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VOLKSMÄRCHEN DER KABYLENI. BAND
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Die Kabylenkultur, zusammengedrängtes Berbertum II. Gräberformen und Berufe |
U Unter den Tausenden und aber Tausenden von Gräbern und Grabdenkmälern, die die einst sicherlich grüne und reich bewachsene, heute aber nur noch graubraune steinige Wüste der öden Atlasländer bedecken *, sind zwei Formen zu unterscheiden: einerseits Packbauten, die nur aus zusammengeworfenen, in entwickelterer Form aus zusammengelegten Steinmassen bestehen, andererseits Standbauten, die aus kistenförmig aufgestellten und aufgelegten Steinplatten errichtet sind (vgl. L. Frobenius: "Der kleinafrikanische Grabbau" 1916). Packbauten wie Steinkisten zeigen verschiedene Spielformen, repräsentieren aber zwei verschiedene Stile, die dann und wann wohl einmal ein Ineinander-übergehen zeigen, im allgemeinen aber doch getrennt auftreten, nebeneinander leben und eigene Entwicklungslinien bilden. Von den Packbauten wissen wir mit Sicherheit, daß sie stets oberirdisch waren, d. h. daß sie um die auf die Oberfläche der Felsen in Hockerform gebetteten Leiche errichtet wurden. Von den Kistenbauten oder Dolmen wissen wir das nicht so genau. Vielfach steht heute die Kiste auf dem nackten Felsboden und ragt als Dolmen frei in die Luft. Das innere zeigt aber eine in Erde gebettete Leiche, so daß es sehr wohl möglich ist, daß diese Steinkisten vordem in eine Erdschicht, die über der Felsdecke lagerte, gesenkt wurde, daß die Erde zwischen den Dol*
Schweigend und verödet lagern die verschiedenen Entwicklungstypen in den weiten Berberländern. Kein einziger Berber vermochte das in ihnen verkörperte Rätsel durch irgendeine wesentliche Angabe zu lösen. Die Kabylen allein bilden eine Ausnahme.
Ich muß sagen, daß mir die Kurzsichtigkeit der europäischen Beobachter stets ein größeres Problem war als die Wirklichkeit verblüffender völkerkundlicher Erlebnisse. So auch hier. Der Literatur nach bestatten die Kabylen genau nach islamischem Ritus und sind also ihre Gräber von denen anderer islamischer Völker nicht verschieden. Demgegenüber die Tatsachen.
Wer in Beni Yenni, also im westlichen Teile der Kabylie oder bei Bougie im östlichen die alten Kirchhöfe besucht, findet vor allem alte Steinplattendecken. Sie liegen nicht sehr fest, und werden sie nur ein wenig von der sie verklebenden Erde befreit, so zeigt sich dem Blick oftmals eine Höhlung, die durch Wegsacken der Erde entstanden ist, und jenseits des also leeren Raumes eine zweite Steinpiattenlagerung, eine zweite Steinkiste.
Es zeigt sich nun also, daß der eigentliche Kabyle in einem doppelten Steinkistengrab beigesetzt wird. Die eine Kiste ruht auf dem felsigen Grund. Zwischen ihr und einer zweiten über sie gedeckten oder vielmehr sie umfassenden ist Erde geschüttet, die aber allerdings häufig im Laufe der Jahre vom Regen weggespült wird, um so eher, je weniger eng die Deckplatten sich mit den Kanten aneinanderfügten. Die Länge der äußeren Kiste beträgt zwischen 190 und 230 Zentimeter, ihre Breite zwischen 55 und 100 Zentimeter. Die
Platten waren in Beni Yenni 4-6 Zentimeter stark, weiter östlich aber, der dortigen natürlichen Steinschichtung entsprechend, dicker. Die Kanten der äußeren Kiste, d. h. die Stand- und Seitenfelsplatten, ragten ca. 15-30 Zentimeter, je nachdem das Terrain stärkere oder geringere Neigung zeigt, d. h. also das Erdreich leicht oder gehindert abgeschwemmt wurde.Das Interessanteste aber ist, daß alle alten Gräber ein von der oberen in die untere Kiste führendes Loch aufwiesen. Dieses Loch heißt leghar-raby (sprich l'erar rabi), d. h. "Loch Gottes". Bei den Männergräbern war das Gottesloch rechts, bei den Frauengräbern links vom Kopfe angebracht. Dies Loch, oder besser dieser kleine Kanal, wurde offen gehalten. Für gewöhnlich wurde er gegen den Regen mit einem flachen Stein bedeckt, bei bestimmten Gelegenheiten, d. h. zumal bei Saat und Ernte, aber durch Wegnahme des Steindeckels enthüllt. Wenn auch sonst wohl Geld und gelegentlich sogar Schmuckstücke diesen Weg hinab den Toten zugeführt wurden, so war das mehr einem persönlichen Wunsche oder Bedürfnis entsprechend. Eine große Rolle spielte das l'erar rabi vor allem bei allen dem Fruchtbau gewidmeten Zeremonien. Von der ersten Ernte wurde ein Anteil den Toten hinabgegeben, und zur Saat wurden von dem Fell des geopferten Widders kleine Säckchen gemacht, die, mit Teilen des Saatkorns gefüllt, den Toten hinabgesandt wurden. Sehr sorgfältig achtete der opfernde Sippengreis aber darauf, daß keinerlei Spur von Blut an dem Widderfellstück war. Denn das Blut wäre für die Erde eine Kränkung und Verunreinigung gewesen, die eine absolute Mißernte zur Folge gehabt haben würde.
Blut und Feldbau waren etwas, was sich für die alten Kabylen gegenseitig gewissermaßen ausschloß. Deshalb wurden die Männer, die als Jäger große Erfolge hatten, also einem blutigen Handwerk obgelegen hatten, ebenso wie Schlächter gern etwas abseits der andern, in "einem stillen Winkel" des Kirchhofs beigesetzt.
War nun aber gar ein kühner Jäger - was in alten Zeiten, als noch Büffel, Mufflon und Gazellen die hohen Gebirge belebten, häufig eintrat -auf der Jagd verunglückt und zu Tode abgestürzt oder gar im Kampf mit einem Tier getötet, so wurde er um alles nicht auf dem allgemeinen Kirchhof beigesetzt. So lange ein Jäger lebte, wurde er geachtet, und war er ein tapferer und erfolgreicher Mann, dann wurde er sehr geehrt und spielte im Männerrate eine große Rolle. Denn es galt als ein kühnes Unterfangen, sich mit dem "Handwerke des Blutes" zu befassen. Es gehörte eine schwierige
Zauberkunst dazu, Blut fließen zu lassen und doch nicht der Rache des Blutes anheimzufallen. Der Jäger füllte ein wenig Blut von jedem Tier, das er erlegte, in ein Gazellenhorn oder Muffionhorn. Dies Horn nahm er vor jedem Jagdzuge mit zu einer (oder der?) Opferstelle in den Felsen, schüttete es mit bestimmten Zutaten über die Opferschale aus und bat um Wiedererstehen des getöteten Tieres und um gütiges Vergeben lebendiger Blutschuld. Das war alles sehr umständlich und gefährlich. Es gehörte ein großes Wissen von Bannsprüchen und Namenszauber dazu. Denn die das Gebirge und alles Jagdgetier wie auch die Nacht beherrschende Gottheit leitete je nach der Anrede verschiedene Schicksalswege dem Menschen wie seinem Opfer.So lange ein Mensch lebte, der solchem gefährlichen Berufe sich hingab, war es eine Ehre, ihn neben sich zu wissen, verlieh seine Gegenwart sogar ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Denn seine Bannsprüche mußten stark sein. Aber wenn er seinem Berufe erlag, so war es klar, daß er im Kampfe mit den Blutwesen unterlegen war. Mit seinem Tode war es erwiesen, daß die Rache des Blutes ihn verfolgte. Man konnte nicht wissen, wie weit. Die Lebendigkeit der Rache war offensichtlich, und die Macht des schützenden Zaubers war durch seinen Tod gebrochen.
Mit dem der Rache des Blutberufes verfallenen Leichnam wollten die feldbauenden Kabylen nichts zu tun haben. Deshalb wurde ein solcher Toter oben in den Felsen, im oberen Gebirge, im Jagdgebiet möglichst nahe der Stelle, wo der Tod ihn erreicht hatte, bestattet. Eine Bestattung in unserem Sinne war es allerdings nicht. Die Leiche ward mit Lederschnüren zu einem Bündel verschnürt anscheinend in Hockerform, aber das wußten meine Alten nicht so genau. Dann wurde eine rohe kantige Steinsäule aufgerichtet. An diese Steinsäule wurde er festgebunden*. Die Steinsäule hieß äther, Plur.: itheren. Aber das ist eine schwierige Sache, denn was äther ist, weiß wohl niemand genau. Man darf das Wort nicht laut aussprechen, und wenn man es flüstert, soll man wenigstens einige Getreidekörner in den Mund nehmen, die sowieso einen guten Schutz bieten für alle die Jäger, die ihrem toten Kameraden die letzte Ehre erweisen? — nein, das bedeutet die ganze eigenartige "Bestattungsart" nicht; sie bedeutet vielmehr, daß sie seine Seele
Diesem Gedankengang entsprach auch der fernere Verlauf der geheimnisvollen Bestattung. Zunächst ward das Zauberhorn des Jägers, in dem er seinerzeit vom Blut aller erlegten Tiere auffing und das anscheinend auch äther hieß —"aber wer von allen Heutigen weiß denn das noch so genau ?" — auf das Steinsteloid gelegt, und dann wurden um den an die Steinsäule gebundenen Toten Steine aufgehäuft, bis Säule und Leiche vollkommen bedeckt waren. Jeder einzelne, der an dieser still-schweigsam verlaufenen Zeremonie teilnahm, warf weggehend über die Schulter noch einen Stein auf den Haufen, um dann, ohne sich noch einmal umzusehen, schleunigst heimzueilen. Kam aber je ein Jäger oder sonst ein Mensch an solchem Ather-Grabe vorbei, so warf er schnell einen Stein dazu.
In alten Zeiten gab es in den hohen Bergen noch viele solcher Packgräber. Aber Regen und Gewitter, Eis und Schnee haben die meisten weggeräumt, ja, keiner meiner Freunde konnte mir mit Bestimmtheit sagen, wo noch eines erhalten sei. Sie meinten, mit dem Islam wäre auch ein großer Zorn gegen solche alten und schauerlich heiligen Stätten in das Land gekommen, und sicherlich seien viele Ather-Gräber von den fanatischen Priestern weggeräumt worden. Neue Gräber solcher Art seien aber seit Menschengedenken nur noch zweimal errichtet worden, als nämlich einige Kabylen einige Kolonisten wie Jagdwild getötet, dann an den Folgen des Kampfes aber zuletzt doch selbst gestorben seien. Jäger zu bestatten hatte man schon lange keine Gelegenheit; denn zum ersten wären die Feldbauern mit ihren Äckern immer weiter die Berge hinaufgezogen; hierdurch sei zweitens das Wild immer seltener geworden, und so seien denn drittens wegen der geringen Aussicht auf Erfolg die Jäger ihrem Berufe abtrünnig geworden und in das Tal gezogen, wo sie sich auch dem Ackerbau widmeten. Allerdings klebe noch die Rache des Blutgeistes an ihren Nachkommen. Diese früheren Jäger und heutigen Bauern brächten es heute so wenig zu etwas, 'daß es erstaunlich sei und in einem gewissen Grade direkt entgegengesetzt dem reichen Erfolge stehe, den ihre Altvordern als Jäger gehabt hätten.
Natürlich fragte ich meine Kabylen mehrmals, ob sie denn solche Familien namhaft machen könnten, deren Altvordern große Jäger
kleines Kabylenhaus in GirualMit diesen letzten Nachrichten - die ich als ganz besonderen Leckerbissen den Rassentheoretikern der anthropologischen Richtung vorlege -will ich den direkten Bericht über die alten Bestattungsweisen abschließen und zurückkehren zu meiner, zu unserer Fragestellung, die der Geistes- und Kulturbildung des in den Kabylen konzentrierten Berbertumes gewidmet ist.
Und da frage ich: Reißt hier nicht lebendige Sitte, lebendige Erinnerung, ein in die Überlieferung weiterlebendes Wissen mit einem scharfen Ruck all die Nebel beiseite, die sich seit dem Aussterben des Pflanzenlebens und der alten Lebensformen, ausgedrückt durch eine finster schweigsame Öde, über die Berberländer gelegt hat? Ist das, was weit verbreitet und in der weiten Verbreitung dann infolge allzu gestreckter Lebensmöglichkeiten erstarrt ist, hier nicht in erstaunlicher Zusammengedrängtheit so lebensstark, so lebensvoll, daß man das geistige Kabylentum als den Extrakt allen Berbertums bezeichnen kann?
Denn wie will je ein Forscher aus allerletzten und allerkunstvollsten Beobachtungen so feingegliederte Schlüsse ziehen, wie sie hier die lebendige Tradition bietet: die zwei Arten des Grabbaues, zwei Berufe, zwei Götter, zwei Weltanschauungen!
Das Kabylentum als reifes Samenkorn am absterbenden Berberstamme.
— Architektur
Wenn es sich zeigt, daß bei den Kabylen noch die ganze Wesensart des Berbertums mit seinen verschiedenen Äußerungsformen und Abarten zusammengedrängt erhalten ist, so sei doch mehrmals mit aller Bestimmtheit betont, daß solche Wirklichkeit nicht nackt zutage liegt, daß immer erst mancherlei und vielerlei Neuzeitiges, Fremdartiges und vor allen Dingen Derzeitiges weggeräumt werden muß, ehe die wertvoll zusammengedrängte Ursprünglichkeit zutage tritt. Auch dafür soll ein Beispiel gegeben werden, das gleichzeitig in die gesellschaftlichen Lebensformen der Kabylen einführt. Ich will im folgenden ihre Siedlungen und Hausbauweise schildern.
Alle kabylischen Ortschaften liegen auf Hügeln, meist auf Sätteln. Sie sind mit ihren First- und Dachlinien stets so recht hineingefühlt in die Geländeformen. Das Ganze überragende Speichertürme wie bei andern Berbern habe ich als Allgemeinübliches nicht wahrgenommen, es sei denn, daß das eine oder andere Tarurfiz (Obergeschoß) oder ein die Straße überziehendes Askif solche Bedeutung im Ortsbild gewänne. Städte (= larasch; Sing.: la'asch) besitzen die eigentlichen Kabylen nicht. Sie unterscheiden Farmweiler (l'hathiv; Sing.: l[h]asib), kleine Dörfer (= thicharubin; Sing.: thacharubs; damit bezeichnet man auch gleichzeitig ein Dorfviertel) und große Dörfer (= thudar; Sing.: thadarth; auch spricht man von thudar thinkoranin; Sing.: thadarth tamkorant). Das Dorf zerfällt in Gehöfte (=imrachen; Sing.: amrach; große Gehöfte auch wohl l'hauarin; Sing.: l'hara; kleines Gehöft =tamracht), die dann und wann auch ganz einsam abseits in dem dazugehörigen Farmen liegen, während sie sonst sich in der Gemeinde dicht ineinander schmiegen.
Das moderne Kabylenhaus weist nichts, aber auch nichts Bemerkenswertes auf. Das moderne Haus stellt sich als ein kleines Lehmhaus mit Giebeldach, gedeckt mit aus Frankreich importierten Dachziegeln, dar. Die Wände sind gewöhnlich kastenmäßig wie unsere Betonbauten aufgeführt, und der europäische Dachstuhl liegt mit der Zimmerdecke direkt auf diesen "gegossenen" Wänden auf. Die Zimmerteilung weist gliedernde Wände mit Türen auf, die Außenwand Fenster mit Scheiben. Einige byzantinisch-arabische Truhen, womöglich europäische Eisenbetten, europäische Küchen-
geräte und sonstige Möbel; höchstens noch die altertümliche, wie eine Wagschale an vier Stricken hängende Wiege.Der Wanderer muß schon ein paar Stunden weg von den französischen Kasernementsorten in das Innere vordringen, um dann z. B. in Beni Yenni zu entdecken, daß zwar das Ziegeldach und der europäische Dachstuhl auch hier schon allein herrschen, daß Decke, Dachstuhl aber nicht auf den Mauern lasten, sondern auf Pfählen, die der Mauer Halt bieten, und daß die unteren Räume Reste einer sehr merkwürdigen alten Gliederung in Wohnraum (einfach =acharn) und Viehstall (= adäinin) bieten.
Wer aber das ganze echte alte Kabylenhaus kennenlernen will, muß noch einige Stunden weiter wandern, etwa bis Tirual, wo sich ihm nun das Alte ganz unverwischt darbietet. Hier ist ein ganzes Dorf in die Kurve des Sattels hineingesenkt. Die mit Ziegeln gedeckten Satteldächer haben leicht tonnenförmig gewölbten Dächern Platz gemacht. Jedes Haus, jedes Gehöft zeigt seine sorgfältig dem Wirtschafts- und Sippenleben entsprechende Form. Je nach der Zahl der der Sippe zugehörigen Familien zerfällt ein Gehöft in eins bis fünf Häuser, die im Prinzip alle gleich, wenn auch der Ausführung nach je nach Wohlhabenheit und Sorgfalt der Bewohnenden recht abweichend sind.
Zum Verständnis der folgenden Beschreibung gebe ich als Tafel die Abbildung eines typischen Kabylenhauses aus Tirual. —Seiner ganzen Art nach besteht das Haus aus einem Holzgerüst. Es sind vier vierkantige Holzsäulen (= thighajda; Sing.: thighajdith) in die Erde gerammt, auf denen zwei schwere Wagebalken (= isulass oder imsigiau; Sing.: atheleth) ruhen, die auf der einen Seite mit dem Ende in den Kerben der Säulen liegen, auf der andern aber das jenseitige Paar so weit überragen, daß sie noch den nach dieser Richtung gelegenen Viehstall überspannen. Über diese Hauptbalken kommen nun die gebogenen Querrippen (= thassirinuinin; Sing.: thatsära). Die Wände, die nun um dieses Gestell bis zur Dachhöhe aufgeführt wurden und die nicht die geringste Tragaufgabe hatten, bestanden in alter Zeit aus Holzpfählen und Rutenverflechtung, die dann mit Lehm verkleistert wurden, stellten also primitive Rabitzwände dar. Sie waren demnach schwach und haltlos und mußten jährlich ausgebessert werden. Erst in neuerer Zeit werden die Mauern mit Stein und Lehm ausgeführt, so daß sie Haltbarkeit gewinnen und somit dies Dachgebälk und die Sparren zu tragen vermögen. Die Dachdeckung bestand früher lediglich
aus Erde, die über (auf den Rippen ausgebreiteten) Matten festgeschlagen wurde. Entsprechend der Biegung der Rippen war das Dach leicht gewölbt und gewährte dem Regen leichten Abfluß.Das Innere des Hauses zerfällt im ganzen in drei Räume. Von der Breitseite durch die Tür (= theburth) gelangen wir in den Wohnraum (=acharn), der in der Mitte das Feuerloch (=känun), links eine mit Krügen besetzte Lehmbank (die likthar) und rechts die Bank für die mächtigen Speicherurnen (= akufin oder akufi; Plur.: ikufän) aufweist. Diese Speicherurnen bergen einen Teil der Getreideernte. Das Getreide wird von oben hineingefüllt. In der Mitte der tonnenartigen Gestalt ist eine Öffnung (= tatirtoscha), die mit einem Pfropfen aus Rinde (= legham) verschlossen ist. Hier fließt beim Öffnen der Hausfrau der Tagesbedarf zu. Es sei gleich betont, daß auch heute noch die Kabylen nicht ihre gesamten Vorräte in diesem Akufin aufbewahren. Sie haben vielmehr draußen in den Farmen und in versteckten Gegenden noch Silos. Das sind trichterförmig nach unten sich erweiternde Speichergruben (=thitheraphin; Sing.: thetheräft), auf die ich später noch zurückkommen werde.
Am Fuße der Akufin-Urnenbank (= tedequant) sind drei Öffnungen, neben ihr eine große, nach unten führende, über ihr eine kleine, nach oben leitende, fensterartige Tür. Die kleine letztgenannte, fast lukenartige Öffnung führt in das Tarischt, das ist das über dem Viehstall errichtete Pfahlbett, die große Tür aber in den vertieft angelegten Viehstall, in dem das Rindvieh und die Esel stehen und ihre Köpfe durch die Fensterchen am Fuße der Urnenbank stecken.
Das so entworfene Bild wiederholt sich im wesentlichen in allen echten Kabylenhäusern alten Stils. Zuweilen sind Urnen und Wände bemalt, zuweilen nicht. Zuweilen ist an der Wand gegenüber der Eingangstür (also zwischen der Urnen- und der Krugbank) noch ein Bortbrett (= tethkthars) angebracht. Die drei Fensterlöcher in der Urnenbank (=methaueth; Sing.: methueth) liegen zuweilen etwas höher, zuweilen etwas tiefer. Das alles sind unwesentliche Spielformen, ebenso wie es auch vorkommt, daß das Hausgestell statt zwei, drei oder gar vier Längsbalken hat und demnach statt mit vier, mit sechs und acht Säulen ausgerüstet ist.
Ein großer Teil der äußerlich so einfach und übersichtlich erscheinenden Häuser birgt aber noch ein Geheimnis, die Baerka. In der Krugbank befindet sich in solchen Fällen eine Öffnung, die
für gewöhnlich mit einem der wunderschön bemalten Krüge zugestellt ist, so daß ihr Vorhandensein dem flüchtigen Beschauer entgeht, was ganz der Absicht der Bewohner entspricht, denn diese Öffnung führt in die sich gleich den Silo, trichterförmig erweiternde Baerkagrube, d. i. aber das geheime Versteck, in dem nicht nur die wichtigsten Kleinodien der Bewohner aufbewahrt, sondern auch wohl liebe Menschen vor den der Blutrache folgenden Nachbarn, in neuerer Zeit auch vor den Franzosen flüchtende Deserteure und sonstige Schützlinge tagsüber vor den Augen der Welt versteckt gehalten werden.Damit ist das Geheimnisvolle aber nicht erschöpft. Als ich bei der Märchenforschung bestimmte Vorgänge des Kabylenlebens mit diesem Architekturbilde in Einklang zu bringen suchte, wollte mir das nicht gelingen, und einem spontanen Einfall folgend, nahm ich mir eines Tages den vertrauenswürdigsten meiner alten Berater beiseite und sagte ihm auf den Kopf zu: es müsse in alten Kabylenhäusern noch einen größeren unterirdischen Raum als nur diese Baerkagrube geben. Der Mann wurde verlegen. Meiner Beweisführung war nicht gut zu widersprechen und am andern Tage schon waren wir wieder nach Ait Bou Mahdi unterwegs, wo ich allerdings nicht ganz ohne Gefahr - die Kabylen sind leicht erregt und zeigen in der Erregung unberechenbare Zornausbrüche - dann die Baerkaanlage aufnehmen, konnte, die ich in dem zweiten Architekturbilde zur Darstellung brachte und die sein Inhaber als das wertvollste Geheimnis seines Hauses bezeichnete (siehe Tafel 3).
Wie aus dem Plane zu ersehen ist, stellt diese Baerkagrube einen vollkommenen Kellerraum dar, der genau unter dem Wohnraum liegt, dessen Dach wie der Oberraum von einem Säulensystem getragen wird und in den man auf zwei Wegen gelangen kann. Einmal kann man ihn nämlich auf einem rampenartig vom Viehstall herabführenden Weg erreichen; dann aber kann man auch wie in die gewöhnliche Baerkagrube durch das Loch in der Krugbank, und zwar mittels eines Kerbbaumes, zu ihm herabsteigen. In solchen Baerkagruben, die sich übrigens durch eine geradezu fürchterliche Luft auszeichnen (nicht nur die Ausscheidungen des Viehes sickern hier herab, sondern auch die Abflüsse der außerhalb des Hauses angebrachten Aborte schischura fanden in dem mir bekanntgewordenen Falle in den baerka oder der'b genannten Raum statt), können natürlich eine ganze Reihe von Menschen und ganze Viehgruppen für einige Zeit verborgen gehalten werden. — Diese Der'b
sind eine uralte Einrichtung der Kabylen. Früher war wohl auch die primitive Ölmühle, die thetheraft, dort unten gelegen, und dann führte der Raum den Namen tibaerkischt.Die Entdeckung des Der'b regte meine Überlegungen an. Die ersten Stücke der Schöpfungslegende führte mein Axiom fast zur Sicherheit und zur Überzeugung der Tatsächlichkeit. Die Unterhaltung floß, und die Worte l'harar authirilt und ighranione (Plur.: aagromonth) fielen. Es war kein Zweifel mehr: Auch die heutigen Kabylen haben noch unter der Erde gelegene künstliche Wohnstätten.
Ich muß mich aus verschiedenen Gründen heute noch damit bescheiden, nur einige erste Mitteilungen über diese Bauten zu machen, von denen mir zwei persönlich bekanntgeworden sind.— Es gibt außer den ursprünglich vorhandenen und lediglich künstlich erweiterten Höhlen = rhera (Sing.: rha) unterirdische Wohnungen, die in die Böschung flacher Hügel hineingegraben wurden. Eine solche l'harar-dauthiilrt hat zwei Eingänge, nämlich eine Tür, die vom Tal aus zu ebener Erde in die Wohnung leitet, und ein Einsteigeloch, das durch einen schrägen Kamin vom oberen Teil des Hügels über eine Korbleiter hinabführt. Die Anlage ist also genau die gleiche wie bei einem Winterhaus der Eskimos oder bei jenen Stämmen des Innern Kleinasiens, die Xenophon und seine Begleiter der Anabasis in reges Erstaunen versetzten. Die eine der unterirdischen Wohnungen der Kabylie, die ich kennenlernte, war nichts weniger als ein "finsterer Höhlenschlupfwinkel". Die Wände waren wundervoll geglättet und gefärbt. Die Nebenkammern waren zierlich geschmückt, die Durchgänge sorgfältig behandelt. Die Kabylen lernte ich als Troglodyten achten. Vom Begriffe unserer Räuberhöhlen war hier nichts, aber auch gar nichts. Dagegen war für etwaige Sorgenzeiten mit einem fast überreichen Komfort vorgebeugt. Die Luft hatte nichts von dem üblen Zustande in dem Der'b Ait Bou Mahdis.
Diese unterirdische Bauweise, die in der Kabylie so sorgfältig geheimgehalten wird, ist in der Berberei eine weitverbreitete gewesen. Die Höhlenbauten in den Bergen von Gurian in Tripolis sind bekannt. Im Medjordatale Tunesiens, sowie bei Silla lernte ich Reste kennen, in Marokko sind sie vorhanden, und ein anderes Mal werde ich den Beweis führen, daß dieser Höhlenbaustil vielen Oasenarchitekturen das Leben gegeben hat. — Nirgends aber ist der Stil so gut, so edel und die Ausführung bis ins Detail so glänzend
erhalten wie bei den Kabylen. Nirgends hat außerdem eine so merkwürdige Verschmelzung dieses Tiefbaustils mit einem Hochbaustil stattgefunden wie z. B. in dem wiedergegebenen Hause Ait Bou Mahdis.Wenn so die eine Urform der zwei Stilarten klargelegt ist, so soll nun auch der anderen, der Hochbauform ein Wort gewidmet werden. —Nachdem ich die verschiedenen Architekturen von Tirual und Ait Bou Mahdi aufgenommen hatte, kam ich im Jahre 1914 in eine eifrige Unterredung mit meinen kabylischen Beratern. Das Problem, das bis zum ernsten Disput erörtert wurde, gipfelte darin, ob ursprünglich mehrere und zwei, eine ungerade und eine gerade, Zahl von wagerechten Balken dem Gerüst des Daches als Gerüst gedient hatte. Damals schon notierte ich die technische Bezeichnung akebole; Plur.: i(e)kueber, ohne erraten zu können, was damit gemeint sei. Erst im Jahre 1917 wurde mir seitens meiner damaligen Schützlinge vollkommene Aufklärung.
Ich habe von jeher die Beobachtung gemacht, daß fast alle Völker zwei verschiedene Hüttenformen haben, eine, die für ständigen Gebrauch und eine andere, die auf der Wanderschaft eilig und nur für kurze, oft nur einnächtige Hausung errichtet wird. Oft, wie z. B. bei den Fulbe, sind beide Hüttenformen nach dem gleichen Prinzip gebaut und unterscheiden sich nur durch angewandte Sorgfalt und Maßgebung. Viel häufiger aber ist der Fall, daß beide Hüttenformen verschiedenen Stilprinzipien ihr Dasein verdanken. Bei den Berbern nun konnte ich überall zwei Stile erkennen, den für die feste Siedlung (in kubischem Holzgestell und Stein- bzw. Luftziegelbau) und den für die Wanderschaft. Heute haben sich auch die Berber für die Wanderschaft mehr und mehr das arabische Wollstoffzelt angeeignet, und nur verhältnismäßig selten noch errichten sie ihre "alten Gurbis", wie die Strohwanderhütten von den Franzosen genannt werden.
Die alten Berbergurbis waren durchaus eigenartig; sie bestanden dem Innenbau nach aus zwei etwa 1 1/2-3 Meter voneinander entfernt aufgerichteten, oben gabelförmig auslaufenden Holzsäulen, in deren Gabelung oben ein Querbalken wagerecht gelegt wurde. Dieses einfache Gerüst bietet der ganzen Hütte Halt, ist das A und das Z der Tektonik. Hierüber werden, nach den Seiten im rechten Winkel zur Richtung des Mittelbalkens, nach vorn und hinten aber bogenförmig abschließend, gebogene Ruten gebunden, deren Enden in den Boden gesteckt werden. Auf diese Weise entsteht eine ovale
Hütte; die ovale, dann und wann durch eine schneckenförmig die Tür aussparende, etwa 1/2 -I Meter hoch aufgerichtete Wand aus Steinschichtung modifizierte Form ist das Grundprinzip der alten Berberhütte, von der ich mit Bestimmtheit sagen kann, daß sie in vorgeschichtlichen Zeiten nicht nur als Wanderhütte mit Holzgebälk, sondern auch als ständige Hausung mit Steinsäulen Verwendung fand. Denn ich fand mehrfach Ruinen entsprechender Art.Das tektonische Gerüst, bestehend aus den zwei Gabelsäulen und dem Querbalken, das ich in wörtlicher Übersetzung aus dem Arabischen als "Galgen" bezeichnen will, hatte nun früher bei den Berbern (nicht aber anscheinend bei den Arabern) eine gewisse mythische Bedeutung. Im Aures hörte ich einmal das Sprichwort: "Wer mit dem Blutsfeind gemeinsam nur einmal unter einem Galgen hinging, darf ihm nichts mehr antun." Dabei ist es gleichgültig, ob es nur der "Galgen" eines Gurbi oder der eines Kartenhauses ist. Es genügt sogar, daß es der "Galgen" ist, der hier und da bei Steinhäusern als Türrahmen dient. Anderweitig bringt man Amulette am "Galgen" an, die dem unter ihnen weg Schreitenden Gutes oder Böses zufügen, die ihn schützen oder ihm Leid antun. Besonders wichtig war es früher, daß einige Ährenbündel von dem Saatkorn an einem "Galgen"aufgehängt wurden, das brachte allen darunter Weilenden Segen.
Alle diese Formen des Galgenglaubens sind sogut wie ausgestorben genau wie der Galgen selbst. Das ist ganz natürlich. Denn in den Berberländern verschwindet ja mit der ganzen Pflanzendecke auch mehr und mehr das für Galgenherstellung geeignete Holz. Das Dach wird demnach immer häufiger von den Mauern als von Gabelstützen getragen. — Dieses alles muß ich voraussenden, um das Nachfolgende verständlich zu machen.
Im Jahre 1917 ließ ich mir nun von meinen kabylischen Schützlingen allerhand Zeichnungen anfertigen, so auch von Häusern und Hütten. Schreibkundige Jünglinge setzten dazu Listen der zugehörigen kabylischen Worte auf. Wie erstaunte ich nun, als ich das mir schon seit längerem bekannte Wort akebole; Plur.: i(e)kueber vorfand, und zwar diesmal als Bezeichnung für das mir bekannte ovale Berbergurbi mit Galgenkonstruktion. Der Galgen wird hier meist von zwei, zuweilen aber auch von drei oder fünf Gabelsäulen gebildet, und in solchem Falle ist dann die mittelste höher als die andere. Der von den Gabelbalken getragene Firstbalken, der Atheleth; Plur.: ithuleth galt nun den alten Kabylen
als Hauptstück des Hauses, und ich konnte eine kurze mythologische Notiz einsammeln, der zufolge der Galgen und im speziellen "der Atheleth der Vater des Hauses ist, der früher tatheleth (also weiblich!) hieß und sich mit den ishgua (den Gabelstützen) geschlechtlich vereinigte".Damit ist ganz klar erwiesen, daß sogar nach der mythischen Auffassung das übliche Acham-Haus, der kabylische Hochbau, sich aus der Ovalhütte entwickelte, daß also der Galgen als Grundprinzip durch mehrmals nebeneinander gesetzte Wiederholung zu dem kubischen Kabylenhaus führte. Aber nicht nur diese. Auch der Schneckengang der Berbergurbi hat sich im Grundplan erhalten. Wenn im Gurbi mit Vieh gelagert wurde, trieb man letzteres nach rechts hinein und lagerte links. Genau ebenso liegen heute im Kabylenhaus Viehraum und Wohnraum zueinander und die nach rechts in den Viehstall mündende Tür entspricht dem alten Schneckeneingang.
Kehren wir nun zurück zu dem Plan des Hauses von Ait Bou Mahdi.
Hier haben sich die beiden Bauprinzipien der Berberländer, das des Tiefbaues und das des Hochbaues, miteinander vereinigt. Der in seiner Art ungemein sachlich und zweckmäßig ausgebildete Hochbau enthält noch alle Anzeichen der Entwicklung aus der ursprünglichen Wanderhütte. Es ist nicht, wie bei den anderen Berbern, ein kümmerliches, charakterloses Kartenhauswesen daraus entstanden, sondern ein durchaus eigenartiges, stilvolles Gebilde. Im Tiefbau aber sind sowohl der seitliche Flachgang wie der kaminartige Einstieg erhalten.
Was bei den anderen Berbern verkümmert oder untergegangen ist und in gleichgültigen, abgeflachten Formen ausfließt, hat bei den Kabylen stilreine Weiterbildung erfahren. Das Aussterben auf der großen Fläche des Berbertums einerseits und das enge, kraftvolle Sich-Zusammendrängen in der Kabylie tritt hier noch deutlicher zutage. Es ist, als ob eine große, weitverzweigte Pflanze ausgeblüht hat und hinstirbt, vor dem Untergang aber alle ihre Lebenskraft noch in einem Samenkorn zusammenfaßt, das "die Art" erhält.
Und dann: Wie klar lebt in der Schöpfungslegende die Erinnerung an die Entwicklung des Bauwesens weiter! Unter der Erde, im Erdhöhlenhaus, lebten die Ureltern; erst eine jüngere Generation baute oberirdisch. Wie tief wurzelt hier geschichtliches Wesen und Wissen!
Die patriarchalischen Sippen und Altersklassen
Das in den Kabylen noch lebendige Geistesleben des Berbertums ist so stark, daß trotz aller fremden Einflüsse sein Grundwesen sich treu blieb. Das gilt nicht nur für solche Äußerungen der Kultur, wie sie bisher geschildert wurden; das gilt auch für den Innensinn des gesellschaftlichen Lebens, das doch, rein äußerlich genommen, am meisten den umbildenden Einwirkungen des Islam ausgesetzt war. Der Islam und seine formende Gesetzgebung herrschen herrschen nicht bedingungsweise, sondern absolut. Das mag man aus dem schönen Werke von Hanoteau et Letournent ("La Kabylie et les coutumes kabyles") ersehen. Aber sie herrschen nur als Formen, sind nur Werkzeuge, sind nicht Inhalt und nicht Werkmeister.
Das ganze Gesellschaftswesen der Kabylen beruht auf der Grundlage patriarchalischer Sippengliederung. Zu einer Sippe (als Bezeichnung wird heute vielfach das Wort lajal verwendet) gehören alle männlichen Abkömmlinge aus einer Manneslinie, also Großvater, Vater und dessen Brüder, die Söhne und ihre den Vaterbrüdern entsprungenen Vettern usw. Fernerhin sind in der Sippe, allerdings als gänzlich rechtlos, eingeschlossen alle Frauen, die hineingeheiratet haben, nie aber etwa deren Brüder, Väter usw. Da alle Weiber a priori rechtlos sind, besteht also der Sippenverband auch gewissermaßen nur aus Männern.
Vielfach wohnen die Sippenglieder nahe beieinander, oft große Gehöfte, zuweilen Dorfwinkel bildend. Diese "Imaulan" sind nach innen gegliedert nach Altersklassen, nach außen abgesondert durch die gemeinsame Pflicht zur Blutrache.
Früher zerfielen alle Imaulan sehr streng in gleichschichtige Altersklassen, nämlich: 1. die Greise = imrharen; Sing.: amrhar oder amghar), II. Patres familias (=irgessen; Sing.: argäss; d. s. also die "wirklichen Männer"), III. die jungen Männer (=illmsien; Sing.: ill'mseing), IV. die unreifen Knaben (= ärräsch; Sing.: akschisch). Die ilufamen; Sing.: lufan, d. i. kleine Kinder, das sind sowohl Knaben als Mädchen, rechneten überhaupt nicht zu den Männern, sondern zu den Weibern. Die verschiedenen Altersklassen hatten ganz bestimmte Aufgaben.
Die IV. der unreifen Knaben hatten die zeremoniellen Spiele bei den Festen. Das mag sonderlich anmuten, da sie doch als die unreifen angesehen wurden. Es wurde das aber sehr gut damit erklärt, daß diese Knaben noch kein Blut vergossen hätten, daß sie
also noch keinerlei Rachegeister hinter sich hergezogen und sowohl als "Blutreine" wie auch "Geschlechtsreine"gewissermaßen überhaupt sündlos und rein waren. In diesem Sinne waren diese Knaben als noch Reine zur Ausführung des Kultes geeignet, so wie die Greise als wieder Reine die Anleitung dazu geben konnten.In welcher Weise die Knaben früher zu Jünglingen bzw. jungen Männern wurden, die an den Männerversammlungen teilnehmen durften, sagt eine einzige Erinnerung: durch die Bluttat und durch die Zeit der Enthaltung wurde der Akschisch zum ill'mseing. Deutlichere Hinweisungen geben die Märchenauslegungen: sorgsame Väter suchten ihre Kinder von der ersten Bluttat durch Erziehung in der Abgeschlossenheit fernzuhalten; böse, alte Weiber trieben sie mit Macht dazu an. Sicherlich ist einem jungen Kabylen die Verehelichung erst nach einer Bluttat, ob diese nun auf der Jagd oder im Kampfe ausgeführt war, zugebilligt worden, und zwar aus dem Grunde, weil vorher der junge Knabe zwar rein, sein Same aber noch unfruchtbar war. Der männliche Same wird erst so fruchtbar wie der Itherthers nach einer Bluttat, so daß hier wohl die Anschauung, daß jeder überwundene Feind gleichbedeutend mit einer Vermehrung magischer Kräfte ist, hindurchleuchtet. Das ist aber sicher: Die zur Hervorbringung von Kindern nötigen magischen Kräfte gingen nach kabylischer Ansicht nur vom Manne, in keiner Weise von der Frau aus. Die Frau war und ist heute noch lediglich Durchgangsgefäß. Ein alter Kabyle sprach die durchaus charakteristischen Worte: "So wie Itherther seinen Samen in die Steinschale fallen läßt, so der Mann in das Weib. Das Weib ist wie die Steinschale, aus der die lebenden Gazellen hervorgegangen sind. Die Steinschale war das Weib Itherthers." — Der Mann ist also der Gebende, der schöpferische Teil, und die schöpferische Kraft gewinnt er nur durch Tat und der Tat folgende Reinigung.
Nun die Männerversammlung. Jedes alte Kabylendorf, ja jede Gehöftgruppe und, wenn es allein liegt, sogar das Gehöft hat zum mindestens einen Tajemait oder Tachemait; Plur.: tischemuja. Das ist ein im Freien angelegter Platz, der durch eine im Kreise angeordnete Reihe von Steinsitzen bezeichnet ist. Auf diesem Männerplatze kommen die Leute zusammen zu den Beratungen der Sippe, des Dorfes, des Stammes oder des Bundes. Weiber haben nie Zutritt und ebensowenig die Ivranijen (Sing.: abrani). Außer dem Tajemait vor dem Dorfe gibt es aber im Dorfe noch ein "Männerhaus", das heute Djemaa genannt wird, das gleichzeitig
als Moschee dient und das auch die Lagerstätten durchreisender Freunde birgt. Die Djemaa hat nichts von der Exklusivität des Tajemait.Auf dem Tajmait tagen die Männer der 1. bis III. Altersklasse. Die Greise geben ihren Erfahrungen, die Männer ihren Überzeugungen Ausdruck und die Jünglinge schweigen. Auf dem Tajmait werden alle Rechts- und Besitzfragen, wird alles das Gemeinwohl Betreffende erörtert und entschieden. Hier versammeln sich aber auch am Abend die Alten mit den Jungen, und hier werden die in Märchen- und Legendenform gekleideten Belehrungen erteilt. Auf dem Boden des Tajmait lebt die alte Berberkultur.
Außer dem Tajmait gab es aber noch den Thimamorth und den Tachluit. Der Tajmait ist der rein profane Männerplatz, der heute noch überall verbreitet ist, während Thimamorth und Tachluit, beide wohl stets geheimgehalten als Heimstätten alter heidnischer Gebräuche mit dem Siege des dogmatisch strengeren Islam aus der offenen Tatsächlichkeit in die verborgene und vielfach bis zum Gedächtnisleben und Verschellen zurückgedrängt sind.
Der Thimamorth galt dem Blutgericht; auf ihm kamen die 1. und die II. Altersklasse zusammen. Hier wurden die Männer der II. Altersklasse nach vorhergegangenen heiligen Opfern in die Geheimnisse der Schöpfungsmythe eingeweiht. Der Tachluit aber war das geheimnisvolle Gebiet, auf dem nur die ältesten Männer, die Imrharen, sich versammelten und dem andere Männer sich nur nähern durften, wenn die Leiche eines Greises bestattet wurde. Der Tachluit war mit Steinplatten bedeckt und mit einer Reihe Steinsitzen umgeben. Unter den Steinfliesen fanden diejenigen Greise, die sich durch besondere Klugheit, Güte und Reinheit ausgezeichnet hatten, ihre Grabstätte. Diese Leichen wurden dann bekleidet mit Gewändern, die es heute nicht mehr gibt. Sie bestanden aus Stoffen, die kunstfertig aus Schilf (= diss) gewebt waren. Es waren das Tücher,, dreimal so lang wie breit. In der Mitte war ein langes Loch hineingeschnitten, durch das man den Kopf steckte; die langen Enden fielen so vorn wie hinten gleichlang über Oberkörper und Arme bis zu den Knien herab. Um die Lenden wurde es mit einem Gurte zusammengehalten. War der Greis in jüngeren Jahren ein großer Jäger gewesen, so gingen jüngere Leute auf die Jagd, erlegten eine Antilope und trugen sie zum Tachluit. Seitwärts des Platzes wurde die Beute enthauptet, vom Schädel wurde ein Horn abgelöst, das mit dem Blute des Wildes gefüllt und mit dem oben schon erwähnten
Atherhorn des Verstorbenen neben seiner Leiche Platz fand.Im übrigen wurde aus dem Blut, aus Leber, einigen Fleischstückchen und einigem Wasser auf sonderliche Weise (die die Kabylen aber auch sonst anwandten) ein Gericht gekocht. Aus der Haut des Wildes, und wenn es ein Büffel war - so erzählt die Legende -, aus seiner Magenhaut wurde ein Sack gemacht, der mit den Speiseingredienzien gefüllt war. Ein solcher "Kochsack" hieß aidi-dissibui. Zwischen zwei stehenden Steinen wurde nun ein starkes Feuer entzündet, das die Steine stark erhitzte. War es herabgebrannt, so wurde es während des nun folgenden Kochens nur noch glimmend unterhalten. Schlug die Flamme aus nachgelegtem Holz zu hoch, so wurde sie mit einer tharkist genannten Keule niedergeschlagen. Das Kochen selbst erfolgte in der Weise, daß durch den Beute! der sogenannte Imkethäven-buthar, eine Art Bratspieß, gesteckt wurde, dessen beide Enden auf die Standsteine zu stehen kamen und hier gedreht wurden. So wurde das heilige Totenmahl für den verstorbenen Jäger bereitet und nachher von den versammelten Greisen auf dem Tachluit verzehrt -soweit sie in ihrem Mannesalter Jäger waren. Die Greise, die solchem Berufe nie sonderlich gefrönt hatten, beteiligten sich nur, indem sie einige an Ort und Stelle über einer Steinplatte geröstete Brotfladen zu sich nahmen. Denn alle alten Männer, die nicht Jäger waren, pflegten sich überhaupt, und besonders auf dem Tachluit, mit zunehmendem Alter nur noch vegetarisch zu ernähren. — Einmal begann ein alter Mann eine Erzählung mit den Worten: "Es war noch in der Zeit, als die Greise sich nur noch von Pflanzenkost ernährten."
Die eigentlichen tatkräftigen Leiter der Sippe und die Verwalter des früher das Privatvermögen offenbar weit übersteigenden Sippenbesitzes waren die Männer der II. Altersklasse. Sie waren auch die Führer des unten zu besprechenden Ithrumen (Sing.: Athrum). Die Greise aber waren die Hüter des geistigen Lebens, die Wahrer der alten Tradition, die Leiter aller Opfer und Opferspiele, von denen ich auch nachher einiges berichten werde.
Derart gruppierten sich die Kräfte auf den verschiedenen Männerplätzen. Früher war das alles streng geschieden, innerlich wie äußerlich. Heute hat die Moschee den Männerplatz vielfach und jedenfalls in seiner Verschiedenartigkeit zurückgedrängt und teilweise auch beseitigt, so daß die Kräftegruppierungen sich nicht mehr so stark in Außenformen ausdrücken und in der Betonung der Außen-
formen kräftigen können. Deswegen bestehen die Kräfte an sich aber doch immer noch fort. Sie sind so reif und selbstverständlich, daß sie nicht mehr wie im Jugendstadium der formalen Sitten als Krücken benötigen. Heute wirken sie unbewußt, aber desto zielsicherer. Es ist hier genau so wie auf vielen anderen Gebieten des Kulturlebens. Sogar bei uns verstehen wir mancherlei Innenwirkung nur, wenn wir uns die Formen klarmachen, die sie in ihrer Jugendzeit äußerlich prägte.Die Kabylen benötigen heute der äußeren Betonung der Männerklassen nicht mehr. Die Eigenart des Wesens ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Und manche Entscheidung nach "islamischem Gesetz" begreifen wir nur, wenn wir uns die unter dem Schleier des Islam herrschende ältere und stärkere Eigenart klarmachen.
Früher Kasten, jetzt Parteien
Die Sippen- und in den Sippen die Altersklassengruppierung stellen die Grundlage alles altkabylischen Gesellschaftswesens dar. Eine Gruppe von Sippen bildete die Gemeinde, die Zusammenfassung der verwandten Gemeinden den Stamm, ein Zusammenschluß mehrerer Stämme führte zur Bildung eines Bundes (=tach'ebilt). Staatenbildungen in unserem Sinne gab es nicht. Ein kabylischer Fürst europäischer Art wäre den Berbern überhaupt auf die Dauer eine Unmöglichkeit, und so sehen wir denn auch alle Versuche des Altertums, Dynastien zu bilden, immer wieder scheitern, nachdem sie ganz formell und äußerlich unter dem Einfluß fremder Mächte ein mehr als problematisches Scheinleben geführt hatten.
Jedes Dorf hat aber seinen Führer, der heute mit dem arabischen Wort Amin (Emir) bezeichnet wird, der früher aber der Agelith war. Der Amin wird gewählt. Ihm zur Seite treten die Tarnen, das sind die Führer der Sippengruppen. Dazu kommen dann noch die ebenfalls gewählten Führer der Bünde und die aus persönlichem Einfluß herausgewachsenen Führer des ausgesprochenen Parteiwesens. Also alles zusammengenommen: nicht eine einzige erbliche Stellung, sondern alles auf Zutrauen und Persönlichkeit beruhend und nach jeder Richtung einem jeden äußerste Selbständigkeit gewährend.
Indem die Sippen sich zu Dörfern, diese sich zu Stämmen und
diese sich wiederum zu Bünden vereinigen, ist eine Richtung zu höheren Gesichtspunkten geboten, weshalb wir diese dem Sippen- und Männerklassenwesen erwachsende Linie als die senkrechte bezeichnen wollen. Das Bundwesen ist das Leitmotiv in der Gruppierung der Altersklassen eines Sippenverbandes, wie in der der Stämme zu umfassenden Bünden.Diese senkrechte Entwicklungslinie wird aber geschnitten von Gliederungen und einer anderen Idee des Gesellschaftslebens, deren Wirkungsrichtung ich, da er die erstere kreuzt, als den wagerechten Werdegang bezeichne.
In sehr alten Zeiten waren die Kabylen wie alle Berber in Kasten gegliedert. Man wird der Bedeutung der verschiedenen Spielformen wohl am besten gerecht, wenn man von vier Echrumen (Sing.: achrum) spricht.
Die erste Kaste war die der Igelithen (Sing.: agelith). Dies war ein besitzender Adel. Seine Vertreter waren die Leiter der Sippengruppen und der Ortschaften. Sie waren die Besitzer der Farmen, Führer im Kriege und die Helden der "Zeit der Märchen". Mit dem Worte Agelith verbindet das Volk den Begriff der "Sehr guten", der "Wahren", der "Rassereinen" und den der Klugheit. Heute gibt es keine Igelithen mehr. Sprechen die Kabylen von reinrassigen adligen Menschen, so nennen sie diese heute mit dem Ausdruck l'harr (Plur.: l'harro). Als Führer aber ist an der Stelle des Agelith der Amin (=Emir) ein wählbares Oberhaupt geworden. —Von ganz besonderer Bedeutung ist es nun, daß diese Agelith (ich benutze der Einfachheit halber den kabylischen Singular auch in der Mehrzahl) nicht nur Herren der Felder und Herren im Felde waren. Sie waren auch Herren des Feuers, und deshalb - so erklärt es die mythische Erinnerung - gehörten zu ihnen auch die Ichadethen (Sing.: achadeth), das sind die Schmiede. Damit aber steht die berberische Gesellschaftsordnung in einem noch ausgesprocheneren Gegensatz zu der arabischen. Denn wenn schon die Araber stets dazu neigen, dem Nomaden, dem die Wüste Durchstreifenden, den Bauern als Adel gegenüberzustellen, so gibt es für den Araber nichts Erbärmlicheres als den Schmied. Alle afrikanischen Araber setzen den Schmied auf die unterste Stufe der Berufsachtung. Der Achadeth gilt aber bei den Kabylen bis heute noch als ein sehr geehrter Mann, sein Beruf als ein hoch zu achtender. — Und das verstehen wir leicht, wenn die Erinnerung hier von seiner einstigen Zugehörigkeit zur Adelskaste zu berichten weiß. Diesen Gesellschafts- und
Berufsgedanken vermochte die islamisch-arabische Welle nicht zu verdrängen.Die zweite Kaste war vertreten durch die L'hasos (Sing.: l'hass.) Diese L'hasos (das o sehr scharf gesprochen, daß es fast wie a klingt) waren Sippen, die nicht mehr rein erhalten waren, die aber ihren Besitz eingebüßt hatten. Sie galten also wohl als Nachkommen der Agelithkaste, die aber verarmt und heruntergekommen waren; Verarmte und Heruntergekommene können sich aber nach kabylischer Ansicht nicht rassenrein erhalten und deshalb bildeten sie eine zweite Kaste. Das Wort L'hasos ist im Volksmunde auch heute noch recht gebräuchlich. Man versteht darunter einen Abtrünnigen, einen Unzuverlässigen, einen Mischung geistiger Kreuzung, auch wohl einen Törichten.
Die dritte Kaste sind die Ichamassen (Sing.: ach(e)mass), das sind Hörige. Die L'hasos saßen noch auf Höfen, die allerdings dem Agelith mehr oder weniger verpfändet waren. Sie hatten aber noch vollkommene Freiheit der Person und Familie. Sie konnten ihren Wohnort verlassen. Sie konnten arbeiten, für wen sie wollten. Die Ichamassen hatten diese Freiheit nicht mehr. Sie gehörten mit Körper und Familie irgendeinem Agelith, dessen Farmen sie bestellten; für ihre Arbeit wurden sie mit einem Anteil an Feigen, Öl, Korn usw. bezahlt. Wenn ihr Herr ein großes Gehöft hatte, so wohnten sie mit darin, in einem Nebenhäuschen, einer Kammer. War sein Gehöft klein, so lebten sie in kleinen Formhöfen. Die Ichamassen sind heute noch als solche erhalten, sind aber im Laufe der Zeit zu freien Arbeitern geworden. Denn im gleichen Tempo, in dem die große Wohlhabenheit des Agelith hinschmolz, nahm das Vermögen der ärmeren Leute zu; an Stelle des Naturaltausches trat die Geldwährung, und so kann es auch der Arbeiter zu etwas bringen. Da es aber eine Sklaverei in unserem Sinne für Angehörige der hellen Rassen nicht gab, so hatte dieser Gang der Dinge kein schweres Hindernis zu überwinden.
Die vierte Kaste nahmen die Icharasen (Sing.: acharas) und die Ichenaijen (Sing.: ach[e]nai) ein, die Zunft der Lederarbeiter und die der Barden. Bei den alten Kabylen scheint die Lederarbeit zunächst in den Händen der Frauen gelegen zu haben. Wenigstens wurde mir einmal gesagt, das lederne Totenhemd der Alten hätten deren Töchter oder Schwiegertöchter bereitet; dann: die Frauen machten die ledernen Zelte (akethum; Plur.: ikethunen), und zwar verfertigten sie die Decken und stellten sie auch auf. Aus diesem
Lanylie Bau MahdiEndlich gab es noch Sklaven; das waren aber Neger (ach ilan; Sing.: achli[n]) und Negermischlinge (ibarhasch; Sing.: abarhusch). Diese waren käuflich und über alles verachtet. Eine kastenmäßige Stellung hatten sie nicht. Ferner lebten auch hier und da Araber (= arawen; Sing.: arab) unter den Kabylen. Diese aber waren verhaßt. Kabylen und Araber hassen sich auch heute noch, und daß trotzdem an mehreren Stellen Araberstämme von den Kabylen aufgesogen werden konnten, ist auf eine Entwicklung der Achrum, die ich nunmehr schildern werde, zurückzuführen.
Diese Kasten flossen im Sippenverbande ineinander über. Einem Sippenverbande stand der Geschlechtsherr der betreffenden "Adels*
An der Spitze dieses parteiartigen Geheimbundes stand in alter Zeit der Agelith, also ein Adliger. Die letzten Agelith, die an der Spitze solcher Parteien standen, sind heute noch dem Volke bekannt. Es waren zwei Brüder, die vor hundert Jahren starben. Seitdem ist die Stellung eines Acharo b'isrum, eines Geheimbundleiters, nicht mehr erblich. Die Geheimbünde verloren mehr und mehr den aus dem kastenmäßigen Sippenverbande hervorgegangenen Charakter und wurden zu politischen Parteien, deren sich überall zwei —schroff und in hartem Ringen -gegenüberstehen.
Denn die gleiche zähe Anhänglichkeit, mit der alle Berber an ihrer Sippe und ihrer Kaste hängen, die aus Ibn Chalduns Geschichte der Berbervölker ebenso deutlich hervorgeht, wie aus den Daseinsformen der südlicher wohnenden Tuareg, diese Anhänglichkeit übertrug das Kabylentum nun auf die Parteiidee, auf die Athrum. In alten Zeiten der Kastenhochhaltung wurde ein rassenmäßig Unreiner und ein Mischling in diesem Sinne mit dem Ausdruck L'hasos bezeichnet. Heute ist ein L'hasos derjenige, der aus seinem Parteiverbande austritt und einem anderen sich anschließt. Denn es sind keine geheimen Bünde mehr, sondern offen zutage tretende, und jeder Mann gehört mit seiner Sippe einer Partei an und tritt nicht nur im geheimen, sondern öffentlich für sie auf und ein.
Für die Partei, für seinen Ssoff, tut der Kabyle alles. Für sie hat er stets Zeit, stets Geld. Für sie kämpft er und stirbt er. Wenn der Kabyle für längere Zeit auf Reisen geht, ißt er der Reihe nach bei allen Mitgliedern seines Ssoff. Wenn er zurückkommt, ist ihm das Erste, daß er sie zu sich einlädt. Die Zusammenkünfte der Ssoffmitglieder finden nicht auf dem Tadjmait statt. Sie haben keine "Klublokale" wie die Altersklassen. Sie treffen sich auch heute noch entweder
im Hause des Ssoffleiters oder in einem meist dem Ssoffleiter gehörigen Busch. Das ist ein Rest des Kastenwesens, das hier seinerzeit ja auch in der Siedlung gedieh und blühte.Mit den Altersklassen hat das Parteiwesen also nichts zu tun. Vielfach schneiden sich beide Entwicklungsgänge und das ist der Grund, weswegen ich von einer "Wagerechten" und einer "Senkrechten" in der Gesellschaftsordnung spreche.
Die Frau in der Sippe
Die Gesellschaftsbildung der Kabylen beruht nach allem Bisherigen ganz allein auf der patriarchalischen Sippe. Sippenrecht und -pflicht, ausgedrückt durch Besitzgemeinschaft resp. -genuß und unbedingte Blutrache sind so ausgesprochen, daß ein ersprießliches Familien-, soll heißen Eheleben daneben nicht aufleben kann. Der Vorgang der Verehelichung ist ein ungemein roher. Die Sippe kauft eine Frau für einen ihrer herangewachsenen Burschen. Es ist ein regelrechter Kauf nach Sinn wie nach Wort und die Ware selbst, das betreffende junge Mädchen wird prinzipiell nicht gefragt, ob es für seinen zukünftigen Gatten eine Neigung verspürt oder nicht. Der Kauf wird zwischen den Vätern auf dem Tadjemait abgeschlossen und die einzigen Bedingungen sind dabei Unberührtheit des jungen Wesens auf der einen und genaue Einhaltung der Zahlungsbedingungen auf der anderen Seite. Oft wird der Vertrag schon geschlossen, wenn die beiden Hälften des zukünftigen Gespannes in den Kinderjahren sind.
Ich habe oben schon darauf hingewiesen, daß das Weib als Mutter der kabylischen Anschauung nach lediglich Durchgangsgefäß ist. Der Mann pflanzt sich fort. Ja, man kann sogar sagen, daß es gar nicht der Mann persönlich oder individuell ist, der in dem Kinde "sich selbst vererbt", — man drückt diese Anschauung viel treffender aus, indem man sagt: die patriarchalische Sippenlinie pflanzt sich fort. Alte Kabylen sprechen solches wohl aus. Deutlicher aber als alle Sprache äußert eine alte Sitte den Innensinn, die Sitte der Bruderehe. In alten Zeiten hatte nämlich jeder Bruder Anrechte an die Gattin des Bruders. Wie weit der eigentliche Gatte hier eifersüchtige Vorrechte geltend machen konnte, ist mir nicht mehr gelungen zu erkennen. Aber soviel ist sicher: welcher von mehreren Brüdern auch immer der wahrscheinliche Urheber eines Kindes war,
das Kind galt im Grunde genommen mehr als das Kind der Sippe, als als Kind des nominellen Gatten der Mutter. Der Onkel von Vaterseite (Vaterbruder, je nach dem Dialekt = ami oder animi, auch wohl äning; Plur.: leamum) hatte demnach natürliche Pflichten am Kinde. Sein Anteil an der Hilfe im Leben des Neffen oder Anrecht an dem durch den Verkauf der Nichte (in der Ehe) erzielten Gewinn war selbstverständlich. Tat der Mutterbruder (=chuseli; Plur.: chali oder chuali oder chueli) etwas für Neffen und Nichten, so galt das als etwas Besonderes, etwas "Gutes", eine Pflicht bestand für ihn nicht. Deswegen hießen Vettern natürlich mis-animi, d. h. Verwandte von Vaterbruderseite her. Vettern im Sinne der Mutterseite gab es eigentlich nicht.Die konsequente Durchführung dieser Anschauung hat zu Gewohnheiten geführt, die in ihrer Primitivität geradezu erschütternd sind, die auch weder der Islam, noch eine moderne französische Gesetzgebung aus der Welt zu schaffen vermochten. War die junge Frau besonders reizvoll, so war sie nicht nur den Belästigungen ihrer Schwäger ausgesetzt, sondern auch der Verfolgung und Vergewaltigung durch den Schwiegervater, ja sogar durch den Schwiegergroßvater. Islam und französisches Gesetz haben diese eigenartige Gesittung wie gesagt nicht ausrotten können; sie haben beide nur zu einer Verheimlichung, d. h. zu einer Verschlimmerung geführt. Die grauenvollen Bilder, die sich vor den Augen der tiefer Blickenden abspielen, lassen an Schamlosigkeit kaum Schlimmeres erdenken. Diese Anschauung im Bereiche einer geradezu viehischen Sinnlichkeit, wie sie den Kabylen eigen ist, hat in dem Sippenbau eine wollüstig-schwüle Atmosphäre geschaffen, die nichts zu tun hat mit einer biologisch naiven Pantogamie, sondern in raffiniertester Genußsucht gipfelt. Ich habe Einblick in Fälle gewonnen, in denen junge Frauen sich den allseitigen Ansprüchen nur durch freiwilligen Tod zu entziehen vermochten, andere, in denen die Eifersucht den jungen Ehemann zum Selbstmord, wieder andere, in denen sie zum Vatermord führten. Es war ursprünglich meine Absicht, einige solcher Familiengeschichten hier wiederzugeben. Denn sie sind höchst dramatisch. Es würde das aber gleichbedeutend sein mit einem Wühlen in ekelhaftem Schmutz, mit Schilderungen, die unsere europäischen Gefühle peinlich verletzen.
Dieser innerlichen Zügellosigkeit entspricht ein auf das sorgfältigste beobachtetes und durchgeführtes Verbergen. Verlobte gehen, ohne sich anzusehen, mit gesenkten Augen aneinander vorüber.
