter den Feigenbaum." Die
Teriel wollte Ireth greifen. Ireth war aber flink und die Teriel noch
vom Feigensaft auf beiden Augen halbblind. Ireth entschlüpfte.
Ireth rief von draußen herein: "Mutter Teriel! Wollt ihr mich
doch noch essen?" Die Teriel, ihre Basen und Tanten riefen: "Ja,
das wollen wir." Ireth rief: "So macht unter dem Feigenbaum ein
großes Feuer. Es muß ein großes Feuer sein. Ich will dann vom
Feigenbaum in das Feuer hineinspringen, werde im Feuer geröstet
werden und ausgezeichnet schmecken." Die Teriel, ihre Basen und
Tanten sagten: "Das werden wir tun." Die Teriel, ihre Basen
und Tanten schleppten Holz heran und machten ein großes Feuer
unter dem Feigenbaum. Ireth nahm einen großen' Stein, den band
er an einer dünnen Schnur in die unteren Zweige des Feigenbaumes.
Das Feuer ward heiß und schlug in großen Flammen nach oben.
Die Flammen entzündeten die dünne Schnur, an dem der Stein hing.
Die Schnur verbrannte. Ireth rief: "Ich komme!" Der Stein fiel
in das Feuer. Die Teriel, ihre Basen und Tanten liefen nah an das
Feuer heran, um Ireth zu sehen, wie er röstete.
Als alle Teriels um das Feuer standen, sprang Ireth herzu und
stieß sehr schnell eine nach der andern in die Flammen. Alle Teriels
verbrannten, und es blieb von ihnen in dieser Gegend keine einzige
mehr am Leben. Als alle Teriels verbrannt waren, ging Ireth in
das Haus der Teriel. Er nahm von ihren Schmucksachen, Gold
und Kleidern, was ihm gefiel. Damit kehrte er heim zu seinem
Vater.
Der Vater des Ireth schalt auf ihn, als er ihn wiedersah. Er sagte:
"Ich habe um dich geweint, weil ich glaubte, du seist verunglückt."
Ireth sagte: "Mein Vater; ich habe nur einmal einige Tage lang gut
gegessen und viel Freude gehabt."
25. Tamaschahut Bischr
»Die Erzählung Fingernagels (=Bischr)»
Ein Mann heiratete, und als die Zeit gekommen war, schenkte
seine Frau ihm eine Tochter. Er war ärgerlich, denn er wollte
einen Sohn haben. Das nächste Kind, das seine Frau gebar, war
aber wieder ein Mädchen. Und so ging es weiter. Jedes Jahr vermehrte
sich die Zahl seiner Töchter. Aber der Sohn blieb aus. Endlich
geschah es auch noch, daß eine der Töchter starb und daß ihr
sehr bald nicht nur eine zweite, sondern die ganze Reihe der
Schwestern folgte. Da ließ der Mann sich von seiner Frau scheiden.
Der Mann heiratete nun eine andere junge Frau und hoffte
bald Vater eines Sohnes zu werden. Die Zeit verstrich aber, ohne
daß seine Frau Mutter wurde. Und wenn die erste Frau nur Mädchen
geboren hatte, so schien es, als ob die zweite nicht einmal
solche hervorbringen könne. Das blieb drei Jahre lang so. Nun
wandte der Vater sich in seiner Traurigkeit mit einer innigen Bitte
an Gott und betete: "Laß mich doch Vater eines Sohnes werden,
und wenn der Sohn nur so groß ist wie ein Fingernagel (=Bischr)."
Da wurde die Frau des Mannes Mutter, und als das Kind geboren
wurde, war es denn auch nicht größer als ein Fingernagel. Deshalb
nannte der Vater seinen Sohn Bischr.
Bischr wuchs heran; aber er blieb klein. Er blieb so klein! Aber
so klein wie er war, so klug war er auch. Kein Altersgenosse vermochte
ihn zu überlisten; dagegen war er an Schlauheit gar bald
allen erwachsenen Leuten überlegen, so daß sein Vater sehr stolz
auf ihn war.
Als er älter geworden war, liebte es Bischr, Tag und Nacht in der
Nachbarschaft und auch in der weiteren Umgebung umherzustreifen.
Eines Tages war er auf einem solchen Streifzüge, da begegnete
er einigen Dieben (Dieb ämächur; Plural: imichuren),
die gerade daran gegangen waren, ein Haus zu erbrechen, um eine
Kuh zu stehlen. Bischr trat zu ihnen und sagte: "Ich will euch behilflich
sein." Der erste Dieb antwortete: "Wir können dich nicht
gebrauchen, weil du zu klein bist." Bischr sagte: "Du irrst dich!
Gerade weil ich klein bin, kann ich um so leichter hineingelangen.
Um mich hineingelangen zu lassen, braucht ihr nur einen Stein aus
der Mauer zu nehmen." Der zweite Dieb sagte: "Bischr hat recht.
Wir wollen ihn durch ein kleines Loch hineinlassen. Er soll uns
von innen die Tür öffnen." Sie nahmen also aus der Rückwand des
Hauses einen Stein heraus und Bischr schlüpfte hinein.
Bischr kroch zunächst in das Ohr einer Kuh (=thefünäst) und
schrie von da aus: "Rechts (= thäifust) oder links (= thaselmast)!
Wacht auf!" Bei dem Schreien wachte der Besitzer der Hütte auf,
leuchtete überall im Hause umher, konnte aber nichts finden und
legte sich wieder zum Schlafen nieder. Die Leute beruhigten sich
untereinander und sagten: "Das muß der geheime Wächter des
Hauses gewesen (= arsess uchan) sein." Die Leute schliefen wieder
ein.
Nach einiger Zeit kam Bischr aus dem Ohr der Kuh heraus, ging
zur Mutter des Hauses, die mit weitgeöffnetem Munde schlief und
schlüpfte da hinein. Aus dem Innern der Hausmütter schrie
Bischr dann ganz laut: "Wacht auf, die Diebe sind im Haus!" Die
Leute erwachten wieder, sprangen auf, suchten überall herum,
fanden aber nichts und sagten endlich untereinander: "Es kam
aus dem Feuerloch (= Khänun)." Ein Kind sagte: "Ja, es war
der Herr der Feuerstelle (= schir Khänun, d. i. die Grille)." Damit
beruhigten sie sich, legten sich wieder auf ihre Lager und
schliefen ein.
Nun kam Bischr wieder aus dem Munde der Hausmütter heraus,
öffnete von innen die Tür und ließ die Diebe so hereinkommen. Sie
banden die Kuh los und trieben sie mit sich fort. Nachdem sie mit
der Kuh ein gutes Stück gegangen waren, sagten die Diebe: "Wir
wollen die Kuh dort unten im Tale schlachten." Bischr dachte bei
sich: "Dort unten im einsamen Tal komme ich um meinen Teil."
Bischr sagte zu den Dieben: "Wir wollen die Kuh lieber auf dem
Hügel schlachten. Dort sind wir am Wege und können das Fleisch
schneller fortschaffen." Darauf gingen die Diebe und Bischr mit
der Kuh auf den Hügel und schlachteten sie. Als sie dann teilten,
sagte Bischr: "Behaltet ihr nur alles Fleisch und gebt mir die Eingeweide."
Die Diebe taten es.
Bischr nahm seine Eingeweide, verabschiedete sich und ging von
dannen. Er ging aber nicht weit fort, sondern nur bis zum wenige
Schritte entfernten Wege. Dort blies er die Eingeweide (=ajrdän)
auf, schlüpfte hinein und schrie: "Kommt schnell, kommt schnell,
die Diebe eurer Kuh sind hier im Gebüsch. Ich kann sie vom Wege
aus sehen." Die Diebe erschraken. Sie sahen durch die Zweige die
aufgeblasenen Gedärme. Sie glaubten, daß der frühere Besitzer der
Kuh sie verfolge und flohen so schnell sie nur konnten von dannen,
ohne sich weiter um das schöne Fleisch zu kümmern. Sobald Bischr
sah, daß die Diebe entflohen waren, kam er heran, packte alles
Fleisch in die Kuhhaut und legte es unter die Zweige. Dann kehrte
er zum Wege zurück.
Auf dem Wege kam mittlerweile ein Mann mit einem Maulesel
daher. Der Mann streichelte den Hals seines Maultieres, klopfte ihm
die Lenden und sagte: "Gott hat mir einen guten, willigen Maulesel
gegeben, hätte er mich strafen wollen, so wärst du ein störrischer."
Bischr hörte das. Er sprang dem Maulesel in das Ohr,
machte es sich darin bequem und schrie hinein: "Sch! Schi
Schtan!" (kabylischer Anruf zum Stehenbleiben). Sogleich blieb
der Maulesel stehen. Der Reiter schlug und sagte: "Soeben habe
ich dich noch gelobt, und nun wirst du störrisch!" Der Mann schlug
und Bischr rief: "Sch! Sch! Schtan!" Der Maulesel stand. Der
Mann holte weit zum Schlage aus, traf den Maulesel stark und
schrie: "Nun vorwärts, wenn es nicht eine Strafe Gottes ist!"
Bischr schrie wieder: "Sch! Sch! Schtan!" Der Maulesel stand.
Der Reiter des Maulesels erschrak.
Der Reiter des Maulesels erschrak sehr und schrie laut: "Sollte
das doch eine Strafe Gottes sein?" Da schrie Bischr so laut er
konnte: "Ja." Der Reiter sprang empor. Der Reiter schrie: "Gott
spricht aus dem Maulesel." Der Reiter fiel vor Schreck vom Maulesel,
er raffte sich auf und lief so schnell er konnte von dannen, ohne
sich weiter nach dem Maulesel umzusehen. Der Maulesel blieb auf
der Straße stehen. Er wandte seinen Kopf nur um und sah seinem
Herrn nach.
Als der Besitzer des Maulesels weggelaufen war, kam Bischr aus
dem Ohr des Maulesels hervor und sprang auf die Erde. Er führte
das Tier zu der Stelle, an der er das Kuhfleisch in eine Haut eingewickelt
unter Blättern verborgen hatte, belud den Maulesel, schwang
sich oben auf und ritt heim. Daheim hatten der Vater und die Mutter
inzwischen in allen Winkeln und auf allen Straßen nach Bischr
geschaut und geschrien. Der Vater war schon ganz traurig, daß
der einzige, winzige Sohn, den Gott ihm geschenkt hatte, abhanden
gekommen war, als Bischr auf seinem Maulesel mit seiner Ladung
Fleisch angeritten kam. Der Vater war über alle Maßen glücklich.
Bischr zeigte ihm, was er mitgebracht hatte. Er sagte: "Sieh, mein
Vater, welchen schönen Maulesel und wieviel gutes Fleisch ich euch
mitgebracht habe!" Der Vater aber sagte: "Ich freue mich über
dich mehr als über den Maulesel und das Fleisch!"
***Der Vater hatte große Angst, daß Bischr doch wieder fortlaufen
und durch allerhand Streiche sein Leben in Gefahr bringen
könne. Er wollte Bischr deshalb festbinden, denn er liebte seinen
Sohn über alles. Bischr sagte jedoch: "Laß mich nur gehen, mein
Vater, ich bin zwar klein, aber ich bin ein Mann; um mich brauchst
du dir keine Sorgen zu machen."
Eine Nacht blieb Bischr daheim. Am andern Tage nahm er
sich Essen, packte das Nötige ein und begab sich wieder auf die
Wanderschaft. Diesmal lief er weit, weit fort, bis er in ein ganz
anderes Land kam. Es war da überall eine ausgezeichnete Weide,
aber nirgends auch nur ein Schaf zu sehen, trotzdem inmitten der
Ebene ein großes Gehöft war. Bischr ging auf das Gehöft zu. Er
fand eine einzige Frau darin. Er begrüßte sie und bat sie um eine
Schale Milch und Brot. Die Frau ging hin, molk einige Schafe und
reichte ihm die Schale.
Bischr blickte in das Gefäß und rief: "Die Milch ist ja ganz
schwarz! (schwarze Milch =aizki). Die Frau sagte: "Natürlich
ist die Milch ganz schwarz. Ich füttere meine Schafe nur mit
Kohle." Bischr sagte: "Wieso das! Draußen ist doch weit und
breit die schönste Weide und nirgends ein Schaf zu sehen! Warum
läßt du die Schafe nicht draußen weiden?" Die Frau lachte und
sagte: "Ich möchte die Schafe schon draußen weiden lassen. Über
das Feld sind aber ein Rabe, ein Igel, ein Hase (=aussul), ein Rebhuhn
und eine Teriel Herr. Die erlauben mir nicht, daß ich meine
Schafe im Freien weide, und die Teriel hätte mich überhaupt schon
lange verschlungen, wenn sie nicht eine Wunde im Rücken hätte,
die sie hindert, aufrechtzugehen. Und da ich meine Schafe nicht
draußen weiden lassen kann, bin ich gezwungen, sie mit Kohle zu
füttern."
Bischr hörte das und sagte: "Bereite mir für morgen eine Schlagkeule
(=debits), ein Messer (=taschenuits) und einen Ziegenhautsack
(=thascholett). Ich will morgen deine Schafe weiden."
Die Frau sagte: "Die Herren des Feldes werden dich verschlingen."
Bischr sagte: "Du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich werde mich
und die Herde heil wieder heimbringen!"
Am andern Morgen packte Bischr seine Sachen in den Ziegenhautsack,
öffnete das Tor des Gehöftes und trieb die Herde (=thakkethaith)
hinaus. Er trieb die Herde vor sich her, mitten auf die
Weide (=themurth) des Raben. Er setzte sich nieder, legte den
Ziegensack zu seinen Füßen und behielt nur die Keule in der Hand.
Nach einiger Zeit kam der Rabe und fragte: "Wie kommt es, daß
du die Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst du
nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du etwa so stark zu sein wie
Bischr, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Der
Rabe sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Der Rabe bückte
sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine Stärke
zu zeigen. Da schlug ihm Bischr mit der Keule in den Nacken, so
daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Raben den Kopf ab, steckte
ihn in seinen Sack und trieb die Herde weiter auf die Weide des
Igels. Dort setzte er sich hin, legte den Ziegenhautsack vor sich auf
die Erde und behielt nur die Keule in der Hand.
Nach einiger Zeit kam der Igel und fragte: "Wie kommt es, daß
du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst
du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du eben so stark zu sein wie
Bischr, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Der
Igel sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Der Igel bückte
sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine
Stärke zu zeigen. Da schlug ihm Bischr mit der Keule in den
Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Igel den Kopf
ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die Herde weiter auf die
Weide des Hasen. Dort setzte er sich hin, legte den Ziegenhautsack
vor sich auf die Erde und behielt nur die Keule in der Hand.
Nach einiger Zeit kam der Hase und fragte: "Wie kommt es, daß
du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst
du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du ebenso stark wie Bischr
zu sein, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Der
Hase sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Der Hase bückte
sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine
Stärke zu zeigen. Da schlug ihn Bischr mit der Keule auf den
Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Hasen den Kopf
ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die Herde auf die Weide des
Rebhuhns. Dort setzte er sich hin, legte den Ziegenhautsack vor sich
auf die Erde und behielt nur die Keule in der Hand.
Nach einiger Zeit kam das Rebhuhn und fragte: "Wie kommt es,
daß du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte:
"Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du ebenso stark wie
Bischr zu sein, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack
auf!" Das Rebhuhn sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!"
Das Rebhuhn bückte sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen
und so seine Stärke zu zeigen. Da schlug ihm Bischr mit
der Keule in den Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten
Rebhuhn den Kopf ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die
Herde auf die Weide der Teriel. Dort lehnte er sich an einen
Baum.
Nach einiger Zeit kam die Teriel. Die Teriel rief schon aus der
Ferne: "Wie kommt es, daß du deine Schafe mein Gras abweiden
läßt?" Bischr sagte: "Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Wenn
du einen heißen Kopf hast, so komme nur näher. Schau her! Ich
scheine doch machtlos!" Er lehnte sich gleichzeitig zurückgebeugt
mit dem Rücken an den Baum und schlug die Hände rückwärts um
den Stamm." Die Teriel kam näher und fragte: "Weshalb nimmst
du diese Stellung ein?" Bischr sagte: "Kann ich dir trauen?" Die
Teriel sagte: "Du kannst mir trauen." "Dann sollst du es wissen.
Ich habe schon lange ein Rückenleiden, das meine Kraft verringert.
Wenn ich mich nun so hinstelle, kommt meine Kraft sogleich
für einige Zeit wieder. Hätte ich einen guten Freund, der
mir in dieser Stellung auch noch für einige Zeit die Hände um den
Baum festbinden würde, so würde ich meine Gesundheit ganz
wiedergewinnen."
Die Teriel sagte: "Solch ein Rückenleiden habe ich auch. Du
scheinst mir die Mittel gut zu kennen. Binde mich doch mal in
dieser Weise fest; wenn du imstande bist, mich von meinem Übel
zu befreien, will ich dich reich beschenken." Bischr sagte: "Ich
will es versuchen. Du mußt mir aber zum Binden eine ganz feste
Lederschnur geben." Die Teriel sagte: "Die sollst du haben. Ich
werde sie sogleich holen."
Die Teriel lief heim und holte die Lederschnur. Bischr nahm sie
und sagte: "Nun lehne dich rückwärts an den Baum und schlage
die Arme um den Stamm." Die Teriel richtete sich mühsam auf
und lehnte sich rückwärts. Die Teriel stöhnte: "Oh, oh, das
schmerzt!" Bischr schnürte ihr die Hände zusammen und sagte:
"Es dauert nicht lange. Die Schmerzen werden dir sogleich für
immer vergehen." Als Bischr die Teriel ganz fest angebunden hatte,
prüfte er, ob die Schnüre auch fest waren. Dann ergriff er sein
Messer und schnitt ihr den Kopf ab. Den Kopf steckte er in seinen
Ziegenhautsack. Den Körper der toten Teriel ließ er am Baume.
Danach trieb Bischr die Herde der Frau heim und sagte zu ihr:
"Nun kannst du deine Schafe weiden, wo du willst." Er zeigte der
Frau die Köpfe in seinem Ziegenhautsack. Die Frau war überaus
glücklich. Bischr blieb noch einige Zeit bei ihr, dann nahm er Abschied
und kehrte reich beschenkt heim.
Sein Vater war über die Heimkehr seines einzigen, winzigen
Sohnes Bischr über die Maßen glücklich. Er war auf dessen Taten
sehr stolz und gab ihm ein junges, schönes Mädchen zur Frau.
26. M'chetisch und die Teriel
Ein Mann namens M'chetisch wohnte in der Nachbarschaft einer
Teriel (= menschenfressende Frau), die ungeheuer reich war.
M'chetisch nahm sich vor, sich einiges von dem Reichtum anzueignen.
Eines Tages hängte die Teriel ihren Schlafteppich in die Sonne.
M'chetisch sah ihn tagsüber hängen, betrachtete ihn, fand, daß es
ein sehr schöner Teppich war und ging in sein Haus zurück. Er kam
mit einer guten Handvoll Nadeln zurück; die steckte er an vielen
Stellen in den Teppich und ging dann wieder in sein Haus. Abends
kam die Teriel, ergriff ihren Teppich, trug ihn hinein und legte ihn
auf ihre Schlafstatt. Dann streckte sie sich auf den Teppich aus, um
zu schlafen. Sie sprang aber sogleich wieder auf, denn die Nadeln
stachen sie. Sie legte den Teppich anders herum, sprang aber sogleich
wieder empor, denn die Nadeln stachen abermals. Sie drehte
und wendete sich auf dem Teppich. Sie mochte sich aber legen, wie
sie wollte, überall stachen sie die Nadeln. Darüber wurde sie zuletzt
so zornig, daß sie den Teppich zum Fenster hinauswarf, sich
auf die glatte Matte legte und ohne Teppich schlief. — M'chetisch
hatte aber auf alles wohl acht gegeben. Sobald die Teriel den
Teppich hinausgeworfen hatte, schlich er sich heran und holte ihn
sich. Er trug den Teppich in sein Haus, zog die Nadeln heraus und
sagte: "Du mein lieber, guter, glatter Teppich!"
Die Teriel hatte eine sehr schöne Steinmühle (= tissirt). M'chetisch
sagte: "Diese Mühle möchte ich sehr gerne haben. Sollte es
nicht eine Möglichkeit geben, diese Mühle zu erhalten? Weshalb
sollte mir das nicht gelingen?" Als die Teriel eines Tages auf dem
Acker war, stieg M'chetisch zu ihrem Fenster empor und sah sich
die Lage der Mühle an. Die Mühle stand in dem Torhaus, nicht
weit von der Tür; in der Tür war ein Schlitz. M'chetisch suchte sich
einen gekrümmten Stock, mit dem er durch den Schlitz in der Tür
langen und den Griff der Steinmühle ergreifen konnte. Er versteckte
seinen Stock und ging nach Hause. Abends kam die Teriel nach
Hause und streckte sich auf ihrem Lager aus. Die Teriel schlief ein
und M'chetisch kam herangeschlichen, nahm den Stock, führte ihn
durch den Türschlitz und hakte ihn in den Griffstock des Mühlsteines.
Dann drehte er die Mühle, die so laut knarrte, daß die
Teriel sofort aufwachte. Die Teriel erwachte und schrie sogleich:
"Tissirt sei still! Du hast nachts nichts zu mahlen." M'chetisch
hielt inne und wartete einige Zeit, so lange, bis die Teriel wieder
eingeschlafen war. Dann aber begann er von neuem zu drehen, so
daß die Teriel wieder erwachte und noch zorniger der Mühle verbot,
zu mahlen. Kaum war die Teriel aber eingeschlafen, so fing er von
neuem an, die Mühle in Bewegung zu setzen und zwar diesmal noch
schneller und somit lauter. Die Teriel fuhr daraufhin voller Wut aus
dem Schlafe und aus dem Bett empor und auf die Mühle zu. M'chetisch
zog schnell seinen Hakenstock weg. Die Teriel aber ergriff in
äußerstem Grimme die Mühle und warf die beiden Steine zum
Fenster hinaus. Dann legte sie sich wieder zum Schlafen nieder. —
M'chetisch wartete, bis die Teriel fest eingeschlafen war, dann
schlich er sich zu dem Platze, wo die Mühlsteine lagen und trug sie
hocherfreut in sein Haus. Er stellte sie in seinem eigenen Torhause
auf, mauerte den Mühlstein in die Lehmwand ein und sagte: "Du
meine liebe Mühle, ich danke dir, daß du zu mir gekommen bist."
Die Teriel hatte eine sehr große und fette Henne. Im ganzen
Lande hatte kein Mensch eine so fette Henne wie die Teriel. Die
Henne war bekannt im ganzen Lande, und jeder beneidete die Teriel
um die Henne. Mancher hatte sich schon angeboten, viel für die
Henne zu zahlen. Die Teriel sagte aber stets: "Weshalb soll ich die
fette Henne verkaufen? Ich bin reicher als ihr alle." M'chetisch
kannte die Henne. Er hörte, wie die Teriel das sagte, und er dachte
bei sich: "Weshalb soll die Teriel für die fette Henne auch so viel
Geld bekommen, wenn sie schon genug davon hat. Und wenn die
Henne schon doch einmal gegessen werden wird, so ist es für mich
besser, ich esse sie, als die Teriel. Ich werde mir also die fette Henne
schenken lassen." Am andern Morgen ging die Teriel wie immer auf
ihren Acker zur Arbeit. M'chetisch ging hin und fing die fette
Henne. Er band der Henne unter dem Schwanze zwei Federn so
fest zusammen, daß die fette Henne Schmerzen empfand. Dann
setzte er sie wieder in das Haus der Teriel. Abends kam die Teriel
vom Acker nach Hause. Die fette Henne flatterte unruhig von einer
Ecke zur andern. Die Teriel achtete erst nicht darauf. Sie legte
sich zum Schlafen nieder. Die fette Henne flatterte aber immerfort
umher, so daß sie mit ihrem Gackern und Flattern die Teriel nicht
zur Ruhe kommen ließ. Die Teriel erhob sich nach einiger Zeit,
unruhig, zündete das Licht wieder an und sah, was die fette Henne
habe. Sie sah, wie die fette Henne flatterte, gackernd von einer
Stelle zur andern flog und von Zeit zu Zeit mit dem Schnabel an
den Federn unter dem Schwanz zerrte. Die Teriel ergriff die fette
Henne und sagte: "Zeige doch einmal, was du da machst." Die
Teriel betrachtete die fette Henne und sagte: "Du törichtes Vieh,
was ist es für eine neue Sache, daß du dir die Federn unter dem
Schwanz zusammenbindest. Tu das nicht wieder!" Sie riß die zusammengebundenen
Federn auseinander, ließ die fette Henne fliegen
und legte sich wieder zum Schlafen nieder, und die von dem
Schmerz befreite Henne störte sie nicht mehr. —Als die Teriel aber
am andern Tage wieder auf dem Acker war, fing M'chetisch die
fette Henne wieder und band wieder zwei ihrer Federn unter dem
Schwanz zusammen, so daß sie die Teriel am Abend ebenso sehr
störte wie tags zuvor. Die Teriel erhob sich infolgedessen auch an
diesem Abend nochmals vom Lager, ergriff die fette Henne,
besichtigte sie und sagte: "Du ungezogenes Tier, hast dir ja schon
wieder die Federn unter dem Schwanze zusammengebunden. Wenn
du es jetzt noch einmal tust, werde ich dich töten." Sie löste die
Federn der fetten Henne und legte sich wieder nieder. Als sie am
andern Tage aber wieder auf dem Acker war, band M'chetisch abermals
die Schwanzfedern der fetten Henne zusammen, und als das
Tier am Abend die Teriel wiederum durch Flattern und Gackern am
Einschlafen hinderte, war der Zorn der Teriel bis zum äußersten gereizt.
Sie ergriff die fette Henne, betrachtete sie und sah, daß die Federn
wieder zusammengebunden waren. Sie sagte: "Was, du törichtes
Tier, wagst es, solche Gewohnheiten anzunehmen? Nun werde ich
dir den Kopf an dem Felsen zerschlagen." Damit warf sie die fette
Henne zum Fenster hinaus. Draußen stand aber M'chetisch und
fing die Henne auf. Er sagte: "Weshalb soll die fette Henne denn
erst auf den Felsen fallen. Ich kann sie auch so töten." Dann
drehte er ihr den Hals ab und trug sie in sein Haus, wo er sie sogleich
rupfte und ausnahm. Die Teriel horchte noch einen Augenblick.
Sie hörte die fette Henne draußen nicht mehr und sagte bei
sich: "Sie ist also mit dem Kopf auf den Felsen gefallen und tot.
Morgen früh werde ich sie holen und zubereiten." Die Teriel schlief
ein. M'chetisch verzehrte die fette Henne. Am andern Morgen kam
die Teriel heraus und suchte die tote fette Henne. Sie fand aber die
fette Henne nicht. Darauf wurde sie sehr böse und sagte: "Sollte
etwa mein Nachbar, der M'chetisch, die tote Henne gefunden und
an sich genommen haben?"
***Es kam die Zeit, daß die Feigen reif wurden, und die Feigen im
Garten der Teriel waren viel schöner als die irgendeiner andern
Farm in der Gegend. Wenn M'chetisch zu seinem Acker ging, kam
er an dem Feigenbaum der Teriel vorüber, und jedesmal zog er
einen Zweig herunter und sah, wie groß sie seien und ob sie bald
reif sein würden. M'chetisch sagte dazu stets: "Das sind Feigen,
wie man sie im ganzen Lande nicht wieder findet. Das sind die
Feigen, wie sie einem klugen Manne zukommen." Eines Tages, als
er die Feigen wieder untersucht hatte, sagte er: "Morgen sind sie
gut für mich. Nun will ich doch einmal sehen, wie lange die Teriel
dazu nötig hat, mich zu erwischen und in ihr Haus zu bringen."
Am andern Tage kam er mit einem Korb und pflückte den ganzen
Korb voll Feigen der Teriel. Am zweiten Tage stahl er ebensoviele
Feigen. Am dritten Tage wiederholte er das Geschäft, und an diesem
Abend sah die Teriel, daß ein guter Teil ihrer Feigen gestohlen war.
Die Teriel sagte: "Den Dieb, der das getan hat, will ich schon
greifen. Ich werde mich morgen im Gebüsch verstecken."
Am andern Tage kam die Teriel ganz früh mit einer Girba (also
Hammelfellsack; im Kabylischen = tailut oder taschuleut) und
versteckte sich im Gebüsch. Wenig später kam M'chetisch mit
seinem Korbe, stieg auf einen Baum und begann Feigen zu stehlen.
Er war aber noch nicht lange bei der Arbeit, da kam die Teriel
herangeschlichen und ergriff ihn bei den Beinen. Sie zog ihn herunter
und sagte: "Also du, mein lieber Nachbar, bist der Dieb
meiner Feigen! Ich habe mir schon lange gedacht, daß du schon
meine fette Henne von dem Felsen weggestohlen hast. Wenn du
nun durch meine Henne und meine Feigen dich fett genug gemacht
hast, dann kann ich dich ja auch verspeisen. Komm also in die
Tailut." Damit steckte sie ihn in den Ledersack, warf diesen über
die Schulter und ging mit ihm nach Hause.
Unterwegs sagte M'chetisch: "Es ist wahr, daß ich mich durch
die Schönheit deiner Feigen habe verleiten lassen, deine Feigen zu
stehlen, daß ich aber deine fette Henne gestohlen habe, ist nicht
wahr. Deine fette Henne lebt noch!" Die Teriel sagte: "So, meine
fette Henne lebt also noch. Nun, wo ist denn meine fette Henne?"
M'chetisch sagte: "Wenn du den Weg an der Quelle vorüber
nimmst, wirst du deine fette Henne wiederfinden, denn sie lebt noch
und ist nur gestohlen." Die Teriel schlug also den Weg an der
Quelle entlang ein. Als sie nahe der Quelle angekommen war, begann
M'chetisch das Gackern der fetten Henne nachzuahmen, und
da er dabei die Hand vor den Mund nahm und außerdem in dem
Ledersack eingebunden war, so klang es für die Teriel, als gackere
die fette Henne weit entfernt im Busch. Die Teriel begann zu
laufen. Der Ledersack mit M'chetisch wurde ihr schwer. M'chetisch
rief: "So leg doch den Ledersack an der Quelle ab und lauf
dem Gackern nach. Du kannst mich ja nachher wieder abholen."