Und wenn sie verheiratet sind, sprechen Gatte und Gattin in Gegenwart anderer nie miteinander. Auch die Frau schlägt den Blick zu Boden, wenn sie dem Ehemann begegnet. Nie sprechen sich Gatte und Gattin mit ihrem Namen an! Vor der Welt sind sie füreinander nicht vorhanden. Nie wird also bei den Kabylen ein Mann den Namen seiner Geliebten oder Gattin in den Mund nehmen. Der Zauber des Namenaussprechens äußert sich hier deutlicher als in sonstigen heute noch lebendigen Sitten. Nur wenn Gatte und Gattin allein sind, nehmen sie ihr Mahl auch gemeinsam ein. Sonst essen Männer und Frauen unbedingt getrennt.Daß unter solchen Umständen sich ein eigener Frauentypus entwickeln mußte, ist ganz selbstverständlich, und daß er nicht gerade ideal sein kann, nur folgerichtig. Dabei muß eins betont werden: die kabylischen Frauen im Alter von siebzehn bis etwa dreißig Jahren sind von einer bezaubernden Schönheit! Hochgewachsene, schlanke Körper mit feinen Gliedern tragen auf feinlinigem Halse Köpfe, aus deren liebenswürdig klassischem Schnitt ein paar wundervolle Augen klug und fröhlich in die Welt schauen. Wer die Gelegenheit gewinnt, etwa in der Nähe eines Brunnens diese schönen Kinder der Natur ganz unter sich und nicht in der Bewegung durch das Bewußtsein der Nähe eines Mannes eingeengt, zu beobachten, der muß sogleich erkennen: hier bewegt sich ein Geschlecht, das sich sowohl seiner Schönheit als auch seiner Macht und seiner gerade unter dem Zwang eines elend versklavenden Sittenrechtes künstlich großgezüchteten Selbsthilfsmittel bewußt ist. Jeder muß hier sehen, daß die Frauen dieser Rasse viel zu klug und - zu schön sind, um sich zwischen den Mahlsteinen solcher rohen Sippenanschauungen zermalmen zu lassen. Das sind Frauen, die sich ihr Selbstbestimmungsrecht nicht nehmen lassen, Frauen, die durch die Verhältnisse hindurchgreifen.
Ohne Frage an eigene Wünsche der Seele und des Körpers werden diese Wesen in ihrer Jugend verkauft. Danach haben sie sich fast zuchtmäßig nicht nur dem eigenen Mann hinzugeben, sondern durch solche Hingabe an die Sippe lernen sie, je schöner und je klüger, desto reizvoller sie sind, die Begehrlichkeit am anderen Geschlecht kennen, und solche Erkenntnis führt zielsicher zu dem Studium, wie sie etwa die eigene Sehnsucht stillen können, der sie in der Ehe um so bewußter nachfolgen werden, je weniger auf sie beim Eheschluß Rücksicht genommen wurde. Ein alter Kabyle hat mir einmal ein sehr weises Wort gesagt: "Nur die jungen Mädchen, die
in der Jugend einmal einen Fehitritt begingen und die deswegen nur noch einen Mann finden, der sie ,mit dem Herzen' liebt, werden treue Ehefrauen. Alle andern werden ihre Männer betrügen oder ihnen fortlaufen."In der Tat kann man wohl sagen, daß der weitaus größte Teil der Kabylenmädchen jungfräulich in die Ehe tritt, daß aber ebensoviele ihren Mann betrügen so daß dieses Betrügen direkt ein Sport unter den Kabylenfrauen ist -, eine Angelegenheit, zu deren Durchführung der Verstand bis zur äußersten Kunstfertigkeit im Versteckspiel und Mitteilungswesen entwickelt wird. Rein äußerlich tritt das in einem ständigen Weglaufen der Frauen, in Entführungen, in Messerstechereien und vor allem in der Tatsache zutage, daß die Kabylenfrauen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich (ich gebe die Zahl wohl eher zu niedrig als zu hoch an) dreimal den Gatten wechseln.
Der den Kabylen wie allen Berbern eigentümliche Drang zum Verheimlichen, die Lust am Mystischen, das tiefe Verständnis für Reiz und Zauber, heute weniger des mythischen als des persönlichen Geheimnisses, belebt bei den Männern die Bundesbildung (athrum oder Ssoff), führt aber die Weiber zu einem ständigen Aufreizen der Männer und zu unentwegten Neueroberungen von Liebhabern. Das zeigt sich in der Entwicklung einer sehr originellen "Frauensitte", der Lahrouf lekhalath (sprich auch: lacharuf lachalaph), d. h. "Zeichen der Frauen".
Nach einer halbverschollenen Tradition haben die Kabylenfrauen in der alten Zeit, als noch Kleider aus Leder und aus Schilf üblich waren, es verstanden, alles, was sie jemand anderem mitteilen wollten, auf Leder zu malen oder in Schilf zu weben. Die Kunst ging mit dem Islam und der Einführung der arabischen Männerschrift so gut wie verloren, und als Rest ist nur noch die Erinnerung an alte Zahlenzeichen, an die lahsav alkhalath (sprich auch: lahsäf ei l'chaleph) erhalten, die bis ioo reichten und von denen ich noch einige retten konnte. —Die Behauptung einer untergegangenen Schrift der Kabylenfrauen hat insofern etwas Wahrscheinliches, als ich 1908 in Timbuktu Frauen der Tuareg (also südlicher Saharaberber) im vollen Verständnis ihrer alten Schrift fand, die ihre Männer nicht verstanden.
Mit dieser alten Berberschrift muß nun die Sitte und Übung, sich in lahrouf lekhalath zu äußern, in irgendeinem Zusammenhange stehen, sei es nun, daß sie die Wurzel, sei es, daß sie den Auslauf
einer untergegangenen Kunst darstellen. Jedenfalls sind diese "Frauenzeichen" eine symbolische Schrift, mittels deren sich die Frauen sowohl untereinander als mit ihren Liebhabern verständigen. Ich habe eine größere Zahl solcher "Zeichen der Frauen"gesammelt, die an anderer Stelle einmal allgemein bekanntgemacht werden sollen. Sie sind sehr verschieden. Sendet z. B. eine Tochter ihrer Mutter eine reife Melone mit einem Messer darin (d. h. "ich bin reif wie eine Melone; es wird Zeit, daß mein Vater mich anschneiden läßt, d. h. verheiratet"), so ist das sehr sinnfällig, — so ist solches zu einer allgemeinverständlichen symbolischen Sitte geworden und stellt an den Scharfsinn des Empfängers der Botschaft keinen besonderen Anspruch.Anders schon folgendes "Zeichen der Frauen". Ein junger Mann empfängt von seiner Geliebten, einer verehelichten Frau, ein länglich-viereckiges Stoffstück, auf dem oben, rechts und unten je ein farbiger Punkt oder Fleck angebracht ist. Der obere Punkt ist rot, das bedeutet "Blut", der rechte Punkt ist schwarz, das ist die "Nacht", der untere Punkt ist gelb, das bedeutet hier die "Stadt". Im Zusammenhange lautet der Sinn des Briefes: "Komme heute nicht bei Tage, denn es würde blutigen Streit geben. Komme in der Nacht in die Stadt, wo ich dich erwarte." Eine solche Botschaft setzt nicht nur eine genaue Kenntnis der persönlichen Verhältnisse, d. h. also der Eventualitäten voraus, sondern sie stellt auch, und zwar auch bei Kenntnis der gegebenen Möglichkeiten, doch noch einen verhältnismäßig hohen Anspruch an den Scharfsinn des Empfängers.
Hierin aber liegt ein starker Reiz für die Kabylin. Mit der durch Sippenversklavung hervorgerufenen Gier nach Freiheit verbindet sich hier das echt weibliche Bedürfnis, den Mann der Wahl auf die Probe zu stellen, ihn klüger als den eigenen Gatten und als sich selbst geistig gewachsen zu finden. Wenn man sagen kann, daß in den Frauenzeichen einiges auf Tradition beruht und anderes verabredet ist, so spekuliert doch ein integrierender dritter Anteil auf den Scharfsinn, und hierauf sind die Weiber sehr stolz. In der Entwicklung solcher Ansichten und Verhältnisse gewinnen die Frauen denn auch eine Stellung, die sehr eigenartig ist. Die Kabylin repräsentiert eine Macht, die sich nicht im Besitz eines Einspruchsrechtes, nicht in der Erteilung eines erbetenen Ratschlages, fast nie jedenfalls in dem, was wir ein Eheleben nennen, äußert. Die Macht der Kabylin steigt aus rechtloser Selbstbefreiung und Entwicklung der
Intelligenz im geheimen Zielgewinn empor und drückt ihrer Art deshalb den Stempel auf. Die Kabylin hat nichts gemein mit der Frau aus der südlichen Sahel, die aus matriarchalischem Recht, aus matriarchalischem Selbstbewußtsein heraus in stolzer Selbstverantwortung den Geliebten selbst erwählt und zum Gatten erhebt, die den minderwertig befundenen Gatten herauswirft und mit seinem tapferen Besieger das Lager teilt. Das sind stolze Charaktere, emporgewachsen aus der offen anerkannten Sitte. Die Kabylin ist aber eine kluge Aufrührerin, eine sittenlos Gierige. Deshalb endet der Lebenslauf der matriarchalischen Sahelin in der edlen Gestalt einer Matrone, die der Kabylin aber in der "Setut".Wenn die junge Frau so schon ihre innere Ausbildung in Übung raffinierten Scharfsinnes findet, so gehört nur eine gewisse Begabung, Zusammenhänge der Tatsächlichkeit und der Erfahrung zu sammeln, dazu, um unmerklich und unbewußt aus ihr eine "weise Frau" (= lekavela; Flur.: lekavelath; sprich auch: lechav[e]la; Flur. lechavleth) werden zu lassen, die von anderen Weibern gern um Rat gefragt wird. Die "weise Frau" spielt aber in der Kabylie nicht etwa die Rolle einer wohlwollend gütigen Beraterin, sondern vielmehr die der in allem Unheilvollen, in allen Kniffen, in den Hintertürangelegenheiten des Lebens beschlagenen Kupplerin. Und aus ihr wird die alternde Kabylin, die nämlich nicht auf ein harmonisch und wohl sittengemäß, aber nicht sittlichkeitsgemäß gewonnenes, nicht auf ein an innerer Befriedigung sattes, sondern nur auf ein durch Befriedigung der Begierde gesättigtes Leben zurückschauen kann, die Setut.
"Das alte Weib" und "Setut" und "Hexe" ist eigentlich identisch. Das Kabyle betrachtet die "alte Frau", "die Setut" als die Quelle alles Bösen und alles Übels. Sehr klar bringt er das in der Entwicklung der "ersten Mutter der Welt" zum Ausdruck. Dort zeigt er, wie sie "von Herzen böse" ist, wie sie am Zwist, an der Entwicklung von Streit und Unfrieden ihre Freude hat. Viele der Märchen zeigen, wie die alten Frauen beglückt werden, wenn es ihnen gelingt, das harmlose Glück anderer zu zerstören. Auch in der Volksdichtung ist die Setut die "Quelle alles Übels". Und nur ganz selten ist in den Erzählungen und Märchen die Spur einer gütigen Alten zu finden. Gütig sind die alten Kabylenfrauen eigentlich nur, wenn es sich um das Schicksal des eigenen Kindes handelt.
So sieht bei diesem begabten Volke der Weg aus, den die in der Jugend so zauberhaft schöne und reizend unschuldige, im Alter so
intelligente und böse Frau durch ein familienloses Sippenleben nimmt.
Zeremonien der Knaben (IV. Altersklasse)
Nach den Angelegenheiten der Männer und Frauen sollst du auch die der Kinder nicht vergessen, denn diese sind ebenso wichtig", waren die Worte, mit denen seinerzeit mein alter Kabyle die Schilderung einiger Feste begann, über deren Verlauf dann später noch mancherlei Ergänzendes eingesammelt werden konnte. An der Spitze aller Feste standen ihrer Bedeutung nach für die alten Kabylen die mit dem Feldbau verbundenen, das Saat- und das Erntefest. Das Saatfest (thamaghra yeghare; sprich auch: thamrara [i]giger oder ijerr, wörtlich Fest Feld) nahm die Beteiligung des gesamten Sippenverbandes in Anspruch. Ehe die Saat begonnen wurde, bereiteten die Frauen jeder Sippe ein Gericht von Kuskus, dem Granatsamen und trockne Weintrauben zugefügt wurden. Das hieß änävthur täjertha, d. h. Anfang der Arbeit. Dies Gericht trugen die Frauen am Abend vor den Oktobertagen, an dem mit der Saat von Gerste und Weizen begonnen werden sollte, auf den Acker, setzten es hier zu Boden und deckten es zu. Bis zur Morgenröte mußte diese Speise hier draußen stehen bleiben. Am anderen Morgen machte die ganze Bewohnerschaft (einfach acharn) des Sippengehöftes sich auf den Weg zum Felde hinaus. Auch Frauen, die sonst das Haus nicht verlassen dürfen (= thänhaschuerin; Sing.: thänhaschuroth; das sind solche, die hierfür zu jung oder nach islamischem Ritus an das Haus gebannt sind), werden mitgeführt. Solche werden verhüllt und von Maultieren getragen. Es kommt alles darauf an, daß niemand im Hause weilt, daß alle Sippenglieder der Zeremonie auf dem Felde beiwohnen, weil jeder, der fehlen würde, einer Krankheit verfallen müßte. Das Haus bleibt verschlossen, aber unbewacht; man kann sicher sein, daß während der Regelung der Zeremonie niemand einbrechen und rauben wird.
Draußen auf dem Felde genießt die ganze Sippenschaft von dem Gericht, das die Frauen am Abend vorher hinaustrugen. Jedes Mitglied der Sippe muß davon genießen. Dazu wird gebetet: "Gott gebe Überfluß." Nach der Mahlzeit und dem Gebet fällt den jungen Knaben der IV. Altersklasse die Aufgabe zu, alle Schüsseln, aus denen das Festmahl genossen wurde, in kleine Stücke zu zerbrechen.
Diese kleinen Stücke nimmt der Sippenalte in die Hände und beginnt sie auf dem Felde auszustreuen. Dazu spricht er: "Zaraast sufussiu (sprich auch: seraret sufuciu, d. h. ich säe mit meiner Hand); huchaghst sufussiu (sprich auch: hauschorz sufuciu, d. h. ich ernte mit meiner Hand)."Sobald der Sippenalte die Topfscherben ausgestreut hat, geht alle Welt nach Hause. Er aber beginnt mit einem kleinen, einhändigen Pflug (= lema'aun) die Bestellung.
Die Zeit der Korn-(Weizen- und Gerste-) Ernte, d. h. des Kornschnittes, beginnt etwa im Juni. Am Tage vor dem Anfang dieser wichtigen Arbeit muß ein richtiges Waisenkind (= aghujile, das ist eines, das weder Vater noch Mutter hat) eine graue weibliche Ziege siebenmal um das Grab einer Heiligen führen. Es darf das aber keine gewöhnliche Ziege, sondern muß eine sogenannte thachat thathiliuth (d. i. Ziege grau mit weißen Stirnflecken) sein. Diese grauen Ziegen mit weißen Flecken auf der Stirn gelten übrigens als segensreich für allerhand Krankheiten. Nach siebenmaligem Umgang führt das Waisenkind die Ziege wieder nach Hause.
Sobald die Ziege wieder in das Gehöft zurückgekehrt ist, werden alle Kinder, die noch nicht das zwölfte Jahr überschritten haben, zusammengerufen. Eines nach dem anderen muß den Rücken der Ziege besteigen. Die anderen Kinder, d. h. die über zwölf Jahre alten, kommen auch herzu; sie brauchen aber nicht auf der Ziege Platz zu nehmen. Für sie genügt es, die Hörner der Ziege zu erfassen. Dabei sagt jedes Kind, sei es vom Rücken der Ziege herab, sei es beim Erfassen der Ziegenhörner: "Jedes Unheil, das mir zustoßen soll, komme auf die Ziege."
Mittlerweile schneidet der Sippenvater draußen auf dem Felde einen Büschel Weizenähren ab; es ist der erste Kornschnitt des Jahres. Mit dem Ährenbündel kehrt er heim und da inzwischen die Zeremonie der Ziegenkinder abgeschlossen ist, schlachtet der Vater die Ziege und zieht die Haut ab. Währenddessen buddeln alle Kinder, die durch Besteigen, Hörnerergreifen und Bannspruch ihr Unheil auf die Ziege luden, mit den Händen, mit Messern und Haken ein Loch, und zwar außerhalb, aber in unmittelbarer Nähe des Gehöftes. Draußen muß es gelegen sein, denn durch die Zeremonie soll ja das Unglück gehindert werden, das Haus zu betreten. Darauf wirft der Vater die Ziegenhaut mitsamt den Weizenähren hinein, und nun machen sich alle Teilnehmer der Zeremonie daran, die Grube wieder zuzuwerfen.
Bis dahin ist noch kein Stückchen von dem Fleisch und Leib der Ziege abgeschnitten worden. Nun nimmt die Gesellschaft die Ziege und einen Topf Wasser und trägt beides hinaus zu der Stelle, an der der Vater die Weizenähren abgeschnitten hat. Dort wird der Ziegenleib gewaschen, worauf alle Welt mit der Ziege wieder in das Gehöft zurückkehrt.
Jetzt wird das Ziegenfleisch gekocht und genossen. An dem Mahle beteiligen sich alle, denn es gilt als segenbringend. Am andern Tage aber beginnt die eigentliche Ernte, von deren Erträgnissen nun jedermann genießen kann, ohne weiterhin ähnliche Zeremonien begehen zu müssen.
Eine zweite Kultushandlung der Erntezeit ist Ansar (oder anzare; Plur.: insassen). Ansar wird im Anfang Juli, also in der Jahreszeit thafsuth (sprich auch: thafthus, d. h. zur Zeit der Weizen- und Gerstenernte) begangen. In Tizi Usu soll der Verlauf früher besonders feierlich vonstatten gegangen sein. Im Osten war es vordem Sitte, daß die Knaben sich als Mädchen verkleideten, und zwar mit zunächst herabhängendem Gesichtsschleier. In den Armen hatten diese Frauendarsteller Puppen, und zwar als solche ausgeschmückte Kochlöffel. Dergestalt zogen sie bettelnd und sammelnd umher. Man gab ihnen Korn, Holz usw. und auch sonst reichliche Geschenke. Einzeln zogen sie umher. Nach Einsammlung der Gaben versammelten sie sich jedoch an einem ganz bestimmten Orte, warfen die Puppen beiseite und kochten ab. Hernach vollführten sie einen Tanz, bei dem sie ihre Schleier* nach Art der Tunesierinnen und Nupebräute oder der Djukummaskerade (vgl. "Unter den unsträflichen Äthiopen", Titelaquarell) den Stoff zum Dreieck vorn
Der Bericht, den ich aus dem Süden der Kabylie empfing, lautet: Die Knaben mehrerer Duars versammelten sich und bildeten einen Aufzug von zweihundert bis dreihundert Kindern. Einer der Knaben verkleidetete sich in oben beschriebener Weise als junge Frau; andere vollführten die Musik. Sie zogen von Dorf zu Dorf und sangen ununterbrochen: "Gott, der Allmächtige, gibt uns Leben und Gesundheit. Mit allen heiligen Männern und Frauen bitten wir Sidi Ali Natekhaluth (sprich: Netchakuith), uns in dieser Jahreszeit Überfluß zu spenden. Ohne Unterlaß bitten wir Gott, unser Herz zum Gebet und zur Wohltätigkeit anzuregen, so daß wir in das Paradies kommen *.""
Diesen Gesang des Knabenzuges begleiten die Weiber mit ihrem "you-you-you-you!", wobei sie die kurzen Gellpausen durch Schlagen auf den geöffneten Mund hervorrufen. Die kleinen Mädchen laufen hinter den Burschen her, die ihre Wanderung immer weiter fortsetzen wohl an die vierzehn Tage lang.
Von dem oben erwähnten Ali Netchakuith, der in der Kabylie ein sehr berühmter Heiliger ist, erzählt man vor allem, daß er zu Lebzeiten sehr arm war. Einmal hatte er des Morgens nur ein kleines Bündel Gerstenkörner; zum Abend meldeten sich aber mehrere Gäste an. Da streute er die wenigen Gerstenkörner aus. Sie gingen sogleich auf. Bis zum Abend war das morgens gesäte Korn reif und der Heilige hatte somit genug Gerste, um seine sämtlichen Gäste reichlich bewirten zu können.
In die gleiche Periode fällt das früher anscheinend weitverbreitete Tokhaleth. Die Knaben malten sich in der Zeit der Kornernte schwarz an, versteckten sich in den Feldern und erschreckten vorbeigehende Kinder und Mädchen, ja auch Frauen. Auch scheinen sie ein gewisses Raubrecht an Früchten, die diese von den Feldern heimtrugen, ausgeübt zu haben.
Akli-vuzale (sprich: akli-usäl) scheint recht verschieden begangen worden zu sein. Es ist ein zeremonielles Kindermaskenfest, das
In Tizi Uzu wurde früher (es soll aber schon lange nicht mehr in alter Weise begangen worden sein) über das Gesicht des Widderdarstellers eine zottige Widderhaut, auf dem Hinterkopf aber mützenartig ein Kürbis mit einem flach darauf befestigten Spiegel gebunden.
Im Süden beschmierte sich der Knabe das ganze Gesicht mit einer schwarzen Farbe, hergestellt aus einer Art wilden ungenießbaren Weizens; dazu hüllte er sich in eine Widderhaut.
Derart als Widder verkleidet, versteckte sich der Knabe irgendwo am Wege. Wenn nun ein anderer Bursche vorbeikam und neben oder hinter sich das "bää, bää, bää" des Widdermaskierten hörte, wenn er dabei nicht erschrak und den nötigen Mut dazu besaß, so suchte er den Maskierten im Busche auf. Der Widdermaskierte schrie: "Bää, ich bin vom Widder Gottes, komm und führe mich in dein Haus!" Der mutige Bursche mußte nun den Maskierten, der um den Hals ein Schmuckband trug, an diesem Bande ergreifen und in das Gehöft seiner Eltern führen. Hier war man über den Besuch 'sehr erfreut. Denn dieser brachte unbedingt Glück. Der führende Sohn des Gehöftes wurde nun mit dem Maskierten im Taarischt eingeschlossen und beide blieben hier für drei Tage zusammen. Man nahm an, daß das Pärchen während der drei Nächte nur ganz besondere Träume habe, von deren Erfüllung man fest überzeugt war.
Amghar uakroch (sprich: Amchar uakarusch, in Beni Yenni genannt: amchar-ocharus) ist eine Zeremonie, die ihren Namen von dem Worte akarusch (Plur.: skaruschen = Masken) haben soll (?). Es ist wieder ein echtes Kabylenmaskenfest, das in der Jahreszeit lakhref (sprich: lacharif) zur Zeit der Feigen- und Olivenernte begangen wurde. In Beni Yenni erhielt ich eine Beschreibung der Maske: Hammelhaut auf dem Kopf und über dem Gesicht; in die Haut hineingeschnitten Löcher für die Augen. Der Maskierte sprach wie Maskierte der Negerländer in hohen Fisteltönen. Auch ahmte er die Töne von Tieren nach. Nach einigen Angaben (die ich aber auch mißverstanden haben kann) stellten die Maskierten Wuarssen und
Luasch (also Riesen und wilde Tiere) dar. Glaubhafter sind die Mitteilungen östlicher Kabylen, nach denen diese Maskierten gegen Wuarssen und gegen Luasch schützen sollten. Im Osten soll dies Maskenfest außerdem auch zur Saatzeit gefeiert und die Maske auch aus Ziegenfell mit Hörnern angefertigt gewesen sein. Überall handelt es sich dem Sinne nach aber um eine Schreckmaskerade, die meist wenn nicht immer - nur von einem einzelnen ausgeführt wird. Die Spielzeit wurde überall auf sieben Tage angegeben.Der Bericht aus dem Süden lautet: Im allgemeinen wurde das Fest zur Zeit der Ernte gefeiert. Der Tag wurde bekanntgegeben und dann bereitete alle Welt sich auf das siebentätige Fest vor. Der maskierte Knabe erschien erst am siebenten Tage, der gleichzeitig Höhepunkt und Abschluß war. An diesem Tage kamen alle Knaben zusammen, vereinigten sich und zogen singend hinter den Maskierten her von Dorf zu Dorf. Der gemeinsame Gesang der Burschen lautete: "Heute sind wir noch kleine Knaben; morgen werden wir aber erwachsen sein." Einer der Knaben sang dann solo: "Wißt, daß wir heute zwar noch alle beisammen sind, daß morgen aber einer von uns fehlen wird. Verrichten wir also heute das, was uns Freude bereitet, und laßt uns nichts auf morgen verschieben." Der Knabenzug bewegte sich von Haus zu Haus. Kinder, Mädchen und Frauen wurden erschreckt. Jedes Gehöft gab als eine Art Abgabe ein Geschenk von Eiern. Mit diesem siebenten Tag hatte das Fest ein Ende.
Die Burschen, die an dieser Zeremonie teilnahmen, bildeten untereinander eine Art Buschgemeinde. An ihrer Spitze stand der aghalidz uamhrar uakroch (sprich: gagelith umrar uakarusch, d. h. wörtlich: "Chef der Leute uakarusch"). Dieser Häuptling, der im Busch über die Leute eine gewisse Gerichtsbarkeit ausübte, hatte als Würdezeichen einen Stab. Ein Hemdchen ohne Ärmel über den Kopf geworfen, ein um die Lenden geschlagenes Tuch wie ein Frauenrock, der übliche Turban um den Kopf, — so sah sein Kleid aus. Dieser kleine Häuptling betete vor und nahm die Gaben in Empfang. Jedes Kind, das etwas schenkte, nahm er auf den Arm und flehte Gottes Segen auf dessen Kopf herab. Auch verteilte er die Gaben, setzte den Zeitpunkt für die Spiele fest, bestimmte die Persönlichkeiten für die Maskerade usw. Er war der Richter und Ordner; meist war es ein Fünfzehnjähriger und somit der älteste der kleinen Gesellschaft. Seine Anweisungen besprach er mit einem Greise der ersten Altersklasse.
Alle Knaben, die die gleichen Feste in dieser Weise begingen, waren für ihr ganzes Leben bis in die höchsten Greisenjahre hinein mehr als nur altersgemäß miteinander verbunden. Man bezeichnet die entsprechende Gruppe mit dem Namen des Anführers, und zwar als einen tharvaäth (sprich: therbarth), d. i. wieder soviel wie ein Ssoff bei den Arabern. (Vgl. 5. 34.)
Der Widder spielte auch im Frühjahr eine große Rolle, und zwar bei dem El Mulud. Es wurde ein Widder (= icheri) herumgeführt, wie bei anderen Islamiten. Im Gegensatz zu der Gewohnheit der Araber mußte bei den Kabylen der Widder einen schwarzen Kopf haben. Auf der Stirn färbte man ihn mit Henna. Man bedeckte den Kopf fernerhin mit einer zottigen und möglichst farbenreich bemalten Schafshaut. Auf die Schultern kam ein Spiegel, dahinter der Schwanz eines Schakals.
Das Fest hieß im Kabylischen thamaghra nanvi (sprich: Thamachara nenevi), der Widder icheri nenevi. Es war das gleiche Fest des Ausganges des Propheten Mohammed, das im ganzen Islam gefeiert wird. Die Widderzeremonie war aber nur bei den Kabylen üblich. Der Widder wurde von einem Knaben von etwa zwölf Jahren rund um das Grab eines Heiligen geführt. Die Mädchen der Ortschaft liefen hinterher. Der führende Knabe sang: "Nimm, Widder, mit dir alle Krankheits- und alle Unglücksfälle." Alles Volk sang im Chore die Bitte nach. Der Spruch wurde immer wiederholt. War der Umgang beendet, so führte man den Widder in einen ganz dunklen Stall, in den auch nicht der kleinste Strahl des Tageslichtes führte. Hier ward er vom Gehöftsherrn getötet und dann von der ganzen Sippengemeinde verspeist. — Man sieht, es ist die gleiche Zeremonie des Sündenbockes, die im Anfang des Abschnittes als Saatfeier geschildert wird.
So schließen sich Frühjahr- und Herbst-, Saat- und Erntezeremonien aneinander an. Der Widder spielt die große Rolle und besonders, wenn er mit dem Spiegel auf dem Haupt, mit dem Halsband zum Taarischt geführt wird, erkennen wir ganz deutlich die Beziehung zur Schöpfungslegende und zu den Felsbildern. Stets aber sind es die Burschen der IV. Altersklasse, die die Spiele ausführen, nie werden Mädchen als Handelnde zugelassen. Das tiefe Wesen des patriarchalischen Sippenwesens tritt auch hier wieder mit zwingender Gewalt formend und begrenzend hervor.
Soweit sind wir nun wohl auf unserem Weg gelangt, daß wir das Kabylentum als eine geistige Wesensart, als Kristall der Berberkultur
verstehen. Nunmehr will ich abschließend zeigen, wie dieses Wesen sich in einer tiefen, in ihrer Art vollendeten Volksdichtung manifestiert und ausdrückt.
Die Volksdichtung als Ausdruck von Kultur und Geschichte
Rein äußerlich und flüchtig betrachtet, sind die Kabylen ein phantasiearmes, ein materialistisches Volk. Sie scheinen so besitzgierig, so ergeben den Tagesbedürfnissen, daß wohl niemand hinter ihrem Gesicht des Tages ein anderes, ein feineres, ein innerliches, ein Gesicht der Nacht ahnen wird, es sei denn, daß ihm das sehr Schwere gelänge - nämlich mit ihm eine wahre, innerliche Freundschaft zu schließen. Ich meine, dieser mein erster Eindruck muß wohl allgemein sein, denn in der reichen Literatur über die Kabylen habe ich von ihrem feineren Nachtgesicht nichts gefunden. Wohl sind hier und da einige Erzählungen abgedruckt, aber nur jene, denen die Kabylen selbst keinen besonderen Sinnwert mehr beilegen. Und ich muß es sagen, daß sich unter all den vielen Völkern, mit deren Volksdichtung ich mich beschäftigt habe, keines mir so lange verschlossen blieb wie die Kabylen, —aber auch keines, dessen Herz und Mund einmal eröffnet, so reichen und unerwarteten Segen gespendet hat. Ich gehe so weit zu sagen, daß mir unter allem in Afrika bekannt Gewordenen das, was ich kabylischer Volksdichtung entnehmen konnte, nach den Ritterepen aus Faraka an erster Stelle beachtenswert erscheint. Die große Männlichkeit, die weite Sinnführung der Farakaepen fehlt. Aber die Variabilität der Stoffe, die natürliche Lebendigkeit, die Kunst im Erzählen, der naiv-kunstvolle Innenbau, die Dimension der Schöpfungsaufgabe, die Wahrheit und Klugheit der Lebensbildung und der Witz der Dichtung sind oft so erschütternd, so bedeutend, daß ich nicht anstehe, den Kabylen unter den doch im Fabulieren geschickten Afrikanern die erste Stelle einzuräumen.
Die Kunst zu erzählen ist in der Kabylie noch lebendig, aber -wie wohl überall - im Niedergang begriffen. In alten Zeiten unterschied man ganz genau die Erzählung (wenn auch ausgeschmückt), ein Erlebnis, eine Fabel, ein Märchen, die Legende, Lebensbilder und die Mythen. Heute ist das vielfach verwischt. Die Namen für die einzelnen Erzählungsarten sind teils vergessen, teils durch arabische ersetzt, anderenteils auch verwechselt, und ich kann wohl
Zur Frühlingszeit maskierte Berberknaben in El Maiz Nach Originalphotographie von L. F.Da ist zunächst das Tämaschahuts (in anderem Dialekte auch tamaschahuts; Plur.: timuschuha oder temaschuha), das ist ein Märchen. Das Tämaschahuts ist nicht rein profaner Natur; früher durfte man es nur abends oder nachts erzählen. Erzählte man es auch bei Tage, so fielen einem die Haare aus. Nicht alle Tämaschahuts waren gleichwertig. Die alten Kabylen wußten, daß man manche von den Arabern erlernt habe, konnten aber nicht mehr genau sagen, welche. Im dritten Bande dieser Werke, in dem die eigentlichen Tämaschahuts Aufnahme gefunden haben, werde ich auf den Punkt näher eingehen. Alte Leute versicherten mir, daß man die älteren von den jüngeren unterscheiden könne, da die alten Märchen in stereotyper Weise eingeleitet wurden mit den Worten: "maschachu" = "hört"! und dann begonnen wurde mit einem: "l'län" d. h. soviel wie "es war einmal". — Leider ist diese Einleitung aber auch bei alten Märchen nicht mehr üblich.
Als eine besondere Gattung der Märchen galten früher die Thahadjis. Diesen Namen fand ich nur zweimal. Die Gattung war die der Wuarssen- und Terielgeschichten, der Riesen- und der Hexenmärchen, die ich im zweiten Bande zusammengefaßt habe.
Eine Art für sich waren die eigentlichen Fabeln, für die ich zwei Namen erhielt: akulath (Plur.: thirkulain) und thakthät l(i) uhausch (Plur.: thikthithin eaden aphulousch). Das sind harmlose Erzählungen, die man zu jeder Tageszeit unterhaltungsweise wie auch beispiels- und gleichnisweise vorträgt oder einflicht.
Hochinteressant ist nun eine Art von Erzählungen, deren ursprünglicher Name themhai (Plur.: themhajen) oder tamajeth (Plur.: thimauja) heute zum Teil nur noch spezialisiert, zum Teil falsch, dem Sinne gemäß aber nie mehr voll umfassend angewandt wird. Unter Themhai versteht man heute ein Scherzrätsel, etwas Witziges, auch wohl etwas Pikantes, und damit wurde die scherzhafte Form, in der man den tiefen Sinn barg, mit dem Namen belehnt, der in einer vergangenen Zeit dem Sinn zukam. Denn Themhai war früher Lebensklugheit, Weisheit, gehüllt in lebendige Beispiele. Man verstand darunter etwas, was man sinnvoll vortrug, etwa als Lehren oder Einführung in das Leben auf den Männerversammlungsplätzen, das Narrentum und das Spiel des Lebens, das Tragische
wie das (im tieferen Sinne genannte) Humoristische, das alles war früher Themhai.Ferner gab es ausgeschmückte Erzählungen wirklicher Geschehnisse, das waren die Thachkajen eaden aphkarun (Sing.: thach kaith eaden), d. h. nach dem Gedächtnis erzählte wahre Geschichten. Früher soll eine besondere Kunst der Verbindung von geschickter Tatsachenschilderung und entsprechender Ausschmückung bestanden haben. Ich habe davon nichts Wesentliches bemerken und auftreiben können. Ihre Erzähler (= um isauelen) sind wohl ausgestorben. Sie wurden ersetzt durch die Hamda (Sing.: imdahen [?).
Dann gibt es noch etwas, dessen Entdeckung mich ebenso mit frommem Schauer erfüllte wie meine Berichterstatter. Das sind die Leuhe-dennia, die Mythen der Schöpfungsgeschichte, —uralte Weisheit, über deren ursprüngliche Beziehung zu den monumentalen prähistorischen Felsbildern ich schon oben sprach. Die Leuhedennia, die Mythen von der Entstehung der Welt, sind natürlich tiefes Geheimnis und meine alten Erzähler baten mich immer wieder, sie niemals den Arabern mitzuteilen. Es gibt für die Erzählung der Mythe verschiedene Vorschriften. Zunächst sollen Erzähler wie Zuhörer einige Weizenkörner auf die Zunge legen. Der Vortrag darf nur nachts, nie in der Nähe einer Frau, möglichst außerhalb des Gehöftes stattfinden. Vor dem Beginn der Erzählung soll in der ersten Nacht ein Hahn, nach der Beendigung in der vierten Nacht (länger darf nicht davon gesprochen werden) eine Ziege oder ein kleiner Hammel geopfert werden. Beachtet man diese Vorschrift nicht, so stirbt die ganze Familie des Vortragenden, nur er selbst bleibt am Leben.
Der Inhalt der Schöpfungsmythologie ist nicht einheitlich. Schon das, was mir von den zugehörigen Stücken einzuheimsen gelang, zeitigt eine große Fülle von Gedanken und Vorstellungen. Ich bin aber weit davon entfernt zu glauben, daß das Gewonnene vollständig ist. Aber dies Gewonnene ist schon so wesentlich und gedankenreich, daß zum mindesten die so gut wie verschütteten Grundlagen dieser uralten Weltanschauung damit als wiederaufgedeckt gelten können. Daß meine Alten mir noch etwas Wesentliches, ihnen Bekanntes verschwiegen hätten, ist nicht anzunehmen. Denn wir sprachen sehr offen miteinander, — sie fühlten sich so frei, daß sie mir z. B. sagten, daß die Bezeichnung Leuhe-dennia nicht der alte Name der Schöpfungsmythe sei. Sie baten mich, diesen alten Namen
verschweigen zu dürfen; und da sie sich mehr davor fürchteten, mir den heiligen Namen zu nennen, als den Inhalt zu berichten, habe ich natürlich nicht weiter in sie gedrungen. Nun aber sollen die alten Legenden selbst sprechen! Der ungemeine Reichtum und dennoch Einheit des Stiles werden zeigen, wieso ich die Kultur der Kabylen als zusammengedrängtes Berbertum bezeichne.Was den Leser und gleichzeitigen Kenner wirklicher Volksdichtung am meisten in Erstaunen setzen wird, sind neben der verblüffenden Tatsache einer hier am Rande des Mittelmeeres noch erhaltenen kosmogonischen Mythe der Libyer (vgl. Diodor) die aus dem Leben gegriffenen tiefen Weisheiten. Immer wieder (so in Aini Nr. 30 und in Djeha Nr. 36) gelangt der Mensch zu der Erkenntnis, daß er mit der ursprünglichen Natürlichkeit der intellektuellen Kunstfertigkeit der Welt nicht gewachsen ist. Der Kabyle kennt die einfache Güte der Nichtstuenden und vom Schicksal zu Höherem als nur durch bienenmäßigen Fleiß erreichbar Bestimmten und feiert den zauberhaften Reiz der Intuition durch tiefpoetische Darstellung. (So M'hemd Lascheischis Flöte Nr. 55.) Das Leben ist ihm ein Spiel der Anlagen, aber eine humorvolle Tragödie. Die Form der kabylischen Volksdichtung ist bald zierlich (Die trauernde Laus Nr. 47), bald schauerlich (Das Grauen Nr. 54), stets aber schlicht und selbstverständlich.
Die kabylische Volksdichtung ist im wahren Sinne primitiv, zeigt aber eine so unendlich reiche Ausgestaltung der Primitivität, daß wir ganz offensichtlich hier einem dem Schöpfungsstadium noch sehr nahen Kräftespiel gegenüberstehen.
ZWEITER TEIL
DIE SCHOPFUNGSMYTHEN
UND DAS WELTBILD
1. Die Ureltern der Welt und die primitive Amazonenmythe
Im Anfange lebten die Menschen nicht über der Erde. Es gab überhaupt nur einen Mann und eine Frau und die lebten unter der Erde. Diese beiden Menschen waren die ersten und einzigen und sie wußten nicht, daß von ihnen jeder ein anderes Geschlecht hatte. Eines Tages waren sie an ihrem Brunnen und wollten Wasser trinken. Der Mann sagte: "Laß mich trinken." Die Frau sagte: "Nein, ich werde zuerst Wasser nehmen, ich bin die erste." Der Mann wollte die Frau beiseite stoßen. Die Frau aber schlug ihn. Beide schlugen sich. Der Mann schlug die Frau so, daß sie hinfiel. Ihre Kleider fielen zur Seite. Ihre Schenkel wurden nackt.
Der Mann sah die Frau nackt vor sich liegen. Er sah, daß sie anders beschaffen war als er. Er sah, daß sie eine Tachschunt (d. i. eine Vagina von Mädchen, die Vagina der Frau heißt achtschun) hatte. Er fühlte, daß er einen Thäbuscht (der Penis junger Männer, der Penis älterer Männer heißt äbusch) hatte. Er betrachtete die Tachschunt und sagte: "Wozu ist das ?" Er steckte den Finger hinein und die Frau sagte: "Das ist gut." Der Mann fühlte seinen Thäbuscht wachsen. Er beschlief die Frau. Er blieb acht Tage lang mit der Frau liegen, dann erhob er sich erst.
Nach neun Monaten gebar die Frau vier Töchter. Wieder nach neun Monaten gebar die Frau vier Söhne. Wieder nach neun Monaten gebar die Frau vier Töchter. Wieder nach neun Monaten gebar die Frau vier Söhne. So ward es weiter, bis der Mann und die Frau zuletzt fünfzig Töchter und fünfzig Söhne hatten. Der Vater und die Mutter wußten aber nichts mit den Kindern anzufangen. Die Eltern sandten ihre Kinder fort.
Die fünfzig Mädchen zogen zusammen nach Norden fort. Die fünfzig Burschen zogen zusammen nach Osten fort. Nachdem die Mädchen einige Jahre lang unter der Erde nach Norden hingezogen waren, sahen sie über sich ein Licht. Es war hier ein Loch in der Erde. Die Mädchen sahen über sich den Himmel, die Mädchen riefen:
"Was sollen wir hier unter der Erde bleiben, sollen wir nicht zur Erde hinaufsteigen, da man dort oben den Himmel sehen kann?" Die Mädchen stiegen darauf durch das Loch zur Erde hinauf.
Die fünfzig Burschen zogen auch einige Jahre lang in ihrer Richtung unter der Erde hin und kamen dann an eine Stelle, an der auch ein Loch in der Erde war und sie über sich den Himmel sehen konnten. Die Burschen sahen den Himmel und sagten: "Was sollen
wir unter der Erde bleiben, wo es doch eine Stelle gibt, von der aus man den Himmel sehen kann ?" Die Burschen stiegen also durch ihr Loch zur Erde hinauf.Die fünfzig Mädchen zogen nun auf ihrem Wege über die Erde hin und die fünfzig Burschen zogen auf ihrem Wege über die Erde. Sie wußten aber nichts voneinander.
Damals sprachen noch alle Bäume und Kräuter und Steine. Die fünfzig Mädchen sahen die Kräuter und fragten sie: "Wer hat euch gemacht?" Die Kräuter sagten: "Die Erde hat uns gemacht (hervorgebracht)." Die Mädchen fragten die Erde: "Wer hat dich gemacht ?" Die Erde sagte: "Ich bin wie ihr vorhanden." Des Nachts sahen die Mädchen den Mond und die Sterne und sie riefen: "Wer hat dich gemacht, daß du so hoch über uns und allen Bäumen stehst? Bist du es, der uns Helligkeit gibt? Wer seid ihr kleinen und großen Sterne? Wer hat euch großen und kleinen Sterne gemacht? Oder seid ihr es etwa, die alles andere gemacht haben?" Alle Mädchen riefen und schrien. Aber der Mond und die Sterne waren so hoch; sie konnten nicht antworten. Alle fünfzig Mädchen schrien und riefen.
Die Burschen waren auf ihrer Wanderung in eine Gegend gekommen, die dem Ort der fünfzig Mädchen so nahe war, daß sie aus der Entfernung das Schreien der Mädchen hörten. Sie sagten zueinander: "Dies sind noch andere von unserer Art, wir wollen sehen, wie sie sind. Wir wollen zu den anderen ziehen." Die fünfzig Burschen machten sich auf den Weg. Sie zogen in der Richtung, aus der sie die Rufe der Mädchen gehört hatten.
Als sie aber ganz nahe dorthin gekommen waren, kamen sie an das Ufer eines großen Flusses. Der Fluß lag zwischen den fünfzig Mädchen und den fünfzig Burschen. Die Burschen hatten aber vorher noch keinen Fluß gesehen und riefen. Die Burschen riefen. Die Mädchen hörten aus der Entfernung die Rufe und kamen den Burschen entgegen. Die Mädchen kamen an das andere Ufer des Flusses. Sie sahen drüben die fünfzig Burschen stehen und riefen: "Wer seid ihr? Was schreit ihr? Seid ihr auch Menschen?" Die fünfzig Burschen riefen: "Wir sind auch Menschen. Wir sind aus der Erde hervorgekommen. Was schreit ihr aber?" Die fünfzig Mädchen sagten: "Wir sind auch Menschen und aus der Erde hervorgekommen. Wir schrien und fragten den Mond und die Sterne, wer sie gemacht hat oder ob sie alles gemacht haben ?"
Die fünfzig Burschen fragten den Fluß: "Du bist nicht wie wir,
wir können nicht auf dir gehen und dich nicht greifen, wie man über die Erde gehen kann. Was bist du? Wie kann man über dich hinweg auf die andere Seite kommen?" Der Fluß sagte: "Ich bin das Wasser. Ich bin da zum Baden und Waschen. Ich bin da als Getränk. Wenn ihr auf mein anderes Ufer kommen wollt, geht nach weiter oben, wo ich ganz seicht bin, da könnt ihr mich überschreiten." Die fünfzig Burschen gingen den Fluß hinauf. Sie fanden eine Stelle, die war seicht. Sie gingen auf das andere Ufer des Flusses.Die fünfzig Burschen wollten nun zu den fünfzig Mädchen. Die fünfzig Mädchen sagten: "Kommt nicht so dicht heran. Wir leiden es nicht. Geht ihr dort drüben. Wir bleiben hier (d. h. in einiger Entfernung). Diese Steppe lassen wir zwischen uns." Die fünfzig Mädchen und die fünfzig Burschen zogen so in einiger Entfernung nebeneinander her. Sie kamen aber nicht zusammen.
Auf ihrem Wege kamen die fünfzig Burschen eines Tages an eine Quelle. Die fünfzig Mädchen kamen auch an eine Quelle. Die Burschen sagten: "Hat der Fluß uns nicht gesagt, daß das Wasser da wäre zum Baden? Kommt, wir wollen baden." Die fünfzig Burschen begannen ihre Kleider abzulegen und stiegen in das Wasser und badeten sich. Die fünfzig Mädchen saßen um die Quelle und sahen von dort aus auf die Burschen. Ein keckes Mädchen sagte: "Kommt mit mir, wir wollen sehen, was die anderen Menschen machen." Zwei andere Mädchen sagten: "Wir gehen mit."Alle anderen sagten: "Nein, wir gehen nicht mit."
Die drei Mädchen schlichen sich zwischen den Büschen zu den Burschen hinüber. Zwei von ihnen blieben unterwegs zurück. Nur das kecke Mädchen kam im Schutz der Büsche ganz dicht zu den Burschen heran. Das Mädchen sah durch die Büsche die Burschen, die die Kleider abgelegt hatten. Die Burschen waren nackt. Das Mädchen sah alle Burschen an. Das Mädchen sah, daß die Burschen nicht so beschaffen waren wie sie. Das Mädchen sah alles ganz genau an. Als die Burschen sich wieder anzogen, schlich das Mädchen sich zurück. Die fünfzig Burschen hatten es nicht gesehen.
Das Mädchen kam zu den andern Mädchen zurück. Die andern Mädchen kamen dicht zusammen und sagten: "Was hast du gesehen ?" Das kecke Mädchen sagte: "Kommt, wir wollen auch baden, dann werde ich es euch sagen und zeigen." Die fünfzig Mädchen kleideten sich auch aus. Sie stiegen an ihrer Quelle in das Wasser. Das kecke Mädchen sagte: "Die Menschen dort sind anders
beschaffen als wir. Wo wir die Brüste haben, da haben sie nichts. Wo wir die Tachschunt haben, haben sie etwas andres. Auf dem Kopfe haben sie nicht lange Haare wie wir, sondern kurze. Wenn man sie nackt sieht, schlägt das Herz stark, und man möchte sie umarmen. Wenn man sie nackt gesehen hat, kann man es nicht mehr vergessen." Die andern Mädchen sagten: "Du lügst." Die Kecke sagte: "Geht selbst hin und seht, wie es ist. Ihr werdet dann verrückt werden, wie ich es geworden bin." Die andern Mädchen sagten: "Wir wollen weiter gehen."Die fünfzig Mädchen zogen auf ihrem Wege weiter. Die fünfzig Burschen zogen auf ihrem Wege weiter. Die Burschen zogen aber langsam weiter. Die Mädchen dagegen zogen schneller weiter und machten einen Bogen und kamen so in den Weg der Burschen. Sie lagerten nun ganz dicht nebeneinander.
An dem Tage, an dem die fünfzig Burschen ganz dicht bei den fünfzig Mädchen lagerten, sagten die Burschen: "Wir wollen nicht mehr im Freien unter dem Himmel schlafen. Wir wollen uns Häuser bauen." Einige Burschen begannen sich Löcher in der Erde zu machen. Sie schliefen in den Löchern in der Erde. Andre machten sich Gänge und Kammern unter der Erde und schliefen darin. Einige Burschen aber sagten: "Was macht ihr? Um Häuser zu bauen, grabt ihr die Erde auf? Gibt es hier herum nicht genug Steine, die man aufeinander schichten kann?"
Diese Burschen legten Steine aufeinander, die sie zusammentrugen. Sie ließen nur eine Lücke in den Wänden, um hinein- und hinauszugehen. Als sie die Wände gebaut hatten, ging einer der Burschen hin und begann einen Baum zu fällen. Der Baum aber schrie und sagte: "Was, du willst mich umschlagen? Was unternimmst du? Bist du etwa älter als ich? Was nimmst du dir heraus ?" Der Bursche sagte: "Ich bin nicht älter als du. Ich will mir auch nichts anmaßen. Ich will nur fünfzig von euch Bäumen umschlagen. Eure Stämme will ich auf mein Haus als Dach legen und dann zudecken. Eure Zweige werde ich dann aber in den Schutz meiner Häuser legen, so daß sie nicht mehr naß werden." Der Baum sagte: "Das ist mir recht." Der Bursche schlug dann fünfzig Bäume. Er legte die Stämme auf sein Haus und deckte sie mit Schilf und Erde zu. Die Zweige aber zerschlug er und speicherte sie im Hause auf. Einige große Bäume stellte er jedoch in der Mitte auf, so daß sie das Dach trugen. Als die andern sahen, wie schön das Haus war, machten sie es ebenso. Es war aber unter den Burschen ein wilder
(ihebill), wie auch unter den Mädchen ein wildes (thehebill) war. Dieser wilde Bursche wollte nicht in einem Hause wohnen. Er baute sich kein Haus wie die andern, sondern schlich sich zwischen den Häusern der andern umher und suchte jemand zu fangen und ihn zu verschlingen. Denn er war so wild, daß er nur daran dachte, andere zu töten und zu fressen.In einiger Entfernung lagerten die fünfzig Mädchen. Die Mädchen sahen aus der Ferne, wie die fünfzig Burschen sich erst Löcher und Gänge gruben. Sie sahen dann, wie die fünfzig Burschen ihre Häuser bauten. Die fünfzig Mädchen sagten untereinander: "Was machen die andern Menschen? Was machen sie mit den Steinen? Was machen sie mit den Bäumen?" Das kecke Mädchen sagte: "Ich werde wieder hingehen. Ich werde mich wieder hinschleichen und sehen, was die andern Menschen machen. Ich habe sie einmal nackt gesehen und will sie wiedersehen."
Das kecke Mädchen schlich sich zwischen den Büschen dahin zu den Häusern der Burschen. Das Mädchen kam ganz dicht zu den Häusern. Das Mädchen schlich sich in ein Haus hinein. Es war niemand darin. Das Mädchen sah, wie schön das Haus war. Das Mädchen sah sich im Hause um. Draußen kam aber gerade der Wilde (ihebill) vorbei. Er roch das Mädchen. Er brüllte. Das Mädchen erschrak und schrie. Das Mädchen lief aus dem Hause und so schnell sie konnte davon, in der Richtung auf den Platz, wo die Mädchen lagerten.
Alle Burschen hatten den Schrei des Mädchens gehört. Alle Burschen sprangen auf und liefen hinter dem Mädchen her. Das Mädchen lief durch den Busch und schrie. Die andern Mädchen hörten das Schreien. Die Mädchen sprangen auf und liefen dem kecken Mädchen entgegen, um ihm zu helfen. Im Busch stießen die fünfzig Mädchen und die fünfzig Burschen aufeinander. Es trafen immer ein Bursche und ein Mädchen zusammen. Die Mädchen und die Burschen schlugen sich. Es waren immer zwei, die sich im Gebüsch trafen, ein Mädchen und ein Bursche. Auch das wilde Mädchen und der wilde Bursche trafen aufeinander.
Es war im Gebüsch, und sie konnten einander nicht sehen. Es sahen sich überall immer nur das Mädchen und der Bursche, die einander getroffen hatten. Die fünfzig Mädchen waren sehr stark. Die fünfzig Mädchen warfen die fünfzig Burschen auf die Erde. Die fünfzig Mädchen lagen über den Burschen. Die fünfzig Mädchen sagten bei sich: "Nun will ich doch sehen, ob die Kecke gelogen
hat oder nicht." Die Mädchen griffen den Burschen zwischen die Schenkel. Sie fanden bei den Burschen den Thäbuscht. Als sie ihn berührten, schwoll der Thäbuscht der Burschen, und die Burschen lagen ganz still. Als die Mädchen den Thäbuscht der Burschen berührten, schwoll ihnen das Herz. Die fünfzig Mädchen schlugen ihre eigenen Kleider beiseite und schoben den Thäbuscht in ihre Tachschunt. Die Burschen lagen ganz still. Die fünfzig Mädchen beschliefen die fünfzig Burschen. Die fünfzig Burschen wurden darauf noch toller als die fünfzig Mädchen.Jeder Bursche nahm ein Mädchen und ging mit ihm in sein Haus. Sie heirateten einander. Im Hause sagten die Burschen: "Es ist aber nicht recht, daß die Frau auf dem Manne liegt. Wir wollen in Zukunft den Beischlaf so vollziehen, daß wir Männer auf den Frauen liegen. So werden wir die Herren werden." In Zukunft beschliefen sie also einander in der Weise, in der es die Männer und die Frauen der Kabylen heute noch meist tun*.
Die Burschen wurden nun noch toller wie die Mädchen. Sie lebten alle sehr zufrieden untereinander. Nur der Wilde und die Wilde, die kein Haus hatten, zogen zwischen ihnen umher und suchten den einen oder andern zu verschlingen. Die andern jagten sie deshalb überall aus ihrer Nähe, und wenn sie sie trafen, mißhandelten sie den Wilden und die Wilde.. Der Wilde und die Wilde sagten zuletzt zueinander: "Sind wir nicht anders als diese Menschen? Werden wir nicht überall von ihnen mißhandelt? Ist es nicht besser, wir gehen den andern aus dem Wege? Wollen wir nicht zusammen in das Holz (den Wald) gehen?" Der Wilde und die Wilde machten sich auf den Weg. Sie zogen in den Wald. Sie kamen in Zukunft aus dem Walde und raubten Kinder, die sie fraßen. Die Wilde wurde so zur ersten Teriel, der Wilde aber wurde der erste Löwe. Beide nährten sich von Menschen, die sie fraßen.
Die andern Frauen und Männer waren froh, daß sie von den Menschenfressenden befreit waren. Sie lebten sehr glücklich miteinander. Ihre Nahrung bestand, nur aus Kräutern, die sie pflückten.
2. Der erste Anbau der Feldfrüchte
Unterdessen wanderten der erste Mann und die erste Frau unter der Erde umher. Die ersten Eltern fanden eines Tages in einem Winkel eine große Menge Weizen, daneben eine große Menge Gerste, daneben Körner und Samen von allem, was gut ist als Nahrung und Gewürz. Von jedem lag in einem Winkel eine große Menge. Die ersten Eltern betrachteten die Körner und Samen und sagten: "Was soll dieses bedeuten?" Neben der Gerste und neben dem Weizen und dem anderen Samen lief aber eine Ameise (thautuoth; Plur.: theothfin) einher. Die ersten Eltern sahen die Ameise. Die Ameise kratzte von einer Gerstenähre den Speit ab und machte das Korn frei. Die Ameise fraß das Korn. Der erste Mann sagte: "Was tut die Ameise?" Die Frau sagte: "Töte sie! Töte das häßliche Tier." Der erste Mann sagte: "Weshalb soll ich dieses Tier töten? Die Ameise ist wie wir geschaffen." Der erste Mann tat der Ameise nichts, sondern sah ihr zu.
Der erste Mann fragte die Ameise: "Sage mir, was du tust? Kannst du mir über diese Gerste, über diesen Weizen und über diesen Samen etwas sagen?" Die Ameise sagte: "Ich will dich fragen: Kennst du eine Quelle, einen Bach oder einen Fluß ?" Der erste Mann sagte: "Nein, das kennen wir nicht. Wir kennen nur den Brunnen." Die Ameise sagte: "Dann kennst du also das Wasser. Das Wasser ist da, damit man sich und seine Kleider wäscht. Das Wasser ist da, daß man es trinke. Das Wasser ist aber auch dazu da, daß man damit seine Nahrung kocht. Wenn du alle diese Körner, jedes nach seiner Art, kochst, bekommst du ein sehr gutes Essen. Alle diese Körner sind gut, wenn man sie in Wasser kocht. Komm nun mit. Ich will dir und der ersten Frau alles zeigen." Der erste Mann sagte: "Wir wollen mit dir kommen."
Die Ameise führte die ersten Eltern zu ihrem Loche, das von der Erde unter die Erde führt. Die Ameise sagte: "Dies ist mein Weg, kommt auf meinem Wege mit mir." Die Ameise führte die ersten Eltern durch ihren Gang auf die Erde. Die ersten Eltern gingen mit der Ameise. Die Ameise führte sie an einen Fluß und sagte: "Hier fließt das Wasser, mit dem ihr euch und eure Kleider waschen könnt, das ihr als Getränk trinken könnt. Dies ist das Wasser, mit dem ihr das Korn kochen könnt, wenn ihr es gemahlen habt."
Die Ameise führte die ersten Eltern zu den Steinen und sagte: "Dies sind die Steine, mit denen ihr das Korn zu Mehl mahlen
könnt." Die Ameise zeigte ihnen, wie sie einen Stein auf den andern legen und einen Stock zum Drehen hineinstecken sollten. Die Ameise zeigte ihnen, wie sie das Korn zwischen die Steine legen sollten. Die Ameise sagte zu den ersten Eltern: "Dies ist eine Tithieth-büchan (eine Haushandmühle). Mit ihr müßt ihr das Korn zu Mehl mahlen." Die Ameise half den ersten Menschen das Mehl mahlen.Die Ameise zeigte der Frau, wie sie das Mehl mit Wasser mengen und kneten solle. Die Ameise sagte zu der ersten Frau: "Nun mußt du ein Feuer machen. Ich will dir zeigen, wie du es machst." Die Ameise nahm aus dem Bachbett zwei Steine und einige trockene Kräuter. Die Ameise sagte zur ersten Frau: "Dies ist ein Feuerzeug." (Das aus zwei Feuersteinen und Baummark oder altem Lappenzunder bestehende Feuerzeug heißt bei den Kabylen áthro l'kassa. Das Athro l'kassa wird hauptsächlich von Frauen benutzt und liegt gemeiniglich zwischen zwei Akufin. Die Männer haben meist schon alle das Stahl-Steinfeuerzeug, zumal auf der Jagd und auf Wanderungen. Die Frauen kennen meist nur dieses alte Steinfeuerzeug.) Die Ameise trug trockenes Holz und Gras herbei.
Die Ameise schlug mit dem Feuerzeug ein Feuer und warf Holz und Zweige hinein. Die Ameise sagte zur ersten Frau: "Wenn das Feuer stark und groß geworden und zu viel glühender Asche geworden ist, räume es beiseite. Auf die heiße Stelle lege die Fladen von geknetetem Teig. Decke sie zu und wirf die gühenden Kohlen und die Asche wieder darüber. Nach einiger Zeit wird das Brot (mehr Brotfladen) gar sein, und ihr könnt es essen." Die erste Frau tat, was die Ameise ihr gesagt hatte. Als sie die Asche wieder von dem bedeckten Brot weggeräumt hatte, war das Brot gar. Die erste Frau und der erste Mann aßen das Brot. Sie aßen viel und sagten: "Nun haben wir einen vollen Magen."
Der erste Mann sagte zur ersten Frau: "Komm, nun wollen wir die Erde besehen." Der erste Mann und die erste Frau nahmen viel Gerste und Weizen und die Mühle mit und wanderten über die Erde dahin. Unterwegs verloren sie überall ein wenig von den Körnern. Es fiel Regen. Die zu Boden gefallenen Körner gingen auf und wuchsen hoch und trieben Frucht.
Die ersten Eltern wanderten und kamen dahin, wo die neunundvierzig Burschen die Häuser gebaut hatten und mit den neunundvierzig Mädchen als ihren Frauen lebten. Die neunundvierzig Burschen und. Mädchen aßen bis dahin nur die Kräuter, die sie
pflückten. Die ersten Eltern zeigten ihnen die Bereitung von Brot, die sie von der Ameise gelernt hatten. Die neunundvierzig Burschen und Frauen aßen das erste Brot. Sie sagten zu den ersten Eltern: "Dieses Essen ist sehr gut. Wir wollen mit euch dahin zurückgehen, wo ihr bei der Ameise die Gerste und den Weizen gefunden habt und noch mehr davon holen." Die ersten Eltern gingen mit den neunundvierzig Burschen und ihren Frauen zurück.Auf dem Rückwege sahen sie die Gersten- und Weizenpflanzen, die aus den verlorenen und zu Boden gefallenen Körnern aufgewachsen waren. Sie sagten: "Das sind die gleichen Körner, die uns die Ameise kochen und essen gelehrt hat." Sie gruben in der Erde nach und fanden, daß jede Pflanze aus einem Korn aufgewachsen war. Sie sagten: "Jedes Korn, das in die Erde gefallen ist, hat zwanzig und dreißig Körner hervorgebracht. Wir wollen in Zukunft die Hälfte der Körner essen und die Hälfte in die Erde tun."
Die Menschen warfen die Hälfte ihrer Körner in die Erde. Es war aber die trockene Jahreszeit und die Sonne brannte. Das Korn ging nicht auf. Die Menschen warteten und warteten. Das Korn ging aber nicht auf. Da gingen sie zur Ameise und sagten: "Als wir das erstemal einige Körner fallen ließen, gingen sie auf, und jedes einzelne brachte zwanzig bis dreißig Körner hervor. Jetzt haben wir wieder ausgestreut, und kein einziges Korn ist aufgegangen. Wie kommt das?" Die Ameise sagte: "Ihr habt nicht die rechte Jahreszeit genommen. Nachdem es lange Zeit vorher heiß war, müßt ihr warten, bis einige Regen gefallen sind. Wenn die Erde feucht ist, werft das Korn hinein. Es wird mehr Regen fallen, und ihr werdet reichlich ernten. Wenn ihr das Korn in der heißen Jahreszeit in die Erde werft, wird es verbrennen, und ihr werdet nichts ernten, weil das Korn verdorrt." Die Menschen sagten: "Aha, so muß man es also machen!"
Die Menschen machten es so, wie die Ameise es sie gelehrt hatte. Sie säten die Hälfte, nachdem die ersten Regen gefallen waren. Die Körner gingen auf und trugen, zwanzig und dreißig Körner eine jede Pflanze. Die andere Hälfte aber aßen sie.
3. Die Urbüffel und die Entstehung der wilden Tiere
Im Anfange waren ein wilder Büffel (Itherther) und ein weibliches Kalb (Thamuath) auf der Erde. Beide gingen hervor aus dem Raum unter der Erde, der dunkel war, dem Raum, der Tlam heißt (der Sage nach wörtlich: challekan-itlam, d. h. sie wurden geschaffen in Itlam). Sie gelangten beide nach einem Flusse, dort wo er in einem Tale sich verbreiterte, und dort stiegen sie an einem Felsen aus dem Flusse empor und kamen so auf die Oberfläche der Erde. Vorher kannten sie nichts als die Nacht und das Dunkel. Als sie nun zum ersten Male an das Licht des Tages emporstiegen, sahen sie das Licht der Welt, und sie folgten, aus dem Tlam und aus dem Wasser kommend, dem Licht der Welt und liefen hintereinander her, hierhin und dorthin. Itherther lief immer hinter dem weiblichen Kalb her. Itherther wollte sich von dem Kalb nicht trennen. Itherther lief immer hinter dem Kalb her. Das weibliche Kalb lief hierhin und dorthin. Itherther lief immer hinterher.