Die Teriel sagte: "Du bist gar nicht so dumm. Dieses Mal hast du
recht." Die Teriel legte den Ledersack mit M'chetisch auf die Erde
und lief fort, um die fette Henne in dem benachbarten Gehöft zu
suchen.
Kaum war die Teriel fortgegangen, so zog M'chetisch sein Messer
aus der Scheide und begann die Fäden, mit denen der Ledersack
zugebunden war, aufzuschneiden. Er kroch aus dem Ledersack
heraus und trug eilig große Steine zusammen, die er in den Leder.
sack füllte. Dann band er ihn wieder zu und lief, so schnell er
konnte, von dannen. Inzwischen stritt die Teriel sich mit den Leuten
im benachbarten Dorfe herum. Die Leute erklärten, von der
fetten Henne nichts zu wissen; zuletzt mußte die Teriel unverrichteter
Sache wieder zur Quelle zurückkehren.
Die Teriel kam zur Quelle und hob den Ledersack auf. Sie
sagte: "Jetzt möchte ich nur wissen, ob du mir mit der fetten Henne
etwas vorgelogen hast oder nicht." Die Teriel wartete einige Zeit
und sagte dann: "Du scheinst nicht mehr reden zu wollen, Nachbar
M'chetisch! Du wirst im Kochtopf aber genau so gut schmoren, ob
du vorher stumm bist oder ob du lügst."
Die Teriel trug den Ledersack ein Stück weit. Nach einiger Zeit
begannen aber die harten Steine sie auf dem Rücken zu drücken.
Die Teriel sagte: "Nimm einmal deine Knie etwas zur Seite, sonst
hacke ich sie dir zu Hause ab." Als im Sack sich nichts rührte,
sagte, die Teriel: "Der Nachbar M'chetisch spricht nicht mehr, er
nimmt die Knie nicht zur Seite; wird anscheinend immer schwerer.
Er ist vielleicht gar im Ledersack gestorben. Ich werde ihn zu
Hause gleich mit dem Ledersack in den Kochtopf werfen." Die
Teriel eilte, so schnell es ihr die Steinlast, die sie schleppte, erlaubte,
nach Hause.
In ihrem Hause rief die Teriel ihre Tochter herbei und sagte:
"Schüre sogleich das Feuer und setze den großen Kochtopf auf. Ich
habe den M'chetisch hier im Ledersack gefangen und will ihn gleich
heute zubereiten." Die Tochter der Teriel schürte das Feuer. Sie
setzte den großen Kochtopf auf und dann warf die alte Teriel den
Ledersack wie er war in den Kochtopf. Die Steine waren aber zu
schwer, und sogleich zerbrach der Topf, so daß der Ledersack
durch die Scherben ins Feuer fiel. Das Feuer fraß aber sogleich das
Leder, und nun fielen die Steine, die M'chetisch gesammelt hatte,
nach allen Seiten auseinander. Die Teriel erkannte nun, daß
M'chetisch gar nicht mehr im Ledersack gewesen war. Sie sah, daß
ihr M'chetisch entgangen war und wurde über die Maßen zornig.
Die Teriel schwor: "Wenn ich diesen M'chetisch wieder irgendwo
treffe, so soll er mir nicht wieder aus den Händen kommen, ich
werde ihn dann verschlingen."
***M'chetisch lief nach Hause, setzte sich hin und sagte: "Dieses
Mal hat die alte Teriel mich noch nicht bis in ihr Haus getragen.
Ich bin sehr neugierig darauf, wieweit sie mich das nächste Mal
bringen wird. Morgen werde ich jedenfalls wieder einige ihrer ausgezeichneten
Feigen stehlen." Am andern Tage ging M'chetisch
wieder mit einem Korbe in die Farm der Teriel und stahl Feigen.
Am zweiten Tage stahl er eine noch größere Menge. Am vierten
Tage stahl er soviele, daß die Teriel es merkte und am Abend, als
sie durch ihre Farm nach Hause ging, bei sich sagte: "Es scheint
mir, als ob so gut wie gar keine Feigen mehr an den Bäumen
sind, und da ich selbst noch keine gegessen habe, so meine ich, es
müßte doch wohl einmal wieder ein Dieb bei der Arbeit sein. Vielleicht
ist dieser Dieb mein alter Freund M'chetisch. Ich werde
mich morgen im Gebüsch verstecken und will sehen, ob der Dieb
klüger ist oder die alte Teriel."
Am andern Morgen versteckte die alte Teriel sich mit ihrem Ledersack
im Gebüsch. Sie wartete noch nicht sehr lange, da kam auch
schon M'chetisch mit seinem Korbe an und stieg auf einen Feigenbaum.
Die alte Teriel sprang herzu und packte ihn an einem Bein.
M'chetisch sagte: "Da bist du ja wieder, alte Freundin! Du bist
zu ungeduldig, ich tue schon alles, was ich kann, um mich fett zu
machen und so zu einer würdigen Speise für dich und deine Schwestern
zu werden. Du siehst, ich esse zu diesem Zweck so viele
Feigen, als ich vermag. Du aber störst und erschreckst mich immer,
so daß ich statt fetter zu werden immer mehr abmagere. Jeder
vernünftige Mensch mästet aber sein Huhn, ehe er es schlachtet."
Die Teriel sagte: "Für meinen Kochtopf bist du wohl fett genug.
Das können wir aber feststellen, wenn wir bei mir zu Hause sind."
Damit nahm sie ihn und steckte ihn in ihren Ledersack.
Die alte Teriel trug den über die Schulter geworfenen Ledersack
mit M'chetisch darin von dannen und ging mit der Last geradeswegs
auf ihr Haus zu. Als sie in der Nähe der Quelle war, gackerte
M'chetisch wie das erstemal aus dem Sack heraus. Die alte Teriel
schüttelte aber den Kopf und sagte: "Noch einmal werde ich mich
mit dem Bauer in dem Gehöft da nicht zanken. Erst gehe ich nun
einmal nach Hause!" Sie trug M'chetisch in dem Ledersack bis in
ihr Gehöft und nahm ihn dann herunter.
Daheim angekommen, rief die alte Teriel ihre Tochter und sagte:
"Nun habe ich den Nachbar M'chetisch wieder eingefangen, und ich
will ihn nicht wieder entlaufen lassen. Mache also erst die Hoftür
gut zu und höre dann mit an, was der Mann mir sagt." Die Tochter
schloß die Hoftür und kam zurück. Die Teriel öffnete den Leder..
sack ein wenig und sagte: "Nun, Nachbar M'chetisch, wiederhole
noch einmal, was du vorhin vom mageren oder fetten Fleisch gesagt
hast. Da du ein kluger Kerl bist, ist vielleicht etwas Wahres
daran."
M'chetisch sagte: "Natürlich ist das wahr, was ich sage, und deine
Tochter, die doch ein gutes Teil Klugheit von dir geerbt hat, wird
mir recht geben, wenn ich sage, daß man ein gutes Huhn, wenn es
abgemagert ist, erst mästet, ehe man es schlachtet. Wenn ich an
deiner Stelle wäre, würde ich mich, den Nachbar M'chetisch, erst
für einige Zeit in eine Akufin (= große Speicherurne) setzen und da
ordentlich füttern, so daß er fett wird, und würde erst, wenn er
ordentlich gemästet ist, ihn kochen und deinen Schwestern, den
Teriel,-vorsetzen." Die alte Teriel sagte: "Was meinst du dazu,
meine Tochter?" Die Tochter sagte: "Es scheint mir kein schlechter
Vorschlag. Auch braucht man den Akufin nur immer gut zuzudecken,
um es zu verhindern, daß der M'chetisch uns entschlüpft."
Die alte Teriel sagte: "Ich bin damit einverstanden."
M'chetisch wurde nun in einen großen Akufin gesteckt. Dann
deckte die Tochter die Speicherurne mit einem schweren Steine zu.
M'chetisch sagte: "Bis in ihr Haus hat die alte Teriel mich jetzt
gebracht. Auch hat sie mich hier im Akufin ganz dicht am Zwischenboden
hingesetzt, so daß ich nur den Deckelstein über mir
etwas zur Seite schieben zu lassen brauche, um gleich auf dem
Zwischenboden zu sein. Und auf dem Zwischenboden wird sie ja
wohl all die Schätze haben, von denen ich beim Abschied von der
alten Teriel mir nur einen Teil mitzunehmen brauche, um in Zukunft
in einem andern Lande sorgenlos leben zu können. Erst soll
die Alte mich nun einmal nach meinem Geschmack eine Zeitlang
ernähren."
M'chetisch saß in dem Akufin, der oben mit einem Steine geschlossen
war und bekam täglich sein Essen hereingeschoben.
M'chetisch ließ sich das geben, was ihm zusagte. Bekam er etwas,
was er nicht mochte, so sagte er: "Davon werde ich nicht fett. Ich
muß dies und das haben, um fett zu werden." Wollte die alte
Teriel oder ihre Tochter etwas dagegen einwenden, so sagte er:
"Ich muß doch zuletzt am besten wissen, wovon ich fett werde."
Nach einigen Tagen fragte die alte Teriel: "Bist du denn noch nicht
fetter?" M'chetisch sagte: "So schnell geht das nicht. Ich bin noch
recht abgemagert!" Die alte Teriel sagte: "So stecke einmal einen
Finger heraus." Darauf steckte M'chetisch den Griff eines hölzernen
Breilöffels heraus und sagte: "So überzeuge dich selbst!" Die
alte Teriel sagte: "Es ist wahr, der Finger ist noch recht mager.
Man muß ihm mehr Fleisch geben. Was ist deine Meinung, meine
Tochter?" Die Tochter befühlte auch den hölzernen Griff des
Löffels und sagte: "Hier ist noch nichts von Fett zu spüren. Wir
wollen einige Hühner schlachten. Bist du denn der Meinung, daß
du von Hühnern fetter werden wirst?" M'chetisch sagte: "Ich
denke ja, aber erst braucht es einige Zeit, und dann kommt das Fett
eines Tages ganz von selbst. Es ist mir recht, schlachtet mir zunächst
nur jeden Tag ein Huhn, im übrigen werde ich immer selbst
sagen, was meinem Fett am zuträglichsten ist."
M'chetisch saß in seinem Akufin, ließ sich die beste Nahrung
geben und zeigte von Zeit zu Zeit seinen Holzlöffelstiel als Zeichen
noch ungenügender Ernährung, bis er sich eines Tages sagte: "Nun
wird mir der Aufenthalt in dem Akufin allmählich langweilig. Nun
will ich mich langsam zum Abschied vorbereiten." Als die alte
Teriel an diesem Abend nach Hause kam, rief er sie an und sagte:
"Nachbarin Teriel, komm einmal näher heran. Ich habe dir eine
fröhliche Botschaft zu berichten." Die alte Teriel trat heran und
sagte: "Was gibt es denn?" M'chetisch sagte: "Faß einmal heute
meinen Finger an! He! Ist er nicht schon bedeutend fetter?" Dabei
reichte er seinen wirklichen Finger heraus. Die alte Teriel befühlte
den Finger und rief: "Ah! du hast recht! Meine Tochter,
komm nur selbst einmal her und befühle den Finger. Er ist viel
fetter!" Die Tochter kam, befühlte und sagte: "Es ist wahr!
M'chetisch ist schon ganz gut gemästet." M'chetisch sagte: "Seht
ihr, wie recht ich hatte, als ich euch immer meine Ratschläge gab?
Seht ihr, wie ich zugenommen habe. Nun gilt es, mich für die letzte
Zeit sehr sorgfältig und abwechslungsreich weiterzupflegen."
Die alte Teriel sagte: "Was muß man denn nun vor allem tun,
um dein Fettwerden zu beschleunigen? Sollen wir noch einige
Hühner schlachten?" M'chetisch sagte: "Nein, meine Nachbarin
Teriel, Hühner tun es jetzt nicht. Von jetzt ab gebt mir Tauben.
Dazu brauche ich vor allen Dingen mehr frische Luft, denn eine
gute Mästung muß eine gute Ausdünstung haben. Deshalb schiebt
jeden Tag für einige Stunden den Steindeckel beiseite. Wenn ihr.
ihn nur bis zur Hälfte wegschiebt, kann ich nicht heraus, weil ich
schon zu fett bin. Verfährt in dieser Weise, und ich werde in
wenigen Tagen soweit sein, von diesem Leben Abschied zu nehmen."
Die alte Teriel sagte zu ihrer Tochter: "Was meinst du
hierzu?" Die Tochter sagte: "Tauben können wir ja leicht bei
Nachbarn kaufen, da wir in der linken Ecke hinten im Zwischen..
boden einen Sack voll Gold haben. Und daß dem M'chetisch jetzt
etwas frische Luft gut tut, will ich auch gerne glauben." Die alte
Teriel sagte: "So tue es so, wie M'chetisch es angeordnet hat. Er
ist nicht dumm und weiß wirklich am besten, was ihm gut ist."
M'chetisch erhielt nun vor allen Dingen das Fleisch junger Tauben.
Außerdem schob die Tochter jeden Tag für einige Stunden den
Steindeckel erst ein wenig, dann alle Tage ein wenig mehr beiseite,
ganz nach den Anordnungen M'chetisch. Wenn zu der Zeit, da der
Deckel beiseite geschoben war, die Tochter das Haus gerade für
mehrere Stunden verließ, so kroch M'chetisch aus dem Akufin, stieg
auf den Zwischenboden und betrachtete da alle Schätze, die die alte
reiche Teriel aufgespeichert hatte. Er suchte sich von alledem das
Wertvollste und soviel heraus, als ein Mann leicht tragen konnte
und band das zu einem Bündel, das er sich recht bequem erreichbar
hinlegte. Sobald er aber hörte, daß die Tochter der Teriel zurückkam,
schlüpfte er schnell wieder in seinen Akufin.
Nachdem er alles so gut geordnet hatte, rief er eines Abends die
alte Teriel an und sagte: "Nachbarin Teriel, komm einmal her. Ich
habe dir etwas Angenehmes mitzuteilen." Die alte Teriel trat
heran und fragte: "Was gibt es denn?" M'chetisch sagte: "Ich
werde dir jetzt meinen Finger herausstecken, damit du ihn einmal
befühlst. Du wirst sehen, daß ich jetzt nicht fetter werde, vielmehr,
wenn man jetzt zögert, wieder magerer werden kann. Also laufe
morgen früh schnell zu deinen Schwestern und lade sie für morgen
abend zum Essen ein. Deine Tochter mag morgen früh das Feuer
anzünden, den Topf aufsetzen, mich schlachten und kochen. Wenn
ihr dann abends nach Hause kommt, werdet ihr, deine Schwestern
und du, einen Topf mit gekochtem Fleisch vorfinden, das schwöre
ich euch. So, nun fasse meinen Finger an und sieh, ob er nicht fett
ist!" M'chetisch steckte aber nicht seinen Finger heraus. Er hatte
sich vom Essen eine gekochte Taube aufgehoben, der hatte er die
seine und Flügel abgeschnitten, und die steckte er, mit dem Sterz
voran, heraus. Die alte Teriel befühlte die Taube. Sie schrie auf.
Sie schrie: "Hooo! Meine Tochter, komm schnell herbei und befühl
einmal diesen Finger. Solchen Finger habe ich noch niemals
gefühlt. Er ist so weich, fett und zart anzufassen, als wäre er schon
gekocht!" Die Tochter befühlte den Finger. Sie sagte: "Meine
Mutter, wir werden morgen ein ausgezeichnetes Essen haben und
müssen M'chetisch für die Ratschläge, die er uns gegeben hat,
unsern Dank sagen." Die alte Teriel sagte: "Du hast recht, befolge
nur morgen genau alle seine Anordnungen. Denn du siehst, er ist
klug und weiß selbst am besten, wie wir mit ihm verfahren müssen."
Die Tochter versprach es.
Am andern Morgen brach die alte Teriel früh auf und ging von
dannen, um alle ihre Schwestern zum Abendessen einzuladen.
Nachdem die Mutter einige Zeit fort war, rief M'chetisch die Tochter
an und sagte: "Tochter meiner Nachbarin, komm einmal heran!"
Die Tochter der alten Teriel trat heran. M'chetisch sagte: "Nun
höre und merke genau auf! Es hat keinen Wert, daß wir mit
dem Schlachten nun noch lange warten. Wir wollen das gleich
erledigen. Mach also Feuer, setze den Kochtopf auf und nimm mich
dann aus dem Akufin. Allerdings wirst du mir beim Heraussteigen
helfen müssen, denn ich bin vom Fett so schwerfällig geworden, daß
ich kaum noch die Arme und Füße heben kann. Ehe du mich
herausnimmst, schließe aber die Kammertür. Das erschwert dir
infolge der Dunkelheit ja etwas die Arbeit, erleichtert mir aber den
Abschied. Denn du kannst dir denken, daß es besser für mich ist,
wenn ich nicht mehr die Welt draußen sehe und so noch zu guterletzt
wieder in eine Sehnsucht verfalle, die ich augenblicklich nicht
habe, die aber wieder aufleben könnte. Schließe also lieber die Tür
und stecke den Schlüssel in deine Tasche."
Die Tochter der Teriel tat, wie ihr M'chetisch geraten hatte. Sie
schürte das Feuer. Sie setzte den großen Kochtopf auf. Sie schloß
die Tür und steckte den Schlüssel zu sich. Danach schob sie den
Steindeckel von dem Akufin und half M'chetisch, der sich in viele
Kleider gewickelt hatte, die er auf dem Zwischenboden aufgesammelt
hatte, heraus. Die Tochter stützte M'chetisch, bis er auf
der Erde stand und sagte: "Du bist allerdings fürchterlich fett geworden."
M'chetisch sagte: "So ist es. Die Fettschicht ist so stark,
daß du ein sehr scharfes Messer haben mußt, um sie zu zertrennen.
Zeig einmal dein Messer." Die Tochter der Teriel gab ihm das
Messer. M'chetisch versuchte das Messer auf dem Handrücken und
sagte: "Das muß noch ein wenig geschärft werden." Er ging zum
Schleifstein, wetzte das Messer und versuchte es noch einmal. Er
sagte: "So, das Messer wäre nun scharf genug. Nun können wir
anfangen. Hast du Feuer und Topf in Ordnung?" M'chetisch
prüfte, ob alles gut vorbereitet war.
Dann sagte M'chetisch: "Dies ist alles gut vorbereitet und ich bin
zufrieden. Nun sage mir nur, ob du schon einmal einen Menschen
geschlachtet hast, sonst will ich es dir genau zeigen." Die Teriel
sagte: "Nein, ich habe noch nie einen Menschen geschlachtet. Das
hat bisher immer meine Mutter gemacht." M'chetisch sagte: "Dann
werde ich es dir einmal vormachen. Lege dich einmal lang auf den
Boden." Die Teriel legte sich auf den Boden. M'chetisch sagte:
"Nun kreuze die Hände, damit ich dir zeige, wie man sie zusammenbindet."
Die Tochter der Teriel kreuzte die Hände. M'chetisch band
sie zusammen. M'chetisch sagte: "Nun lege die Füße zusammen,
damit ich sie zusammenbinde." Die Tochter der Teriel legte die
Füße zusammen, und M'chetisch band sie zusammen.
M'chetisch sagte: "Hast du das alles gut verstanden?" Die
Tochter der Teriel sagte: "Ja, das habe ich verstanden. Nun binde
mich wieder los." M'chetisch sagte: "Hooo! Nicht so schnell.
Jetzt kommt ja erst die Hauptsache! Wie kannst du so ungeduldig
sein. Ich habe seit Wochen in dem Akufin gesessen ohne ungeduldig
zu werden. Nun kannst du nicht einmal einige Handgriffe
abwarten. Paß also auf. Jetzt kommt das eigentliche Schlachten.
Paß gut auf, damit du es gleich das erstemal lernst."
Damit schnitt M'chetisch der Tochter der Teriel den Kopf ab und
warf das ganze Mädchen in den Kochtopf. Er sagte: "Ich habe der
alten Teriel geschworen, daß sie und ihre Schwestern heute abend
einen Topf mit gekochtem Fleisch vorfinden. Hier ist er." Dann
nahm M'chetisch das Bündel mit Kostbarkeiten, das er sich auf dem
Zwischenboden zurechtgelegt hatte, öffnete die Tür und ging von
dannen in ein anderes Land.
27. Die Elternlose
(Wahre Terielgeschichte)
E in Mann war verheiratet und hatte vier Töchter. Der Mann
wohnte im Walde. Er war sehr arm und ging deshalb täglich
mit seiner Frau aus, um Holz zu sammeln, das er im Orte verkaufte.
Eines Tages war er mit seiner Frau wieder in den Wald gegangen.
Er hatte seiner Frau am Abhang eine Last Holz gesammelt und ging
dann, um auch sich eine Last aufzusuchen. Die Frau kam. Sie
wollte die Last auf den Rücken nehmen. Die Last war aber sehr
schwer. Die Frau glitt am Abhang aus. Das Holz stürzte über sie.
Die Frau überschlug sich und stürzte den tiefen Abhang hinab. Sie
zerschlug am Bachrande und war sogleich tot. — Die Schakale
kamen an der Leiche zusammen und riefen untereinander: "Heute
abend werden wir Fleisch fressen! Heute abend werden wir Fleisch
fressen!"
Der Mann hatte inzwischen seine Holzlast zusammen und rief
seine Frau. Seine Frau antwortete nicht. Der Mann rief wieder und
wieder. Eine Teriel hörte es. Die Teriel antwortete statt der Frau.
Der Mann ging in der Richtung, aus der die Teriel rief. Als er zu
ihr kam, sah er, daß dies nicht seine Frau war. Die Teriel aber
fragte ihn: "Woraus besteht dein Haus?" Der Mann sagte: "Ich
habe eine Frau und vier Töchter. Meine älteste Tochter ist sehr
klug. Sie kann aus der Hand wahrsagen (= hchar deg'füssis)."
Die Teriel fragte: "Wo ist dein Haus?" Der Mann sagte der Teriel,
wo sein Haus sei. Darauf verschlang die Teriel den Mann.
Dann wartete die Teriel den Abend ab und machte sich auf den
Weg zu dem Hause des Mannes, um nun auch noch dessen vier
Töchter zu verschlingen. Inzwischen betrachtete die Tochter daheim
ihre Hand. Sie erschrak. Sie rief ihre Schwestern und sagte:
"Meine Schwestern; unsere Mutter ist tot in den Abgrund gestürzt
und wird von den Schakalen gefressen. Unser Vater ist einer Teriel
nachgegangen und von ihr verschlungen worden. Die Teriel hat
sich auf den Weg gemacht; sie kommt zu unserm Hause und wird
uns verschlingen. Laßt uns also so schnell wie möglich fliehen!"
Die drei Schwestern sagten: "Weshalb sollen wir fliehen! Laßt uns
die Tür gut verschließen." Die drei Schwestern setzten ihren Willen
durch.
Als es Nacht war, kam die Teriel an das Haus. Sie klopfte an die
Tür und rief: "Meine Töchter, macht auf. Eure Eltern wollen in
das Haus." Die Jüngste erhob sich sogleich und ging zur Tür, sie
zu öffnen. Die Älteste sprang auch auf und versteckte sich hinter
der Tür. Als die Tür offen war, trat die Teriel herein. Die älteste
Tochter entschlüpfte aber unbemerkt ins Freie. Die Teriel schloß
dann wieder die Tür hinter sich. Sie verschlang in dieser Nacht die
jüngste Tochter, in der folgenden die dritte Tochter, in der dritten
die zweite Tochter. Dann verließ die Teriel das Haus, ließ die Tür
offen und kehrte an ihren Ort im Walde zurück.
Die älteste Tochter lief inzwischen, so schnell sie konnte, aus dem
Walde. Sie kam in einen Ort. Sie lief zum Hause des Agelith, legte
sich auf die Türschwelle (= emmenär) nieder und schlief da ein.
Der Agelith öffnete am andern Tage die Tür. Er sah das Mädchen,
das sehr schön war und fragte: "Was führt dich hierher?" Das
Mädchen sagte: "Der Zufall (=l'ua'd)." Danach sprach das Mädchen
nicht mehr. Von dem Tage an war sie taubstumm. (Ein
Tauber = arsoj; Plural: arsowen. Ein Stummer = agoun; Plural:
eargunen.)
Der Agelith hatte aber das schöne Mädchen so gerne, daß er es
heiratete. Die junge Frau blieb aber taub und stumm. Der Agelith
fragte weise Leute danach, was man gegen diese Krankheit tun
könne. Die weisen Leute sagten ihm: "Deine junge Frau ist weder
taub noch stumm. Sie ist nur tief betrübt. Warte es ab. Es wird
eine Zeit kommen, wo die junge Frau wieder sprechen wird."
Nach zwei Jahren hatte die junge Frau zwei Söhne. Die
kleinen Knaben begannen zu sprechen. Eines Tages sagte die junge
Frau plötzlich zu ihrem Sohne: "Geh zu deinem Vater und frage
ihn, ob ihr das Haus eurer Großeltern sehen dürft." Der kleine
Knabe lief zu seinem Vater und sagte: "Dürfen wir mit unserer
Mutter gehen und das Haus der Eltern unserer Mutter sehen?"
Der Agelith sagte: "Deine Mutter hat keine Eltern; ich habe deine
Mutter seinerzeit auf der Türschwelle gefunden."
Am andern Tage bereitete die junge Frau aber gutes Essen.
Sie steckte es in einen Beutel und machte sich dann mit den
Kindern auf den Weg. Der Agelith folgte unbemerkt in einiger
Entfernung. Die junge Frau kam an das Haus ihrer Eltern. Auf
allen Seiten waren Kräuter und Büsche um das Haus und auf den
Mauern. Nur ein schmaler Weg führte zwischen den Büschen hin;
es war der Weg, den die wilden Tiere benutzten, die jetzt in dem
Hause wohnten. Die junge Frau weinte und sagte zu ihren Kindern:
"Das ist das Haus meines Vaters, der von der Teriel verschlungen
wurde."
Der Agelith hörte es. Er hörte seine junge Frau sprechen. Er
kam hervor. Er sagte: "Ich werde das alte Haus hier abbrechen,
aber an seiner Stelle ein neues bauen lassen; darin werden wir
wohnen." Die junge Frau weinte und sagte: "Ich danke dir." Von
da an hörte und sprach die junge Frau wieder.
28. Die sieben Schwestern
Ein Mann hatte sieben Töchter, von denen die jüngste schwache
Füße hatte. Sie saß meistens am Frauenplatz. Dafür hatte
sie aber die Verschlagenheit der Frauen (=lacharaja-lachales).
Der Mann wohnte in einer Farm. In der Farm waren sieben
Brunnen. Um die Farm war eine Mauer gezogen.
Eines Tages wollte der Mann eine lange Reise beginnen. Er ließ
sich Essen und Trinken besorgen. Er ließ die Mädchen alles im
Hause zusammentragen, was sie für ein Jahr brauchten. Er rief
sie zusammen und sagte zu der ältesten Tochter: "Meine Tochter,
ich werde für ein Jahr verreisen. Hüte du das Haus und paß auf deine
jüngste Schwester auf." Nachdem er das gesagt hatte, reiste er ab.
Ein Jahr lang sorgte die älteste Schwester, daß alle stets im Hause
blieben. Die Schwestern lebten sparsam und kamen mit dem aus,
was der Vater ihnen zurückgelassen hatte. Die Schwestern verließen
nicht das Haus. Eines Tages begoß sich die jüngste Schwester,
als sie in der Wiege (=duach) lag. Das Wasser lief herab und
gerade in das Feuerloch. Das Feuer verlosch ein wenig. Das Mädchen
nahm ein Sieb und spritzte noch mehr Wasser in das Feuer.
Das Feuer verlosch vollkommen. Die sieben Mädchen hatten nun
kein Feuer mehr zum Kochen im Hause.
Die älteste Schwester sagte: "Ich will Feuer von auswärts holen."
Sie ging aus dem Hause. Das Mädchen lief weit hin. Sie sah in der
Ferne ein Licht. Die Älteste lief auf das Licht zu. Sie kam an ein
Haus. In dem Hause wohnte eine Teriel. Die Älteste klopfte an
das Haus und rief: "Imajida! (= Mutter)." Die Teriel rief von
innen: "Was willst du, meine Tochter?" Die Älteste antwortete:
"Ich bitte um Feuer; unser Feuer ist ausgegangen!" Die Teriel rief
zurück und fragte: "Willst du einen Kamm (=thimeschat)?" Die
Teriel steckte Nadeln (= thithinessina) in die Türschwelle (= ämenar).
Die Älteste antwortete: "Nein, ich will keinen Kamm, ich
bitte um Feuer!" Die Teriel fragte: "Willst du einen Webekamm
(=imschott; zum Festschlagen der Webstoffe von den Weberinnen
benutzt) ?" Dabei steckte die Teriel immer mehr Nadeln in die Türschwelle.
Die Älteste antwortete: "Nein, ich will keinen Webekamm;
ich bitte um Feuer." Die Teriel sagte: "Ach, Feuer willst
du, komm nur herein!" Sie öffnete die Tür.
Die Teriel sagte zu der Ältesten: "Nimm nur von dem Feuer. Wo
willst du in das Haus hineinkommen? Willst du durch die Tür
(=thaburth) oder durch die Stallgosse (=thäthulkht; die Gosse,
die den Mist aus dem Viehstall =adä[e]inin abführt) hereinkommen
?" Die Älteste sah, daß die Frau eine Teriel war und sagte:
"Ich will durch die Stallgosse hereinkommen." Die Älteste kroch
durch die Stallgosse herein und zerriß und beschmutzte sich dabei
die Kleider.
Als die Älteste im Hause war, sagte die Teriel: "Willst du einen
Kuchen (Kuchenfladen =aghaun) von Weizen (=irthen) oder
einen von Asche?" Das Mädchen fürchtete, daß in dem Weizenkuchen
Salz sein könne und der Weizenfladen sie nachher im Laufen
hindern könne. Die Älteste sagte: "Gib mir einen Kuchen von
Asche." Die Älteste führte die Brocken zum Munde. Sie aß sie aber
nicht, sondern ließ sie in das Unterkleid fallen.
Die Teriel sagte dann zu der Ältesten: "Nun nimm das Feuer."