Itherther und das weibliche Kalb froren. Sie fühlten die Kälte an ihren Herzen. Sie waren aber so froh, über den Himmel und das Licht, daß sie nicht in das Wasser und nach Tlam zurückkehren wollten. Denn die Welt war heller als alles (= dennith tzafäss), und die Welt war ihnen lieber als das Dunkel. Sie blieben deswegen in der Welt (dennia).
So gingen sie hintereinander her. Itherther folgte immer dem weiblichen Kalb. Sieben Tage lang folgte der Büffel dem weiblichen Kalb, und sie wußten nicht, was Tag und Nacht war. Das weibliche Kalb lief immer voran, und der Büffel folgte. Sieben Tage lang liefen sie hintereinander her. Am siebenten Tage pißte das weibliche Kalb. Der Büffel sah das weibliche Kalb pissen und sagte: "Wie ist das? Das (weibliche) Kalb (eigentlich Thamuath oder Thamuatz) pißt nach hinten. Ich pisse aber nach vorne. Wie kommt das? Wir sind verschieden." Der Büffel pißte auch und sagte: "Ich habe recht, ich sehe, ich pisse nach vorn." Der Büffel kam heran und schnüffelte an dem weiblichen Kalb.
Thamuatz und Itherther schliefen am siebenten Tage. Thamuatz lag vor Itherther. Itherther wacht auf und witterte vor sich das Hinterteil von Thamuatz. Itherther steckte den Finger (athal) in die weibliche Öffnung der Thamuatz. Itherther erregt sich und Thamuatz. Deshalb erregen sich die Kabylen heute noch in der gleichen Weise. Dann begann Itherther mit der Zunge die weibliche Öffnung
von Thamuatz zu belecken. (Dies heißt athim [ei schi thilthith, d. i. Spielen mit der Zunge. Da dies seinerzeit der erste Büffel mit dem ersten weiblichen Kalb tat, ist es Sitte der Kabylen geworden, daß heute noch verliebte Leute sich zwei- oder dreimal mit der Zunge befriedigen, ehe sie zum eigentlichen Beischlaf übergehen. Auch junge Leute fangen so an.) Als Thamuatz und Itherther auf diese Weise sehr erregt waren, sprang Itherther über Thamuatz her, und so deckte der Büffel das weibliche Kalb, wie es heute noch die Stiere und Kühe tun. Und das wiederholte sich alle Tage mehrmals, bis eines Tages die Kuh trächtig war und dann einen Stier (achimi) gebar. Der junge Stier wurde größer. Als der junge Stier ein Jahr alt war, sah er seine Mutter an. Er schnüffelte an der weiblichen Öffnung seiner Mutter und wurde lüstern. Die Kuh aber war schon wieder trächtig und ging mit einem weiblichen Kalb im Leibe umher. Als ihr Sohn, der Stier, sie beschnüffelte, wies sie ihn zurück, wie das heute noch die Kühe tun, wenn sie trächtig sind, und stieß den eigenen Sohn mit den Hörnern. Darauf lief der junge Stier voller Angst von dannen.Drei Jahre lief der Stier umher. Dann kam er in das Land, in dem die neunundvierzig Burschen ihre Häuser gebaut hatten und mit ihren Frauen lebten. Sie hatten damals aber schon Kinder, und ihre Kinder hatten wieder Kinder, so daß es mehrere Dörfer und kleine Gehöfte waren, die ringsumher lagen. Die Menschen sahen den ersten jungen Stier und begannen hinter ihm herzulaufen und ihn zu fangen. Die Alten liefen aber zur Ameise und fragten sie: "Was ist das? Welches Geschöpf ist es, das mit Hörnern in der Welt umherläuft? Ist es entstanden und geschaffen, wie wir geschaffen sind?" Die Ameise sagte: "Dieses Tier heißt Achimi. Achimi ist der Sohn der Kuh (mis-tphiinast)." Die Menschen sagten: "Was ist das? Der Sohn der Kuh? Es gibt doch keine Kuh ?" Die Ameise sagte: "Ja, es gibt eine Kuh." Die Menschen sagten: "Wo ist die Kuh ?" Die Ameise sagte: "Es ist ein weibliches Wesen, wie eine Frau ein weibliches Wesen ist. Sie hat auch Brüste. Während aber die Frau der Menschen zwei Beine und zwei Arme hat, hat die Kuh nur vier Beine. Zwei vordere Beine sind kurz, und zwei hintere Beine sind lang. Und während die Frau des Menschen ihre Brüste vorn hat, hat die Kuh die Brüste zwischen den Schenkeln der hinteren Beine. Die Brüste sind groß. Während die Frauen der Menschen nur zwei Brüste und Zitzen haben, haben die Kühe zwei
Brüste und vier oder sechs Zitzen. (Kuheuter thamathak; Zitzen thibuschin.) Wenn es vier sind, so sind alle vier groß. Wenn es sechs sind, so sind vier groß und zwei klein. Das Fleisch der Kühe und Ochsen ist gut zu essen. Ihr werdet später noch mehr Tiere finden, deren Fleisch ihr genießen könnt."Die Menschen liefen hinter dem jungen Stier her, um ihn zu fangen. Der Stier lief umher und stieß mit den Hörnern. Der Stier warf die Menschen zu Boden. Die Ameise sagte zu den Menschen: "Ihr könnt die Stiere nur fangen, wenn sie noch keine Hörner haben." Die Menschen versuchten, den Stier zu fangen. Der Stier ward wild und immer wilder. Der Stier sagte sich: "In was für ein wildes Land bin ich gekommen? In dem Lande meiner Eltern ist mir das nicht widerfahren. Ich kehre in das Land meiner Eltern zurück." Der Stier wechselte darauf die Richtung und lief zurück in das Land, aus dem er kam. Er lief in das Land, in dem ihn seine Mutter geboren hatte.
Auf dem Wege in das Land seiner Eltern begegnete der Stier aber der Ameise. Die Ameise sagte zu ihm: "Ich will dir die Welt erklären. (Der Spruch der Ameise lautet wörtlich: äthtueri [ihn aufklären] emich [wie] erräjäsch [leben] erräichthin [ihm machen] äräthchedemen [wie ihn machen] didunith [in der Welt].) Ich will dir alles sagen." Der Stier sagte: "Wer bist du ?" Die Ameise sagte: "Ich bin wie du geschaffen; aber ich weiß mehr wie du." Der Stier sagte: "Was weißt du?" Die Ameise sagte: "Sohn der Kuh, du wirst drei oder fünf, aber nie mehr als sieben Jahre leben." Der Stier sagte: "Leben alle Tiere nicht länger?" Die Ameise sagte: "Ja, einige, Tiere leben länger. Es gibt Menschen, die leben hundert und hundertundzwanzig Jahre, aber sie müssen arbeiten. Wenn du nicht arbeiten willst, kannst du lange leben wie dein Vater, der Ali Itherther-Mskin. (Hier taucht die menschliche Personifizierung zum ersten Male auf.) Aber du mußt dich mit schlechter Nahrung begnügen und hast, wenn es schlechtes Wetter ist, kein Unterkommen. Du mußt mit wilden Tieren auf dem Wege kämpfen und wirst keinen Schutz haben. Wenn du so lebst, wirst du lange leben. Wenn du aber zu den Menschen gehst, wirst du beliebt sein vor allen anderen Tieren. Die Menschen werden dir Nahrung und Haus geben. Du hast nichts zu fürchten vor den wilden Tieren und dem schlechten Wetter. Du wirst aber nur drei oder fünf oder sieben Jahre, aber nicht länger leben." Der Stier sagte: "Ich will lange leben und nicht im Schutze der Menschen leben. Kannst du mir sonst etwas sagen?"
Die Ameise sagte: "Ich kann dir sagen, daß du von allen Tieren dadurch ausgezeichnet bist, daß du und alle deiner Art vor allen Tieren einen Vorzug haben. Gehe hin. In deiner Abwesenheit hat deine Mutter ein Kalb geworfen, das ist eine Thämuatz. Es ist ein weibliches Kalb. Ihr habt nun vor den anderen Tieren das Recht, eure Mutter und eure Schwestern zu decken. (NB. Der Erzähler fügt hinzu: das ist bis heute so.) Wenn ein Stier geboren und groß geworden ist, weiß er nicht mehr, welches seine Mutter und welches seine Schwester ist und er bespringt eine wie die andere. Gehe also hin, suche deine Eltern und bespringe deine Schwester!"
Der Stier lief in das Land seiner Eltern. Der Stier traf seine Mutter, die Kuh. Bei seiner Mutter, der Kuh, war deren Tochter, ein weibliches Kalb. Der junge Stier lief auf seine Mutter zu, sprang auf sie und deckte sie. Der junge Stier lief auf seine junge Schwester, das weibliche Kalb, zu, sprang auf das junge weibliche Kalb und deckte es. Das weibliche Kalb war aber jung, und als der Stier es gedeckt hatte, legte es sich gleich nieder. Deshalb legen heute sich auch alle Kühe, wenn die Stiere sie gedeckt haben, nieder; große wie kleine legen sich auf den Boden, wenn sie gedeckt sind.
Der Büffel Itherther ward zornig, als er sah, daß der Stier seine Frau und seine Tochter besprang. Er rannte auf den Stier zu. Er kämpfte mit dem jungen Stier, seinem Sohn. Der junge Stier, sein Sohn, war aber stärker als er. Er warf den Itherther, seinen Vater, beiseite. Itherther floh. Er lief in den Wald. Er blieb nicht bei den Kühen und dem Stier, seinem Sohn.
Itherther lief in das steinige Gebirge, in die Felsen bei Häithar. (Das ist eine Partie in der Djudjura oberhalb Mizane im Gebiet von Beni Burardan; vier bis fünf Kilometer von Mizane entfernt, hoch oben, wo im Winter fester Schnee liegt. Die Stelle heißt: Wuahäithar. Heute noch wird da der wilde Büffel als anthropomorphes Wesen unter dem Namen Ali Itherther Mskin verehrt. Das ist eine felsige Landschaft mit mehreren eingemeißelten Bildern von Büffeln und Menschen aus ganz, ganz alter Zeit. In neuerer Zeit sind arabische Schriftzeichen dazugekommen. Dort sieht man die Spuren des anthropomorphen Büffels in dem Felsen. Im Felsen ist hier ein Steinhaus mit einer Tür und einem Fenster, wohl eine Höhle. Nur Menschen mit reinem Herzen vermögen hineinzukommen; anderen ist das Haus verschlossen. Dort opfern die Menschen, die in Not und Sorge sind. Mütter, die steril sind, opfern um Kinder, zumal Söhne. Es wird da geopfert, wenn der Regen ausbleibt. Es wird auch
um gute Ernte gebetet. Es ist ein hochheiliger Platz, und die Kabylen gehen in allen großen Nöten dorthin. In der Winterzeit ist die Stelle verschneit.) In den Felsen bei Häithar irrte Itherther umher.Ali Itherther Mskfn war allein. Er konnte die Kuh nicht vergessen. Sein Samen (thell, der menschliche Samen, auch wohl menschliche Gesundheit genannt, heißt: l'challa) sammelte sich. Er wußte nicht, was tun. Da sah er eines Tages bei Häithar einen Stein, der war flach und hatte eine Höhlung. Er war wie eine Schale. Als Itherther sich nicht mehr zu halten vermochte, ging er zu der Schale und ließ seinen Samen hineinfallen. Jedesmal, wenn er nun sich nicht mehr verhalten konnte und der Gedanke an die Kuh ihn quälte, ließ er seinen Samen in die Schale fallen, so daß sie sich füllte. Die Schale war fast gefüllt. Die Sonne schien mit aller Gewalt auf Häithar und die Schale. Ali Itherther Mskfn stieg in ein kühles Tal. Die Schale mit Ali Itherther Mskins Samen stand allein in der Sonne.
Ali Itherther Mskfn blieb fünf Monate im Tale. Dann kam er wieder zurück. Er kam nach Häithar. Da waren aus der Schale mit dem Samen eine männliche (aruthell) und eine weibliche Gazelle (tharuthelt) entstanden. Es waren noch andere wilde Tiere entstanden, im ganzen sieben Paare, immer ein männliches und ein weibliches. Alle diese Tiere waren aus dem Samen Ali Itherther Mskins hervorgegangen, den er in die Steinschale hatte fallen lassen.
Die Tiere wußten nicht, was sie tun sollten. Ali Itherther Mskfn ernährte sie mit Kräutern und den wilden Wurzeln Thachülmeth (einer wilden Mohrrübenart). Im Anfange waren diese wilden Gazellen und die anderen wilden Tiere ganz klein und konnten nicht laufen. Ali Itherther ernährte sie aber so gut, daß sie bald selbst herumlaufen und sich Kräuter suchen konnten.
Als die sieben Paare der wilden Tiere groß geworden waren, rief Ali Itherther Mskfn sie zusammen und sagte: "Ihr seid alle ein männliches und ein weibliches Tier. Tut nun so, wie ich es seinerzeit mit der Kuh getan habe. Die Kuh und ich waren zufrieden und wir haben uns dabei wohl befunden. Wenn ihr das tut, werdet ihr Kinder haben und viele werden." Die Tiere taten so, und es wurden bald viele und sie vermehrten sich mehr und mehr. Sie wurden die, die wir in den Wäldern und Steppen treffen.
Nur der Löwe wurde nicht so. Der Löwe ging aus einem wilden menschenfleischfressenden Manne (s. S. 58/59; 6o Ihebill) hervor.
Die Katze aber ist ein Kind des Löwen. So entstanden die wilden Tiere auf der Erde.Die Schale, in die Itherther seinen Samen fallen ließ, ist heute noch bei Häithar. Früher opferten die Kabylen in sie hinein, ehe sie auf die Jagd gingen.
4. Die ersten Hausrinder
Inzwischen hatte der junge Stier, nachdem er Ali Itherther Mskfn verjagt hatte, seine Mutter und seine Schwester oftmals gedeckt, und es waren eine Menge Kälber, Kühe und Stiere geworden. Der junge Stier war ein ganz alter Stier und aus den Dreien war eine ganze Herde geworden. Die Herde graste, wo es ihr behagte. Die Herde lebte in der Wildnis wohl und vermehrte sich.
Eines Tages aber fiel der erste Schnee. Es schneite sieben Tage und sieben Nächte. Der Schnee deckte alle Bäume und Kräuter zu. Der Schnee deckte die ganze Erde zu. Als die Kühe und Stiere sich hinlegen wollten, lagen sie kalt im Schnee. Als sie fressen wollten, konnten sie nichts finden; denn der Schnee hatte alles zugedeckt. Die Kühe und Stiere froren und hungerten.
Da fiel dem jetzt alt gewordenen Stier ein, was ihm die Ameise gesagt hatte, als er das erstemal bei den Menschen gewesen war und vor ihnen fort zu seinem Elternlande zurücklief. Der früher junge, jetzt alte Stier sagte: "Die Ameise hatte recht. Es ist besser, beliebt und bequem unter den Menschen ein kurzes Leben zu haben, als ein langes mit einem schlechten Tode in der Welt." Alle Kühe und Stiere froren. Der früher junge, jetzt alte Stier sagte: "Kommt alle mit mir, wir wollen in das Land der Menschen gehen. Diese werden uns Essen und ein warmes Haus geben. Wir wollen nicht erfrieren und verhungern."
Der früher junge, jetzt alte Stier führte die Herde in das Land der Menschen. Er witterte die Wärme und den Rauch. Die Kühe und Stiere folgten ihm. Sie kamen zu den Dörfern der Menschen. Sie liefen in die Häuser hinein. In ein Haus liefen drei, in ein anderes fünf, in ein anderes sieben Rinder. Die Menschen warfen ihnen Kraut und Heu hin. Sie reichten ihnen Wasser. Die Kühe und Stiere erwärmten sich, fraßen sich satt und fühlten sich sehr wohl. So kamen die Rinder und Kühe zu den Menschen.
5. Die Entstehung der Schafe und die Gliederung des Jahres
Die erste Mutter der Menschen mahlte einmal auf ihrer Handmühle das Mehl, mischte es mit Wasser, und um die Stunde T'hä (oder thzä) formte sie den Teig in Gestalt eines weiblichen Schafes. (Die Stunde tha ist etwa 9 oder 1/2 10 Uhr morgens.) Die erste Mutter der Menschheit hatte an den Händen Ruß von den Töpfen gehabt. Deshalb wurde der Kopf der Tiere schwarz und der Leib, Hals und Beine weiß. Das Schaf aus Mehlteig legte sie darauf in den Speit, der neben dem Mahlstein lag und von dem Korn weggeblasen war. Es war Gerstenspelt (agorschelt themtháin). Der Speit blieb sogleich an dem Teigtier hängen und wurde zur Wolle.
Am andern Tage machte die erste Mutter der Welt aus Wasser und Mehl Teig und formte den Teig in Gestalt eines Widders. Sie machte ihm Hörner. Die Hörner waren nicht nach oben gerichtet, damit die Menschen sich nicht daran stechen. Sie machte die Hörner deshalb gekrümmt und die Ohren wie eine Schnecke, eines rechts und eines links. Als sie den Teigwidder in den Speit legen wollte, klang aus dem Speit: "bäh, bäh, bäh." Das kleine Schaf, das sie gestern gemacht hatte, war lebendig geworden und schrie aus dem Speit. Die erste Mutter der Welt sagte: "Was ist das? Das erste Schaf, das ich aus Kuchenteig gemacht, schreit wie ich schreie (d. h. gibt Laute von sich), ich werde ihm zu essen geben, von dem was ich esse." Darauf legte die erste Mutter der Welt den schwarzen Widder neben das junge Schaf in den Speit und gab dem jungen Schaf von ihrem Kuskus zu essen.
Am dritten Tage machte die erste Mutter der Welt wieder ein Schaf aus Teig, das wurde ganz weiß. Am vierten Tage machte die Mutter der Welt wieder einen Widder, der war auch ganz weiß. Am fünften Tage lagen im Speit vier lebendige Schafe, von denen ein weibliches einen schwarzen Kopf hatte und sonst weiß war. Das andere weibliche Schaf war ganz weiß. Die anderen beiden Schafe waren Widder, und einer von diesen war schwarz und einer weiß. Als die erste Mutter der Welt diese vier Schafe gemacht hatte, sagte sie zum ersten Vater der Welt: "Dies ist jetzt genug." Darauf machte sie keine Schafe mehr.
Die erste Mutter der Welt behielt die vier Schafe in ihrem Hause und fütterte sie. Die vier Schafe wuchsen und blökten. Die anderen Leute, die in der Nachbarschaft wohnten, hörten das Blöken der Schafe. Sie kamen und sagten: .%Was ist das, was ihr da im Hause
habt? Was schreit so ?" Die erste Mutter der Welt sagte: "Es ist nichts. Es hat nichts auf sich. Es ist nichts, was ihr nicht auch habt. Das Brot schreit bei mir." Die erste Mutter der Welt gab den vier Schafen aber viel Kuskus und andere Speise, so daß sie schnell wuchsen und groß wurden.Als die vier Schafe nun groß waren, liefen sie einmal zur Tür. Sie drängten die Tür ein wenig auf und sahen heraus. Sie sahen im Freien das Gras. Sie sprangen heraus und begannen das Gras zu fressen. Sie aßen alles Gras umher und weideten hier und dort. Die Nachbarn sahen die Schafe, kamen zur ersten Mutter der Welt und sagten: "Wir haben Rinder, Stiere und Kühe. Die kennen wir. Was sind aber dies dort für Tiere? Wie hast du diese Schafe gemacht ?" Die erste Mutter der Welt wollte nicht sagen, wie sie die Schafe gemacht hatte; sie sagte: "Diese Tiere sind mir nachts zugelaufen. Wir haben sie freundlich aufgenommen. Da sind sie bei uns geblieben. Sie sind bei mir geblieben. Diese Tiere sind geworden wie die Menschen, wie ihr und ich."
Die Nachbarn gingen. Sie gingen zur Ameise und fragten sie: "Was sind das für Tiere? Wie sind diese Tiere geworden? Wer hat sie gemacht? Zu was sind diese Tiere gut ?" Die Ameise sagte: "Diese Tiere heißen Schafe. Die Schafe sollen von den Menschen sorgfältig gepflegt werden. Sie sind gut zum Essen. Ihre Haare aber sind die Wolle, aus der die Frauen die Burnusse weben können. Sie sind auch für die Feste. Ohne die Schafe könnt ihr die großen Feste nicht feiern. Diese Feste sind genau unterschieden nach den Monaten des Jahres. Das Jahr hat zwölf Monate. Jeder Monat hat dreißig Tage. Jeder Tag hat eine Tageszeit und eine Nachtzeit. In diesen Zeiträumen liegen die Feste."
Die Menschen fragten: "Welche Feste sind zu feiern ?" Die Ameise sagte: "Das eine Fest ist das Lääid thamthiend (im Juli). Dazu schlachtet große Tiere (Rinder) und vier oder sechs Schafe im Dorfe. Jeder Mann, der eine Frau hat, stecke seine Debus (Schlagkeule) in die Erde, und neben jeder Schlagkeule lege man gleiches Essen bei der Verteilung hin. So sind alle gleich bedacht. Das zweite Fest ist Lääid thamkoran(d) (im Oktober). Zu diesem Feste soll jeder verheiratete Mann ein Schaf schlachten und soll seinen Kindern auflegen, daß alle gesund und stark werden. Von dem geschlachteten Schaf soll aber eine Schulter und der Kräutermagen (äkälschiu), ein Ohr (thamthurd) und ein Auge in der Sonne getrocknet, in Salz gelegt und einen Monat und zehn Tage lang aufbewahrt werden für
das dritte Fest. Das dritte Fest ist das Thaschurt, das wird einen Monat und zehn Tage nach dem vorigen veranstaltet, und dann werden die Teile des Schafes gegessen, die aufbewahrt wurden. Dieses ist das Fest des Zitterns und Schreckens. Wer in den ersten drei Tagen dieser Zeit Holz hackt, auf dem Felde arbeitet oder sonst etwas tut, wird in ein Zittern verfallen und dann sterben. Die Frauen müssen für dieses Fest alle Nahrungsmittel vorher bereiten. Das vierte Fest ist das Mulud, das ist wieder drei Monate später (also Februar). Jedes Dorf soll Stiere kaufen und schlachten. Die Männer sollen ihre Debus in die Erde stecken und für ihre Familien den Anteil hinnehmen, der ihnen zukommt. In der Nacht vor dem großen Essen sollen aber alle heiligen Plätze mit Fackeln abgeleuchtet werden. Das sind die Feste, und jetzt, wo ihr die Schafe habt, könnt ihr sie begehen. Darum pflegt die Schafe gut."Die Leute fragten die Ameise weiter: "Wie sind aber die Schafe gemacht? Wie sollen wir Schafe erhalten, um die Feste feiern zu können?" Die Ameise sagte: "Geht hin und sprecht mit der ersten Mutter der Welt. Merkt euch aber, daß, wenn ihr etwas kaufen wollt, ihr immer mit dem zahlen sollt, woraus das, was ihr kaufen wollt, bereitet ist. Geht also hin und sprecht mit der ersten Mutter der Welt."
Die Leute gingen wieder zu der ersten Mutter der Welt und sagten zu ihr: "Sage uns, wie die Schafe gemacht werden, wir wollen dir das dafür geben, woraus du sie bereitet hast." Die erste Mutter der Welt sagte: "Mahlt Gerstenmehl auf euern Mühlen, macht Kuchenteig und formt euch Schafe. Legt die Teigschafe in den Speit. So hab' ich meine Schafe gemacht. Vielleicht könnt ihr das auch machen."
Die Leute gingen hin und versuchten es. Denn die erste Mutter der Menschheit war eine Stud (eine Zauberin, Plur.: stuten oder stuta). Sie war damals die einzige, und nie wieder nach ihr konnten die Zauberinnen das, was die erste Mutter der Welt vermocht hatte.
Inzwischen sprangen die Widder auf die Schafe und die Schafe wurden trächtig. Jedes Schaf warf jedes Jahr zwei Lämmer. Die Schafe vermehrten sich schnell. Die Leute sahen es und kamen zur ersten Mutter der Welt und sagten: "Du hast die Schafe aus Gerstenmehl gemacht. Die Ameise hat gesagt, daß wir jedes Ding mit dem bezahlen sollten, aus dem es gemacht ist. Wenn es dir recht ist, geben wir dir Gerste für die Schafe." So kauften alle Menschen von der ersten Mutter der Menschheit Schafe gegen Gerste. Alle Menschen
kauften in Zukunft, was die anderen Besseres machten, gegen das, woraus es bereitet war. Denn Geld gab es noch nicht.So kamen die Schafe zu den Menschen und die Menschen konnten ihre Feste feiern.
Der erste Widder, den die erste Mutter der Welt gebildet hatte, ist nicht wie andere Tiere gestorben. Er lief eines Tages hoch in das Gebirge; so hoch, daß er mit seinem Kopfe gegen die aufsteigende Sonne stieß. Die Sonne haftete an ihm und so wandert er von da an mit ihr.
Es gab früher auch ein Bild des Widders, das war oberhalb von Häithar. Davor war ein Mensch zu sehen, der wie die andern Menschen nach der rechten Zeit für Saat und Ernte fragte. Dieses Bild ist aber nur noch in wenigen Stücken zu sehen; denn als der große Frost über die Erde kam, zerstörte er nicht nur die Mutter der Welt, sondern auch Felsen. Und in jedem Jahre zerstört die Kälte ein wenig von dem Bilde des ersten Widders.
6. Die Entstehung der Flöhe und Hunde
Damals kamen auch die Flöhe und der Hund zu den Menschen. Der Floh und der Hund wurden fast gleichzeitig; der Floh entstand aber etwas früher als der Hund.
Es war nämlich mit der Asche aus einem Hause ein Knochen und eine kleine Fleischfaser auf den Misthaufen geworfen. Die Hitze des Misthaufens drang herauf zu der kleinen Fleischfaser. Die kleine Fleischfaser ward zum Floh in der Hitze. Der Floh sprang. Der Floh hüpfte auf den Knochen. Der Knochen hatte schon die Hitze des Mistes nicht ertragen. Als nun noch der Floh darauf hüpfte, begann der Knochen zu bellen. So entstand der Hund in der Hitze des Misthaufens zwischen der Asche.
Die Frau des Hauses hörte den Hund bellen. Die Frau sagte: "Dort schreit etwas, wie wir Menschen schreien. Ich werde diesem Schreier Essen bringen." Die Frau nahm etwas Kuskus, um ihn dem Hund zu bringen. Sie nahm auch noch einige Knochen mit, die vom Essen übriggeblieben waren, um sie gleich mit auf den Misthaufen zu werfen. Die Frau warf die Knochen auf den Misthaufen und ging zu der Stelle, an der der Hund entstanden war. Die Frau sah den Hund in der Wärme des Misthaufens liegen. Sie gab ihm den Kuskus. Der Hund fraß den Kuskus. Er witterte aber die Knochen, die die
Frau weggeworfen hatte, und sprang auf. Er ließ den Kuskus liegen und stürzte sich auf die Knochen, benagte und zerbrach sie mit den Zähnen.Der Hund lief nun einige Tage umher. Der Hund sah die Menschen und die Tiere. Der Hund sagte bei sich: "Ich sehe, es gibt Kühe und Stiere und Schafe und Widder und Frauen und Männer. Ich bin gebaut wie die Männer, die Stiere und die Widder. Aber ich habe kein zweites Tier neben mir, das mir eine Frau, ein Schaf oder eine Kuh wäre. Was habe ich von solcher Art? Ich habe nichts von solcher Art."
Eines Tages fand der Hund wieder Knochen. Er begann einen Knochen zu benagen und zu zerbeißen. Ohne daß er es merkte, blieb einer seiner klugen Zähne (thoromist lache!) in dem Knochen stecken. Da wurde der Knochen, in dem der kluge Zahn des Hundes steckengeblieben war, zur Hündin. Die Hündin war aber noch verliebter als der Hund. Der Hund sprang auf die liebestolle Hündin. Als er seine Sache gemacht hatte, wandte er sich um und wollte fortrennen. Sein Glied steckte aber noch in der weiblichen Öffnung der Hündin. Er konnte ziehen wie er wollte. Die Hündin ließ ihn nicht frei, bis er noch einmal auf sie gesprungen und sie befriedigt hatte. Dann erst ließ sie ihn laufen. Das ist bis heute so geblieben. Wenn die Hündin das Glied des Hundes in ihrer weiblichen Öffnung hat, läßt die Hündin den Hund nicht frei. Man kann daneben ein Gewehr abschießen. Ehe der Hund sie nicht ganz befriedigt hat, gibt sie ihm keine Freiheit.
Die Hunde kamen dann in das Haus, um im Hause mit den Menschen zu schlafen. Mit den Hunden kamen auch die Flöhe in das Haus und zu den Menschen und in deren Kleider. Sie sind seitdem nicht wieder fortgegangen.
7. Die erste Sonnenfinsternis und das erste Menschenopfer
Die erste Mutter der Welt war eine große Zauberin (stud). Die erste Mutter der Welt nahm einmal eine Holzschabe (djiffna)mit Wasser, sie schlug mit einer Sichel (am[i]cher oder am[i]ger) hinein, so daß Schaum und Blasen (tichufa) aufstiegen. Da schrie Agur gitaisch (d. i. der Mond der Sonne; gemeint ist anscheinend die durch den Mond in vollkommener Bedeckung verfinsterte Sonne) und Agur gitaisch fiel in die Holzschüssel. (Wörtlich: ichalid [ist
gefallen] en[i]scht [wie] u'aschemi [ein Stier, d. h. so groß wie ein Stier] ardachen [hinein] ndjiffina [d. i. Holzschüssel].) Die Sonne lag wie ein glänzender Spiegel in der Holzschüssel mit Wasser.Sogleich war die Welt dunkel, und es war schwarze Nacht. Die Kabylen sagen, daß dieses noch heute alle fünf Jahre einmal vorkommt. Sie sagen, die erste Frau der Welt habe der Welt einen Tag von fünf Jahren gestohlen.
Wie es nun ganz dunkel war, kamen alle Leute zu der alten Stud und sagten zu ihr: "Was hast du getan? Wie soll es nun wieder hell werden? Es kann nur geschehen, indem du eines deiner Kinder, das dir lieb ist, sterben läßt. Wenn du der Sonne ein dir liebes Kind gibst, wird sie wieder emporsteigen. Tue es also."(Wörtlich: theokän [hat gegeben] um [derjenige] athithen [welches sie liebte] filläs [im Herzen] thimi [damit]juro[a]l [zurückkehre] themkanith [an seinen Platz].)
Die erste Mutter der Welt bezeichnete ein Kind und sagte: "So mag dieses Kind sterben. Dieses Kind will ich der Sonne geben." Das Kind starb sogleich, und die Sonne stieg wieder empor.
Die Kabylen sagen, daß es heute noch in jedem Dorfe vier oder fünf solche alten Zauberinnen gäbe, die es verständen, den Mond der Sonne oder die Sonne des Mondes in ein Wassergefäß herabstürzen zu lassen, und dann müsse jedesmal ein von der Zauberin geliebtes Kind sterben. Gibt man nicht ein Kind, das man von ganzem Herzen liebt, so gehe die Sonne nicht wieder in die Höhe.
Die erste Mutter der Menschen machte damals aber mit ihrer hölzernen Wasserschüssel und der Sichel noch mehr. Die Blasen (tichufa) wurden zu Wolken (athigina). Vier Monate lang im Jahre ziehen seitdem die Wolken über den Himmel hin und verdunkeln die Sonne, so daß sie nicht hell und warm scheinen kann. Die Zähne der Sichel, mit der sie die Blasen im Wasser aufschlug, wurden zu Sternen. Die glänzende Mittelfläche der Wasserschüssel wurde die Sonne, der Rand herum der Himmel. Solche hölzerne Wasserschüssel ist also wie ein Spiegel der Welt, und die Kabylen benutzten solche hölzernen Wasserschüsseln auch, ehe sie durch die Europäer andere Spiegel kennenlernten, als Spiegel. (Der Erzähler wiederholt:) Die helle Fläche in der Mitte ist aber etäisch, die Sonne.
8. Das erste Weinen und die Flecken im Monde
D Damals ging ein Kind auf der Erde umher, das war eine Waise (ägujfl) und hatte weder Vater noch Mutter. Das Waisenkind ging ganz traurig umher, und kein Mensch nahm sich seiner an und fragte, weshalb es traurig wäre. Das Kind war sehr traurig, aber konnte nicht weinen. Denn das Weinen gab es damals noch nicht.
Als der Mond das traurige Waisenkind auf der Erde umhergehen sah, hatte er Mitleid. Er stieg, als es Nacht war, vom Himmel herab. Der Mond legte sich vor dem Waisenkind auf die Erde und sagte: "Waisenkind weine! Laß deine Tränen aber nicht auf die Erde fallen, von der die Menschen essen, damit du die Erde nicht verunreinigst. Laß deine Tränen auf mich fallen. Ich werde sie mit an den Himmel nehmen." Das Waisenkind weinte. Es war das erste Weinen. Die ersten Tränen fielen auf den Mond. Der Mond sagte: "Ich will dir die Gnade geben, daß alle Menschen dich lieben." (Wörtlich: iphkäjeth [ihm hat gegeben]lhivan [liebt]rarmeden [alle Leute].)
Nachdem das Waisenkind sich ausgeweint hatte, stieg der Mond wieder zum Himmel empor. Das Waisenkind war aber von dem Tage an glücklich. Alle Leute liebten es und gaben ihm gerne, was es erfreute und erheiterte. Am Mond aber sieht man bis heute in den dunklen Flecken die Tränen des ersten Waisenkindes und die ersten Tränen der Welt.
9. Der erste Streit und die Entstehung der Völker
Im Anfange sprachen alle Steine, sprach alles Holz, sprach alles Wasser, sprach die Erde. Die erste Mutter der Welt war aber sehr alt und sehr klug geworden. Sie war so klug geworden, daß sie die Ameise nicht mehr fragte, sondern alles allein machte. Sie wurde die erste Stud (Zauberin, Plur.: stuta). Sie war die erste und die größte Zauberin. Nach ihr aber wurden alle alten Kabylenfrauen Zauberinnen und sind es bis heute.
Als die erste Mutter der Welt so alt geworden war, gab es schon viele Dörfer und Orte und eine große Zahl von Menschen. Die erste Mutter der Welt wollte die Menschen aber trennen, denn je älter sie wurde, um so böser war sie.
Die erste Mutter der Welt hatte die Menschen gelehrt, Feuer und Steine nach den Orten zu bringen. Wollte man Steine in das Dorf
bringen, so legte man einen großen Haufen zusammen, stellte sich darauf und sagte: "Trage mich in das Dorf." Dann trug der Steinhaufen den, der obenauf stand, in das Dorf, und man hatte seine Steine dort, wo man sie haben wollte. Wollte eine Frau Feuerholz haben, so ging sie in den Wald, legte eine große Last Holz zusammen, stellte sich auf die Last und sagte: "Trage mich in das Dorf." Dann trug die Last Holz die Frau in das Dorf und sie hatte dann gleich alles daheim.So hatte die erste Mutter der Welt die Menschen gelehrt, und so beherrschten die Menschen das Holz, die Steine, die Erde. Nur das Wasser beherrschten sie nicht. Als die erste Mutter nun aber eine alte böse Zauberin geworden war, wollte sie die Menschen glauben machen, sie habe alles gemacht. Und als die Menschen es nicht glaubten, wollte sie die Menschen trennen.
Sie tat dies vor dem Feste Ithusum (dem islamischen Ramadan, im Juli gefeiert). Das Fest Ithusum wurde damals drei Tage lang gefeiert. Zu dem Fest brauchten die Frauen viel Holz.
Ehe die anderen Frauen nun in den Wald gezogen waren, um das Holz zu sammeln, das sie für das Fest brauchten, um sich dann darauf nach Hause tragen zulassen, ging die erste Mutter der Welt in den Busch, sammelte trockenes Holz und legte es auf einen Haufen zusammen. Dann stellte sie sich auf die große Last Holz und sagte: "Nun trage mich nach Hause." Die Last Holz setzte sich in Bewegung. Als das Holz mit der ersten Mutter der Welt ein gutes Stück weit gekommen war, ließ sie einen Wind streichen. (Es ist dies die größte Schmach, die der Kabyle irgend jemand antun kann, und darum nie zu beobachten.) Das Holz lag sofort still und sagte: "Du beschimpfst mich. Du verpestest um mich die Luft. Ich bleibe stehen. Ich trage dich nicht weiter." Die erste Mutter der Welt sagte: "Geh nur! Geh nur! Geh nur!" Das Holz blieb aber liegen und rührte sich nicht. Das Holz sprach auch nicht mehr. Da stieg die erste Mutter der Welt herab, hob die Last Holz auf den eigenen Rücken und trug sie heim. Seitdem hörte das Holz auf, die Menschen heim zu tragen. Seitdem müssen die Menschen das Holz heimtragen.
Die anderen Frauen sahen, wie die erste Mutter der Welt ihr Holz auf dem Rücken heimtrug. Sie fragten die erste Mutter der Welt: "Weshalb trägst du das Holz selbst ?" Die erste Mutter der Welt sagte: "Das Holz will uns nicht mehr tragen. Wir müssen es in Zukunft selbst tragen." Da schalten die anderen Frauen und Männer
und sagten: "Wie doch? Die alte Frau verdirbt uns alles. Wir sollen der Schmach der alten Frau wegen alles in Zukunft selbst tragen."Es entstand ein großer Streit unter den Menschen. Es war der erste Streit. Die Menschen zankten, schimpften und bestritten einander. Sie sprachen nicht miteinander. Ihre Sprache geriet in große Unordnung. Nach einiger Zeit verstanden sie nicht mehr die Sprache der Nachbarn. Im großen Hause (der Menschheit) verstanden die Menschen sich nicht mehr untereinander. (Wörtlich: uchollen [sie sind geworden] zachamth'[im Haus] ihäudar füfen [keiner versteht den andern].)
Wenn der eine sagte: "Wir wollen gehen", so verstand der andere: "Wir wollen bleiben." Dann entstand ein Streit und eine Zwietracht. Alle Menschen wurden untereinander uneinig. Bis sich einige Amrar asemeni (kluge alte Männer) einfanden, die führten nach dem Rate der Ameise die Menschen und rieten ihnen, und so entstanden die Mächte. Die alten klugen Männer führten die einzelnen Völker, jedes an seinen Platz. Sie führten die Menschen in die wilden (unbewohnten) Länder (themurech ichlan). Dort nahm jedes Volk seine eigene Sprache an.
So entstanden die sieben Sprachen (thewail ilthauen).
10. Die Entstehung der Affen
Man erzählt sich viele Schlechtigkeiten, die die erste Mutter der Welt begangen hat, um Unglück unter die Menschen zu bringen. Man kann wochenlang erzählen von all dem Übel, das sie angerichtet hat, ehe sie vom Monat Inajär in Stein verwandelt wurde. Eines Tages, als sie noch lebte, traf sie ein Kind (dies Kind war ein Knabe) und sagte zu ihm: "Wenn man eine Platte Kuskus erhält, auf der nur Kuskus ist, und man sich am Kuskus satt gegessen hat, ohne Fleisch in dem Gericht zu finden, soll man sich über den Rest des Kuskus setzen und sich darauf entleeren. Tue dies also in Zukunft."
Das Kind ging. Das Kind traf wenig später ein Mädchen, das trug eine Schale mit Essen. Das Kind sagte: "Halte an, laß uns gleich davon essen." Das Mädchen setzte die Platte hin. Das Kind und das Mädchen aßen von dem Kuskus. Sie aßen sich ganz satt, und es blieb noch viel Kuskus auf der Schüssel. Es war bis dahin aber kein
Fleisch zum Vorschein gekommen. Vielleicht war unten drunter noch Fleisch. Das Kind sagte: "Ich bin satt. Nun wollen wir das tun, was mir die erste Mutter der Welt gesagt hat. Ich habe mich an diesem Kuskus gesättigt, ohne Fleisch zu finden. Nun will ich mich darüber entleeren." Das Mädchen sagte: "Laß das!"Ehe aber das Mädchen es noch wehren konnte, hatte das Kind sich über dem Kuskus entleert. Das Kind sagte zu dem Mädchen: "Tue du es doch auch. Die erste Mutter der Welt hat es gesagt!" Das Mädchen sagte: "Nein, ich tue es nicht." Das Mädchen warf seine Kleider über den Kuskus. Seitdem deckt man den Kuskus zu, sobald er fertig bereitet ist.
Der Knabe wollte das Mädchen fangen und dazu zwingen, sich über den Kuskus zu entleeren. Das Mädchen lief fort. Da wurde der Knabe im Lauf zu einem Ibki (oder ivkf), einem der Affen, die im Djurdjura herumspringen, das Mädchen aber wurde zu einem Rebhuhn und bekam zum Lohn dafür, daß es den Kuskus zugedeckt hatte, ein schönes Federkleid. Der Affe sprang hinter dem Rebhuhn her. Das Rebhuhn flüchtete sich aber in die Felsen.
Vordem waren die Affen im Hause. Seitdem aber der Knabe zur Strafe für seine Mißachtung des Kuskus in einen Affen verwandelt wurde, seitdem leben die Affen in den Felsen.
11. Die erste Mutter der Welt formt neue Tiere
Die erste Mutter der Welt ging mit den Tieren hart um und hat so mehreren Tieren eine besondere Eigenart gegeben, die sie nicht wieder abstreifen können.
Das erste Tier, das unter der unbarmherzigen Härte der ersten Mutter der Welt so litt, war der Igel. Der Igel (inisi, Plur.: inisivuen; in einem anderen Dialekt der Kabylen: akenephut; Plur.: ukenephielt) war ursprünglich wie ein kleiner Mensch gestaltet. Er trug auch wie ein solcher ein Ohrgehänge. Wenn man den Kopf des Igels genau betrachtet, erkennt man, daß er noch heute ähnlich wie ein kleiner Menschenkopf gestaltet ist. Die erste Mutter der Welt hat nun bei folgender Veranlassung dem Igel sein heutiges Kleid gegeben.
Die erste Mutter der Welt hatte die Schafe gemacht und ihnen Wolle abgeschnitten. Sie hatte sich zwei Ikardeschen (Sing: akardesch, Hölzer mit vielen kleinen Nägelstiften zum Reißen und Zerfasern
der Wolle) gemacht und bearbeitete die Wolle mit den Ikardeschen. Sie legte einmal die Ikardeschen beiseite und ging hinaus. Der Igel, der in der Kammer war, sah die Ikardeschen und nahm sie. Er trug sie aus dem Hause und spielte damit. Die erste Mutter der Welt kam herein und suchte die Ikardeschen, fand sie aber nicht. Sie ging hinaus und sah den Igel mit ihnen spielen. Da wurde sie böse, nahm die Ikardeschen und schlug sie dem Igel um die Ohren. Die Stacheln blieben an dem Igel hängen, und seitdem läuft der Igel mit ihnen umher.Das zweite Tier, das unter der ersten Mutter der Welt zu leiden hatte, war das Stachelschwein (errui; Plur.: erruien). Das Stachelschwein war vorher ein junges Schaf. Es war einmal im Hause der ersten Mutter der Welt, deren Hauptbeschäftigung es war, die Spindel (thithde[i]) zu drehen. Sie hatte viele Spindeln in ihrem Hause. Das junge Schaf war allein in dem Raume und nahm eine Spindel nach der andern und zerbrach sie. Das kleine Schaf zerbrach alle Spindelschäfte, so daß die Holzsplitter rundherum auf der Erde lagen.
Nach einiger Zeit kam die erste Mutter der Welt herein und sah alle die Holzsplitter und was das junge Schaf angerichtet hatte. Da wurde die erste Mutter der Welt böse, schlug das junge Schaf und warf es hin. Das junge Schaf warf sich schmerzerfüllt zwischen die Holzsplitter, und alle blieben in ihm hängen. Endlich ließ die erste Mutter der Welt das junge Schaf frei; es lief hinaus und in den Wald.
So wurde aus dem jungen Schaf das Stacheischwein, das nun auch nicht mehr im Hause, sondern draußen im Walde lebt und sich von wilden Knollen (awgock) und wilden Zwiebeln (leb'sel huschen) ernährt. Es hat die Holzsplitter als Stacheln behalten, kann sie aber, wenn es angegriffen wird, als Geschosse gegen andere Tiere und auch gegen Menschen verwenden. Das Stachelschwein kann mit seinen Stacheln werfen. Sein Fleisch ist aber das beste, das es gibt. Es ist ein sicheres Heilmittel, man muß es aber, mit Knoblauch (thischert) gemischt, im Dunkeln im Adäinin (Viehstall) genießen.
Das dritte Tier endlich, das unter dem Zorn der ersten Mutter der Welt litt, war die Schildkröte. Die Schildkröte war ursprünglich ein Kalb, und zwar ein ganz junger Stier. Seine Mutter, eine Kuh, lief nahe dem Gehöft einmal direkt an einem Abhang entlang an der Stelle, an der die erste Mutter der Menschheit ihr Korn auf einer aus zwei Steinen bestehenden Handmühle zu mahlen pflegte. An
dieser Stelle gab die Kuh dem Stierkalb einen Tritt. Das Stierkalb flog zur Seite und gegen die Handmühle. Die Handmühle -also die beiden Mühlsteinscheiben -rollte den Abhang hinunter in das Tal.Die erste Mutter der Menschheit wollte nun nachher Mehl mahlen. Sie suchte und suchte und fand die Mühle nicht. Alle waren hungrig. Da mußte die erste Mutter der Welt das Mehl mühsam mit dem Steinstößel (thauthischt) auf der Steinschale (thaphlat; —diese Stößelmehl,,mühle" ist heute noch als Ersatz für die andere fast in jedem kabylischen Gehöft in irgendeinem Winkel zu finden) zermalmen. Alle gingen trotzdem hungrig zu Bett. Am andern Morgen untersuchte die erste Mutter der Welt die Sache und erfuhr nun, wie sich alles abgespielt hatte. Sie wurde so zornig, daß sie dem Stierkalb den einen Mühlstein auf den Rücken, den anderen auf die Brust warf und sagte: "So laufe herum!"
Zur Kuh, die dem Stierkalb den Tritt versetzt und damit das ganze Unglück angerichtet hatte, sagte sie aber: "Wenn in Zukunft dieses Kind wieder mal an deinen Eutern säugt, soll deine Milch versagen." Und so ist es geblieben. Die Kabylen treiben heute noch ihre Kühe möglichst schnell durch jedes Wasser, damit ja nicht eine Schildkröte das Euter einer Kuh erreiche und daran sauge; denn das tun die Schildkröten sehr gern, da sie ja aus einem Stierkalb hervorgegangen sind. Gelingt das einer Schildkröte, so verhärten sich sogleich die Zitzen der Kuh, und sie gibt nie wieder Milch.
12. Der Tod der ersten Mutter der Welt und der Frost des Januar
Im Anfange sprachen alle Pflanzen und Steine, die Erde und das Wasser, und die Menschen verstanden die Sprache der Steine, der Erde, des Wassers und aller Tiere. Die Menschen hatten untereinander auch nur die eine Sprache, die alle Welt sprach und verstand. Aber dann ließ die erste Mutter der Welt (imäth [erste Mutter], udunis [Welt]) den Wind über das Holz streichen, und damit hörten Steine und Erde und Pflanzen und das Wasser auf zu sprechen, und die Menschen verstanden nicht mehr die Stimmen der Tiere und hörten auf, sich selbst noch untereinander zu verstehen.
Imäth udunis brachte alles Unglück in die Welt. Sie machte alles Schlechte, und die Menschen haben es noch heute unter sich. Alle Blinden (itheragalen; Sing.: atheragal), alle Törichten (imthlev; Sing.: amthlu), alle Stummen (eagunen; Sing.: agun), alle Tauben
(eathogen; Sing.: athog) haben ihr Unglück von der ersten Mutter der Welt, die nur alles entzweite und verdarb, weil sie eine große Zauberin war und alles beherrschen wollte und Freude am Unglück hatte.Jetzt will ich erzählen, wie diese Alte dann aber ein Ende nahm, nachdem sie viel Unglück in die Welt gebracht hatte.
Die erste Mutter der Welt hatte eine Farm (la'athib) am Fuße der hohen Felsen am Djurdjuragebirge, da, wo beim Dorfe Beni Buchardan die mächtigen Felsen von Thibura Säinsa aufragen. Dort weidete sie ihre Schafe und Rinder einmal am Ende des Monats Inäjer (der als ein noch milder Monat dem härtesten Monat Forar vorangeht). Die erste Mutter der Welt saß inmitten ihrer Schafe und Rinder und machte im Ziegensack Buttermilch (irri.) Es war schon drei Tage lang ein wenig Schnee gefallen, und ein kleines Schaf hustete neben der Mutter der Welt.
Da spottete die erste Mutter der Welt über den guten Monat Inäjer und sagte: "Habe keine Angst. Der gute Vetter Inäjer ist fort, und er wird dir nicht mehr viel schaden." (Wörtlich: philehach'h [keine Furcht!] iphär [fertig] arne [Vetter] inäjer [Monat Inäjer].) Als der Monat Inäjer das hörte, ward er zornig und sagte zu dem Monat F "Ich bitte dich, Vetter Förar, mir einen Tag und eine Nacht zu leihen, ich will das alte liederliche Weib töten; sie hat mich bebeschimpft und gesagt, ich könne ihr nichts mehr tun." (Wörtlich: nzchilk [ich bitte] eam€ [Vetter] Förar arthlije [leihe mir] jiboth [einen Tag] akuthiär [eine Nacht] atzenrar [wird töten] thamrarth [die alte Frau] mellaär [liederliche] thelukweje [hat beschimpft] themäjeth [hat gesagt] iphar [fertig] Inajär ui [Monat Inäjer] thimtharar [hat nichts getan].) Der Monat Förar sagte: "Nimm nicht einen Tag und eine Nacht, sondern nimm sieben Tage und sieben Nächte von mir und bestrafe sie."
Als Inäjer so die sieben Tage und sieben Nächte von dem Monat Förar geliehen hatte, sagte er zu der ersten Mutter der Welt: "Ich bin noch nicht fort, meine Alte! Ich habe noch sieben Tage und sieben Nächte, du arme Alte! Wenn diese sieben Tage und sieben Nächte noch nicht genügen, werde ich mir noch mehr Tage und Nächte von Förar leihen!" Dann begann es zu schneien, zu hageln, zu stürmen; es ward so dunkel, daß die Sonne verschwand und man den Tag nicht von der Nacht unterscheiden konnte. Die erste Mutter der Welt saß zusammengekauert mit dem Strick des Buttersackes da und konnte sich nicht rühren, so starr wurde sie. Die Kühe und
Stiere und Schafe und Widder lagen und standen umher und konnten sich nicht rühren, so starr waren sie.Nach vier Tagen und drei Nächten hatte Inäjer die erste Mutter der Welt und alle ihre Tiere in Steine verwandelt. Und als solche kann man sie heute noch auf der Fläche (oder Alm), am Fuße des Thibura-läinsa liegen sehen.
Seit der Zeit ist aber der Monat Inäjer der schlechteste des Jahres für die alten Frauen. Am Ende des Monats Inäjer, in jenen Tagen, die er sich vom Monat Forar geliehen hatte, beginnen die alten Frauen krank zu werden und zu leiden. Die meisten alten Frauen sterben in den letzten Tagen des Monats Inäjer.
13. Das Weltbild und der Weltbaum
Das Weltbild der Kabylen ist folgendes: Die ganze Welt ruht auf den Hörnern eines riesenhaften Stiers. Wenn dieser sich jemals rühren würde, würde die Welt sogleich einstürzen. Die Erde selbst ist nicht eine. Es sind sieben Erdschichten flach übereinander. Darüber liegen die sieben Himmel (sewain imbächarien). Die Menschen leben auf der fünften Erde (von unten). Zwischen der Erde und dem Himmel gibt es noch zwei Erden. Darüber kommt das Nichts (l'ohale), aus dem alles wurde.
Auf der untersten Erde wohnen die ganz kleinen Thitschäll. Das sind Geschöpfe, die sind aus den Eiern der Ameisen hervorgegangen, und sie sind noch schlimmer (und anscheinend auch klüger) als die Ameisen. Auf der Erde der Thitschäll steht ein mächtiger Baum, der ragt weit herauf, und wenn er je umstürzen sollte, so würden die Thitschäll freien Weg zu unserer Erde hinauf haben, und dann würden sie kommen, und alles würde bei uns zerstört werden. Das aber ist der Wunsch der Thitschäll.
Deshalb arbeiten die Thitschäll jeden Tag vom Morgen bis zum Abend daran, diesen Baum zu fällen. Es gelingt ihnen auch, dessen Stamm jeden Tag so weit durchzuschlagen, daß nur noch ein Rest von vier Finger Breite übrigbleibt und er somit dicht am Umstürzen angekommen ist. Wenn die Thitschäll aber abends so weit gekommen sind, hören sie mit der Arbeit auf und sagen: "Nun wollen wir uns ausruhen, den Rest der Arbeit wollen wir morgen verrichten." Damit hören sie also auf. Wenn sie dann aber am andern Morgen den Rest des Stammes durchschlagen wollen, finden
sie, daß der Baum wieder wohlerhalten dasteht, als sei er am Tage vorher nicht angerührt worden. Der Baum wächst jede Nacht so viel nach, als die Thitschäll ihm am Tage vom Holze wegschlagen, und so bleibt ihnen der Weg zu uns versperrt, sonst wären wir schon lange vernichtet worden.
14. Der Ursprung von Sonne und Mond
I m Anfange gab es nicht die Sonne und den Mond. Sie entstanden auf folgende Weise:
Eines Tages gingen ein junger Ochse (asgir) und ein junger Widder (isimer) zusammen. Sie hatten Freundschaft geschlossen. Beide Tiere bekamen die Krankheit ischer, die besonders bei dem Rindvieh sehr häufig ist und in einer Verhärtung oder Eiterung im nach innen gewandten Teil des Augenlides besteht. Die erste Mutter der Welt sah, daß beide Tiere krank waren. (Es soll bemerkt werden, daß nach anderer Lesart es nicht die erste Mutter der Welt war, die die Operation ausführte, sondern sonstige Menschen.) Sie nahm den Ochsen, band ihm stark die Füße zusammen und schnitt ihm dann die Geschwulst um den Teil des Augenlides, der die Form eines Mondviertels hatte, ab. Den Teil warf sie in eine Schüssel mit Wasser. Dann ergriff sie den jungen Widder und schnitt ihm das Augenlid, das erkrankt war, ab und warf es in das Feuer.
Nachdem der Ochse losgebunden war, blickte er in die hölzerne Wasserschale, in der der Abschnitt seines Augenlides lag. Da sah er den Abschnitt. Nun wurde sein Auge zum Himmel, das Dunkle darin zum Blau des guten Wetters. Der Abschnitt seines Augenlides wurde zum Mond. Das Schwarze zwischen dem Bild seiner Augen und der Abschnitt der Augenlider wurde die Nacht, und der Streifen zwischen dem Augenlidabschnitt und dem Rand der (spiegelnden, weil mit Wasser gefüllten) Holzschale zum Mondschein. Seitdem ist der Mond in der Welt. Vorher war über der Erde das Nichts (l'ohale). Nun aber entstanden die sieben Himmel . . . vergl. Abb. 5. 114.
Als das junge männliche Schaf (isimer) freigelassen wurde, rannte es zu dem Feuer, in welches der Abschnitt seines Auges geworfen war. Der junge Widder blickte in die Feuerflamme (hadjidsch). Nach einiger Zeit ging darauf aus dem Feuer die Sonne auf, die seitdem die Welt erhellt. Seitdem ist es hell, und das verdankt man dem jungen Widder. Deshalb sagt das kabylische Sprichwort: "Thirt
(Auge) isimer (junger Widder) ischa'scha (aufhellen) thimis (Strahlen) thegjenuän (Himmel) tzmura (Erde)."Die Sterne sind entstanden aus Bohnen, die ein Mann an den Himmel warf.
15. Ein Weltbaum und die Entstehung der Wuarssen, Fruchtbäume
und Irrlichter
Vieles ereignete sich in der Zeit, in der die Kabylen mit den Spaniern Krieg führten (siehe weiter unten). Die Spanier kamen bis in die Kabylie und kämpften hier mit den Kabylen. Die Kabylen töteten aber am Fuße des Djurdjura eine so große Menge von Spaniern, daß ein breiter Strom von Blut in das Tal floß und hier einen See bildete. Der See war gebildet aus dem Blut der erschlagenen Spanier.
Aus diesem See wuchs ein mächtiger Baum auf, der Tzescherabuensa. Der Tzeschera wurde ein mächtiger Baum, der seine Äste weit hinausdehnte. Er hatte Blätter, die glänzten wie Gold und waren schöner als irgendwelche Blätter, die sonst auf der Erde eine Pflanze hervorbringt. Eines Tages kam eine Teriel vorbei und aß von den Blättern. Die Blätter schmeckten ihm sehr gut. Sie kam am andern Tage wieder, um wieder von den Blättern zu essen. Sie konnte es nicht lassen, nun jeden Tag zu dem Baum Tzeschera-buensa zu gehen und von seinen Blättern zu genießen. Nach sieben Tagen war die Teriel von dem Genuß der Blätter schwanger.
Als die Teriel schwanger war, kamen alle wilden Tiere zusammen und wollten die Frucht der Teriel fressen, ehe sie geboren war. Die Teriel ging aber in eine Höhle im Felsen. Im Boden der Höhle machte sie ein Loch und kleidete das mit Blättern aus. Die Teriel gebar. Sie gebar sieben Wuarssen. Die waren von Anfang an mit zottigen Haaren bedeckt und trugen später deshalb keine Kleider. Sie legte die sieben kleinen Wuarssen in die Grube. Nach den sieben kleinen Wuarssen gebar sie als deren Schwester ein sehr schönes kleines Mädchen.
Die kleinen Wuarssen ließ die Teriel in der Grube. An jedem Tag, an dem ein Wuarssen in der Grube lag, gewann er die Kraft eines Mannes. Ein Wuarssenkind, das achtzig Tage in der Grube lag, hatte dann die Kraft von achtzig Männern. Ein Wuarssen, der achtundvierzig Tage in der Grube lag, hatte die Kraft von achtundvierzig Männern. Ein Wuarssen lag aber hundertundeinen Tag in der Grube
und gewann die Kraft von hundertundein Männern. Der jüngste Wuarssen heißt Amar Iphesen (iphesen ist der alle Übertreffende), dem kam kein anderer an Stärke gleich. So entstanden aus dem Baume Tzeschera-buensa die Wuarssen. Es wurde aber noch mehr aus ihm.Die Menschen sagten untereinander: "Die Teriel hat von den Blättern des Tzeschera-buensa gegessen und so die Wuarssen hervorgebracht. Wir wollen den Baum umschlagen, damit daraus nicht noch größeres Unheil entsteht." Die Menschen gingen hin und schlugen den Baum um. Als er umgestürzt war, entsprangen an seiner Stelle zwei Quellen, von denen jede nach einer Seite floß. Die eine Quelle wurde die der weißen Menschen. Die andere Quelle wurde die der Tiere und Neger. Wenn man in diese zweite Quelle den Finger hineinsteckte, wurde er schwarz.
Die Menschen zerschlugen den Baum Tzeschera-buensa und schleppten sein Holz heim. Unterwegs verloren sie einen Zweig, ohne es zu bemerken. Der Zweig blieb liegen, und so entstanden daraus die Feigenbäume, die Olivenbäume und noch fünf andere Arten, alles in allem sieben verschiedene Arten von Fruchtbäumen. Eines Tages ging ein Bursche vorbei und sah den Feigenbaum. Er pflückte eine Feige und sagte: "Diese Frucht schmeckt gut, ich will mehr davon haben!" Er aß mehr und mehr, zuletzt sagte er: "Ich will diese Bäume für mich behalten." Er machte einen Zaun darum. Nach einiger Zeit brachen die anderen aber in das Gehege ein und brachen Zweige von den Fruchtbäumen ab, steckten sie in ihren Gärten in die Erde und gewannen, da die Zweige bald aufbrachen, ebenfalls Fruchtbäume.
Inzwischen verbrannten die Menschen daheim das Holz des Tzeschera-buensa. Beim Brennen sprangen aber Funken auf und flogen in die Wälder und über die Flüsse. Diese Funken wurden zu den Thururk (St.-Elms-Feuer oder Irrlichter). Nachdem warfen die Menschen die Asche fort. Aus der Asche des Tzeschera-buensa, die sie auf dem Misthaufen warfen, wuchs ein Weinstock auf, der hatte zwei Zweige. Der eine Zweig trug schwarze Trauben; wer die aß, dem wuchsen aus der Stirn ein Paar mächtige Hörner, wie die von Stieren und Widdern. Der andere Zweig trug aber weiße Trauben, die waren ein Heilmittel. Und jeder, dem nach dem Genuß der schwarzen Trauben Hörner gewachsen waren, brauchte nur von den weißen Trauben zu genießen, und sie schwanden wieder.
Der Wind fuhr über die Asche aus dem Holz des Tzeschera-buensa
her. Er zerstreute die Asche in alle Welt. Wo sie gemischt mit Sand und Unrat hinfiel, gedieh Gutes, wo sie rein und unvermischt auf den Boden kam, entstanden die besseren und wertvolleren Pflanzen.
16. Die Gottesbotschaft und die Gaben an die Völker
I m Anfange hatten alle Menschen Zutrauen zueinander. Das Vertrauen herrschte. Man kannte noch nicht die Täuschung. Das nahm eines Tages ein Ende. Das geschah so.
Gott wollte den Menschen etwas senden. Gott rief ein Mädchen. Denn die Frauen waren damals viel klüger als die Männer, und Gott glaubte sich auf das Mädchen noch viel mehr verlassen zu können als auf die Männer. Gott gab dem Mädchen zwei Säcke mit Geld (itherimen) und zwei Säcke mit Flöhen (thilkin). Gott sagte zudem Mädchen: "Gehe in die Kabylie (thakewilth, der Kabyle akebäili; die Kabylin thakebäyil; die kabylische Sprache amthläithakebäilith). Die beiden Säcke mit Geld gib den Kabylen. Den einen Sack mit Flöhen wirf auf die Araber, den anderen auf die Europäer" (alter Ausdruck: irumiän, Sing.: arumi. Neuer Ausdruck: lekfoär, Sing.: l'käffär, offenbar Kaffir!). Das Mädchen nahm beide Säcke mit Geld und die beiden Säcke mit Flöhen und machte sich auf den Weg.
Das Mädchen kam zu den Kabylen und warf einen Sack mit Flöhen auf die Kabylen. Dann kam es zu den Arabern und warf den anderen Sack voll Flöhe auf die Araber. Es ließ ihnen aber auch einen Sack mit Geld. Den anderen Sack mit Geld brachte das Mädchen dann zu den Europäern und begab sich wieder zu Gott.
Das Mädchen kam zu Gott und sagte: "Ich habe deinen Befehl ausgeführt." Gott sagte: "Hast du den Befehl richtig ausgeführt?" Das Mädchen sagte: "Ja, ich habe den Befehl richtig ausgeführt." Gott sagte: "Wie hast du es also gemacht?" Das Mädchen sagte: "Ich habe einen Sack mit Flöhen über die Kabylen und einen über die Araber ausgeschüttet. Ich habe einen Sack mit Geld den Arabern und einen den Europäern gegeben." Gott sagte: "Was hast du getan? Dann haben die Kabylen ja nur einen Sack Flöhe bekommen!" Das Mädchen sagte: "Ja, die Kabylen haben nur einen Sack Flöhe bekommen."
So ist es auch geblieben. Die Kabylen haben nur die Flöhe, die Araber haben Flöhe, daneben aber auch das Geld. Die Europäer haben aber nur das Geld und keine Flöhe.
Gott wurde über das Mädchen, das sein Vertrauen so schlecht vergolten hatte, böse und sagte: "Nun kommt also durch eine Frau das Mißtrauen in die Welt. Die Frauen sind klüger als die Männer; sie haben aber eine schlechte Sache getan und sollen deshalb in Zukunft in den Häusern gehalten werden. Du aber sollst zur Strafe für deine Handlung schwarz und ein Rabe (thägerfä; Plur.: thigerfiuen) werden. Laufe und fliege in der Welt herum und schreie immer: ,Geirrt, geirrt, geirrt' (arkär heißt geirrt); dies soll also der Sinn des Rabenschreies sein. Niemand wird in Zukunft mit dir zusammen leben und essen wollen, und wenn du tot bist, werden Hund und Ameise, die sonst jedes Aas fressen, dich nicht anrühren." So ist es geworden, und niemand ißt mehr mit jemand, dem man kein Vertrauen schenken kann. Hund und Ameise berühren das Fleisch des toten Raben nicht. Der Rabe fliegt aber umher und schreit immer: "arkär, arkar, arkär!"
Zu den anderen Frauen sagte Gott aber: "Seht, wie ich das Mädchen gestraft und schwarz gemacht habe, weil es mein Vertrauen mißbrauchte. Merkt euch also (lämmänan [Vertrauen] tithwa [Farbe wechseln] thägerphä [Rabe]): Hütet euch davor, das Vertrauen zu mißbrauchen und denkt immer an den Raben. — Eines soll aber damit auch zu eurem Trost werden: wenn irgend jemand ein schweres Fieber hat, so geht hin, fangt einen Raben und schneidet ihm den Kopf ab. Den Körper werft fort. Den Kopf des Raben hängt aber dem Kranken um den Hals, daß er auf seiner Brust liege, und so wird der Kranke gesund werden."
So ist es bis heute geblieben. Die Menschen haben das Vertrauen verloren. Am wenigsten trauen die Menschen aber seitdem den Frauen, die die Kabylen so betrogen haben. Kein Tier ist so verachtet wie der Rabe. Sein Kopf ist nur gut, das Fieber zu heilen. Keine Ameise und kein Hund wollen sein Fleisch essen, weil auch die Menschen mit einem anderen, der ihr Vertrauen mißbraucht hat, nicht um eine Schüssel sitzen wollen.
17. Das erste Sterben
Man erzählt aber unter den Kabylen mit großer Genauigkeit, daß das Sterben im Anfange nicht war. Wenn die Menschen müde des Lebens waren, legten sie sich hin, und ihre Seele ging von dannen, blieb oft lange fort, immer so lange, bis sie sich wieder erholt hatte,
und kam dann zum Körper zurück. Das Sterben ist aber auf folgende Weise auf die Welt gekommen.Ein Mann war einmal mit einer Frau verheiratet, und sie hatten einen kleinen Knaben, der war erst kürzlich geboren; er lag noch in der Wiege. Da trat Gott in das Haus und sagte zu der Frau: "Willst du, daß dein Sohn für immer stirbt, oder willst du, daß er für einige Zeit fortgeht und dann wiederkommt?" Die Frau hörte, was Gott ihr sagte. Einige Leute erzählen nun, die erste Mutter der Welt, die alte Zauberin, wäre zu der jungen Frau getreten und hätte ihr gesagt: "Wenn du den Wunsch aussprichst, daß das Kind für einige Zeit dich verlassen soll, so wird diese Zeit lange dauern, und du wirst dieses Kind nicht bald wiedersehen. Wenn du aber sagst, die Menschen sollen für immer sterben, so wirst du es bald wiedersehen." Einige Leute sagen, die erste Mutter der Welt hätte solche Worte der jungen Frau gesagt; andere berichten aber, die junge Frau wäre selbst mißtrauisch gewesen und hätte ohne die Mutter der Welt so gedacht.
Alle aber sagen, die junge Frau habe zu Gott gesagt: "Laß die Menschen sterben und nicht wiederkommen. Laß mich aber mein Kind bald wiedersehen." Darauf antwortete Gott: "Ich will deinen Wunsch erfüllen. Nimm von deinem Kinde Abschied. Denn nun soll dein Kind sterben. Du aber sollst, um dein Kind bald wiederzusehen, auch bald sterben." Da erschrak die junge Frau: "Ich bitte dich, Vater, so habe ich es nicht gemeint." Gott sagte: "Das erste Wort gilt."
Das Kind starb und bald nach ihm seine Mutter. Seitdem sterben die Menschen und kommen nicht zurück.
18. Das Märchenzeitalter und die Agelitlh
In einer alten Zeit, die bald der Schöpfung folgte, waren die Menschen nicht geführt von den weisen alten Männern, sondern von dem Agelith (Plur.: igelithen). Es war das die glückliche Zeit der Erde, in der die Märchen sich ereigneten, von denen wir Kabylen so gerne erzählen. Diese Märchen sind nicht wahr. Wahr an ihnen ist aber alles, was geschildert wird. Wahr sind nicht die Ereignisse, sondern wahr sind Zustände. Das ist die lange vergangene Zeit gewesen, in der die Agelith die Menschen belehrten und regierten. Wie diese Agelith aber unter die Menschen kamen, darüber erzählen die Großväter
eine Geschichte, die kein Märchen, sondern wahre Begebenheit ist.Ein Mann und eine Frau waren verheiratet. Sie hatten bald einen Sohn und dann lange Zeit keine Kinder. Dann aber, als der Sohn schon erwachsen war, gebar die Mutter in schneller Folge noch sieben kleine Knaben. Der Vater starb, die Mutter starb, der älteste Sohn starb. Die sieben kleinen Knaben waren nun ganz allein und verlassen, und niemand kümmerte sich um sie.
In der Nachbarschaft hatte nun eine alte Frau ihr Haus. Die alte Frau hatte keinen Mann, keine Kinder, keine Verwandte. Sie sah die sieben kleinen Kinder, sie sah, daß es sehr schöne und starke Knaben waren, die aber umkommen mußten, weil sich niemand um sie kümmerte. Die alte Frau sagte: "Diese armen Kinder sind schlimm daran. Ich will sie zu mir nehmen und erziehen. Sie mögen dann später Holz sammeln und Holz verkaufen und so ihr tägliches Brot verdienen." Die alte Frau ging also hinüber, holte die kleinen Kinder zu sich und versorgte, speiste, kleidete und erzog sie. Es waren sieben schöne und starke Kinder.
Im Hause der alten Frau wohnte ein Mann, der war schon seit einigen Jahren mit einer jungen und schönen Frau verheiratet. Sie wurde aber nicht Mutter. Und keine Kinder haben ist bei den Kabylen die größte Schande. Frauen, die ihren Männern keine Kinder schenken, senden die Männer oft fort, um andere Frauen zu nehmen; und das fürchtete die junge Frau.
Diese junge Frau sah die sieben schönen und starken Knaben nun immer auf der Straße vor dem Hause spielen, und sie sagte sich: "Diese Kinder werden meinen Mann immer mehr daran erinnern, daß ich ihm noch keine Kinder geschenkt habe. Ich werde deshalb diese Kinder von hier fortbringen." Eines Tages bereitete die junge Frau also Essen, steckte es in die Tasche und rief die sieben Knaben. Sie sagte zu den sieben Knaben: "Seht, hier habe ich Essen. Wir wollen zusammen in den Wald gehen. Abends kommen wir dann wieder zurück."
Die Frau ging nun mit den Kindern in den Wald. Die Frau führte sie dahin, wo der Wald ganz dicht und ohne Wege ist. Unter einem großen Baume zog sie das Essen heraus und sagte: "Nun eßt, und dann schlaft ein wenig, und dann gehen wir wieder heim. Ich gehe jetzt umher und sammle einige Wurzeln. Wenn ihr gegessen und geschlafen habt, werde ich wieder bei euch sein und euch den Heimweg führen."
Dann ging die junge Frau und lief, sobald die Kinder sie nicht mehr sehen konnten, so schnell wie möglich nach Hause.
Die sieben Knaben aßen das, was die junge Frau ihnen zurückgelassen hatte, auf, dann legten sie sich nieder und schliefen ein. Sie schliefen lange, da der Weg durch den Wald sie ermüdet hatte. Als sie erwachten, war es Nacht. Sie legten sich nun dichter nebeneinander und sagten zueinander: "Die junge Frau wird uns schon abholen." Zwei Nächte und zwei Tage warteten sie so im Walde. Dann sagten sie: "Wir wollen uns den Heimweg allein suchen." Die sieben Knaben begannen also den Heimweg.
Die sieben Knaben gingen den ganzen Tag über durch den Wald. Und als es Nacht war, gingen sie weiter und weiter, immer in der falschen Richtung. In der Dunkelheit der Nacht fiel aber der jüngste der sieben Knaben in das Loch, in dem ein Löwe und eine Löwin gewohnt und sieben jungen Löwen das Leben gegeben hatten. Der Löwe und die Löwin waren gestorben, und es lebten nur noch die Jungen. Zwischen die jungen Löwen fiel der jüngste Bruder. Er war müde und schlief zwischen ihnen ein. Die sechs Brüder merkten aber im Dunkel der Nacht nicht, daß sie ihren jüngsten Bruder verloren hatten. Die sechs Brüder gingen immer weiter.
Am andern Morgen erwachte der jüngste Bruder. Er sah die sieben jungen Löwen um sich herum liegen und sagte: "Wer seid ihr, was macht ihr?" Die jungen Löwen sagten: "Wir haben unseren Vater und unsere Mutter verloren. Wir sind nun ganz allein und wissen nicht, wie wir uns ernähren sollen." Der jüngste Bruder sagte: "Das ist eine schlechte Sache, ich will sehen, was ich für euch finde." Dann stieg er aus dem Loch und suchte nach toten Tieren. Er fing auch kleine Tiere und brachte sie den jungen Löwen, und diese aßen alles, was der Jüngste ihnen brachte. Der Jüngste selbst aß, was er fand. Er ernährte die jungen Löwen und sich, so gut er konnte, und so wuchs er mit ihnen auf und wurde stark.
Inzwischen hatten die sechs Brüder am andern Morgen entdeckt, daß sie ihren jüngsten Bruder verloren hatten. Sie gingen nun im Walde hin und her und suchten überall nach ihrem Bruder. Sie suchten neun Monate lang nach ihrem Bruder. Dann endlich fanden sie ihn in der Grube bei den sieben Löwen. Sie kamen gerade mit dem Anbruch der Nacht an die Grube. Sie sahen den Bruder und sagten: "So lange haben wir nun nach dir gesucht! Wo warst du, wie kamst du abhanden? Was sind dies für wilde Tiere?" Der jüngste Bruder sagte: "Dies sind keine wilden Tiere. Das sind meine
lieben Freunde. Ich fiel damals in ihre Wohnung und bin dann bei ihnen geblieben. Nun will ich auch nicht mehr von ihnen gehen, denn wir haben einander lieb. Ich bitte euch, bleibt ihr auch bei uns. Denn nur so werde ich mich ganz glücklich fühlen. Wo sollen wir in dem großen Walde sonst hinwandern? Und wie soll ich meine lieben Freunde hier verlassen, ohne daß sie sterben ?" Darauf blieben die sieben Knaben bei den sieben jungen Löwen und ernährten sie und sich mit allem, was der Wald hervorbrachte.Eines Tages kam eine große Löwin durch den Wald. Sie kam an die Grube, in der die sieben jungen Löwen mit den sieben Knaben lebten. Die große Löwin brüllte, daß der Wald erzitterte. Von der anderen Seite kam ein großer Panther. Der Panther kam auch an die Grube, in der die sieben Knaben mit den sieben jungen Löwen lebten. Der Panther brüllte, daß die Erde erzitterte. Die Löwin und der Panther wollten sich auf die sieben Knaben stürzen, um sie zu vernichten.
Da sprangen die sieben jungen Löwen heraus und sagten: "Ehe ihr diese sieben Knaben verzehrt, tötet lieber uns. Diese sieben Knaben haben uns, als wir ganz klein und ohne Vater und Mutter waren, ernährt, haben für uns gesorgt wie Vater und Mutter. Und ohne diese sieben Knaben wären wir längst gestorben." Als die Löwin und der Panther das hörten, liefen sie schnell fort. Der eine brachte einen Stier, der andere einen Widder. Die Tiere legten sie den sieben Knaben hin und sagten: "Habt Dank! Habt Dank! Habt Dank! Nehmt und eßt. Wir werden für euch sorgen wie für unsere eigenen Kinder; denn ihr habt für unsere Kinder gesorgt."
Von nun an lebten die Knaben in inniger Freundschaft mit allen wilden Tieren. Sie aßen, was diese aßen. Sie wohnten, wie diese wohnten. Sie hatten keine Kleider wie die Menschen. Sie bekamen nach und nach ein Fell, das zog sich von den Händen herauf über den ganzen Körper, die Beine und den Kopf. Sie wurden aber immer größer und stärker. Das ging so viele Jahre, bis sie erwachsen waren.
Eines Tages nun gingen die sieben Burschen durch den Wald und kamen an einen See. Der eine von ihnen beugte sich nieder, steckte den Finger in das Wasser, führte die Tropfen zum Munde und versuchte das Wasser hier und da. Dann sagte er: "An dieser Stelle ist das Wasser gut. Hier laßt uns baden." Danach streifte er die zottige Tierhaut vom Leibe, legte sie am Boden nieder und stieg an der Stelle, an der er das Wasser gut befunden hatte, in den See. Die sechs Brüder taten wie er. Alle sieben badeten. Nach dem Bade kamen
sie wieder an das Land, streiften die Häute wieder über und liefen zu den Felsen und dem Berg, in dessen Höhle sie wohnten.Die sieben Brüder kamen nun alle Tage zu dem See und badeten. Sie versuchten mit dem Finger immer erst, welche Stelle des Wassers gut war, und da badeten sie dann. Eines Tages kamen nun vier Jäger in den Wald. Sie sahen aus der Ferne die sieben zottigen Burschen. Sie erschraken. Drei der Jäger erschraken sehr. Sie sagten: "Kommt schnell, das sind wilde Tiere." Der vierte Jäger sagte: "Diese Art habe ich noch nicht gesehen. Ich muß sie näher betrachten." Die drei Jäger liefen so schnell sie konnten fort und nach Hause. Der vierte Jäger folgte aber den sieben zottigen Burschen in der Entfernung. Er sah, wie sie den Finger in das Wasser steckten und kosteten, wo das Wasser gut sei, wie sie dann ihre zottigen Felle abstreiften und in das Wasser stiegen und badeten.
Am anderen Morgen kam einer der Jäger ganz früh zu der Stelle zurück und baute sich aus Zweigen in dem Baume über der Stelle, an der die sieben Burschen gestern gebadet hatten, ein Versteck wie ein Gurbi. Dahinein verkroch er sich. Nach einiger Zeit kamen die zottigen sieben Burschen, versuchten mit den Fingern das Wasser, wo es gut war, streiften dann vom Handgelenk an die Felle ab, legten die Felle am Ufer nieder und stiegen zum Bade in das Wasser. Da sah der Jäger, wie schön und stark die sieben Jünglinge waren und daß sie an Körper und Wuchs alle Menschen übertrafen.
Sobald die sieben Burschen gebadet hatten, stiegen sie wieder an das Ufer, zogen die Felle über und kehrten in den Wald zurück. Der Jäger kletterte nun von seinem Baum. Er eilte in das Dorf und suchte eine alte kluge Frau auf. Er sagte zu der Frau: "Ich war im Walde an einem See. Es kamen sieben zottige, mit Fell bedeckte Geschöpfe. Sie versuchten das Wasser, wo es gut war. Sie streiften dann die Felle ab und waren so schöne und starke Jünglinge, wie sie sonst in der Welt nicht vorhanden sind. Sie badeten im See, streiften die Felle wieder über und liefen in den Wald. Wenn ich Brüder hätte wie diese, wäre ich glücklich. Sage mir, was sind das für Wesen? Und wenn du es nicht weißt, so sage mir, wie ich es in Erfahrung bringen kann." Die alte Frau sagte: "Was dies für Geschöpfe sind, kann ich dir nicht sagen. Ob es gute oder böse Geschöpfe sind, weiß ich nicht. Denn ich habe von solchen Wesen noch nie gehört, und in allem, was wir von der Schöpfung kennen, ist nichts davon gesagt. Sage mir aber, ob sie sprechen." Der Jäger sagte: "Sie sprechen wie du und ich. Sie lachen und scherzen und
sind untereinander sehr freundlich." Die alte Frau sagte: "So folge ihnen, wenn sie morgen wieder zum See kommen und gebadet haben und sieh, ob du finden kannst, wo und wie sie wohnen." Der Jäger sagte: "Das will ich tun."Am anderen Tage versteckte der Jäger sich wieder in der Nähe der Stelle, an der die sieben zottigen Jünglinge zum Baden im See aus dem Walde kamen. Nachdem die sieben Jünglinge gebadet hatten, gingen sie heim, und der Jäger folgte ihnen. Sie gingen weit durch den Wald, bis sie an einen Berg kamen. Sie gingen in den Berg hinein, da, wo eine Grotte zwischen der Erde und dem Felsen ausgescharrt war. Nachdem der Jäger das gesehen hatte, kehrte er wieder heim und sagte der alten Frau, was er gesehen habe.
Die alte Frau sagte: "Ich will mit meiner jungen Tochter ein gutes Essen kochen. Das wollen wir morgen, wenn die sieben zottigen Burschen zum Baden weggegangen sind, in ihre Grotte stellen. Wenn sie dann den Kuskus und das gekochte Fleisch essen, sind es Menschen. Wenn sie das nicht essen, sind es Tiere." Die alte Frau bereitete mit ihrer Tochter zwei große Holzschüsseln voll Kuskus und kochte zwei Schafe. Am andern Tage gingen die alte Frau, die junge Tochter und der Jäger hin zu der Grotte und traten hinein. Sie sahen, daß die Grotte sehr sorgfältig geglättete Wände hatte, und daß in den Seitenkammern sieben Betten standen. Es war eine solche Grotte, wie sie in späteren Zeiten, als die Menschen die Religion kennen lernten, die Heiligen bewohnten, um in der Abgeschlossenheit die Reinheit zu erlangen.
Die Alte, deren junge Tochter und der Jäger stellten das Essen hin und gingen dann fort. Nach einiger Zeit kamen die sieben zottigen Jünglinge. Sie sahen die zwei Schüsseln mit Kuskus und die Töpfe mit den gekochten Schafen. Sie hatten sich eine Kuh erlegt, die wollten sie essen. Die Kuh trugen sie herein. Sie traten an die Schüsseln und Töpfe und sagten: "Wer hat das hierhergestellt? Was ist das?" Die sieben Brüder versuchten den Kuskus. Sie sagten: "Das ist ausgezeichnet." Sie warfen die Kuh beiseite und begannen gemeinsam den Kuskus und den gekochten Hammel zu essen. Nachdem sie alles aufgegessen hatten, waren sie noch hungrig. Sie mochten aber nun, nachdem sie das Gekochte genossen hatten, nicht mehr das rohe Kuhfleisch genießen. Am andern Tage wollten sie wieder zum Bade gehen. Der Jüngste sagte aber: "Geht heute allein; ich will sehen, wer uns dies Essen gebracht hat. Denn der das gestern brachte, wird sich heute die Schüsseln und Töpfe wieder
abholen wollen." Die sechs Brüder gingen; der Jüngste blieb daheim und versteckte sich in einem Nebenraum. Inzwischen sagte die Alte zu dem Jäger: "Komm, wir wollen heute hingehen und sehen, ob die sieben zottigen Geschöpfe unser Essen genossen haben oder nicht." Die alte Frau, das junge Mädchen und der Jäger nahmen wieder zwei Schalen mit Kuskus und zwei Töpfe mit gekochtem Fleisch mit und machten sich auf den Weg. Sie kamen an die Grotte. Sie sahen, daß die Schalen und Töpfe von gestern gewaschen und die Schalen mit Goldbrocken, wie sie in den Felsen gebrochen werden, bedeckt waren. Das junge Mädchen nahm einige Goldstücke in die Hand und rief: "O, wie schön." Da sprang der Jüngste aus dem Verstecke hervor, hielt ihre Hand, mit der sie das Gold gefaßt hatte, und sagte: "Was für eine Art bist du ?" Das junge Mädchen erschrak und sagte: "Tue mir nichts, ich bin ein Mädchen." Der zottige Jüngste sagte: "Weshalb soll ich dir etwas tun? Du bist das schönste Geschöpf, das ich je sah. Du bist ein so schönes Geschöpf, daß ich dir wünsche, alle deiner Art möchten schneller aufwachsen und länger leben als die Männer."So ist es bis heute geblieben. Mädchen wachsen schneller als die Burschen, und die Frauen leben länger als die Männer. Der Jüngste schenkte dem Mädchen, der alten Frau und dem Jäger die Goldbrocken, die auf den Schüsseln lagen. Alle drei gingen nach Hause.
Als sie in dem Dorfe ankamen, sagte der Jäger zu der alten Frau: "Wie kann ich es nun machen, daß diese sieben Jünglinge als meine Brüder in mein Haus kommen." Die alte Frau sagte: "Ich will sogleich mit meiner jungen Tochter Kleider für die sieben Jünglinge weben. Sobald sie fertig sind, gehen wir zu der Stelle, an der sie baden und graben da eine Grube, in der du dich versteckst. Sowie sie ihre Felle abgestreift haben und ins Wasser gestiegen sind, ergreife ihre Fellkleider und laufe mit ihnen hierher in das Dorf. Sie werden dir nachlaufen und dich um ihre Fellkleider bitten. Sieh dich aber gar nicht um! Bringe die Felle hierher und bring ihnen dann die Kleider, die ich mit meiner Tochter weben werde." Der Jäger sagte: "So werden wir es machen."
Die alte Frau und ihre junge Tochter webten die Kleider für die sieben zottigen Burschen. Als sie fertig waren, machte der Jäger sich wieder auf den Weg und ging an den See. Er grub nahe der Stelle, an der die sieben Brüder ihre Felle hinzulegen pflegten, eine Grube und versteckte sich darin. Nach einiger Zeit kamen die zottigen sieben Brüder. Sie traten an den See, führten den Finger ins
Wasser und in den Mund, sahen so, welches Wasser gut sei und streiften dann die Felle ab. Dann stiegen die sieben Brüder in das Wasser, um zu baden.Als alle sieben Brüder in das Wasser gestiegen waren, sprang der Jäger aus seinem Versteck hervor, ergriff die sieben Felle und lief mit ihnen fort, dem Rande des Waldes und dem Dorfe zu. Die sieben Jünglinge sahen es. Sie sprangen aus dem Wasser und liefen hinter dem Jäger her. Sie riefen: "Laß uns unsere Haut. Wir sind nackt. Wir haben sonst nichts." Der Jäger sah und hörte nicht rückwärts. Er lief, was er nur laufen konnte und kam so in das Dorf. Die sieben schönen Brüder blieben aber unter einem Baum nahe dem Dorfe stehen und versteckten ihre Nacktheit hinter dem Baumstamm. Sie riefen immerfort: "Bring uns unsere Felle wieder. Wir sind nackt und haben sonst nichts."
Der Jäger warf im Hause der alten Frau aber die Felle hin, ergriff die Kleider, die die Alte und ihre Tochter gewebt hatten, und kehrte zurück zu dem Baume, unter dem die sieben Brüder standen. Er sagte: "Ich habe gesehen, daß ihr Menschen seid wie wir. Tragt also auch Kleider wie wir. Hier sind sie. Zieht sie an, so seid ihr nicht mehr nackt. Ich aber bitte euch als meine Brüder mit in meinem Hause zu wohnen."
Die sieben Brüder zogen die Kleider an. Sie kamen mit dem Jäger in das Dorf. Alle Leute sagten: "Das sind die schönsten und stärksten Jünglinge, die wir gesehen haben." Die sieben Jünglinge wohnten nun bei dem Jäger. Sie waren die ersten Agelith, die die Menschen unter sich hatten. Eines Tages zogen die sieben Jünglinge von dannen und kehrten mit der Schwester der Wuarssen zurück. Sie gaben sie dem Jäger zur Frau. Das taten sie aus Dankbarkeit. Wer eine Schwester der Wuarssen heiratet, ist ein glücklicher Mann. Der Jäger ward so der achte Agelith.
Nachher kamen noch vier weitere Agelith dazu. So wurden es zwölf, und diese zwölf ersten Agelith führten die Menschen zu einem glücklichen und zufriedenen Leben. Die sieben ersten sind bekannt unter dem Ausspruch suhawan [sieben erste] ichalkan [geschaffen] d'ilreran [Loch unter der Erde]. Sie waren über alle Beschreibung tapfer. Sie führten die Strafe für die schlechten Menschen über der Erde ein. Sie vernichteten viele wilde Tiere. Sie führten die Menschen.
Als es die alten Agelith nicht mehr gab, sandte Gott (als Ersatz für sie) die Heiligen. Jene Zeit aber, in der die Agelith die Menschen führten, ist es, von der die Märchen erzählen.
19. Feraon und die Neger
I n jener Zeit lebte ein Mann mit Namen Feraon (oder Ferräun). Feraon aß einen Akufin mit Gerste und war nicht satt. Feraon aß noch einen Akufin mit Weizen und wurde nicht satt. Als er alles, was die Menschen sonst genießen, gegessen hatte, war erst seine Speiseröhre gefüllt und das Essen noch nicht einmal bis in den Magen gelangt. Dann aber aß Feraon Bohnen, schwarze Bohnen. Die schwarzen Bohnen schmeckten Feraon. Er aß gierig und viel. Er aß so gierig, daß er die Bohnen gar nicht erst zwischen den Zähnen zermahlte, sondern sie ganz hinterschluckte. Er verdaute die Bohnen. Als er sich entleerte, kamen die schwarzen Bohnen unverdaut heraus. Die schwarzen Bohnen wurden auf der Erde Neger. So kamen aus Feraon die Neger hervor, und die Neger essen bis heute nichts lieber als Bohnen. Wenn sie Bohnen erhalten können, lassen die Neger jeden Kuskus und alles Fleisch liegen und verschlingen die Bohnen.
Nachdem Feraon soviel gegessen hatte, wurde er durstig. Er ging umher und sah sich nach Wasser um. Er kam an eine Quelle, beugte sich nieder und trank. Kaum hatte er aber einen Zug genommen, da versiegte die Quelle, und Feraon war durstig wie vorher. Er ging zu einer zweiten Quelle und beugte sich nieder, um zu trinken. Kaum hatte er aber einen Schluck genommen, da war die Quelle versiegt und Feraon durstig wie vorher.
Feraon ging mit seinem großen Durst weiter und kam endlich an einen großen Fluß. Er beugte sich darüber und trank und trank und trank. Da wurde Feraon satt. Der Fluß hatte aber noch nicht abgenommen, sondern floß breit und tief weiter. Feraon wurde zornig über den Fluß, von dem er so viel getrunken hatte und der doch nicht abnahm. Feraon rief: "Ist dieser Fluß etwa stärker, als ich es bin?"
Feraon ergriff große Klumpen Erde und warf sie in den Fluß, um ihn zuzuschütten. Der Fluß löste aber die Erde auf und trug den Lehm weiter. Die Erde wurde fortgeschwemmt. Das Wasser des Flusses wurde aber braun. Da schrien die Menschen, die an dem Ufer des Flusses wohnten: "Dieser Feraon verdirbt unser Wasser. Feraon hat erst aus dem Fluß getrunken, und nun beschmutzt er ihn (ithuan [er hat getrunken], ithlu[r] [er hat beschmutzt], äthif [der Fluß])."
Feraon aber sagte: "Dieser Fluß will stärker sein als ich. Die Erde,
die ich werfe, trägt er fort. Nun werde ich ihn ausbrennen. Denn Feraon ist stärker als der Fluß." Feraon machte ein riesenhaftes Feuer und schleppte Wälder von Bäumen heran. Kein Baum blieb ringsum stehen. Alle Bäume wurden von Feraon in das Feuer geworfen. Die brennenden Bäume warf Feraon aber in das Wasser, die brennenden Bäume warf er alle in das Wasser, bis es allmählich verdampfte und nur noch ganz wenig Wasser übrigblieb, das in der Sonne auch verflog. Feraon vernichtete so die Wälder und alle Büsche und die Flüsse, weil er nicht wollte, daß der Fluß stärker war als er.Deshalb leben die Neger heute in der Wüste, in der man oft vierzehn Tage gehen muß, um eine Quelle zu finden, und zwei Monate, um ein Dorf zutreffen. Deshalb wohnen die Neger ohne Waldschatten im glühenden Sande, und die Sonne steht nur eine Eile (die Eile irril. Daneben besteht noch, wie im Sudan, das lange Maß = nephthgfrel, das von der Achsel bis zur Spitze der ausgestreckten Hand gerechnet wird.) über ihrem Kopfe. Denn die Neger sind ja die Nachkommen Feraons.
20. Ferraun und Athrajen
F Ferraun (oder Feraon) wurde größer und stärker und beherrschte mehr Volk und Land als alle Menschen vor ihm. Er war so groß und stark, daß er nicht auf einem Kamel, sondern auf vier Kamelen ritt. Er trug auf dem Kopfe als Schmuck eine steinerne Handmühle. Um zu trinken, pflegte er sich auf einen Berg zu setzen und seinen Bart nur in den Fluß unten zu halten. Der Bart reichte so weit herab, daß er den Boden des Flusses berührte und das Wasser sich aufstaute und zuletzt dem auf dem Berge sitzenden Feraon in den Mund floß. Ferraun ist auch der erste, der sich eine Albus machte (Kolbenkeule, genau albus athraijen; die vierkantige Debus ist dagegen eine arabische Waffe, eine Waffe der Menschen in der Ebene, nicht der Gebirgsbewohner). Die Albus Ferrauns war ein Baum, dessen Stamm ihm als Griff diente, während die Krone nur von Blättern und dünnen Ästen befreit war und so den Kolben darstellte.
Ferraun gewann die größte Gewalt über alle Menschen. Nie mehr ist jemand so gewaltig geworden wie Ferraun. Eines Tages aber traf Ferraun den Athrajen. Athräjen war ein Mann wie alle anderen.
Er kam zu Ferraun und sagte: "Ich will Freundschaft mit dir schließen, lehre mich deine Stärke und Gewalt." Damals kannte noch niemand die Hinterlist und den bösen Willen. Niemand mißtraute dem anderen. Jeder teilte mit dem anderen. Ferraun lehrte dem Athrajen einen Teil seiner Kraft und Gewalt. Athräjen machte sich eine Albus ähnlich der Albus von Ferraun und folgte ihm auf seinen Wegen.Als Athräjen schon vieles von der Kraft und Stärke Ferrauns gelernt hatte, fragte Athräjen eines Tages Ferraun: "Kannst du deine große Kraft und Stärke verlieren?" Ferraun sagte: "Ja, ich kann alle meine Kraft und Stärke verlieren. Es wird geschehen an dem Tage, an dem ich einen Tropfen Blut einbüße." Athräjen sagte: "Muß es Blut von irgendeinem Teile sein?" Ferraun sagte: "Es kann Blut aus jedem Gliede sein. Es ist ganz gleich." Ferraun und Athräjen lebten eine Zeit zusammen, und Athräjen lernte viel, aber nicht alles wie Ferraun.
Ferraun verließ nun einmal Athräjen und ging seinen eigenen Weg. Er kam an einen Ort. Er sagte zu den Leuten: "Ich bin Ferraun, gebt mir zu essen." Die Leute brachten ihm etwas. Ferraun schluckte es hinter und sagte: "Das war nichts. Gebt mir mehr zu essen. Ich bin Ferraun; ich möchte satt werden." Die Leute brachten alles Essen zusammen, was im Orte war, und setzten es vor Ferraun hin. Ferraun sagte: "Ich bin nicht satt. Ich bin Ferraun. Gebt mir mehr zu essen." Die Leute sagten: "Warte bis morgen. Heute haben wir nichts mehr. Wir wollen aber Mehl mahlen und dir viel Essen bereiten."
Ferraun sagte: "So sputet euch. Ich will aber weitergehen und werde euch mitnehmen; ihr könnt ruhig Essen bereiten." Ferraun fuhr mit der flachen Hand durch die Erde unter dem Dorf hin und hob das Dorf auf. Auf der flachen Hand das Dorf tragend, ging er dann weiter. An der Stelle aber, an der das Dorf gestanden hatte, wurde so ein großes, großes Tal; das füllte sich mit Wasser und ward der erste See Thamgurd (oder Thamgurth bei Bougie, zwischen Bougie und dem Djurdjura).
Ferraun ging mit dem Dorf auf der flachen Hand weiter. Er begegnete Athräjen. Athräjen sah das Dorf auf der flachen Hand Ferrauns und sagte zu Ferraun: "Du tust Schlimmes." Ferraun sagte: "Wenn das so schlimm ist, will ich dir, der du dir anmaßest, Richter zu sein, Schlimmeres tun!" Athräjen sagte: "Ja, du tust jetzt Schlimmes, und ich bin nicht damit zufrieden."
Ferraun ward zornig. Er setzte das Dorf mit solcher Gewalt auf den Boden, daß es die sieben Erden durchbrach. (Nach kabylischer Anschauung besteht die Erde aus sieben flachen Erden sew[ejath mura[n] —, die übereinander liegen.) Athräjen aber schlug inzwischen nach Ferraun und traf und verwundete Ferraun am Schenkel, so daß Blut herausfloß. Ferraun fühlte Athrajens Schlag und packte Athräjen und wandte den Rest seiner Kraft dazu an, Athräjen wegzuschleudern. Ferraun sagte: "Du schlägst mich. Du wolltest alle meine Kraft und Gewalt lernen. Du hast mich noch lange nicht erreicht. Nun wirst du nichts mehr von mir lernen. Ich habe dir Kraft gegeben, aber meine ganze Kraft wirst du nicht gewinnen. Da du nun richten willst, geh in ein Land, wo dich niemand im Richten stört." Athräjen flog sieben Jahre lang immer weiter und kam unter die Erde.
Durch den Wurf aber erschütterte Ferraun das Dorf und das umliegende Land so, daß das erste Erdbeben entstand (Erdbeben = erjfji thmurth). Seitdem gibt es in der Kabylie jedes Jahr ein Erdbeben. Ferraun war aber verwundet. Er hatte seinen ersten Blutstropfen verloren. Seine Kraft nahm mehr und mehr ab. Ferraun war sehr krank. Es war da eine Frau, die hieß Thanthäs. Thanthas pflegte Ferraun mit aller Sorgfalt. Sie pflegte ihn sieben Jahre lang, aber Ferraun ward nicht gesund, sondern immer kränker, immer schwächer. Thanthäs ging umher und suchte ein Heilmittel für Ferraun.
Eines Tages sah Thanthas, wie eine Ameise umherlief und von den Wurzeln der Quäcke (ithora[Wurzel]boaphertemurth [Quäcke]) sammelte. Thanthäs sah, wie die Ameise die Wurzeln zerquetschte und zu einer anderen Ameise trug, die verwundet war. Sie ging nach einigen Tagen wieder hin und sah, daß die verwundete Ameise wieder gesund und geheilt umherlief. Thanthäs fragte die Ameise: "Wie hast du deinen Bruder geheilt?" Die Ameise sagte: "Warum willst du es wissen?" Thanthas sagte: "Ferraun ist seit sieben Jahren verwundet, seine Wunde will trotz aller meiner Pflege nicht heilen, und seine Kräfte siechen mehr und mehr dahin." Die Ameise sagte: "So suche viele Wurzeln von Quäcken. Die Hälfte davon koche, und gib dies Getränk Ferraun zu trinken. Die andere Hälfte aber zermalme und lege den Brei auf die Wunde Ferrauns. Auf solche Weise wird Ferrauns Wunde in wenigen Tagen heilen. Mit diesem Mittel kann man alle Wunden der Menschen heilen. Ob aber Ferrauns Kraft und Gewalt wiederkehren wird, kann ich nicht sagen."
Thanthäs ging umher und sammelte die Wurzeln von vielen Quäcken. Die eine Hälfte kochte sie und gab das Getränk Ferraun zu trinken. Die andere Hälfte zermalmte sie und legte den Brei auf Ferrauns Wunde am Schenkel. Nach vier Tagen war Ferrauns Wunde geheilt. Nach fünf Tagen konnte Ferraun wieder aufstehen und gehen.
Ferraun erhob sich und ging. Ferraun glaubte, seine alte Kraft und Stärke wären zurückgekehrt. Ferraun ging von dannen, um Athrajen zu suchen. Ferraun ging durch den Wald. Die wilden Tiere, die sich aber vorher vor Ferraun versteckt hatten, kamen hervor. Sie sahen, daß Ferraun seine alte Stärke nicht wiedererlangt hatte. Sie stießen Ferraun von hinten und von der Seite. Ferraun fiel hierhin und dahin. Ferraun sah, daß seine alte Kraft und Stärke verloren waren und nicht zurückkehrten.
Ferraun kam an den See Thamgurth (siehe oben), der entstanden war, als er das Dorf hochgehoben hatte. Ferraun stürzte in den See Thamgurth, der nach ihm Themtha-Ferraun genannt wird und dessen Wasser für Kinder ein ausgezeichnetes Heilmittel ist, weil Ferraun darin ertrank.
Als Ferraun nun starb, entstand das Weltmeer (Themtha - ndünith), und das kam so:
Aus dem Blute Ferrauns entstanden die sieben großen Meere der Welt. Als ihn Athrajen verwundete und seine ersten Blutstropfen aus der Wunde flossen, bildeten diese das erste Rote Meer (Themtha thethquarth). Als das Blut sich dann in der Wunde schied, floß ein weißes Wasser heraus und bildete das Weiße Meer (Themtha themlelt). Als seine Wunde ganz schwarz war, floß schwärzliches Blut heraus und bildete das Schwarze Meer (Themtha thähärschent). Und als seine Wunde dann heilte, entstand eine grünliche Flüssigkeit in ihr, die floß weithin und bildete das Grüne Meer (Themtha thätigthauth). [Die anderen drei Meere kann keiner der Erzähler, die anwesend sind, angeben.]
Die sieben Meere waren im Anfang getrennte Seen und jeder vom andern durch Landstriche geschieden. Als nun aber Ferraun in den See Thamgurth stürzte und ertrank, quollen aus seinen letzten Atemzügen Blasen auf, die wurden zu den Wogen des Sees, und der See ward aufgerührt wie von einem starken Sturme. So floß der See über die Landmassen und breitete seine Fluten und Wellen aus über die sieben Meere, und alle Meere stiegen mächtig und warfen Wellen, die alle dazwischen liegenden Landmassen überfluteten. Und so
wurde aus den sieben Meeren ein einziges großes Meer. Alle Farben der verschiedenen Meere flossen ineinander über.Athrajen war durch den Wurf Ferrauns sieben Jahre lang geflogen. Er flog bis unter die Erde und kam so in das Land der Toten und Begrabenen. Athräjan hatte nicht die ganze Stärke und Macht Ferrauns, aber er war doch stärker als andere, und wie Ferraun über der Erde geherrscht hatte, so wurde Athrajen der Herr über die Toten und Begrabenen. Athrajen geht seither unter der Erde umher mit seiner Albus. Er ist nach Ferrauns Worten der Richter der Toten geworden. Er tritt mit seiner Albus jedem Menschen entgegen, sobald er unter die Erde gebracht wird.
Wenn ein Mensch gestorben und begraben ist, tritt ihm unter der Erde Athrajen entgegen, und Athrajen fragt ihn: "Was hast du über der Erde gemacht?" Dann antworten die Augen: "Ich habe über der Erde nichts gesehen." Dann antwortet die Nase: "Ich habe über der Erde nichts gerochen." Dann antworten die Ohren: "Ich habe über der Erde nichts gehört." Dann antwortet der Mund: "Ich habe über der Erde nichts aufgenommen." Dann antwortet die Stirne: "Ich habe über der Erde nichts wahrgenommen und nichts gedacht." Dann antworten die Hände: "Wir haben über der Erde nichts gefühlt." Dann antwortet der Bauch: "Ich habe über der Erde nichts in mich aufgenommen." Dann antworten die Füße: "Wir haben uns über der Erde nicht bewegt." Dann antwortet der Körper: "Ich habe über der Erde nichts getragen."
Dann nimmt aber Athräjen seine Albus und schlägt den Toten auf den Kopf, so daß die Haare zusammenknicken. Die Haare schreien dann: "Schlage mich nicht wieder! Ich habe ja alles gesehen auf der Erde und will dir alles sagen! Schlage mich nicht." Athrajen sagt dann: "Was willst du gesehen haben, du hast ja keine Augen? Du bist das einzige am Körper, das nichts wahrnimmt, aufnimmt und von sich gibt. Ich werde dich nochmals schlagen, daß du die Antwort gibst."
Dann aber spricht schnell die Stirne und sagt alles, was sie Gutes und Böses gesehen, getan und erlebt hat. Denn jede Handlung und jeder Gedanke, jeder Diebstahl und jede Guttat sind auf der Stirne abgezeichnet. Es kann den Menschen nichts widerfahren, was nicht in den Falten der Stirne abgezeichnet würde. Dann sprechen die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, die Hände, die Füße, der Körper und sagen alles, was sie erlebt und getan haben. Nur der Bauch bleibt immer dabei und sagt: "Ich habe nichts aufgenommen."
Der Bauch belügt sogar Athräjen. Er kann es, weil er alles wieder von sich gibt, was er in sich aufgenommen hat.Nachdem die Toten gesprochen haben, werden sie von Athrajan gerichtet. Die Schlechten kommen in die Hände der Thidjel (das sind die kleinen Teufel. Das Wort kommt nur im Plural zur Anwendung). Sie sind sehr schlimm, und die Kabylen sagen von ihnen: "Wenn je die Thidjel auf die Welt kommen, wird die Welt vernichtet werden." Die Thidiel leben unter der Erde. Wenn es einem Menschen unter der Erde nach seiner Bestattung bei den Thidjel schlecht gehen wird, so kann man das sehen. Dann fliegt ein Schmetterling (affarz't'hó; Plur.: iffarz't'ha) in ein Licht im Sterbezimmer und löscht es aus. Dann weiß man, daß Athrajen den Toten mit seiner Albus zerschlagen hat, noch ehe er bestattet worden ist.
Diejenigen aber, die auf Erden Gutes taten und vor dem Richter Athräjen bestehen werden, die kommen unter Führung der T'horsin, das sind gütige Wesen wie die Malaika der Araber. Sie leben oben in dem Luftraum über der Erde. Wenn ein Toter sehr gut war und vor Athrajen mit gutem Gewissen treten kann, dann tritt beim Tode aus seinem Munde ein weißer Schaum, der wird tichksii t'hörsin, d. i. die Speise der T'horsin, genannt. Aber auch sonst kann man an anderen Zeichen zuweilen erkennen, daß ein Toter dem Gericht Athrajens standhalten kann. Wenn z. B. der Tote ein sehr guter Mensch war, so entzünden sich die Lichter im Sterbehause von selbst und ohne Zutun der Menschen.
Das ist, was von dem Totengericht Athräjens zu sagen ist.
21. Der Ursprung der Juden
Die Juden sind so entstanden: Vor alter Zeit waren die erbittertsten Feinde der Kabylen die Spanier. Die Spanier und Kabylen führten in alter Zeit erbitterte Kämpfe miteinander. Die Kabylen kamen einst nach Spanien und vernichteten einen großen Teil Spaniens. In einer spanischen Stadt töteten sie im Kampf alle Männer, so daß nur noch die Frauen am Leben blieben. Die Frauen in dieser Stadt waren nun ganz ohne Männer und weinten und sagten: "Wir werden aussterben; denn da wir keine Männer haben, können wir auch keine Kinder gebären." Einmal ging eine der Frauen vor die Tore der Stadt und weinte. Sie ging weit fort und traf endlich einen alten Mann. Der alte Mann
fragte die Frau: "Was weinst du?" Die Frau weinte und sagte: "Die Kabylen haben alle unsere Männer totgeschlagen. Nun haben wir keine Männer mehr, die bei uns liegen können, und so können wir auch keine Kinder gebären. Deshalb werden wir aussterben." Der alte Mann sagte: "Wenn es so ist, gibt es nur eine Möglichkeit. Geht auf den Kirchhof, auf dem eure Männer begraben liegen. Suche jede das Grab ihres Mannes auf und schlafe nachts in dem Grab. Eure toten Männer werden mit euch schlafen, und ihr werdet wieder Kinder hervorbringen."Die Frau ging in die Stadt. Sie sagte den anderen Frauen, was der alte Mann ihr gesagt hatte. Die Frauen taten so. Jede Frau, die das Grab ihres toten Mannes wiederfand, schlief darin und wurde so von ihrem toten Mann beschlafen. Die Frauen wurden so schwanger.
Die Kinder, die diese spanischen Frauen danach gebaren und deren Väter tote Leichname waren, wurden die Juden, die dann zum Teil aus Spanien nach der Kabylie zurückkamen.
Einige der spanischen Frauen hatten aber die Leichen ihrer Männer nicht wiedergefunden und konnten deshalb bei ihnen nicht schlafen und also auch nicht schwanger werden. Sie liefen vor die Tore der Stadt und weinten. Sie trafen wieder den Amrar asemeni; der Amrar asemeni sagte: "Was weint ihr?" Die Frauen sagten: "Wir haben die Leichen unserer Männer nicht wiedergefunden und können daher auch nicht mehr Kinder hervorbringen." Der Amrar asemeni sagte: "So könnt ihr ein anderes tun, um schwanger zu werden. Geht auf den Kirchhof und nehmt eine jede von irgendeinem Leichnam einen Weisheitszahn (thoromist lachal, d. i. sein kluger Zahn) und ein rechtes Schulterblatt (ireth thararoth). Ein Stück von dem Schulterblatt und dem Weisheitszahn verbrennt im Feuer. Das Schulterblatt selbst hängt über die Türe eures Hauses, also im Eingang auf. Den gebrannten Zahn und Knochen müßt ihr gut zermahlen. Das Mehl davon mischt ihr mit Henna, das ihr aus dem Stein (l'henni bathero) herstellt (noch heute machen die Kabylen ihr Henna, d. i. die rote Schmuckfarbe, nicht wie die Araber aus Kräutern, sondern aus gewissen Steinen). Dazu mischt ihr die Wurzel einer wilden Olive (ithuran t'haschat = Wurzel der t'haschat) und tut sieben Tropfen Wasser dazu, so daß es wie ein Brei wird. An den darauf folgenden Tagen müßt ihr jeden Morgen, ehe ihr noch etwas anderes zu euch genommen habt, mit dem gekrümmten Finger ein wenig in den Mund führen und verschlucken; so werdet ihr schwanger werden."
Die jungen Frauen taten so. Sieben Tage lang nahmen sie ein wenig von der Mischung zu sich, und dann fühlte sich am achten Tage eine jede hochschwanger. Jede von ihnen gebar dann zwei Kinder. Das war damals so, und jede Frau gebar Zwillinge. Eine der Frauen wollte es aber ganz besonders gut machen und die anderen übertreffen. Sie nahm zwei Weisheitszähne, zwei Schulterblätter, zwei Hennasteine, zwei wilde Olivenwurzeln und nahm diese Mischung während vierzehn Tagen zu sich. Sie wurde in ihrer Schwangerschaft so sehr krank, daß sie fast starb. Dann gebar sie nicht zwei, sondern vier Kinder. Und bei der Geburt starb sie wieder fast. Es waren vier Knaben. Bald darauf aber starben drei Knaben, und es blieb nur ein Knabe übrig.
Der Amrar asemeni sagte: "Jede Frau hat nur das Amt, zwei Kinder hervorzubringen. Das ist gut. Die Frau, die mehr will, ist ein thileoth (= Schwein. So wurde der Name des Schweins bekannt, ehe es noch geschaffen war). Jedes Geschöpf hat sein Recht zur Geburt. Den Frauen folgen die Pferde. Aber die Stuten sind auch neun Monate schwanger, sie werden aber nicht zwei, sondern nur ein Fohlen zur Welt bringen. Hunde sollen bis sieben, Schweine bis zwölf Junge haben. Nur die Mauleselin soll nicht Junge haben. Wenn jemals die Mauleselin ein Junges zur Welt bringen wird, soll die Welt sich umdrehen." (Wörtlicher Spruch: luchan [wenn jemals] atzaril [Esel- oder Mauleseljunges] therdünt [Mauleselin] azingfrr [umkehren] dunith [Welt].) Das blieb so bis heute. (Spanien sbelliul, Spanier asbeniul, Jude =uthäi, Jüdin = thuthäith, Juden uthäin.)
22. Chtaphlaräith
Das schrecklichste Wesen (Geschöpf) für junge, zumal schöne Bräute und Frauen ist Chtaphlaräith. Chtaphlaräith ist riesenhaft groß. Man sieht ihn nicht. Man spürt aber seinen Atem. Bläst Chtaphlaräith über die Menschen hin, so werden sie zu Stein. Wäre das Kaninchen nicht gewesen, wäre Chtaphlaräith nie entstanden. Es kam aber so.
Das weibliche Kaninchen (thüthüthült) hatte hinter dem Ohr ein besonderes Haar. Einmal kam das Kaninchen sehr müde nach Hause. Das Kaninchen warf sich hin, wo gerade Platz war in seiner Grube, und kam mit dem Haar in die glimmende Asche. Das Haar
begann zu sengen. Das Kaninchen wurde ärgerlich, riß das Haar aus und warf es fort. Dann schlief das Kaninchen weiter. Aus dem Haar aber entstand Chtaphlaräith. Deshalb sagt man von ihm: "ichlak (als) thinst (geschaffen) i'enetht (Haar) thuthult (Kaninchen)."Chtaphlaräith flog nun im Winde über die Erde hin. Er trug damals noch seine Seele bei sich. Unterwegs traf er einen Zug von Menschen. Ein junges, schönes Mädchen wurde als Thilith zur Hochzeit geführt. Sie ritt auf einem Maulesel, und hinterher kamen sehr viele Menschen, zumal Männer. Chtaphlaräith wurde sogleich sehr gierig nach dem jungen schönen Mädchen. Er blies sogleich über den Zug der Männer hin, so daß sie zu Stein wurden. Dann packte er die Thilith und führte sie durch die Luft heim in seine Wohnung in den Felsen.
Er fragte sogleich die junge Thilith, ob sie ihn zum Manne nehmen wolle. Sie sagte, sie wolle es nicht. Da gab er ihr hundert Streiche am Morgen und hundert Streiche am Abend. Von da an raubte er viele junge Frauen und schlug sie. Er schlug sie in gleicher Weise. Hat er eine junge Frau so ergriffen, dann schlägt er sie neunundneunzig Tage lang. Mittlerweile sagte sich Chtaphlaräith: "Ich habe den Menschen nun schon viele junge Frauen genommen. Die Menschen verfolgen mich. Meine eigenen Frauen trachten danach, mich zu vernichten. Ich will meine Seele so verstecken, daß sie nicht mehr zu finden ist." Darauf nahm er die Seele, die ein Haar war, und tat sie in ein Ei. Er nahm ein Rebhuhn und schnitt ihm die Haut am Halse auf. Dahinein steckte er das Ei, so daß dies das Rebhuhn nicht etwa legen oder verdauen könne. Das Rebhuhn nahm er, suchte eine große Kamelstute auf, schnitt ihr den Rücken auf und steckte das Rebhuhn unter die Haut, so daß der Höcker des Kamels daraus entstand.
Nun glaubte Chtaphlaräith seine Seele (sein Leben) gesichert;
Chtaphlaräith hatte eine Tochter, das ist Asphär-lehoa. Asphärlehoa kommt mit Schnee, Hagel, Sturm über das Land. Die Seele Asphar-lehoas war ursprünglich in einem Felsen in den höchsten Bergspitzen der Kabylie. Aber eines Tages begannen die Menschen die Felsen zu zerschlagen und kamen der Stelle, an der Asphar-lehoas Seele verborgen war, immer näher. Die Tochter Chtaphlaräiths wurde auf diese Weise todkrank und bat weinend ihren Vater: "Tue meine Seele mit der deinen zusammen."Asphar-lehoa war dem Tode nahe.
Da nahm Chtaphlaräith die Seele seiner Tochter aus dem Gebirge. Er ergriff einen Stock, fuhr über die Mitte des Meeres und steckte den Stock in die Mitte des Meeres. Das Meer trat zurück. Es kam Sand. Der Grund des Meeres lag trocken da. In der Mitte des Meeres lag auf dem Boden ein großer Felsblock. Chtaphlaräith öffnete den Felsblock, trieb die Kamelstute, die das Rebhuhn und das Ei mit seiner Seele barg, und die Seele seiner Tochter Asphar-lehoa hinein. Dann schloß er den Felsblock. Sogleich wurde seine Tochter Asphärkhoa gesund.
Ob nun die Seele des Chtaphlaräith noch in dem Felsen inmitten des Meeres ist, weiß man nicht so genau. Viele behaupten, Chtaphlaräith wäre tot, seitdem ein Bursche die Seele zerstörte. Viele glauben dagegen, Chtaphlaräith lebe noch. Ein Märchen berichtet vom Tode des Chtaphlaräith, aber den Märchen (Tamaschahuts) kann man nicht ganz trauen. Sie erzählen vieles, was nicht wahr ist. Viele glaubwürdige Männer haben aber versichert, daß sie Chtaphlaräith noch gespürt hätten.
23. Die Trodiannin
Ganz sicher ist es aber, daß die Trochannin noch leben und die Menschen erschrecken. Es gibt unter uns Kabylen keinen einzigen, der diese Trochannin nicht selbst einmal im Leben gespürt hat. Sie wurden aber so geschaffen:
Einige Negerinnen (Neger ächeli; Plur.: äthileu; Negerin thächelits; Plur.: thächeläthin) tranken einmal an einer Quelle, die durch den Busch floß. Danach mußten sie Wasser abschlagen und pißten in den Busch und in die Quelle. Nach einiger Zeit kam ein Mann an der Stelle vorbei. Er war durstig. Er nahm einen Schluck Wasser in den Mund und spie es, als er es salzig fand, achtlos auf die Erde. Das empörte die Erde. Man soll nicht die Erde beschimpfen. Er trank dann noch weiter aus der Quelle. Dann aber kam er zur Strafe in die l'chäli (Sahara bei den Kabylen). Dort wurde er so durstig, daß, als er sich einmal einer Mühle näherte, er die Lache, die eine Eselin auf den Weg gepißt hatte, trinken mußte.
Die Negerinnen wurden aber für alle Zeit bestraft. Es gibt im Monat Achegam (Januar) sieben Tage; an diesen sieben Tagen müssen alle Neger und Negerinnen zittern und viele von ihnen sterben.
An der Stelle im Busch, die die Negerinnen beschmutzt hatten,
entstanden aber die Trochannin (oder Tiochanin) und gingen seitdem nicht mehr aus der Welt fort. Es sind dies weibliche Geschöpfe, die man nicht sehen kann, wenn man sie nicht heiratet. Jedem Kabylen ist es schon passiert, daß er, wenn er nachts nach Hause kam,. mit Steinen beworfen wurde, ohne daß ein Mensch irgendwo in der Nähe zu sehen war. Oft hört man jemand ganz deutlich hinter sich gehen. Wendet man sich um, so ist niemand da, Oder man hört seinen Namen rufen. Das alles sind die Trochannin, eben jene weiblichen Wesen, die übrigens zumeist ihre Freude daran haben, den Menschen zu erschrecken, ihn aber sehr selten töten.Das Merkwürdigste ist aber, daß viele Kabylen mit Trochanninen verheiratet sind. Für das kommende Verhältnis ist es entscheidend, ob er sie (also auf seine Aufforderung) oder sie ihn (also auf ihre Aufforderung) heiratet. Im ersteren Fall muß er für alles aufkommen und muß alles beschaffen, und er hat im Hause nichts zu befehlen. Im letzteren Falle kann er von ihr wünschen, was es auch immer sei, ob Gold, ob Früchte in der Jahreszeit, in der sie nicht reif sein können, ob Dinge vom anderen Ufer des Meeres eine Trochannith beschafft alles. Nur ist eine Bedingung dabei. Der Mann muß stets die Hütte, in der das Gold, die Früchte, das Geräte eingeschlagen sind, also Korb, Sack, Leder, Papier usw., zurückgeben. Das darf er nie versäumen. Zunächst sieht der Mann seine Frau tagsüber nicht, sondern nur abends und nachts. Sobald man aber ein Kind mit ihr gezeugt hat, sieht der Mann seine Frau alle Tage.
Der Mann bleibt aber stets der einzige, der seine Trochannith-Frau sieht. Die Freunde sehen sie nicht und hören sie nicht. Sie sehen nur, daß der Hausherr mit jemand spricht, sich von jemand etwas geben läßt, die Trochannith sehen sie nicht.
Die Trochannith schützt den Mann aber nicht nur, sondern sie bietet ihm ganz besondere Genüsse. Wenn ein Mann tagsüber eine Frau sieht und großes Verlangen nach ihr hat, erscheint ihm seine Trochannith abends in der ersehnten Gestalt. Und das wechselt mit seinen Erlebnissen und Eindrücken. Dagegen darf er nicht mit einer anderen Frau Umgang pflegen; sogleich wird er dann stumm.
24. Schrecknisse der Kirchhöfe
Auf den Kirchhöfen der Kabylie gibt es verschiedene schlimme Geschöpfe. Deshalb soll man es nachts vermeiden, über die Kirchhöfe zu gehen. Da nun aber viele Wege so angelegt sind, daß man "Dörfer der Toten" durchgehen muß, so ist es nicht immer möglich, dies zu vermeiden. In solchen Fällen kann man aber wenigstens allerhand Vorsicht beobachten. Jedem der schlimmen Geschöpfe gegenüber muß man seine Maßnahmen treffen.
Am meisten, zumal von Frauen, gefürchtet ist Zuera, das ist eine Frau oder ein Geschöpf wie eine Frau, das geht nachts über den Kirchhof und wittert nach guter Speise, zumal nach gekochtem Fleisch. Sie ist zunächst nicht größer als eine gewöhnliche Frau. Kommt nun aber ein menschliches Weib über den Kirchhof, das auf dem Kopf einen Topf mit Speise, darunter auch gekochtes Fleisch, trägt, so riecht das Zuera sofort. Dann kommt Zuera. Zuera wächst bis zum Himmel empor. Zuera wird dünn und lang und länger, bis man meint, ihr Kopf stoße an den gestirnten Himmel. Dann beugt sich Zuera vornüber und zur Erde herab und greift nun vom Himmel her aus dem Topf alles Essen heraus, das ihr zusagt. Die menschliche Frau steht dann starr und kann nichts dagegen machen, daß Zuera ihr aus dem Topfe, den sie auf dem Kopf trägt, alles herausnimmt. Im übrigen tut ihr die Zuera nichts weiter, als daß sie die Frau mit dem likitsan genannten, mit Dornen besetzten Tuch ins Gesicht schlägt, was zur Folge hat, daß die menschliche Frau nicht recht sehen kann.
Auch Männer, die von einem feinen Mahle heimkehren und noch den Duft des Fleisches ausströmen, überfällt sie. Diese wirft sie hierhin und drängt sie dahin und erfreut sich an dem Fleischgeruch die ganze Nacht. Nachteilige schlimme Folgen hat das aber auch für die Männer nicht.
Gegen Zuera kann man sich sehr einfach schützen. Man braucht nämlich nur einen eisernen Gegenstand, ob klein, ob groß, ob Nadel, Messer, Nagel, Hacke, Beil oder was sonst, bei sich zu tragen. Einem Menschen, der einen eisernen Gegenstand bei sich trägt, weicht Zuera aus.
Ein Mann, der sehr tapfer ist, braucht sich aber vor Zuera nicht nur nicht zu fürchten, er kann Zuera auch sein Glück abringen. Er braucht nämlich nur auf Zuera zuzuspringen, sie um die schmale
Taille zu packen, und kann dann von ihr verlangen, was er will. Zuera, auf solche Weise gefaßt, gewährt jede Bitte.Msisisl-is'chuen ist eine andere schreckliche Schöpfung. Msisisl-is'chuen stürzt sich nachts hinter Reitern auf den Kirchhöfen her und verfolgt sie, wie dies sonst nur Schakale tun. Im Dunkel der Nacht sieht Msisisl-is'chuen auch aus wie ein Schakal. Und doch ist er ein Sack mit Blut. Einmal ritten vier Reiter über einen Kirchhof und wurden dann von Msisisl-is'chuen verfolgt. Drei von ihnen ritten, so schnell sie konnten, von dannen. Der vierte aber schoß auf das verfolgende Geschöpf. Beim siebenundsiebzigsten Schuß fiel es tot hin und sah nachher bei Tageslicht aus wie eine Landkröte. Seitdem weiß man, daß man siebenundsiebzig Schüsse abgeben muß, um Msisisl-is'chuen zu töten. Dann stirbt es für immer. Msisisl-is'chuen ist hervorgegangen aus einer Landkröte (amkörrkörr [Kröte] awale [Land]). Das ist alles, was man von ihm weiß.
Eine dritte schreckliche Sache, die auf den Kirchhöfen nachts umgeht, ist Aidid-nthi, welcher die Menschen nachts zuweilen bis zum Tode erschreckt, aber durch Gebete und Gewehrschüsse niedergehalten werden kann. Dies ist ein Fellsack, der mit Öl gefüllt ist. Er ist das Öl, das an den Gräbern für solche Leute geopfert ist, die von Athräjen wegen ihrer Schlechtigkeit sogleich nach dem Tode mit der Albus zerschlagen worden sind, die aber nicht mehr imstande sind, das ihnen geopferte Öl zu nutznießen. Dieses Öl sammelt sich in dem Fellsack und treibt sich dann zum Schrecken der Menschheit als Aidild-nthi auf den Kirchhöfen umher.
25. Die Tag- und Nachtwickler (ein Bruchstück)*
Ein Mann hatte in alter Zeit zwei Knaben. Vater stirbt, hinterläßt den beiden Burschen gar nichts, weder Land zum Anbau noch die Kenntnis irgendeines Berufes. Die beiden Burschen bleiben daher während vier Jahren im Elend. Eines Tages kommt nun, nach der einen Angabe ein Amrar asemeni, nach der anderen ein Heiliger (oder Malaike) und fragt die beiden, was sie sich wünschen. Der Altere wünscht sich die Achtung und die Verehrung der Welt zu erobern, vor allem aber klar in der Welt zu sehen, der Jüngere wünscht seinem Herzen Hilfe, um den Himmel zu verehren. Die
Beide Brüder nun auf der Wanderschaft. Der Jüngere als Tapferer vorneweg, der Ältere als der Bedächtigere hinterher; sie kommen in einen Wald. Der Ältere fürchtet, sie könnten einem Löwen begegnen. Wie sie nachts im Walde sind, fällt plötzlich zwischen beiden Burschen ein Ball schwarzer Wollfaden nieder. Der Ball tanzt hin und her. Er tanzt auf den Jüngsten zu. Der Jüngere springt entsetzt beiseite. Endlich fällt der Ball aber doch in den Schoß des Jüngeren; der Jüngere fällt erst in Ohnmacht, dann erwacht er aber und beginnt nun seine Arbeit, nämlich des Abwickelns des schwarzen Wollfadenballes.