Die Älteste nahm einen Feuerbrand. Die Älteste sagte: "Ich danke
dir. Ich wohne mit meinen sechs Schwestern zusammen. Ich werde
dich einladen, zu uns zu kommen, meine Mutter, und bei uns zu
essen." Die Teriel sagte bei sich: "Dort kann ich also sieben Menschen
verschlingen." Die Teriel schenkte der Ältesten Weizen als
Geschenk. Die Älteste nahm den Weizen und bedankte sich.
Die Älteste ging mit dem Feuerbrand und dem Weizen zu dem
Hause heraus. Sie ging über die Türschwelle. Sie trat auf die Türschwelle
und die Nadeln, die die Teriel hineingesteckt hatte. Ihre
Fußsohlen bluteten. Als die Älteste den Weg zu dem Hause ihres
Vaters zurücklief, trat sie überall blutige Flecken in den Sand. Der
kleine Vogel Thabunthegeraist flog hinter der Ältesten her, hüpfte
auf ihren Spuren hin und bedeckte die Blutflecken mit Sand. Einmal
pickte der kleine Thabunthegeraist aber die Älteste in den Fuß.
Die Älteste sagte: "Geh! Du kleiner Böser!" Der kleine Thabunthegeraist
sagte: "Für das Gute, das ich dir getan habe, tust du
mir Böses." Thabunthegeraist hüpfte zurück und deckte alle roten
Blutspuren auf dem Wege wieder auf.
Die Älteste kam mit dem Feuerbrande heim. Die Schwestern zündeten
ein neues Feuer an und konnten nun wieder ihr Essen kochen.
Am andern Tage machte sich die Teriel auf den Weg und folgte
den Blutspuren, die die Älteste mit den blutenden Nadelstichen auf
dem Wege hinterlassen hatte. Die Teriel kam an das Haus der sieben
Schwestern. Die Schwestern waren im Hause. Die Teriel klopfte an
die Tür. Die Jüngste sah zum Fenster hinaus und sah die Teriel.
Die Jüngste sagte: "Warte, meine Mutter, ich werde sogleich die Tür
öffnen." Die Jüngste ging hin und öffnete die Tür. Im Hause war
aber eine Hündin, die stets anschlug (=athigleph), wenn ein Fremder
kam. Die Hündin schlug an. Die Jüngste sagte zur Teriel:
"Meine Mutter, komme herein." Die Teriel sagte: "Die Tür ist zwar
offen, aber der Hund ängstigt mich. Den Hund mußt du töten. Ich
komme mit meinen Geschenken nicht eher wieder, als bis nicht der
Hund getötet ist." Die Teriel wandte sich um und ging wieder heim.
Als es Nacht war, stieg die Jüngste von ihrem Bett herunter und
schnitt der Hündin den Hals durch. Am andern Tage folgte die
Teriel wieder den Blutspuren und kam an das Haus der sieben
Schwestern. Die Schwestern waren wieder daheim. Die Teriel
klopfte an die Türe. Die Jüngste sah zum Fenster heraus und sah
die Teriel. Die Jüngste sagte: "Warte, meine Mutter, ich werde sogleich
die Türe öffnen, die Hündin habe ich getötet." Die jüngste
ging hin und öffnete die Türe. Als die Teriel aber an die Tür trat,
schlug das Blut des toten Hundes an und bellte. Die Jüngste
sagte
zur Teriel: "Meine Mutter, komm herein, es ist nur das Blut der
toten Hündin, welches bellt." Die Teriel sagte: "Die Tür ist zwar
offen und die Hündin getötet. Aber das behende Blut ängstigt mich'
Die tote Hündin und das Blut mußt du wegschaffen. Ich komme
mit meinen Geschenken nicht eher wieder, als bis nicht alle Reste
der Hündin in den Wald geschafft sind." Die Teriel wandte
sich
um und ging wieder heim.
Am andern Morgen sagte die Jüngste zu ihren Schwestern: "Tragt
doch die Hundeleiche weg und bringt sie weit fort in den Wald'
Dort begrabt sie. Der Hund ist daran schuld, daß wir noch nicht
verheiratet sind. Nur der Hündin wegen wagen die Männer sich
nicht in unsere Nähe und in unser Haus." Die Älteste sagte: "Laßt
das, lebt die Hündin auch nicht mehr, so bellt doch ihr Blut, und Wir
bleiben so allein, wie es der Vater befohlen hat." Die fünf Schwestern
aber sagten: "Die Jüngste hat recht." Die fünf Schwestern
nahmen die Hundeleiche und das Blut, trugen alles in den Wald und
vergruben es.
Als es Abend war, folgte die Teriel wieder den Blutspuren und
kam an das Haus der Schwestern. Die Schwestern waren daheim.
Die Teriel klopfte an die Tür. Die Jüngste sah zum Fenster hinaus
und sah die Teriel. Die Jüngste sagte: "Warte, meine Mutter, ich
werde sogleich die Tür öffnen, die Leiche und das Blut der Hündin
sind im Walde begraben." Die Jüngste ging hin und öffnete die
Tür. Die Jüngste sah nun, daß die Frau eine Teriel war. Sie sagte:
"Komm herein und setze dich, ich will schnell Wasser holen." Die
Jüngste ging hinaus und lief von dannen. Die Älteste erkannte die
Teriel und sagte: "Komm, meine Mutter und setze dich. Ich will
nur meiner jüngsten Schwester nachrufen, daß sie sich beeilt." Die
Älteste ging zur Tür heraus und lief fort. Die Teriel verschloß hinter
der Ältesten die Türe und verschlang alle fünf Schwestern, die noch
im Hause waren.
Die jüngste Schwester lief schnell von dannen und kam an das
Haus eines Agelith. Bei dem blieb sie. Die älteste Schwester lief
in den Wald. Sie lief zu der Stelle, an der die Schwestern die
Hündin begraben hatten. Als sie an die Stelle kam, bellte das Blut.
Sie grub die Stelle auf, nahm einiges von dem Blut in ihr Tuch und
verbarg es im Unterkleid. Nun war die Älteste stets von Bellen begleitet
und niemand wagte, ihr etwas anzuhaben. Die Älteste lief
nun durch den Wald weiter.
Eines Tages schlief sie ermüdet im Walde ein. Ein Jäger kam
durch den Wald. Als er näher kam, bellte das Blut der Hündin im
Unterkleid der Ältesten. Der Jäger kam dennoch näher und fragte
sie: "Wer bist du?" Die Älteste sagte: "Ich bin ein Mensch wie
du." Der Jäger kam noch näher. Er sah, wie schön sie war. Er
sagte: "Komm mit auf meinen Maulesel." Die Älteste folgte. Sie
ritt mit dem Jäger. Sie heiratete den Jäger. Der Jäger und die
Älteste hatten nach zwei Jahren zwei Knaben.
Inzwischen kam der Vater von seiner Reise zurück. Er kam an
sein Haus. Er fand sein Haus mit Gras und Büschen bewachsen.
Er fand seine Töchter nicht mehr. Der Vater wurde traurig. Er
ging zu dem Agelith. Bei dem Agelith traf er seine jüngste Tochter.
Er fragte: "Was ist geschehen?" Die jüngste Tochter sagte: "'Mein
Vater, nach deiner Abreise wurde dein Haus nicht mehr geachtet.
Jeden Tag war Tanz. Alle jungen Männer kamen jeden Abend zum
Tanz. Eines Abends schliefen meine sechs Schwestern, vom Tanzen
ermüdet. Da kam eine Teriel. Sie verschlang die fünf Schwestern.
Nur meine älteste Schwester und ich konnten uns retten." Der
Vater sprach: "Wo ist deine älteste Schwester?" Die Jüngste
sagte: "Das weiß ich nicht."
Die älteste Schwester hörte eines Tages von der Heimkehr ihres
Vaters. Sie nahm ihre zwei Kinder und ging mit ihrem Mann hin,
um den Vater zu begrüßen. Der Vater sagte: "Sage auch du mir,
wie deine fünf Schwestern ums Leben gekommen sind!" Die
älteste Schwester sagte alles, wie es war. Die Jüngste sagte: "Meine
älteste Schwester lügt. Ich habe die Wahrheit gesagt." Die älteste
Schwester sagte: "Vater, komm mit in den Wald und höre selbst
die Stimme des Hundes."
Der Vater ging mit den beiden Schwestern in den Wald. Die
Älteste zeigte ihm die Stelle, an der die Hundeleiche begraben war.
Der Vater hackte den Boden auf. Als er an die Leiche kam, bellte
das Blut. Da sah der Vater, daß seine älteste Tochter die Wahrheit
gesprochen und daß die Jüngste den Anlaß zum Tode der andern
fünf Schwestern gegeben hatte. Er tötete seine jüngste Tochter.
Der Ältesten und ihrem Mann gab er aber ein Fest.
Einer der Erzähler sagte am Schluß höhnisch: "Das kommt von
der Verschlagenheit der Frauen."
29. Der Kluge und der Dumme
Ein Mann wohnte neben einem Walde. Er hatte zwei Frauen,
von denen war die eine sehr klug, die andere töricht. Der
Mann aber war faul und gierig. Eines Tages sagte er: "Ich will die
Bohnen säen." Er nahm ein Maß Bohnen, ging mit ihnen in den
Wald, machte ein Feuer, kochte und aß sie, dann legte er sich hin
und schlief. Abends kam er wieder heim. Am andern Tage nahm
er wieder ein Maß Bohnen, ging mit ihnen in den Wald, machte ein
Feuer, kochte und aß sie. Dann legte er sich hin und schlief. Abends
kam er wieder heim. So machte er es alle Tage und wurde alle Tage
dabei fetter.
Eines Tages sagte die kluge Frau zu der törichten: "Komm, wir
wollen unserm Manne heimlich folgen und sehen, was er mit den
Bohnen macht." Als der Mann mit seinem Maß Bohnen gegangen
war, folgten ihm die Frauen, ohne daß er sie bemerkte. Die Frauen
sahen nun, wie der Mann im Walde ein Feuer machte, die Bohnen
in einen Topf tat, kochte und aß und sich dann niederlegte, um zu
schlafen. Die beiden Frauen sahen das und gingen unbemerkt
von ihrem Mann nach Hause. Abends kam der Mann nach Hause.
Als er in das Haus kam, fragte ihn die kluge Frau: "Hast du das
ganze Maß Bohnen gesät?" Der Mann sagte: "Ja, ich habe alle
Bohnen gesät." Die kluge Frau sagte: "Schlage mir doch den
Baumast dort klein." Der Mann wollte es tun. Er bückte sich und
wollte die Axt ergreifen. Da fielen aus seiner Brusttasche einige
gekochte Bohnen. Die kluge Frau sagte: "Woher kommen denn
die gekochten Bohnen? Kommen sie aus deinem Bauch?" Der
Mann sagte: "Du bist närrisch! Mach deine Arbeit! Die Bohnen
sind nicht gekocht, sie waren nur in der heißen Sonne. Ich werde
sie morgen mit den andern säen."
Als nun die andern Männer ihre Frauen aussandten, daß sie ihre
Bohnenfelder hackten (häufelten und jäteten), sagte die kluge Frau
zu ihrem Manne: "Wir wollen auch hingehen und die Bohnen
hacken, die du gesät hast." Der Mann sagte: "Das ist bei der Art,
wie ich die Bohnen gesät habe, nicht nötig. Ich habe sie gleich sehr
gründlich gehäufelt." Als die Zeit kam, in der alle andern Männer
ihre Frauen in ihre Bohnenfelder sandten, um die ersten (jungen)
Bohnen zu pflücken, sagte die kluge Frau zu ihrem Manne: "Wir
brauchen Bohnen zum kochen. Zeige uns jetzt, wo du deine Bohnen
gesät hast. Wir wollen, wie die andern Frauen, junge Bohnen
pflücken." Der Mann sagte: "Laßt nur, ich will das selbst machen!"
Er nahm einen Korb, ging in das Bohnenfeld seines Nachbars,
pflückte die Bohnen und brachte sie heim. Um diese Zeit nun fühlten
sich beide Frauen Mutter.
Die Bohnen wurden überall reif. Es kam die Zeit, in der alle
Männer ihre Frauen auf ihre Bohnenfelder sandten, um die reifen
Bohnen ernten zu lassen. Die kluge Frau sagte zu ihrem Manne:
"Nun wollen wir zwei auch hingehen und die Bohnen ernten, die
du gesät hast. Zeige uns jetzt, wo du deine Bohnen gesät hast."
Der Mann sagte: "Dann nehmt den Esel und seine Tragtaschen
(=asimbi; Doppelsack, von dem je eine Tasche von je einer Seite
des Sattels herabhängt, aus Schilf geflochten) und ein Sieb. Reitet
dort herunter. Wo das Sieb in den Bohnenstauden hängen bleibt,
ohne zu Boden zu fallen, da ist mein Bohnenfeld."
Die beiden Frauen machten sich mit dem Esel und seiner Doppeltasche
und dem Sieb auf den Weg und ritten durch den Wald. Sie
ritten weit fort. Dann kamen sie an eine lichte Stelle, in der ein
großes Bohnenfeld war. Das Bohnenfeld war so dicht, daß das Sieb
nicht zu Boden fallen konnte. Dort begannen die beiden Frauen die
Bohnen abzuernten und in die Doppeltasche zu füllen.
Das Bohnenfeld gehörte einer Teriel. Die Teriel sah die beiden
Frauen. Die Teriel kam, ohne daß die Frauen sie bemerkten. Die
Teriel ging zu dem Esel, der seitwärts in den Bohnen stand. Sie
fraß den Esel auf. Sie ließ nur die beiden Ohren übrig, die steckte
sie auf eine Fadengabel (= tharucha; das Gabelholz, auf dem die
Frauen Wolle und Wollfaden aufspulen, und das sie, meist in den
Leibgurt gesteckt, bei sich tragen). Die Ohren des Esels sahen so
über die Bohnen hinweg. Dann kam die Teriel auf die zwei Frauen
zu und sagte: "Wer hat euch denn dieses Bohnenfeld gezeigt? Wie
seid ihr denn auf den Acker eurer Kusine (=jedesmunth) gekommen?"
Die kluge Frau betrachtete die Teriel und sagte: "Meine
Tante, wo ist denn unser Esel ?" Die Teriel zeigte auf die Ohren des
Esels und sagte: "Sieh doch seine Ohren!"
Die Teriel sagte zu den beiden jungen Frauen: "Laßt den Esel
und eure Sachen hier. Kommt mit mir in mein Haus. Ich will euch
zu Abend ein gutes Essen geben. Ihr könnt bei mir schlafen und
morgen dann weiter arbeiten. So spart ihr den weiten Weg!" Die
kluge Frau sagte: "Das geht nicht. Unser Mann erwartet uns zu
Hause und wird böse werden, wenn wir abends nicht zurückkehren.
Wir wollen uns (vielmehr) sputen, heimzukommen." Die Törichte
sagte aber: "Doch! Doch! Weshalb sollen wir heute abend und
morgen früh den weiten Weg unnötig machen. Wir wollen zu dir
gehen, bei dir essen und schlafen."
Die Teriel führte die beiden Frauen in ihr Haus. Die Teriel
machte eine gute Speise. Sie setzte den Frauen das Essen vor. Die
Kluge führte die Speise bis zum Munde, warf sie aber, statt sie ZU
genießen, in ihr Kleid hinein. Die Törichte aber nahm den Löffel
voll und aß schnell, soviel sie konnte und bis sie satt war.
Als die beiden jungen Frauen gegessen hatten, fragte die Teriel
sie: "Woran erkennt man, daß ihr schlaft?" Die Kluge fragte:
"Woran erkennt man denn, daß du fest schläfst?" Die Teriel sagte:
"Wenn die Frösche, Löwen und andere Tiere in meinem Bauche
anfangen zu schreien, so ist es das Zeichen, daß ich fest schlafe." Die
Kluge sagte: "Ob wir fest eingeschlafen sind, erkennst du daran,
daß die Kresse (= gerninusch) neben der Feuerstelle (=chanun)
zu sprossen beginnt." Die beiden Frauen legten sich zum Schlafen
nieder. Die Teriel setzte sich neben die Feuerstelle und sah danach,
ob die Kresse zu sprossen beginne. Die Kresse keimte aber nicht.
Die Teriel saß lange da; es war aber nichts von Kresse zu sehen.
Die Teriel wurde müde. Sie legte sich auch hin und schlief ein.
Die kluge Frau schlief nicht. Kurze Zeit, nachdem die Teriel sich
niedergelegt hatte, hörte sie in ihrem Bauche die Frösche, Löwen,
Esel und anderen Tiere schreien. Da weckte sie die törichte Frau
und sagte: "Komm! Steh schnell auf. Wir wollen fliehen!" Die
Törichte sagte: "Bist du närrisch? Wir wollen die gute Frau verlassen,
ohne ihr zu danken? Wir sollen in der Nacht nach Hause
gehen? Ich muß die gute Frau wecken und fragen, ob sie damit
einverstanden ist." Die törichte Frau wollte die Teriel wecken.
Die Kluge beruhigte sie und sagte: "Nun, sei doch still und schlafe
nur ruhig weiter. Ich will ja nur einmal hinausgehen. Wenn du es
nicht willst, kann ich es ja unterlassen." Die Törichte drehte sich
herum und schlief wieder ein.
Als die Törichte wieder eingeschlafen war, erhob sich die Kluge,
stand vorsichtig auf, schlich zur Tür, öffnete sie und ging hinaus.
Nach einiger Zeit wachte aber die Törichte wieder auf. Sie sah, daß
die Kluge nicht mehr neben ihr lag. Sie weckte die Teriel und sagte:
"Meine Base, meine Mitfrau ist herausgegangen und kommt nicht
wieder." Die Teriel stand auf. Die Teriel packte die Törichte und
sagte: "Ich habe wenigstens dich noch." Die Törichte sah jetzt,
daß die Frau eine Teriel war. Die Törichte sagte: "Wenn du mich
töten willst, so bedenke wenigstens, daß in meinem Leibe ein Kind
ist. Nimm das Kind heraus und ernähre es mit dem Mark aus
meinen Beinknochen." Die Teriel hörte es. Die Teriel tötete die
Törichte. Sie ließ die Törichte liegen und lief aus dem Hause hinter
der Klugen her.
Die Kluge war schon weit weg geflohen. Die Kluge kam an
einen Fluß. Der Fluß war über sein Bett getreten und sehr breit.
Es gab keinen Übergang. Die Kluge kam an das Ufer des Flusses
und sagte: "Du Fluß von Honig (=aseph -thamend)! Laß mich
hindurchschreiten!" Der Fluß trat zurück. Das Wasser trat zur
Seite. Die Kluge konnte hindurchgehen. Ihre Füße blieben trocken.
Das Wasser lief hinter ihr wieder zusammen.
Die Teriel kam an den Fluß. Das Wasser war wieder zusammengelaufen.
Die Teriel sah, daß sie nicht über den Fluß kommen
konnte. Die Teriel rief über den Fluß hinweg der Klugen zu:
"Warte auf mich, meine Kusine! Warte auf mich!" Die Kluge
rief zurück: "Ich habe es sehr eilig. Ich kann nicht warten!" Die
Teriel rief: "So sage mir wenigstens, wie du über den Fluß gekommen
bist." Die Kluge sagte: "Ich habe so viel getrunken, bis der
Weg frei war." Die Teriel begann von dem Flußufer zu trinken.
Die Teriel trank und trank und trank. Sie sah auf. Sie hatte nur
wenig getrunken. Sie trank und trank und trank. Der Fluß wurde
ärgerlich und stieg noch höher. Die Teriel sah, daß sie nicht imstande
war, den Fluß weiter auszutrinken. Sie hörte auf und ging
wieder nach Hause.
***Die Teriel kam nach Hause. Sie öffnete den Leib der Törichten, wie
diese es selbst gesagt hatte. Im Leibe fand sie zwei Kinder. Sie
ernährte die Kinder mit dem Mark aus den Knochen ihrer Mutter.
Die Kinder wuchsen sehr schnell auf. Die Teriel gewann die Kinder
lieb. Die Kinder waren zwei Knaben. Der eine war klug, deshalb
nannte sie ihn Uachedich (oder ohathik =klug; ein anderes Wort
für klug ist: oaharisch). Der andere war töricht. Sie ,nannte ihn
Unguf (unguf =dumm, töricht; gleichbedeutend ist ägun). Ein
Jahr nachdem Uachedich und Unguf geboren waren, waren sie
schon erwachsen.
Uachedich urd Unguf hüteten die Schafe der Teriel. Sie gingen
jeden Tag auf die Weide und hüteten die Schafe. Nachts schliefen
Uachedich und Unguf im Hause der Teriel. Eines Nachts wachte
Uachedich auf. Er sah die Teriel schlafen. Er hörte aus dem
Bauche der Teriel die Stimmen der Esel, Frösche, Löwen und anderer
Tiere. Uachedich erschrak und sagte bei sich: "Diese Frau
ist nicht unsere Mutter, es ist eine Teriel."
Am andern Tage gingen Uachedich und Unguf mit der Herde auf
die Weide. Uachedich ging zurück, um das Essen zu holen. Unguf
hütete allein die Schafe. Unguf hatte Lesuk (eine Art Kaugummi
aus einen Pflanzensaft; bei den Kabylenjungen sehr beliebt). Unguf
kaute den Lesuk. Unguf war müde und schlief ein. Im Schlafe
verschluckte Unguf den Lesuk. Unguf wachte auf, er fand seinen
Lesuk nicht mehr. Ungut fragte: "Wer hat mir meinen Lesuk weggenommen?"
Unguf sah um sich. Unguf sah ein Schaf, das lag
wiederkäuend da. Unguf sagte: "Du kaust meinen Lesuk! Du hast
meinen Lesuk genommen." Unguf schlug das Schaf tot. Er öffnete
seinen Mund. Er fand den Lesuk nicht. Unguf sah sich weiter uni.
Er sah ein anderes Schaf, das wiederkäute. Er ging hin, schlug es
tot und sagte: "Dies Schaf kaut meinen Lesuk und muß ihn mir gestohlen
haben." Er öffnete den Mund des Schafes. Er fand den
Lesuk nicht. Unguf sah zu den andern Schafen hin. Unguf wollte
sie alle töten.
Uachedich kam wieder. Uachedich sah die getöteten Schafe.
Uachedich sagte zu Unguf: "Was hast du gemacht?" Unguf sagte:
"Die Schafe haben mir meinen Lesuk gestohlen, als ich eingeschlafen
war. Nun habe ich sie gestraft. Ich will alle Schafe, die gestohlen
haben, töten, wenn sie mir meinen Lesuk nicht wiedergeben."
Der Kluge sagte: "Unguf, wir müssen jetzt klug sein.
Diese Frau ist nicht unsere Mutter, ich habe es diese Nacht wahrgenommen.
Unsere Mutter würde die toten Schafe verzeihen. Die
Teriel wird wegen der toten Schafe zornig werden und uns töten
wollen." Unguf sagte: "Was, diese Frau ist eine Teriel? Ich werde
zu ihr gehen und werde sie fragen." Uachedich sagte: "Sei zunächst
still. Frage nichts, was wir nicht vorher besprochen haben. Wenn du
schweigst, bekommst du morgen von mir sehr vielen schönen Lesuk."
Abends trieben Uachedich und Ungut die Herde nach Hause.
Unguf trug zwei der getöteten Schafe, Uachedich trug eines der
getöteten Schafe. Im Hause versteckten sie die getöteten Schafe.
Die Teriel kam und begann die Schafe zu melken. Unguf wollte die
Schafe anbinden. Uachedich sagte: "Laß das! Ich will sie unserer
Mutter einzeln vorführen und beim Melken halten. Du bekommst
nachher von mir auch ein Stück Fleisch." Unguf ging. Uachedich
führte nun vor die Teriel ein milchendes Schaf, als sie es fast ausgemolken
hatte, führte er es weg und brachte ein zweites, dann ein
drittes. Dann wartete die Teriel darauf, daß Uachedich das vierte,
fünfte und sechste milchende Schaf bringen würde. Das vierte,
fünfte und sechste milchende Schaf hatte aber Unguf getötet.
Uachedich brachte deshalb das erste Schaf wieder. Die Teriel molk.
Das Schaf gab sehr wenig Milch mehr, weil es schon vorher ausgemolken
war. Die Teriel sagte: "Wie kommt es, daß dies Schaf
heute so wenig Milch gibt?" Uachedich sagte: "Ich mußte heute
das Essen holen. Derweilen hat Unguf gemolken, und du weißt
doch, Mutter, daß Unguf sehr ungeschickt ist." Die Teriel sagte:
"So ist es. Die Schafe sind sehr schlecht geweidet. Sorge, daß es
morgen besser wird."
Als die Schafe gemolken waren, sagte Uachedich zur Teriel:
"Mutter, wir haben lange kein Schaf mehr geschlachtet und kein
Schaffleisch gegessen!" Die Teriel sagte: "So tötet ein Schaf."
Uachedich ging und nahm eines von den Schafen, die Unguf getötet
hatte. Er rief Unguf; beide zogen dem Schaf die Haut ab. Die
Teriel kochte das Schaf. Sie bereitete ein gutes Essen. Die Teriel
setzte das Essen den Brüdern vor. Die Teriel gab Uachedich zwei
Stücke Fleisch und Unguf ein Stück Fleisch. Unguf sagte (erregt):
"Beim Tragen muß ich zwei schleppen und Uachedich nur eines.
Beim Essen bekomme ich nur eines und Uachedich zwei." Uachedich
sagte leise zu seinem Bruder: "Sei still, ich gebe dir nachher
alles Fleisch." Die Teriel hatte es aber gehört. Sie sagte: "Was gibt
es da?" Uachedich sagte: "Es ist nur etwas unter uns Brüdern,
meine Mutter." Als die Teriel sich umwandte, gab Uachedich dem
Unguf alles Fleisch.
Nach dem Essen saßen sie mit der Teriel beisammen und plauderten.
Uachedich sagte zur Teriel: "Meine Mutter, wir, deine
Söhne, sind nun schon so groß und du hast uns noch nie deine
Schätze gezeigt." Die Teriel sagte: "So komm." Sie führte Uachedich
auf den Zwischenboden und öffnete ihre Krüge und die Akufin
(=Speicherurnen) und sagte: "Hier ist dies. Hier ist das. Hier ist
die Butter; hier ist der Honig; hier ist das Gold." Dann legten sich
alle hin, um zu schlafen.
***Uachedich schlief nicht. Uachedich wachte. Uachedich horchte.
Als es Mitternacht war, begannen die Esel, die Frösche, die Löwen
und andere Tiere im Bauch der Teriel zu schreien. Uachedich hörte
es. Uachedich schrie auch. Das Schreien im Bauche der Teriel
hörte nicht auf. Uachedich sagte: "Sie schläft fest." Uachedich
rief laut: "Meine Mutter!" Das Schreien im Bauche der Teriel
hörte nicht auf, die Teriel antwortete auch nicht. Uachedich sagte:
"Sie schläft also fest." Uachedich ging hin und nahm einen Topf
mit Butter und einen Topf mit Honig und Datteln.
Uachedich weckte den Bruder und sagte: "Komm, wir wollen
schnell fliehen, die Teriel wird uns sonst verschlingen." Unguf
sagte: "Laß mich, ich bin müde." Uachedich steckte den Finger in
den Honig. Er hielt ihn Unguf hin. Unguf beugte sich vor und begann
an dem Finger zu lecken. Uachedich ging langsam rückwärts
zur Tür und hielt Unguf immer den Finger mit Honig hin. Unguf
leckte an dem Finger und folgte. Als Unguf den Finger abgeleckt
hatte, steckte Uachedich den Finger wieder in den Honig, hielt ihn
Unguf hin und ging langsam weiter rückwärts zur Tür. Unguf
folgte, bis Uachedich an der Tür angelangt war. Er steckte den
Finger nochmals in den Honig, ließ ihn Unguf ablecken und ging
rückwärts zur Tür hinaus. Unguf leckte und ging hinaus.
Als die beiden Brüder das Haus der Teriel verlassen hatten, sagte
Uachedich: "Nun komm, mein Bruder, schließe die Tür und folge
mir. Nachher bekommst du dann noch mehr Honig." Uachedich
ging weiter. Unguf trat an die Tür, riß sie heraus und nahm sie auf
die Schulter. Mit der Tür auf der Schulter folgte Unguf seinem
Bruder. Unguf trug die schwere Tür. Nach einiger Zeit machte
dies ihn aber müde, und er begann hinter Uachedich zu stöhnen
und sagte: "Die Tür wird mir zu schwer. Ich bin müde. Ich kann
nicht weiter mitgehen." Uachedich sah sich um und sah, daß Unguf
die schwere Türe trug. Uachedich sagte: "Bruder, ich sagte dir,
du sollest die Tür zumachen. Ich sagte dir nicht, daß du sie ausreißen
und mit dir nehmen sollst. Nun stelle die Tür dort gegen den
großen Stein." Uachedich ging weiter.
Unguf legte die Tür auf die Erde bei dem Stein. Dann nahm er
den großen Stein auf die Schulter und folgte seinem Bruder. Unguf
trug den schweren Stein. Nach einiger Zeit machte ihn dies aber
müde, und er begann, hinter Uachedich zu stöhnen und sagte: "Der
Stein wird mir zu schwer. Ich kann nicht mehr weitergehen."
Uachedich sah sich um und sah, daß Unguf den großen Stein trug.
Uachedich sagte: "Bruder, ich sagte dir, du solltest die Tür gegen
den Stein legen, ich sagte dir nicht, daß du den Stein mitnehmen
solltest. Nun wirf den Stein weg." Uachedich ging weiter.
Unguf warf den schweren Stein gegen den hohen Baum. Der
hohe Baum stürzte um. Unguf ergriff den hohen Baum und nahm
ihn auf die Schulter. Unguf trug den hohen Baum. Nach einiger
Zeit machte ihn dies aber müde, und er begann hinter Uachedich zu
stöhnen und sagte: "Der Baum wird mir zu schwer. Ich bin müde.
Ich kann nicht mehr weitergehen." Uachedich sah sich um und
sah, daß Unguf den hohen Baum trug. Uachedich sagte: "Bruder,
ich sagte dir, du solltest den Stein bei dem Baum hinwerfen. Ich
sagte dir nicht, daß du den Baum mitnehmen solltest. Nun lege
den Baum hin, und wenn du durchaus etwas tragen mußt, so nimm
mir den Topf voll Honig ab." Unguf legte den Baum hin und nahm
den Topf voll Honig. Uachedich ging weiter. Unguf folgte ihm mit
dem Topf voll Honig.