Der Altere setzt sich daneben und schaut erst eine Zeitlang der Arbeit des Jüngeren zu, ohne etwas zu tun; als aber die Nacht dem Ende nahe ist, fällt ein weißer Wollfadenballen vor ihm nieder und tanzt so lange herum, bis er ihn ergreift. Der Ältere beginnt nun die Arbeit des Wickelns; indem er den weißen Wollfaden abwickelt, beginnt der Tag. Der Jüngere ermüdet inzwischen mehr und mehr. Er hört mit dem Abwickeln des dunklen Fadens auf, und die Nacht geht ihrem Ende entgegen. Endlich schläft er ganz ein, während der Bruder in voller Tätigkeit ist. Niemand kann den älteren Bruder sehen. Aber während seiner Arbeit wird es mehr und mehr Tag.
Diese Arbeit führten sie nun Tag und Nacht abwechselnd aus, und so machten sie Tag und Nacht. — Es muß nun eines betont werden: die drei Erzähler sind sich alle drei unklar, ob der Ältere der Wickler des schwarzen Nachtfadens ist oder der Jüngere. Die ersten Referenten erklärten den Weißenfadenwickler für den Jüngeren, die späteren für den Älteren.
D ann wird von den Brüdern noch weiter erzählt (aber weniger exakt).
Nach (sieben) oder (siebenundsiebzig) Jahren geben sie die Arbeit auf, kommen in ein Kaffeehaus, werden von einer Stimme aus dem Himmel informiert, daß Gott mit ihrer Arbeit zufrieden sei. Sie sollen belohnt werden. Ihre neue Zeit beginnt aber mit einer Prüfung. Sie werden vom Wasser weggespült. Sie bleiben gottergeben und werden endlich an das Land gespült. Der Ältere wird nun, nach rechts gehend, ein frommer Einsiedler. Der Jüngere geht nach links und kommt an eine Stadt, gegen die seit einundzwanzig Jahren die
Wuarssen kämpfen. Die Wuarssen haben alles getötet. Nur Frauen leben da. Vorher war ein Amrar asemeni in der Stadt gewesen. Der Amrar asemeni war gegangen, und nun sind nur noch die Frauen da, da die Wuarssen alle Gewalt über die Männer gewannen und sie vernichteten.Der Jüngere erfährt das alles, geht in den Wald und ersucht den Amrar asemeni zurückzukommen. Der tut es. Sogleich grünen wieder die Pflanzen, werfen die Tiere Junge und werden die Frauen schwanger.
Der Jüngere brach am Tage nachher, nachdem er seine heiligen Bedenken über das etwaige Sündhafte seiner Maßnahme überwunden hatte, auf zum Kampf gegen die Wuarssen. Kampf. Tötet die meisten Wuarssen. Ein Wuarssenmädchen zeigt ihm den Weg zum unterirdischen Geschoß (sadhau-'demurth), das sieben Khamar (ca. zwanzig Meter) unter der Erde ist und wo der Agelith der Wuarssen lebt und wo auch die Männer der Stadtfrauen gefangen liegen. Der Bursche befreit alle. In der Stadt Seligkeit. — Danach kehrte der Bursche zurück.
Er stellt nun an einem grünenden Zweig (Todeszeichenmotiv) fest, daß sein älterer Bruder noch lebt. Er läßt den alten Amrar asemeni als Agelith in der glücklich gemachten Stadt zurück und folgt nach rechts dem Weg des älteren Bruders. Trifft ihn an einem Platze, an dem der Bruder schon ein Jahr und drei Tage wohnt.
Nun kehren beide heim und heiraten. Der Ältere regiert als Agelith den Morgen. Der Jüngere regiert als Agelith den Abend.
Nochmalige genaue Nachfrage ergibt:
Der weiße Ball - dem Älteren.
Der schwarze Ball - dem Jüngeren. Das Ganze eine Propagandalegende der heiligen Neuzeit, aufgebaut auf einem guten, alten mythologischen Material. Denn die Legende von den beiden wollabspinnenden Brüdern, die Tag und Nacht regieren, habe ich oft gefunden. Dieser Teil ist alt und echt kabylisch.
25a. Farben und Richtung im Weltbild
Zum Schlusse möchte ich nun noch einige Reste alter Vorstellungen zur Kenntnis geben, die vielleicht von besonderem Werte werden, wenn sie mit der Gesamtanschauung anderer, und zwar alter Völker (soll heißen Völker des Altertums), verglichen werden.
Zum einen handelt es sich um die Farbensymbolik. Die alten Kabylen schrieben den einzelnen Farben verschiedene Bedeutung und verschiedene Beziehung zu den Himmelsrichtungen zu. Als ich mit den Kabylen auf diese Frage zu sprechen kam und sie selbst regten durch die Mitteilung über den verschiedenen Sinnwert der Farben an verschiedenen Tagesstunden dazu an -, schnitzten sie mir ein kleines viereckiges Brett, das doppelt so breit als hoch war. In der Mitte des oberen Randes machten sie einen schwarzen, auf die schmale rechte einen gelben, auf die unten breite einen weißen und auf die linke schmale Seite einen grünen Fleck. Sie erklärten mir, das Schwarze läge auf dem Rücken, das Weiße vorn vor der Brust, das Gelbe auf der linken, das Grüne auf der rechten Schulter. Gleichzeitig identifizierten sie schwarz mit dem Westen, weiß mit Osten, gelb mit Süden und grün mit Norden, so daß sich das bei-Schwarz Schwarz (Rücken) . Grün Gelb (rechte Schulter) (linke Schulter) . Weiß (Brust) folgende Bild der Zugehörigkeit der Farben zu den Himmelsrichtungen ergab. Schwarz: hinten Westen l'rar Grün: rechts Gelb: links Nord l'kevela Süd = l'ihali Weiß: vorn Ost = sch'ak
Von der Bedeutung der Farben überhaupt und im allgemeinen sagten sie: gelb bedeute Krankheit und Schwäche, schwarz Tod und Krieg, weiß Helle, Klarheit, offene Zukunft, grün und blau Glück und Seligkeit, rot endlich Blut, Schlechtes, Unglück. Im einzelnen konnte die Farbe aber auch eine ganz besondere Bedeutung
gewinnen. Sah man z. B. am frühen Morgen einen schwarzen Raben oder einen schwarzen Schakal, so war das ein sicheres Anzeichen dafür, daß man am gleichen Tage noch niedergedrückt werden würde. Traf man diese Tiere aber am Nachmittag, so war das kein schlimmes Omen. (Vergl. Farben der Meere S. ioo.)Es muß eine bestimmte Ordnung der Farbenzugehörigkeit zu den verschiedenen Tageszeiten gegeben haben. Aber die Angaben sind so geringfügig, daß sie die Ordnung selbst nicht verraten. Dagegen zählte man bei einem Orakel die Farben in einer bestimmten Reihenfolge auf. Diese Reihenfolge war: gelb, weiß, grün, schwarz. Dem Sinn dieser Reihenfolge entsprechen auch andere klare Hinweise, und damit komme ich zu dem zweiten Punkt dieses Absatzes.
Oben ward schon von "dem Zeichen der Frauen" berichtet. Das wiedergegebene Beispiel (S. 38/9) zeigt die Anordnung der Farbenflecke von oben nach links herum, denn die untere Seite stellte offenbar das Vorn vor. Noch deutlicher wird das dann, wenn der oberste Punkt eine verflossene Zeit, eine Handlung der Vergangenheit betrifft. Typisch entsprechend dieser "Frauenschrift" ist der Turnus des alten Gebetes. Wenn die Jäger früher ihr Bluthorn auf der Samenschale des Urbüffels ausleerten, wandten sie den Körper betend nach der linken Seite. Von Plinius wissen wir, daß die Römer beim Anbeten den Körper rechts herum, die Gallier ihn aber im umgekehrten Sinne links herum - also wie die Kabylen wandten. Nun entspricht der römische Turnus dem kleinasiatisch-etruskischen.
So sehen wir die Kabylen als Erhalter westeuropäisch-vorgeschichtlicher Weltvorstellung. Blau des Himmels HimmelWiedergabe einer Kabylenzeichnung, zu Seite 84.
DRITTER TEIL
LEBENSWEISHEIT
(GESCHLECHT UND SIPPE)
26. Die Wohlhabenheit
Ein sehr reicher und vornehmer Mann hatte einen Sohn, der war erwachsen. Da wählte der Vater ein Mädchen aus einer anderen ebenfalls sehr wohlhabenden und reichen Familie und schlug es seinem Sohne zur Ehe vor. Der Sohn sagte: "Ich will es mit ihm versuchen." Der Sohn wurde mit dem Mädchen verheiratet. Als sie in der Brautkammer waren, fragte der junge Mann die junge Frau: "Was denkst du nun, das wir anfangen, wenn das Geld meines Vaters zu Ende ist?" Die junge Frau lachte und sagte: "Zunächst. haben wir noch genug Geld. Über diese Frage nachzudenken wird Zeit werden, wenn wir das vorrätige verbraucht haben." Am andern Tage sandte der junge Mann die junge Frau zu seinem Schwiegervater zurück und ließ ihm sagen: "Ich kann deine Tochter nicht gebrauchen."
Der Vater des jungen Mannes war erstaunt über diese energische Erklärung und verheiratete ihn nach einiger Zeit wieder mit einem jungen Mädchen aus einer wohlhabenden, vornehmen Familie. Der junge Mann legte dieser aber, just wie der ersten, die Frage vor: "Was denkst du nun, das wir anfangen, wenn das Geld meines Vaters verbraucht ist?" Die junge Frau antwortete wie die erste: "Zunächst haben wir noch genug Geld. Über diese Frage nachzudenken wird Zeit werden, wenn wir das vorrätige verbraucht haben." Der junge Mann sandte diese aber wie die erste junge Frau am anderen Tage seinem Schwiegervater zurück und ließ sagen: "Ich kann deine Tochter nicht gebrauchen."
Der Vater des jungen Mannes war sehr betrübt über diese zweite, ihm unverständliche Ehescheidung. Er verheiratete seinen Sohn mit einem dritten, mit einem vierten, mit einem fünften, mit einem sechsten und mit einem siebenten Mädchen aus wohlhabender und angesehener Familie, und immer sandte der Sohn die junge Frau am andern Tage dem Schwiegervater zurück und ließ ihm sagen: "Ich kann deine Tochter nicht gebrauchen."
Als sich das nun zum siebenten Male wiederholt hatte, wurde der Vater des jungen Mannes sehr zornig und schwur: "Das nächste Mal werde ich dich mit dem ersten besten Mädchen, das mir auf der Straße begegnet, verheiraten, und es soll mir gleich sein, wenn sie auch aus noch so erbärmlicher Familie stammt." Der Vater hielt seinen Schwur. Als er am nächsten Tage aufstand und sein Gehöft verließ, begegnete er der Tochter eines Lederarbeiters (= acherass,
eine bei den Kabylen sehr wenig geachtete Kaste). Er rief das Mädchen heran, ging mit ihm zu dessen Vater, sprach mit ihm und verheiratete sie noch am gleichen Tage mit seinem Sohne.Wie vordem war die erste Frage, die der junge Mann seiner Frau vorlegte: "Was denkst du nun, das wir anfangen, wenn das Geld meines Vaters zu Ende ist?" Die junge Frau sagte: "Dann wollen wir arbeiten. Wir wollen das aber nicht erst abwarten, sondern schon vorher arbeiten." Über diese Antwort war der junge Mann sehr glücklich und gewann seine Frau sogleich sehr gerne. Am andern Morgen erwartete der Vater des jungen Mannes nun, daß sein Sohn auch diese junge Frau an seinen Schwiegervater zurückschicken würde. Das geschah aber nicht. Der junge Mann behielt seine Frau und zeichnete sie augenscheinlich mit der größten Aufmerksamkeit aus.
Der Vater war erst erstaunt. Dann wurde er ärgerlich und sagte: "Du hast die jungen Frauen aus vornehmen Familien wieder ihrem Vater zurückgeschickt. Ich hoffe, daß du diese Frau aus niederer Familie nicht lange in meinem Gehöft läßt." Der Sohn sagte: "Mein Vater, ich werde diese junge Frau behalten, denn ich liebe sie sehr." Da wurde der Vater zornig und sagte: "Dann mach, daß du mit deiner Frau zusammen aus dem Gehöft herauskommst." —
Der Vater wies den Sohn und dessen junge Frau aus dem Hause. Der junge Mann und seine junge Frau zogen von dannen und aus dem Dorfe. Sie zogen erst die Hügel hinab und kamen dann in einen Wald. Durch den Wald hatte kurz vorher ein Schäfer seine Herde getrieben. Die Schafe hatten alle ihre Wolle an den Ästen und Zweigen hängen gelassen. Während der junge Mann mit seiner Frau durch den Wald kam, sammelte sie überall die hängengebliebene Wolle. Es kam aber ein gutes Bündel zusammen.
Jenseits des Waldes kamen sie an ein Gehöft fremder Leute, bei denen sie unbekannt waren. Der junge Mann fragte, ob er Arbeit erhalten könne. Der Bauer stellte ihn sogleich beim Schneiden des Kornes an. Während der junge Mann derart auf dem Felde durch Arbeit verdiente, spann und verwebte seine junge Frau daheim einen Sack (asigeriss, Plur.: isigrass oder isijraess). Als er vollendet war, verkaufte ihn der Mann, und da er ausgezeichnet gelungen war, bekam er einen hohen Preis dafür und außerdem Bestellungen auf mehr Arbeit. Der Mann, der den ersten Sack dieser Art kaufte, stellte aber den jungen Mann gleichzeitig bei sich auf dem Hofe an, so daß seine eigene Einnahme auch wuchs.
Der junge Mann und seine Frau arbeiteten und waren bald durch ihre Gründlichkeit und Tüchtigkeit im ganzen Kreise bekannt. Sie verdienten immer mehr und wurden nach einigen Jahren wohlhabende Leute mit eigenem schönen Besitz. Danach starb dann einer der Vornehmen (achari, Plur.: echereijen). Die Leute, die sämtlich gern die Stellung gewinnen wollten, und von denen keiner sie dem andern gönnte, erwählten zuletzt den jungen Mann, der mit der fleißigen jungen Frau aus der Fremde zugezogen war, zum Achari, und so gewann dieser mehr und mehr an Einfluß und Macht.
Dem Vater des jungen Mannes erging es nun, nachdem er seinen Sohn und dessen junge Frau aus seinem Gehöft gewiesen hatte, nicht gut. Er verbrauchte mehr und mehr von seinem Gelde. Er verlor erst alles, was die Familie erspart hatte, und dann nach und nach alle Äcker und das Gehöft. Eines Tages besaß der Vater nichts mehr. Er mußte als Bettler sein Dorf verlassen und ernährte sich, indem er bettelnd von einem Gehöft zum andern zog. Der bettelnde Vater kam auch zu dem Dorf, in dem sein Sohn Achari geworden war, und er trat in dessen Gehöft und Kammer und bettelte. Sein Sohn war in der Kammer. Der Vater erkannte ihn jedoch nicht. Wohl aber sah der Sohn sogleich, wer da bei ihm bettelte. Er hieß seine Frau für den Bettler ein gutes Essen bereiten. Die Frau tat es, und der Vater verzehrte es. Der Vater bedankte sich und wollte gehen. Der Sohn sagte: "Bleibe noch für einige Worte! Sage mir einmal, alter Mann, weißt du, wer das Essen bereitet hat, das du eben genossest ?" Der Vater sagte: "Es hat wohl deine Frau bereitet?" Der Sohn sagte: "Sehr wohl, kennst du meine Frau nicht?" Der Vater sagte: "Ich sah sie vorhin, aber ich kenne sie nicht." Der Sohn sagte: "Dann will ich dir sagen, daß es die Frau war, die du deinem Sohne im Zorn als achte Frau gabst, nachdem er die ersten sieben weggeschickt hatte. Hätte dein Sohn eine der ersten sieben Frauen behalten, so wäre dein Besitz noch eher zerstört gewesen, als es so schon geschehen ist. Indern dein Sohn aber eine Frau nahm, die zu arbeiten versteht, schuf er einen neuen Besitz und erwarb er ein neues Gehöft, auf dem du nun die letzten Jahre deines Lebens in Gemächlichkeit verbringen kannst. Denn ich bin dein Sohn."
27. Kabylenehen
Ein Ackerbauer, der sehr wohlhabend war, hatte einen einzigen Sohn, der durch Klugheit und Geschicklichkeit bekannt war. Eines Tages war der Vater selbst auf der einen Seite des Hügels auf seinem Felde beschäftigt, während die Arbeiter auf der entgegengesetzten tätig waren. Als mittags das Essen fertig war, sagte die Mutter zu dem Burschen: "Gehe dorthin und rufe den Vater, und dann gehe dahin und rufe die Arbeiter zum Essen." Der Bursche ging. Er tat wie ihm aufgetragen und rief zuerst den Vater zum Essen und kehrte dann zurück, um am Gehöft vorbei zu den Arbeitern auf der anderen Seite zu gehen und auch da seinen Auftrag auszurichten. Vor dem Gehöft hüpften aber gerade einige Vögel umher, und der Bursche verbrachte einige Zeit damit, daß er mit Steinen nach ihnen warf. Das sah die Mutter, wurde ärgerlich und rief: "Eil dich, damit die Arbeiter das Essen warm vorfinden." Der Bursche ärgerte sich darüber, daß seine Mutter ihn ärgerlich anredete und rief ihr einige Schimpfworte zu. Da nahm die Mutter ein brennendes Holzscheit aus dem Feuer und warf es nach dem Burschen.
Der Bursche fing das brennende Holzscheit mit der Hand auf und lief damit schnell zu den Arbeitern. Er gab es den Arbeitern und sagte: "Mein Vater läßt euch sagen, ihr sollt alles, was auf den Feldern ist und was von den Feldern kommt, verbrennen." Die Arbeiter sagten: "Das wollen wir schnell tun." Es war Sommer und alles sehr trocken. Sie zündeten die Felder und Hecken an mehreren Stellen an, warfen das Ackergerät in die Flammen und machten sich dann auf den Heimweg zum Essen. Sie setzten sich mit dem Vater um den Kuskusnapf. Einer der Arbeiter fand auf dem Boden einige Gerstenkörner. Er hob sie auf und warf sie in das Feuer. Der Bauer sah das, wurde ärgerlich und sagte: "Wir wollen das Korn, das uns ernährt und uns unser Brot gibt, achten. Wir wollen es nicht in das Feuer werfen." Der Knecht sagte: "Du hast uns doch aber soeben den Befehl geschickt, alles was auf den Feldern steht und von den Feldern kommt, zu verbrennen! Wir haben das andere verbrannt und wollen doch nun auch die letzten Gerstenkörner nicht übriglassen." Der Vater fuhr auf. Er sagte: "Was soll das heißen? Wer hat solchen Befehl geschickt?" Die Knechte sagten: "Du hast doch deinen Sohn mit dem brennenden Holzscheit zu uns geschickt!" Der Vater wollte den Sohn packen. Der Bursche sprang aber auf und rannte fort. Der Vater konnte ihn nicht erreichen. Der Bursche rannte und rannte.
Der Bursche kam, nachdem er sehr weit gelaufen war, in ein anderes Dorf und da in ein Ti-mamurt (kabylisches Schulhaus). Er plauderte mit den Buben und fragte sie: "Wollen wir uns nicht eine Kuh stehlen und schlachten ?" Die Buben waren einverstanden. Der Bursche ging abends in eine Hürde. Er legte sich da zwischen die Beine einer Kuh. Als es Nacht war, schrie er: "Wollt ihr mir die zur Rechten oder die zur Linken geben?" Der Hirt wachte auf, sah überall nach, wo der Dieb sei, fand ihn nicht und legte sich wieder hin. Nach einiger Zeit rief der Bursche das gleiche. Der Hirt wachte wieder auf, suchte wieder überall und fand wieder nichts. Nachdem der Bursche das sechsmal wiederholt hatte, schlief der Hirt ganz fest ein und hörte nun nichts mehr. Da öffnete der Bursche die Hürde, trieb eine Kuh heraus und dahin, wo die Buben versammelt waren. Dort schlachteten sie die Kuh, und dann teilte der Bursche das Fleisch unter sie. Für sich behielt er nur die Bauchhaut. Mit der Bauchhaut machte er sich auf den Weg.
Nach einiger Zeit wickelte er sich in die Bauchhaut und legte sich so am Wege neben einem Gemüsefeld nieder. Es kam eine alte Frau vorbei. Die sah die Bauchhaut und sagte: "Da hat einer sein Schlachtfleisch in der Bauchhaut vom Esel verloren. Ich werde es mitnehmen." Sie nahm das Ganze, hob es mühsam auf, legte alles auf ihren Korb und ging ächzend unter der Last, aber froh über den Fund ihrem Dorfe zu. Als die alte Frau nun bei der Djemaa war, wo die Männer versammelt waren, schrie der Bursche plötzlich laut: "Die alte Frau hat die Bauchhaut der Kuh gestohlen." Die alte Frau erschrak, ließ den Korb mit dem Burschen und der Bauchhaut fallen und floh so schnell sie konnte von dannen. Der Bursche stand aber auf und ging weiter seiner Wege.
Der Bursche kam an ein Gehöft, in dem ein Bauer mit seiner Frau und seinen sieben Töchtern wohnte. Der Bursche trat herein und fragte den Bauern, ob er bei ihm zur Arbeit bleiben dürfe. Der Bauer sagte: "Wie willst du hierbleiben?" Der Bursche sagte: "Ich habe weder Vater noch Mutter. Du hast nun keinen Sohn, da kannst du mich vielleicht als Sohn annehmen, der für seine sieben Schwestern sorgt." Der Bauer sagte: "Du hast recht. Bleibe bei mir. Begleite meine Töchter, wenn sie im Busch Holz holen, und sei ihnen ein guter Bruder." Der Bursche sagte: "So ist es mir gerade recht."
Am anderen Tage sollte die älteste Tochter Holz sammeln und heimbringen. Der Bursche sollte sie begleiten. Das Mädchen wollte den gewöhnlichen Weg in den Wald nehmen. Der Bursche zeigte
ihr aber einen steilen Berg und sagte: "Das Holz da oben ist viel besser." Er begleitete das Mädchen dann den Berg hinauf, und als sie oben war, gab er ihr einen Stoß. Sie glitt auf dem lehmigen Boden aus, rutschte den steilen Abhang herab, stürzte in den Abgrund und brach sich das Genick. Der Bursche ging dann nach Hause. Als er zu Hause ankam, fragte er: "Ist meine Schwester noch nicht wieder nach Hause gekommen ?" Niemand hatte die Schwester gesehen. Der Bursche sagte: "Wenn sie nur nicht mit einem Burschen fortgelaufen ist, mit dem sie sich treffen wollte." Die älteste der sieben Schwestern kam nicht wieder. Der Bauer sagte zu seiner Frau: "Unsere älteste Tochter ist mit einem Burschen fortgelaufen."Am anderen Tage ging der Bursche mit der zweiten der sieben Schwestern fort, um ihr beim Holzsammeln behilflich zu sein. Er machte es genau so wie am ersten Tage. Der Bauer sagte am Abend dieses Tages: "Unsere zweite Tochter ist nun auch mit einem Burschen fortgelaufen." Ehe der Bursche am dritten Tage nun mit der dritten fortging, sagte er zum Bauer: "Höre Vater, ich glaube, meine Schwestern haben alle ihre Liebhaber; sage aber vorderhand nichts. Ich werde es schon herausbekommen." Dann ging er mit der dritten Tochter fort, und als er abends wieder allein nach Hause gekommen war, sagte der Vater zu seiner Frau: "Ich glaube fast, unsere sämtlichen Töchter haben ihre Liebhaber."
Der Bursche brachte auf die gleiche Weise alle sieben Töchter des Bauern ums Leben. Als er am siebenten Tage auch wieder allein nach Hause kam, sagte er zu dem Bauern: "Vater, sie waren also alle von der gleichen Art. Welches Glück, daß ich zu dir gekommen bin. Nun hast du wenigstens noch ein Kind, und das ist ein Sohn. Ich möchte nur wissen, von wem deine sieben Töchter diese Neigung zu Liebhabern gehabt haben. Du selbst bist doch ein ordentlicher Mensch." Abends sagte der Bauer zu seiner Frau: "Also alle unsere sieben Töchter haben von einem von uns beiden diese Neigung zu Liebhabern geerbt. Welches Glück, daß wir nun noch zu guter Letzt diesen Sohn gewonnen haben."Die Frau des Bauern sagte ärgerlich: "Was es mit diesem Sohn für eine Bewandtnis hat, werden wir ja sehen und dann auch herausbekommen, wie diese plötzliche Neigung meiner sieben Töchter zu Liebhabern entstanden ist. Ich werde morgen selbst hingehen, Holz zu sammeln und mich dabei von deinem Sohne begleiten lassen."
Der Bauer war damit einverstanden. Am anderen Tage ging die Frau des Bauern mit dem Burschen zusammen zum Holzsammeln.
Der Bursche führte die Frau des Bauern auf denselben Berg. Die Frau des Bauern dachte bei sich: "Ich bin neugierig, ob ich nicht meine Töchter wiedersehen werde." Als sie oben war, gab der Bursche auch ihr einen Stoß, und sie stürzte tot zu ihren sieben Töchtern in den Abgrund. Der Bursche kam allein nach Hause. Der Bauer sah ihn allein kommen. Der Bauer sagte: "Du kommst allein nach Hause? Also hat meine Frau auch einen Liebhaber gehabt, mit dem sie fortgelaufen ist? Ich habe aber schon gestern gesagt, von wem wohl unsere Töchter diese Neigung zu Liebschaften geerbt haben. Nun ist es ganz klar." Der Bursche sagte: "Ja, mein Vater, es ist ganz klar. Sei glücklich, daß du mich noch hast. Ich will dir eine andere Frau suchen, die dir schnell ein behagliches und sorgenfreies Lebensende verschafft." Der Bauer sagte: "Ich danke dir, mein Sohn. Tue das!" Der Bursche machte sich auf die Suche nach einer anderen Frau für seinen Adoptivvater.Der Bursche kam auf seiner Wanderung zu einer Frau, die war noch jung, aber sie war schon Witwe, denn ihr Mann war seit einiger Zeit gestorben. Der Bursche bat die junge Witwe um Unterkunft und um Essen, und sie gewährte es ihm. Nachdem er gegessen hatte, sagte er zu ihr: "Du bist noch zu jung, um lange unverheiratet zu bleiben." Die junge Witwe sagte: "Ich möchte schon wieder heiraten, ich weiß nur nicht einen Mann, der mich nimmt und der mir paßt." Der Bursche sagte: "Ich habe einen Adoptivvater, der ist ein wohlhabender Bauer, und außerdem ist er auch Witwer. Er ist ein guter Mann. Ich meine, das wäre das Richtige." Die junge Witwe sagte: "Weshalb soll ich nicht noch einmal heiraten?! Ich will nur nicht in die Hände eines Mannes kommen, der mich schlecht behandelt." Der Bursche sagte: "Dafür laß mich nur sorgen. Wenn wir beide uns gut verständigen, dann ist alles in Ordnung." Am andern Tage machte der Bursche sich auf den Rückweg.
Der Bursche kam zu seinem Adoptivvater zurück und sagte: "Vater, ich habe eine junge, schöne und sehr gutartige Witwe gefunden, die auch bereit ist, dich zu heiraten. Sie kann dir ein schnelles Glück bereiten." Der Bauer war erfreut. Er machte sich am andern Tage mit dem Burschen auf den Weg. Der Bursche brachte ihn in das Haus der Witwe. Der Bauer aß bei der Witwe. Nach dem Essen sprach er mit ihr. Die Witwe erklärte sich einverstanden. Der Bauer heiratete die Witwe.
Der Bauer war mit seiner neuen Frau noch nicht lange verheiratet. Die beiden lebten sehr zufrieden und einträchtig miteinander. Der
Bursche sagte aber bei sich: "Wenn dies so weitergeht, bringe ich es zu nichts Rechtem, und außerdem wird es Zeit, daß ich mich selbst gut verheirate." Eines Tages sagte er zu der jungen Frau seines Vaters: "Ich bin neugierig, wie lange du es bei meinem Vater aushalten wirst!" Die Frau sagte: "Weshalb das? Mit deinem Vater ist doch sehr gut auszukommen!" Der Bursche sagte: "Zuerst ist immer sehr gut mit ihm auszukommen. Seine vorige Frau und seine sieben Töchter hat er aber umgebracht!" Die Frau sagte: "Was, er hat sie umgebracht?" Der Bursche sagte: "Ja, er hat sie umgebracht. Er hat überall in der Gegend erzählt, seine Frau und seine sieben Töchter wären mit Liebhabern fortgelaufen. Du kannst jedermann in der Gegend fragen, ob er das nicht erzählt hat. In Wahrheit sind seine Frau und seine sieben Töchter aber umgebracht." Die Frau erschrak. Die Frau fragte beim Wasserholen andere Frauen: "War mein Mann schon einmal verheiratet und hatte er Töchter?" Die Frauen sagten: "Gewiß war er schon einmal verheiratet, und er hatte auch sieben Töchter. Aber eine nach der andern verschwand." Die junge Frau fragte andere Frauen. Alle Frauen sagten ihr das gleiche. Die junge Frau begann sich sehr zu ängstigen.Die junge Frau kam zum Burschen und sagte: "Was du gesagt hast, ist wahr. Nun ängstige ich mich sehr und habe Furcht davor, daß ich auch eines Tages verschwinden könnte. Wir wollen meinen Mann töten, ehe er mir ein Leid zufügt." Der Bursche sagte: "So tue es!" Die Frau sagte: "Wie soll ich ihn aber töten?" Der Bursche sagte: "Ich werde dir ein Messer geben, mit dem kannst du ihn töten." Die junge Frau ließ sich das Messer geben. Sie tötete den Bauern nachts. Sie grub mit dem Burschen im Hof ein Loch. Da hinein legten sie den toten Bauern. Am anderen Tage kamen andere Leute und fragten nach dem Bauer. Die Frau sagte: "Mein Mann ist seit einiger Zeit verreist." Die Leute gingen. Die Frau sagte nach einigen Tagen zu dem Burschen: "Was sollen wir nun machen. Wir können doch hier nicht gut bleiben! Die Leute werden immer wieder kommen und nach meinem Manne fragen." Der Bursche sagte: "Das ist ganz richtig. Wir wollen aber nicht so in die Welt hinauslaufen. Bleibe du zunächst hier. Du bist noch sehr jung und sehr schön. Ich will sehen, ob ich dich nicht an einen besseren Mann verheiraten kann." Die junge Witwe war einverstanden. Der Bursche machte sich wieder auf die Wanderschaft und fragte überall in den Dörfern nach einem alten wohlhabenden Witwer, der eine Tochter habe. Eines Tages hörte er auf dem Männerplatze, daß im
Nachbardorfe der und der Mann ein älterer wohlhabender Witwer mit einer schönen Tochter sei.Der Bursche ging zu dem Dorfe. Er ließ sich den Mann zeigen. Er setzte sich auf dem Männerplatze zu ihm und sprach mit ihm sehr freundlich. Der ältere Mann hatte sein Wohlbehagen in der Unterhaltung mit dem Burschen. Nach einiger Zeit fragte er ihn: "Kennst du jemand hier im Dorfe ?" Der Bursche sagte: "Nein, ich kenne niemand." Der ältere Mann sagte: "Dann komm mit zu mir und iß mit mir daheim!" Der Bursche bedankte sich und ging mit. Im Hause des älteren Mannes trug eine schöne junge Frauensperson das Essen heran.
Als die junge schöne Frauensperson gegangen war, fragte der Bursche: "Ist das deine Frau gewesen?" Der ältere Mann sagte: "Nein, es war meine Tochter; ich bin Witwer." Der Bursche sagte: "Weshalb bleibst du Witwer? Du bist jung und kräftig." Der ältere Mann sagte: "Eine junge schöne Frau will mich nicht, und eine alte und häßliche mag ich nicht!" Der Bursche sagte: "Als mein Vater jüngst starb, hinterließ er eine junge, schöne Frau, die nun allein steht und außer mir jungem Burschen keine Verwandte hat. Willst du sie nicht nehmen ?" Der ältere Mann sagte: "Weshalb soll ich sie nicht nehmen? Ich bin sehr gern bereit. Kann sie nicht einmal hier in die Gegend kommen ?" Der Bursche sagte: "Das will ich einrichten." Der Bursche blieb über Nacht und machte sich am andern Tage auf den Rückweg zur Witwe seines Adoptivvaters.
Der Bursche erzählte der jungen Witwe alles, was er erlebt hatte, und sagte: "Hier werden die Leute dich immer nach deinem verstorbenen Manne fragen. Dort wirst du gut verheiratet sein." Er machte sich mit der jungen Witwe auf den Weg. Er kam mit ihr bei dem älteren Manne an. Der ältere Mann fand sein Gefallen an der jungen Witwe. Er heiratete sie und war sehr zufrieden. Er sagte zu dem Burschen: "Ich danke dir, daß du mir diese junge Witwe zugeführt hast, mit der ich sehr glücklich bin. Nun will ich dir auch meine Tochter zur Frau geben." So heiratete der Bursche die Tochter des wohlhabenden älteren Mannes und war sehr glücklich mit ihr. Der Vater war erfreut über das Glück, das in seinem Hause blühte, und als der Sohn ihn eines Tages bat, ihn als Erben einzusetzen, damit später für seine Tochter gut gesorgt sei, da tat er es.
Der wohlhabende ältere Mann, seine jung verheiratete Tochter und der Bursche waren glücklich. Die junge Frau des wohlhabenden
älteren Mannes war aber nicht zufrieden. Sie kam eines Tages zum Burschen und sagte zu ihm: "Mein Mann gefällt mir nicht. Ich bin jung und kräftig, er aber ist alt und schwach. Komm also mit mir, wir wollen fortlaufen und einen anderen Mann für mich suchen." Der Bursche sagte: "Das wird nicht gehen, denn ich bin mit seiner Tochter verheiratet, und ich habe seine Tochter sehr lieb, so daß ich sie nicht verlassen will. Sie wird aber nicht mit uns fortlaufen wollen. Also müssen wir hierbleiben." Die junge Frau sagte: "Dann wollen wir meinen Mann töten, so wie wir meinen vorigen Mann, deinen Adoptivvater, getötet haben!" Der Bursche sagte: "Wenn du das durchaus willst, so tue es." Die junge Frau ließ sich vom Burschen den Dolch geben. Als ihr Gatte nachts eingeschlafen war, stieß sie ihm das Messer in den Bauch. Der ältere Mann starb sogleich. Am andern Tage wurde er begraben.Am andern Tage kamen aber auch die Brüder des Gestorbenen und wollten die Erbschaft in Anspruch nehmen. Der Bursche sagte: "Ihr irrt euch. Euer Bruder hat mich zum Erben eingesetzt, damit ich für seine Tochter gut sorgen kann." Die Brüder begannen den Streit. Der Streit kam zu dem Amin. Der Amin hörte alle und sagte: "Es ist wahr, was der Bursche sagt. Der Verstorbene hat mir selbst gesagt, daß er den Mann seiner Tochter zum Erben einsetzen wolle, damit für seine Tochter gesorgt sei." Die Brüder des Toten murrten. Sie mußten das Erbe und das Gehöft aber dem Burschen überlassen.
Der Bursche lebte mit seiner jungen Frau sehr glücklich. Die junge Witwe kam aber alle Tage zum Burschen, quälte ihn und sagte: "So komm doch mit mir und sorge, daß ich einen anderen Mann bekomme. Ich bin noch zu jung, um unverheiratet zu sein. Hilf mir! Komm mit mir in ein anderes Dorf!" Der Bursche sagte: "Es wird Zeit, daß ich diese Frau beiseite schaffe." Eines Nachts sprach der Bursche mit seiner jungen Frau und sagte zu ihr: "Ich glaube, die junge Witwe hat deinen Vater gewaltsam ums Leben gebracht."
Am anderen Tage lief die junge Frau zu dem Amin und sagte: "Ich glaube, die junge Witwe hat meinen Vater gewaltsam ums Leben gebracht." Der Amin ließ die junge Frau packen. Er fragte sie: "Hast du deinen Mann getötet?" Die junge Frau sagte: "Nein, ich habe es nicht getan." Der Amin ließ die junge Frau an den Füßen aufhängen und peitschen, damit sie die Wahrheit sage. Die junge Witwe schrie, aber sie sagte die Wahrheit nicht. Der Amin ließ sie abnehmen und laufen. Er sagte: "Diese Sache ist nicht zu entscheiden." Die junge Witwe wurde wieder in Freiheit gesetzt.
Die junge Frau war in Freiheit, aber sie wußte, daß sie eines Tages in diesem Orte von einem Bruder ihres Mannes getötet werden würde, weil alle Welt an ihre Schuld glaubte. Deshalb floh sie eines Nachts von dannen. Sie kam in einen anderen Ort, und da sie hübsch war, fand sie bald einen Mann, der sie heiratete. Dieser Mann war jung und stark und sehr roh. Er schlug seine junge Frau alle Tage, so daß sie ganz unglücklich wurde, und da sie nicht fliehen konnte, weil sie zu sehr beobachtet wurde, sandte sie eines Tages an den Burschen eine Botschaft und ließ ihm sagen: "Komm zu mir und hilf mir!" Als der Bursche die Nachricht empfing, sagte er bei sich: "Diese Frau wird nicht eher zufrieden sein, ehe es mit ihr selbst ein schlimmes Ende genommen hat." Er ließ der Frau sagen: "Ich werde dann und dann zu Gaste kommen." Der Bursche machte sich an dem verabredeten Tage auf den Weg. Er kam zu der Frau. Die Frau sagte: "Hilf mir, mich von diesem Manne zu befreien, denn er schlägt mich alle Tage, und wenn er auch sonst mir gut ansteht, so läßt er mir doch keine freie Zeit, ich kann nie ausgehen. Er beobachtet mich immer und überall. Er schlägt mich stets, sowie ich ihm nicht augenblicklich zu Willen bin, und raubt mir jede Freiheit. Ich bitte dich, hilf mir, ihn zu töten." Der Bursche sagte: "Du wirst mit keinem Gatten mehr zufrieden sein. Ich will dir nun nicht mehr beistehen." Die Frau wurde zornig und sagte: "Laß mich nicht im Stich. Ich werde dir schaden, wenn du mir nicht hilfst, und du wirst es nicht so gut vertragen, an den Beinen aufgehängt zu werden." Der Bursche sagte: "Dann nimm also den Dolch hin."
In der kommenden Nacht stieß die Frau ihrem Manne den Dolch in den Leib. Sie rief den Burschen herbei. Beide vergruben ihn in der Farm. Die Frau begleitete dann den Burschen zurück in das Dorf, in dem er mit seiner jungen Frau glücklich lebte. Einige Tage blieb die Witwe im Gehöft des Burschen. Einmal aber wurde sie von einem Verwandten ihres früheren Gatten gesehen, und sie merkte das. Da sagte sie zum Burschen: "Ich bin hier nicht sicher. Die Verwandten meines früheren Mannes werden mich noch töten. Komm du mit deiner jungen Frau mit in das Gehöft, in dem mein letzter Mann getötet ist." Der Bursche sagte: "Meine junge Frau wird nicht von hier fort wollen." Die Witwe sagte: "Frage sie, und wenn sie nicht gutwillig gehen will, werden wir sie tragen." Der Bursche fragte seine junge Frau, ob sie mit der Witwe und ihm in das andere Dorf ziehen wollte. Die junge Frau weigerte sich aber
und erklärte, im Gehöft ihres verstorbenen Vaters bleiben zu wollen.Als der Bursche das der Witwe berichtete, sagte diese: "Wenn sie nicht gutwillig will, werden wir sie mit Gewalt mitnehmen." Die Witwe gab der jungen Frau eines Abends ein Schlafmittel, das schwer betäubte, und lud die Betäubte dann auf einen Maulesel und führte ihn hinüber nach dem anderen Dorfe. Die junge Frau erwachte am anderen Tage im anderen Dorfe. Sie sagte erst nichts, wenn sie die Wanderung in die neue Gegend auch nicht verstand. Sie beobachtete aber die Witwe, in deren Haus sie jetzt lebte, eine Zeitlang.
Eines Tages rief sie den Burschen beiseite und sagte: "Ich habe die Frau, die deinen früheren Vater geheiratet hatte, die also deine Mutter ist, nun einige Tage beobachtet. Ich weiß, was sie meinem eigenen Vater angetan hat. Sie hat ihn getötet, wenn sie es auch nicht eingestand, als der Amin sie an den Füßen aufhängen ließ. Ich sehe, daß sie auch den Mann, der früher in diesem Hause ihr Gatte gewesen ist, getötet haben muß, denn sie wird unruhig, wenn man über dessen Verschwinden spricht. Diese deine Mutter hat mir, um mich hierherzubringen, ein schweres Betäubungsmittel gegeben, so daß ich einschlief und mit Schmerzen erwachte. Diese Frau, deine Mutter, wird dich und mich immer zwingen wollen, das zu tun, was sie will und sie zu schützen. Diese Frau wird nicht davor zurückschrecken, dich oder mich zu töten. Deshalb ist es besser, wir töten sie. Wir wollen sie die kommende Nacht töten." Der junge Mann sagte zu seiner Frau: "Es mußte so kommen, wie es nun kommen wird. Du hast vollkommen recht. Wir wollen sie in der nächsten Nacht töten."
In der nächsten Nacht töteten der junge Ehemann und seine junge Frau die Witwe und begruben sie auf dem Acker. Dann kehrten sie in ihr Dorf zurück und lebten von da an sehr glücklich.
28. Weiberlist
(Icharschi [Malice], tmututh [Mann], duargethith [Frau])
Ein Mann hatte eine schwangere Frau. Seitdem die Frau schwanger war, bat sie jeden Tag ihren Mann: "Ich habe starke Lust auf Fleisch. Gehe auf den Markt und kaufe mir ein Stück Fleisch." Der Mann ging dann auch jeden Tag auf den Markt, aber er brachte
ihr nie ein Stück Fleisch mit. Die Frau bat jeden Tag um ein Stück Fleisch. Der Mann erfüllte ihre Bitte nie. Das ging so, bis etwa einen Monat vor der Geburt.Eines Tages traf der Mann auf dem Markte einen Freund. Die beiden Freunde begrüßten sich. Sie sprachen miteinander. Der Mann sagte zu dem Freunde: "Komm heute zu mir und iß mit mir." Der Freund war einverstanden. Der Mann kaufte auf dem Markte zwei Rebhühner. Die Rebhühner nahm er mit, ging nach Hause und sagte zu seiner Frau: "Hier sind zwei Rebhühner, bereite sie zu; ich habe einen Freund eingeladen. Unser Gast soll mit uns die zwei Rebhühner verspeisen." Die Frau sagte: "Ich werde die zwei Rebhühner kochen."
Die Frau bereitete die zwei Rebhühner. Sie machte aber weder Kuskus noch Kuchen oder Brot. Der Mann kam mit dem Freunde; der Mann sagte: "Ist das Essen bereitet?" Die Frau sagte: "Das Essen ist schon bereitet. Aber du weißt, ich bin krank, und das Kochen wird mir schwer. Gehe also noch einmal fort und kaufe einen Kuchen, ein Brot oder so etwas." Der Mann machte sich sogleich auf den Weg zum Markte.
Die Frau blieb mit dem Freund allein. Sobald der Mann fortgegangen war, begann sie ein großes Messer (ajenui) zu schleifen. Der Freund sah es. Der Freund bekam Angst. Der Freund sagte bei sich: "Will die Frau mich töten?" Als die Frau das Messer geschliffen hatte, sagte sie zu dem Freunde: "So, nun komm heran!" Der Freund sagte: "Was willst du?" Die Frau sagte: "Ich will dir nur die Hoden (thiutmin; Sing.: thauthimth) abschneiden. Das ist bei uns so Sitte, wenn der Freund zum erstenmal zu Gast ist." Der Freund sagte: "Laß mich vorher noch einmal herausgehen, um mein Wasser abzuschlagen." Die Frau sagte: "Gewiß, tue dies." Der Freund ging heraus. Sobald er vor dem Hause war, begann er fortzulaufen, so schnell er konnte.
Sobald der Freund fort war, begann die Frau, so schnell wie sie nur konnte, die beiden Rebhühner zu essen. Sie war gerade damit fertig, da kam der Mann vom Markte zurück. Der Mann fragte die Frau: "Wo ist mein Freund?" Die Frau sagte: "Frage nur auch gleich, wo die zwei Rebhühner sind!" Der Mann sagte: "Hat mein Freund sie beide mitgenommen?" Die Frau sagte: "Überzeuge dich doch selbst! Dort steht noch der Kochtopf." Der Mann sah in den Kochtopf. Der Kochtopf war leer. Der Mann stürzte aus dem Hause heraus.
Der Mann lief hinter dem Freunde her. Der Mann sah den Freund in der Ferne. Der Mann rief hinter dem Freunde her: "Laß uns wenigstens eines." Der Freund lief so schnell er konnte weiter, rief aber zurück: "Wenn du mich einholst, kannst du sie alle beide haben."
29. Die getreue Schneidersfrau
Ein Mann aus guter Familie hatte drei Töchter. Die älteste heiratete einen reichen Ölhändler. Die zweite heiratete einen reichen Kornhändler. Der Vater fragte die dritte Tochter: "Wen willst du heiraten? Es sind viel da, die um dich werben, wähle du selbst." Die Jüngste (Tochter) sagte: "Ich will den Schneider heiraten, der da oben auf dem Hügel wohnt, und keinen anderen." Der Vater erschrak und sagte: "Der Schneider ist ein ganz armer Wicht, der nichts besitzt und sich nicht einmal selbst ernähren kann. Bring unsere Familie nicht in Schande." Die Jüngste sagte: "Ich will den Schneider heiraten und sonst keinen." Der Vater sagte: "Ich gebe meine Einwilligung nicht."
Das Mädchen lief auf den Hügel zu dem Schneider und fragte ihn: "Willst du mich zur Frau nehmen?" Der Schneider sagte: "Mein Mädchen, bedenke, wie ich lebe. Ich habe nichts zu essen und nichts zu trinken, es sei denn Wasser. Das macht mir jedoch nichts, denn die Entbehrungen sind mir gleichgültig. Wie sollte das aber mit dir werden? Es geht nicht. Ich kann dich nicht zur Frau nehmen, so lieb ich dich auch habe!" Das Mädchen sagte: "So bleibe ich als deine Frau bei dir. Was du ertragen kannst, werde ich auch ertragen."
Die Jüngste heiratete den Schneider gegen den Willen ihrer Familie. Ihre Eltern und ihre Schwestern sahen sie nicht mehr an. Die Jüngste wohnte nun in dem elenden Stall des Schneiders und hatte nichts Rechtes sich zu kleiden und nichts Rechtes, sich zu nähren. Sie hatte keinen Kamm und kein Öl, sich die Haare zu strählen. Die Haare verwilderten. Die junge Frau sah sich einmal im Wasserspiegel und erschrak darüber, wie schlimm sie aussah. Sie sagte bei sich: "Wenn ich so schlimm aussehe, kann mein Mann mich nicht mehr liebhaben. Ich werde zu meiner ältesten Schwester gehen und sie um etwas Öl bitten zum Haarordnen." Die Jüngste kam zu ihrer ältesten Schwester, die mit dem Ölhändler verheiratet
war, und bat sie: "Gib mir etwas Öl, damit ich mir für meinen Mann die Haare ordnen kann!" Die älteste Schwester sagte: "Dein Vater und wir Schwestern haben dich seinerzeit gewarnt, nicht diesen Habenichts zum Manne zu nehmen. Du hast nicht hören wollen und hast den Mann doch genommen. Nun trage die Folgen. Hilf dir selbst. Ich helfe dir nicht." Die reiche Schwester gab ihr nichts. Die Jüngste kehrte traurig zu ihrem Manne, dem Schneider, zurück.Nach einiger Zeit hatte die Jüngste solchen Hunger, daß sie meinte, es nicht mehr ertragen zu können. Sie sagte bei sich: "Meine zweite Schwester hat den reichen Kornhändler geheiratet, der Korn im Überflusse hat. Ich will zu ihr gehen und sie bitten, daß sie mir für meinen Mann und mich etwas Korn abgibt. Sie kann mir die Bitte nicht abschlagen." Die Jüngste machte sich auf den Weg zu ihrer zweiten Schwester. Sie trug ihr ihren Wunsch vor. Die Frau des reichen Kornhändlers sagte: "Nun siehst du selbst, wie es gekommen ist. Deine älteste Schwester und ich haben uns so verheiratet, daß wir nun wohlhabend und in guten Verhältnissen leben, ohne an Not denken zu brauchen. Von uns beiden hat keine daran gedacht, ob sie den Mann, den sie bekommt, gerne hat oder nicht. Du dagegen hast einen Mann genommen, den du lieb hattest, und hast nicht danach gefragt, ob es dir nachher schlecht gehen würde oder gut. Jetzt hast du nichts zu essen. Du hast alle Warnungen deiner Schwestern, die dir das vorher gesagt haben, überhört und mußt nun tragen, was du dir selbst aufgeladen hast. Du wolltest von Liebe satt werden und verzichtetest auf Brot. Ernähr' dich nun von Liebe und verlang' von uns kein Brot." Danach schlug die Schwester vor der Jüngsten die Türe zu und ließ sie draußen stehen.
Die Jüngste kam zu ihrem Schneider zurück und setzte sich in einen Winkel, wo der Schneider sie nicht sehen konnte. Sie weinte aber nicht, weil sie Hunger hatte, sondern sie weinte, weil ihre Schwestern so lieblos waren. Den Hunger hatte sie vergessen. An den Hunger dachte sie von dem Tage an nicht mehr, sondern sie sorgte nur, daß es ihrem Mann gut gehe.
Der Schneider sah, daß seine Frau sich abmühte, ihren Kummer vor ihm zu verbergen. Da er aber seine Frau sehr lieb hatte, so sah er sehr wohl, wie die Sache stand. Da sagte er eines Tages bei sich selbst: "Ich sehe sehr wohl, daß meine Frau mich sehr lieb hat und daß sie imstande ist, aus Liebe zu mir die Not und den Hunger zu ertragen. Ich sehe aber auch, daß sie sich aus Liebe zu
mir von ihrer Familie getrennt hat und daß ihr das zu ertragen sehr schwer wird. Da nun die Familie meiner Frau diese ihre Liebe zu mir nicht versteht, wird meine Frau von ihrer Familie nicht eher wieder freundlich aufgenommen werden, als bis sie mich als Gatten aufgegeben hat. Sie hat mich so lieb, daß sie mich nicht freiwillig aufgeben wird. Da ich nun aber nicht will, daß sie den größeren Schmerz der Trennung von ihrer Familie weiter erträgt und zuletzt daran noch zugrunde geht, werde ich selbst mich vernichten lassen. Wenn ich nicht mehr lebe, ist meine Frau wieder frei, und ihre Familie wird sie wieder aufnehmen. Darum werde ich in den Wald gehen und mich vom Ansa* verschlingen lassen."Eines Nachmittags machte der Schneider sich auf den Weg und schlich, als er glaubte, daß seine Frau ihn nicht bemerke, heimlich von dannen, dem Walde zu. Die Frau hatte aber doch beobachtet, daß der Schneider, ihr Mann, irgend etwas Besonderes vorhaben mußte, denn er sah immer besorgt um sich, ob ihm auch niemand nachsehe. So schlich sie ihm denn nach und kam, ohne daß er es wußte, auch in den Wald und ging dann immer in einiger Entfernung hinter ihm her.
Nachdem der Schneider schon ein weites Stück gewandert war, drehte er sich um und gewahrte in einiger Entfernung seine Frau. Er blieb stehen und sagte: "Warum folgst du mir ?" Die Frau sagte: "Weil ich dich zu lieb habe, um dich so allein im Walde umhergehen zu lassen." Der Schneider sagte: "Ich bitte dich, kehre um und gehe wieder nach Hause. Ich weiß nicht, was ich heute noch erlebe, und es wird mir leichter, wenn ich allein bin." Die junge Frau sagte: "Diese Bitte kann ich dir nicht erfüllen. Was du erlebst, will ich mit dir erleben." Da sah der Schneider, daß er nicht imstande sein werde, seine Frau zur Heimkehr zu bewegen. Er ging daher weiter, und seine Frau folgte ihm.
Der Schneider und seine Frau waren im Walde weit gewandert. Der Schneider sah, daß er in der Gegend war, in der Ansa zu Hause war. Er sagte zu seiner Frau: "Hier wollen wir uns zum Schlafe niederlegen." Seine Frau legte sich nieder. Er streckte sich nieder. Seine Frau war ermüdet und schlief sogleich ein. Der Schneider sah es und erhob sich. Er setzte sich auf einen Stein und wartete.
Der Schneider hatte eine gute Zeit gewartet, da sah er Ansa von ferne durch den Wald kommen. Der Schneider sprang auf und eilte
Ansa sagte: "Schneider, schließe die Augen. Nachher öffne sie wieder. Dein Wunsch soll erfüllt werden." Der Schneider sagte bei sich: "So ist also alles geregelt." Er schloß die Augen und wartete, daß ihm etwas Schreckliches widerfahre. Er wartete. Es geschah nichts. Er öffnete die Augen. Da sah er um sich alles voller Vieh. Ansa aber war verschwunden. Der Schneider lief zu seiner Frau und weckte sie. Der Schneider sagte zu seiner Frau: "Schau nur um dich; all dieses Vieh hat uns Ansa geschenkt!" Die Frau erhob sich. Sie sagte zu ihrem Manne: "Siehst du, nun brauchst du nicht mehr Not zu leiden. Komm, wir wollen das Vieh schnell heimtreiben."
Der Schneider und seine Frau trieben das Vieh heim. Sie verkauften es und wurden reiche Leute. Der Schneider baute ein schönes Haus. Es war das schönste in der ganzen Gegend.
Der Ölhändler und der Kornhändler hatten kein Glück. Eines Tages hatten beide ihr ganzes Vermögen verloren und waren außerstande, ihre Frauen weiter zu ernähren. Die beiden Frauen gingen umher und bettelten. Eines Tages kamen die beiden Frauen an dem Haus des Schneiders vorbei, klopften an und baten um etwas Speise. Die jüngste Schwester sah zum Fenster heraus und erkannte sie. Da ging sie herab, führte sie in das Haus, wies ihnen eine gute Kammer an und sagte: "Bleibt hier. Mein Mann und ich werden in Zukunft für euch sorgen. Wir wollen nicht mehr vom Vergangenen reden."
30. Aini
a) Aini, Lehrzeit, Lehrling-"Achfad"Zwei Burschen waren miteinander sehr befreundet, sie wohnten aber nicht in dem gleichen Dorfe, sondern in zwei verschiedenen, die weit voneinander entfernt lagen. Der eine, Ahmar, sagte eines Tages zu dem anderen: "Wir wollen doch nicht mehr so weite Wege machen, wenn einer von uns dem anderen einmal etwas zu sagen hat. Wir wollen in das gleiche Dorf ziehen." Der andere war einverstanden. Als die beiden Burschen heirateten, sagte Ahmar:
"Wenn der eine von uns eine Tochter, der andere aber einen Jungen hat, dann sollen unsere Kinder sich heiraten." Der andere war einverstanden.Als sie nun einige Monate miteinander im gleichen Dorfe gewohnt hatten, war es dem Ahmar leid geworden, daß er mit dem anderen das Abkommen der Verehelichung ihrer Kinder getroffen habe. Als dem anderen nun also einige Zeit darauf ein Sohn, ihm aber ganz kurze Zeit darauf eine Tochter geboren wurde, da sagte er: "Meine Frau hat geboren. Ihr Kind soll Aini heißen. Aini ist ein Junge und kein Mädchen." Darauf ließ der Vater den Aini in Jungenkleidern gehen, so daß alle Welt glaubte, Aini sei ein Junge.
Aini und der Sohn des anderen freundeten sich aber von Kindheit auf an. Der Knabe und Aini trafen sich am Morgen bis zum Abend. Sie spielten zusammen. Sie aßen zusammen. Der Knabe wußte stets, wo Aini war, und Aini wußte stets, wo der Knabe war. Das nahm so seinen Fortgang, bis sie beide begannen heranzuwachsen.
Aini war ein recht großes Mädchen. Der Bursche spielte mit Aini. Eines griff das andere. Der Bursche packte Aini um die Schultern, auf die Brust. Der Bursche sagte: "Aini, weshalb hast du eine so hohe Brust? Aini, sieh, meine Brust ist ganz flach." Aini sagte: "Ich weiß es nicht, laß das!" Eine alte Frau kam vorbei. Sie lachte und sagte zum Burschen: "Dein Freund ist eben ein Mädchen." Aini ging fort. Der Bursche folgte ihr. Aini ging in den Wald. Aini weinte. Aini setzte sich auf einen Baumstamm. Der Bursche setzte sich neben Aini. Sie sprachen miteinander. Sie schworen, sich einander später zu heiraten. Von dem Tage an spielten Aini und der Bursche nicht mehr miteinander. Aini und der Bursche vermieden es, sich in Gegenwart anderer zu treffen. Die Leute sahen das.
Die Leute kamen zu Amis Vater und sagten: "Höre, dein Sohn Aini ist nicht mehr so vergnügt wie früher. Aini drückt sich mit seinem Freunde immer in den Winkeln umher. Die beiden Freunde sind so wie ein Bursch und ein Mädchen, die sich heiraten wollen." Ahmar sagte bei sich: "Hooo! also so geht diese Freundschaft! Da will ich eine Änderung treffen." Und Ahmar nahm Aini in eine Kammer und gab Aini Beschäftigung in der Kammer und erlaubte Aini nicht mehr, das Gehöft zu verlassen. Aini saß nun also immer daheim, und wenn der Bursche, Amis Freund, an das Gehöft klopfte und fragte, ob er Aini nicht sprechen oder sehen könnte, wurde ihm stets gesagt: "Aini ist zu beschäftigt."
Der Bursche ging aber abends um das Gehöft und horchte an den
Mauern, um zu hören, in welcher Kammer Aini lebte. Nach kurzer Zeit wußte er, wo Aini wohnte, und als alle schliefen, warf er Steine in das Fenster. Ein Stein traf Aini. Aini erhob sich, sah zum Fenster heraus und erkannte den Burschen. Aini sprach mit dem Burschen. So sprachen sich Aini und der Bursche viele Tage lang jeden Abend, ohne daß die Eltern Amis es gewahr wurden. Der Bursche sah aber, daß er auf diesem Wege Aini nicht zur Frau gewinnen würde.Eines Abends kam der Bursche wieder an Amis Fenster. Er warf ein Steinchen herein, und Aini kam an das Fenster. Der Bursche sagte: "Aini, ich will heute Abschied nehmen. Ich will von dannen gehen und sehen, ob ich es an einem anderen Orte zu etwas bringen kann, um dich nachher zur Frau gewinnen zu können. Wenn ich etwas Großes bringen kann (soll heißen eine hohe Brautgabe), dann wird dein Vater dich mir geben." Aini sagte: "So glaube ich, wird es werden." Der Bursche sagte: "Ich schwöre aber, daß wenn du stirbst, dann will ich auch sterben, und nun schwöre du mir, daß, wenn ich sterbe, du auch sterben willst. Wir wollen nur eines mit dem andern leben. Willst du mir das schwören ?" Aini schwor. Aini und der Bursche nahmen Abschied.
Der Bursche ging am anderen Tage von dannen. Er ging so seiner Wege dahin; da traf er einen alten Mann. Der alte Mann fragte den Burschen: "Wo gehst du hin?" Der Bursche sagte: "Ich gehe dahin, wo ich Brot finde." Der Alte sagte: "Dann komm mit zu mir. Ich will dein Vater sein. Sei du mein Sohn." Der Bursche war einverstanden. Er zog zu dem älteren Manne. Der alte Mann war sehr freundlich zu ihm. Sprach mit ihm, aß mit ihm, sorgte für ihn. Eines Tages nun aber kam der Alte dazu, wie der Bursche mit den anderen Burschen des Dorfes spielte. Er hörte, wie der Bursche "Aini" rief. (Dieser Ausruf eines Frauen- oder Mädchennamens ist eine Berbersitte. Beim Spiel, bei der Arbeit ruft der Mann oder Bursch den Namen seiner Frau oder seines Mädchens aus, gewissermaßen als Zeichen, unter dem er spielt, arbeitet, kämpft. Es ist der Name seiner "Dame", den er ruft.) Nun hatte der Alte vor einigen Jahren aber wieder geheiratet, und seine junge Frau hieß Aini. Als der Alte nun hörte, daß der Bursche "Aini" rief, glaubte er, damit meine er seine eigene junge Frau.
Da wurde der Alte mißtrauisch. Er war nun nicht mehr freundlich zu dem Burschen und sprach nun überhaupt nicht mehr mit ihm. Er ließ den Burschen seine Wege gehen. Der Bursche sagte bei sich: "Es ist hier nicht mehr wie früher, ich will weitergehen und werde
es an einem anderen Orte versuchen. Vorher will ich aber noch einmal zum Dorfe meines Vaters gehen und sehen, wie es Aini geht."Der Bursche ging zu dem Alten und sagte: "Ich möchte morgen einmal in das Dorf meines Vaters gehen und sehen, wie es da steht." Der Alte sagte: "Ich werde dich begleiten, denn ich will dort Öl einkaufen." Sie machten sich gemeinsam auf den Weg. Als sie nahe dem Dorfe des Burschen waren, kamen sie über den Kirchhof. Sie sahen da ein neu errichtetes Grab. Der Alte fragte einen Hirten, der am Kirchhof seine Herde weidete: "Wer ist hier begraben?" Der Hirt sagte: "Sie haben hier soeben das Mädchen Aini begraben, das gestern gestorben ist."
Der Bursche sagte bei sich: "Nun ist also Aini gestorben und begraben. Nun will ich auch sterben." Der Bursche sagte zudem Alten: "In unserem Lande begraben sie die Toten anders als in eurem. Ich will es dir zeigen. Komm, wir wollen einmal die Steinplatten aufheben." Der Bursche hob die Steinplatten auf. Aini lag tot in der Grube. Der Bursche sagte: "Nun bist du tot, Aini; ich werde aber kommen." Der Bursche legte sich zu der toten Aini in die Grube und sagte zu dem Alten: "Nun decke die Platten wieder über das Grab. Gehe dann hin und kaufe dein Öl ein. Kehre du dann heim zu deiner Aini. Ich aber werde hierbleiben bei meiner Aini." Da deckte der Alte das Grab zu und ging in den Ort, um Öl einzukaufen.
Am Tage, nachdem Aini begraben war, kam Asrain (der Richtengel s. S. 98ff.), um über die verstorbene Aini zu richten. Als er an das Grab Amis kam, fand er aber neben der toten Aini den lebenden Burschen. Da sagte Asrain zu dem Burschen: "Was tust du neben der toten Aini? Du lebst! Mit dir habe ich nichts zu tun. Geh von der toten Aini und aus dem Grabe." Der Bursche sagte: "Es ist mir alles gleich. Aini ist gestorben. Nun will ich auch sterben. Ich bleibe hier im Grabe bei Aini."
Asrain kehrte um und ging zu Gott. Asrain sagte: "Etwas Derartiges ist mir noch nicht vorgekommen. Ich ging hin, um die tote Aini aufzusuchen, und fand neben der toten Aini einen lebenden Burschen, und der Bursche sagte, Aini sei gestorben, nun wolle er auch sterben. Der Bursche will das Grab nicht verlassen." Gott hörte es und sagte zu Asrain und dem Burschen: "Dieser Bursche hatte noch vierzig Jahre zu leben. Wenn er nun hiervon Aini die Hälfte abgeben will, so wird er nur noch zwanzig Jahre leben, aber Aini wird auch noch zwanzig Jahre leben." — Der Bursche lachte im
Grabe. Aini schlug die Augen auf. Aini sah den Burschen neben sich. Aini sagte: "Ich danke dir!"Am anderen Tage kam der Alte vom Ölkaufe zurück. Er sagte, als er in die Nähe des Grabes kam: "Ich möchte doch wissen, ob der Bursche, der sich zu der toten Aini ins Grab gelegt hat, noch lebt, oder ob er auch gestorben ist." Er ging zu dem Grabe, legte sein Ohr an die Platten und horchte. Da hörte er, daß der Bursche mit Aini sprach. Der Alte sagte: "Sie leben beide." Der Alte nahm die Steinplatten auf. Aini und der Bursche lachten. Aini und der Bursche stiegen aus dem Grabe, dankten dem Alten und verabschiedeten sich von ihm. Aini und der Bursche gingen von dannen. —
Der Bursche sagte: "Aini, wir wollen weitab von den anderen Menschen im Walde uns ein Haus bauen und da die zwanzig Jahre, die uns zu leben erlaubt sind, verbringen." Aini war einverstanden. Der Bursche baute im Walde ein Haus, das war stark und fest und hatte sieben Türen, so daß von außen niemand hereinkam, wenn es zugeschlossen war. In dem Hause wohnte der Bursche mit Aini. Tagsüber ging der Bursche auf die Jagd und schloß stets die sieben Türen ab. Aini konnte dann nicht aus dem Hause heraus, und es konnte außer dem Burschen, der den Schlüssel hatte, auch niemand in das Haus herein. Aini saß dann aber am Fenster und blickte in den Wald oder zum Himmel empor.
Eines Tages kamen zwei Jäger, die der Agelith der benachbarten Ortschaft täglich zur Jagd sandte, an dem Hause der Aini vorbei. Sie sahen zum Fenster empor und sahen Aini. Sie blieben stehen und betrachteten Aini. Aini war so schön, daß die Jäger sich von dem Anblick nicht trennen konnten. Sie gingen nicht weiter zur Jagd, sondern blieben bis zum Abend stehen und betrachteten Aini. Erst abends kehrten sie in das Dorf des Agelith zurück. Der Agelith fragte die Jäger: "Weshalb kommt ihr heute ohne Jagdbeute zurück?" Die Jäger sagten: "Wir kamen im Walde an einem Hause vorbei. Eine Frau sah zum Fenster heraus, die war so schön, daß wir uns nicht entfernen konnten, sondern sie immer anschauen mußten. Keiner von uns beiden hätte vorher geglaubt, daß es etwas so Schönes auf der Erde gibt. Auch du, Agelith, hast nie etwas so Schönes gesehen." Der Agelith sagte: "Ich werde morgen mit euch gehen und sehen, ob ihr die Wahrheit gesprochen habt. Dann will ich euch verzeihen, daß ihr heute so lässig wart."
Am anderen Tage ließ der Agelith sich von den Jägern den Weg
zu dem Hause Amis zeigen. Der Agelith kam zum Hause Amis. Aini sah zum Fenster hinaus. Aini sah, daß der Agelith ein sehr schöner Mann war. Der Agelith sah Aini und blieb stumm. Er schaute Aini an und konnte nichts sagen. Er blieb bis zum Abend stehen. Als es Abend war, sagte Aini: "Mein Mann wird sogleich von der Jagd nach Hause zurückkehren. Wenn er dich trifft, wird er dich töten." Der Agelith sagte: "Kann ich dich nicht einmal besuchen ?" Aini sagte: "Mein Mann schließt das Haus jeden Tag mit den Schlössern an den sieben Türen ab; es kann daher niemand hinein. Geh aber, mein Mann wird sogleich kommen." Der Agelith ging.Der Agelith rief am anderen Tage alle Männer seines Dorfes zusammen und sagte: "Grabt mir ein Loch und einen Gang in dieser Richtung." Der Aglith ließ vom Boden seiner Kammer aus einen Gang graben, der bis unter die Kammer Amis unter dem Hause im Walde führte. Als der Bursche eines Morgens in den Wald zur Jagd gegangen war und die sieben Schlösser an den sieben Türen hinter sich abgeschlossen hatte, kam der Agelith durch den Gang und trat in die Kammer Amis. Aini erschrak und fragte: "Weshalb bist du gekommen?" Der Agelith sagte: "Deine schöne Gestalt hat mich hierher geführt." Aini sagte nichts mehr. Aini sah wieder, daß der Agelith ein schöner, starker Mann war. Der Agelith führte Aini zu ihrem Lager. Der Agelith legte sie nieder. Aini sagte nichts. Der Agelith beschlief Aini. Aini sagte nichts. Der Agelith lag ihr mehrmals bei. Aini sagte: "Nun geh, denn mein Mann kommt bald wieder. Schließe Freundschaft mit meinem Manne." Der Agelith ging.
Am anderen Tage begab sich der Agelith auf die Jagd. Der Agelith traf den Burschen und sah ihm eine Weile zu. Dann sagte er: "Du scheinst die Jagd ausgezeichnet zu können."Der Bursche sagte: "Ich verstehe einiges davon." Der Agelith sagte: "Lehre mich die Jagd. Alles was ich so erlege, soll dein sein." Der Bursche jagte mit dem Agelith den Tag über. Sie gewannen viel Beute. Der Agelith gab seinen Anteil dem Burschen. Der Bursche kehrte mit reicher Beute heim. Aini sah, daß ihr Mann mehr Beute heimbrachte als sonst und fragte: "Woher kommt es, daß du heute so großen Erfolg hast?" Der Bursche sagte: "Unterwegs traf ich einen Agelith, mit dem jagte ich. Ich zeigte ihm alles. Da ließ er mir seinen Anteil an der Beute." Aini sagte: "Das ist ein guter Verkehr für dich. Diesen Umgang solltest du pflegen."
Der Bursche traf an einem anderen Tage den Agelith wieder im Walde. Der Agelith sagte: "Wir wollen heute einmal nicht jagen. Komm zu mir in mein Dorf und in mein Haus. Wir wollen zusammen spielen." Der Bursche war einverstanden. Der Agelith führte den Burschen in seine Kammer und spielte mit dem Burschen Jammut (Dame). Der Bursche paßte gut auf. Der Agelith verlor im Anfange des Spiels. Der Agelith verlor weiterhin noch mehr. Der Agelith verlor alles, was er besaß. Es blieb dem Agelith nichts übrig. Der Bursche ging wieder nach Hause.
Als der Bursche am anderen Tage zur Jagd gegangen war, kam der Agelith durch den Gang unter der Erde zu Aini und sagte: "Ich habe gestern mein ganzes Vermögen an deinen Mann im Jammutspiel verloren." Aini sagte: "Ich werde es einrichten, daß du alles wiedergewinnst. Lade dir meinen Mann morgen noch einmal zum Spielen ein." Der Agelith sagte: "So werde ich all das Meine verlieren." Aini sagte: "Das soll meine Sache sein."
Am anderen Morgen traf der Agelith wieder den Burschen im Walde. Der Agelith sagte: "Komm noch einmal mit zu mir. Ich habe noch einiges zum Spielen." Der Bursche sagte: "Warte, ich will nur schnell meine Waffen nach Hause tragen, dann komme ich." Der Bursche ging nach Hause, schloß das Haus auf, ging hinein, hängte die Waffen an den Haken an der Wand und ging. Er schloß die sieben Türen, kehrte zu dem Platze im Walde zurück, an dem er den Agelith zurückgelassen hatte, und sagte: "Ich bin bereit. Wir können zu dir gehen und wieder Jammut spielen." Der Agelith und der Bursche machten sich auf den Weg in das Dorf.
Als der Bursche die sieben Türen von draußen abgeschlossen hatte, um den Agelith im Walde wieder zu treffen, ergriff Aini die Waffen, die der Gatte eben an die Wand gehängt hatte, nahm sie herab und rannte mit ihnen durch den Gang von dannen. Sie kam durch den Gang in die Kammer des Agelith. Sie hängte die Waffen an die Wand, und zwar gerade gegenüber dem Platze, an dem der Gast sitzen mußte, also im Rücken des Platzes des Agelith. Dann lief Aini wieder von dannen.
Nachdem Aini einige Zeit fort war, kam der Agelith mit dem Burschen vom Walde her in seinem Dorfe an. Der Agelith fürte den Burschen in seine Kammer und sagte: "Setze dich nieder, ich werde das Jammut holen." Der Bursche setzte sich. Er sah auf. Er sah zu der Wand, die ihm gegenüber war. Er sagte bei sich: "Das sind doch meine Waffen!" Er sagte bei sich: "Das können ja nicht meine
Waffen sein, denn meine Waffen habe ich eben bei mir zu Hause an die Wand gehängt, und dann habe ich die sieben Türen hinter mir verschlossen. Die Schlüssel habe ich aber bei mir in der Tasche. Es können nicht meine Waffen sein!" Der Agelith kam zurück.Der Agelith sagte: "Hier ist das Jammut. Nun wollen wir spielen." Der Agelith spielte. Der Bursche spielte. Der Bursche dachte aber nicht an das Spiel. Der Bursche dachte: "Das sind doch meine Waffen. Das können nicht meine Sachen sein." Der Bursche spielte schlecht. Der Bursche sah nach der Wand. Er sah nach den Waffen. Der Bursche verlor mehr und mehr. Er dachte immer: "Das sind meine Waffen! Das können nicht meine Sachen sein." Der Bursche verlor alles, was er gestern dem Agelith abgewonnen hatte. Der Bursche stand auf und ging. Er machte sich auf den Heimweg durch den Wald.
Als der Bursche weggegangen war, kam Aini durch den Gang, nahm die Waffen von der Wand und trug sie in ihr Haus, das durch sieben Schlösser an sieben Türen geschlossen war. Aini hing die Waffen zu Hause so an die Wand, wie der Bursche sie hingehängt hatte, ehe er zu dem Agelith zum Spielen ging. Nach einiger Zeit kam der Bursche zu seinem Hause. Er öffnete die sieben Schlösser an den sieben Türen und trat hinein. Er schaute an die Wand, dahin, wo er heute Morgen seine Waffen aufgehängt hatte, und sah, daß sie noch ebenso dort hingen. Der Bursche schlug sich vor die Stirn und sagte: "Ich war ein Narr! Ich war ein Narr!" Aini fragte: "Was hast du, was ist dir? Wo warst du ?" Der Bursche sagte: "Ich war bei dem Agelith und spielte mit ihm Jammut. Es hingen da Waffen an der Wand, die sahen aus wie die meinigen. Da dachte ich immer an die Waffen und nicht an das Spiel. So kam es, daß ich alles, was ich dem Agelith gestern im Spiele abgewonnen habe, heute wieder an ihn verloren habe."
Aini sagte: "Dann mußt du eben morgen noch einmal mit dem Agelith spielen und mußt sehen, ob du das heute Verlorene nicht noch einmal wiedergewinnen kannst. Denke nur morgen nicht an deine Sachen und nicht an mich. Denke immer nur an das Spiel. Dann wirst du schon gewinnen." Der Bursche sagte: "Du hast recht. Ich werde es versuchen." Am andern Morgen ging er in den Wald, dahin, wo er den Agelith traf, und sagte: "Wollen wir heute jagen oder spielen ?" Der Agelith sagte: "Mir ist es gleich." Der Bursche sagte: "Dann wollen wir heute noch einmal spielen.
Warte, ich trage meine Waffen schnell nach Hause und komme dann wieder hierher."Der Bursche lief nach Hause, hing seine Waffen an die Wand, sagte Aini Lebewohl und verschloß, herausgehend, die Türen eine nach der anderen, hinter sich. Dann ging er in den Wald, holte am Treffpunkt seinen Freund, den Agelith, ab und ging mit ihm in sein Dorf und in seine Kammer. Der Agelith sagte: "Setze dich, ich gehe und hole das Jammut." Der Agelith ging. Der Bursche schaute sich im Zimmer um. Es war nichts da, was ihn störte. Der Bursche sagte: "Heute werde ich an nichts anderes denken als an das Spiel. Ich will heute dem Agelith alles Seine abgewinnen."
Der Agelith kam mit dem Jammut. Er setzte sich. Sie begannen zu spielen. Der Bursche dachte nur an das Spiel. Der Bursche gewann. Er hatte schon einen Teil des Besitzes des Agelith wiedergewonnen, als Aini durch den Gang aus ihrem Hause kam. Sie trat in die Kammer, in der der Agelith mit ihrem Manne spielte. Sie setzte schweigend den Tee zwischen beide Männer und ging wieder hinaus. Dann eilte sie durch den Gang wieder in ihr eigenes durch sieben Schlösser an sieben Türen verschlossenes Haus. Der Schatten Amis fiel, als sie den Tee niedersetzte, auf die Hände des Burschen. Er schlug die Augen auf und sah Aini. Er sagte bei sich: "Es ist nicht möglich." Er sagte bei sich: "Es muß Aini gewesen sein." Er blickte auf. Aini war wieder gegangen. Der Bursche dachte: "Das muß Aini gewesen sein. Ich habe sie doch aber in dem Hause mit den sieben Schlössern an den sieben Türen eingeschlossen gehalten. Nein, es kann doch nicht Aini gewesen sein." Der Bursche dachte nicht mehr an das Spiel. Der Agelith begann mehr und mehr zurückzugewinnen. Der Bursche dachte nur noch: "War das Aini, oder war das nicht Aini?" Er dachte nicht mehr an das Spiel. Der Agelith gewann alles Seine zurück. Er begann dem Burschen das abzugewinnen, was diesem gehörte. Der Bursche dachte aber nicht an das Spiel, er dachte nur: "War das Aini, oder war das nicht Aini?" Der Bursche verlor alles, was ihm gehörte. Es blieb ihm nichts mehr, und der Agelith hatte nun nicht nur das Seine gerettet, sondern das Vermögen des Burschen dazugewonnen. Der Bursche ging. Der Bursche lief aus dem Dorfe nach Hause. Der Bursche besah die Schlösser an den sieben Türen. Sie waren alle gut verschlossen. Der Bursche betrat das Haus. Er sah Aini, die auf ihrem Lager ausgestreckt war. Er schlug sich vor die Stirn und sagte: "Du Narr, du Narr, du Narr!"
Aini fragte: "Was hast du? Hast du das Vermögen des Agelith zurückgewonnen?" Der Bursche sagte: "Nein, ich habe es nicht zurückgewonnen. Ich bildete mir ein, dich im Hause des Agelith zu sehen, und ich dachte nur noch, ob du dort sein könntest oder nicht, und so verlor ich nicht nur das, was ich dem Agelith schon wieder abgenommen hatte, sondern ich verlor noch mein ganzes Vermögen dazu." Aini sagte: "So besitzt der Agelith nun dein und sein Vermögen?" Der Bursche sagte: "So ist es." Aini sagte: "Du hast verspielt."
Am anderen Tage ging der Bursche zur Jagd. Kaum war er fortgegangen und hatte die Türen abgeschlossen, so kam der Agelith durch den Gang zu Aini. Aini sagte: "Du hast nun meinem Mann alles abgewonnen und bist nun wohlhabender als früher ?" Der Agelith sagte: "So ist es." Der Agelith sagte zu Aini: "Komm mit mir. Dein Mann hat nun nichts mehr. Komm als meine Frau mit zu mir." Aini ging mit dem Agelith. Der Agelith brachte Aini in sein Haus.
Der Bursche kam am Abend von der Jagd zurück. Er öffnete die Türen und rief: "Aini!" Aini antwortete nicht. Er rief nochmals und nochmals. Der Bursche suchte Aini im ganzen Hause. Er fand Aini nicht. Er setzte sich auf Amis Lager und sagte: "Das hat der Agelith getan. Aini ist zu ihm gegangen." Der Bursche dachte nach. Der Bursche sagte: "Ich habe ihr zwanzig Jahre meines Lebens gegeben. Ich werde sie ihr wieder nehmen."
Der Bursche schloß sich ein. Er blieb vierzig Tage eingeschlossen. Während vierzig Tagen kam er nicht aus seinem Hause. Vierzig Tage lang sah er nicht die Sonne. Vierzig Tage lang aß er nichts und trank er nichts. Nach diesen vierzig Tagen erkannte niemand ihn wieder. Er war ganz mager. Die Augen waren leer. Er ging gebückt. Er sah aus wie ein Toter. Er sah nicht mehr aus wie ein Lebender. Nach vierzig Tagen kam der Bursche aber aus dem Hause. Er öffnete die sieben Türen, trat vor sein Haus und sagte: "Ich werde mir die zwanzig Jahre wiedergeben lassen, und es soll kein Jahr vergehen, ohne daß ich mich nicht sattgegessen hätte an den besten Gerichten, die Gott der Erde gegeben hat. Es scheint so, daß Gott seine besten Gerichte nicht dem Ehrlichen gibt, sondern den Klugen. Da mich Gott aber nicht dumm gemacht hat, sondern klug, so darf ich meinen Löffel so gut in die besten Gerichte stecken wie andere."
Der Bursche sah so elend aus, daß niemand ihn wiedererkannte. Der Bursche kam zu dem Agelith. Der Agelith erkannte ihn auch
nicht wieder. Der Bursche sagte: "Darf ich bei dir arbeiten?" Der Agelith sagte: "Du wirst zu schwach sein zur Arbeit." Der Bursche sagte: "Ich war nur krank. Laß mich nur einige Zeit arbeiten und mich sattessen, dann wird mein Zustand sich ändern." Der Agelith stellte den Burschen an. Der Bursche arbeitete und nährte sich. Nach einiger Zeit sah er schon besser aus.Der Bursche arbeitete einen Monat lang bei dem Agelith. Da sah er frischer und stärker und schöner aus als früher. Alle Frauen und Mädchen sahen ihm nach. Er arbeitete dann noch einen Monat und sättigte sich und ward so schön und stark, daß niemals vorher ein so schöner und starker junger Mann auf der Erde gewesen war.
Die Mutter des Agelith kam zu dem Burschen auf den Acker und sagte: "Mein Bursche, besuche mich heute nacht auf meinem Lager!" Der Bursche sagte: "Ich will das schon ganz gerne tun. Ich fürchte mich nur vor dem Agelith! Dein Sohn wird es merken, und er wird mich töten. Ja, wenn dein Sohn tot wäre, dann könnte ich dich ja überhaupt heiraten." Die Mutter des Agelith sagte: "Dann hätte ich dich für immer." Der Bursche sagte: "Ja, dann hättest du mich für immer." Die Mutter des Agelith sagte: "Ich werde dann meinen Sohn gleich heute abend mit dem Abendessen vergiften. Iß du also von dem Brei nicht!"
Abends saß der Bursche beim Agelith. Das Essen wurde hereingebracht. Der Agelith nahm seinen Löffel und schöpfte aus dem Brei. Der Agelith wollte den Löffel zum Munde führen. Der Bursche hielt seinen Arm fest und sagte: "Warte, iß dies noch nicht. Rufe erst deinen Hund und gib diesen Brocken deinem Hunde." Der Agelith tat es. Der Hund fraß und starb auf der Stelle. Der Agelith erschrak und sagte: "Wie ist das denkbar? Meine Mutter macht doch selbst meine Speisen!" Der Bursche sagte: "Warte, ich habe zuerst gelernt, jetzt lerne du zu zweit. Weißt du, wer ich bin ?" Der Agelith sagte: "Was soll das? Du bist mein Arbeiter." — Der Bursche schüttelte den Kopf.
Der Bursche sagte: "Du irrst dich. Ich bin nicht dein Arbeiter, sondern ich bin dein Lehrer, und außerdem bin ich der Mann der Aini." Der Agelith wollte aufspringen und seine Waffen holen. Der Bursche sagte: "Laß das. Hätte ich mich an dir für den Raub der Aini rächen wollen, so hätte ich dich doch nur die vergiftete Speise, die deine Mutter bereitet hat, um dich zu töten und mich nachher heiraten zu können, essen zu lassen brauchen. Ich habe das aber nicht getan. Ich will mich nicht rächen. Ich will auch deine Mutter
nicht heiraten. Ich will nur die Jahre zurückerstattet haben, die ich Aini geschenkt habe. Ich verlange Aini von dir. Ich will dich aber nicht töten. Du hast nun das gleiche erlebt mit deiner Mutter, was ich mit Aini erlebt habe. Gib mir beide Frauen. Ich will sie verbrennen." —Der Agelith gab dem Burschen Aini. Er gab ihm seine Mutter. Der Bursche entzündete ein großes Feuer. Der Bursche sagte zu Aini: "Ich habe dir, als du gestorben warst, die Hälfte meines Lebens, ich habe dir zwanzig Jahre gegeben. Als Dank dafür bist du von mir gelaufen und zu dem gegangen, der reich und Agelith war, während ich nur noch ein armer Jäger war. Du hast die zwanzig Jahre, die ich dir geschenkt habe, nicht so verwendet, wie wir beide es uns seinerzeit zugeschworen haben. Deshalb verlange ich von dir jetzt die zwanzig Jahre zurück. Das ist alles." Der Bursche verbrannte Aini und die Mutter des Agelith.
Dann ging der Bursche in ein anderes Land.
b) Die Töchter des Agelith - Gesellenübung-,,Lejunu"Der Bursche war sehr schön und stark und klug. Jeder Mann wollte ihn gern in seinen Diensten haben. Er kam in das Land eines Agelith, der überall bekannt war als weiser Richter. Der Bursche war bei dem Agelith einige Tage, als dieser zu ihm sagte: "Ich muß oft hierhin und dorthin, um Streitigkeiten zu regeln. Dann habe ich niemand, der mich hier vertritt. Deshalb frage ich dich, ob du bei mir bleiben und solche Vertretung in meinem Hause übernehmen willst, denn du bist der erste, den ich für klug genug halte, solches Amt zu übernehmen. Überlege es dir bis morgen." Nachdem der Agelith dies gesagt hatte, ging er weg, und der Bursche blieb im Gehöft zurück.
Er ging im Hofe auf und ab und überdachte das, was der Agelith ihm gesagt hatte. Er sagte vor sich hin: "Soll ich bleiben, oder soll ich nicht bleiben?" Zwei Stimmen sagten hinter ihm: "Wenn du nicht ein Tor bist, bleibst du." Der Bursche wandte sich um. Er sah zwei sehr schöne erwachsene Mädchen. Die Mädchen gingen in das Haus. Es waren die Töchter des Agelith. Im Hause lachten sie. Der Bursche sagte bei sich: "Das ist eine schöne Doppelspeise für einen Klugen." Abends kam der Agelith zurück. Der Bursche sagte: "Ich will es mir nicht lange überlegen. Ich habe mich entschlossen, deinen Vorschlag anzunehmen und als dein Stellvertreter hierzubleiben."
Am anderen Morgen verreiste der Agelith schon. Kaum war er weggeritten, so kamen die beiden schönen Töchter des Agelith zum Burschen, lachten und sagten: "Bursche, willst du mit uns wetten? Du bist ein so schöner und starker Mann, daß es für Frauen eine Freude ist, mit dir in Händel zu geraten. Sage also, ob du mit uns wetten willst!" Der Bursche sagte: "Ich bin einverstanden. Sagt mir die Wette." Die beiden schönen Mädchen lachten und sagten: "Wir wollen dir fünfzig Goldstücke geben, wenn du uns zwanzigmal hintereinander schwächen kannst. Du gibst uns fünfzig Goldstücke, wenn du es nicht kannst." Der schöne Bursche lachte und sagte: "Wir wollen keine Zeit verlieren und anfangen." Der Bursche beschlief die beiden Mädchen zwanzigmal. Er schwächte sie auch zwanzigmal. Beim letztenmal versagte aber seine Kraft. Die beiden schönen Mädchen sagten: "Du bist ein schöner und starker Mann, aber die fünfzig Goldstücke bekommst du nicht. Die fünfzig Goldstücke mußt du uns zahlen. Du hast uns allerdings zwanzigmal geschwächt, aber du selbst bist das zwanzigstemal schwach geworden." Der Bursche sagte: "Das ist eine schwierige Sache, die nur ein Richter entscheiden kann. Ich schlage euch vor, daß wir dem Agelith, eurem Vater, die Sache zur Entscheidung vorlegen."
Die beiden schönen Mädchen schrien auf. Sie sagten: "Wo denkst du hin! Unser Vater tötet uns ja, wenn er hört, daß wir so etwas taten. Er zerschlägt uns ja in kleine Stücke, wenn er hört, daß wir dir diese Wette vorgeschlagen haben. Du darfst auf keinen Fall mit unserem Vater darüber sprechen. Lieber schenken wir dir die fünfzig Goldstücke." Der Bursche sagte: "Ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Ich habe nicht vor, eurem Vater zu erzählen, daß wir miteinander diese Sache vorhatten. Ich will überhaupt von solchen Dingen mit ihm nicht sprechen. Aber da hier ein Streit vorliegt und ich mit dem Amte des Richtens in diesem Hause beauftragt bin, so muß ich seine Entscheidung hören."
Die beiden schönen Mädchen ängstigten sich so, daß, als der Vater kam, sie sich im Adaeinin (Viehstall) neben der Wohnkammer versteckten. Der Agelith war noch nicht lange angekommen, da trat auch schon der Bursche ein, begrüßte ihn, setzte sich zu ihm und sagte: "Es waren gestern zwei Leute bei mir, die hatten miteinander eine Wette gemacht und stritten sich nun darum, wer von ihnen sie gewonnen habe. Der eine war der Besitzer eines starken Pferdes. Der hatte fünfzig Goldstücke gewettet, daß sein Pferd zwanzig Bündel Korn zu sich nehmen könne. Der andere war ein Kornhändler,
der hatte fünfzig Goldstücke gewettet, daß das Pferd die zwanzig Bündel Korn nicht zu sich nehmen könne. Dann waren sie an die Ausführung gegangen. Das Pferd fraß neunzehn Maß Korn hintereinander. Das zwanzigste Bündel nahm es in sein Maul. Es zermalmte das Korn im Maul und ließ es dann wieder herausfallen. Der Kornhändler sagte nun, das Pferd habe die zwanzig Maß Korn nicht zu sich genommen und verlangte vom Pferdebesitzer fünfzig Goldstücke. Der Pferdebesitzer sagte, das Pferd habe alle zwanzig Bündel Korn zu sich genommen und damit die Aufgabe erfüllt. Wenn das Pferd nachher das zwanzigste Bündel wieder heraustat, so war das seine Sache. Der Pferdebesitzer verlangte deswegen vom Kornhändler fünfzig Goldstücke." Der Agelith sagte: "Welcher Meinung bist du selbst?" Der Bursche sagte: "Ich meine, der Pferdehändler hat die Wette gewonnen. Denn sein Pferd hat die zwanzig Bündel tatsächlich zu sich genommen. Somit hat der Kornhändler die fünfzig Goldstücke dem Pferdebesitzer zu zahlen." Der Agelith sagte: "Ich hätte gerade so entschieden wie du. Ich sehe, du hast die gleiche Auffassung von Recht und Unrecht wie ich, und du hast ein scharfes Urteil. Ich freue mich, daß du so weise bist, und werde meine nächste Reise um so ruhiger antreten."Am Abend kamen die beiden schönen Mädchen in die Kammer des Burschen und gaben die fünfzig Goldstücke ab. Sie lachten ganz leise und sagten ganz leise: "Wir danken dir. Der Verlust der fünfzig Goldstücke schmerzt uns nicht, da du uns reichlich gegeben hast. Wir wollen aber, sobald der Vater wieder verreist, eine andere Wette mit dir versuchen, die wir gewinnen wollen."
Einige Tage später verreiste der Agelith abermals. Sobald er fortgeritten war, kamen die beiden schönen Töchter des Agelith zu ihm und sagten: "Bursche, du bist so klug, so schön und so stark, daß wir dich bitten müssen, dich nochmals in Händel mit uns einzulassen. Willst du noch einmal mit uns eine Wette eingehen?" Der Bursche sagte: "Ja, ich bin dazu bereit. Was wünscht ihr?" Die beiden schönen Mädchen lachten und sagten: "Wir beide wollen uns ganz nackt ausziehen. Du sollst dann vom Abend bis Mitternacht hinter uns herlaufen, uns fangen und uns auf unser Lager werfen. Wenn es dir gelingt, dieses Spiel von Abend bis Mitternacht mit uns zu treiben, ohne auf uns zu fallen und uns zu schwächen, so wollen wir dir fünfzig Goldstücke auszahlen. Wenn du aber dabei auf uns fällst und dich nicht enthalten kannst, uns zu schwächen, dann sollst du uns fünfzig Goldstücke auszahlen." Der Bursche
sagte: "Ich gehe darauf ein. Ich sage euch aber vorher, daß ihr eure fünfzig Goldstücke verlieren werdet." Die beiden Mädchen lachten und sagten: "Das verschmerzen wir, wenn du nur nach Mitternacht noch bei uns bleibst und dann bei uns schlafen willst."Als es Abend war, zogen die beiden schönen Mädchen sich nackt aus. Der Bursche ging aber in seine Kammer und band sich das Glied am Beine mit einem Tuche fest. Nach einiger Zeit kamen die nackten Mädchen und zupften den Burschen. Der Bursche sprang auf, lief hinter ihnen her, fing die, trug sie zu ihrem Lager und warf sie auf ihr Lager hin. Er drückte sie nieder, stand dann, ohne ihnen sonst etwas anzutun, auf und ließ auch sie aufspringen. Die Mädchen liefen fort, ließen sich wieder fangen und hinwerfen und niederdrücken. Das ging eine lange Zeit so, und die Mädchen erreichten das, was sie beabsichtigten, nicht. Einmal, nicht lange vor Mitternacht, fühlten aber die Mädchen, daß der Bursche sich das Glied festgebunden hatte. Da knoteten sie, während er sie auf das Lager rollte, ihm das Tuch ab. Als nun das Glied des Burschen frei war, mäßigte er sich nicht mehr, sondern er fiel auf sie und begann sie alle beide, noch ehe es Mitternacht war, zu schwächen.
Die Mädchen lachten und sagten: "Wir sind sehr zufrieden. Fahre so fort. Denn nun haben wir das, was wir wünschen, und die fünfzig Goldstücke mußt du uns auch zahlen." Der Bursche sagte: "Ihr seht, ich bin euch gerne zu Willen, denn ihr seid ein paar schöne Mädchen. Die fünfzig Goldstücke habt ihr mir aber zu zahlen, denn ihr habt mir mein Tuch abgebunden, und deshalb habe ich das Recht auf meiner Seite. Wenn ihr mir nicht zustimmen könnt und die fünfzig Goldstücke nicht gutwillig zahlen wollt, werde ich, wie das vorige Mal, den Agelith um seine Meinung befragen." Die Mädchen lachten und sagten: "Nein, wir wollen dir die fünfzig Goldstücke nicht zahlen, wir verlangen vielmehr von dir die fünfzig Goldstücke. Wenn du es so geschickt anfängst, sind wir damit einverstanden, daß du den Agelith, unseren Vater, um die Entscheidung angehst, und wir werden uns, wie das vorige Mal, seinem Richterspruche fügen. Jetzt bleibe aber noch bei uns."
Am anderen Morgen kam der Agelith von ,seiner Reise zurück. Die beiden Mädchen versteckten sich im Adaeinin, und der Agelith kam alsbald in seine Kammer. Der Bursche suchte den Agelith in seiner Kammer auf und sagte: "Während deiner Abwesenheit waren der Pferdebesitzer und der Kornhändler wieder hier und haben in einer schwierigen Streitfrage eine Entscheidung verlangt.
Sie hatten wieder miteinander gewettet. Der Pferdehändler sollte sein Pferd an eine bestimmte Stelle stellen, und der Kornhändler wollte zwei Kübel voll Korn, einen zur Rechten und einen zur Linken des Pferdekopfes hinstellen. Das Pferd sollte so vom Morgen bis zum Mittag stehen. Der Pferdebesitzer verpflichtete sich, dem Kornhändler fünfzig Goldstücke zu zahlen, wenn das Pferd das Korn in den beiden Kübeln vor Mittag anrühre. Der Pferdebesitzer verpflichtete sich, dem Kornhändler fünfzig Goldstücke zu zahlen, wenn das Pferd, nachdem es einmal hingestellt war, bis zum Mittag das Korn nicht fresse. Die Wette sagte beiden zu. Der Kornhändler band das Pferd mit einem Strick an der bezeichneten Stelle fest. Der Kornhändler stellte rechts und links von dem Kopfe des Pferdes je einen Kübel mit Korn hin. Das Pferd stand lange so da und rührte das Korn nicht an. Als es nahe bis Mittag war, schlich der Kornhändler aber hin und schnitt heimlich den Strick, an dem das Pferd angebunden war, durch. Das Pferd lief nun frei umher. Es sprang auf den einen Kübel mit Korn und fraß ihn leer, und es sprang auf den anderen Kübel und fraß ihn leer, gerade, als es Mittag war. Nun verlangte der Kornhändler fünfzig Goldstücke, weil das Pferd das Korn nicht nur berührt, sondern auch aufgefressen hatte, und der Pferdebesitzer verlangte fünfzig Goldstücke, weil der Kornhändler den Strick heimlich durchgeschnitten und so die Sache verwirrt hatte." Der Agelith sagte: "Sage mir, wie du die Sache als mein Stellvertreter entschieden hast!" Der Bursche sagte: "Ich habe gesagt, der Kornhändler hatte nicht das Recht, noch kurz vor Mittag, nachdem das Pferd so lange, ohne das Korn zu berühren, dagestanden hatte, die Schnur durchzuschneiden. Denn der Pferdebesitzer hatte sein Tier gelehrt, derart still zu verharren, solange es am Kopfe angegebunden war. Indem der Kornhändler die Schnur durchschnitt, raubte er dem Pferdehändler den Einfluß auf sein Pferd und nahm dem Pferde den Verstand. Deshalb hat der Kornhändler dem Pferdebesitzer die fünfzig Goldstücke zu zahlen." Der Agelith sagte: "Du hast sehr klug entschieden. Ich hätte nicht besser entscheiden können. Ich freue mich darüber, daß du mich während meiner Abwesenheit so gut vertrittst."Als es Abend war, kamen die beiden schönen Töchter des Agelith in die Kammer des Burschen, lachten leise und sagten leise: "Hier sind die fünfzig Goldstücke. Wir danken dir. Wir wollen noch etwas bei dir bleiben."
Nach einiger Zeit waren die beiden schönen Mädchen des Agelith
schwanger. Trotzdem hörten sie nicht auf, den Burschen zu besuchen. Der Bursche sagte eines Tages bei sich: "Diese Übung will ich nun beenden. Sie nimmt mir zuviel Kraft. Die Speise ist sehr gut für einen Klugen, aber ehrlich ist sie nicht. An dieser Sache habe ich gelernt, daß die besten Sachen zwar für die Klugen sind, daß sie aber auf die Zeit doch nur bekommen, wenn sie zu einem rechtlichen Genuß führen. Ich habe nicht vor, mir hier den Magen zu verderben."Der Bursche packte eines Nachts, nachdem die beiden schönen Mädchen des Agelith ihn über Gebühr lang in Anspruch genommen hatten, seine Sachen und ging, ohne Abschied zu nehmen, von dannen.
c) Die Frau des Kaffeewirtes - Meisterschaft-"Sanang"Der Bursche wanderte hinfort und kam weit hinein in das Land. Er fragte überall nach der Art der Menschen und nach der Art der Frauen. Als er in eine andere Gegend kam, hörte er von der Tochter eines Agelith, die besonders schön und klug sein sollte. Alle Leute, die von ihr sprachen, erzählten, daß ihr Vater ihr ein eigenes Haus geschenkt habe, in welchem sie wohne. Sie erzählten, daß dieses Mädchen außerordentlich klug sei und zugesagt habe, sie wolle es an Klugheit mit allen Männern aufnehmen. Die Leute erzählten, dies Mädchen habe sich bereit erklärt, irgendeinen Mann zu heiraten, sie wolle ihn aber nur behalten, wenn er ihr an Klugheit überlegen sei. Die Leute erzählten nicht, daß das Mädchen inzwischen einen Kaffeewirt zum Manne genommen hatte, denn die Leute wußten das nicht. Die Leute erzählten nicht, daß das Mädchen dem Kaffeewirt gesagt habe, daß sie ihn nur nähme, um zu sehen, was an einem Manne daran sei, daß sie ihn aber wieder aus ihrem Hause und der Ehegemeinschaft herausweisen würde, wenn ein Mann käme, der sich als klüger und tapferer als er, der Kaffeewirt, und sie, die Tochter des Agelith, erwiese. Die Leute erzählten es nicht, denn die Leute wußten es nicht. Sie erzählten dem Burschen nur immer von der Klugheit und Schönheit der Tochter des Agelith. Der Bursche sagte: "Diese Tochter des Agelith ist anscheinend die Frau, die ich suche." Der Bursche machte sich wieder auf den Weg und begab sich in den Ort, in dem die kluge Tochter des Agelith wohnen sollte.
Der Bursche kam in den Ort. Der Bursche legte seine Sachen bei einem Kaffeewirt nieder. Der Bursche wußte nicht, daß dieser
Kaffeewirt gerade derjenige war, den die kluge Agelithtochter ausgewählt hatte, um kennenzulernen, was an einem Manne daran sei. Der Bursche lebte nun in dem Kaffeehause und unternahm nichts. Der Bursche sagte: "Ich will nichts fragen und nichts tun. Es wird alles ganz allein so gehen, wie es gehen muß. Ich werde warten, bis man mir den Weg zu meiner zukünftigen Frau zeigt."Einen Monat lang war der Bursche in dem Kaffeehause. Er tat nichts und sagte wenig. Der Kaffeewirt sagte bei sich: "Ich muß herausbekommen, was dieser Bursche hier will. Ich will das wissen, denn die Leute fragen mich danach, und ich kann ihnen keinen Bescheid geben." Der Kaffeewirt kam eines Tages zu dem Burschen, begrüßte ihn, setzte sich zu ihm und sagte: "Du bist nun schon einen Monat lang hier bei mir." Der Bursche sagte: "So ist es. Ich hoffe, daß ich immer mein Lager, mein Essen und mein Getränk bezahlt habe." Der Kaffeewirt sagte: "Gewiß hast du stets alles bezahlt. Du mußt wohlhabend sein, daß du stets alles immer bezahlen kannst, ohne einen Verdienst zu haben. Denn anscheinend arbeitest du nicht.' Der Bursche sagte: "Nein, ich arbeite nicht. Gott hat mich so klug, so schön und so stark gemacht, daß mir immer das, was ich brauche, zuteil wird." Der Kaffeewirt sagte: "Glaubst du, daß du hier am Orte auch alles bekommen wirst, was du brauchst?" Der Bursche sagte: "Das glaube ich, wenn es hier nämlich kluge Frauen gibt. Ich glaube aber nicht, daß es hier kluge Frauen gibt." Der Kaffeewirt sagte: "Du irrst dich sehr. Es gibt hier sogar sehr kluge Frauen. Ja, man sagt, in diesem Orte gäbe es die klügste Frau des ganzen Landes. Dort drüben in jenem Hause lebt z. B. eine junge Frau, die Tochter unseres Agelith, die ist klüger als alle Frauen. Sie hat sich vor einiger Zeit einen Mann genommen, der tagsüber beschäftigt ist. Damit, sie nun ganz sicher ist, daß in der Zeit seiner Abwesenheit kein Mann zu ihr eindringen kann, hat sie ihr Haus mit sieben Türen verschlossen und nur einen Schlüssel machen lassen, den hat sie ihrem Manne gegeben, der ihn nun immer bei sich trägt. Die kluge Frau hat nun ihrem Manne geschworen, daß nur der in das Haus hineinkommen dürfe und von ihr empfangen würde, der den Schlüssel hat, der zu den sieben Schlössern paßt. Sie empfängt nicht einmal mehr ihre eigenen Verwandten. Diese Frau ist sehr klug."
Der Bursche sagte bei sich: "Das Mädchen des Agelith hat also einen Mann genommen. Sie hat gesagt, daß sie nur den empfängt, der den Schlüssel zu ihrem Hause hat. Ich werde mir den Schlüssel
zu ihrem Hause machen lassen. Ich werde zu ihr gehen und werde sehen, ob sie wirklich so klug ist, wie alle Leute sagen. Wenn sie so klug ist, dann werde ich ihr zeigen, daß ich ihr und ihrem Manne an Klugheit überlegen bin, und ich werde sie dann heiraten. Ihr Haus hat der Kaffeewirt mir ja nun gezeigt." Als es Abend war, ging der Bursche zu dem Hause der Tochter des Agelith. Er nahm einen Klumpen Wachs mit sich und drückte auf einen Teil des Wachses die Form der Öffnung der Schlösser ab. Dann drückte er einen zweiten Teil Wachs innen in das Schloß. Der Bursche ging wieder heim. Als es Nacht war, ging der Kaffeewirt hinüber zu dem Hause seiner Frau. Er steckte einen Schlüssel in die Öffnung und öffnete. Als er den Schlüssel wieder herauszog, fand er, daß sich eine Wachsschicht in die Zacken gedrückt hatte. Der Kaffeewirt sagte: "Wie kommt denn das Wachs in meine Tasche und an meinen Schlüssel?" Er dachte aber nicht weiter darüber nach, sondern zog die Wachsschicht vom Schlüssel und warf sie auf die Straße. Dann ging er durch die anderen Türen zu seiner Frau hinein und verließ das Haus am anderen Morgen, nachdem er die Türen wohl verschlossen hatte.Der Bursche ging aber nachts hin, suchte die Wachsschicht, die der Kaffeewirt weggeworfen hatte, auf und nahm sie mit nach Hause. Am Tage ging er zu einem Schmiede und ließ sich nach dem Wachsabdruck des Kaffeewirtes die Zapfen schmieden. Danach ging er in die Farmen vor dem Orte, schnitt sich ein gutes Stück Holz und schnitzte daraus nach dem selbstgenommenen Wachsabdruck das Schlüsselholz und setzte die Zapfen ein. Gegen Abend ging er zu dem Hause der klugen Tochter des Agelith, versuchte seinen Schlüssel und fand, daß er paßte.
Der Bursche öffnete die sieben Türen und schloß sie. Der Bursche trat in die Kammer der Tochter des Agelith. Die Tochter des Agelith kam ihm entgegen und fragte: "Wie bist du hereingekommen ?" Der Bursche sagte: "Alle Leute haben mir gesagt, daß du klug bist. Die Leute haben mir gesagt, daß du nur den empfängst, der den Schlüssel zu deinen Türen hat. Hier ist der Schlüssel." Die junge Frau besah den Schlüssel und sagte: "Es ist nicht der Schlüssel meines Mannes." Der Bursche sagte: "Den Schlüssel deines Mannes zu nehmen, wäre sehr einfach; man brauchte ihn nur totzuschlagen und ihm nur den Schlüssel wegzunehmen. Die Leute erzählten mir, du habest gesagt: Du wollest als Gatten den behalten, der klug ist. Also mußte ich mit der Herstellung eines eigenen Schlüssels den
ersten Beweis meiner Klugheit erbringen." Die Tochter des Agelith gab ihm den Schlüssel wieder und sagte: "Setze dich!" Der Bursche setzte sich.Der Bursche betrachtete die Tochter des Agelith. Sie war sehr schön und stark. Die Tochter des Agelith betrachtete den Burschen. Er war sehr schön und stark. Die Tochter des Agelith sagte: "Was willst du von mir?" Der Bursche sagte: "Erst will ich bei dir schlafen. Dann will ich sehen, ob es gut sein wird, wenn wir einander heiraten." Die Tochter des Agelith sagte: "Mein Mann wird aber nachher kommen." Der Bursche sagte: "Die Zeit bis dahin können wir nutzen. Wenn er kommt, rollst du mich in eine Matte ein und läßt mich aufgerollt in der Ecke liegen. Ich werde in der Matte sehr gut schlafen, und er scheint mir, da er nicht merkte, wie ich das Schlüsselwachs eingedrückt habe, zu dumm zu sein, um auf mich zu achten." Die Tochter des Agelith lachte. Der Bursche trat zu ihr und sagte: "Du bist schön." Die Tochter des Agelith sagte: "Du bist schön und stark und klug." Sie schliefen beieinander. Die Tochter des Agelith sagte: "Beweise mir deine Klugheit. O, wärest du doch so klug, wie ich es wünschte. Wärest du doch der klügste und tapferste aller Menschen!" Der Bursche lachte. Die Tochter des Agelith lachte.
Sie schliefen beieinander, bis der Mann der Tochter des Agelith die Türen öffnete. Da ließ der Bursche sich in die Matte wickeln und in die Ecke rollen. Dort schlief er sogleich ein. Der Kaffeewirt kam herein und wollte sich neben seine Frau legen. Die Tochter des Agelith sagte: "Du schläfst heute nicht bei mir. Du wirst in diesen Tagen deine ganze Klugheit nötig haben, und da darfst du dich nicht schwächen. Vergiß nicht die Bedingungen, unter denen ich dich zum Manne genommen habe." Der Kaffeewirt sagte: "Ich verstehe dich nicht." Dann ging er auf sein Lager und streckte sich aus. Als es Morgen war, erhob er sich und verließ ärgerlich sein Haus. Als er in seinem Kaffeehaus angekommen war, sagte er ärgerlich: "Was mag meine Frau nur wollen? Was mag meine Frau nur meinen? Wozu soll ich denn meine ganze Klugheit notwendig haben ?"
Einige Zeit, nachdem der Kaffeewirt das Haus verlassen hatte, erwachte der Bursche, steckte seinen Kopf ein wenig zur Matte heraus, sah, daß das Lager des Ehemannes verlassen und die Tochter des Agelith allein war, rollte sich aus seiner Matte aus und kam hervor. Die Tochter des Agelith sagte: "Hast du meinen Mann gesehen?"
Der Bursche sagte: "Nein, dazu hatte ich keine Zeit. Ich habe geschlafen." Die Tochter des Agelith sagte: "Komm und plaudere mit mir!" Sie sagte dem Burschen aber nicht, wer ihr Gatte war.Der Bursche kam erst gegen Mittag in sein Kaffeehaus zurück. Der Kaffeewirt war gewöhnt, daß der Bursche stets da war. Der Kaffeewirt fragte: "Was hast du heute nacht gemacht? Du hast in dieser Nacht nicht dein Lager berührt und kamst erst gegen Mittag nach Hause. Du warst sicherlich bei einem schönen Mädchen!" Der Bursche sagte: "Nein, ich war nicht bei einem schönen Mädchen. Ich war bei einer schönen Frau. Ich habe dir doch gesagt, daß ich das, was ich brauche, immer von klugen Frauen erhalte, und du hast doch gesagt, daß die Tochter des Agelith, die dies Haus da drüben bewohnt, klug ist. Da habe ich denn eben sogleich die gestrige Nacht bei der klugen Frau zugebracht." Der Kaffeewirt sagte: "So hast du da drüben bei der klugen Frau geschlafen?" Der Bursche sagte: "Natürlich!" Der Kaffeewirt sagte: "Wie bist du denn hereingekommen?" Der Bursche sagte: "Du hattest mir doch gesagt, daß die kluge Frau nur den empfängt, der den Schlüssel hat. Da habe ich mir von dem Manne der Frau eben einen Abdruck in Wachs machen lassen, indem ich Wachs in das Schlüsselloch steckte, das der Mann, der ein wahrer Esel (arriul; Plur.: iriel; Fern.: tariult) sein muß, denn auch abdrückte und auf die Straße legte. Ich habe mir nach dem Wachsabdruck den Schlüssel gemacht. Ich bin hierauf gestern abend an das Haus gegangen, habe die sieben Türen aufgemacht und habe dann bei der Frau geschlafen. Es ist eine sehr schöne und kluge Frau. Als der Ehemann kam, habe ich mich von der Frau in die Fußmatte wickeln und in die Ecke rollen lassen. Als der Mann endlich heute morgen seine Frau verließ, bin ich aufgewacht, habe mit der Frau noch eine Zeitlang geplaudert und bin dann wieder hierher zurückgekehrt. Du hast ganz recht, es ist eine sehr kluge und sehr schöne Frau. Ich wiederhole dir aber, daß der Mann in Wahrheit ein Esel sein muß." Der Kaffeewirt sagte: "So hat die kluge Frau dir nicht gesagt, wer ihr Mann ist?" Der Bursche sagte: "Nein, das hat sie nicht gesagt. Weshalb sollte sie mir das auch sagen ?" Der Kaffeewirt sagte: "So hast du auch die kluge Frau nicht gefragt, wer ihr Gatte ist?" Der Bursche sagte: "Nein, wie soll ich dazu kommen, danach zu fragen? Es wäre der klugen Frau doch nur unangenehm gewesen, mit mir über den dummen Gatten zu reden, und mich geht er doch gar nichts an." Der Kaffeewirt sagte: "Was sagst du? Der Mann der Frau,
mit der du schläfst, geht dich nichts an ?" Der Bursche sagte: "Nein, der geht mich nichts an. Das ist Sache der Frau. Der Mann wird es schon früh genug merken, wenn ich seine Frau heirate." Der Kaffeewirt sagte: "Was sagst du? Du willst diese Frau heiraten ?" Der Bursche sagte: "Ich denke, ja. Ich habe mich aber noch nicht fest entschlossen." Der Kaffeewirt sagte: "So wirst du diese Nacht wieder zu der klugen Frau gehen, um mit ihr zu schlafen?" Der Bursche sagte: "Natürlich werde ich gehen." Der Kaffeewirt sagte: "Versäume es ja nicht, heute nacht wieder zu der Tochter des Agelith zu gehen. Die Gelegenheit, bei einer so klugen und schönen Frau zu schlafen, ist sehr selten." Der Bursche sagte: "Da hast du sehr recht. Ich danke dir jedenfalls dafür, daß du mich auf sie aufmerksam gemacht hast." Der Kaffeewirt ging hinaus, schlug sich vor den Kopf. Dann ging er in seine Kammer, nahm einen Säbel hervor und schliff ihn. Er schliff den Säbel und sagte dabei immer vor sich hin: "Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Warte, Bursche, heute nacht werde ich dich treffen, und dann wird der wahre Esel dich lehren, seine Frau zu heiraten."Als es gegen Abend war, ging der Bursche hinüber zum Hause der klugen Tochter des Agelith. Er verschloß die sieben Türen wieder hinter sich und suchte die kluge Frau auf. Die Frau fragte ihn: "Hast du jemand erzählt, daß du vorige Nacht bei mir geschlafen hast ?" Der Bursche sagte: "Ja, ich habe es dem erzählt, der es am schnellsten zu Ohren deines Mannes bringen wird, damit der möglichst bald beginnt, sich mit mir zu messen." Die Frau sagte: "Wem hast du es denn erzählt ?" Der Bursche sagte: "Ich habe es meinem Freunde, dem törichten Kaffeewirt, erzählt." Die Frau sagte: "Wem hast du es erzählt?" Der Bursche sagte: "Meinem Freunde, dem Kaffeewirt. Wer sollte mir sonst bequemer gekommen sein?" Die kluge Frau lachte, sie lachte und lachte. Der Bursche sah sie an und sagte: "Dann ist also der Kaffeewirt dein Mann? Das ist bedauerlich." Die Frau lachte und sagte dann: "Weshalb ist es denn bedauerlich?" Der Bursche sagte: "Weil ich es lieber mit einem Klügeren aufgenommen hätte." Die Frau sagte: "Komm, setze dich zu mir." Der Bursche blieb bei der klugen und schönen Frau, bis draußen der Kaffeewirt den Schlüssel in das Schlüsselloch der äußersten Tür steckte. Der Bursche hörte es und sagte: "Rolle die Matte zusammen, wie gestern, ich werde in die Holztruhe kriechen. Sie ist lang genug. Ich werde gut darin liegen und schlafen."
Der Kaffeewirt trat bei seiner Frau ein. Er hatte den Säbel mitgebracht. Er legte ihn nieder und wollte sich neben seiner Frau auf dem Lager ausstrecken. Seine Frau, die kluge Tochter des Agelith, sagte ihm: "Du schläfst heute und auch die nächsten Tage nicht bei mir. Du wirst in diesen Tagen deine ganze Klugheit notwendig haben, und da darfst du dich nicht schwächen. Ich erinnere dich noch einmal daran. Vergiß nicht die Bedingungen, unter denen ich dich geheiratet habe." Der Kaffeewirt konnte seine Wut nicht beherrschen. Er ergriff den Säbel mit beiden Händen und begann mit aller Gewalt auf die in der Ecke liegende Matte einzuschlagen. Er zerschlug die Matte mit dem Säbel in ganz kleine Streifen und Stücke und sagte dabei immer vor sich hin: "Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Warte, Bursche, jetzt habe ich dich aber erwischt, und jetzt wird dich der wahre Esel lehren, seine Frau heiraten zu wollen." Nachdem die Matte vollkommen zerfetzt und zerhackt und der Säbel stumpf geschlagen war, legte der Kaffeewirt sich nieder, schlief bis zum anderen Morgen und ging dann wieder hinüber in seine Kaffeewirtschaft.
Als es gegen Mittag war, kam auch der Bursche in die Kaffeewirtschaft. Der Kaffeewirt sah ihn erstaunt an und sagte: "Bursche, wo kommst du denn her?" Der Bursche sagte: "Ich? Wo ich herkomme? Das weißt du doch! Ich habe dir doch gestern gesagt, ich wollte wieder zu der klugen, schönen Frau gehen!" Der Kaffeewirt sagte: "Und du warst wieder da und hast wieder bei ihr geschlafen ?" Der Bursche sagte: "Gewiß, ich habe auch ein großes Vergnügen gehabt. Als es spät war, kam der Mann der Frau und wollte sich neben ihr auf dem Lager ausstrecken. Seine Frau verbot es ihm aber für diesen und die nächsten Tage; sie sagte ihm, er dürfe seine Klugheit nicht schwächen und erinnerte ihn an die Bedingungen, unter denen er sie geheiratet hatte. Da packte den Mann, der in Wahrheit ein selten törichter Esel sein muß, eine unbeschreibliche Wut. Er ging auf die Matte, die von voriger Nacht her noch aufgerollt in der Ecke lag, los. Er dachte wahrscheinlich, ich würde zwei Nächte hintereinander an der gleichen Stelle liegen, und zerhackte sie mit seinem Säbel kurz und klein. Dabei sagte er immer: ,Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! — Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Der Mann muß in Wahrheit ein Esel sein! Warte, Bursche, jetzt habe ich dich aber erwischt, und jetzt
wird der wahre Esel dich lehren, seine Frau heiraten zu wollen.' Nachdem der Mann die Matte und den Säbel zerschlagen hatte, legte er sich nieder. Es war sehr gut, daß er sich niederlegte, denn ich lag derweilen in der langen Truhe, die neben der Matte steht, und es wurde mir sehr schwer, mir das Lachen zu verhalten. Der Druck, der mir durch das Verhalten des Lachens entstand, war zuletzt so groß, daß mir fast etwas Unanständiges passiert wäre, und daß ich beinahe die Truhe angewässert hätte. —Aber, sage selbst, Freund Kaffeewirt, ist dies nicht ein sehr schönes Erlebnis?" Der Kaffeewirt sagte: "Gewiß! Ein sehr schönes Ereignis! Sehr schön! Aber sage mir doch, mein Freund, wirst du heute nacht nicht wieder zu der schönen und klugen Frau gehen, um bei ihr zu schlafen?" Der Bursche sagte: "Gewiß werde ich das tun. Du hast mir als erfahrener Mann doch selbst gesagt, die Gelegenheit bei einer so klugen und schönen Frau zu schlafen, sei selten! Außerdem gedenke ich die Frau ja zu heiraten, und ich will nun sehen, ob ich auf die Dauer auch gut mit ihr auskomme und ob ich ihr an Klugheit auch gewachsen bin. Denn sie will ja einen klugen Mann heiraten. Der jetzige scheint ihr ja viel zu dumm zu sein!" Der Kaffeewirt sagte: "Hat die Frau das etwa gesagt?" Der Bursche sagte: "Was denkst du? Ich werde der armen Frau doch nicht das Herz schwer machen, indem ich mit ihr über die Dummheit des Mannes rede, mit dem sie zur Zeit noch verheiratet ist!" Der Kaffeewirt sagte: "Wie denkst du denn aber, daß es mit diesem jetzigen Manne der Tochter des Agelith werden soll? Wie denkst du denn den Mann wegzuräumen, damit du seine Frau heiraten kannst?" Der Bursche sagte: "Weshalb soll ich den Mann wegräumen? Der Mann ist so töricht, daß er sich zweifellos selbst beseitigen wird." Der Kaffeewirt sagte nichts. Er rannte hinaus. Er schlug sich vor die Stirn und brüllte vor Zorn. Er nahm ein Beil und schlug auf einen Holzblock ein, bis er in ganz kleine Splitter gehackt war. Dann nahm er das Beil, trug es zum Schmiede und sagte auf dem Wege immer vor sich hin: "Ist das nicht ein sehr schönes Erlebnis? Ist das nicht ein sehr schönes Erlebnis? Ist das nicht ein sehr schönes Erlebnis? — Und der Mann ist so töricht, daß er sich sicherlich selbst beseitigen wird." Beim Schmiede angekommen, gab er den Auftrag, das Beil sehr scharf zu schmieden und zu schärfen. Er blieb daneben hocken und sah der Arbeit zu. Dabei sagte er immer vor sich hin: "Ein sehr schönes Erlebnis. Ein sehr schönes Erlebnis. Ein sehr schönes Erlebnis!" Er ging nach Hause und verrichtete zu Hause seine Arbeit. Er sagte aber immer vor sich hin: "Ein sehr schönes Erlebnis! Ein sehr schönes Erlebnis! Ein sehr schönes Erlebnis!"Als es Abend war, ging der Bursche wieder hinüber zu dem Hause der klugen Tochter des Agelith, öffnete, schloß hinter sich die sieben Türen und suchte die Frau in ihrer Kammer auf. Die Frau fragte: "Wie geht es meinem Manne?" Der Bursche sagte: "Ich habe ihm alles erzählt, was sich vorige Nacht hier ereignet hat, ohne ihm zu sagen, daß ich weiß, daß er dein Mann ist. Er ist nun schon so weit, daß nur noch ein Tag nötig ist, ihn selbst der Sache ein Ende bereiten zu lassen." Die Frau sagte: "Wie willst du der Sache ein Ende machen?" Der Bursche sagte: "Ich habe dabei nichts zu wollen. Das wird der Mann ganz allein tun. Er ist von der Art der Fliegen, die sich selbst totstechen, wenn ihr Zorn zu groß wird."
Die Frau sagte: "Er wird heute das ganze Haus nach dir absuchen. Ich weiß aber ein gutes Versteck. Setze dich nachher, wenn er kommt, in den großen Brutkasten der Tauben und halte in jeder Hand eine Taube an den Beinen fest. Wenn er den Deckel hochhebt, läßt du die Tauben fliegen, dann wird er sicher sagen, daß, wenn heute schon jemand den Kasten geöffnet hätte, keine Tauben mehr darin sein können, und wird ihn wieder schließen. — Nun komm aber noch zu mir und plaudere mit mir."
Der Bursche unterhielt sich mit der jungen Frau bis in vorgeschrittener Nacht. Endlich hörten sie, daß der Kaffeewirt draußen den Schlüssel in das Schlüsselloch der äußersten Tür stecke. Dann gab die junge Frau dem Burschen die beiden Tauben in die Hand und hieß ihn in die Taubenbrutkiste steigen, die sie über ihm schloß. Die junge Frau streckte sich auf dem Lager aus. Der Kaffeewirt trat mit dem Beil in der Hand herein. Er ging sogleich auf die große Truhe zu und zertrümmerte sie mit einem Schlage. Er zerschlug die großen Urnen. Er schlug gegen die Wand. Er schlug auf den Boden. Er zerschlug die Axt. Er ging überall umher und suchte nach dem Burschen. Dabei sagte er immer vor sich hin: "Ein sehr schönes Erlebnis! Ein sehr schönes Erlebnis! Ein sehr schönes Erlebnis!" Er sagte: "Vielleicht ist er in der Taubennistkiste versteckt." Er ging darauf zu. Er öffnete den Deckel. Die beiden Tauben flogen hinaus und ihm ins Gesicht. Er ließ den Deckel fallen und sagte: "Wenn er dahineingekrochen wäre, hätten jetzt keine Tauben mehr herausfliegen können! Ein sehr schönes Erlebnis. Ein sehr schönes Erlebnis. Ein sehr schönes Erlebnis." Er ging
überall umher und fand den Burschen nirgends. Er warf sich zuletzt auf sein Lager und schlief ein.Am anderen Morgen erhob er sich und ging hinüber in seine Kaffeewirtschaft. Als es gegen Mittag war, kam auch der Bursche. Der Kaffeewirt begrüßte ihn und fragte ihn: "Warst du wieder bei der klugen und schönen Frau, der Tochter des Agelith ?" Der Bursche sagte: "Gewiß war ich dort. Ich komme doch eben von dort." Der Kaffeewirt fragte: "War denn der Gatte der Frau auch wieder da?" Der Bursche sagte: "Natürlich war er auch wieder da. Er lief mit einem Beil umher und zerschlug erst die Truhe, in der ich in der Nacht vorher gelegen hatte, dann zerhieb er alles, was ihm in den Weg kam, bis das Beil am Boden zerschlagen war. Dabei sagte er immer vor sich hin: ,Ein sehr schönes Erlebnis! Ein sehr schönes Erlebnis! Ein sehr schönes Erlebnis!' " Der Kaffeewirt sagte: "Wo warst du denn versteckt ?" Der Bursche sagte: "Ich war im Taubenbrutkasten versteckt und hatte in jeder Hand eine Taube. Als der Mann den Deckel der Kiste öffnete, ließ ich ihm die beiden Tauben ins Gesicht fliegen. Da meinte er, wo noch Tauben darin wären, könne sich nicht erst vor kurzem ein Mensch versteckt haben! So ließ er den Deckel wieder fallen. Dieser Mann ist wirklich zu dumm!"
Der Kaffeewirt sagte bei sich: "Warte, mein Bursche! Ich will dich bei deiner Schwatzhaftigkeit packen und der eigene Vater deiner Geliebten soll dich als Richter verurteilen. Warte!" Der Kaffeewirt sagte zu dem Burschen: "Da wir nun Freunde sind, will ich dich auch in der Familie meines Schwiegervaters einführen. Ich bin dort heute zum Abendessen eingeladen. Meine Frau wirst du dort auch kennen lernen, denn sie geht schon über Mittag hin, weil die jüngste Frau meines Schwiegervaters unpäßlich ist und meine Frau das kleine Kind dort warten wird. Also, mein Freund, komme mit mir und iß dort mit mir zusammen." Der Bursche sagte: "Das will ich sehr gerne tun."
Der Kaffeewirt machte sich mit dem Burschen auf den Weg zum Schwiegervater, dem Agelith. Der Kaffeewirt brachte den Burschen in die linke von drei Kammern, die nebeneinander lagen und nur durch dünne Wände voneinander getrennt waren. In der mittelsten Kammer befand sich die kluge Tochter des Agelith und wartete da das Kind der jüngsten Frau ihres Vaters. Nachdem der Kaffeewirt den Burschen in der linken Kammer untergebracht hatte, ging er hinüber zu der rechten, in der sich der Agelith befand.