Uachedich und Unguf gingen ein gutes Stück. Nach einiger
Zeit wurde Uachedich, der am Abend sein Essen Unguf gegeben
hatte, hungrig. Er wandte sich um zu Unguf und sagte: "Gib
mir etwas Honig ab, denn ich bin nun sehr hungrig." Unguf
sagte: "Nein, von dem Honig gebe ich dir nichts. Den Honig
habe ich tragen müssen. Deshalb kann ich ihn nachher auch
essen. Weshalb hast du den Honig nicht getragen?" Uachedich
ging weiter. Unguf folgte ihm. Uachedich wurde immer hungriger.
Uachedich wandte sich wieder zu Unguf um und sagte: "Mein
Bruder, ich bin nun so hungrig, daß ich bald hinfallen und
sterben werde, wenn du mir nicht etwas von dem Honig abgibst.
Ich bitte dich, gib mir von dem Honig!" Unguf sagte: "Dann
will ich dir etwas geben." Unguf gab Uachedich etwas von dem
Honig.
Nach einiger Zeit kamen sie an einen Kreuzweg. Beide Wege
führten von verschiedenen Seiten in einen großen Ort. Uachedich
sagte zu Unguf: "Hier wollen wir uns trennen. Wir wollen in das
Dorf dort gehen und Arbeit suchen. Wenn wir zu zweit kommen,
wird es schwerer sein, Arbeit zu finden, als wenn jeder allein geht.
Du bist stark und wirst leicht Arbeit finden. Ich gebe dir nur noch
einen Rat. Verkehre nie mit Leuten mit blauen Augen. (Solche
Leute heißen: Sing.: athermak; Plural: ithermaken; sie gelten bei
den Kabylen als Leute, die dem Elend geweiht sind, als Menschen
ohne Zukunft, als Menschen, die keinen Erfolg und statt dessen
einen abwärtsführenden Lebensweg haben, etwa im amerikanischen
Sinne des irish way.) Uachedich und Unguf trennten sich. Jeder
ging seinen Weg.
***Unguf traf nach einiger Zeit einen Mann mit blauen Augen. Der
Mann sagte: "Wo gehst du hin?" Ungut sagte: "Ich will arbeiten."
Der Mann sagte: "Willst du bei mir arbeiten?"Unguf dachte an
den Rat seines Bruders und sagte: "Nein, bei Menschen mit blauen
Augen arbeite ich nicht." Unguf ging weiter. Der Mann mit den
blauen Augen ging vom Wege weg, schnitt den Weg ab und trat
nach einiger Zeit wieder Unguf entgegen. Der Mann sagte: "Wo
gehst du hin?" Unguf sagte: "Ich will arbeiten." Der Mann sagte:
"Willst du bei mir arbeiten?" Unguf dachte an den Rat seines
Bruders und sagte: "Nein, bei Menschen mit blauen Augen arbeite
ich nicht." Unguf ging weiter. Der Mann mit den blauen Augen
ging vom Wege weg, schnitt den Weg ab, traf ihn wieder und sagte:
"Wo gehst du hin?" Unguf sagte: "Ich will arbeiten." Der Mann
sagte: "Willst du bei mir arbeiten?" Ungut sagte: "Mein Bruder hat
mir gesagt, ich soll nicht mit Menschen, die blaue Augen haben, verkehren.
In diesem Dorfe scheinen aber nur Leute mit blauen Augen
zu wohnen. Sage mir also, welchen Dienst du für mich hast."
Der Mann mit den blauen Augen sagte: "Es ist ein ganz leichter
Dienst. Du brauchst tagsüber nur die Schafe zu hüten. Dabei hast
du nichts weiter zu tun, als meine alte Mutter auf der Schulter zu
tragen, und abends, indem du die Herde heimtreibst und meine alte
Mutter heimträgst, für meine Kinder einige kleine Vögel zu fangen.
Das ist alles." Ungut sagte: "Das will ich machen." Unguf ging
mit dem Mann mit den blauen Augen in das Dorf. Von nun an nahm
er jeden Morgen die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen
auf die Schulter, trieb die Herde des Mannes auf die Weide und fing
abends bei der Heimkehr für die Kinder des Mannes kleine Vögel.
Die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen trug er aber stets
vom Morgen bis zum Abend auf dem Rücken.
Uachedich hatte im gleichen Dorfe Dienst genommen und trieb
die Herde seines Herrn auf die Weide. Eines Tages weidete Uachedich
seine Herde neben Ungut auf einer Ebene. Beide erkannten
sich nicht. Als es aber Abend war, begann Unguf mit der alten
Mutter des Mannes mit den blauen Augen auf dem Rücken für die
Kinder des Mannes kleine Vögel zu fangen. Dabei konnte er seine
Schafe nicht so beaufsichtigen. Seine Herde lief in die Herde
Uachedichs. Uachedich sah das und rief: "Ho! Achte auf deine
Herde. Soll ich nachher die Schafe wieder auseinanderlesen?"
Unguf hörte nicht darauf, sondern rannte den jungen Vögeln
nach.
Uachedich ward böse. Uachedich lief auf Unguf zu und schlug
ihn, so daß er mit der alten Mutter des Mannes mit den blauen
Augen auf dem Rücken hinfiel. Unguf rief: "Du schlägst mich!
Warte, ich werde es meinem Bruder Uachedich sagen. Der wird
dich wiederschlagen." Uachedich sagte: "Was, du bist es, mein
Bruder Unguf? Nun steh nur auf! Das wußte ich nicht. Was trägst
du denn da auf der Schulter?" Unguf sagte: "Das ist mein Dienst.
Ich habe nur tagsüber die Schafe zu hüten. Dabei habe ich nichts
weiter zu tun, als die alte Mutter meines Herrn auf der Schulter zu
tragen und abends, indem ich die Herde heimtreibe und die alte
Mutter trage, für die Kinder meines Herrn einige kleine Vögel zu
fangen. Das ist mein ganzer Dienst. Eben war ich dabei, die kleinen
Vögel zu fangen. Dabei kamen unsere Herden durcheinander
und du schlugst mich."
Uachedich sagte: "Das ist also dein ganzer Dienst?" Uachedich
wandte sich an die Mutter des Mannes mit den blauen Augen und
sagte: "Steh auf!" Die Mutter stand auf. Uachedich sagte: "Geh
einmal ein Stück." Die Mutter ging ein Stück. Als Uachedich sah,
daß es eine starke Frau war, nahm er sie und schlug sie und sagte:
"Wie kannst du meinen Bruder so quälen?! So, nun trage du zur
Strafe einmal meinen Bruder, bis ich die kleinen Vögel gesammelt
habe." Die alte Mutter mußte Unguf auf die Schulter nehmen und
tragen. Währenddessen ging Uachedich umher und sammelte den
Sack voller Skorpione (= thärädemth). Nachdem er den Sack gefüllt
hatte, kam er zurück zu seinem Bruder.
Uachedich hieß die Alte seinen Bruder zu Boden setzen und sagte
zu Unguf: "Nun treibe du an meiner Stelle meine Herde nach Hause.
Folge nur immer dem ersten Widder, er kennt den Weg ganz genau
und geht nicht fehl." Dann sagte Uachedich zu der alten Mutter des
Mannes mit den blauen Augen: "Steige auf meinen Rücken und laß
dich von mir auf den Schultern tragen. Zeige mir den Weg. Wenn
du deinem Sohne oder sonst jemand ein Wort von dem sagst, was
hier vorgefallen ist, töte ich dich auf der Stelle." Uachedich nahm
die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen auf die Schulter,
den Sack mit den Skorpionen in die Hand und trieb die Herde nach
Hause.
Uachedich gab im Hause den Beutel mit den Skorpionen ab und
sagte: "Hier sind die jungen Vögel. Alle wollten die jungen Vögel
sehen. Alle fuhren mit ihren Händen in den Sack. Alle wurden von
den Skorpionen gebissen. Der Mann mit den blauen Augen sagte:
"Was hast du da gebracht?" Uachedich sagte: "Ich habe junge
Vögel gebracht." Der Mann mit den blauen Augen sagte: "Du
Narr, das sind keine jungen Vögel; das sind Skorpione." Uachedich
sagte: "Ich dachte, es wären junge Vögel."
Uachedich setzte die alte Mutter des Mannes mit den blauen
Augen ab. Die alte Mutter ging mit dem Sohne zur Seite und erzählte
ihm alles, was sich ereignet hatte. Der Mann mit den blauen
Augen sagte: "Dann werde ich diesen Mann töten." Uachedich
hörte das.
Als es Nacht war, legten sie sich nieder zum Schlafen. Ungufs
Platz war neben dem Brunnenschacht, der der alten Mutter des
Mannes mit den blauen Augen ein wenig weiter weg. Als es Mitternacht
war, stand Uachedich auf. Uachedich hörte, daß die alte
Mutter schlief. Die alte Mutter schlief fest. Darauf nahm er sie und
trug sie vorsichtig an seinen Platz. Er legte sich selbst an den Platz
der alten Mutter des Mannes mit den blauen Augen.
Als Mitternacht vorbei war, stand der Mann mit den blauen
Augen auf. Er ging vorsichtig zu der Schlafstelle Ungufs am
Brunnenschacht. Er fand jemand am Brunnenschacht. Er meinte,
es sei Uachedich. Er gab dem Schlafenden einen Stoß. Der Schlafende
fiel, schrie und schlug: plumps, im Wasser auf. Er ertrank.
Der Mann mit den blauen Augen rief: "Ich habe den starken
Schafhirten getötet." Die andern erwachten und schrien: "Der
starke Schafhirt ist getötet." Uachedich sagte: "Nein, ich lebe, Ihr
habt nur Eure alte Mutter getötet. Sie hat es verdient, denn ich
hatte ihr vorher gesagt, daß sie getötet werden würde, wenn sie
nicht schwiege. Da Ihr mich aber töten wolltet, werde ich nun dafür
Eure Schafe mit mir nehmen." Damit machte er die Türe auf, trieb
die Schafe heraus, trieb sie an dem Hause, in dem sein Bruder
schlief, vorbei, weckte und rief seinen Bruder und zog mit ihm und
der Schafherde weiter.
30. Die Erdnüsse der Teriel
Ein Mann war verheiratet mit zwei Frauen. Die ältere hieß
Tun(e)jifs (d. h. soviel wie Gedankenlose, Törichte), die
jüngere Tuachethi (a)chth (d. h. soviel wie Nachdenkliche, Kluge,
Besonnene). Der Mann selbst war sehr faul und liebte es, auf seiner
Matte zu liegen, nichts zu tun und andere für sich arbeiten zu
lassen.
Einmal war im Herbste die Zeit gekommen, in der die Erdnüsse
(= ibauen; in arabisch: ful) ausgelegt wurden. Er rief seine
Frauen und sagte zu ihnen: "Füllt die Erdnüsse heute in einen
Ledersack und legt sie so heute über Nacht in Wasser. Ich will
morgen auf die Farm gehen und die Erdnüsse stecken, damit wir
im Frühling eine gute Ernte haben." Die beiden Frauen füllten
also einen Ledersack mit Erdnüssen und legten ihn, wie er ihnen
geheißen, über Nacht in Wasser. Am andern Tage ergriff der Mann
seine Hacke und den Sack mit den Erdnüssen und ging damit auf
den Acker.
Als der Mann auf die Farm kam, schien die Sonne. Der Mann
sagte: "Es ist sehr angenehm, in der Sonne zu liegen." Er legte also
die Hacke neben sich und sich an eine bequeme Stelle. Den Sack
mit den Erdnüssen hatte er neben sich, und von Zeit zu Zeit griff er
hinein, langte eine Handvoll heraus, knackte die Schalen auf und
verzehrte die Kerne. Als es Abend war, hatte er alle Erdnüsse, statt
sie zu pflanzen, aufgegessen.
Infolge des Genusses der vielen geweichten Erdnüsse hatte der
Mann nun aber Magenschmerzen. Die Magenschmerzen begannen,
als er sich mit der Hacke und dem leeren Lederbeutel auf den Heimweg
machte. Sie wurden, je weiter er ging, desto schlimmer, und
als er in seinem Hause ankam, waren sie so schlimm geworden, daß
er sich lang auf den Boden warf und stöhnte und sich vor Schmerzen
krümmte.
Die beiden Frauen kamen herbeigerannt. Sie bereiteten ihm das
Lager. Sie entkleideten ihn. Sie pflegten ihn die Nacht durch und
sagten klagend zueinander: "Unser armer Gatte hat heute so schwer
gearbeitet. Der arme Mann; er tat zuviel. Wir müssen ihm helfen.
Wir müssen ihn pflegen, daß er sich wieder erholt und wollen ihm,
wenn es wieder einmal eine anstrengende Arbeit gibt, diese abnehmen."
Der Winter verstrich, und es wurde Frühling. Es kam die Zeit,
in der die Erdnüsse geerntet wurden. Die beiden Frauen kamen zu
ihrem Gatten und sagten: "Es wird jetzt Zeit, daß wir die Erdnüsse
aus dem Acker nehmen. Du hast dich im Herbst beim Legen der
Erdnüsse überanstrengt, und wir mußten dich pflegen, daß du nach
der schweren Arbeit, bei der du alle Kräfte ausgegeben hattest,
wieder zu Kräften kamst. Laß du deshalb jetzt die Hände ruhen,
und hast du damals für uns alle drei gearbeitet und uns geschont, so
wollen wir jetzt für dich mit arbeiten, so daß du dich auch einmal
in Ruhe ergehen kannst. Sage uns also nur, auf welchen Acker du
die Erdnüsse gepflanzt hast, dann werden wir morgen schon hingehen
und sie ausnehmen."
Der Mann sann ein wenig nach und dachte: "Diese guten Frauen
denken, ich hätte mich damals überanstrengt und alle Erdnüsse an
einem Tage ausgesteckt; sie können es nicht wissen, daß ich sie alle
aufgegessen und deshalb Magenschmerzen bekommen habe. Was
soll ich nun aber sagen? Die guten Frauen wollen für mich die
Arbeit verrichten an einer Stelle, wo ich weder vorgearbeitet habe,
noch sie mit Arbeit etwas finden können. Ich werde nicht anders
können, als mich mit einer Verschiebung durch Scherz aus der
Sache zu ziehen."
Der Mann sagte zu den Frauen: "Die Stelle ist ziemlich schwer
zu finden, und es kann euch nur so gelingen, den Platz, wo ich die
Erdnüsse ausgesteckt habe, zu erkennen, daß ihr auf den großen
Hügel dort hinten mit einem Sieb geht. Wenn ihr das Sieb mit dein
Reifen auf die Spitze des Hügels stellt und dann den Hügel hinablaufen
laßt, so wird es unten ins Tal rollen. Dort, wo das Sieb
liegen bleibt, dort sind meine Erdnüsse ausgesteckt. Dort könnt
ihr ernten." Die Frauen sagten: "Es ist recht, so werden wir es
machen."
***Die Frauen nahmen ein Sieb und gingen zu dem Hügel. Sie
nahmen ihre Hacken mit und außerdem einen Esel mit Körben,
der die Früchte nach Hause tragen sollte. Sie stiegen erst den Hügel
bis zur Spitze hinauf, stellten dann das Sieb auf die Kante hin und
ließen es die Böschung des Hügels herabrennen. Das Sieb rollte
zum Tal hinab und gerade in ein Feld, das mit wundervollen Erdnüssen
bedeckt war, so daß die Frauen über diesen reichen Segen
sehr erfreut waren. Sie gingen also hinter dem Sieb bis an das
Erdnußfeld, banden an einem nahestehenden Baume ihren Esel an
und begannen die Arbeit.
Das Erdnußfeld, auf welches das Sieb gerollt war, gehörte aber in
Wahrheit einer sehr bösen Teriel, die schon viele Tiere und Menschen
verschlungen hatte, wenn sie unvorsichtigerweise ihre Farm
betraten. Die Teriel sah aus der Entfernung, wie die beiden Frauen
den Hügel herabkamen und hinter dem rollenden Siebe her ihr
Erdnußfeld betraten. Die Teriel freute sich so, daß sie sich vor Vergnügen
hinwarf und ihr Tuch in den Mund steckte, um nicht vor
Übermut zu kreischen. Die Teriel sah, wie die beiden Frauen den
Esel an einen nahen Baum banden und sich an die Arbeit des
Hackens machten.
Die Teriel sah, daß die beiden Frauen so emsig arbeiteten, daß sie
nicht rechts und nicht links hinsahen. Da schlich die Teriel sich zu
dem Baume, an dem der Esel angebunden war. Sie verschlang den
ganzen Esel bis auf die Ohren. Die Ohren ließ sie übrig und befestigte
sie an den Zweigen des Baumes, so daß es aussah, als stände
das Tier noch da und daß die Frauen beim Herüberschauen getäuscht
wurden. Dann ging die Teriel zu den beiden Frauen und
fragte mit einem freundlichen Lachen: "Ar(e)bi akuntjai! (= Gott
helfe euch) ihr schönen jungen Frauen! Was arbeitet ihr denn
da?" Die Altere antwortete: "Wir hacken die Erdnüsse auf und
ernten das, was unser Mann im Herbst ausgesteckt hat." Die Teriel
sagte: "Soso, also euer Gatte hat diese Erdnüsse im Herbst gesteckt?
Dann ist euer Gatte ja ein sehr fleißiger Mann!" Die ältere
Frau sagte: "Ja, er hat an jenem Tage so gearbeitet, daß er krank
und ganz matt nach Hause kam, und zum Danke dafür haben wir
ihm nun die Arbeit des Erntens abgenommen."
Die Teriel sagte: "Wollt ihr nicht mit mir in mein Haus kommen?
Mein Haus ist ganz nahe bei, und ich wünsche euch ein wenig
Brei vorzusetzen. Kommt ein wenig zu mir!" Die ältere Frau
sagte: "Eine kurze Ruhe dürfen wir uns wohl erlauben. Und ein
wenig Essen wird unsere Kräfte heben." Die Teriel führte die
beiden Frauen zu ihrem Haus. Sie rückte ihnen einige Matten und
Kissen zurecht. Sie bereitete ihnen Speise und gab ihnen Milch zu
trinken. Sie sprach mit den Frauen sehr freundlich. Nachdem sie
einige Zeit so gesessen hatten, entschuldigte sich die Teriel und ging
hinaus. Als sie nach einiger Zeit wiederkam, sagte sie: "Ich habe
nur euern Esel untergebracht."
Die jüngere Frau sagte: "Der Esel konnte da unten am Felde
bleiben, denn wir wollen nun wieder weiterarbeiten!" Die Teriel
sagte: "Ich bitte euch, bleibt hier. Bleibt bis zur Nacht. Morgen
früh werde ich euch bei der Arbeit helfen, und dann werdet ihr
schnell damit fertig sein." Die jüngere der beiden Frauen sagte:
"Nein, wir können nicht hierbleiben. Wir müssen zur Nacht wieder
bei unserm Manne sein." Die Ältere sagte: "Wenn wir beide
hierbleiben, wird unser Mann nichts dagegen haben, daß wir die
Nacht bei der freundlichen Frau zubringen und morgen die Arbeit
gleich ganz früh wieder anfangen können!" Die Teriel sagte:
"Siehst du! Man erkennt sogleich, daß du die Kluge und Nachdenkliche,
die Ältere bist. Die andere ist noch ein wenig ängstlich.
Sie ist noch sehr jung und weiß noch nicht, daß eine Frau ihrem
Manne nicht ängstlich nachzulaufen hat wie ein Hund."
Die beiden jungen Frauen blieben. Die Teriel bereitete ihnen
erst noch einmal Essen und dann jeder ein weiches Lager, auf dem
sich beide ausstreckten. Tun(e) jifs (die Ältere, Gedankenlose) legte
sich hin, schlief ein und war bald so tief in Schlaf versunken, als
befände sie sich hier auf ihrer gewöhnlichen Lagerstätte im Hause
ihres Mannes. Tuachethi (a) chth (die Jüngere, Nachdenkliche) blieb
jedoch wach. Sie ahmte die Atemzüge der älteren nach, aber sie
hütete sich davor, in Schlaf zu versinken. Sie achtete auf die Teriel
und erhob sich vorsichtig, sobald sie wahrnahm, daß die Teriel eingeschlafen
war. Die junge Frau stand ganz leise auf. Sie schlich
zur Tür, öffnete sie mit aller Vorsicht und schlich hinaus. Hinter
sich legte sie die Tür wieder an. Dann lief sie von dannen, so schnell
sie konnte. Sie eilte den Hügel, auf dem das Haus stand, hinab und
in dem Tale entlang, das zu dem Dorfe ihres Mannes führte.
Inzwischen erwachte die Teriel. Die Teriel horchte um sich. Sie
hörte die Atemzüge der älteren der beiden jungen Frauen und sie
stand auf. Sie verschlang die ältere der beiden jungen Frauen. Sie
hockte nieder und ruhte einen Augenblick aus. Dann ging sie hin,
um die jüngere der beiden Frauen auch zu verschlingen. Sie kam
an das Lager. Sie fand das Lager leer. Sie ging zur Tür und fand
sie nur angelehnt. Die Teriel sagte: "Die junge Frau war sehr
klug. Sie ist fortgelaufen. Ich werde ihr aber nacheilen, und da
ich schneller laufen kann als sie, so werde ich sie einholen und
verschlingen können, ehe sie noch das Haus ihres Mannes erreicht."
Die Teriel machte sich auf den Weg. Sie lief sehr schnell hinter
der Jüngeren her. Sie kam ganz dicht zu der Jüngeren heran. Die
Jüngere sah zurück. Sie sah, daß die Teriel sie verfolgte und sie
bald einholen würde. Sie sah sich um und gewahrte hinter einem
Baum den Eingang in die Höhle einer Schlange. Sie sprang dorthin
und versteckte sich darin. Die Teriel kam an die Stelle. Sie suchte
sehr lange nach der jungen Frau und lief überall herum. Sie konnte
die junge Frau aber nirgends finden und kehrte nach Hause zurück.
Die junge Frau hockte in der Wohnung der Schlange nieder. Sie saß
in einem Winkel, bis sie hörte, daß die Teriel oben weggegangen
war. Dann sah sie sich um und sah, daß die Schlange, der diese
Höhle gehörte, neben ihr lag. Die Schlange sagte: "Weshalb
kommst du in mein Haus? Was willst du in meiner Wohnung?"
Die junge Frau erschrak und weinte. Sie sagte: "Ich bin eine junge
Frau, die einen faulen und verlogenen Mann hat. Meine einzige
Freundin ist soeben von der Teriel verschlungen worden. Draußen
läuft die Teriel umher und will mich auch verschlingen. Sie sucht
mich, und deshalb habe ich mich bei dir versteckt. Ich bitte dich:
laß mich bei dir bleiben! Ich bitte dich: sei du mein Vater, ich will
dann deine Tochter sein. Ich bitte dich: schwör mir, daß du mir
nichts tun willst." Die Schlange sagte: "Ich will damit einverstanden
sein, will dir auch schwören, daß ich dir nie etwas tun will,
dafür schwöre du aber, daß du meine, deines Vaters, Geheimnisse
niemals jemand verraten willst." Die junge Frau schwor es.
Sie blieb bei der Schlange. Sie nannte die Schlange Vater, und die
Schlange sah die junge Frau als Tochter an. Die Wohnung war
aber ein wenig eng für die Schlange und die junge Frau. Deshalb
nahm die Schlange eine Hacke und erweiterte sie nach allen
Seiten durch Wegkratzen der Mauer. Als die Schlange auch
oben an der Decke einiges abkratzte, nahm sie zuviel Erde fort,
und es entstand eine Öffnung in der Decke, durch die das Licht
eindrang.
Tagsüber ging die Schlange stets fort. Eines Morgens, als die
Schlange wieder weggegangen war, trieb ein Hirt seine Herde über
den Hügel, und eine der Ziegen kam an die Öffnung, die durch die
Erweiterung der Wohnung entstanden war. Die Ziege steckte den
Kopf in die Öffnung und sagte zu der jungen Frau: "Dein Vater ist
eine Schlange, sie wird dich eines Tages verschlingen." Die junge
Frau weinte. Als die Schlange nach Hause kam, weinte die junge
Frau noch. Die Schlange fragte nach dem Grunde, und die junge
Frau erzählte ihr, wie die Ziege sie beleidigt habe. Die Schlange
sagte: "Wenn die Ziege dich wieder derart beleidigt, so antworte
ihr: mein Vater, die Schlange, wird dein Fleisch verzehren und deine
Haut zur Arbeit benutzen. Ich aber, die Tochter der Schlange, werde
deinen Herrn heiraten."
Am andern Tage war die Schlange wieder fort. Da trieb der
Schäfer die Herde auf den Hügel, und die Ziege steckte den Kopf
wieder in die Öffnung und schrie der jungen Frau zu: "Dein
Vater ist eine Schlange, sie wird dich eines Tages verschlingen."
Da antwortete die junge Frau: "Mein Vater, die Schlange, wird
dein Fleisch verzehren und deine Haut zur Arbeit benutzen. Ich
aber, die Tochter der Schlange, werde deinen Herrn heiraten." Die
Ziege ergrimmte und schalt zurück. Die junge Frau antwortete ihr
gelassen. So aber geschah es nun alle Tage.
Die Ziege wurde bei diesem Keifen und aus Angst vor der Wahrheit
der Worte der jungen Frau immer magerer und zuletzt ganz
elend und schlaff. Der Herr der Herde sah das und rief den Schäfer
zu sich und sagte: "Wie kommt es, daß die Ziege so abmagert?
Treibst du sie vielleicht auf eine Weide, auf der schlechte Kräuter
sind?" Der Hirt sagte: "Auf der Weide, auf der ich die Herde jetzt
grasen lasse, stehen die besten Kräuter. Die Ziege steckt aber, statt
zu fressen, den ganzen Tag ihren Kopf in ein Loch und schreit
dahinein und zankt sich mit einem Wesen, das unter der Erde ist.
Ich kann sie davon nicht abbringen." Der Herr sagte: "Ich werde
morgen selbst kommen und das ansehen."
Am andern Tage steckte die Ziege wieder ihren Kopf in die Öffnung
und schalt die junge Frau. Die junge Frau antwortete gelassen.
Der Herr der Ziege stand aber an dem Baume und hörte
erst die Ziege, dann die junge Frau. Er trieb die Ziege fort und
blickte im Vorübergehen in die Öffnung, da sah er die junge Frau,
und er sah, daß sie sehr schön war. Er ging. Der Herr kam aber
wieder und fragte die junge Frau, ob sie ihn zum Gatten haben
wolle, und er fragte die Schlange, ob sie ihm seine Tochter zur Frau
geben wolle. Der Vater und die Tochter waren einverstanden. Als
Brautpreis (=tamamt) bat die Schlange sich einen Ledersack voll
Blut und einen Ledersack voll Eiter aus. Am Tage der Hochzeit
wurde die Ziege geschlachtet, und die Schlange erhielt deren Fleisch
und deren Fell.
Acht Tage, nachdem die junge Frau mit dem Herrn der Herde
verheiratet war, verließ sie (der Sitte gemäß) das Gehöft und suchte
ihren Vater, die Schlange, auf, um zu fragen, wie es ihr gehe. Die
Schlange sagte: "Es geht mir nicht gut, ich habe das Blut und den
Eiter, den ich bei deiner Verheiratung erhalten habe, verzehrt, und
nun habe ich nichts mehr zu essen." Es war nun aber das Geheimnis
der Schlange, daß sie sich von Blut und Eiter nährte, und
als die junge Frau bei der Schlange Unterkunft fand, hatte sie
jener geschworen, dies niemand zu verraten.
Als die junge Frau nach Hause kam, fragte ihr Gatte sie: "Wie
geht es deinem Vater, der Schlange?" Da vergaß die junge Frau
ihren Schwur und sagte: "Es geht meinem Vater, der Schlange,
nicht gut. Sie hat das Blut und den Eiter, den sie bei meiner Verheiratung
mit dir empfing, verzehrt und hat nun nichts mehr zu
essen."
Die Schlange hörte, daß die junge Frau ihren Schwur gebrochen
hatte. Die Schlange schwur, sich zu rächen. Die junge Frau gebar
nach einem Jahr ein Kind. Die Schlange kam heimlich, stahl und
versteckte es. Die junge Frau gebar im folgenden Jahre wieder ein
Kind. Die Schlange kam heimlich, stahl und versteckte es. Die
junge Frau gebar im dritten Jahre wieder ein Kind. Die Schlange
kam abermals, stahl es und versteckte es.
Der Ehemann wurde zornig. Er sagte: "Was soll mir die schönste
Frau, wenn ihre Kinder immer verschwinden!" Der Ehemann
wollte seine Frau verjagen und suchte eine andere Frau. Als er die
andere Frau gefunden hatte, sagte er zu der Mutter der verschwundenen
Kinder: "Morgen werde ich dich verjagen." Die Frau weinte,
sie weinte den Abend über bis in die Nacht hinein. Als es aber
Mitternacht war, kam die Schlange, brachte die drei versteckten
Kinder und sagte: "Das war die Strafe dafür, daß du deinen Schwur
gebrochen hast. Jetzt habe ich dir verziehen." Die junge Frau war
glücklich. Der Ehemann verstieß sie nicht. Er nahm auch nicht
eine zweite Frau.
31. Nuja, die Tochter der Teriel
Ein Mann hatte einen einzigen Sohn, den liebte er ganz außerordentlich.
Deshalb sagte er, als der Knabe geboren war:
"Diesem Knaben soll nichts Gefährliches widerfahren. Der Knabe
soll von allem, was ihm Übles bringen oder antun könnte, ferngehalten
werden. Ich werde den Knaben in einem Zimmer eingeschlossen
halten, so daß nichts von Widrigkeiten des Lebens zu ihm
dringen kann." Der Vater tat so. Er hielt den Knaben eingeschlossen
und abgesperrt in einer Kammer. Um die Neugierde des
heranwachsenden Knaben nicht zu erwecken, sprach er nie mit
ihm von der Natur, dem Dorf, den Menschen. Er besuchte den
Knaben alle Tage und freute sich an ihm. So wuchs der Knabe
heran und wurde größer und größer. Es wurde ein schöner und
starker Bursche.