Der Kaffeewirt begrüßte den Agelith und sagte dann zu ihm: "Ich habe dir heute einen Mann mitgebracht, der im ganzen Lande die jungen Frauen verführt und deshalb nach unserem Gesetze getötet werden muß." Der Agelith sagte: "Es muß aber, um ihn zu töten, nach unserem Gesetze ein Mann da sein, der ihn des Ehebruchs wegen hier bei mir anklagt, und dann muß ein vollkommener Beweis dafür erbracht werden, daß der Ehebruch verübt wurde. Wie steht das ?" Der Kaffeewirt sagte: "Den Beweis für den Ehebruch wird dir der Bursche selbst erbringen. Denn er erzählt alles ganz genau und prahlt mit seinen Erfolgen." Der Agelith sagte: "Das genügt. Wer übernimmt nun die Anklage ?" Der Kaffeewirt sagte: "Die Anklage übernehme ich." Der Agelith sagte: "Tue dies nicht. Laß die Sache der anderen Leute. Denn es ist doch nicht deine Sache ?" Der Kaffeewirt sagte: "Nein, nein, nein, es ist nicht meine Sache." Der Agelith sagte: "Dann laß die Sachen. Denn wenn du den Beweis nicht voll erbringen kannst, muß ich dich nach den Gesetzen unseres Landes als Verleumder anklagen und bestrafen. Und du weißt, hieraufhin wird ebenso der Tod verhängt wie für Ehebruch." Der Kaffeewirt sagte: "Das ist mir gleich. Ich klage den Burschen an." Der Agelith sagte: "Wenn du darauf bestehst, muß ich es übernehmen. Die Folgen wirst du tragen."
Der Agelith ging mit dem Kaffeewirt hinüber aus der linken Kammer, an der mittleren vorüber zu der rechten Kammer. Die kluge Tochter des Agelith blieb in der mittleren Kammer, in der sie alles hören konnte. Der Kaffeewirt begleitete den Agelith hinüber und sagte zu ihm: "Das ist der Bursche, der so schöne Geschichten zu erzählen weiß. Erzähle uns etwas, mein Freund!" Der Bursche sagte: "Ich weiß keine Geschichte zu erzählen." Der Kaffeewirt sagte: "So erzähle doch das, was du mir in den letzten Tagen von deinen nächtlichen Abenteuern erzählt hast." Der Bursche sagte: "Das wird dem Agelith ganz gleichgültig sein." Der Agelith sagte: "Nein, es ist mir nicht ganz gleichgültig. Erzähle es nur!"
Der Bursche sagte: "Neulich sagte mir ein Mann, es sei eine sehr schöne und kluge Frau hier im Orte. Die sei an einen Mann verheiratet, der immer den einzigen Schlüssel zum Haus seiner Frau bei sich trage, so daß niemand anders zu ihr käme. Da drückte ich den Wachs in das Schlüsselloch und ließ den Mann selbst dadurch, daß er den Schlüssel hineinsteckte und den Abdruck hierauf wegwarf, mir das Modell des Schlüssels anfertigen. Ich ging hinein, schlief bei seiner Frau und ließ mich endlich von ihr in eine Matte wickeln
und so an die Wand rollen. So schlief ich die Nacht in der Kammer, auch als der Mann kam. In der folgenden Nacht zerhackte der Mann die Matte; ich lag aber in der Truhe. In der dritten Nacht setzte ich mich, als der Mann dazukam, in den Taubennistkasten und hielt in jeder Hand eine Taube. Als der Mann den Deckel öffnete, ließ ich die Tauben gegen sein Gesicht fliegen. Der Mann ließ, als er mich so beinahe ergriffen hatte, den Deckel über mir fallen."In der mittleren Kammer sagte, als der Bursche so weit gekommen war, die kluge Tochter des Agelith laut zu dem Kinde der jungen Frau: "Schweig! Laß das! Du bereitest dir Unheil!" Der Bursche hörte, was die junge Frau sagte. Der Bursche verstand sie.
Der Bursche sagte laut: "Als der Ehemann den Deckel der Taubenbrutkiste über mir fallen ließ, erwachte ich." Der Agelith sagte: "Wieso erwachtest du?" Der Bursche sagte: "Nun aus meinem Traum!" Der Agelith sagte: "So ist das Ganze ein Traum?" Der Bursche sagte: "Natürlich ist es ein Traum." Der Agelith sagte: "Du bist aber angeklagt, daß du dies wirklich getan hast." Der Bursche sagte: "Wer hat mich angeklagt?" Der Agelith sagte: "Hier, dieser Kaffeewirt." Der Bursche sagte: "Wie wird es in diesem Lande mit der Verleumdung gehalten?"
Der Agelith sagte zum Kaffeewirt: "Nun sage, wie es steht. Wo hast du deine Beweise ?" Der Kaffeewirt verlor den Verstand und sagte: "Was soll ich sagen! Was soll ich sagen! Ich kann dir nicht sagen, daß es deine Tochter war, mit der er den Ehebruch getrieben hat!" Der Agelith wurde zornig und sagte: "Was unterstehst du dich? Wagst du es, meine Tochter in diese Sache zu ziehen? Ein Verleumder, ein ganz dummer Verleumder bist du!"
Der Agelith ließ den Kaffeewirt hinrichten. Der Bursche heiratete die kluge und schöne Tochter des Agelith. Am Tage, als er heiratete, gab er seiner Frau den Schlüssel zum Hause und sagte: "Behalte du den Schlüssel des Hauses. Ich weiß jetzt, was ich davon zu halten habe."
Der Bursche und die kluge und schöne Tochter des Agelith lebten glücklich und ungestört. Als der Bursche seine Zeit verbraucht hatte und er nun sterben sollte, weil er Aini einige der letzten seiner Lebensjahre geschenkt hatte, bat die kluge Tochter des Agelith Gott darum, ihrem Gatten einige der ihren abtreten zu dürfen, und Gott gewährte es.
Dann starben der Bursche und die kluge Tochter des Agelith an einem Tage. Es geschah also so, wie der Bursche damals, als er vom
Zur Schöpfungsgeschichte. (Nr. 18.)Rechts oben die Grube der sieben jungen Löwenkinder und der Jüngste, der spätere Agelith, hineinfallend. Rund herum, zumal links unten Wald Originalzeichnung eines Kabylen
31. Der verkleidete Knabe (angeblich wahre Geschichte)
(Vgl. den Anfang von Nr. 30)
Zwei junge Männer waren von Kindheit an miteinander befreundet. Sie sahen sich alle Tage. Sie unternahmen alles gemeinsam. Sie heirateten auch am gleichen Tage. Als sie am Tage vor der Hochzeit zusammenkamen, sagten sie zueinander: "Wenn eine unserer Frauen einen Knaben und die andere ein Mädchen gebären wird, so sollen diese beiden Kinder einander heiraten." Sie schworen sich das zu. Dann heirateten sie.
Nach einem Jahre gebar die eine Frau ein Mädchen und die andere einen Knaben. Die beiden jungen Männer waren aber nicht mehr miteinander befreundet, denn ihre Frauen konnten es nicht sehen, daß die beiden Männer immer beieinander saßen. Deshalb waren sie auf die Freundschaft der Männer eifersüchtig und zankten sich miteinander, wo sie sich trafen; sie beschimpften sich und sagten eine jede stets zu ihrem Manne: "Die Frau deines Freundes hat mich beschimpft." Lange Zeit kümmerten sich die Männer nicht um das Zanken der Frauen und kamen wie früher zusammen und unternahmen alles gemeinsam. Die Brüder und Väter der Frauen sprachen aber dazwischen und mit den jungen Männern, und zuletzt gaben sie den Vorstellungen der Frauen nach und machten sich gegenseitig auch Vorwürfe.
Als nun die Kinder geboren wurden, war der Streit so weit gediehen, daß die beiden Männer nicht mehr anders zusammenkamen, als mit anderen Leuten und sich mieden und sich nur noch grüßten. Der Vater des Mädchens war sehr ärgerlich, als sein Kind geboren
Die beiden Männer trafen sich. Der eine sagte: "Meine Frau hat einen Knaben geboren." Der andere sagte: "Meine Frau hat auch einen Knaben geboren." Sie gingen auseinander. Der Vater des Mädchens ließ das Kind wie einen Knaben kleiden und mit den Knaben spielen. Der Knabe und das als Knabe verkleidete Mädchen schlossen miteinander Freundschaft. Sie hatten sich so gerne, daß sie nur miteinander spielten und nicht mit den anderen Kindern. Die beiden Eltern sagten zu ihren Kindern: "Du sollst nicht mit dem anderen Knaben spielen." Die Kinder kamen nun aber im geheimen zusammen und hatten sich nun noch mehr lieb als vorher.
Die beiden Kinder kamen in die Schule. Beide Kinder waren sehr klug und lernten sehr schnell und gut und waren beide die besten Schüler des Lehrers. Die beiden Kinder saßen in der Schule immer nebeneinander. Eines Tages begannen sie, eines an den Beinen des anderen zu spielen. Der Lehrer sah es. Der Lehrer wurde böse und schlug beide Kinder. Der Lehrer setzte die beiden Kinder an verschiedene Ecken des Raumes, in dem er unterrichtete. Die Kinder machten nun aber in ihre hölzernen Lesetafeln Löcher, durch die sie hindurchsahen und einander Zeichen machten. Als der Lehrer das sah, schlug er sie wieder und setzte die Kinder in verschiedene Zimmer.
Die Kinder machten nun aber in die Wand, die sie trennte, ein Loch und steckten die Zunge hindurch, um sich so zu berühren. Der Lehrer sah es. Er schlug sie und ging dann zu den Vätern der Kinder. Er sagte zu den Vätern: "Diese Kinder können nicht beide Knaben sein. Sie lieben einander so stark und in einer Weise, daß eines der beiden Kinder ein Mädchen sein muß." Die beiden Väter wurden zornig aufeinander. Der eine sagte: "Du hast mich belogen, dein Kind muß ein Mädchen sein." Der andere sagte: "Nein, du hast mich belogen. Dein Kind muß ein Mädchen sein." Die beiden Männer beschimpften sich nun so, wie sich früher ihre Frauen beschimpft hatten, und nun grüßten sie sich nicht mehr.
Die Väter sagten zu dem Lehrer: "Schließe die beiden Kinder jedes in ein eigenes Zimmer ein und lasse sie nicht heraus, so daß sie sich gar nicht mehr sehen und hören können." Der Lehrer schloß die Kinder nun in zwei verschiedene Räume ein. Der Knabe kam in
eine Kammer zu ebener Erde. Das als Knabe verkleidete Mädchen kam in den darüber gelegenen Tarorfiz.Der Knabe stieg nun auf die Lehmbank und machte hinter dem Holzpfeiler von unten ein Loch in die Decke. Zuerst machte er das Loch so groß, daß er die Hand hindurchstecken konnte. Die Kinder steckten nun die Hände zueinander und küßten (eigentlich: "leckten") sich die Hände. Die Kinder wuchsen schnell heran und wurden groß. Nach einem Jahre machte der Bursch das Loch in der Decke hinter dem Pfeiler so groß, daß er den Kopf hindurchstecken konnte. Nun küßte er das als Knabe verkleidete Mädchen auf den Körper. Er küßte das Mädchen überall und das Mädchen schob ihm alle Teile ihres Körpers zu.
Eines Tages kam der Lehrer dazu. Er sah, daß der Knabe in dem Tarorfiz einen Busen hatte, den der Bursche küßte. Der Lehrer ging zu dem Vater des Burschen und sagte: "Das Kind des anderen Mannes, mit dem du früher so befreundet warst, hat einen Busen. Es ist kein Bursche, sondern es ist ein Mädchen, und es ist reif zum Heiraten. Die beiden Kinder lieben sich so stark, daß man sie nicht wieder wird trennen können." Der Vater lief zu einem Amrar asemeni und erzählte ihm alles. Der Amrar asemeni dachte sehr lange nach und sagte: "Ihr waret früher Freunde und habt euch als Freunde ein Versprechen gegeben. Die Frauen haben eure Freundschaft so weit auseinandergebracht, daß aus der Freundschaft nichts mehr übrigblieb als euer Versprechen, daß eure Kinder einander heiraten würden. Aus der Feindschaft eurer Frauen aber wurde die Lüge eures Wortes. Nun müßt ihr wissen, was besser ist: ob das Versprechen eurer Freundschaft oder die Lüge eurer Feindschaft. Geht zu einem Chranem (Richter) und laßt den über diese Frage entscheiden."
Beide Männer gingen zu dem Chranem und trugen ihre Sache vor. Der Chranem hörte alles an und sagte: "Der Amrar asemeni hat recht. Wie wollt ihr euch über die Sache anders entscheiden können als nur in dem einen Sinne, daß das Versprechen der Freundschaft etwas Gutes ist und daß die Lüge der Feindschaft nur Unglück über euch und eure Kinder bringt. Jetzt, wo ihr alt und erfahren seid, müßt ihr wissen, wie glücklich euch früher eure Freundschaft machte und welches Unglück euch euer Zank in das Haus brachte. Ihr seid wie alle Männer den törichten Launen eurer jungen Frauen gefolgt, als ihr jung waret. Nun ihr alt seid, kehrt mit Einhaltung eures Versprechens zur Freundschaft eurer Jugend zurück."
Die beiden Kinder wurden herbeigerufen. Die Väter gaben ihre Kinder einander zur Ehe. Die beiden Freunde der Jugend wurden nun Freunde des Alters. Sie starben als Freunde.
32. Der Schürzenjäger (nsäni)
Ein Vater hatte drei Söhne. Von denen war der eine ein Holzschnitzer, der zweite ein Maurer, der dritte aber ein Nsäni (wir würden sagen "Schürzenjäger". Die Definition der Kabylen für Nsäni lautet: "ein Mann, dessen Geschäft die Liebe ist", oder noch plumper). Eines Tages starb der Vater der drei Burschen. Bald darauf starb auch die Mutter der drei Burschen. Die drei Burschen waren nun ganz allein. Sie waren noch alle drei unverheiratet.
Nachdem die Eltern gestorben waren, waren die drei Burschen allein im Hause. Der Nsäni war der klügste der drei Burschen. Der Nsäni sagte zu seinen Brüdern: "Meine Brüder, unser Vater und unsere Mutter sind gestorben. Wir haben nun in diesem Hause niemand mehr, der uns das Essen bereitet. Deshalb ist es hier nicht gut für uns. Wir wollen deshalb unsere Taschen umhängen, das Haus verlassen und unser Glück an einem anderen Orte versuchen." Die beiden Brüder waren einverstanden. Die Brüder packten alle drei ihre Taschen und begaben sich auf den Weg.
Nach einiger Zeit kamen die drei Brüder in einen anderen Ort und zu einem Agelith. Der Nsäni ging zu dem Agelith und sagte: "Wir sind drei Brüder. Unser Vater und unsere Mutter sind gestorben. Wir haben nichts zu essen. Gib uns Arbeit, damit wir etwas zu essen haben." Der Agelith sagte: "Welche Arbeit versteht ihr denn?' Der Nsäni sagte: "Mein einer Bruder ist Maurer, mein anderer Bruder ist Holzschnitzer. Ich selbst bin ein Nsäni." Der Agelith sagte: "Einen Maurer kann ich gebrauchen. Einen Holzschnitzer kann ich gebrauchen. Einen Nsäni, ja einen Nsäni? Ich weiß nicht, ob ich einen Nsäni gebrauchen kann. Ich werde es mir überlegen. Nachher werde ich zu dir schicken und dir sagen lassen, ob ich einen Nsäni und euch alle drei gebrauchen kann." Der Agelith wußte nämlich nicht, was ein Nsäni ist. Der Agelith ging in sein Haus.
Der Agelith war ein alter Mann, der eine junge Frau hatte. Der Agelith kam zu seiner jungen Frau und sagte: "Es haben mich drei Leute um Arbeit gebeten, ein Maurer, ein Holzschnitzer und ein Nsäni. Ich weiß nicht, was so ein Nsäni macht und ob man ihn
gebrauchen kann." Die junge Frau wußte sogleich, was ein Nsäni ist, und sagte: "Ein Nsäni hat sich gemeldet? Das ist ausgezeichnet. Wenn ein Nsäni ein tüchtiges Arbeitswerkzeug hat, kann man ihn vorzüglich verwenden. Überlege es dir nicht lange, sondern nimm die drei Leute nur in Arbeit. Der Holzschnitzer und der Maurer können bei dir arbeiten und den Nsäni will ich schon so ausnützen, daß er sein Essen verdient. Spute dich und laß die Leute rufen." Der Agelith sagte: "Was kann der Nsäni nutzen?" Die junge Frau sagte: "So ein Nsäni gewinnt sein Gold im Schlafe. Richte ihm also ein gutes Schlafzimmer her. Für alles andere laß mich nur sorgen." Der Agelith ging.Der Agelith ließ die drei Brüder kommen. Er gab dem Maurer und dem Holzschnitzer seine Arbeit. Er sagte zum Nsäni: "Ich habe dir ein Zimmer mit einem guten Bett herrichten lassen. Da kannst du deinem Berufe nachgehen." Der Nsäni wurde in ein Zimmer geführt, in dem ein gutes Lager aufgerichtet war. Als die junge Frau des Agelith hörte, daß der Nsäni im Hause war, ließ sie sogleich ein gutes Essen herrichten und sandte dies durch ihre Dienerin herüber.
Die Dienerin brachte das Essen in die Kammer des Nsäni, setzte die Schüsseln nieder und sagte: "Dies sendet dir die junge Frau des Agelith; genieße es!" Der Nsäni sah die Dienerin nicht an und zuckte nur mit den Achseln. Die Dienerin sagte: "Ja, willst du dies denn nicht essen ?" Der Nsäni sagte nichts und schüttelte nur die Achseln. Darauf nahm die Dienerin das Essen wieder auf, ging fort und kehrte mit den Schüsseln zur jungen Frau des Agelith zurück. Die Dienerin sagte: "Der Mann will nicht essen. Er hat mich nicht einmal von der Seite angesehen."
Die junge Frau des Agelith nahm der Dienerin die Schüsseln ab und sagte: "Ich will dem Manne selbst das Essen bringen." Die junge Frau des Agelith trat in die Kammer des Nsäni. Als der Nsäni die junge Frau des Agelith sah, lachte er ihr entgegen und grüßte sie. Die junge Frau des Agelith sagte: "Warum willst du denn nichts genießen? Wenn du ein tüchtiger Nsäni bist, mußt du doch viel essen; sonst taugt doch deine Arbeit nichts." Der Nsäni sagte: "Ich will schon genießen, was mir angenehm ist. Aber ich bin es nicht gewöhnt, von einer Dienerin bedient zu werden. Das Essen allein genügt nicht für meinen Beruf." Die junge Frau des Agelith sagte: "Du bist also ein Nsäni ?" Der Nsäni sagte: "Gewiß bin ich ein Nsäni!" Die junge Frau des Agelith sagte: "Und wie steht es mit deiner Arbeit? Kann man dir ein wertvolles Schmuckstück anvertrauen?"
Der Nsäni sagte: "Versuche es und du wirst acht Tage lang vor Erstaunen darüber, daß du bislang nicht wußtest, was du Herrliches an dir hast, nicht zur Besinnung kommen."Die junge Frau des Agelith sagte: "Wenn es so ist, mein Nsäni, so zeige nur gleich einmal, was du kannst." Der Nsäni sagte: "Lege dich hin und hole noch einmal tief Atem." Die junge Frau des Agelith legte sich auf das Lager. Der Nsäni legte sich neben ihr nieder. Nach einiger Zeit war die junge Frau des Agelith ohnmächtig. Als sie aus der Ohnmacht erwachte, sagte sie: "Mein Nsäni, bleibe recht lange bei meinem Manne. Denn mein Mann ist alt und gebrechlich." Der Nsäni sagte: "Das wird nicht gehen, denn ich habe noch anderweitige Aufträge zu erfüllen." Die junge Frau des Agelith sagte: "Ich habe eine goldene Henne, die legt goldene Eier. Die will ich dir schenken, wenn du noch einen Monat lang an meinem Schmuck arbeitest. Außerdem will ich dir noch dreihundert Duro in Gold schenken. Aber, ich bitte dich, bleibe noch einen Monat lang bei mir."
Der Nsäni willigte ein. Er blieb einen Monat lang bei der jungen Frau des Agelith. Die junge Frau des Agelith lag während dieses Monats meistenteils in Ohnmacht. Als der Monat verstrichen war, schenkte sie dem Nsäni die goldene Henne und die dreihundert Duro in Gold. Der Nsäni nahm von ihr Abschied und ging zu seinen Brüdern. Die beiden Brüder sagten zu dem Nsäni: "Wir wollen hier nicht länger bleiben. Wir haben hier gutes Essen, aber der Agelith gibt uns kein Geld." Der Nsäni sagte: "Ich habe meine Arbeit hier auch vollendet. Mir ist es also recht, wenn wir weiter gehen!"
Die drei Brüder machten sich auf den Weg und kamen nach einer langen Wanderung zu dem Orte eines anderen Agelith. Der Nsäni ging zu dem Agelith und sagte: "Wir sind drei Brüder, die haben Vater und Mutter verloren und suchen nun ein Haus, in dem sie ihr Essen erhalten. Wir bitten dich deshalb: gib uns Arbeit!" Der Agelith sagte: "Welche Arbeit könnt ihr denn?" Der Nsäni sagte: "Mein einer Bruder ist Holzschnitzer; mein zweiter Bruder ist Maurer. Ich aber bin ein Nsäni, der sein Geschäft ebensogut versteht, wie meine Brüder das ihrige." Der Agelith sagte: "Einen Maurer und einen Holzschnitzer kann ich gut gebrauchen. Was ich mit einem Nsäni anfangen soll, weiß ich nicht so recht." Der Agelith wußte nämlich nicht, was ein Nsäni ist. Der Nsäni lachte und sagte: "Du weißt nicht, was du mit einem Nsäni anfangen sollst? Nun, du hast doch eine Frau?" Der Agelith sagte: "Gewiß habe ich
eine; sie ist aber eine alte Frau und läßt mir keine Ruhe; sie wird mich noch vorzeitig ins Grab bringen."Der Nsäni sagte: "Wenn es so steht, so komme ich dir nur um so gelegener, ohne daß du es weißt. So frage nur deine Frau, ob sie Arbeit für einen Nsäni hat. Wenn du mir aber hundert Duro in Gold gibst, so will ich dafür sorgen, daß deine Frau dich bis an dein Lebensende in Ruhe läßt. Dies darfst du ihr aber nicht sagen, sonst wird sie dich nach dem Charakter der Frauen doppelt plagen." Der Agelith sagte: "Es soll mir recht sein. Warte hier: ich will sehen, ob ich euch eure Arbeit geben kann."
Der Agelith ging zu seiner Frau und sagte: "Da sind drei junge Leute, die suchen eine Stelle, wo sie jeder seine Arbeit verrichten können. Der erste Bruder ist Maurer. Der zweite Bruder ist Holzschnitzer." Die Frau sagte: "Was sollen wir mit den Leuten? Es ist alles in Ordnung und reichlich." Der Agelith sagte: "Das ist auch meine Ansicht. Der dritte Bruder ist ein Nsäni." Die Frau sagte: "Was sagst du? Ein Nsäni? Beim Halse meines Vaters, ich habe mir schon lange einen Nsäni gewünscht, der sein Handwerk versteht. Ja für den ist eine gute Menge Arbeit zu verrichten. Behalte auch den Maurer und Schreiner; sie können in deinem Hause noch manches arbeiten. Beaufsichtige sie nur gut und beobachte, soviel du kannst, ihre Arbeit, daß nichts Ungehöriges vorkommt oder dir Gehöriges fortkommt. Den Nsäni aber sende zu mir, ich will es auf mich nehmen, ihm viel Arbeit und eine gute Aufsicht zuteil werden zu lassen. Laß nur in der Kammer neben mir ein gutes Lager aufschlagen." Der Agelith sagte: "Fürchtest du denn nicht, daß der Nsäni dich belästigen könnte?" Die Frau lachte und sagte: "Man sieht, du bist alt, sonst würdest du wissen, daß man einen Nsäni, wenn er gute Arbeit verrichten soll, immer möglichst nahe bei den Frauen schlafen lassen muß, weil es sonst mit seiner Arbeit nichts wird."
Der Agelith ging zurück und sagte zu dem Nsäni: "Ich werde euch allen dreien Arbeit geben. Geh du nur zu meiner Frau; sie wird dir Arbeit geben und vergiß dein Versprechen nicht. Wenn du dein Versprechen hältst, will ich dich reichlich beschenken." Der Nsäni sagte: "Ist deine Frau sehr alt?" Der Agelith sagte: "Sie ist in dem Alter, in dem die Frauen am schlimmsten sind. Sie wird es dir schwer machen, deine Arbeit zu ihrer Zufriedenheit zu verrichten." Der Nsäni sagte: "Ich werde sehen, was ich machen kann."
Der Nsänj kam zu der Frau. Die Frau war nicht mehr jung. Die
Frau begrüßte den Nsäni und sagte: "Du bist also ein Nsäni ?" Der Nsäni sagte: "Gewiß bin ich ein Nsäni." Die Frau sagte: "Ich komme in die Jahre, in denen eine Frau noch einmal Freude an ihrem Körper hat und sich danach sehnt, noch einmal zu wiederholen, was ihr im Leben Freude gemacht hat, ehe es aus ist. Willst du mein Nsäni sein? Wenn du mit mir alles wiederholst, was ich erlebt habe, so daß ich nachher keine Wünsche mehr habe, so will ich dir etwas schenken, was sehr kostbar ist. Ich habe ein Pferd (audin) aus Gold, mit goldenem Sattel (tharicht) und goldenem Zaumzeug (älgäm). Dies will ich dir dann schenken." Der Nsäni sagte: "Sieh zu, ob du für einen Monat genug Essen im Hause hast. Wenn das der Fall ist, schließe die Tür und komm."Nach einem Monat öffnete die Frau die Tür ihres Hauses. Die Frau gab ihm das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug und sagte: "Ich danke dir. In diesem Monat hast du mich alles noch einmal wiederholen lassen, was ich im Leben an Freude hatte. Du hast mich so müde gemacht, daß ich bis an mein Lebensende schlafen möchte. Mein Mann soll mir nicht wieder nahekommen. Du hast dein Geschenk reichlich verdient. Hab' Dank." Der Nsäni nahm Abschied und sagte: "Ich werde gehen, wenn es mir auch nicht leicht wird, denn du hast mehr von mir verlangt, als sonst viele Männer leisten können. Nun aber weiß ich auch, daß mir in meinem Berufe nichts mehr vorkommen kann, das ich nicht zu bewältigen imstande sein werde."
Der Nsäni ging zu dem Agelith. Er sagte zu dem Agelith: "Gib mir das Geschenk, das du mir versprochen hast." Der Agelith sagte: "Du hast es verdient. In dem ganzen Monat hat meine Frau mich in Ruhe gelassen." Der Nsäni sagte: "Deine Frau wird dich überhaupt in Zukunft in Ruhe lassen." Der Agelith sagte: "Wie hast du das erreicht ?" Der Nsäni sagte: "Der Schmied und der Nsäni taugen nichts, wenn sie über ihr Handwerk sprechen." Der Agelith schenkte dem Nsäni zweihundert Duro in Gold und ließ ihn gehen.
Der Nsäni kam zu seinen Brüdern. Seine Brüder sagten zu ihm: "Wir wollen hier nicht länger bleiben. Wir erhalten vom Agelith unser Essen, aber nicht mehr." Der Nsäni sagte: "Ich bin mit meiner Arbeit fertig, also bin ich auch damit einverstanden, daß wir an einen anderen Ort gehen. Wir wollen aber unsere Wanderung gemächlich fortsetzen, denn die Arbeit an diesem Ort hat mich so erschöpft, daß ich mich unterwegs erholen muß." Die drei Brüder machten sich auf den Weg.
Nachdem sie lange Zeit auf der Wanderschaft gewesen waren, kamen sie an einen Ort, in dem wohnte ein Agelith, der war ungeheuer reich und hatte eine Tochter, die wollte er keinem Manne zur Frau geben, weil er keinen Mann fand, der dem Agelith an Reichtum und Macht gleichkam. Der Agelith wollte gerade ein großes Haus für seine Tochter bauen lassen, als die drei Brüder ankamen. Der Agelith konnte aber keine Maurer und Holzschnitzer finden. Er bot hohe Bezahlung.
Der Nsäni kam zu dem Agelith und sagte: "Wir sind drei Brüder, deren Vater und Mutter gestorben sind. Nun suchen wir Arbeit und ein Haus, in dem wir essen können." Der Agelith sagte: "Welche Arbeiten versteht ihr ?" Der Nsäni sagte: "Mein einer Bruder ist Maurer: mein zweiter Bruder ist ein Holzschnitzer; ich bin ein Nsäni." Der Agelith sagte: "Deine Brüder sollen ihre Arbeit sogleich beginnen. Ich werde sie gut bezahlen. Und du? Du bist also ein Nsäni; ja Nsäni; was soll ich denn von dir machen lassen?" Der Agelith wußte nicht, was ein Nsäni ist. Der Nsäni sagte: "Die Arbeit der Nsäni wissen nur die Frauen sich zunutze zu machen. Frage also deine Tochter, ob sie für mich etwas zu tun hat."
Der Agelith ging zu seiner Tochter. Seine Tochter lebte in einem Hause, das war mit sieben Türen geschlossen. Der Agelith sagte zu seiner Tochter: "Meine Tochter, da ist ein Nsäni! Hast du Arbeit für ihn?" Die Tochter rief: "Was sagst du da? Ein Nsäni ist da? Du fragst, ob ich Arbeit für ihn habe? Gewiß habe ich Arbeit; soviel, als er ertragen kann. Du willst mich ja doch nicht verheiraten und so muß ich sehen, wie ich an anderen Dingen meine Freude habe. Schicke mir also den Nsäni, so werde ich ihm in meiner Wohnung seine Arbeit, sein Lager und sein Essen geben." Der Agelith ging und sandte den Nsäni zu seiner Tochter.
Die Tochter des Agelith begrüßte den Nsäni und sagte: "Was verstehtst du ?" Der Nsäni sagte: "Ich bin ein Nsäni und verstehe mein Handwerk." Die Tochter des Agelith sagte: "Wir wollen wetten, wer in einer Woche dein Handwerk besser versteht, du oder ich. Wenn du eher ermüdest, will ich dich töten lassen, wenn ich eher ermüde, werde ich dir eine goldene Puppe (thaäljitsch) und eine Kiste voll Gold schenken. Bist du hiermit einverstanden?" Der Nsäni sagte: "Ja, hiermit bin ich einverstanden. Zeige mir das Lager."
Die Tochter des Agelith bereitete dem Nsäni in einer Kammer neben ihrer eigenen ein gutes Lager. Dann sagte die Tochter des Agelith: "So, nun lehre mich dein Handwerk. Ich muß von vorne
anfangen." Der Nsäni sagte: "Es handelt sich zuerst darum, den Anfang des Fadens in das Ohr der Nadel zu stecken. Wir werden das üben. Der Faden ist vierzehn Knoten (damit ist Handbreite gemeint) lang. Am ersten Tage nehmen wir einen Knoten, am zweiten zwei, am dritten drei. Wenn ich gleich alle vierzehn Knoten durch das Öhr ziehen würde, würdest du sterben. Nun lege dich nieder."Am ersten Tage fiel die Tochter des Agelith in Ohnmacht. Am zweiten Tage stöhnte die Tochter des Agelith. Am dritten Tage sagte die Tochter des Agelith: "Noch einen Knoten." Am achten Tage rief die Tochter des Agelith: "Alle Knoten! Alle Knoten!" Der Nsäni sagte: "Laß das; ich würde dich töten." Am neunten Tage kam der Agelith und wollte sehen, wie es seiner Tochter gehe. Als er die zweite Türe öffnete, hörte ihn seine Tochter. Sie sprang auf und sagte: "Schnell, springe in diese Truhe" (sanduk oder sandung; natürl. arabisch). Die Tochter des Agelith ließ den Nsäni in die Truhe steigen und schloß über ihn dem Deckel. Der Agelith kam und sprach mit seiner Tochter.
Mittlerweile kam aber dem Nsäni die Angst an und er mußte sein Wasser abschlagen. Das Wasser lief unten aus der Truhe heraus und in die Mitte der Kammer. Der Agelith sagte: "Was ist dies für eine Flüssigkeit?" Die Tochter des Agelith sagte: "Es ist eine Flasche mit Parfüm zerbrochen und ausgelaufen." Der Agelith bückte sich, netzte seinen Finger mit der Flüssigkeit und führte ihn zur Nase. Der Agelith roch an der Flüssigkeit und sagte: "Es ist wahr; dies Parfüm riecht ausgezeichnet." Dann ging der Agelith.
Die Tochter des Agelith öffnete die Truhe und ließ den Nsäni heraussteigen. Die Tochter des Agelith sagte: "Ich habe dir das Leben gerettet." Der Nsäni sagte: "Komm nur; ich will dir auch das Leben retten." Die Tochter des Agelith sagte: "Ja, tue es; und wenn du mich jetzt nicht ohnmächtig machst, lasse ich dich töten." Nach einiger Zeit war die Tochter des Agelith ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kam, war sie so schwindelig, daß sie nicht gehen konnte. Die Tochter des Agelith sagte: "Du hast gewonnen. Nimm die Puppe aus Gold und den Kasten mit Gold. Ich danke dir. Wenn mich nun mein Vater auch nicht verheiratet, so habe ich doch etwas, woran ich mit Freude zurückdenken kann. Hab' Dank."
Der Nsäni nahm die Puppe und den Kasten voll Gold. Er nahm von der Tochter des Agelith Abschied und ging zu seinen Brüdern. Er sagte: "Meine Brüder, wir haben an diesem Orte nun alle verdient.
Wir wollen zusammen weiter gehen und sehen, wo wir unser Gold nützlich anlegen können." Die Brüder waren damit einverstanden. Sie packten das ihrige zusammen. Sie brachen auf und wanderten weit fort. Sie wanderten, bis sie an einen Kreuzweg (asmelin ibäthän) kamen. An dem Kreuzwege nahmen sie voneinander Abschied und jeder ging seinen eigenen Weg.Nach einer langen Wanderung kam der Nsäni in eine große Stadt, in der war eine Frau die Thägeliths (thägeliths = Fürstin, weibliche Form von Agelith). Die Fürstin war noch sehr jung. Sie hatte vor einiger Zeit einen Agelith zum Manne genommen, dieser war aber in der Hochzeitsnacht gestorben und nun lebte die junge Thägeliths als Witwe (thätschelt). Die Leute erzählten dem Nsäni viel von der Schönheit und Jugend der Thägeliths.
Der Nsäni hörte das alles und sagte bei sich: "Hier ist der beste Platz für mich. Hier werde ich bleiben." Der Nsäni mietete sich ein Haus, das lag mit der Rückwand neben dem Hause der Thägeliths. Als es Abend war, begann der Nsäni zu hämmern. Er hämmerte die ganze Nacht hindurch. Er hämmerte immer gegen die Mauer, hinter der auf der anderen Seite die junge Thägeliths schlief. Die junge Thägeliths konnte die ganze Nacht nicht schlafen.
Die Thägeliths rief am andern Morgen ihre alte Negerin und sagte zu ihr: "Gehe sogleich in das Haus auf der anderen Seite der Mauer und sieh zu, wer es gewagt hat, die ganze Nacht über so zu hämmern daß ich nicht schlafen konnte. Ich will den Mann schlagen." Die Negerin machte sich sogleich auf den Weg. Sie kam zu dem Nsäni. Als sie bei dem Nsäni eintrat, sah sie sogleich das goldene Huhn, das goldene Eier legen konnte. Die alte Negerin schlug die Hand vor den Mund und blieb sprachlos stehen.
Der Nsäni begrüßte die Negerin und sagte: "Nun, meine Mutter, was führt dich hierher?" Die alte Negerin sagte: "Die junge Thägeliths schickt mich; ich soll sehen, wer hier die ganze Nacht hindurch gehämmert hat, so daß sie nicht hat schlafen können." Der Nsäni sagte: "Das habe ich getan. Ich habe in dieser Nacht das goldene Huhn gemacht, das goldene Eier legen kann. Solche Arbeiten kann man nicht bei Tage machen. Das muß ich nachts machen." Die alte Negerin sagte: "Daß man solche Dinge überhaupt machen kann! Ich muß es der jungen Thägeliths erzählen."
Die alte Negerin kam zu der jungen Thägeliths zurück und erzählte ihr alles. Die alte Negerin sagte: "So etwas Schönes, wie dieses goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, gibt es auf der
ganzen Welt nicht. Das goldene Huhn gehört in dein Haus und in kein anderes. Aber es wird schwer sein, es dem Manne abzukaufen, denn er ist reicher, als du bist." Die junge Thägeliths wurde begierig auf den Besitz des goldenen Huhnes, das goldene Eier legen konnte, und sagte zu der alten Negerin: "So gehe zurück und frage den Mann, was er für das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, haben will. Ich will es ihm abkaufen." Die alte Negerin kam zu dem Nsäni zurück.Die alte Negerin sagte zu dem Nsäni: "Die junge Thägeliths will dir das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, abkaufen. Was willst du dafür bezahlt haben?" Der Nsäni sagte: "Das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, ist mir für Gold nicht feil. Ich will es aber der jungen Thägeliths schenken, wenn sie mir erlaubt, ihre Beine von den Zehen bis zu den Knien zu betrachten. Das ist alles. Erlaubt sie mir dies, so will ich ihr das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, schenken."
Die alte Negerin kam zu der jungen Thägeliths zurück und sagte: "Der Mann will dir das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, schenken, wenn du ihm erlaubst, deine Beine von den Zehen bis über die Knie zu betrachten." Die junge Thägeliths wurde wütend und rief: "Dies ist ein Unverschämter! Ich will ihn sogleich töten lassen." Die alte Negerin sagte: "Wenn du das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, gesehen hättest, würdest du nicht auf den Gedanken kommen, ihn töten zu lassen, sondern würdest ihm deine Beine zeigen. Was schadet und kostet dich dies?! Es hört ja kein Mensch. Und es ist das Schönste, was es auf der Welt gibt." Die junge Thägeliths sagte: "So sage dem Manne, er soll das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, hierherbringen und mir zeigen, aber kaufen will ich es nicht."
Die alte Negerin lief zurück und berichtete dem Nsäni. Der Nsäni nahm das goldene Huhn, das goldene Eier legen konnte, und ging zu der jungen Thägeliths hinüber. Die junge Thägeliths sah das goldene Huhn, das goldene Eier legen konnte, und sagte: "Du willst dies also verkaufen?" Der Nsäni sagte: "Ja, ich will es. Du kennst den Preis." Da entblößte die junge Thägelith ihre Beine bis über die Knie. Der Nsäni betrachtete die Beine der jungen Thägeliths, bedankte sich und kehrte dann ohne das goldene Huhn, das goldene Eier legen konnte, in sein Haus zurück.
Als es wieder Abend wurde, begann der Nsäni wieder an der Wand, hinter der die junge Thägeliths schlief, zu hämmern. Er hämmerte
bis zum anderen Morgen, so daß die junge Thägeliths wieder die ganze Nacht nicht schlafen konnte und am anderen Morgen die alte Negerin schickte, um nachsehen zu lassen, was die Ursache der Störung sei. Als die alte Negerin zu dem Nsäni kam, sah sie die goldene Puppe. Die alte Negerin erschrak über die Schönheit der goldenen Puppe so, daß sie die Hand vor den Mund schlug, eine Zeitlang sprachlos stehenblieb und dann, ohne ein Wort zu sagen, wieder fortlief.Die alte Negerin kam zu der jungen Thägeliths zurück und sagte: "Das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, ist sehr schön. Die goldene Puppe, die der Mann aber in dieser Nacht zurechtgefertigt hat, ist noch viele, viele Male schöner. Diese goldene Puppe mußt du haben." Die junge Thägeliths sagte: "So gehe herüber und frage den Mann nach dem Preise. Vielleicht will er wieder nur meine Beine sehen. Und ob ich ihm diese ein- oder zweimal zeige, ist gleichgültig."
Die alte Negerin kam zu dem Nsäni zurück und sagte: "Die junge Thägeliths will die goldene Puppe kaufen. Was willst du dafür haben?" Der Nsäni sagte: "Die goldene Puppe ist mir für Gold nicht feil. Wenn mir aber die junge Thägeliths ihren Oberkörper von oben bis über die Brust herab entblößt zeigen will, will ich ihr gerne die goldene Puppe schenken." Die alte Negerin lief zurück zur jungen Thägeliths und sagte: "Der Mann will dir die goldene Puppe schenken, wenn du ihm deinen Oberkörper bis unter die Brust herab entblößt zeigen willst." Die junge Thägeliths sagte: "Dieser Mann ist wahrhaftig gierig. Hältst du es aber für schlimm, wenn ich ihm jetzt den Oberkörper bis unter die Brust entblößt zeige, nachdem ich ihm vorher die Beine bis über die Knie nackt gezeigt habe ?" Die alte Negerin sagte: "Es ist keineswegs schlimmer, denn die goldene Puppe ist noch schöner als das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann." Die junge Thägeliths sagte: "So rufe den Mann, damit ich mir erst einmal die goldene Puppe ansehen kann."
Die alte Negerin lief zu dem Nsäni zurück und sagte: "Komme und zeige der jungen Thägeliths deine goldene Puppe." Der Nsäni nahm seine goldene Puppe und ging zu der jungen Thägeliths hinüber. Als die junge Thägeliths die goldene Puppe sah, entkleidete sie sogleich den Oberkörper bis über die Brust herab. Der Nsäni betrachtete den Oberkörper der jungen Thägeliths bis über die Brust herunter, bedankte sich, ließ seine goldene Puppe zurück und ging in sein Haus zurück.
Als es wieder Abend war, begann der Nsäni wieder an der Mauer,
hinter der die junge Thägeliths schlief, zu hämmern und hämmerte die ganze Nacht hindurch, so daß die junge Thägeliths nicht schlafen konnte. Als es Morgen war, rief die junge Thägeliths die alte Negerin und sagte: "Schnell, lauf hinüber und berichte mir, was der Mann nun wieder gehämmert hat. Frage ihn auch sogleich, was er dafür sehen will."Die alte Negerin lief in das Haus des Nsäni. Sie blieb in der Türe stehen. Der Nsäni hatte das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug aufgestellt. Die alte Negerin wollte sogleich wieder fortlaufen. Dann fiel ihr ein, was die junge Thägeliths ihr gesagt hatte. Die alte Negerin sagte: "Was willst du für das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug sehen ?" Der Nsäni sagte: "Die geöffneten Beine."
Die alte Negerin lief zurück zu der jungen Thägeliths und sagte: "Es ist ein goldenes Pferd mit einem goldenen Sattel und einem goldenen Zaumzeug. Das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann und die goldene Puppe sind ein Mist dagegen. Er will nur deine geöffneten Beine sehen." Die junge Thägeliths sagte: "Lauf schnell zurück und bring mir den Mann mit dem goldenen Pferd, dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug." Die alte Negerin lief zurück zu dem Nsäni und sagte: "Nimm dein goldenes Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug und komme mit zur jungen Thägeliths."
Der Nsäni nahm das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug und ging mit der alten Negerin zu der jungen Thägeliths. Die junge Thägeliths sah das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug und sagte: "Sieh dir an, was du willst." Der Nsäni blickte zwischen die geöffneten Beine der jungen Thägeliths, schüttelte den Kopf und sagte: "Wie schade!" Die junge Thägeliths sagte: "Was ist schade ?" Der Nsäni sagte: "Es ist schade, daß deine Ischenfiren (Vagina) verdreht sitzt. Es müßte umgearbeitet werden. Sieh dir es selbst im Spiegel an." Danach bedankte sich der Nsäni, ließ das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und dem goldenen Zaumzeug bei der jungen Thägeliths zurück und ging in sein Haus.
Die junge Thägeliths sprang auf und holte einen Spiegel. Sie legte ihn auf die Erde und trat mit gespreizten Beinen darüber. Die junge Thägeliths erschrak. Sie sah ihre Ischenfiren umgekehrt im Spiegel. Sie erschrak so, daß sie sich auf das Bett werfen mußte und weinte. Die alte Negerin kam herein und fragte: "Was weinst
du?" Die junge Thägeliths sagte: "Meine Ischenfiren sitzt umgekehrt. Der geschickte Mann hat es auch gesehen und gesagt, meine Ischenfiren müßte umgearbeitet werden. Wer kann mir nun aber meine Ischenfiren umarbeiten?"Die alte Negerin sagte: "Wer das kann? Der geschickte Mann, der das goldene Huhn, das goldene Eier legen kann, die goldene Puppe und das goldene Pferd mit dem goldenen Sattel und das goldene Zaumzeug machen konnte, der kann dir sicherlich auch deine Ischenfiren umarbeiten." Die junge Thägeliths sagte: "Du hast recht; geh hinüber zu dem geschickten Manne und frage ihn, ob er es tun will."
Die alte Negerin kam zu dem Nsäni und fragte ihn: "Die junge Thägeliths läßt dich fragen, ob du ihre verdrehte Ischenfiren umarbeiten kannst und willst." Der Nsäni sagte: "Das kann ich schon. Das ist aber eine Arbeit, zu der ich acht Tage brauche. Frage die junge Thägeliths, ob ihr das nicht zu lange ist. In kürzerer Zeit kann es niemand machen." Die alte Negerin sagte: "Komm nur gleich mit und besprich es mit meiner Herrin."
Der Nsäni ging zur jungen Thägeliths. Die junge Thägeliths weinte und sagte: "Antworte nur schnell, ob du meine verdrehte Ischenfiren umarbeiten willst, und dann fange an." Der Nsäni sagte: "Ich kann es." Der Nsäni begann die junge Thägeliths zu streichen und zu reiben (Massage elzeph). Die junge Thägeliths sagte: "Das ist angenehm." Dann fiel die junge Thägeliths in Ohnmacht. Die junge Thägeliths stöhnte in der Ohnmacht und sagte nur: "Noch mehr! Noch mehr!" Der Nsäni lag acht Tage bei der jungen Thägeliths. Da erwachte sie und sagte: "Ist die Ischenfiren denn nun richtig herumgedreht ?" Der Nsäni sagte: "Das kannst du daran sehen, ob der Deckel auf den Korb paßt." Die junge Thägeliths sagte: "So decke schnell noch einmal den Deckel auf den Korb." Die junge Thägeliths stöhnte und sagte: "Ach, wie gut der Deckel auf den Korb paßt!"
Die junge Thägeliths heiratete den Nsäni. Der Nsäni wurde der Agelith der Stadt. Die junge Frau liebte ihren Mann über alles. Sie sagte: "Ich habe ein goldenes Huhn, das goldene Eier legen kann; ich habe eine goldene Puppe; ich habe ein goldenes Pferd mit einem goldenen Sattel und goldenem Zaumzeug. Dann habe ich aber auch noch einen Korbdeckel. Und der ist das Beste von allem."
Der Agelith gewordene Nsäni saß oft zu Gericht. Eines Tages führte man ihm zwei Männer vor, die verarmt und verkommen
waren, weil sie es mit ihrer Arbeit zu nichts gebracht hatten. Es waren seine beiden Brüder, der Maurer und der Holzschnitzer. Der Nsäni nahm sie in die Stadt auf und gab ihnen gute Frauen.
33. Schürzenjäger-Variante (Auszug)
Die nachfolgend skizzierte Erzählung gilt merkwürdigerweise als wahre Geschichte.
Vor noch nicht langer Zeit sind einmal drei Brüder gemeinsam zur Arbeit gegangen. Sie arbeiten und ruhen dann unter einem Baume aus. Sie schlafen unter dem Baume ein. Im Schlafe bittet nun ein jeder Gott um eine große Gnade. Der erste bittet: "Ich bitte Gott, daß er mich jeden Tag vierzig Sous in der Tasche haben läßt." Der zweite bittet: "Ich bitte Gott, daß er mich jeden Tag zwanzig Sous in der Tasche haben läßt." Der dritte bittet: "Ich bitte Gott, daß er mir einen Penis geben läßt, der viermal so lang ist wie ich selber bin." Gott erfüllt die Wünsche, während die drei Burschen noch schlafen.
Als sie erwachen, hat der eine vierzig Sous in der Tasche, der zweite zwanzig, der dritte hat einen Penis, der ist so lang, daß er ihn um Schultern und Lenden wickeln muß; er ist so lang, daß er es ihm unmöglich macht, zu arbeiten. Die ersten Brüder ziehen vergnügt ins Land, haben jeden Tag, der eine vierzig, der andere zwanzig Sous in der Tasche und arbeiten dazu noch, so daß es ihnen sehr gut geht. Der aber, der den langen Penis hat, ist erst unglücklich. Er läßt sich eine Zeitlang von den andern beiden mit durchfüttern, dann aber sagt er eines Tages: "Ich sehe, daß ich es nicht ertragen kann, mich von euch durchfüttern zu lassen. Ich muß mir allein helfen. Ich habe noch fünfhundert Franken bei mir, mit diesen muß ich sehen, was ich anfange." Der Mann mit dem Penis trennt sich also von den anderen beiden.
Der Mann mit dem langen Penis trifft einen Mann, der trägt eine Kiste. Der Mann mit dem langen Penis fragt, was er in der Kiste habe. Der Mann antwortet: "In der Kiste habe ich den Schlaf (nadam) und eine Ratte (arartha)." Der Mann mit dem Penis kauft nun die Kiste mit der Ratte und dem Schlafe und sagt bei sich: "Hiermit kann ich nun mein ganzes Leben lang für meinen Unterhalt sorgen." Er schickt nun den Schlaf in die Häuser. Wenn die Leute eingeschlafen sind, geht er hinein und stiehlt, was er gebrauchen kann. Er schickt die Ratte in die Felder, und die Ratte
stiehlt ihm alle Lebensmittel, die er nötig hat. So lebt er lange Zeit gut und hat ein gutes Einkommen. Er zieht umher und es geht ihm sehr gut.Eines Tages kommt der Mann mit dem langen Penis in eine Stadt, in der lebt ein Agelith, der hat eine Tochter von sechsundzwanzig Jahren und ein Usir, der hat eine Tochter von einundzwanzig Jahren. Beide sind unverheiratet und sehnen sich, besonders die Tochter des Agelith, sehr nach einem Manne. Die Tochter des Agelith sieht einmal gerade zum Fenster hinaus, als der Mann seinen Penis, den er mehrmals zusammengerollt hat, auf einen Stein legt und auf den Kopf schlägt, wobei er sagt: "Ich fühle, daß du eine Frau haben willst. Ich bin aber arm und kann dir nur Schläge geben." Die Agelithtochter sieht das vom Fenster aus, sie erregt sich bei dem Anblick so, daß sie in Ohnmacht fällt. Sie ruft eine alte Frau, sendet sie herunter zu dem jungen Mann und läßt ihn bitten, heraufzukommen.
Der junge Mann mit dem langen Penis kommt. Die Agelithtochter setzt ihm Essen vor. Der junge Mann mit dem Penis sagt: "Ich kann noch nicht essen, ich muß erst mein Pferd in den Stall stellen." Die Agelithtochter sagt: "Du hast doch kein Pferd." Der junge Mann sagt: "Ich habe so gut ein Pferd, wie du den Stall hast."
Nun versteht die Agelithtochter. Sie legt sich hin und sagte: "Hier ist der Stall." Der junge Mann rollt seinen Penis auseinander, geht in das fünfte Zimmer und führt von dort aus "sein Pferd in den Stall". Die Agelithtochter ist selig.
Die Agelithtochter behält den Mann mit dem wunderbaren langen Penis im Hause und ist von ihm ganz entzückt. In ihrer Begeisterung erzählt sie davon der Tochter des Usir. Die will auch davon kosten. Die Agelithtochter lädt sie ein. Die Usirtochter ist aber zu jung und zu ungestüm. Sie will an Maß zu viel aufnehmen und wird dabei so erregt, nimmt den Penis so weit in sich auf, daß sie stirbt. Die Agelithtochter und der Mann mit dem langen Penis erschrecken. Sie beschließen gemeinsam zu fliehen. Sie nehmen eine Kiste mit Gold und fliehen von dannen aus dem Ort und in ein fernes Land. In dem anderen Lande, das an der See gelegen ist, wohnt nun ein Agelith, der hat auch eine Tochter, die ist neunundzwanzig Jahre alt und über die Maßen geil. An der Küste wirft der junge Mann nun eines Tages seinen Penis als Angelrute aus und fischt damit. Die Tochter des dortigen Agelith sieht das von ihrem Fenster aus. Sie erregt sich bei dem Anblick außerordentlich. Sie sendet sofort
ihre Negerin aus und läßt den jungen Mann mit dem wundervoll langen Penis rufen.Der junge Mann beschläft nun auch diese Agelithtochter. Diese wird so beglückt, daß sie aus eigenem Antriebe ihre Eltern tötet. Sie heiratet den jungen Mann mit dem langen Penis, und der wird auf diese Weise Agelith.
34. Kabylische Mißgunst
Z wei junge Männer waren immer eng befreundet. Sie gingen stets zusammen und taten nichts, was einer nicht vorher mit dem anderen besprochen hatte. Sie waren miteinander so befreundet, daß sie sich einander zuschworen, dereinst gleich schöne Frauen zu heiraten.
Die beiden Burschen heirateten am gleichen Tage. Die Frau des einen war aber sehr schön und die des anderen war häßlich. Eines Tages sah der Mann der Häßlichen die Frau, die sein Freund geheiratet hatte. Er sah, daß diese Frau sehr schön war. Er wurde zornig und mißgönnte dem Freunde die schöne Frau. Er suchte nun überall im Lande herum nach einer Frau, die an Schönheit der Frau seines Freundes glich. Er fand aber keine gleich schöne Frau.
Nun machte er sich auf und ging zu einem Amrar asemeni, einem weisen Manne, und trug diesem die ganze Sache vor. Der weise Mann sagte: "Es wäre mir lieber gewesen, du wärst in dieser Angelegenheit nicht zu mir gekommen, denn sie wird kein gutes Ende nehmen. Nun du aber durchaus einen Rat haben willst, höre mich: Reize deinen Freund und sage zu ihm, du wärst tapferer als er. Dein Freund wird zu jedem Beweise des Gegenteils bereit sein. Dann sage: So solle er seine Tapferkeit damit belegen, daß er auf dem Grabe einer soeben Gestorbenen die Nacht zubringe. Er soll seinen Maulesel auf dem Grabe anpflöcken und dann auf dem Grabe schlafen." Der Bursche ging.
Der Bursche sagte abends in der Versammlung zu seinem Freunde: "Du bist nicht so tapfer wie ich." Der Freund ward zornig. Der Freund sagte: "Was soll ich tun, um dir zu zeigen, wie tapfer ich bin ?" Der Bursche sagte: "Nimm deinen Maulesel, gehe heute nacht noch auf den Kirchhof. Pflöcke deinen Maulesel auf dem Grab desjenigen an, den wir heute begraben haben, und schlafe auf dem Grabe bis morgen früh." Der Freund sagte: "Das werde ich tun." Der Freund ging.
Als es Nacht war, nahm der Freund seinen Maulesel und ritt auf den Kirchhof. Er ritt zu dem Grabe des Mannes, den sie am Tage vorher dort begraben hatten. An dem Grabe stieg er ab. Es war ganz dunkel. Er mußte umhertasten, um das Grab zu finden. Die frisch geworfene Erde war kalt und naß. Der Freund sah nur einige Umrisse der Zeugen (Steinstücke auf den Gräbern). Der Freund war unsicher. Er stieß den Pflock des Maulesels in die Erde. Er war so unsicher, daß er ihn unbemerkt durch sein eigenes Kleid stieß. Er saß. Nach einiger Zeit wollte er weggehen, um eine Sache zu verrichten. Er ging einen Schritt. Der Pflock hielt ihn. Der Freund glaubte, der Tote halte ihn fest. Der Freund erschrak stark. Er schrie vor Schreck. Er fiel neben dem Maulesel nieder und war tot. Am anderen Morgen kamen Leute und fanden den gestorbenen Freund. Man begrub ihn.
Der Bursche heiratete die schöne Frau seines Freundes. Er hatte nun die schönste Frau der Gegend. Niemand hatte eine Frau, die so schön war wie die seine. Sein Vater sah die Frau seines Sohnes. Er sah, wie schön sie war. Der Vater sagte: "Diese Frau ist zu schön für meinen Sohn. Ich will auch eine so schöne Frau haben wie mein Sohn."
Eines Tages war der Sohn abwesend. Der Vater rief sieben Freunde und sagte: "Versteckt euch unter diesen Ziegenhäuten. Erschreckt meinen Sohn ein wenig!" Es war nachts, als der Sohn heimkam. Die sieben Leute unter den Ziegenhäuten kamen ihm brummend aus allen Ecken des Hauses entgegen. Der Sohn erschrak. Er erschrak so, daß er ohnmächtig hinsank. Er war schwer krank. Nach einem Vierteljahr starb er. Da heiratete der Vater die schöne Frau und hatte nun die schönste Frau von allen Leuten.
Die Freunde des Vaters sahen eines Tages die junge schöne Frau. Sie sagten untereinander: "Dieser Frau wegen hat der Vater seinen Sohn so erschreckt, daß er starb." Die Freunde des Sohnes sagten: "Es ist nicht recht, daß eine so schöne junge Frau dem alten Manne gehört." Die Freunde erstachen den Vater. Die Söhne stritten mit den Freunden des Vaters. Das Dorf ging darüber zugrunde.
35. Said zerstört Mohammeds Vermögen
Die moralische Begründung des Anfangsabsatzes finde ich nur bei einem Erzähler. Die anderen kennen sie nicht
Es waren zwei Vettern. Mohammed war älter und faul. Said war jünger und fleißig. Said mußte für Mohammed arbeiten. Mohammed tat nichts. Er wurde durch die Arbeit Saids reich. Mohammed hatte zwei Ochsen. Said hatte einen Ochsen. Said mußte die Ochsen hüten. Eines Tages sagte Said für sich: "Weshalb soll ich meinen Vetter Mohammed noch weiter fett machen. Bis jetzt wurde er fett und ich arbeitete. Von jetzt an soll er arbeiten und ich will fett werden." Said band die beiden Ochsen Mohammeds an einer dürren Stelle unter einem Baum an und trieb seinen eigenen Ochsen auf die gute Weide. Am anderen Tage machte er es ebenso. Er machte es nun alle Tage so.
Eines Tages trieb er die Ochsen am Männerplatze vorbei nach Hause. Die Männer sahen die vorüberziehenden Ochsen und sagten: "Der Ochse Saids wird alle Tage fetter, die beiden Ochsen Mohammeds werden alle Tage magerer." Mohammed war unter den Männern. Mohammed hörte, was sie sagten. Mohammed ward zornig. Am anderen Tage stand Mohammed früh auf und folgte dem Said, als er die Ochsen auf die Weide trieb. Said sah nicht, daß ihm Mohammed folgte. Als Said mit den Ochsen auf dem Weideplatz ankam, gingen die beiden Ochsen Mohammeds nach ihrer Gewohnheit an den trocknen Platz unter dem Baum. Den eigenen Ochsen weidete Said aber im guten Grase. Mohammed ging, ohne daß Said ihn gesehen hatte, nach Hause.
Am anderen Tage stand Mohammed früh auf und sagte zu Said: "Heute will ich die Ochsen hüten." Said sagte: "Es ist mir recht." Mohammed färbte nun alle drei Ochsen schwarz und trieb sie auf die Weide. Mohammed band nun aber Saids Ochsen am Baume an der dürren Stelle an und trieb seine Ochsen in das gute Gras. Nach einiger Zeit kam auch Said an die Weide. Mohammed sah ihn kommen, band den Ochsen Saids ab und ließ ihn zwischen seine beiden Ochsen weiden. Said hatte es aber gesehen. Er kam heran. Er schlug mit seinem Beil seinen Ochsen tot und sagte: "Ich weiß so mehr Geld zu verdienen." Mohammed sagte: "Wieso denn?" Said sagte: "Das wirst du sehen. Hüte in Zukunft deine Ochsen allein."
Said zog darauf seinem Ochsen die Haut ab. Er breitete die Haut
nicht aus, sondern ließ sie zusammengerollt im Schatten liegen. Die Haut des Ochsen begann zu stinken. Als die Haut seines Ochsen stinkend geworden war, ging er damit auf den Markt und bot sie aus. Die Leute lachten ihn aus. Niemand wollte für die stinkende Ochsenhaut einen guten Preis zahlen. Endlich verkaufte er die stinkende Ochsenhaut für ein kleines Silberstück. Er nahm das kleine Silberstück und machte in die Mitte ein Loch hinein.Said ging nun auf dem Markt umher. Er kam an einen Händler, der sagte zu einem anderen: "In diesem Beutel müssen fünfhundert Duro sein." Said hörte es im Vorübergehen. Der Händler setzte sich in einen Winkel und öffnete den Beute!, um seine Duros zu zählen. Als er einmal zur Seite sah, warf Said unbemerkt sein kleines durchbohrtes Silberstück dazwischen. Dann trat er von der anderen Seite auf den Mann zu, blickte auf den Beutel und schrie weit auf den Marktplatz hin: "Dies ist mein Beute! und mein Geld! Dies ist mein Beute! und mein Geld!" Sofort kamen eine Menge Leute dazu, standen herum und hörten zu. Der Händler sagte: "Das ist mein Beute! und mein Geld." Said sagte: "Das ist mein Beute! und mein Geld!"
Die Leute sagten: "Der, dem der Beutel und das Geld gehören, der muß wissen, wieviel Geld in dem Beutel ist." Der Händler sagte: "In meinem Beutel sind fünfhundert Duro!" Said sagte: "Nein, es sind fünfhundert Duro und ein kleines durchlöchertes Silberstück darin. Und wenn es so ist, dann ist es mein Beute! und mein Geld." Der Händler sagte: "Das ist nicht wahr. In meinem Beute! sind nur fünfhundert Duro, nicht mehr, nicht weniger!" Said sagte: "Dann mögen diese Leute zählen. Wenn es mein Beute! ist, dann muß noch ein kleines durchlöchertes Silberstück darin sein."Die Leute zählten. Sie fanden fünfhundert Duro und darunter das kleine durchbohrte Silberstück. Die Leute sagten zu dem Händler: "Du siehst selbst, daß der Beute! und das Gold Said gehören. Denn in dem deinen sind nur fünfhundert Duro, in diesem ist aber noch das kleine durchbohrte Geldstück."Said erhielt den Beutel mit den fünfhundert Duro und dem kleinen durchbohrten Silberstück und ging damit heim.
Said kam nach Hause und zeigte seiner Frau und den Leuten von dem Gelde. Die Leute sprachen davon. Die Leute sagten: "Said ist mit einem Male ein wohlhabender Mann." Mohammed hörte es. Mohammed kam zu Said und sagte zu ihm: "Du hast viel Geld. Wie bist du dazu gekommen? Kann ich nicht das gleiche machen, um auch wohlhabend zu werden ?"Said sagte: "Sicherlich, Mohammed,
kannst du das gleiche tun. Ich habe meine fünfhundert Duro für die stinkende Haut meines Ochsen erhalten. Schlägst du nun deine zwei Ochsen tot, läßt die Haut noch stinkender werden als die meine, dann kannst du über tausend Duro gewinnen und hast noch das Fleisch für deine zwei Frauen. Außerdem sparst du die Arbeit des Hütens." Mohammed sagte: "Du hast recht."Mohammed nahm das Beil und schlug seine beiden Ochsen tot. Dann zog er beiden die Haut (achulim) ab. Die Häute bedeckte er mit Mist (lochba) und warf einen Misthaufen (aghusu oder achusu) darüber. So ließ er sie einige Wochen liegen. Er nahm sie heraus. Die Häute stanken furchtbar. Mohammed ließ Said rufen. Mohammed fragte Said: "Sind die Häute so recht?" Said sagte: "Sie sind so ausgezeichnet. So trage sie auf den Markt. Wenn du nun auf den Marktplatz kommst, werden die Leute dich der Haut wegen beschimpfen und ausspeien. Dies ist dann nur ihre Wut darüber, daß sie sie nicht kaufen können, weil sie nicht wohlhabend genug sind, den hohen Wert zu bezahlen. Warte dann nur bis zum Abend. Je weniger die Leute dir dafür bieten, desto mehr sind sie wert. Du mußt nur so lange warten, bis sie sich nicht mehr versteckt halten und miteinander um den wahren Wert in Streit geraten."