Die Leute des Dorfes, in dem der Vater seinen Sohn eingeschlossen
hielt, wußten von dem Knaben sehr wenig. Sie wußten nur, daß dem
Vater seinerzeit ein Kind geboren worden war und daß er es ängstlich
eingeschlossen hielt. Ob dieses Kind aber ein Knabe oder ein
Mädchen war, das blieb ihnen unbekannt. Denn der Vater sprach,
aus Furcht, die Neugierde der Leute zu reizen, mit ihnen niemals
über sein Kind. Je weniger die Leute nun aber von dem Kinde
hörten, desto neugieriger wurden sie. Sie begannen nach einiger
Zeit, sich damit abzuwechseln, den Vater zu beobachten, wie er an
die Kammer ging, in der das Kind eingeschlossen war. Sie versteckten
sich zu diesem Zweck auf den Dächern der Häuser. Die
Leute des Dorfes schlichen nachts zu dem Gehöft und horchten auf
alle Geräusche. Auf dem Männerplatze fragten die Alten den Vater
dann und wann nach dem Befinden des Kindes. Sobald sie das aber
taten, verließ der Vater die Leute, ohne erst ihre Fragen beantwortet
zu haben. Der Knabe wurde ein großer, starker und schöner
Bursche, ohne daß die Leute im Dorfe mehr von ihm wußten, als
daß dem Vater vor langen Jahren einmal ein Kind geboren war,
daß er seitdem so sorgfältig versteckt hielt, daß die Leute nicht einmal
wußten, ob es ein Knabe oder ein Mädchen sei.
Eines Tages nun wollte der Vater auf mehrere Tage verreisen,
ging deshalb in die Kammer, in der sein Sohn lebte und sprach zu
ihm: "Mein Sohn, ich will einmal über Land wandern und werde
dich infolgedessen zum ersten Male, seitdem du geboren bist,
während mehrerer Tage nicht sehen. Gräme dich deswegen nicht
und kümmere dich überhaupt nicht darum. Um dich zu unterhalten,
denke nur an alle die Stunden, die ich hier bei dir verbracht
habe, und du wirst keine Langeweile verspüren. Denke nicht an
das Dorf und die Leute draußen und kümmere dich um all das nicht.
Das Dorf und die Leute sind viel zu gleichgültig, um einen Gedanken
zu verdienen. Wenn sie aber zu dir hineinzudringen versuchen,
so verbiete ihnen den Eintritt, damit sie dir nichts Schlimmes
tun, denn sie sind stark und gewalttätig, und ich würde vor
Kummer sterben, wenn du mir unter den Leuten umkommen würdest."
Dann nahm der Vater Abschied und wanderte von dannen.
Als der Vater gegangen war, streckte der Bursche sich auf seinem
Lager aus und sagte bei sich: "Mein Vater sagt mir, daß die Leute
im Dorf stark und gewalttätig sind. Ich habe nie einen von diesen
Leuten gesehen. Ich kenne nur meinen Vater. Meinem Vater haben
sie, seitdem ich mich erinnern kann, nie etwas getan. Mein Vater
ist immer gleich, und er ist niemals verwundet, zerschlagen oder
mißhandelt zu mir gekommen. Meinen Vater haben diese starken
Leute also niemals mißhandelt. Mein Vater ist aber nicht im entferntesten
so groß und stark wie ich. Wenn mein Vater nun stark
genug ist, um sich der Leute erwehren zu können, so bin ich es doch
also sicherlich auch. Ach, wenn ich doch einmal versuchen dürfte,
wer stärker ist, die gewalttätigen Leute oder ich!"
Als der Vater abgereist war, traten die Leute untereinander zusammen
und sagten einer zum andern: "Jetzt ist der Vater für
mehrere Tage über das Land weggegangen. Jetzt wäre der Augenblick
gegeben, um sich einmal zu überzeugen, was eigentlich an
diesem Kinde daran ist. Jetzt könnte man in Erfahrung bringen,
ob es ein Mädchen oder ein Bursche ist." Die Leute sagten: "Diese
Gelegenheit wird sobald nicht wiederkommen; wir müssen sie deswegen
ergreifen." Die Leute gingen zu einer alten Frau und sagten
zu ihr: "Liebe Alte, wir haben dich gebeten, zu uns zu kommen,
weil wir eine Sache unternommen haben möchten, die wir in deine
Hände geben, weil du die Einzige bist, die klug und erfahren genug
ist, sie durchzuführen. Du weißt, daß der Mann, der heute auf
Reisen gegangen ist, vor langen Jahren Vater eines Kindes wurde,
das er immer eingeschlossen hielt, so daß wir es bis heute noch
nicht zu Gesicht bekommen haben. Jetzt ist der Vater für längere
Zeit verreist, und wir würden dir ein reiches Geschenk geben, wenn
du es erreichtest, daß das Kind in diesen Tagen, in denen der Vater
abwesend ist, einmal die Kammer, in der es eingeschlossen ist,
verläßt und unter uns tritt, so daß wir sehen, ob es ein Mädchen
oder ein Bursche ist." Die Alte sagte: "Schwört mir, daß ihr mir
ein gutes Geschenk machen wollt, dann will ich es tun." Die Leute
sagten: "Wir schwören es."
Die Alte ging in das Gehöft des Mannes, der abgereist war und
direkt in die Kammer, in der der Vater den Burschen eingeschlossen
hielt. Die Alte klopfte. Der Bursche sagte: "Wer ist dort?" Die
Alte sagte: "Es ist nur eine alte Frau, die eine eilige Bestellung hat
und diese, da dein Vater verreist ist, an dich weitergeben möchte,
so daß damit die Sache erledigt ist." Der Bursche sagte: "So komm
herein!" Die Alte trat in die Kammer. Sie schloß die Tür hinter
sich und sah sogleich, daß das Kind des abwesenden Mannes ein
starker, schöner Bursche war.
Die Alte sagte: "Es ist schwer, dir zu sagen, was ich zu bestellen
habe, denn ich weiß nicht, was du von der Sache weißt, da du
wohl immer hier eingeschlossen warst?" Der Bursche sagte: "Das
ist richtig, ich war immer eingeschlossen. Sage mir doch aber, was
es ist. Ist es eine Sache, die für mich zu stark und gewalttätig ist,
so daß ich sie nicht aufnehmen kann? Sage mir doch überhaupt, ob
die Leute so stark und gewalttätig sind, daß ich nicht mit ihnen
fertig werde? Bin ich wirklich schwächer als andere Leute?" Die
Alte betrachtete den Burschen und sah wieder, daß er stark und
schön war. Die Alte lachte.
Die Alte sagte: "Du bist der stärkste und schönste Bursche im
ganzen Dorfe. Und ich komme ja gerade, weil ich hörte, daß du
stärker bist als andere. Draußen ist nämlich das Pferd deines
Vaters, das keiner reiten kann. Dein Vater hat seinen Knecht mitgenommen.
Nun wollte ich dich fragen, ob du es unternehmen
willst, heute einmal das Pferd zu reiten. Die andern Burschen
können es nicht. Du allein bist stark genug." Der Bursche sagte:
"Laß das Pferd herbeiführen, ich will es sogleich versuchen."
Die Alte ging hinaus. Sie sagte zu den Leuten, die sie gesandt
hatten, daß sie das versteckte Kind des abwesenden Mannes herausrufe:
"Ihr Leute, geduldet euch einen Augenblick. Das versteckte
Kind des abwesenden Vaters wird sogleich herauskommen. Haltet
also das Geschenk, das ihr mir versprochen habt, bereit!" Als die
Alte das gesagt hatte, liefen die versammelten Leute auseinander
und riefen alle Freunde und Verwandte, die aus den Häusern und
Gehöften noch nicht herausgekommen waren, zusammen. Nach
einiger Zeit war die ganze Straße dicht mit Leuten gefüllt, und auf
dem Platze vor dem Gehöft des abwesenden Mannes drängten sich
die Leute in Scharen. Die Männer standen in Gruppen in der Mitte,
die Frauen mehr an der Seite. Alle blickten auf das Tor des Gehöfts.
Der Bursche war aus der Kammer getreten. Er sah den Hof, er
sah das Pferd. Er befühlte das Pferd und bestieg es. Er hieß die
Hoftür öffnen. Er ritt durch die Hoftür auf den Platz. Er sah die
Masse der Menschen. Er sah die Menge der dichtgedrängt stehenden
Männer. Der Bursche sagte sich: "Mein Vater hat gesagt, daß die
Leute gewalttätig sind. Diese Männer wollen mich sicherlich umbringen.
Deshalb haben sie sich in dieser Menge versammelt. Sie
sind aber alle nicht stärker als ich, und ich werde sie mit meinem
Pferd niederreiten." Der Bursche stieß das Pferd in die Seiten, daß
es aufstieg. Er stieß es wieder, daß es nach vorn sprang. Er zwang
das Pferd, zwischen die Männer zu reiten. Er ritt die Männer nieder.
Sein Pferd tötete die Männer mit den Hufen. Er schlug vom Pferde
zwischen die Männer, daß sie blutend, verwundet oder betäubt zu
Boden sanken! Die Männer drängten sich angstvoll zur Seite. Die
Frauen kreischten und verkrochen sich in den Häusern. Der
Bursche ritt über den Platz und dann den Weg hinab. Er sagte:
"Die Leute sind sicherlich nicht stärker als ich." Der Bursche lenkte
das Pferd zur Quelle, damit es saufen könne.
Die Leute im Dorfe schrien und kreischten. Sie trugen die Toten
und Verwundeten fort. Sie jammerten und riefen laut: "Wo ist die
Alte, die den gewalttätigen Burschen unter uns gebracht hat! Die
Alte soll zur Rechenschaft gezogen werden. Die Alte ist daran
schuld, daß so viele getötet und verwundet worden sind." Die Alte
versteckte sich. Die Leute fanden sie aber und zogen sie aus ihrem
Versteck heraus und bedrohten sie. Die Alte wehklagte und sagte:
"Erst habt ihr geschworen, mir ein Geschenk geben zu wollen, wenn
ich das versteckte Kind des abwesenden Mannes aus dem Hause
unter euch bringe. Und jetzt, wo ich das, worum ihr mich batet,
erfüllt habe, jetzt bedroht ihr mich. Wollt ihr derart euern Schwur
halten?"
Die Leute sagten aber: "Wir wollen dir dein Geschenk nicht vorenthalten.
Wir wollen es dir geben, ganz wie wir es geschworen
haben. Wir geben es dir aber nicht eher, als bis du den Burschen,
den du unter uns brachtest, auch wieder weggeschafft hast. Wir
verlangen das von dir. Denn wenn du den Burschen herbeischaffen
konntest, kannst du ihn auch wieder wegschaffen. Tue dies schnell,
damit er nicht noch mehr Schaden anrichtet; denn sonst bringen
wir dir jeden Schaden, der aus seiner Kraft und Gewalttätigkeit entsteht,
bei Auszahlung des Geschenkes in Anrechnung. Bist du damit
einverstanden oder nicht?" Die Alte sagte: "Ihr seid mir, einer
alten Frau gegenüber, nicht gerecht; ich will aber sehen, was ich
tun kann." Die Alte ging von dannen.
Die Alte ging dem Burschen nach und kam an die Quelle, wo er
das Pferd saufen lassen wollte. Die Alte ging an ihm vorüber und
hockte an der Quelle nieder. Sie nahm ihren Stock und rührte damit
auf dem Boden der Quelle den Sand auf. Das Wasser wurde trübe.
Das Pferd wollte trinken und senkte den Kopf. Das Wasser war
aber so trübe, daß das Pferd den Kopf wieder hob und nicht trank.
Der Bursche wurde wütend und sagte: "Alte, weshalb verunreinigst
du das Wasser so, daß mein Pferd nicht davon trinken will. Mach,
daß du fortkommst oder ich reite dich nieder!"
Die Alte sagte: "Ho! Ho! Ho! Sei nicht so stolz. Du hast die
Nuja (oder Nuscha) noch nicht geheiratet!" Der Bursche sagte:
"Wer ist die Nuja? Weshalb soll ich sie nicht heiraten können. Ich
kann es gerade so gut wie ein anderer Mann. Schnell sage mir den
Weg zu der Nuja." Die Alte sagte: "Die Nuja ist ein sehr schönes
Mädchen. Sie ist aber die Tochter der Imaschada. Die Imaschada
ist eine Teriel, die alle Menschen verschlingt, die in ihre Nähe kommen.
Diese Teriel wohnt mit ihrer schönen Tochter in jenem*
großen Walde, der ganz weit dort drüben liegt. Nur ein sehr kluger
und starker Mann kann die Nuja zur Frau gewinnen. Der Mann
aber, dem das gelingt, der hat ein Recht, stolz auf seine Klugheit
und Kraft zu sein."
Der Bursche ließ sein Pferd saufen. Dann ritt er von dannen, dem
großen Walde zu. Die Alte kehrte zurück in das Dorf und sagte zu
den Leuten: "Ihr habt mir ein Geschenk zugeschworen, wenn ich
das versteckte Kind des abwesenden Mannes unter euch bringe.
Nachdem ich dies bewerkstelligt habe, verlangtet ihr, ich sollte das
Kind des abwesenden Mannes auch wieder entfernen und verspracht
mir, das Geschenk mir danach aushändigen zu wollen. Ich
habe den Burschen zu der Teriel Imaschada geschickt. Die wird ihn
verschlingen. Gebt mir das Geschenk, das ihr mir zugeschworen
habt!"
Die Leute waren froh darüber, daß das versteckte Kind des abwesenden
Mannes entfernt war. Sie gaben der Alten das Geschenk.
Der Bursche ritt einen Tag lang nach Westen. Am Abend kam er
an ein Dorf. Er fragte, ob jemand ihm den Weg zur Nuja zeigen
könne. Kein Mensch im Dorfe wußte, wer Nuja sei. Der Bursche
blieb über Nacht in dem Dorfe, brach am andern Tage früh auf und
ritt bis zum Abend immer nach Westen. Abends kam er in ein
Dorf. Er fragte, ob jemand ihm den Weg zur Nuja zeigen könne.
Aber auch in diesem Dorfe wußte niemand, wer Nuja sei. Und so
ritt der Bursche sieben Tage lang, täglich vom Morgen bis zum
Abend, und an jedem Abend stieg er in einem Dorfe ab und fragte
nach Nuja. Die Leute des Dorfes, das er am siebenten Tage erreichte,
wußten aber ebenfalls so wenig zu sagen, wer Nuja sei, wie
die Leute im Rastort des ersten Tages.
Am achten Tage kam der Bursche in den großen Wald, und
nachdem er lange darin geritten war, sah er in der Entfernung
ein Haus. Er stieg vom Pferde, band das Pferd an und ging auf das
Haus zu. Er klopfte. Die Tür ward geöffnet und ein sehr schönes
Mädchen trat heraus. Der Bursche sagte: "Du bist sicherlich Nuja!"
Das Mädchen sagte: "Was hat dich hierher geführt?" Der Bursche
sagte: "Dein leuchtend schönes Antlitz hat mich hierher geführt."
Nuja fragte: "Was willst du von mir?" Der Bursche sagte: "Ich
will dich zur Frau gewinnen." Nuja sagte: "Weißt du denn nicht,
daß ich die Tochter der Teriel Imaschada bin, die alles, was in die
Nähe kommt, verschlingt?" Der Bursche sagte: "Was kümmert
mich der Hunger deiner Mutter! Ich bin deines leuchtend schönen
Antlitzes wegen hergekommen und will dich heiraten." Nuja sagte:
"Wer bist du?" Der Bursche sagte: "Ich bin das Kind, das der
Vater versteckt gehalten hat, bis es erwachsen war, und das erst
vor sieben Tagen den Himmel gesehen hat." Nuja sagte: "Dann
komm herein. Ich will dich zuerst vor meiner Mutter verstecken;
meine Mutter kommt vom Acker, wenn die Sonne untergeht."
Nuja versteckte den Burschen in der Baerka.
Als es Abend war, kam die Teriel vom Felde heim und betrat das
Gehöft. In dem Augenblick begann der Hahn zu schreien und
sang (!): "Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt. Nuja hat
einen Mann in der Baerka versteckt! Nuja hat einen Mann in der
Baerka versteckt!" Die alte Teriel hörte nicht recht, denn sie war
etwas taub. Die alte Teriel rief infolgedessen ihre Tochter und sagte:
"Nuja, der Hahn singt heute ohne Aufhören. Ich kann ihn aber
nicht verstehen. Was singt er eigentlich ?" Nuja sagte: "Der Hahn
singt: ,Morgen will ich getötet werden. Die Mutter soll meinen
Kopf und meinen Schwanz essen, und die Tochter soll das andre
essen!'" Die Teriel sagte: "Ai! Ai! Ai! also so singt der Hahn.
Nun dann töte ihn nur morgen früh, koche ihn und gib mir den
Kopf und den Schwanz und iß du selbst das andere!" Nuja sagte:
"Ich werde es tun."
Am andern Tage schlachtete Nuja ganz früh den Hahn. Darauf
ging die alte Teriel auf den Acker. Sobald sie aber fort war, kam
der Bursche aus der Baerka heraus und unterhielt sich mit Nuja.
Nuja bereitete den Hahn, legte Kopf und Schwanz beiseite und aß
mit dem Burschen. Sie gab dem Burschen die besten Stücke. Als
der Abend hereinbrach, stieg der Bursche wieder in die Baerka.
Die alte Teriel kam mit einbrechender Nacht nach Hause. Nuja
setzte ihr das Essen vor und hatte dabei den Schwanz und den Kopf
auf den Brei gelegt. Die Alte aß. Während sie aß, begann der
Widder zu schreien und sang: "Nuja hat einen Mann in der Baerka
versteckt! Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt! Nuja hat
einen Mann in der Baerka versteckt!" Die alte Teriel hörte den
Widder singen und rief: "Nuja, meine Tochter, komme doch einmal
her und sage mir, was der Widder heute eigentlich in einem fort
singt. Ich höre heute etwas schwer." Nuja sagte: "Der Widder
singt: ,Morgen will ich geschlachtet werden. Die Mutter soll meinen
Kopf und meinen Schwanz essen, und die Tochter soll das übrige bekommen!'"
Die Teriel sagte: "Ai! Ai! Ai! Also so singt der Widder.
Nun, dann schlachte ihn nur morgen früh. Koche ihn, gib mir
Kopf und Schwanz und iß du selbst das andere!" Nuja sagte: "Ich
werde es tun."
Am andern Morgen schlachtete Nuja vor Tag den Widder.
Darauf ging die alte Teriel ganz früh zur Arbeit. Sobald sie weg
war, stieg der Bursche aus der Baerka und unterhielt sich mit Nuja.
Nuja bereitete den Widder, legte Kopf und Schwanz beiseite und
aß mit dem Burschen. Sie gab, wie am Tage vorher, dem Burschen
die besten Stücke. Der Bursche sagte: "Heute Nacht wollen wir
uns auf den Rückweg in mein Dorf machen." Nuja sagte: "Es ist
mir recht. Ich werde sehen, wann meine Mutter am festesten
schläft." Als der Abend hereinbrach, stieg der Bursche wieder in
die Baerka.
Die alte Teriel kehrte mit einbrechender Nacht nach Hause
zurück. Nuja brachte ihr den Brei, auf den sie den Kopf und den
Schwanz des Widders gelegt hatte. Die Mutter begann zu essen.
Nuja saß neben ihr und fragte: "Wann in der Nacht schläfst du
eigentlich am festesten, meine Mutter?" Die alte Teriel sagte: "Ich
schlafe dann am festesten, wenn die Frösche, die ich tagsüber gegessen
habe, in meinem Bauche zu quaken beginnen." — Kurze
Zeit nachher streckten sich die alte Teriel und die Tochter jede auf
ihrem Lager aus. Nuja schlief aber nicht. Sie wartete und horchte
zu dem Lager der Mutter hinüber.
Als es Mitternacht war, hörte Nuja, daß die Frösche im Leibe
ihrer Mutter zu quaken begannen. Erst quakten die Frösche nur
leise, nachher wurden sie lauter. Da erhob sich Nuja, schlich zu
der Baerka und weckte den Burschen. Sie sagte: "Komm schnell!
Meine Mutter, die Teriel, schläft jetzt ganz fest." Nuja half dem
Burschen zur Baerka hinaus, öffnete die Haustür und dann schlüpften
beide hinaus.
Der Bursche lief mit Nuja von dannen, so schnell er konnte. Sie
liefen, bis sie an einen Wald kamen. Der Wald war dicht. Sie
kamen im Walde nur ganz langsam vorwärts. Nuja sagte: "Guter
Wald aus Seide (=la'hrir, also wie im Arabischen) laß mich doch
hindurch! Ich bitte dich!" Da wurde der Wald weich wie Seide.
Nuja konnte mit dem Burschen bequem hindurch. Dann liefen sie
wieder schnell von dannen, so weit und so schnell es nur möglich
war.
Nachdem sie wieder ein gutes Stück gelaufen waren, kamen sie an
einen breiten Fluß, der war geschwollen und so hoch mit Wasser
gefüllt, daß der Bursche mit Nuja nicht hindurchkam. Da sagte
Nuja zum Flusse: "Du guter Fluß von Honig und Milch, laß mich
doch hindurch! Ich bitte dich!" Da sank die Schwellung des Flusses,
und er wurde seicht und zeigte ein Bett. Nuja und der Bursche
konnten, ohne den Fuß zu benetzen, hindurchgehen. Dann liefen
sie wieder weiter.
Die Teriel erwachte inzwischen. Sie rief laut nach ihrer Tochter.
Die Tochter antwortete nicht. Die Teriel rief abermals. Die Tochter
antwortete wieder nicht. Die Teriel rief zum drittenmal, und als
die Tochter abermals nicht antwortete, stand sie auf, ging zum
Lager Nujas, um zu sehen, weshalb ihre Tochter nicht antwortete.
Da sah sie, daß Nuja nicht auf ihrem Lager war. Sie sah, daß
der Deckel der Baerka weggenommen war. Sie sah, daß die Haustüre
offen stand. Sie erkannte, daß Nuja fortgelaufen war und
rannte, so schnell sie konnte, hinter Nuja und dem Burschen her.
Die Teriel konnte sehr schnell laufen. Sie konnte schneller laufen
als Nuja und der Bursche. Nach einiger Zeit kam sie aber an den
Wald, und der Wald war so dicht, daß sie nur sehr langsam vorwärts
kam. Da fluchte sie und sagte: "Du schmutziger Wald der Wildschweine!
Schnell, laß mich hindurch!" Der Wald ergrimmte. Er
wurde dichter und dichter. Die Teriel kam nur mit der größten
Mühe und sehr langsam vorwärts. Als sie endlich wieder im Freien
war, rannte sie so schnell wie möglich hinter Nuja und dem Burschen
her.
Die Teriel lief sehr schnell. Sie lief viel schneller als Nuja und der
Bursche laufen konnten. Sie kam ganz dicht an Nuja und den
Burschen heran. Nuja und der Bursche waren gerade drüben auf
das andere Ufer gekommen und eilten weiter, da langte die Teriel
auf jener Seite des Flusses an. Der Fluß war wieder mit Wasser gefüllt,
und die Teriel sah, daß sie nicht über den Fluß hinweg kam.
Da fluchte sie und schrie: "Du schmutziger Kotfluß! Schnell, laß
mich hindurch!" Darüber wurde der Fluß zornig und stieg und
stieg und wurde so reißend, daß er große Bäume und Felsblöcke mit
sich fortschwemmte.
Die Teriel sah, daß sie nicht über den Fluß hinwegkommen und
daß Nuja ihr mit dem Burschen auf der andern Seite des Flusses
entfliehen würde. Sie stieg auf einen Baum und schrie laut: "Nuja!
Nuja! Nuja!" Nuja hielt an im Laufen und antwortete: "Hier sind
wir!" Die alte Teriel hörte Nuja und fluchte: "Du und dein Mann
ihr sollt schwarz wie Kochtöpfe werden!" Nuja antwortete und rief:
"Meine Mutter, denke, daß du meine Mutter bist! Denke, daß ich
meinen Gatten vor dir schützen muß. Sprich nicht so schlechte
Worte zum Abschied. Sprich gute Worte mit deiner Tochter!" Die
Teriel dachte daran, daß Nuja ihre Tochter sei. Die Teriel vergaß
ihren Zorn und ihre Wut. Die Teriel rief: "Gut denn! Du hast
recht, Nuja. Ich will dich also zur Sonne und deinen Mann zum
Mond machen." Nuja rief: "Ich danke dir, meine Mutter!"
Nuja und der Bursche gingen weiter. Die alte Teriel saß noch auf
dem Baume. Die alte Teriel rief nach einiger Zeit: "Nuja! Nuja!
Nuja!" Nuja antwortete: "Hier sind wir, meine Mutter!" Die
Teriel rief: "Noch eines muß ich dir sagen, meine Tochter! Wenn
ihr auf dem Wege zwei Adler trefft, die sich streiten, so trennt sie
nicht!" Nuja sagte: "Ich danke dir, meine Mutter!" Die Alte stieg
vom Baume und ging nach Hause. Nuja und der Bursche gingen
weiter, auf das Dorf des Burschen zu.
***Nuja und der Bursche gingen immer weiter. Sie waren schon
ganz dicht am Dorfe des Vaters des Burschen, da sahen sie eines
Tages zwei Adler, die miteinander stritten. Der Bursche ging auf
sie zu. Nuja wollte den Burschen durch Zurufe zurückhalten. Der
Bursche hörte nicht. Der Bursche trennte die beiden Streitenden.
Einer der beiden Adler packte darauf aber den Burschen und nahm
ihn unter den Flügel.
Der Bursche wurde vom Adler weggetragen. Er rief Nuja aber
noch zu: "Gehe auf jene Weide zu. Die Kühe dort sind die Kühe
meines Vaters, die von einer Negerin gehütet werden. Gehe dorthin,
schlage die Negerin tot, ziehe die Haut ab und selbst über. Abends
wird dir die Herde heimkehrend den Weg in das Gehöft meines
Vaters zeigen. Man wird dich für die Negerin halten, und du bist
so gut untergebracht." Der Adler flog langsam mit dem Burschen
von dannen.
Nuja ging dahin, wo der Bursche ihr die Weide der Rinder seines
Vaters gezeigt hatte. Sie fand die Negerin, die die Herde hütete.
Nuja trat auf die Negerin zu, erschlug sie und zog ihr die Haut ab.
Die Haut zog Nuja über. Nuja sah nun aus wie die Negerin. Abends
zog die Herde, ohne daß Nuja sie zu treiben brauchte, allein nach
dem Dorfe und in das Gehöft, in dem sie zu Hause war. Nuja ging
immer hinterher, und so kam sie, ohne es nötig zu haben, jemand zu
fragen, richtig im Gehöft des Vaters ihres Gatten an. Im Gehöft
beachtete niemand die Negerin. Sie legte sich in ihren Winkel, und
kein Mensch kam in dem Gehöft auf den Gedanken, daß unter der
schwarzen Haut jemand anders als die alteingesessene Negerin
stecken könnte. — Nuja schlief sogleich ein.
Am andern Morgen trieb die schwarze Nuja die Rinderherde wieder
auf die Weide, und am Abend kehrte sie mit der Rinderherde
zurück. Am zweiten Abend hatte Nuja sich aber schon mehr ausgeruht,
und sie blieb deswegen länger wach und hörte alle Geräusche
des Gehöfts. So hörte sie denn, wie in der Kammer nebenan
der Vater ihres Gatten, ehe er einschlief, weinte und laut klagte:
"Wenn ich doch wüßte, ob mein Sohn gestorben ist oder ob er noch
lebt! Mein Sohn hat mich verlassen und ich weiß nicht, was aus
ihm geworden ist. Ich habe meinen Sohn beschützt und gehütet;
ich habe ihn versteckt gehalten, um alle Gefahr von ihm fernzuhalten.
Und nun ist er doch verschwunden, ohne daß ich weiß, was
aus ihm geworden ist." Erst spät in der Nacht verstummte die Klage
des Vaters.
Die schwarze Nuja trieb am andern Tage die Herde auf die Weide;
sie blieb aber nicht mehr immer am gleichen Platze, sondern sie
trieb sie bald hierhin, bald dorthin. Jeden Abend kam sie, wie am
ersten Tage, von der gleichen Seite zur selben Stunde nach Hause;
jede Nacht hörte sie die Klage des Vaters; jeden Morgen brach sie
zur gleichen Zeit mit der Herde auf. Tagsüber war sie bald hier,
bald dort und achtete dabei auf die Flügel der Adler, die vom hohen
Berge herabkamen. Sie lernte so die einzelnen Adler und ihr Gebaren
sehr genau kennen.
***Eines Morgens sagte sie, ehe sie die Herde auf die Weide trieb, zu
dem Vater: "In dieser Nacht habe ich einen guten Traum gehabt,
den ich dir erzählen möchte, denn er handelt von deinem Sohn,
der nun so lange verschwunden ist." Der Vater sagte: "Erzähl' mir
sogleich!" Die schwarze Nuja sagte: "Dein Sohn erschien mir im
Traume, rief mich an und sagte: ,Negerin! sage meinem Vater, er
solle einen Stock nehmen und einen Ochsen auf jene Wiese dort
treiben, auf der des Mittags immer die Adler zusammenkommen.
Mein Vater soll auf der Wiese den Ochsen schlachten und sein
Fleisch den Adlern zum Fraße anbieten. Die Adler werden kommen
und sich auf das Fleisch stürzen, um es zu fressen. Er soll mit
dem Stock in der Hand daneben stehen und wohl aufmerken. Einige
Adler werden ganz schnell fliegen, schnell kommen und schnell
gehen. Einige sind ganz alt oder ganz jung, diese werden langsamer
fliegen und kommen und gehen. Ein Adler wird aber ganz langsam
kommen und schwerfällig hüpfen, trotzdem er weder ganz jung
noch ganz alt ist. Mein Vater wird diesen Adler daran erkennen,
daß er den einen Flügel kaum gebrauchen kann. Diesen Adler soll
mein Vater im Auge behalten, und sobald er in seine Nähe kommt,
soll er mit dem Stock auf ihn schlagen. Der Adler wird dann seine
Flügel senken, und ich werde unter dem Flügel herabfallen, denn
dieser Adler hält mich unter seinem Flügel gefangen.' —So hat mir
dein Sohn gesagt."
Der Vater sagte: "Negerin, kannst du mir genau die Weide sagen,
die mein Sohn gemeint hat?" Die schwarze Nuja sagte: "Ja, ich
kann es." Da wählte der Vater einen feisten Ochsen, ergriff einen
Stock und sagte zur schwarzen Nuja: "Geh voran und zeige mir den
Weg!" Die schwarze Nuja ging voran. Sie führte den Vater dahin,
wo sie die Adler hatte von den Bergen herabkommen und spielen
sehen. Sie sagte: "Diesen Platz hat dein Sohn mir gewiesen." Der
Vater schlachtete sogleich den Ochsen und warf den Adlern das
feiste Fleisch hin. Die Adler kamen von allen Seiten. Einige flogen
schnell, andere langsamer, weil einige stark und jung, andere schon
zu alt oder noch nicht ausgewachsen waren. Zuletzt kam aber ein
starker großer Adler langsam angeflogen, der zog einen Flügel halb
hängend nach und hüpfte, als er zur Erde gekommen war, schwerfällig
einher.
Die schwarze Nuja sagte zu dem Vater: "Dieser Adler dort muß
es sein, der deinen Sohn unter dem Flügel gefangen hält. Warte,
bis der Adler ganz nahe herangekommen ist und schlage auf ihn!"
Der Vater nahm den Stock fest in die Hand. Er ließ den Adler ganz
dicht herankommen, dann sprang er auf ihn zu und schlug ihn
mit aller Kraft auf den Rücken. Sowie der Adler getroffen war,
breitete er seine Flügel hängend zum Fortfliegen aus, und sogleich
fiel etwas Großes und Schweres unter dem Flügel zu Boden. Das
war der Sohn des Vaters, der Gatte Nujas.
Der Vater schrie vor Freude. Der Vater geleitete seinen Sohn
nach Hause. Der Vater sagte: "Wir wollen ein großes Fest veranstalten."
Der Sohn sagte: "Warte, mein Vater. Warte noch acht
Tage, dann werde ich heiraten." Der Vater sagte: "Wen willst du
heiraten?" Der Sohn sagte: "Warte acht Tage, dann werde ich es
dir sagen."
Nachdem die acht Tage verflossen waren, sagte der Vater zum
Sohne: "Wir wollen ein Fest veranstalten. Du willst heiraten und
das ist recht, denn du bist in dem gehörigen Alter. Sage mir nun,
welches Mädchen du heiraten willst." Der Sohn sagte: "Mein Vater,
ich will die Negerin heiraten, die unser Vieh hütet!" Der Vater erschrak.
Der Vater sagte: "Was sagst du? Du willst die Negerin
heiraten? Bedenke doch, daß du der Sohn einer guten Familie bist.
Du wirst uns entehren, indem du die schlechte Negerin heiratest."
Der Sohn sagte: "Mein Vater, es hilft alles Reden nichts. Ich werde
es tun." Darauf wurde der Vater sehr traurig, und wenn die schwarze
Nuja sich abends auf ihrem Lager ausstreckte, hörte sie, wie der
Vater in seiner Kammer über die schlechte Absicht seines Sohnes
weinte und jammerte.
Das große Fest wurde aber doch veranstaltet. Viele Freunde
und Verwandte kamen von allen Seiten. Viele spotteten über die
schwarze Negerin, die der Sohn heiraten wolle. Der Bursche sagte:
"Was tut ihr? Ihr lacht? Wißt ihr, daß kein einziger von euch
eine Frau hat, auf deren Besitz er so stolz sein kann wie ich? Seht
nun, wie meine schwarze Negerin aussieht, wenn man sie näher betrachtet!"
Der Sohn schlang eine Schnur um die schwarze Negerin und zog
sie daran an der Decke auf. Sodann schlug er mit einem Stocke
nach ihr. Da fiel die schwarze Haut von Nuja, und sie zeigte sich
nun allen in ihrer leuchtenden Schönheit.
32. Die Lebenslampen der Teriel
Ein Jäger jagte eine lange Zeit mit allen seinen Brüdern und
Verwandten in einer Gegend. Eines Tages aber hatten er und
seine Leute alle Tiere in diesem Gebiet abgejagt, und es gab nun
nichts mehr. Da rief der Jäger alle seine Angehörigen zusammen
und sagte: "Wir haben alles getötet, was hier im Lande zu erjagen
war. Nun wollen wir ein anderes Gebiet aufsuchen. Bereitet euch
zu der Wanderung vor." Der Jäger zog dann mit seinen sieben
Frauen und seinen Brüdern und Angehörigen weiter.
Der Jäger siedelte sich in einem Gebiete an, in dem eine Teriel
wohnte, was ihm und seinen Angehörigen zunächst unbekannt war.
Diese Teriel hatte die Gewohnheit, sich in eine Kamelstute zu verwandeln
und im Walde und in der Steppe in dieser Gestalt umherzuwandern.
Traf die Kamelstute dann einen einzelnen Mann, so
pflegte sie ihn unversehens mitsamt seinem Pferde zu verschlingen.
Traf sie mehrere Leute auf einmal, so unternahm sie nichts, sondern
graste gelassen vor sich hin. So kam es denn, daß der Jäger
einen seiner Brüder und Angehörigen nach dem andern verlor und
daß keiner der Jäger, die allein auszogen, je wieder heimkehrte.
Zuletzt blieb er mit einem einzigen Bruder noch übrig.
Der Jäger sagte sich: "Jedesmal, wenn einer von meinen Leuten
allein zur Jagd aufgebrochen ist, kam er nicht wieder. Ich will nun
sehen, was die Ursache ist und wem ich den Verlust, der mich so betroffen
hat, zu verdanken habe."
Er rief den letzten seiner Brüder herbei und sagte: "Führe mein
Pferd an die Quelle dort jenseits des Dorfes und laß es saufen." Der
Bruder bestieg das Pferd und ritt von dannen. Der Jäger aber folgte
ihm heimlich und wohl verdeckt durch das Gebüsch.
Der Jäger sah nun, wie der Bruder auf dem Pferde bis zur Quelle
ritt, wie dann die Kamelstute, die dort gerade graste, herankam und
unversehens den Bruder mitsamt dem Pferde verschlang. Darüber
erschrak der Jäger so, daß er aufsprang und von dannen lief, in dem
Bestreben, in der größtdenkbaren Geschwindigkeit das nächste Dorf
zu erreichen. Das aber sah die Kamelstute. Der Jäger lief sehr
eilig auf das Dorf zu. Die als Kamelstute verwandelte Teriel rannte
ebenso schnell hinter ihm her.
Der Jäger lief in das Dorf und sprang auf den Platz, wo die
Männer versammelt waren und auf steinernen Bänken in der Runde
saßen. Der Jäger setzte sich auf eine der Steinbänke mitten zwischen
die andern Männer. Gleich darauf kam die in eine Kamelstute
verwandelte Teriel am Dorfe an. Sie legte die Gestalt der Kamelstute
ab und betrat als ein sehr schönes Mädchen in herrlicher
Kleidung das Dorf. Sie ging durch das Dorf und begab sich sogleich
auf den Platz, wo die Männer saßen. Alle Männer sahen sie erstaunt
an, denn sie war sehr schön. Der Jäger erschrak, denn er sah, daß
es die Teriel war, die als Kamelstute alle seine Angehörigen auf
der Jagd verschlungen hatte.
Das schöne Mädchen setzte sich auf eine Steinbank, so daß es
zwischen den Jäger und einen andern Mann zu sitzen kam. Die
Männer waren über die Schönheit des Mädchens so erstaunt, daß
keiner ein Wort zu sagen wagte. Das Mädchen aber sagte zu den
Männern: "Ich bin ein Mädchen, das hierhergekommen ist, um zu
heiraten. Ich will einen Mann heiraten, der stärker ist, als ich es
bin. Wer von euch mit mir ringt und mich als erster zu Boden
wirft, den werde ich heiraten. Ich werde aber keinen von denen,
die ich zu Boden zu werfen imstande bin, heiraten." Alle Männer
bis auf den Jäger standen auf und jeder bat, ihm den Vortritt im
Ringen zu überlassen, denn jeder meinte, das schöne Mädchen überwinden
zu können. Das schöne Mädchen warf aber einen nach dem
andern zu Boden, so daß zuletzt nur noch der Jäger da war, der sich
aber nicht zum Ringen gemeldet hatte.
Das schöne Mädchen trat auf den Jäger zu. Das schöne Mädchen
sagte: "Willst du nicht auch mit mir ringen. Du bist der einzige,
der nicht um mich wirbt, und gerade mit dir möchte ich kämpfen."
Der Jäger sah, daß es ein sehr schönes Mädchen war. Er wußte
aber auch, daß es dieselbe Teriel war, die als Kamelstute seine
Brüder und Angehörigen verschlungen hatte. Der Jäger fürchtete
sich. Er stand nur langsam auf, als das schöne Mädchen ihn zum
Ringen aufforderte. Er trat aber doch dem schönen Mädchen entgegen,
denn er schämte sich vor den andern Männern, Furcht zu
zeigen.
Der Jäger faßte das schöne Mädchen zögernd an. Er hatte sie
nur erst berührt, da fiel das Mädchen auch schon zu Boden und
sagte: "Du hast mich besiegt! Du bist der einzige von allen, die mit
mir gerungen haben und die ich nicht besiegte, deshalb werde ich
deine Frau werden." Der Jäger sah, daß das Mädchen schön war.
Aber er sah auch, daß er dem Mädchen nicht entgehen konnte und
daß er sie zur Frau nehmen müßte. Der Jäger heiratete die Teriel.
Einige Tage, nachdem er mit der Teriel verheiratet war, sagte er
zu ihr: "Ich will jetzt in mein Jagdgebiet gehen. Bleibe du hier.
Ich werde von Zeit zu Zeit zu dir kommen und für dich sorgen."
Die Teriel sagte: "Nimm mich mit in dein Jagdgebiet." Der Jäger
sagte: "Das kann ich nicht, denn im Jagdgebiet ist meine Familie.
Da sind alle meine Angehörigen, die Söhne meiner Brüder, meine
Vettern und meine sieben Frauen. Du aber bist eine Teriel und
würdest sie alle verschlingen." Die Teriel sagte: "Ich schwöre, daß
ich keinem deiner Anverwandten etwas tun werde, denn ich bin
jetzt mit dir verheiratet. Nur deine sieben Frauen, die schaffe fort,
denn mit diesen kann ich nicht im Guten leben. Diese sieben Frauen
und die Kinder, die du von andern Frauen hast, werde ich verschlingen."
Der Jäger sah, daß er seine Frauen nicht vor der Teriel
werde schützen können, wenn er sie nicht sehr gut versteckte. Er
sah auch, daß die Teriel unbedingt mit ihm in sein Jagdgebiet würde
kommen wollen. Er sagte deshalb zu seiner schönen Frau, der
Teriel: "Warte hier, ich will meine sieben Frauen erst fortschaffen,
denn ich will nicht, daß du sie und die Kinder, die sie erwarten, verschlingst.
Habe ich sie fortgeschafft, so komme ich zurück und hole
dich in mein Jagdgebiet."
Der Jäger ging sogleich nach Hause. Er grub nahe dem Dorfe,
das er mit seinen Verwandten im neuen Jagdgebiet bewohnte, ein
gewaltiges Loch in die Erde. Er machte Kammern hinein und stellte
alles hin, was zum Leben notwendig war. Vor allem brachte er so
viele Nahrungsmittel hinunter, daß die sieben Frauen auf lange
Monate daran genug haben mußten. Dann hieß er die sieben
Frauen, die alle seit kurzem guter Hoffnung waren, aber ihre Kinder
in verschiedenen Zeitabständen erwarteten, eintreten, tröstete
sie, zeigte ihnen alles und deckte das Ganze dann mit einem flachen
Dache und Erde so zu, daß niemand die Behausung unter der Erde
erkennen konnte.
Nachdem er dies getan hatte, kehrte er in das Dorf zurück, in dem
er die Teriel geheiratet hatte und brachte die junge schöne Frau in
sein Dorf zu seinen Verwandten. Und die Teriel hielt, was sie geschworen
hatte, sie verschlang keinen der Verwandten des Jägers
mehr.
Inzwischen gebar unter der Erde die älteste der sieben Frauen ihr
Kind. Die Frauen jammerten, und die ältesten sechs Frauen sagten:
"Was soll nun mit diesem und nachher mit unsern sechs Kindern
werden. Wir können uns hier nicht einmal selbst ordentlich ernähren.
Wie sollen wir unsere Kinder großziehen!" Die sechs
ältesten Frauen klagten und jammerten. Nur die jüngste der sieben
Frauen klagte und jammerte nicht, trotzdem sie auch guter Hoffnung
war. Die sechs ältesten Frauen beschlossen, das erste der
bisher in der unterirdischen Wohnung geborene Kind sogleich zu
töten, es in sieben Teile zu zerlegen und zu verzehren. Sie taten so.
Sie töteten das Kind und gaben jeder ein Stück. Sie alle verzehrten
das, was sie erhalten hatten. Nur die Jüngste legte ihr Stück beiseite,
hob es auf und genoß es nicht.
Nach einem Monat gebar die zweite Frau ihr Kind. Wieder jammerten
und wehklagten die ältesten sechs Frauen. Wieder beschlossen
sie, das Kind zu töten. Wieder teilten sie das getötete
Kind und verzehrten eine jede ihren Anteil bis auf die Jüngste der
sieben Frauen. Sie bewahrte das ihr zugewiesene Stück auf.
Jeden Monat gebar eine andere unter den Frauen. Nach sechs
Monaten hatten die ältesten sechs Frauen ihre Kinder geboren, getötet,
verteilt und ihre Anteile aufgegessen. Nur die siebente und
jüngste unter den Frauen bewahrte ihre Anteile auf und genoß
nichts davon. Im siebenten Monate kam aber auch sie nieder, und
kaum hatte sie ihren Knaben geboren, so kamen die ältesten sechs
Frauen und forderten sie unter Jammern und Wehklagen auf, nun
auch gleich ihnen zu tun, ihren Knaben zu töten und mit den andern
zu teilen.
Die jüngste der sieben Frauen, die soeben ihren Knaben geboren
hatte, hörte alles mit an und sagte dann: "Ich werde dies nicht so
tun wie ihr!" Da wurden die andern sechs böse und sagten: "Du
hast von jeder von uns ein Stück ihres Kindes gegessen und nun
fordern wir das gleiche zurück." Die Jüngste sagte: "Ihr irrt euch.
Ich habe das nicht gegessen, vielmehr gebe ich euch hiermit das,
was ihr mir gegeben habt, zurück." Und sie überreichte die Teile
der sechs erstgeborenen Kinder den Müttern. Dann sagte sie: "Ich
werde mein Kind nicht töten. Ich werde ihm alles geben, was wir
ihm bieten können, und ich glaube, daß es groß und stark werden
wird, ohne daß euch deshalb etwas abgehen soll." Die ältesten
sechs Mütter sagten gar nichts. Sie verzehrten die Teile ihrer Kinder,
die sie von der jüngsten Frau zurückerhalten hatten, und
kümmerten sich nicht weiter um die jüngste Frau und ihr Kind.
Das Kind der jüngsten Frau war schon stark und kräftig, als
es geboren wurde. Es wuchs schnell auf und lernte sehr schnell
laufen. Das Kind begann bald mit Stöcken und Steinen zu spielen.
Eines Tages durchbohrte das Kind einen Stein, steckte ihn an die
Spitze eines Stockes und begann damit an der Decke der unterirdischen
Kammer zu kratzen. Der Knabe kratzte und kratzte und
hörte nicht eher auf, als bis die Decke, mit der die unterirdische
Wohnung von dem Jäger versehen war, durchgescheuert war und
nun das Tageslicht hereinfiel.
Der Knabe lief zu seiner Mutter und sagte: "Meine Mutter, sage
mir, was ist das?" Die Mutter sagte: "Das ist das Licht der Sonne.
Die Menschen leben sonst nicht wie wir unter der Erde, sondern
unter dem hellen Himmel auf der Erde." Der Knabe fragte:
"Meine Mutter, weshalb leben wir denn im Dunkeln unter der Erde,
wenn die andern Menschen im Licht auf der Erde wohnen?" Die
Mutter sagte: "Dein Vater ist ein großer Jäger. Deshalb hat eine
Teriel deinen Vater gezwungen, sie zu heiraten, und damit die
Teriel nun uns, die andern Frauen deines Vaters und dich, seinen
Sohn, nicht frißt, hat er uns diese Wohnung unter der Erde gebaut,
und deshalb wohnen wir im Dunkeln." Der Knabe hörte zu, was
seine Mutter sagte. Als seine Mutter weggegangen war, öffnete er
das Loch in der Decke noch mehr. Alle Tage erweiterte er die
Öffnung.
Wenige Tage nachher war der Knabe schon so stark, daß er an
den Stützbalken zur Decke hinaufklettern konnte. Der Knabe stieg
durch die Öffnung in der Decke heraus. Er sah den Himmel vor
sich. Er sah den Himmel; er sah die Bäume und Farmen. Er sah
das Dorf seines Vaters. Doch wußte er nicht, daß dies das Dorf
seines Vaters war. Am Eingang des Dorfes hatte ein Mann, der geschickt
im Backen war, ein langes Brett neben sich gelegt, das war
bedeckt mit Sphensch (= Backwerk). Der Mann verkaufte das
Backwerk an Vorübergehende. Der Knabe setzte sich neben den
Mann und sah ihm, ohne zu sprechen, bei seinem Geschäft zu. Von
Zeit zu Zeit reichte er dem Manne dieses und jenes oder hob ihm
etwas Heruntergefallenes auf. Den ganzen Tag über half er dein
Bäcker, und abends erhob er sich und wollte gehen. Der Mann hatte
an dem Tage alles verkauft. Es war nur ein einziges Stück Backwerk
übriggeblieben. Als der Knabe gehen wollte, sagte er: "Hier! nimm
dies mit!" Der Knabe bedankte sich und sagte: "Ich bitte dich,
leihe mir für einen Augenblick dein Messer!" Der Mann gab es ihm,
und der Knabe schnitt das Backwerk in acht Teile. Er gab dem
Mann das Messer zurück, aß eines der acht Teile und lief fort zu dem
Loche, durch das er die Behausung der sieben Frauen verlassen
hatte.
Der Knabe stieg durch die Öffnung in der Decke herab, er ging
zu seiner Mutter und gab ihr ein Stück von dem Backwerk. Er ging
zu den älteren sechs Frauen und gab ihnen von dem Backwerk. Die
Mutter war glücklich über ihren Sohn. Die Mutter bedankte sich
und sagte: "Ich habe um dich Schmerzen gelitten. Du zahlst aber
mit Freuden zurück." Die ältesten sechs Frauen begannen jedoch
zu klagen und zu jammern, und sie schrien: "Oh, warum haben wir
unsere sechs Kinder getötet! Hätten wir nicht unsere Kinder getötet
und gegessen, so würden sie jetzt auch hingehen und Backwerk
für uns erwerben und uns bringen." Die ältesten sechs Frauen
waren sehr traurig.
Am andern Morgen stieg der Knabe abermals durch die Deckenöffnung
auf die Erde und lief wieder zu dem Manne, der vor dem
Dorfe Sphensch verkaufte. Der Knabe half dem Manne tagsüber
bei seinem Geschäft, erhielt abends sein Stück Backwerk, teilte es
und brachte es heim. Gerade so wurde es auch am dritten Tage,
und am vierten Tage saß der Knabe wieder bei dem Manne und verkaufte
mit ihm Backwerk.
An diesem vierten Tage ging der große Jäger, der der Vater des
Knaben und der Gatte der Teriel und der sieben eingeschlossenen
Frauen war, vorüber. Der Vater sah den Knaben und fragte den
Mann, der das Backwerk feilhielt: "Was hast du dir denn da für
einen Gehilfen angeschafft?" Der Mann sagte: "Dieser Knabe
kommt jeden Morgen von dort unten und steigt da aus dem Loche,
er hilft mir tagsüber ein wenig, und ich gebe ihm abends dann ein
Stück Backwerk. Das Stück teilt er in acht Teile und verzehrt eins
davon. Die andern sieben trägt er in das Loch." Der Jäger betrachtete
den Knaben und fragte: "Wem bringst du die sieben
Stücke von dem Backwerk?" Der Knabe sagte: "Ich bringe ein
Stück meiner Mutter und die andern den ältesten sechs Frauen
meines Vaters, die mit meiner Mutter dort unten wohnen." Als der
Jäger das gehört hatte, wußte er mit Gewißheit, daß der Knabe sein
Sohn und dessen Mutter seine Gattin war. Der Jäger sagte das dem
Knaben aber nicht. Er wandte sich jedoch an den Mann, der das
Backwerk verkaufte und sagte: "Gib diesem Knaben jeden Tag
statt des einen acht Stück Backwerk. Ich werde es dir bezahlen."
Dann ging der Jäger weiter.
Der Knabe brachte nun an jedem Abend seiner Mutter und den
älteren sechs Frauen sieben Stück Backwerk, und es herrschte große
Freude darüber. Die Tage brachte er bei dem Manne zu, der das
Backwerk feilhielt. Der Jäger kam nun oftmals vorüber und sah
nach dem Knaben. Er kaufte ihm Kleider und was er sonst nötig
hatte. Er sandte durch den Knaben alles in die unterirdische Behausung,
was da vonnöten war, aber er sagte zu dem Knaben niemals,
daß er sein Vater sei, und der Knabe wußte es nicht. Der
Jäger wollte nicht, daß der Knabe von seiner schönen Frau, der
Teriel, als sein Kind erkannt werde.
Als es Herbst wurde und die Feigen zu reifen begannen, suchte
der Jäger den Knaben bei dem Verkaufen des Backwerkes auf und
sagte zu ihm: "Komm mit mir." Der Jäger führte den Knaben zu
seiner Farm und zeigte ihm die Feigenbäume. Er sagte zu ihm:
"Sieh, diese Feigenbäume gehören mir, und ich gebe dir die Erlaubnis,
jede Nacht zu kommen und von den Feigenbäumen*für
deine Mutter zu nehmen, soviel du willst. Trage also reichlich da.
von zu den sieben Frauen unter der Erde, merke dir aber eines recht
genau: es ist sehr möglich, daß einmal eine Frau hierher kommt,
die sehr schön anzusehen, aber eine Teriel ist. Wenn diese Frau
dich hier trifft und dich fragt, wer deine Mutter oder dein Vater sei'
so darfst du nicht das sagen, was du davon weißt und darfst nichts
davon verlauten lassen, daß du eine Mutter unter der Erde hast.
Die Teriel würde dich sogleich verschlingen. Sie würde zu deiner
Mutter und den andern sechs Frauen hinuntersteigen und sie verschlingen.
Wenn die Teriel kommt und dich fragt, wer dein Vater
und deine Mutter sind, so antworte: ,Ich habe eine Mutter, das ist
ein Feigenbaum'." Der Knabe versprach dem Vater, dies sich
genau einprägen zu wollen.
Jede Nacht stieg der Knabe nun auf den Feigenbaum, pflückte
die Feigen und brachte sie seiner Mutter und den andern sechs
Frauen in die Behausung unter der Erde. Die Mutter war sehr
glücklich. Die älteren sechs Frauen aßen die Feigen, dann weinten
und jammerten sie aber und sagten: "Hätten wir unsere Kinder
nicht getötet und gegessen, so würden sie jetzt auch auf die Erde
steigen und uns Feigen bringen."
Eines Nachts stieg der Knabe wieder durch die Öffnung auf die
Erde und ging zu den Feigenbäumen auf der Farm des Jägers. Er
stieg auf seinen Feigenbaum und pflückte Früchte. In dieser Nacht
ging die Teriel aber auch auf die Farm ihres Mannes, des Jägers,
um einige Feigen zu pflücken. Als sie zu dem größten Feigenbaum
kam, sah sie, daß ein Knabe darauf saß, den sie nicht kannte. Die
Teriel schlich sich an den Baum und packte den Knaben unversehens
an einem Fuß. Die Teriel fragte sogleich den Knaben:
"Sage mir, wer dein Vater ist?" Der Knabe antwortete: "Ich habe
einen Vater, das ist ein Feigenbaum." Die Teriel sagte: "Sage mir,
wer deine Mutter ist!" Der Knabe sagte: "Ich habe eine Mutter,
das ist ein Feigenbaum." Die Teriel sagte: "Wenn es so ist, so
komme getrost herunter, ich tue dir nichts." Der Knabe kam mit
seinen Feigen herunter und lief von dannen.
In der folgenden Nacht verließ der Knabe wieder durch die Öffnung
in der Decke die Behausung unter der Erde, kam herauf und
stieg auf seinen Feigenbaum, um Früchte zu pflücken. Nach einiger
Zeit kam wieder die Teriel, packte ihn am Fuße und sagte: "Sage
mir, wer dein Vater ist." Der Knabe sagte: "Ich habe einen Vater,
das ist ein Feigenbaum." Die Teriel fragte: "Sage mir, wer deine
Mutter ist?" Der Knabe sagte: "Ich habe eine Mutter, das ist ein
Feigenbaum." Da war die Teriel wieder beruhigt und ließ ihn
laufen, ohne ihm etwas zu tun. Und genau so fragte sie den Knaben,
als sie ihn in der dritten Nacht auf dem Feigenbaum getroffen
und am Fuße gepackt hatte. Der Knabe antwortete auch wieder:
"Ich habe einen Vater, das ist ein Feigenbaum, und ich habe eine
Mutter, das ist ein Feigenbaum," worauf die Teriel sich auch das
drittemal nicht weiter um den Knaben kümmerte.
In der folgenden (vierten Nacht) kam der Knabe durch die Öffnung
wieder auf die Erde herauf und ging auf die Farm des Jägers,
um von den Feigenbäumen Früchte zu pflücken. Er bestieg den
großen Feigenbaum und war noch nicht lange dort oben, so kam die
Teriel, packte ihn am Fuße und sagte: "Sage mir, wer dein Vater
ist." Der Knabe antwortete: "Ich habe einen Vater, das ist der
Feigenbaum." Die Teriel sagte: "Sage mir, wer deine Mutter ist."
Der Knabe sagte: "Ich habe eine Mutter, das ist der Feigenbaum."
Die Teriel sagte: "So höre denn, was ich dir sagen werde! Ich bin
eine verheiratete Frau und habe keine Kinder. Ich will nun dich
an Kindesstatt annehmen und in Zukunft deine Mutter sein. Mein
Mann, der ein großer Jäger ist, wird dein Vater sein. Du sollst es
bei uns gut haben." Der Knabe sagte: "Ich fürchte mich, daß du
mich essen willst, denn ich habe als Vater und Mutter nur den
Feigenbaum, der mich nicht schützen kann." Da schwor die
Teriel und sagte: "Nein, ich werde dir nichts tun. Ich werde dich
halten wie mein eigenes Kind." Als die Teriel derart geschworen
hatte, stieg der Knabe von dem Feigenbaum herab. Die Teriel
nahm den Knaben auf den Rücken und trug ihn so in das Dorf.
Sie trug den Knaben zu dem Hause des Jägers.
Die Teriel betrat das Haus und rief ihren Mann. Der Jäger kam.
Die Teriel sagte zu dem Jäger: "Ich habe diesen Knaben in deiner
Farm auf einem Feigenbaum gefunden. Sein Vater und seine
Mutter sind ein Feigenbaum. Nun habe ich keine Kinder, und ich
habe mich deshalb entschlossen, den Knaben als unser Kind anzunehmen.
Du und ich, wir wollen dem Knaben Vater und Mutter
sein. Ich habe ihm geschworen, daß ich ihn nicht verschlingen
werde." Der Jäger sah, daß die Teriel seinen eigenen Sohn an
Kindesstatt angenommen und mitgebracht hatte. Da wurde er
sehr froh und lobte den Entschluß seiner schönen Frau, der Teriel.
Die Teriel sorgte für den Knaben. Sie gab ihm gut zu essen und
pflegte ihn. Der Jäger sah es mit großer Freude. Er sagte aber zu
dem Knaben noch nicht, daß er sein Vater sei.
Inzwischen wartete die Mutter unter der Erde darauf, daß ihr
Sohn mit den Feigen wie sonst kommen würde. Der Knabe kam
in dieser Nacht nicht wieder. Er kam nicht am andern Tage und
nicht in der andern Nacht. Der Knabe blieb fort. Die Mutter
weinte. Die älteren sechs Frauen weinten und sagten: "Nun bringt
uns der Knabe kein Brot und keine Feigen mehr." Die Mutter
weinte und weinte. Die andern sechs Frauen sagten: "So ist es nun,
wenn man einen Sohn aufzieht. Wenn er größer ist, verliert man
ihn doch. Dann ist der Schmerz um so größer. Wir haben doch
sehr gut daran getan, daß wir unsere Kinder töteten und aufaßen,
als sie eben erst geboren waren."
Die Mutter weinte und weinte. Sie sagte für sich: "Sicherlich ist
mein Knabe von der schönen jungen Frau meines Gatten, von der
Teriel, diesmal verschlungen worden."
Als der Knabe von der Teriel so gut gepflegt wurde, wurde er
schnell groß und stark. Die Teriel sah ihn nun jeden Tag vorn
Morgen bis zum Abend, und sie begann ihren Schwur zu bereuen,
da der Knabe so ausgezeichnet gedieh. Die Teriel sagte bei sich:
"Ich selbst kann den Knaben nicht verschlingen, ohne meinen
Schwur zu verletzen. Ich werde ihn aber, da er jetzt so ausgezeichnet
herausgefüttert ist, meiner Schwester schicken, die wird schon
wissen, was sie mit ihm zu machen hat."
Die Teriel rief eines Tages den Knaben zu sich und sagte: "Ich
fühle mich nicht gesund und benötige ein starkes Mittel. Geh des.
wegen zu meiner Schwester und verlange von ihr die Leber der
Kamelstute, die täglich für sie arbeitet. Wenn du ohne die Leber
der Kamelstute zurückkehrst, verschlinge ich dich. Du weißt also,
woran du bist." Damit schickte die Teriel den Knaben fort.
Der Knabe ging und sagte sich: "Die Teriel will mich also entweder
selbst verschlingen oder mich durch ihre Schwester verschlingen
lassen. Ich will sehen, ob ich einen Rat bekommen
kann." Der Knabe ging zu Amrar Asemeni (dem alten Ratgeber)
und sagte: "Die Teriel, welche den Jäger geheiratet hat, hat mich
an Sohnes Statt angenommen. Sie hat mir damals geschworen,
daß sie mir nichts tun wolle. Heute aber sendet sie mich zu ihrer
Schwester, der Teriel im Walde, und verlangt von mir, ich solle
die Leber der Kamelstute jener von dort mitbringen. Wenn mir
das nicht gelänge, würde sie mich verschlingen."
Amrar Asemeni sagte: "Du kannst der Teriel entgehen. Wenn
du tagsüber dorthin kommst, verstecke dich. Die Teriel kommt erst
abends nach Hause. Dann wird sie sich an den Mühlstein setzen
und Mehl mahlen. Um es sich bequem zu machen, wird sie ihre
langen Brüste rückwärts über die Schulter werfen und die Mahlarbeit
beginnen. Schleiche dich dann von hinten heran und ergreife
unversehens eine der nach hinten herabhängenden Brüste und
sauge daran. Sobald du an den Brüsten der Teriel gesogen hast,
wird sie dich wie ihr eigenes Kind aufnehmen und dir nichts tun.
Die Leber der Kamelstute und den Rückweg wirst du mit eigener
Klugheit zu gewinnen verstehen müssen." Der Knabe bedankte
sich und ging.
Der Knabe machte sich auf den Weg und kam nach einer langen
Wanderung zu dem Hause der Teriel. Die Teriel war noch nicht
angekommen, und der Knabe versteckte sich. Als es Abend war,
kam die Teriel. Die Teriel legte sofort ihr Oberkleid ab, warf Körner
in den Trichter der Mühle, warf die Brüste über die Schulter und
begann zu mahlen. Vorsichtig erhob der Knabe sich aus seinem
Versteck, schlich sich von hinten an die mahlende Teriel, packte
eine der herabhängenden Brüste und begann zu saugen.
Die Teriel wandte sich sogleich um und sagte: "Wer ist da? Was
machst du da?" Der Knabe sagte: "Ich bin dein Verwandter, ich
bin der Sohn deiner Schwester, der schönen Frau, die den großen
Jäger geheiratet hat, und du bist meine Tante. Deine Schwester hat
mich zu dir geschickt, damit du mich als deinen Neffen kennen
lernst." Als die Teriel das hörte, war sie sehr zufrieden. Sie begrüßte
den Knaben und fragte ihn: "Wie geht es deiner Mutter,
meiner Schwester?" Der Knabe sagte: "Meiner Mutter, deiner
Schwester, geht es ausgezeichnet, und sie hat mir ausdrücklich anbefohlen,
dir dies zu versichern." Die Teriel sagte: "Das freut mich!
Das freut mich! Warte, mein Neffe, nun werde ich dir ein gutes
Abendessen bereiten. Komme hinüber in die andere Kammer."
Inzwischen kam die Kamelstute herein und legte sich in einen
Winkel zum Schlafen nieder. Der Knabe sagte: "Ist dies die Kamelstute,
die für dich arbeitet und von der meine Mutter mir erzählt
hat?" Die Teriel sagte: "Ja, das ist die Kamelstute. Nun bleibe du
hier, ich will das Mehl fertig mahlen und dann das Essen bereiten."
Die Teriel ging hinaus. Die Teriel ging an die Mühle und fuhr in
ihrem Mahlgeschäft fort.
Der Knabe erhob sich. Er vergewisserte sich, ob die Kamelstute
schlief. Dann zog er sein Messer heraus, schnitt der Kamelstute den
Hals durch, schlitzte ihr den Bauch auf und trennte die schwarze
Leber heraus. Die Leber steckte er in das Kleid, stahl sich unbemerkt
von der mehlmahlenden Teriel ins Freie und rannte so
schnell er konnte dem Dorfe seines Vaters, des großen Jägers, zu.
Nachdem die Teriel ihr Mehl fertig gemahlen hatte, kehrte sie in
die andere Kammer, in der sie den Knaben gelassen hatte, zurück.
Sie sah ihn nicht und rief ihn. Der Knabe antwortete nicht. Sie
suchte ihn und fand ihn nicht. Sie kam in den Winkel, in dem die
getötete Kamelstute lag und sah, was geschehen war. Sie wurde
zornig und lief hinaus. Sie wollte den Knaben einholen, fangen
und verschlingen. Sie lief sehr weit, ohne ihn einholen zu können.
Endlich gab sie es auf. Sie kehrte langsam nach Hause zurück.
Der Knabe setzte seinen Weg fort, bis er nach Hause kam. Er trat
in die Kammer. In der Kammer saß die schöne Frau seines Vaters,
die Teriel. Die Teriel fragte ihn: "Was, du bist wiedergekommen?
Weshalb warst du nicht bei meiner Schwester, der Teriel?" Der
Knabe sagte: "Ich war bei deiner Schwester, der Teriel. Es geht
deiner Schwester, der Teriel, sehr gut und sie läßt dich sehr grüßen
und dir alles Gute wünschen." Die Teriel sagte: "Weshalb hast du
mir die schwarze Leber der Kamelstute meiner Schwester nicht mitgebracht?"
Der Knabe sagte: "Ich habe dir die schwarze Leber der
Kamelstute deiner Schwester mitgebracht. Hier ist sie." Der Knabe
legte die schwarze Kamelleber vor die Teriel hin. Die Teriel sah,
daß es die schwarze Leber der Kamelstute ihrer Schwester war.
Die Teriel sagte bei sich: "Meine Schwester kann unmöglich die
Kamelstute, die für sie alle Arbeit verrichtet, getötet haben. Dieser
Knabe muß das allein getan haben." Die Teriel fragte den Knaben:
"Wie konntest du es wagen, die Kamelstute, die für meine Schwester
die Arbeit verrichtet, zu töten!" Die Knabe sagte: "Du hast
mir gesagt, daß du mich verschlingen würdest, wenn ich dir die
Kamelleber nicht brächte. Hätte ich deine Schwester erst um die
Kamelleber gebeten, so wäre sie so zornig geworden, daß sie mich
verschlungen hätte. Ich wollte aber nicht verschlungen werden, und
so habe ich dort die schwarze Leber der Kamelstute ohne zu fragen
genommen und habe sie jetzt hier, wie du von mir verlangt hast,
zur Herstellung deiner Gesundheit hingelegt." Die Teriel sagte
laut: "Es ist gut."
Die Teriel sagte bei sich: "Das ist nicht gut!" Die Teriel ging unruhig
umher. Ihr Mann, der große Jäger, fragte sie: "Was fehlt
dir? Dir ist nicht wohl!" Die Teriel sagte: "Ah, mir ist sehr wohl!"
Die Teriel ging aber doch unruhig umher und sagte bei sich: "Das
ist nicht gut. Der Knabe, den ich zu mir genommen habe, ist eine
große Gefahr für uns. Weshalb habe ich auch geschworen, ihn
nicht verschlingen zu wollen! Was kann ich nun tun, den Knaben
zu vernichten?" Die Teriel ging unruhig umher.
Eines Tages rief die Teriel den Knaben und sagte zu ihm: "Ich
habe noch acht Schwestern. Das sind acht gute alte Spinnerinnen.
Es sind die unter meinen Schwestern, die gut und deshalb die Verwalterinnen
unserer Schätze sind. Bei ihnen wirst du gut aufgehoben
sein. Geh also zu ihnen, grüße sie und frage sie, was sie
von meinem Wohlergehen wüßten. Sage ihnen, daß ich sie grüßen
lasse, und sie würden schon wissen, wie sie dir ihre Freundschaft
beweisen könnten." Der Knabe ging. Der Knabe sagte sich:
"Wenn schon die eine Schwester so ein gefährliches Geschöpf war,
wie schlimm mögen erst diese acht sein. Ich werde mir lieber Rat
holen." Der Knabe ging wieder zu Amrar Asemeni und sagte: "Ich
bitte dich heute noch einmal um Rat. Die Teriel, die den großen
Jäger geheiratet hat, sendet mich heute zu ihren acht Schwestern,
welche Spinnerinnen und Verwalterinnen der Schätze sind, damit
ich dort gut aufgehoben sein soll. Die Teriel hat mich beauftragt,
den acht Schwestern Grüße zu senden und sie zu fragen, was sie
vom Wohlergehen der Teriel, die mich sendet, wüßten. Ich soll
ihnen sagen, sie würden schon wissen, wie sie mir ihre Freundschaft
beweisen könnten."
Amrar Asemeni sagte: "Mein Knabe, der Auftrag, den die Teriel
gegeben hat, ist derart, daß, wenn du ihn ausführst, du auf keinen
Fall lebendig davonkommen kannst. Diese acht Teriel sind die
bösesten Geschöpfe, die es auf dieser Erde gibt. Sie verschlingen
alles, was an Menschlichem in ihre Nähe kommt. Wenn die Terie
sie durch dich fragen läßt, was sie von ihrem Wohlergehen wüßten
und dich ihnen gleichzeitig sagen heißt, sie würden schon wissen'
wie sie dir ihre Freundschaft beweisen könnten, so werden die acht
spinnenden Teriel, die die Wahrer und Hüter des Lebens der zeh'1
Schwestern sind, sogleich verstehen, daß die Teriel, die dich sendet,
von dir für ihr Wohlergehen Nachteil erwartet und daß sie deswegen
von ihren acht Schwestern erwartet, daß sie dich freundschaftlich
verschlingen. Du darfst also auf keinen Fall das bestellen, was die
Teriel dir aufgetragen hat. Wohl aber kannst du zu den acht
Schwestern gehen, ohne daß du dich einer allzu großen Gefahr aussetzt.
Höre meinen Ratschlag:
"Diese acht Schwestern pflegen auf einer steinernen Bank zu
sitzen und Wolle zu spinnen. Sie haben aber keine gewöhnlichen
Spindeln, sondern benutzen statt dessen die Keulen von Eseln.
Diese schweren Spindeln ermüden sie sehr. Nimm also acht Spindeln
aus Holz mit, wie sie bei uns hier gebräuchlich sind. Lege
ihnen, wenn sie einmal ermüdet fortgegangen sind, jeder eine
Ti[r]th didt (=Spindel; Plural: Titherdein) hin. In der Freude über
diese Gabe werden sie dich freundlich aufnehmen. Nachher sieh
zu, daß sie dir ihre Schätze zeigen. Das Weitere ist aber so schwierig,
daß ich es deiner eigenen Klugheit überlassen muß, ob du mit dieser
großen Sache fertig wirst oder nicht."
Der Knabe besorgte sich sogleich acht Spindeln und machte sich
dann auf den Weg. Nach einer langen, sehr langen Wanderung kam
er bei dem Gehöft der acht Teriel an. Der Knabe stieg auf einen
erhöhten Stein und hielt von da aus Umschau. Er sah die steinerne
Bank, auf der die acht Schwestern zu sitzen und zu spinnen pflegten
und sah, daß die acht Schwestern gerade ermüdet fortgegangen
waren und daß die Steinbank leer war. Da schlich er sich sogleich
zu der Bank, legte auf jeden Sitz eine der mitgebrachten hölzernen
Spindeln und kroch dann unter die Steinbank.
Der Knabe hatte noch nicht lange gesessen, da kamen die acht
Teriel zurück. Eine jede trug die als Spindel dienende Eselskeule
und alle acht seufzten unter der Last und bei dem Gedanken, Sogleich
wieder mit den schweren Spindeln die Arbeit beginnen zu
müssen. Die acht Teriel kamen an die Steinbank. Sie sahen die
hölzernen Spindeln. Sie schrien vor Freude auf. Sie warfen die
schweren Eselskeulen fort und ergriffen die hölzernen Spindeln.
Die acht Teriel lachten vor Vergnügen und sagten: "Welch ein
schönes Geschenk! Welch eine ausgezeichnete Sache! Wer uns
das gebracht hat, dem schwören wir Freundschaft und Schutz zu.
Der, dem wir diese Gabe verdanken, soll von uns nichts erfahren als
Gutes. Das schwören wir!"
Als die acht Teriel das geschworen hatten, kam der Knabe unter
der Steinbank hervor und sagte: "Ich war es, der euch das brachte.
Ich begrüße euch als meine Tanten, denn eure Schwester, die den
großen Jäger geheiratet hat, ist meine Mutter. Sie hat mir gesagt,
ich solle euch einmal besuchen und sollte euch irgend etwas mitbringen,
was euch Freude macht, weil ihr immer so gut für ihr
Wohlergehen sorgt. Nun hatte mir meine Mutter von euern schweren
Eselskeulenspindeln erzählt, und ich meinte nichts Besseres mitbringen
zu können, als diese leicht handlichen Holzspindeln." Die
Teriel waren über diesen Gruß und das Erscheinen ihres Neffen sehr
erfreut und bemühten sich sogleich alle darum, etwas zu seinem
Wohlbehagen, seiner Sättigung und seiner Pflege zu tun. Der
Knabe wurde in eine schöne Kammer gebracht, in der er eine herrliche
Lagerstätte vorbereitet fand. Die acht Teriel sagten: "Du
bleibst natürlich über Nacht hier und mußt uns heute abend noch
viel von unserer lieben Schwester, deiner Mutter, erzählen. Wenn
du morgen früh erwachst, sind sieben von uns schon weggegangen,
um die Feldarbeit zu verrichten. Die Jüngste dort wird aber daheim
bleiben, dir eine gute Wegnahrung zustecken, dir bei Tage das Gehöft
zeigen und dich dann auf den Heimweg bringen." Der Knabe erhielt
nachher noch ein ausgezeichnetes Nachtmahl. Er erzählte den
acht Teriel noch viel von seiner Mutter und berichtete auch, daß
er vor einiger Zeit bei der ersten der zehn Schwestern zu Besuch
gewesen sei. Es wurde spät, als er sich auf dem Lager ausstreckte.
Als er am andern Morgen sich erhob und aus der Kammer trat,
war nur noch eine der acht Schwestern im Hause. Sieben der
Schwestern waren auf das Feld gegangen und nur die Jüngste war
daheim geblieben. Die Jüngste der acht Teriel kam ihm entgegen
und begrüßte ihn. Der Knabe sagte: "Habt ihr mir ein wenig
Nahrung für den Rückweg bereitet?" Die Teriel sagte: "Es ist
schon alles bereitet, nimm aber erst noch etwas zu dir und, dann
will ich dir unser Gehöft zeigen, damit du nach deiner Rückkehr
deiner Mutter, unserer Schwester, erzählen kannst, wie es jetzt im
Hause ihres Vaters aussieht." Der Knabe sagte: "So will ich erst
ein wenig essen und dann zeige mir euer Gehöft." Der Knabe trat
in die Kammer, wo ein gutes Brot für ihn stand, und nachdem er
Brot und Honig zu sich genommen hatte, führte die Teriel ihn
heraus und zeigte ihm das Gehöft.
Die Teriel zeigte ihm die Kammern der acht Schwestern. Sie
zeigte ihm das Vieh und zeigte ihm die viele Wolle, die sie gesponnen
hatten und die allein ein ganzes Haus anfüllte. Die Teriel
zeigte ihm alles, was in und um den Hof war. Als er alles das gesehen
hatte, sagte der Knabe zu der Teriel: "Nun, meine Tante,
zeige mir aber auch noch die besonderen Schätze eurer Familie,
deren Wahrer und Verwalter ihr seid. Meine Mutter hat mir so viel
davon erzählt, daß ich natürlich neugierig bin, das alles zu sehen,
und sicher wird sie mich fragen, in welchem Zustand ich dieses
oder jenes gefunden habe." Die Teriel sagte: "Eigentlich weiß ich
nicht, ob ich dir dies zeigen darf, denn die Wahrung dieser Dinge
liegt in den Händen meiner ältesten Schwester, die sehr eifersüchtig
auf ihr Vorrecht ist." Der Knabe sagte: "Deine älteste
Schwester ist jetzt auf dem Felde, ich würde bis zum Abend auf
ihre Rückkehr warten müssen, soll mich selbst aber heute früh auf
den Heimweg machen. Nun habe ich euch doch aber jeder eine
Spindel mitgebracht und nicht nur der Ältesten, und dann bin ich
dir doch gerade so nahe verwandt wie meiner ältesten Tante." Die
Teriel sagte: "In diesem allen hast du recht. So will ich dich denn
wenigstens, ehe du gehst, einen Blick auf die Schätze unserer Familie
werfen lassen. Folge mir!"
Die Teriel ging voran. Sie führte den Knaben über den Hof und
stieg vor ihm die Stiege zu einem Zwischenboden hinauf. Der
Knabe betrat den Zwischenboden nach der Teriel. Er sah, daß auf
dem Boden allerhand Schätze wie Gold und Silber in Säcken, feine
Seide und gewebte Stoffe, Steine und viel Schmuck waren. An der
Wand an einer Stelle standen aber zehn tönerne Lampen (=misba;
Plural: misabi[e]gh), die hell brannten, von denen eine aber ganz
besonders leuchtete. Neben den zehn Lampen hingen zwei Trommeln
(= tebel; Plural: tubol) an der Wand.
Der Knabe sah voller Erstaunen all den Reichtum und sagte
dann zu der Teriel: "Wozu dienen diese beiden alten Trommeln?"
Die Teriel sagte: "Wenn man die eine dieser Trommeln rührt, so
beginnt das Gehöft sich zu bewegen, und es bewegt sich dann dahin,
wohin man es befiehlt. Wenn man die andere der beiden Trommeln
dagegen schlägt, so steht das Gehöft sogleich wieder unbeweglich
fest und wird keine weitere Bewegung mehr unternehmen. —Nun
komme aber, du mußt dich jetzt auf den Heimweg machen."
Der Knabe sagte: "Warte, ich bitte dich, noch eine Frage ab.
Ich werde nachdem desto schneller laufen und den Verlust wieder
einholen. Sage mir doch, meine Tante, weshalb brennen die zehn
Lampen denn hier am hellen Tage und im Sonnenschein?" Die
Teriel sagte: "Diese zehn Lampen sind die zehn Seelen (=lamar;
Plural: lamur) von uns zehn Schwestern, das heißt von den acht,
die hier im Hause unseres Vaters wohnen, von jener, die du neulich
besucht hast und für die die Kamelstute arbeitet, und endlich die
deiner Mutter. Nun komme aber, du mußt dich auf den Heimweg
machen."
Der Knabe sagte: "Warte, ich bitte dich, noch eine Frage ab.
Ich werde nachher desto schneller laufen und den Verlust wieder
einholen! —Sage mir doch, meine Tante, weshalb brennt die eine
jener zehn Lampen besonders hell und hoch und welche Seele ist
dies?" Die Teriel sagte: "Dieses Licht der Lampe ist die Seele
deiner Mutter. Dies Licht brennt deshalb heller und höher als die
andern, weil deine Mutter dermaleinst länger leben wird als wir,
während ich am ersten sterben werde, wie du daran erkennen
kannst, daß dieses Licht hier, das meine Seele ist, ein klein wenig
niedriger und dunkler brennt als die andern, wenn ich auch die
Jüngste bin. — Nun komme aber, du mußt dich jetzt auf den Heimweg
machen."
Der Knabe sagte: "Warte, ich bitte dich, noch eine ganz kurze
Frage ab. Ich werde nachher wie der Wind so schnell nach Hause
eilen! — Sage mir doch, meine Tante, was geschieht, wenn die
Lampen verlöschen?" Die Teriel sagte ärgerlich: "Dann sterben
wir! Nun komm aber schnell, du neugieriger Knabe; ich habe dir
schon zu viel gesagt. Noch eine Frage, und ich fresse dich trotz
Spindel und Schwur!" Der Knabe sagte: "Verzeih mir, meine
Tante! Geh wieder voran und schnell, damit ich schnell nach
Hause komme!" Die Teriel stieg vor dem Knaben auf die Stiege.
Kaum hatte die Teriel die Stiege betreten, so wandte der Knabe
sich um und blies das kleine Licht der jüngsten Teriel aus. Sogleich
stürzte die Teriel die Stiege herunter und in einen Akufin
(=Speichertopf). Sie war tot und bewegte sich nicht mehr. Der
Knabe stieg herab und betrachtete den Leichnam. Der Knabe
sagte: "Diese Teriel ist also wirklich auf solche Weise gestorben.
Sie wird keinen Menschen mehr verschlingen. Wenn das so einfach
ist, dann kann ich das Geschäft ja in größerem Umfange betreiben."
Der Knabe stieg wieder hinauf und trat zu den Lampen.
Er blies mit einem starken Hauch alle Lampen bis auf die, auf
welcher die Seele seiner Mutter leuchtete, aus. Da fielen die sieben
Schwestern der soeben zuerst gestorbenen Jüngsten auf dem Felde,
auf dem sie gerade arbeiteten, tot nieder, und gleichzeitig fiel auch
jene Schwester, deren Kamelstute der Knabe getötet hatte, leblos
auf ihrer Farm nieder. Der Knabe sagte: "Jetzt käme also die
schöne Frau an die Reihe, die meinen Vater gezwungen hat, sie zu
heiraten und die meine arme Mutter und die sechs ältesten Frauen
meines Vaters unter die Erde verdrängt hat. Es wird mir aber eine
so große Freude sein, dabei zu sein und es mit anzusehen, wenn
diese Teriel stirbt, daß ich mich sogleich auf den Weg machen werde,
sie zu treffen."
Der Knabe nahm die eine der beiden neben den zehn Lampen an
der Wand stehenden Trommeln herab, setzte sich an das Fenster und
begann zu trommeln. Sowie seine Finger das Trommelfell ein wenig
berührten, begann das Haus leicht hin und her zu schwanken. Der
Knabe schlug stärker auf die Trommel und sang: "Mein Haus, bewege
dich in der Richtung auf das Dorf meines Vaters! Mein Haus,
bewege dich in der Richtung auf das Dorf meines Vaters! Mein
Haus, bewege dich in der Richtung auf das Dorf meines Vaters!"
Das Haus erhob sich und glitt, ohne weiter zu schwanken, in der
angegebenen Richtung dahin. Der Knabe trommelte und sang
schneller und lauter. Das Haus flog schneller. Der Knabe trommelte
und sang mit aller Kraft. Das Haus sauste durch die Luft.
Die Teriel, die als schöne Frau den großen Jäger geheiratet hatte,
saß daheim im Hause ihrem Gatten gegenüber. Die Teriel horchte
auf und sagte: "Ich höre die Trommel meines Vaters. Mein Vater
kommt. Ich will ihm entgegenlaufen." Die Teriel sprang auf. Sie
lief aus dem Haus, aus dem Gehöft, aus dem Dorfe. Ihr Gatte, der
Jäger, lief hinter ihr her. Als die Teriel mit dem Gatten hinter sich
vor das Dorf kam, sah sie das Haus ihres Vaters auf sich zukommen.
Sie sah aber auch den Knaben am Fenster sitzen und sah, daß es
der Knabe war, der trommelte. Die Teriel wurde vor Schreck
bleich. Die Teriel kreischte vor Wut und Schreck.
Als der Knabe sah, daß das Haus vor dem Dorfe seines Vaters
angekommen war, und daß die Teriel und ihr Gatte, der Jäger, ihm
entgegengeeilt waren, hörte er auf, diese Trommel noch zu schlagen.
Er hing sie an die Wand und griff zu der andern. Er schlug die andere
Trommel und sang: "Mein Haus, stehe fest." Im gleichen Augenblick
stand das Haus fest. Das Haus stand gerade vor der Teriel
und dem Gatten, der hinter ihr hergeeilt war. Die Teriel schrie:
"Nun werde ich dich verschlingen." Die Teriel stürzte in das Haus,
über den Hof, in die Kammer, die Stiege empor zu dem Zwischenboden,
auf dem die Schätze lagen und auf dem die letzte Lampe noch
brannte. Die Teriel klomm die Stiege empor, der Jäger lief ihr nach,
sie von seinem Sohne fernzuhalten. Die Teriel war oben an der
Stiege angelangt. Da ergriff der Knabe die Lampe und schlug sie
gegen die Wand, daß die Lampe in hundert Scherben zersprang und
das Licht sogleich verlosch. Die Teriel stürzte tot die Treppe
herunter und dem Gatten, der ihr nachgefolgt war, gerade vor die
Füße.
Der Knabe stieg die Stiege herunter. Der große Jäger begrüßte
ihn und sagte: "Du bist mein Sohn." Der Knabe sagte: "Ich wußte
es." Der Jäger sagte: "Du hast die böse Teriel getötet." Der
Knabe sagte: "Wir wollen hingehen und meine Mutter und deine
ältesten sechs Frauen aus der Behausung unter der Erde befreien."
Der Jäger und sein Sohn gingen hin und öffneten die Decke über
der Behausung unter der Erde. Die Frauen kamen herauf. Die
Mutter weinte vor Freude darüber, daß ihr Sohn noch lebte und
nicht von der Teriel verschlungen worden war. Die sechs ältesten
Frauen des Jägers gingen hin und besahen das Gehöft der Teriel.
Sie sahen die Reichtümer, die nun dem Sohne des großen Jägers
gehörten. Sie begannen zu weinen und wehklagten: "Wenn wir
unsere Kinder nicht seinerzeit getötet und gegessen hätten, dann
wären das jetzt auch angesehene und wohlhabende Burschen, die
uns aus der Behausung unter der Erde befreit hätten!"
33. Der Sohn der Teriel
Ein Vater hatte vier Töchter. Eines Tages wollte er auf die Reise
gehen, da rief er sie alle vier zusammen und sagte: "Meine
Kinder, ich werde eine Wanderung machen, die wird mich einige
Zeit von Hause fernhalten. Ihr werdet mich längere Zeit hindurch
nicht sehen; dafür möchte ich euch aber, wenn ich zurückkomme,
eine rechte Freude bereiten, und darum sage mir eine jede, was sie
sich von mir wünscht." Die erste Tochter wünschte sich ein Kleid
von besonderer Farbe, die zweite wünschte sich ein Kleid von anderer
Farbe, und die dritte wünschte sich ein Kleid von wiederum
abweichender Farbe.
Die vierte Tochter sprach keinen Wunsch aus. Der Vater sagte:
"So sprich du doch auch und sage mir, was du dir wünschst." Die
vierte Tochter sagte: "Mein Vater, das, was ich mir wünsche, ist
zu schwer zu erlangen." Der Vater sagte: "Du kannst es doch aber
sagen." Die Jüngste sagte: "Es ist zu schwer." Der Vater sagte:
"Sprich doch!" Die Jüngste sagte: "Ich wünsche mir eine Taube,
die allein auf einer Wiese tanzt." Der Vater wanderte von dannen.
Der Vater war lange Zeit auf Reisen. Der Vater kam an viele
Orte. Er kaufte das Kleid, das die erste sich gewünscht hatte, das
Kleid nach dem Wunsche der zweiten, das Kleid, das die dritte erbeten
hatte. Aber eine Taube, die allein auf einer Wiese tanzte,
konnte er nirgends finden. Und wo er auch nach einer solchen
Taube fragte, nirgends konnte man ihm Auskunft geben, wo es
eine solche Taube, die allein auf einer Wiese tanzte, gäbe.
Der Vater war mit seinen Angelegenheiten in Ordnung, und der
Geschäfte wegen hätte er nach Hause reisen können, denn es war
alles auf das beste geglückt. Der Vater hatte aber immer noch die
stille Hoffnung, daß ihm irgend jemand in größerer Entfernung
eine Auskunft über eine Taube, die allein auf einer Wiese tanzt,
würde geben können. Und deshalb wanderte er noch ein wenig
weiter über sein eigentliches äußerstes Reiseziel hinweg. Er hatte
sich vorgenommen, noch einen Tagesmarsch weit bis zur Grenze
eines großen Waldes zu gehen und dann heimzukehren. Er ging
über eine Wiese auf den Wald zu. Er sagte: "Dort am Walde werde
ich umkehren." In dem Augenblick, als er das sagte, sah er vor
sich auf der Wiese eine Taube, die ganz von allein tanzte, und es
schien fast so, als ob außer ihm, dem Vater der vier Töchter, und
der Taube, überhaupt niemand in der Gegend wäre.
Der Vater sah die Taube. Der Vater schlich an die Taube heran.
Der Vater sprang auf die Taube und suchte die Taube zu erhaschen.
Die Taube entschlüpfte aber, flog zu einer andern Stelle und tanzte
da weiter. Gleichzeitig sprach aber eine laute Stimme zu dem
Vater die Worte: "Laß das!" Der Vater sprang dennoch hinter der
Taube her und suchte sie zu greifen. Die Stimme aus der Erde sagte
aber wieder und diesmal sehr eindringlich: "Laß das!" Der Vater
war tief erschrocken, zumal das zweitemal die Stimme aus der Erde
noch viel lauter war als das erstemal.
Der Vater sagte in seinem Schrecken: "Ich beschwöre dich bei
Gott, mir zu sagen, wer da aus der Erde spricht!" Die Stimme antwortete:
"Asphor'ulehóa!" (Dies ist der Name des Sohnes einer
Teriel, also eines menschenfressenden, menschenähnlichen, weiblichen
Wesens.) Der Vater war erschrocken. Aber der Wunsch, die
Bitte seiner jüngsten Tochter zu erfüllen, war stärker als die
Furcht. Der Vater ging doch wieder einige Schritte hinter der
tanzenden Taube her. Die Stimme sagte: "Laß das!" Der Vater
sagte: "Sei freundlich und gewähre mir, daß ich die Taube dir abkaufe.
Eine solche von allein tanzende Taube ist der Lieblingswunsch
meiner jüngsten Tochter." Die Stimme sagte: "Ich verkaufe
meine Taube nicht. Aber gibst du mir für die Taube deine
Tochter zur Frau, so soll mir das recht sein!"
Der Vater erschrak noch mehr und sagte: "So sollte ich meine
Tochter dem Sohne einer Teriel geben?! So sollte ich meine Tochter
in die Gefahr bringen, gefressen zu werden?!" Asphor'ulehóa
sagte: "Wenn das deine einzige Befürchtung ist, so schwöre ich dir,
daß deine Tochter nicht gefressen werden soll. Sie soll, solange sie
folgsam ist, es bei mir besser haben als bei irgendeinem Menschen."
Der Vater hörte die Stimme. Der Vater wußte, daß Asphor'ulehóa
große Macht hatte. Der Vater sah die tanzende Taube. Der Vater
dachte an den Wunsch seiner Tochter. Der Vater sagte: "So gib
mir die Taube. Sage mir aber, in welcher Gestalt du kommen wirst,
um meine Tochter zu holen."
Asphor'ulehöa sagte aus der Erde: "Ich werde eines Tages als
Kamel kommen. Sage deiner Tochter nur, daß sie, wenn das Kamel
kommt, mit der tanzenden Taube auf dessen Rücken steigen soll,
weil das ihr für das Leben Segen bringen würde." Der Vater versprach
es. Der Vater konnte nun die Taube ohne weiteres greifen.
Er nahm sie und kehrte mit allen für seine Töchter bestimmten Geschenken
heim. Die Mädchen waren über die Rückkehr des Vaters
und über die schönen Geschenke sehr glücklich. Am erfreutesten
war die Jüngste, die sich von ihrer Taube nicht mehr trennte.
Kurze Zeit nach seiner Heimkehr erkrankte der Vater und rief
seine vier Töchter. Er sagte: "Eines Tages wird ein Kamel kommen.
Es wird euch nur Glück bringen, wenn ihr, die Älteste beginnend,
über den Rücken dieses Kamels steigen werdet. Du, meine
Jüngste, sollst die Letzte sein, die dies tut. Nimm deine Taube mit
dir. Versprecht mir, daß ihr danach handeln werdet!" Die Töchter
versprachen, die Worte des Vaters nicht außer acht lassen zu wollen.
Dann starb der Vater.
***Eines Tages kam das Kamel. Das Kamel legte sich sogleich vor
ihrem Gehöft nieder, so daß die Mädchen erkannten, daß es das
Kamel war, von dem der Vater gesprochen hatte. Die Älteste ging
hinaus, um das zu tun, was ihr Glück bringen sollte. Sie bestieg
das Tier von der einen Seite. Das Kamel blieb gelassen liegen. Sie
stieg nach der andern Seite wieder herunter. Die Zweite folgte. Das
Kamel rührte sich nicht. Die Dritte stieg hinauf und herunter, und
das Kamel lag schier unbeweglich da. Die Vierte kam mit ihrer
Taube heran und stieg hinauf. Kaum saß die Jüngste auf dem
Rücken des Kamels, so sprang das Tier auf und lief mit ihr davon.
Das Kamel lief weit, weit fort und hielt nicht eher an, als bis es
vor einem großen, sehr schönen Gehöft angekommen war. Vor dem
Gehöft stand das Kamel still, legte sich nieder und gab dem Mädchen
so ein Zeichen, abzusteigen. Das Mädchen stieg ab, trat mit
seiner Taube in das Gehöft und fand, daß alles sehr wohl vorbereitet
für sie sei, daß aber kein Mensch in der Nähe war. In dem Gehöft
war alles vorhanden, was für das Leben notwendig war, und so
richtete es sich das Mädchen ein.
Abends hatte das Mädchen noch Licht brennen. Es klopfte und
eine Stimme sprach: "Lösche das Licht aus!" Das Mädchen löschte
das Licht aus. Die Tür ward geöffnet. Es kam in der Dunkelheit
ein Wesen herein, das das Mädchen nicht erkennen konnte und legte
sich auf das Lager neben sie, um gleich darauf einzuschlafen. Als
das Mädchen morgens erwachte, war der Schlafgenosse wieder weggegangen
und hatte keinerlei Spur hinterlassen, woran man hätte
erkennen können, ob es ein Mensch oder ein Kamel oder sonst ein
Wesen gewesen sei. Das Gleiche wiederholte sich am andern Tage
und ebenso am dritten und vierten und immer wieder, und die
jüngste der vier Töchter hatte nach Monaten noch keine Ahnung,
wer es sein könne, der mit ihr nachts das Lager teile.
Die drei ältesten Schwestern suchten lange Zeit, wo wohl ihre
Jüngste geblieben sei, und soviel sie auch nach dem Hause Asphor'ulehóas
fragten, so konnte ihnen doch kein Mensch Auskunft
geben. Eines Tages gingen aber zwei der Schwestern weit über das
Land und kamen so zu dem schönen Gehöft der jüngsten Schwester,
die ihnen bereitwillig alle Räume öffnete und alle Schätze zeigte.
Die älteren Schwestern sagten: "Wie ergeht es dir nun also?" Die
Jüngste sagte: "Es geht mir sehr gut. Asphor'ulehóa ist sehr gut
zu mir. Nur bekomme ich ihn nie zu sehen. Solange ich hier wohne,
wird mir allabendlich gesagt, ich solle das Licht auslöschen, und erst
dann betritt mein Gatte den Raum. Wenn ich am andern Morgen
aber erwache, so ist er regelmäßig schon wieder fortgegangen."
Die Schwestern sagten: "Sei nicht töricht, sondern vergewissere
dich doch einmal, was für ein schreckliches Ungeheuer dein Mann
und der Spender aller dieser schönen Schätze ist. Du brauchst
nachts nur einmal dem Befehle nicht zu gehorchen. Lösche das
Licht nicht aus, sondern decke es mit einem Topfe zu. Wenn das
fremdartige Wesen dann neben dir schläft, was du an den Atemzügen
hören kannst, so nimm den Topf fort, und dann siehst du
das Geschöpf einmal bei Licht. Dann wirst du ja wissen, an was für
ein Ungeheuer du gekommen bist."
Nachdem die älteren Schwestern diesen Rat gegeben hatten, verließen
sie ihre Schwester wieder. Die jüngste Schwester fühlte sich
aber in dem großen Gehöft noch einsamer als sonst. Die erste Nacht
verging wie alle bisherigen. Die junge Frau blies das Licht aus. Als
sie am folgenden Morgen erwachte, sagte sie: "Nun ist mein Gatte
schon wieder fort, ohne daß ich eine Spur von ihm sehen kann.
Wahrlich, meine beiden Schwestern haben recht; ich muß mich
einmal überzeugen, wie er beschaffen ist; ich werde verfahren, wie
meine Schwestern es mir geraten haben." Die junge Frau stellte
sich dann neben den Ölleuchter einen Topf.
Das Licht der jungen Frau brannte abends noch, als es wie stets
klopfte und die Stimme von draußen sprach: "Lösche das Licht
aus." Die junge Frau löschte das Licht nicht aus, sondern sie
stülpte einen Topf darüber. Asphor'ulehóa kam im Dunkeln herein.
Er streckte sich auf sein Lager. Er schlief ein. Die junge Frau hörte
an den regelmäßigen Atemzügen, daß ihr Gatte schlief. Vorsichtig
hob sie den Topf in die Höhe und beleuchtete ihren Gatten.
Die junge Frau erschrak, so schön war Asphor'ulehóa. Noch nie
hatte sie einen so schönen Jüngling gesehen. Seine ganze Gestalt
war aber bedeckt mit ganz kleinen Kinderchen (ein Mann erklärt,
es wären Malaika gewesen, also arabisch Engel); sie saßen immer
zu zweien zusammen und waren sehr emsig beschäftigt mit ihren
kleinen Händen. Die junge Frau erschrak über die Schönheit ihres
Gatten und über die Emsigkeit der kleinen Wesen. Dann fragte sie
zwei der kleinen Wesen: "Was macht ihr da?" Die beiden kleinen
Wesen antworteten: "Wir spinnen ein Kleid für Asphor'ulehóas
Frau, wenn sie das Licht auslöscht." Die junge Frau fragte die
nächsten zwei: "Und was macht ihr zwei da?" Die beiden kleinen
Wesen antworteten: "Wir spinnen ein Kleid für Asphor'ulehöas
Frau, wenn sie das Licht auslöscht." Die junge Frau fragte ein
Paar nach dem andern, bis sie zu dem letzten Paar der kleinen
Wesen gekommen war, und nachdem dies auch geantwortet hatte,
erwachte der Gatte.
Asphor'ulehóa sprang auf. Er fragte seine junge Frau: "Wer hat
dir den Rat gegeben, das Licht versteckt zu halten?" Die junge
Frau sagte: "Den Rat haben mir meine Schwestern gegeben."
Asphor'ulehóa nahm sein Kleid zusammen, öffnete die Tür und
eilte von dannen. Die junge Frau sagte bei sich: "Was habe ich
getan! Ich verdränge meinen Gatten, der mir immer nur Gutes
getan hat! Ich will ihn aber nicht lassen. Ich will meinem Gatten
folgen." Die junge Frau lief hinter Asphor'ulehóa her. Asphor'ulehóa
ging schnell und mit großen Schritten. Die junge Frau
konnte ihm nur schwer folgen. Asphor'ulehöa ging sehr weit. Die
junge Frau glaubte vor Müdigkeit sterben zu müssen.
Als Asphor'ulehóa derart sehr weit und sehr schnell gegangen
war, kam er an ein großes Gehöft. Er trat an die Tür, um sie zu
öffnen. Er wandte sich um. Er sah seine junge Frau. Asphor'ulehóa
sagte: "Du folgest mir?" Die junge Frau sagte: "Ich bin
deine Frau, ich will dich nicht lassen, ich habe das Recht, dir zu
folgen." Asphor'ulehóa sagte: "Ich gehe jetzt aber in dieses Gehöft,
es ist das Gehöft meiner Mutter, die eine Teriel ist. Die Teriel
verschlingt alle Menschen, die in ihre Nähe kommen! Meine
Mutter wird dich auch verschlingen, wenn sie dich hier sieht!" Die
junge Frau sagte: "Es ist mir gleich, ob ich verschlungen werde;
ich bin deine Frau und bleibe bei dir." Asphor'ulehóa sagte: "Dann
komm." Er ging in das Gehöft voraus. Sie folgte ihm.
Asphor'ulehóa führte seine Frau in das Gehöft und an die Quelle.
An der Quelle stand eine Palme und darum Gebüsch. Asphor'ulehóa
sagte: "Ich will dich vor meiner Mutter schützen. Steige aber nicht
von der Palme herab, bevor sie nicht bei meinem Namen geschworen
hat, dich nicht töten und verschlingen zu wollen." Danach wandte
er sich an die Palme und sagte: "Asphor'ulehóa befiehlt dir, dich
zu beugen." Darauf beugte die Palme sich tief zur Erde herab, so
daß die Krone die Erde berührte. Asphor'ulehóa sagte zu seiner
Frau: "Nun steige in die Krone und verbirg dich zwischen den
Blättern." Die junge Frau tat es. Dann sprach er wieder zur
Palme: Asphor'ulehóa befiehlt dir, dich wieder zu erheben."
Hierauf stieg die Palme wieder in die Höhe, so daß die junge Frau
oben über der Quelle in der Palmenkrone saß. Sie konnte von oben
ihr Spiegelbild in der Quelle sehen.
Asphor'ulehóa ging in das Haus.
Atlantis Bd_02-286a. |
Flip
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In der Mitte das Haus,
in dem die sieben Töchter des auf Reisen
gegangenen Vaters wohnen. Unten die Teriel, die in das Haus eindringen
will. (Zu Nr. 28.) Originalzeichnung eines Kabylen
Nach einiger Zeit kam die Teriel, die Mutter Asphor'ulehöas,
nach Hause. Es war Nacht. Die Teriel begrüßte ihren Sohn und
fragte: "Wie geht es dir, mein Sohn? Ich sehe dich jetzt selten."
Der Sohn sagte: "Ich habe Durst nach einem Trunk ganz frischen
Quellwassers." Die Teriel sagte: "Das sollst du sogleich erhalten."
Die Teriel nahm einen Krug und ging zur Quelle.
Die alte Teriel beugte sich über die Quelle, um Wasser zu schöpfen.
Da sah sie im Wasserspiegel das Bild der jungen Frau, die oben
in der Baumkrone saß. Die Teriel glaubte, die schöne junge Frau sei
im Wasser, stellte den Krug beiseite und wollte sie fangen, um sie
zu töten und zu verschlingen. Sie griff mit beiden Händen in das
Wasser, so daß es sich kräuselte und Wellen bildete. Das Bild der
jungen Frau in der Palmenkrone verschwand. Die Teriel glaubte,
die junge Frau sei ihr im Wasser entronnen. Darüber wurde sie
so wütend, daß sie ihren Krug am Boden zerwarf.
Die alte Teriel kam in das Haus zurück zu ihrem Sohne. Asphor'ulehóa
fragte: "Hast du mir das Wasser gebracht?" Die Teriel
sagte: "Der Krug ist mir zerbrochen." Der Sohn sagte: "So nimm
einen andern Krug." Die Teriel nahm einen andern Krug und ging
zu der Quelle zurück.
Als die Alte an die Quelle zurückkehrte, hatte das Wasser sich
beruhigt, und sie sah sogleich wieder das Bild der jungen schönen
Frau. Die Teriel wollte sie wiederum fangen, um sie zu verschlinger
Sie griff wieder in das Wasser, das sogleich Wellen bildete. Die
Teriel geriet wieder in Wut und zerwarf ihren Krug. Zornig kai
sie zurück, nahm einen dritten Krug und kam, nachdem alles wieder
in gleicher Weise vor sich gegangen war, zurück.
Die Teriel kam zum vierten Male zur Quelle. Da sah sie, dur
ein Geräusch in der Baumkrone veranlaßt, nach oben und sah ob
die junge Frau in der Baumkrone sitzen. Die Teriel setzte sogleich
ihren Krug hin und wandte sich zu der schönen jungen Frau. Sie
sagte zu ihr: "Komm doch herunter, du schöne junge Frau. 1
will dir im Hause ein sehr gutes Essen vorsetzen." Die junge Frau
sagte: "Nein, ich bleibe hier oben." Die Teriel bat sie wieder und
wieder. Die junge Frau sagte: "Ich komme nicht, wenn du mir
nicht schwörst, daß du mich nicht töten und fressen willst." Die
alte Teriel sagte: "Ich schwöre dir bei Gott, daß ich dich nicht töten
und fressen will." Die junge Frau sagte: "Dieser Schwur genügt
mir nicht. Schwöre mir bei deinem Sohne Asphor'ulehóa, daß du
mir nichts antun willst, daß du mich nicht töten und nicht fressen
willst." Die alte Teriel wurde böse. Sie sagte aber: "So schwöre ich
dir denn bei meinem Sohne Asphor'ulehöa, daß ich dich nicht töten
und verschlingen will."
Darauf stieg die junge Frau herunter. Die alte Teriel führte sie
in das Haus und sagte zu ihrem Sohne: "Hier habe ich eine schöne
junge Frau im Garten gefunden. Da ich ihr habe schwören müssen,
sie weder zu töten noch zu verschlingen, ist sie mir zu nichts nutze.
So nimm du sie denn und heirate sie." Asphor'ulehóa ergriff seine
Frau bei der Hand und sagte: "Dann nehme ich diese junge schöne
Frau aus deiner Hand als deine Gabe als Gattin entgegen und werd
sie von nun ab als meine Gattin, die du, meine Mutter, mir gegeben
hast, halten und schützen."
Als am andern Morgen die Teriel sich fertig machte, auf ihren
Acker zur Feldarbeit zu gehen, rief sie die junge schöne Frau in
den Hof und sagte: "Ich will nicht, daß du unnütz im Hause herumlungerst,
wenn ich dich auch meinem Sohne zur Frau gegeben habe.
Reinige also den Hof. Du siehst, der Hof ist sehr groß, und es ist
allerhand Schmutz darauf. Du hast ihn so zu reinigen, daß, wenn
ich heute abend zurückkomme, nicht ein Staubkorn mehr zu sehen
ist. Wenn ich noch ein ganz kleines Staubkorn sehe, werde ich
dich verschlingen." Die alte Teriel ging.
Die junge Frau erschrak, warf sich auf die Matte und weinte.
Sie weinte, denn sie wußte, daß sie das, was die Teriel verlangt hatte,
nicht ausführen konnte. Als es Mittag war, kam Asphor'ulehóa zurück.
Er sah seine junge Frau weinen und fragte: "Was ist dir? Hat
meine Mutter dir etwas Schlechtes gesagt ?" Die junge schöne Frau
sagte: "Deine Mutter hat mir gesagt, ich solle bis heute abend den
Hof so reinigen, daß kein Staubkorn mehr zu finden sei. Wenn ich
das nicht ausführe, wolle sie mich verschlingen. Das kann aber
kein Mensch ausführen, und so werde ich heute abend getötet werden.
Deshalb weine ich." Asphor'ulehöa lachte und sagte: "Wenn
das alles ist, so komm und iß mit mir gemeinsam; dann sei nur
fröhlich, es hat keine Gefahr für dich. Das werden wir schnell erledigen."
Asphor'ulehöa aß mit seiner Frau zu Mittag. Nach dem Essen
ging er zu der Mauer des Hofes und schlug gegen die Mauer. Er
sagte: Asphor'ulehóa befiehlt dir, daß aus der Mauer viel Wasser
fließt. Es soll so viel Wasser fließen, daß der Hof mit Wasser gefüllt
ist und daß das Wasser jedes Staubkörnchen, das hier liegt,
wegspült. Asphor'ulehöa befiehlt dies." Aus der Mauer sprang sogleich
Wasser. Es floß so viel Wasser, daß der ganze Hof mit
Wasser bedeckt war. Das Wasser lief ab. Es trug allen Schmutz
und das allerkleinste Staubkörnchen mit sich fort. Der Hof war
selbst blank wie ein Wasserspiegel.
Abends kam die Teriel vom Acker heim. Sie ging über den Hof.
Sie sah nach allen Seiten. Sie konnte kein Staubkörnchen finden
und sagte zu der jungen schönen Frau: "Du bist geschickt."
Am andern Tage machte die Teriel sich wieder fertig, auf ihren
Acker zu gehen. Sie rief die junge schöne Frau und sagte zu ihr:
"Heute werde ich dir einen ganz besonderen Wunsch von mir
sagen: Ich möchte bis heute abend hier in einem Sacke von jedem
Vogel je eine Feder haben. Der Sack muß voll von Federn sein, von
jedem Vogel soll je eine Feder sein, und es darf nicht eine Feder
fehlen. Wenn dir dies nicht gelingt, so werde ich dich heute abend
töten und verschlingen." Die alte Teriel ging, nachdem sie das gesagt
hatte, auf ihren Acker. Die junge schöne Frau setzte sich hin
und weinte. 'Sie weinte den ganzen Morgen und jammerte: "Das
kann ich unmöglich! Das kann ich unmöglich! Heute abend wird
mich die Teriel verschlingen."
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Mittags kam Asphor'ulehöa heim. Er fand seine junge schöne
Frau weinend und fragte sie: "Was hast du, daß du so traurig bist?
Sicherlich hat dich meine Mutter in so trübe Stimmung versetzt."
Die junge schöne Frau sagte: "Deine Mutter verlangt bis heute
abend von mir einen Sack, gefüllt von Federn, von jedem Vogel
eine, und es darf keine fehlen. Wenn ich das nicht bis heute abend
zu schaffen vermag, so will sie mich töten und verschlingen."
Asphor'ulehöa lachte und sagte: "Wenn es sonst keine Schwierigkeit
gibt, so wollen wir in aller Ruhe essen und die Sorge fahren
lassen."
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Asphor'ulehöa aß mit seiner jungen Frau und sagte dann zu ihr:
"Gehe mit einem leeren Sack auf den nächsten Hügel. Rufe in
meinem Namen alle Vögel, sage ihnen, daß ich krank bin und ein
Kissen brauche; sage, daß jeder Vogel eine Feder in den Sack werfen
soll. Es wird keine Feder fehlen." Die junge schöne Frau nahm
einen Sack und ging auf einen Hügel. Sie richtete sich auf und rief:
"Alle Vögel, hört mich in Asphor'ulehöas Namen! Hört! Asphor'ulehöa
ist krank und braucht ein weiches Kissen, und deshalb sollt
ihr für Asphor'ulehöa in diesen Sack jeder eine Feder hineinwerfen,
so daß der Sack ganz voll wird und keine Feder fehlt!"
Alle Vögel hörten das. Alle Vögel kamen herbei. Jeder Vogel
flog über den Sack hinweg und ließ eine Feder hineinfallen, bis der
Sack voll war. Die junge schöne Frau ging mit dem Sack voller
Federn wieder nach dem Gehöft zurück. Als es Abend war, kam
die alte Teriel vom Felde zurück. Die alte Teriel sah den Sack voll
Federn und sagte zu der jungen schönen Frau: "Du bist geschickt."
Am andern Morgen machte die alte Teriel sich wiederum bereit,
auf den Acker zu gehen. Sie rief die junge Frau herbei und sagte:
"Du hast gestern die Federn sehr geschickt zusammengebracht.
Heute nun fordere ich von dir, daß bis zum Abend jeder Vogel die
Feder zurückerhält, die von ihm kommt. Ich will nicht, daß irgendeine
Feder übrigbleibt, oder daß irgend ein Vogel eine falsche Feder
erhält. Ordne dieses alles ganz genau, so daß sich bei mir kein
Vogel beschweren kann. Beschwert sich bei mir ein Vogel oder sind
bis zu meiner Rückkehr heute abend nicht alle Federn wieder
richtig zurückgegeben, so töte und verschlinge ich dich." Die Teriel
sagte das und ging von dannen. Die junge schöne Frau begann
aber wieder zu weinen und zu jammern.
Asphor'ulehóa kam am Mittag nach Hause. Asphor'ulehöa fand
seine junge schöne Frau weinend und fragte sie: "Was fehlt dir?
Was hat meine Mutter nun wieder Schlimmes verlangt? Sage es
mir. Es wird nicht so unmöglich sein, daß wir es nicht vermöchten."
Die junge schöne Frau sagte: "Deine Mutter hat von mir verlangt,
ich solle alle Federn, die ich gestern eingesammelt habe, heute wieder
jedem einzelnen Vogel zurückgeben, so daß keine Feder übrigbleibt,
kein Vogel eine falsche Feder erhält und kein Vogel sich
beschweren kann, und daß bis heute abend alles geregelt sei. Sonst
will deine Mutter mich töten und verschlingen." Asphor'ulehóa
lachte und sagte: "Dies ist sehr einfach. Komm laß uns erst in
Ruhe essen und dann die Sache schnell erledigen."
Asphor'ulehöa setzte sich mit seiner jungen Frau zum Essen und
sagte, nachdem alles abgeräumt war, zu ihr: "Nimm den Sack mit
Federn, den du gestern eingesammelt hast und gehe wieder auf den
gleichen Hügel. Rufe in meinem Namen wieder alle Vögel zusammen,
danke allen Vögeln in meinem Namen und sage ihnen,
ich wäre nicht mehr krank, ich hätte das Kissen und ihre Federn
nicht mehr nötig, und jeder Vogel solle die Feder, die er gegeben
habe, sogleich wieder zurücknehmen und wohl darauf achten, daß
keine Feder dabei verkommt!"
Die junge schöne Frau nahm den Sack mit Federn und ging mit
ihm auf den Hügel. Sie rief: "Alle Vögel, hört mich in Asphor'ulehöas
Namen! Asphor'ulehóa dankt euch, daß ihr ihm gestern,
als er krank war, jeder für sein Kissen eine Feder gegeben habt.
Asphor'ulehöa ist heute nicht mehr krank und braucht eure Federn
nicht mehr. Asphor'ulehóa läßt euch sagen, jeder Vogel solle seine
Feder zurücknehmen und wohl darauf achten, daß keine Feder
dabei verkommt!" Die junge schöne Frau öffnete den Sack. Sogleich
kamen von allen Seiten die Vögel vorbei. Kein Vogel blieb
aus. Alle Vögel kamen. Jeder Vogel flog an dem Sack vorbei, nahm
eine Feder und flog damit von dannen. Es währte nicht lange Zeit,
da war der Sack leer und keine Feder mehr zu sehen. Die junge
schöne Frau ging mit dem leeren Sack nach Hause. Als die alte
Teriel abends vom Acker nach Hause kam, ging sie an dem leeren
Sack vorbei. Als sie die junge schöne Frau sah, sagte sie: "Du
bist geschickt."
Am andern Morgen rüstete die alte Teriel sich beizeiten zum
Gang auf ihren Acker. Vorher aber rief sie die junge schöne Frau
zu sich und sagte: "Du hast bis gestern alles, was ich von dir verlangt
habe, sehr geschickt ausgeführt. Nun will ich dir eine Aufgabe
geben, die etwas schwieriger ist. Sieh, ich nehme hier einen
Krug mit Wasser und einen Krug mit Milch. Ich gieße das Wasser
in die Milch. Deine Aufgabe ist es, das Wasser und die Milch bis
heute abend wieder voneinander zu trennen. Gelingt dir das, so ist
mein Wunsch erfüllt. Gelingt es dir nicht bis heute abend, so werde
ich dich töten und auffressen." Damit ergriff die alte Teriel den
Topf mit Wasser und goß den ganzen Inhalt in den Topf mit Milch.
Nachdem sie das getan hatte, ging sie. Die junge schöne Frau aber
warf sich auf die Erde, weinte und klagte: "Jetzt werde ich sicher
von der Teriel verschlungen werden."
Mittags kam Asphor'ulehóa nach Hause. Er fand seine junge
schöne Frau weinend auf der Erde. Er fragte: "Was gibt es nun
heute wieder?" Die junge schöne Frau sagte: "Heute kannst du
mir auch nicht helfen. Deine Mutter hat Milch und Wasser zusammengegossen.
Ich soll das Wasser bis heute abend von der
Milch trennen. Das kann niemand." Asphor'ulehóa sagte: "Du
hast recht, das kann niemand, und ich sehe, meine Mutter will dich
unbedingt töten und verschlingen. Sei aber ohne Furcht. Ich habe
deinem Vater versprochen, dich zu schützen, und wenn du auch
ungehorsam warst, indem du einmal das Licht nicht ausgelöscht
hast, so will ich trotzdem mein Wort halten, auch wenn es mir
schwer wird. Sei also außer aller Sorge." Dann aß er mit seiner
jungen schönen Frau und wartete auf die Rückkehr seiner Mutter,
der Teriel.
Als es Abend war, kam die Teriel vom Acker nach Hause. Die Teriel
ging sogleich zu dem Kruge, in dem die Milch mit dem Wasser
gemischt war, sah hinein und sagte zu der jungen schönen Frau:
"Heute hast du das, was ich dir aufgetragen habe, nicht ausgeführt;
heute werde ich dich töten und verschlingen". Die junge
schöne Frau weinte. Asphor'ulehöa trat aber herein und sagte zu
seiner Mutter:
"Meine Mutter, du hast mir die junge schöne Frau selbst als
Gattin zugeführt, nachdem du bei meinem Namen geschworen
hattest, ihr nichts tun zu wollen." Die alte Teriel sagte: "Sie kann
aber Wasser und Milch nicht trennen, deshalb werde ich sie verschlingen."
Asphor'ulehöa sagte: "Du hast, trotzdem du bei meinem
Namen geschworen hast, meiner jungen schönen Frau nichts
antun zu wollen, ihr jeden Tag mit Tod und Verschlingen gedroht."
Die Teriel sagte: "Ich werde sie heute auch verschlingen, denn sie
kann Wasser und Milch nicht trennen." Asphor'ulehóa sagte: "Du
hast bei meinem Namen geschworen. So nimm denn das auf dich,
was du willst. Aber ehe du meine junge schöne Frau täglich mit
Drohungen quälst und sie zum Schluß doch noch verschlingst, will
ich sie lieber selbst töten und dir und deinen Schwestern vorsetzen."
Die alte Teriel sagte: "Ich muß sie verschlingen, denn sie kann
Wasser und Milch nicht trennen."
Asphor'ulehöa sagte: "So höre mich denn! Rufe deine Schwestern
für morgen zusammen. Ich will euch ein Gericht nach euerm
Geschmack vorsetzen und will mit Feuer und Fett nicht sparen!"
Die alte Teriel sagte: "Ich freue mich, mein Sohn, daß du deine
Mutter mehr liebst als dieses dumme schöne Mädchen. Ich werde
alle meine Schwestern einladen. Töte nur die junge Frau und spare
mir nicht mit Fett und Feuer!"
Asphor'ulehóa ging fort. Er rief seine junge schöne Frau herbei
und sagte: "Verstecke dich. Laß nicht merken, wo du bist!" Als
die junge schöne Frau versteckt war, ging er hin und brachte
einen Ochsen herbei. Am andern Morgen war seine Mutter, die
Teriel, kaum zu ihrem Acker weggegangen, da trat jener in das Zimmer,
in dem gegessen werden sollte und sagte: "Asphor'ulehöa will,
daß die Erde sich öffne und eine tiefe Kluft zeige." Sogleich entstand
in der Mitte des Zimmers ein tiefes, tiefes Loch. Asphor'ulehóa
sagte: "Asphor'ulehóa will, daß der Grund der Erde mit Fett
und Feuer gefüllt und der Mund der Erde mit einer Matte und Erde
darüber verhüllt werde." Da entstand in der Tiefe sogleich eine
Schicht von Feuer und Fett, über der Öffnung aber eine Matte mit
Erde darüber, so daß der Boden der Kammer aussah wie früher.
Asphor'ulehóa ließ den Ochsen schlachten und braten und mit
viel Fett begießen. Alles war angefüllt mit dem Geruch von Fett.
Als die Zeit kam (der Erzähler weiß nicht, ob es Abend oder Mittag
ist und widerspricht sich darin mehrfach), zu der Asphor'ulehóa die
Schwestern der Teriel eingeladen hatte, hörte man sie von allen
Seiten zusammenströmen und die Mutter Asphor'ulehóas und sich
untereinander begrüßen. Alle aber dankten Asphor'ulehóa und
sagten: "Du bist ein guter Sohn, daß du deiner Mutter die eigene
Frau vorsetzt. Du bist ein guter Verwandter, daß du die sämtlichen
Schwestern deiner Mutter eingeladen hast."
Als alle angekommen waren, hieß Asphor'ulehóa die sämtlichen
Teriels in die Speisekammer treten. Als alle Teriels in der Kammer
waren, sagte er: "Nun tretet in die Mitte und der Schwur meiner
Mutter erfülle sich!" Die Teriels traten in die Mitte, in der die Matte
lag, die nur wenig mit Erde bedeckt war. Die Matte gab nach. Alle
Teriels stürzten in die Öffnung, in der unten Feuer und Fett waren.
Asphor'ulehóa sagte: "Mutter, bei meinem Namen hast du geschworen!"
Asphor'ulehóa sagte: "Asphor'ulehóa befiehlt, daß das
Feuer alles hinnehme!" Er machte die Tür der Kammer zu. Er
ging dahin, wo er seine junge Frau zurückgelassen hatte und sagte
zu ihr: "Komm mit mir in unser Haus zurück. In Zukunft sollst
du mich dort auch bei Tage sehen. Komm!" Asphor'ulehóa ging
mit seiner jungen schönen Frau von dannen. Hinter ihnen brannte
das Gehöft der Teriel ab.
Damals sind alle Teriels verbrannt.