Mohammed ging mit den beiden stinkenden Häuten auf den Markt. Als Mohammed auf den Markt kam, beschimpften ihn die Leute. Sie spien ihm ins Gesicht. Mohammed sagte: "Said hat recht, die Häute müssen sehr wertvoll sein." Said kam auch auf den Markt. Er ließ sich von seinem Vetter nicht sehen. Said sah, wie die Leute Mohammed der Häute wegen anspien und beschimpften. Said ging wieder nach Hause. Said freute sich.
Mohammed ging mit seinen stinkenden Ochsenhäuten bis zum Abend über den Markt. Da war er müde. Ein Mann zahlte ihm zehn Kupferstücke. Mohammed nahm die zehn Kupferstücke und ging nach Hause. Mohammed kam zornig nach Hause. Mohammed wollte Said überfallen und schlagen. Said floh.
Said floh und lief über das Land. Said sah von ferne einen Hirten mit seiner Herde. Said begann zu weinen. Der Hirt sah ihn und fragte ihn: "Weshalb weinst du?" Said sagte: "Mein Vetter Mohammed gibt ein großes Fest. Er hat mich eingeladen und nun muß ich hingehen. Ich liebe aber diese Feste meines reichen Vetters nicht." Der Hirt sagte: "Ich will dir einen Vorschlag machen. Hüte du die Schafe, und ich will statt deiner zu deinem Vetter gehen. Gib mir nur das Thausa (d. i. das übliche Gastgeschenk von zwanzig bis dreißig
Doppelsousstücken)!" Said lachte und sagte: "Das ist ein guter Vorschlag. Hier nimm das Thausa!" Der Hirt nahm das Thausa und ging fort, um sich umzukleiden. Said trieb die Herde dahin, wo er wußte, daß er Mohammed treffen würde.Mohammed sah Said mit der großen Schafherde und fragte Said: "Said, wo hast du die vielen Schafe her." Said sagte: "Diese Schafe hat mir das Meer geschenkt." Mohammed sagte: "Das Meer? Wie hast du das gemacht?" Said sagte: "Ich habe mich in das Meer gestürzt. Als ich bei ihm war, sah ich solche Mengen herrlicher Schafe, daß mir nicht möglich war, auch nur einige der besten herauszusuchen. Ich nahm, was ich gerade vor mir hatte, bedankte mich beim Meer und ging." Mohammed fragte: "Kann ich das auch machen?" Said sagte: "Du kannst es ebenso machen. Du kannst aber sehr viel mehr Schafe nach Hause treiben und sie besser aussuchen. Denn ich war ganz allein. Ich habe keine Frau und habe keine Hunde. Du aber hast zwei Frauen und zwei Hunde." Mohammed sagte: "Ich sehe, daß du recht hast. So werde ich es machen. Ich will nach Hause gehen und meine beiden Frauen und Hunde holen. Dann geh mit uns an das Meer und zeige mir die Stelle, wo man hineingeht." Said sagte: "Es ist recht, so wollen wir es machen. Ich treibe meine Schafe schon langsam dahin voraus."
Mohammed lief nach Hause. Er rief seine zwei Hunde. Er rief seine zwei Frauen. Er kam mit seinen Hunden und Frauen. Er kam mit Said zu einem Felsen am Meere. Said sagte: "Nun wirf zuerst deine beiden Hunde hinab." Mohammed warf zuerst die beiden Hunde hinab. Die beiden Hunde schwammen eine lange Zeit emsig umher, bald hierhin, bald dorthin. Sie konnten an dem schroffen Felsenufer nicht heraufkommen. Said sagte zu Mohammed: "Sieh, wie deine Hunde über die vielen Schafe im Meere vergnügt sind. Sie sehen so viele, daß sie sich nicht entscheiden können, wo sie sich auf sie stürzen sollen, um sie herauszutreiben." Mohammed sagte: "Ich sehe, du hast recht."
Said sagte: "Nun wirf deine zwei Frauen herunter, damit sie die Schafe aussuchen, die die beste Wolle für die Burnusse haben." Mohammed warf seine beiden Frauen herunter. Die beiden Frauen gingen sogleich unter. Said sagte: "Deine Frauen können nicht schnell genug zum Geschäft kommen. Sieh, wie sie sich eilen." Mohammed sagte: "Ich sehe, du hast recht." Mohammed und Said warteten eine lange Zeit. Mohammed sagte: "Die Frauen kommen ja gar nicht wieder!" Said sagte: "Ja, das ist so recht die Art der
Frauen, sie können sich nie schnell entschließen, sie handeln und tauschen und wählen immer lange und werden nie eher fertig, als bis ein Mann kommt und Kürze befiehlt. Da unten sind aber so viele schöne Schafe, daß ihnen die Auswahl schwer fällt. Es wird besser sein, wenn du selbst einmal nachsiehst." Mohammed sagte: "Ich sehe, daß du recht hast." Mohammed sprang ins Wasser und ging unter.Said ging nach Hause. Er zog aus seinem kleinen Hause in das große Haus Mohammeds und erbte so alles, was er für Mohammed erarbeitet hatte.
VIERTER TEIL
LEBENSWEISHEIT
(SCHELMEN UND NARREN)
36. Djeha
Dscheha oder Djeha ist eine der berühmtesten Persönlichkeiten der kabylischen Erzählungskunst. Man erzählt sich verschiedene Streiche in verschiedener Reihenfolge aneinander gekettet. Auch der Schluß weicht in den verschiedenen Varianten stark voneinander ab)
Im Anfange war Djeha der ehrlichste und fleißigste Mann. Man erzählt sich aber, daß Djeha eines Morgens mit seinen zwei Ochsen auf das Feld ging, um zu pflügen. Zwei Diebe hatten Djeha mit seinen Ochsen fortgehen sehen und sagten untereinander: "Wir wollen die Ochsen Djehas stehlen." Sie gingen hinter Djeha her. Djeha kam auf den Hügel, auf dem sein Feld lag. Dort pflügte er mit seinen Ochsen.
Der eine der beiden Diebe blieb in einem Gebüsch am Fuße des Hügels und hockte hier an einem trockenen Graben nieder. Der andere stieg mit einem Korb voll Feigen (thatharth) zu Djeha empor und sagte: "Hast du genug zu essen, oder darf ich dir einige Feigen anbieten ?" Djeha, der in der letzten Zeit wenig zu essen gehabt hatte, sagte: "Nein, ich habe jetzt wenig zu essen. Es ist jetzt Frühling (arr'wär) und da ist alles so teuer. Ich freue mich, wenn ich einige Feigen preiswert kaufen kann." Der Dieb verkaufte Djeha die Feigen zu einem angemessenen niedrigen Preise. Djeha aß alle Feigen. Djeha hatte, nachdem er alle Feigen gegessen hatte, Durst.
Djeha fragte: "Hast du ein wenig Wasser in deinem Ziegenschlauch? Ich habe starken Durst." Der Dieb sagte: "Nein, Wasser habe ich nicht, aber als ich vorhin hier heraufsteigend an dem Graben dort unten im Gebüsch vorbeikam, stand da ein Mann, der wusch da seine Kleider. Geh hinab und hole dir also dort unten Wasser, wenn du so durstig bist." Djeha sagte: "Sonst pflegt doch kein Wasser in dem Graben zu sein." Der Dieb sagte: "Ich sage dir, ich sah eben noch den Menschen seine Kleider waschen." Djeha sagte: "So bleibe du einen Augenblick bei den Ochsen, während ich hinabgehe, etwas zu trinken. Bewache die Ochsen so lange, bis ich zurückkehre." Der Dieb sagte: "Das will ich tun." Djeha ging den Hügel hinab zu dem Graben im Busch.
Kaum war Djeha vom Rande des Hügels ein wenig entfernt, so knotete der Dieb den einen der zwei Ochsen vom Pfluge los und trieb ihn von dannen.
Djeha kam mittlerweile an den trocknen Graben im Gebüsch an. Der andere Dieb stand hier und wusch mit trockenem Sand die Kleider.
Djeha sah eine Weile zu, dann sagte er: "Du Narr! Du wäscht ja deine Kleider mit trockenem Sande." Der Dieb sagte: "Was soll ich tun, wenn kein Wasser vorhanden ist ?"Djeha sagte: "Wie heißt du denn?" Der Dieb sagte: "Ich heiße Themenhä-wayad (d. i. etwa "den Rest vollbringen")". Djeha ging, ohne seinen Durst gelöscht zu haben, zu seinem Ochsengespann zurück.Als er über die Kante des Hügels kam, sah Djeha, daß der fremde Mann einen seiner Ochsen abgespannt und fortgetrieben hatte. Er sagte bei sich: "Ich werde den Mann verfolgen." Dann rief er laut zurück in den Graben: "Themenhä-wayad!" Der zweite Dieb antwortete: "Ja, ja, ich komme schon!" Als der zweite Dieb angekommen war, sagte Djeha zu ihm: "Soeben hat mir ein Dieb einen Ochsen ausgespannt und fortgetrieben. Ich will ihm nachlaufen. Kannst du solange den anderen Ochsen beaufsichtigen ?" Der zweite Dieb sagte stolz: "Ich bin Themenhä-wayad." Djeha sagte: "Gut denn, tue so!" Djeha lief alsdann hinter dem ersten Dieb mit dem Ochsen her.
Kaum war Djeha auf der einen Seite des Hügels weggegangen, so knotete der zweite Dieb den zweiten Ochsen vom Pfluge los und trieb ihn nach der anderen Seite von dannen. Nicht weit davon entfernt traf er mit dem ersten Dieb zusammen, beide zogen nun mit den gestohlenen Ochsen zum Markte.
Djeha lief inzwischen ein gutes Stück hinter der Fußspur her, bis sie sich auf der Straße verlor. Dann kehrte er betrübt zurück. Als er nun auf den Hügel kam, sah er sich nach dem anderen Ochsen um. Es war kein Ochse mehr vor dem Pfluge. Da nahm er seine kleine Hacke (thakarescht) auf die Schulter und setzte sich neben dem Pfluge (l'marrum) nieder, um zu wachen, daß wenigstens nicht auch dieser gestohlen würde. Djeha saß hier die ganze Nacht und dachte vor sich hin. Im Beginn der Nacht war Djeha betrübt. Um Mitternacht war er zornig. Als es Morgen wurde, stand er aber auf und schwur: "Ich war bisher ein ehrlicher Mann und habe mich bemüht, durch Arbeit das zu verdienen, was ich brauchte. Ich habe den Menschen immer getraut, trotzdem meine Mutter mich warnte. Dabei bin ich im Leben nicht vorwärts gekommen, sondern rückwärts. Ich habe meiner Mutter nicht gefolgt, und nun bin ich daran, zu verarmen. Die Menschen sollen aber nicht glauben, daß ich etwa törichter sei als die anderen. Die Menschen haben bislang mich betrogen und von meiner Arbeit gelebt. Von jetzt ab werde ich die Menschen betrügen und von ihrer Arbeit leben. Vordem war keiner,
der mir in der Arbeit über war, in Zukunft soll keiner sein, der mich an Klugheit übertrifft."Das sagte Djeha, dann ließ er seinen Pflug stehen und ging mit der Hacke auf der Schulter nach Hause, bestieg seinen Esel und ritt ebenfalls in die Stadt.
Mittlerweile hatten die beiden Diebe die Ochsen verkauft und standen nun in einem Winkel, um das Geld untereinander zu teilen. Auf dem Markt trieb sich aber noch ein dritter Dieb herum, der kannte die anderen beiden von früher. Er beobachtete die beiden Diebe, und als sie im Winkel standen, um den Erlös für die verkauften Ochsen untereinander zu teilen, trat er zu ihnen und sagte: "Ich weiß, daß ihr dieses Geld für die zwei Ochsen bekommen habt, die ihr Djeha gestohlen habt. Wenn ihr es nun nicht sogleich gutwillig mit mir teilt, gehe ich hin und zeige euch an." Die anderen beiden Diebe erschraken und erklärten sich dann bereit. So teilten sie dann das Geld in drei Teile und schwuren sich danach unverbrüchliche Freundschaft zu.
Djeha kam auf dem Markte an. Er hielt Umschau und erkannte alsbald die beiden Diebe. Djeha sagte aber nichts. Er blieb auf dem Markte bis zum Nachmittage und als er sah, daß die Diebe sich auf den Heimweg machten, richtete er es so ein, daß er vor ihnen herritt. Ehe er aber abritt, legte er unter den Schwanz seines Esels ein Goldstück.
Als Djeha nun auf dem Heimwege merkte, daß er dicht vor den drei Dieben herritt, kniff er den Esel insgeheim, so daß das Tier hinten hoch ging und dabei das Goldstück fallen ließ, das klirrend auf dem steinigen Boden aufschlug. Djeha streichelte aber sogleich den Esel und ermahnte ihn laut: "Mein Esel, behalt deine Goldstücke so lange bei dir, bis wir zu Hause sind und du auf deinem Teppich stehst." Dann wandte er sich um und sagte zu den Dieben, die erstaunt das blinkende Goldstück aufgehoben hatten: "Ihr Wanderer, nehmt das Stückchen ruhig zu euch und behaltet es; ich habe genug davon daheim!" Die drei Diebe sahen sich untereinander erstaunt an und sagten: "Was ist das? Ein Esel, der statt Mist Gold fallen läßt? Den müssen wir kaufen."
Die drei Diebe traten zu Djeha und fragten: "Läßt dein Esel statt Mist Gold fallen ?" Djeha lachte und sagte: "Habt ihr es denn nicht eben selbst gesehen?" Die drei Diebe sagten: "Wir möchten diesen goldmachenden Esel kaufen; wieviel forderst du für ihn?" Djeha sagte: "Der Esel ist mir nicht feil." Die Diebe drangen in ihn und
sagten: "Nenne uns den Preis!"Djeha sagte: "Der Esel ist mir nicht feil, und ich würde auch nicht daran denken, ihn zu verkaufen, wenn ich nicht immer Sorge hätte, daß er mir eines Tages gestohlen werden könnte." Die Diebe sagten: "So sage uns den Preis."Djeha sagte: "Wenn ich ihn weggebe, geschieht es nur für fünfhundert Goldstücke!" Die Diebe sagten: "Wir wollen dir die fünfhundert Goldstücke zahlen." Dann führten sie den Esel heim und zahlten Djeha die fünfhundert Goldstücke. Djeha sagte zum Abschied: "Nun metkt euch, wie der Esel behandelt werden muß: er frißt nur Allerbestes, er ist gewohnt, auf einem Teppich zu schlafen, aus dem ihr dann allmorgendlich die Goldstücke ausschütten könnt." Dann ging Djeha mit seinen fünfhundert Goldstücken heim.Die Diebe einigten sich unterdessen, daß sie den Esel jeder je einen Tag in seinem Hause behalten und so sein Gold immer einer nach dem anderen der Reihe nach gewinnen wollten. Der Älteste nahm also den Esel mit sich nach Hause. Er räumte die beste Stelle frei, breitete seinen besten Teppich aus und ließ ihm durch seine Frau das beste Essen bereiten. Vor Ungeduld konnte er die ganze Nacht nicht schlafen und jedesmal, wenn der Esel entsprechende Töne von sich gab, rief er: "Nur gründlich! Mein Esel! Entleere dich nur gründlich!" Als es Morgen war, ging er sogleich hin, um das Gold zusammenzulesen. Es war aber kein Gold da; hingegen hatte der Esel infolge des guten Essens den schönen Teppich gründlich beschmutzt und vollkommen verdorben.
Der Dieb sagte aber nichts. Er brachte, wie es verabredet war, den Esel dem zweiten Dieb. Hier ging es genau ebenso. Auch dieser sagte nichts und brachte ihn dem dritten. Als der nun das gleiche erlebt hatte, kamen die drei Diebe zusammen und sagten: "Der Esel macht kein Gold. Er macht Mist wie alle anderen Esel. Djeha hat uns betrogen. Wir wollen zu Djeha gehen und unser Geld zurückfordern." Damit machten sich die drei Diebe gemeinsam auf den Weg.
Djeha sagte sich: "Es sind drei Tage vergangen, heute werden die drei Diebe kommen und ihre fünfhundert Goldstücke zurückverlangen." Dann ließ er von seiner Frau eine Platte mit allerbestem Kuskus bereiten. Als sie fertig war, machte er mit seiner Hacke ein Loch in den Boden der Hütte, versenkte das Gericht, bedeckte es sorgfältig und deckte die Stelle wieder mit Erde zu. Kaum war er damit fertig, so kamen auch schon die drei Diebe."
Djeha begrüßte die drei Diebe und sagte: "Ihr kommt sicher wegen eines Geschäfts. Nun das können wir nachher abmachen; erst wollen
wir nun einmal recht gut essen. Nehmt Platz! Wie geht es denn dem Esel?" Die drei Diebe sagten: "Dem Esel geht es sehr gut." Djeha rief seine Frau und sagte: "Hier sind Freunde. Ich will mit ihnen essen; reiche mir einmal die Kuskushacke (Kuskus-suksu)." Die Frau brachte ihrem Mann die Hacke. Djeha hackte da, wo der Kus-. kus kurz vorher vergraben war, ein wenig Erde beiseite und hob das noch dampfende Gericht heraus.Die drei Diebe sahen verblüfft zu. Sie sahen das dampfende, wohlriechende Gericht. Sie aßen mit Djeha zusammen. Es mundete ausgezeichnet. Djeha stand auf und sagte: "Verzeiht einen Augenblick. Ich will nur meiner Frau draußen den Auftrag geben, uns etwas zu trinken zu bringen." Er ging hinaus. Sogleich steckten die drei Diebe die Köpfe zusammen und sagten: "Was ist das? Eine Kuskushacke, mit der man nur ein wenig den Boden zu ritzen braucht, um ein vorzügliches Gericht zu gewinnen? Und wieviel Arbeit macht die Bereitung des Kuskus unseren Frauen?! Wie oft müssen wir stundenlang auf die Zubereitung warten! Wie kostspielig ist es, ein so gutes Essen herzurichten! Wir wollen Djeha die Kuskushacke abkaufen!"
Djeha kam wieder herein. Die drei Diebe sagten: "Wir wollen dir die Kuskushacke abkaufen! Sage uns den Preis!"Djeha sagte: "Die Kuskushacke ist eine der besten Dinge, die ich von meinem Vater geerbt habe; sie ist mir nicht feil. Denkt nur, wieviel Arbeit sie meiner Frau erspart!" Die drei Diebe sagten: "Deshalb wollen wir sie ja gerade kaufen. Daß sie wertvoll ist, sehen wir. Sage uns also den Preis." Djeha sagte: "Einem Fremden würde ich die Kuskushacke überhaupt nicht geben. Ich würde sie nur Freunden aus Freundschaft ablassen." Die drei Diebe sagten: "Wir sind deine besten Freunde! Djeha, sage uns also den Preis." Djeha sagte: "Ihr Wert würde mindestens fünfhundert Goldstücke sein." Die drei Diebe liefen nach Hause. Sie holten die fünfhundert Goldstücke und bezahlten die Kuskushacke. Dann gingen sie, glücklich über die Erwerbung, wieder heim und vergaßen in ihrer Freude ganz mit Djeha wegen des goldmistenden Esels zu sprechen.
Die drei Diebe verabredeten untereinander wieder, daß jeder die Kuskushacke einen Tag behalten dürfe und sie dann dem nächsten weiterzugeben habe. Der erste nahm die Kuskushacke über die Schulter. Er kam nach Hause und sagte: "Frau, du brauchst heute keinen Kuskus zu bereiten. Ich habe die Kuskushacke!" Die Frau freute sich und sagte: "So zeige einmal, was deine Kuskushacke
kann." Der Dieb begann sogleich im Fußboden seiner Hütte zu hacken. Er konnte aber hacken, so tief er wollte, es kam kein Kuskus zutage. Er machte ein ganz tiefes Loch. Es kam kein Kuskus zutage. Die Frau stand daneben und sah ängstlich zu. Sie sagte bei sich: "Mein Mann ist verrückt geworden." Der Dieb hackte den ganzen Boden der Hütte auf. Er zerstörte den Boden und die Lehmbänke. Es kam kein Kuskus zutage, und als es Nacht war, war alles rundherum aufgerissen und in Unordnung. Der Dieb und seine Frau mußten aber hungrig zu Bett gehen.Wie es verabredet war, gab er am anderen Morgen die Kuskushacke dem nächsten Dieb weiter. Er sagte aber nicht, wie es ihm ergangen war. Der zweite verbot nun auch seiner Frau Kuskus zu bereiten und begann genau wie der erste Dieb den Boden seines Hauses zu zerstören, um nachher, als es Nacht ward, mit seiner Frau hungrig zu Bett zu gehen. Ebenso erging es dem dritten, und dann sprachen die drei Diebe untereinander: "Die Kuskushacke bringt keinen Kuskus heraus, es ist eine Hacke wie jede andere Hacke. Djeha ist nicht mehr ein törichter, ehrlicher Mann wie früher. Djeha versteht das Betrügen jetzt ebensogut wie wir. Er hat uns erst mit dem Esel und dann mit der Kuskushacke betrogen. Wir wollen zu Djeha gehen und unser Gold zurückfordern." Damit machten sich die drei Diebe gemeinsam auf den Weg.
Djeha sagte sich: "Es sind drei Tage vergangen. Heute werden die Diebe wiederkommen." Djeha ging auf den Hof und ergriff einen großen Hahn. Er schnitt ihm den Hals ab und den Bauch auf und nahm die Gedärme heraus. Den Darm füllte er mit Blut und band ihn seiner Frau um den Hals, so daß er vom Kleide bedeckt war. Kaum war er damit fertig, so kamen die drei Diebe.
Djeha begrüßte die drei Diebe und sagte: "Ihr kommt sicher wegen eines Geschäftes. Nun, das können wir wieder nachher abmachen, erst wollen wir nun einmal gemeinsam essen. Nehmt Platz! Frau, mach' uns gleich einen guten Kuskus!" Die Frau Djehas brummte und sagte: "Seit wir nicht mehr die Kuskushacke haben, kann ich von früh bis spät arbeiten." Djeha sagte: "Nun mach' schnell!" Die Frau sagte: "Weshalb hast du die Kuskushacke verkauft, ich bin müde." Djeha wurde zornig. Er sprang auf seine Frau zu, zog sein Messer und schnitt den mit Blut gefüllten Darm des Hahnes durch. Die Frau sank blutüberströmt zu Boden. Djeha sagte: "So, nun liege deine Zeit, das ist deine Strafe!"
Die drei Diebe erschraken und sagten: "Aber Djeha, wie kannst
Zur Schöpfungsgeschichte Das kleine Weizenkorn (unten links) hat statt seiner den Stein ai Baum gehängt, zu dem die Flammen hochlecken. Um das Feuer Teriel. (Zu Nr. 24.) Eine Beeinflussung fand lediglich insofern statt, als der Darsteller bei Bilde veranlaßt wurde, alle Figuren nebeneinander und vor das Feuer zu,Djeha nahm sein Messer, strich es dreimal um den Hals seiner Frau und sagte feierlich: "Thenak thaiju! Thenak - thaiju! Thenak thaiju!" Die Frau Djehas erhob sich, sie sah Djeha an und sagte: "Nun ist es ja gut, ich will den Kuskus ja machen!" Die Frau ging hinaus. Djeha sagte: "Ich will ihr herausgeben, was sie nötig hat. Verzeiht einen Augenblick." Djeha folgte seiner Frau.
Sogleich steckten die drei Diebe ihre Köpfe zusammen und sagten: "Habt ihr das gesehen? Mit dem Messer hat er seine Frau getötet; mit dem Messer hat er seine Frau wieder belebt. Wie leicht hat er es, mit diesem seine Frau in Gehorsam zu erhalten! Wie schwer haben wir es dagegen, unsere Frauen zur Ordnung zu bringen, wenn sie arbeiten sollen oder eifersüchtig sind. Dieses Belebungsmesser ist eine herrliche Sache. Wir wollen das Belebungsmesser Djeha abkaufen."
Djeha kam wieder herein. Er sagte: "So, nun ist meine Frau fleißig an der Arbeit, wir werden nun bald essen können! Wie sollte man mit störrischen Frauen fertig werden, wenn es nicht so ausgezeichnete Dinge gäbe." Die drei Diebe sagten: "Dieses Belebungsmesser ist allerdings eine ausgezeichnete Sache. Wir wollen es dir abkaufen. Was willst du dafür haben?" Djeha sagte: "Was denkt ihr; das Belebungsmesser ist mir nicht feil!" Die drei Diebe sagten: "Wir sind gute Freunde! Sage uns den Preis. Wir wollen ihn sogleich bezahlen." Djeha sagte: "Das Messer ist die Ordnung meines Hauses, wie sollte ich es auch Freunden überlassen können, es sei denn, daß diese noch bösere Frauen haben als ich, so daß es dort noch mehr nützt." Die drei Diebe sagten: "Unsere Frauen sind noch viel böser als die deine, nenne uns den Preis." Djeha sagte: "Sogar dann kann ich mich nur schwer davon trennen, auch wenn ich fünfhundert Goldstücke dafür erhalte." Die drei Diebe sagten: "Die fünfhundert Goldstücke sollst du erhalten." Die drei Diebe liefen heim und holten schnell die fünfhundert Goldstücke. Djeha gab ihnen das Messer. Die drei Diebe gingen damit eilig nach Hause und vergaßen in ihrer Freude ganz, mit Djeha wegen des Esels und der Kuskushacke zu sprechen.
Die drei Diebe verabredeten untereinander, daß jeder immer einen
Tag lang das Belebungsmesser haben solle, am anderen Tage solle er es dann weitergeben. Der erste nahm also das Messer und ging in sein Haus. Als er in die Türe trat, herrschte er seine Frau an und sagte: "Schnell, jetzt den Kuskus gemacht! Ich bin hungrig!"Seine Frau sagte: "Nun, nun! Ich will ja schon schnell machen. Jede Sache braucht aber ihre Zeit!"Der Dieb sagte: "Was da Zeit! Gar keine Zeit hat es! Ihr Weiber seid ein störrisches Volk. Aber es gibt, dem Herrn sei Dank, Mittel, euern Gehorsam zu erzwingen!" Die Frau sagte: "Was, so willst du mir kommen? Dann werde ich dich verlassen und zu meiner Mutter zurückkehren. Seit du dein Geld für Mistesel und Erdhacken verschleuderst, glaube ich überhaupt nicht mehr an deinen Verstand!" Der Dieb wurde zornig. Er zog das Messer und rief: "Kennst du das da? Mit dem werde ich dich, wenn du aufbegehrst, töten und so lange tot liegen lassen, wie es mir gut scheint; und eher werde ich dich auch nicht wiederbeleben." Die Frau des Diebes sagte: "Du bist wahrhaftig betrunken!" Der Dieb sagte: "Das werden wir nachher sehen! Erst stirb einmal!" Damit sprang er auf sie zu und schnitt ihr den Hals durch. Die Frau fiel tot und blutüberströmt zu Boden. Der Dieb sagte: "So nun liege deine Zeit. Das ist deine Strafe."Der Dieb ging dann eine Weile herum. Er betrachtete das Messer und sagte: "In Zukunft wird meine Frau gehorchen." Der Dieb ging eine Weile herum. Er betrachtete das Messer und sagte: "Was meine Frau wohl sagen wird, wenn ich sie wieder belebt habe."Der Dieb ging eine Weile herum. Er betrachtete das Messer und sagte: "Ich hoffe, daß ich es auch richtig gemacht habe." Der Dieb trat an die Leiche seiner Frau, strich dreimal mit dem Messer um den Hals seiner Frau und sagte (feierlich): "Thenak -thaiju! Thenak thaiju! Thenak -thaiju!" Die Frau des Diebes rührte sich nicht. Der Dieb sagte: "Meine Frau ist noch störrischer, als die Frau Djehas. Bei meiner Frau muß man die Wiederbelebung wiederholen." Der Dieb nahm wieder das Messer, strich es dreimal um den Hals der Leiche seiner Frau und sagte (feierlich): "Thenak -thaiju! Thenak -thaiju! Thenak -thaiju!" Die Leiche rührte sich nicht. Den Dieb befiel eine große Angst. Wieder und immer wieder umstrich er den Hals der Leiche seiner Frau und wiederholte immer wieder (feierlich): "Thenak -thaiju! Thenak -thaiju! Thenak - thaiju!" Endlich sah er ein, daß er seine Frau zwar getötet hatte, sie aber nicht wiederbeleben könne. Er trug die Leiche hinaus und begrub sie.
Am anderen Morgen gab er, wie verabredet und ohne etwas zu sagen, das Belebungsmesser dem zweiten Dieb. Der zweite Dieb tötete und begrub seine Frau wie der erste. Er gab am dritten Morgen und wie verabredet, und ohne etwas zu sagen, das Belebungsmesser dem dritten Dieb. Der dritte Dieb tötete und begrub seine Frau wie der erste und der zweite. Dann aber kamen die drei Diebe zusammen und sagten: "Das Belebungsmesser kann nicht wiederbeleben. Es ist ein Messer wie jedes andere, und wir haben alle drei damit unsere Frauen getötet. Djeha ist jetzt nicht nur ein Betrüger wie wir, sondern er ist auch noch klüger als wir. Er hat uns um unser Geld und um unsere Frauen betrogen. Wir wollen hingehen und Djeha töten, denn sonst bringt er womöglich uns noch um das Leben." Damit machten die drei Diebe sich gemeinsam auf den Weg.
Djeha sagte sich: "Es sind drei Tage vergangen, die drei Diebe werden ihre Frauen getötet haben. Heute werden sie kommen und mich töten wollen. Dieses Mal ist es eine ernste Sache. Deshalb will ich mich nur gleich in mein Grab legen." Djeha nahm eine Hacke und grub ein Grab. Er baute es weit und groß und stellte sich Essen hinein. Er machte auf der Seite das Opferloch (leghar-rabi-Loch Gottes; ein solches war früher bei allen alten Kabylengräbern angebracht; vergl. oben S. 14), nahm eine Zange (thirandi), stieg hinab und ließ seine Frau das Grab schließen.
Die drei Diebe kamen. Djehas Frau trat ihnen weinend entgegen und sagte: "Warum seid ihr, die Freunde Djehas, nicht zu seinem Begräbnis gekommen! Nun ist er schon seit zwei Tagen gestorben. und heute erst kommt ihr." Die drei Diebe sagten: "Was sagst du, dein Mann ist gestorben ?"Die Frau Djehas sagte: "Ja, vor zwei Tagen ist er gestorben, und wir mußten ihn gleich begraben."
Die drei Diebe wurden zornig. Sie sagten: "So zeige uns das Grab!" Die Frau Djehas sagte: "Das tue ich gern, kommt mit." Sie führte die drei Diebe zu der Stelle, an der sich Djeha hatte eingraben lassen, und sagte: "Dies ist es." Der erste Dieb sagte: "Dein Djeha hat mich um mein Gold und um meine Frau betrogen. Ich will ihm noch im Tode einen Schimpf antun." Der erste Dieb schob den Stein über dem Opferloch beiseite und hockte sich über das Opferloch. Da steckte Djeha die Zange von unten hinauf und kniff mit der Zange den ersten Dieb. Der erste Dieb fuhr auf und sagte: "Ah!"
Der zweite Dieb sagte: "Dieser Djeha hat auch mich um mein Gold und meine Frau betrogen. Ich will ihm noch im Tode einen Schimpf antun." Der zweite Dieb hockte sich auch über das offene
Opferloch. Da streckte Djeha wieder die Zange von unten herauf und kniff mit der Zange den zweiten Dieb. Der zweite Dieb fuhr auf und sagte: "Ah!"Der dritte Dieb sagte: "Dieser Djeha hat mich wie meine Freunde um mein Gold und meine Frau betrogen. Ich will ihm noch nach seinem Tode einen Schimpf antun, wie meine Freunde." Der dritte Dieb hockte sich also auch über das offene Opferloch. Djeha streckte zum drittenmal die Zange von unten hinauf und kniff auch den dritten Dieb. Der dritte Dieb fuhr auch auf und sagte: "Ah!"
Die drei Diebe gingen wieder nach Hause. Das Gehen wurde ihnen schwer; denn Djeha hatte sie mit der Zange so arg von unten gekniffen. Die drei Diebe sagten: "Djeha verfolgt uns noch im Tode. Er kann es uns nicht vergessen, daß wir ihm seine Ochsen gestohlen haben und verkauften. Wir hielten Djeha für einen törichten Arbeiter. Wir haben ihm seine Ochsen genommen, und dann wurde er klüger und stärker als wir." Die drei Diebe gingen heim und waren nun ganz arm.
Als Djeha die drei Diebe von unten mit der Zange gekniffen hatte und sie nach Hause gegangen waren, rief er seine Frau, ließ die Decke von seinem Grabe nehmen und kam wieder herauf. Nach einiger Zeit ging er zu den drei Dieben und sagte zu ihnen: "Hört mich! Erst habt ihr mich betrogen und mich Klugheit gelehrt. Dann habe ich euch alles heimgezahlt und will euch auch lehren. Wenn ihr mich in Zukunft gut grüßen wollt (d. h. mir freundlich und untertänig gesinnt sein wollt), so will ich euch Gutes tun und euch behilflich sein, das Eure auf andere Art wiederzugewinnen. Ihr habt gesehen, daß ich stärker bin als ihr." Die drei Diebe sagten: "Du hast recht. Du bist stärker als wir. Wir wollen dir untertänig und gute Freunde sein." So wurden die drei Diebe Djehas Freunde und Gehilfen.
Eines Tages rief Djeha die drei Diebe zu sich und sagte: "Wir wollen gemeinsam in das Schatzhaus (Haus des Reichtums) des Agelith (Fürst) einsteigen und sehen, ob wir etwas finden, was wir gebrauchen können. Geht also in den Wald und macht eine Leiter (thathelumt; Steigbaum -thirkaebin). Die drei Diebe machten die Leiter und folgten dann Djeha in der Nacht zu dem Hause des Agelith. Sie lehnten die Leiter an, stiegen auf das Haus (flache Dach) und machten in der Decke ein Loch. Durch dieses Loch stiegen Sie von oben hinein.
Das Haus, in das Djeha und die drei Diebe eingestiegen waren,
war das Haus, in dem der Agelith seine Schätze aufbewahrte. Sie lagen da in sieben großen Haufen (Gold [d'ehir], Silber [n'feda], Bronce [n'ahass, oder bedeutet dies ursprünglich auch Kupfer?] Kupfer [lahaliä], Messing [lahaliá-thaürachäh] usw.). Nachdem sie das Schilf der Decke beiseite geschoben hatten, ließen sie sich an einer Schnur herunter. Sie füllten sich alle Taschen mit Gold, soviel sie tragen konnten, und stiegen wieder hinauf. Sie brachten die Leiter beiseite und gingen heim.Ehe sie sich trennten, sagte Djeha zu den drei Dieben: "Wenn ihr nun wieder hingehen würdet, würdet ihr sicher gefangen und getötet werden. Darum schwört mir, daß ihr dies nicht tun werdet." Die drei Diebe schworen es.
Am anderen Tage meldeten die Wächter dem Agelith, daß in der Nacht die Diebe in das Haus seiner Schätze gekommen wären und ihn sehr bestohlen hätten. Der Agelith sandte sofort zu einem weisen Manne (amrar asemeni) und ließ ihn um Rat fragen, was er tun solle. Der weise Mann ließ antworten: "Die Diebe werden sicherlich wiederkommen. Macht kein Aufhebens von der Sache, schließt auch das Loch, durch das sie eingestiegen sind, nicht wieder. Unter dem Loch bestreicht aber alles mit Leim (lesuk), so daß jeder, der von oben her unten ankommt, festklebt. So kann der Agelith die Diebe fangen." Der Agelith ließ alles so herrichten, wie es der weise Mann geraten hatte. Niemand sprach von dem Diebstahl; das Einsteigeloch wurde nicht wiederhergestellt; aber auf dem Boden unter dem Loch wurde alles dick mit Leim bestrichen.
Die drei Diebe kamen eines Tages zusammen und sagten: "Niemand hat den Diebstahl gemerkt. Es spricht niemand davon. Das Haus ist nicht wiederhergestellt. Wir können also noch einmal hereinsteigen. Da wir aber Djeha geschworen haben, es nicht wieder zu tun, so wollen wir ihn nicht mitnehmen und ihm nichts davon sagen!" Also machten sie sich zu dreien auf den Weg, holten aus dem Walde die Leiter herbei, lehnten sie an das Haus der Schätze und stiegen auf das flache Dach.
Auf dem Dache traten sie an das Einsteigeloch, das sie das erstemal mit Djeha gemacht hatten. Sie fanden es offen und sagten untereinander: "Sie haben es noch nicht wieder geschlossen. Der törichte Djeha, der diese schöne Unternehmung nicht wiederholen wollte!" Der erste Dieb ließ sich nun an einem Strick herunter. Kaum war er aber unten angekommen, so klebte er auch fest. Der erste Dieb rief: "Hier ist alles voll Leim gestrichen. Ich klebe, zieht mich
schnell wieder herauf." Die anderen beiden Diebe zogen. Sie mochten aber ziehen, wie sie wollten, sie konnten den ersten Dieb vom Leim nicht wieder losreißen.Die beiden Diebe riefen: "Lege dir den Strick um den Hals, dann geht es vielleicht besser!" Der erste Dieb war in großer Angst. Er legte sich selbst den Strick um den Hals. Die anderen beiden zogen. Sie schnürten ihm den Hals zu und erwürgten ihn so; aber losreißen konnten sie ihn nicht. Die beiden Diebe riefen von oben: "Bist du noch nicht wenigstens ein wenig lockerer?" Der zweite Dieb sagte: "Er antwortet nicht." Der dritte Dieb sagte: "Ich glaube, wir haben ihn erwürgt." Die beiden Diebe erschraken und sagten: "Djeha hatte recht, als er uns schwören ließ, nicht wieder hierher zu kommen. Nun werden sie morgen den toten Kameraden finden und dann uns, seine Freunde suchen. Wir wollen schnell zu Djeha eilen und ihn um seinen Rat fragen. Hier kann nur Djeha helfen."
Die beiden Diebe liefen zu Djeha und sagten ihm alles. Djeha sagte: "Ihr Narren, weshalb habt ihr mir nicht gefolgt. Wir wollen dem Toten schnell den Kopf abschneiden, damit sie nicht erkennen, wen sie gefangen haben." Djeha ging mit den beiden Dieben zum Schatzhaus. Er stieg hinauf. Er ließ sich an der Schnur soweit herunter, daß er den Kopf des Toten packen konnte. Er schnitt dem Toten den Hals ab und kletterte mit dem Kopfe im Arme wieder empor. Mit dem Kopf im Arme und den beiden Dieben eilte Djeha dann wieder daheim.
Am anderen Morgen meldeten die Wächter dem Agelith: "Wir haben einen Dieb gefangen, man kann aber nicht erkennen, wer es ist, denn der Kopf ist ihm abgeschnitten." Der Agelith ließ sogleich den weisen Mann rufen. Der weise Mann kam. Der Agelith fragte ihn: "Was meinst du hierzu? Ich will die Diebe auf jeden Fall fangen. Gib mir einen Rat, wie ich das machen kann." Der weise Mann schüttelte den Kopf und sagte: "Der das tat, der ist klug; er ist klüger als wir alle. Deshalb rate ich dir, von der weiteren Suche abzulassen. Du wirst die Diebe nicht fangen. Setz dich auf freundliche Weise mit dem Manne auseinander."
Der Agelith ward böse. Er sagte: "Ich will den Dieb fangen. Deine Sache ist es, mir zu diesem Ende einen guten Rat zu geben." Der weise Mann sagte: "Den Dieb zu fangen, wird sehr schwer sein. Wohl aber kann es gelingen, festzustellen, wer der Tote ist. Hängt den Leichnam ohne Kopf auf den Marktplatz aus. Wahrscheinlich werden seine Angehörigen kommen, ihm die Leichenklage zuteil
werden zu lassen. (Eine sehr wesentliche Sache bei den Kabylen.) Stelle Wachen bei dem Leichnam auf und laß alle Klagenden gefangennehmen. Das ist das einzige, was ich dir für den Augenblick raten kann."Der Agelith befahl, daß es so gemacht würde. Die Leiche des Diebes ohne Kopf wurde auf dem Marktplatz aufgehängt. Zur Seite standen Wächter. Die Mutter des getöteten Diebes kam zu Djeha. Sie weinte und sagte: "Djeha, gib mir eine Möglichkeit, für meinen Sohn zu klagen. Ich werde auch sterben, wenn ich nicht klagen kann. Ich muß hingehen und klagen." Djeha sagte: "Nun gut! Ich werde dir die Möglichkeit geben, für deinen Sohn zu klagen, ohne daß der Agelith und die Wächter es merken. Lade einen Korb voll Töpfe auf deine Schulter. Geh mit dieser Last über den Marktplatz. Wenn du an der Leiche vorbeikommst, erschrick über den Anblick, stolpere und laß deine Last im Schreck zu Boden fallen. Dann hast du allen Grund, um deine Töpfe zu klagen. Niemand kann beweisen, daß deine Klagen deinem toten Sohne gelten."
Die Mutter des Toten tat so. Sie lud eine Last mit Töpfen auf und ging über den Marktplatz. Als sie nahe der Leiche war, stieß sie einen Schrei aus und stolperte. Sie ließ die Töpfe zu Boden fallen und begann dann zu weinen und zu klagen. Die Wächter kamen herbei und sagten: "Du klagest hier!" Die Mutter des Toten rief: "Was soll ich nicht klagen um das, was ich hier verloren habe? Hängt man so die Toten, statt sie zu begraben, auf dem Marktplatz auf? Soll man nicht erschrecken, wenn man plötzlich auf dem Marktplatz Leichname hängen sieht? Und habe ich nicht durch den Schreck über diesen Toten meine Töpfe, alles was ich habe und wofür ich meine Nahrung verdienen konnte, eingebüßt? Wäre es nicht Sache derer, die die Toten auf dem Marktplatz aufhängen und die Menschen dadurch erschrecken, für den so verursachten Schaden aufzukommen? Und nun wollt ihr gar noch meinen Jammer über mein Unglück bestrafen?" Die Wächter sagten: "Schweig, Alte! Das ist nicht unsere Sache. Wir sind Wächter des Agelith, der uns seine Befehle gab. Komm jetzt mit hin zu ihm, und sage dem dann alles." Die Mutter des Toten sagte: "Gewiß will ich ihm alles sagen."
Die Wächter des Agelith brachten die Mutter des Toten zu dem Agelith. Die Wächter sagten: "Diese Frau klagte vor dem Toten." Der Agelith fragte die Frau: "Wer ist der Tote?" Die Frau sagte: "Kennst du ihn denn?" Der Agelith sagte: "Nein, ich kenne ihn eben nicht! Deshalb frage ich dich!" Die Frau sagte: "Hört doch,
eine arme alte törichte Frau soll mehr wissen als der weise Agelith!" Der Agelith fragte: "Warum hast du denn geweint und geklagt?" Die Frau sagte: "Haben deine Wächter, die so gut auf alles achten, dir nicht gesagt, daß ich mit meiner Last Töpfe über den Platz ging, um sie zum Verkauf zu tragen? Haben sie dir nicht gesagt, daß ich beim Anblick des Toten erschrak und stolperte, so daß meine Töpfe zu Boden fielen und zerbrachen? Haben sie dir nicht gesagt, daß ich das Recht in Anspruch nehme, über meinen Verlust zu klagen? Haben sie dir nicht gesagt, daß ich den für den Verlust der Töpfe verantwortlich mache, der die harmlosen Bummler des Marktplatzes durch das Aufhängen von Leichen erschreckt und ihnen so Verluste beibringt? He? Haben dir das deine klugen Wächter nicht gesagt ?"Der Agelith fragte die Wächter: "Verhält es sich so, wie die Frau erzählt ?" Die Wächter sagten: "Es hat sich in der Tat so begeben!" Der Agelith herrschte die Wächter an und sagte: "Ihr seid Narren! Ihr solltet mir eine Frau bringen, die über den Toten klagt, und ihr bringt mir eine, die über alte Topfscherben heult. Narren seid ihr! Packt euch!" Dann beruhigte der Agelith die Mutter des Toten, bezahlte ihr den Wert der zerbrochenen Töpfe und hieß sie von dannen gehen.
Die Mutter des Toten kam zu Djeha zurück. Djeha fragte sie: "Willst du die Leiche deines Sohnes noch einmal wiedersehen?" Die Mutter des Toten sagte: "O Djeha, ich möchte sie begraben." Djeha sagte: "Ich will sehen, was ich machen kann!"
Djeha tötete einen schwarzen Stier. Er zog dem Stier die Haut ab. Djeha hüllte sich in die schwarze Stierhaut, nahm eine Debus (Keule) in die Hand und trieb eine Herde schwarzer Ziegen vor sich her. Djeha trieb, als es Nacht geworden war, seine Herde gerade auf den Marktplatz auf die Stelle zu, an der der Leichnam des Toten hing, und an der die Wächter standen. Hier faßte Djeha seine Keule fest und schlug stark auf den Boden, so daß es dröhnte. Die Ziegen erschraken. Sie sprangen nach allen Seiten auseinander. Die Wächter sahen die wilden Sprünge der schwarzen Tiere. Die Wächter sahen die unförmige Masse des schwarz verhüllten Djeha. Die Wächter erschraken und schrien: "Die bösen Geister (adjniu, Singl. ledjenun; die alledjenu des Sudan) kommen!" Die Wächter sprangen auf und davon, weit weg, soweit sie konnten, und versteckten sich.
Als die Wächter weggelaufen waren, nahm Djeha den Leichnam herab und auf die Schulter. Er sammelte die Herde seiner schwarzen
Ziegen und trieb sie heimwärts. Er brachte den Leichnam des toten Diebes zu dessen Mutter. Diese weinte und begrub den Leichnam.Am anderen Tage hörte der Agelith, daß der Leichnam vom Marktplatz verschwunden sei. Er ließ seine Wächter zusammenrufen und tötete sie. Dann wandte er sich wieder an den weisen Mann (amrar asemeni) und sagte: "Sage mir, wie ich den fangen kann, der den Einbruch in das Haus meiner Schätze geleitet und jetzt den kopflosen Leib seines Kameraden gerettet hat!" Der weise Mann dachte nach und sagte: "Binde eine Thourthend (Gazelle) an der gleichen Stelle an, an der der Leichnam hing." Der Agelith ließ die Gazelle anbinden, wie es der weise Mann geraten hatte. Er stellte andere Wächter in der Nähe auf. Als es Nacht war, hüllte sich Djeha in die Kleider des getöteten Diebes, nahm ein weißes Gewand über sich und ging auf den Marktplatz. Djeha brüllte: "Ich bin der Tote, ich kann den Platz nicht verlassen, an dem ich so lange hing. Ich bin der Tote! Ich bin der Tote!" Dabei schob er die Schultern mit steifem Oberkörper hin und her und brüllte. (Es ist interessant, daß der Erzähler pantomimisch die Gesten Djehas als Toter nachahmend genau die Bewegungen ausführt, die für die Maskentänze der Berber und Nordsudaner typisch sind.) Die Wächter erschraken. Die Wächter schrien: "Der tote Dieb kommt zurück! Der tote Dieb kommt zurück!" Die Wächter liefen schnell von dannen und versteckten sich. Djeha band aber die Gazelle los, trieb sie heim, schlachtete sie, gab seiner Frau das Fleisch und sagte: "Nun haben wir ein gutes Gericht für morgen. Bereite es gut zu." Am anderen Tage hörte der Agelith, daß die Gazelle ebenfalls vom Marktplatz weggestohlen war. Der Agelith war sehr zornig. Er ließ die Wächter zusammensuchen und töten. Dann rief er wieder den weisen Mann und sagte: "Der Dieb, der den Einbruch in das Haus meiner Schätze geleitet und dann die Leiche seines Kameraden gerettet hat, hat nun auch die Gazelle geraubt, ohne daß meine Wächter es zu hindern wußten. Sage mir, wie ich diesen Mann fangen kann!" Der weise Mann lachte und sprach: "Daß er diese Gazelle rauben würde, wußte ich schon, denn ich sagte dir ja von vornherein, daß er uns an Klugheit übertrifft. Nunmehr ist aber das Gazellenfleisch in den Händen seiner Frau und so hat er eine Teilhaberin seiner Taten, die ihm an Schlauheit sicher nicht gleichkommt. Nutze eilends die Zeit. Sende eine alte Frau herum und laß sie für Barmherzigkeit als einziges Heilmittel für einen Totkranken ein Stück Gazellenfleisch von den Frauen der Stadt erbitten."
Der Agelith rief sogleich eine kluge alte Frau. Die ging von Haus zu Haus. Nirgends aber konnte man ihr ein Stück Gazellenfleisch geben. Die alte Frau kam auch an das Haus Djehas. Sie klopfte. Die Frau Djehas öffnete. Die alte Frau sagte: "Der Agelith ist soeben zu Tode erkrankt. Der Arzt sagt, er könne nur geheilt werden, wenn er schnell ein Stück Gazellenfleisch erhielte. Wenn Ihr zufälligerweise auch nur das kleinste Stück Gazellenfleisch im Hause habt, gebt es mir aus Barmherzigkeit für den totkranken Agelith." Die Frau des Djeha sagte: "Ei gewiß, meine Alte, haben wir für den Agelith ein Stück Gazellenfleisch; warte, ich will es dir sogleich herausbringen." Die Frau Djehas ging hinein, schnitt ein Stück von der Gazellenkeule ab und brachte es heraus. Die alte Frau sagte: "Ich danke! Ich danke! Ich danke!" Die Frau Djehas sagte: "O, es ist nichts Besonderes. Mein Mann hat gestern eine ganze Gazelle gebracht. Wenn der Agelith noch mehr braucht, komm nur wieder." Die alte Frau ging. Sie wollte zum Agelith zurückkehren.
Als sie ein Stück weit gegangen war, traf sie auf Djeha, der gerade nach Hause kam. Djeha sah das Fleischstück in der Hand der alten Frau und sagte: "Meine Alte, was hast du dort ?" Die alte Frau sagte: "Der Agelith ist todkrank, und der Arzt sagte, daß er, wenn er nicht sehr schnell ein Stück Gazellenfleisch erhielte, sterben müsse. Die freundliche Frau in jenem Hause dort hat mir nun dieses Stück geschenkt." Djeha sagte: "Zeige einmal her! Was, dieses ist alles? Das sieht meiner Frau ähnlich, sie ist aber auch zu geizig. Komm zurück mit mir; ich will dir mehr geben, so wie es sich schickt, wenn einer dem Agelith etwas schenkt."
Die alte Frau kehrte mit Djeha zu dessen Haus zurück. Djeha sagte: "Tritt mit ein und suche dir selbst ein gutes Stück aus!" Er führte die alte Frau in den Stall, in dem die Gazelle hing. Dann schnitt er der alten Frau den Hals durch, so daß sie auf der Stelle tot war. Als es nun Nacht wurde, nahm Djeha die tote Alte auf den Rücken und trug sie auf den Marktplatz. Dort setzte er den Leichnam an der Stelle hin, an der erst die kopflose Leiche des Diebes gehangen hatte und an der nachher die Gazelle angebunden war. Der toten Alten drückte er aber in jede Hand ein Stück Gazellenfleisch. Hierauf kehrte er nach Hause zurück.
Am anderen Morgen wurde dem Agelith berichtet: "Die Leiche der alten Frau, die du gestern ausgesandt hast, das Gazellenfleisch zu suchen, sitzt auf dem Marktplatz an der Stelle des toten Diebes und der Gazelle, und in jeder Hand hat sie ein Stück Gazellenfleisch!"
Der Agelith erschrak. Er ließ sogleich den weisen Mann rufen und sagte: "Höre, was geschehen ist. Der Dieb, der erst in mein Haus der Schätze eingebrochen ist, der Dieb, der die Leiche des Kameraden trotz meiner Wächter in Sicherheit gebracht hat, der Dieb, der meinen Wächtern die Gazelle stahl, der gleiche Dieb hat die alte Frau, die das Gazellenfleisch suchte, getötet, hat ihre Leiche auf den Marktplatz gesetzt und ihr, wie zum Hohne, noch ein Stück Gazellenfleisch in jede Hand gedrückt."Der weise Mann sagte: "Laß mich nachdenken." Der Agelith sagte: "Ich warte!" Nach einer Weile sagte der weise Mann: "Ich habe dir von vornherein gesagt, daß dieser Mann uns an Klugheit weit überlegen ist. Ich finde nur noch ein Mittel, ihn zu entdecken. Vielleicht ist er gierig nach Gold. Streue also weit über den Marktplatz Gold aus, stelle zur Rechten und zur Linken eine Schar deiner besten Wächter auf. Laß sie alle scharf beobachten, was den Tag über geschieht. Vielleicht, daß die Gier nach dem Golde den Mann veranlaßt, eine Torheit zu begehen, so daß wir seine Spur finden. Ich will dir aber gleich von Anfang sagen, daß du dein Gold wahrscheinlich umsonst auf die Straße streust. Bei diesem Manne scheint mir alles vergebens, was nicht auf ein gütliches Übereinkommen herausläuft. Überlege es dir also noch einmal." Der Agelith sagte: "Dieser Mann ist ein Dieb; und ich bin der Agelith. Zwischen uns soll es kein Übereinkommen geben. Ich will es mit dem Gold versuchen."
Der Agelith ließ das Gold auf dem Marktplatze ausstreuen. Er stellte zur Rechten eine Schar seiner besten Wächter, und er stellte zur Linken eine Schar seiner besten Wächter. Die Leute sahen das Gold. Die Leute sahen aber auch die Wächter. Kein Mensch wagte den Versuch, das Gold des Agelith auf der Straße aufzuheben. Djeha ging vorüber. Djeha sah das Gold. Djeha sagte: "Niemand wagt dies? Nun, so werde ich es tun, um die Ehre der Bewohner der Stadt zu retten. Niemand soll sagen, daß in dieser Stadt kein Mann sei, der es wage, das Gold, das auf die Straße geworfen wird, aufzuheben." Djeha ging nach Hause.
Djeha trieb eine Herde Kamele zusammen, er behängte die Kamele auf der rechten Seite rot, und auf der linken Seite schwarz. Djeha zog sich ein Kleid an, das war auf der rechten Seite schwarz und auf der linken Seite rot. Djeha bestrich die Sohlen der Füße seiner Kamele dick mit Leim. Dann trieb er die Kamele durch die Straßen und über den Marktplatz. Djeha trieb seine Kamele rechts und schrie: "Hae! Hie!" Er trieb seine Kamele links und schrie: "Hie! Hie!" Die
Kamele gingen von rechts nach links und von links nach rechts, sie schritten langsam über den Marktplatz weg, und alles Gold blieb an ihren Fußsohlen hängen. Die Wächter sahen von rechts zu und die Wächter sahen von links zu. Nachdem seine Kamele so alles Gold aufgesammelt hatten, trieb Djeha sie nach Hause, nahm ihnen das Gold ab und füllte einen Sack damit.Als es Abend war, sandte der Agelith einen Boten und ließ fragen: "Wie steht es nun mit dem Golde ?" Die Wächter sahen über den Marktplatz hin; sie sahen, daß alles Gold weggenommen war. Sie erschraken und sagten: "Das Gold ist nicht mehr da. Wir haben aber wohl achtgegeben, es hat kein Mensch es aufgehoben. Es ist überhaupt nur ein Mann mit Kamelen über den Marktplatz gekommen. Alle anderen Leute fürchteten sich zu sehr, den Marktplatz zu betreten. Dieser Kameltreiber hat sich aber auch nicht ein einziges Mal gebückt." Die Boten kehrten zum Agelith zurück und meldeten ihm alles.
Der Agelith ließ die Wächter und den weisen Mann kommen. Der Agelith sagte zu dem weisen Manne: "Du hast recht gehabt, der Mann, der in das Haus meiner Schätze einbrach, der Mann, der die Leiche seines Kameraden zwischen den Wächtern wegnahm, der Mann, der die Gazelle trotz der Wächter stahl, der Mann, der meine Botenfrau tötete und ihre Leiche zu meinem Hohne mit Gazellenfleisch auf den Marktplatz setzte, derselbe Mann hat auch aus dem Kreis der Wächter heraus am hellen Tage mein Gold auf der Straße aufgesammelt, ohne daß diese es wahrnahmen und ohne eine Spur zu hinterlassen."
Der weise Mann fragte die Wächter: "Ist jemand tagsüber über den Marktplatz gekommen?" Die Wächter sagten: "Ja, es ist ein Mann mit Kamelen über den Marktplatz gekommen; er hat sich aber nicht gebückt, er hatte seine Not, eine Herde Kamele zusammenzuhalten." Der weise Mann sagte: "Wie sah der Mann aus?" Die Wächter zur Rechten sagten: "Der Mann war schwarz gekleidet und seine Kamele waren rot behangen." Die Wächter zur Linken riefen dazwischen und sagten: "Nein, der Mann war rot gekleidet und die Kamele waren schwarz bekleidet." Die Wächter zur Rechten sagten: "Ihr lügt. Ihr habt geschlafen! Der Mann war schwarz und die Kamele waren rot." Die Wächter zur Linken sagten: "Nein, Ihr lügt und Ihr habt geschlafen. Die Kamele waren schwarz und der Mann war rot." Die Wächter stritten hin und her.
Der Agelith sagte zu den Wächtern: "Schweigt jetzt." Der Agelith
fragte den weisen Mann: "Was meinst du hierzu?" Der weise Mann schüttelte den Kopf und sagte: "Ich bleibe bei meiner Meinung, daß dieser Mann klüger ist als wir. Er wird deine Wächter und dich, wie er es bisher gekonnt hat, immer wieder übertölpeln. Nun weiß ich nur noch ein Mittel, von dem ich mir allerdings auch keinen Erfolg verspreche. Versuche es immerhin. Du willst in der nächsten Zeit ja sowieso einen Stellvertreter ernennen. Lade zu dieser Gelegenheit alle Männer der Stadt zu einem Abendessen auf dem Marktplatz ein. Sorge, daß alle Männer zu Gaste erscheinen. Setze ihnen dann ein Gericht Kuskus vor, dem du reichlich Sekrane (Betäubungsmittel) beifügen läßt. Die Männer werden dann auf dem Marktplatz einschlafen. Gehe dann umher und frage die Schlafenden, ob sie bei dir eingebrochen und auch die anderen Streiche ausgeführt haben. In ihrer Betäubung werden sie alles erzählen. So wie du nun den Mann gefunden hast, der dir dies alles antat, schneide ihm sogleich die eine Hälfte des Bartes ab, dann wirst du ihn am anderen Morgen sogleich wiedererkennen." Der Agelith war damit einverstanden.Der Agelith lud alle Männer der Stadt zu einem Abendessen auf dem Marktplatz ein. Seine Boten gingen überall hin und sagten: "Der Agelith will einen Stellvertreter und Nachfolger ernennen. Er will dies mit allen Männern der Stadt besprechen. Am Abend vorher sollen sie aber alle auf dem Markt seine Gäste sein!" Alle Männer kamen; auch Djeha war unter ihnen. Der Agelith ließ große Platten mit Kuskus herumreichen. In den Kuskus war Sekrane gemischt. Alle aßen davon; auch Djeha. Aber er aß nicht so viel wie die anderen. Nach dem Essen wirkte das Sekrane, und alle schliefen ein.
Als alle Männer der Stadt auf dem Marktplatz eingeschlafen waren, ging der Agelith von einem zum anderen und fragte: "Bist du in das Haus meiner Schätze eingedrungen? Hast du mir den Leichnam des Diebes, die Gazelle und mein Gold vom Marktplatz weggenommen ?" Die Männer antworteten alle im Schlafe: "Nein, ich habe es nicht getan!" Der Agelith kam zu Djeha und fragte: "Bist du in das Haus meiner Schätze eingebrochen? Hast du mir den Leichnam des Diebes, die Gazelle und mein Gold vom Marktplatz weggenommen?" Djeha antwortete: "Gewiß, das habe ich getan. Ich habe auch die Mutter über der Leiche des toten Diebes klagen lassen. Ich war es, der ihr den Rat gab, über die Töpfe zu weinen. Ich habe auch deine alte Botenfrau, als sie Gazellenfleisch erbeten hatte, getötet
und habe ihren Leichnam mit zwei Stücken Gazellenfleisch in den Händen dir zum Hohne auf den Marktplatz gesetzt. Denn du glaubtest klüger zu sein als ich. Ich aber habe mich, seitdem ich einsah, daß der ehrliche Mann mit seiner Arbeit unter euch nur zurückkommt, auf die List verlegt. Und wenn ich euch alle früher in der Arbeit übertraf, so will ich euch allen nunmehr in der List überlegen sein, bis ihr mir den Platz gebt, der mir gebührt."Als der Agelith das hörte, lachte er und sagte zu seinem Diener: "Diesem Mann schneide sogleich die rechte Seite des Bartes ab, damit wir ihn morgen früh wiedererkennen." Der Diener tat es. Sogleich ging der Agelith nach Hause und legte sich zum Schlafen nieder. Djeha hatte aber weniger von dem Kuskus gegessen als die anderen und deshalb wachte er, als die Morgenkühle über das Land strich, vor den anderen auf. Er fühlte sogleich, wie der Wind über die nackte rechte Seite seiner Ohrlippe strich, faßte hin und merkte, daß sein Bart auf dieser Seite abgeschnitten war. Djeha sagte: "Ho, so leichtes Spiel soll der Agelith nicht mit mir haben!" Er stand auf, nahm sein Messer und ging von einem der schlafenden Leute zum anderen. Er schnitt einem jeden die rechte Seite des Bartes ab. Dann legte er sich wieder hin, um den Rest seiner Schlaftrunkenheit auszuschlafen.
Als es heller Tag geworden war, kehrte der Agelith mit dem weisen Mann und seinem Diener auf den Marktplatz zurück, um den Mann zu ergreifen, den er in der Nacht nach dessen eigenem Bekenntnis die rechte Seite des Bartes hatte abschneiden lassen. Als der Agelith nun unter den Männern Umschau hielt, sah er, daß sie alle der rechten Seite des Bartes beraubt waren. Er wandte sich an den weisen Mann und fragte ihn: "Was soll ich nun tun?" Der weise Mann sagte: "Ich habe dir gesagt, daß ich dir meinen letzten Rat gegeben habe. Dieser Mann übertrifft uns alle an Klugheit. Am ersten Tage riet ich dir schon, du solltest dich mit ihm gütlich einigen. Treibst du es mit der Verfolgung weiter, so glaube ich, daß du eher darüber sterben wirst als er. —Vergiß im übrigen nicht, daß du die Männer zusammengerufen hast, um unter ihnen einen Stellvertreter und Nachfolger auszuwählen."
Der Agelith dachte über alles dieses und über das, was ihm in der Nacht Djeha gesagt hatte, nach und sagte dann zu den versammelten Männern: "Ich habe euch zusammengerufen, um euch zu sagen, wen ich zu meinem Stellvertreter und Nachfolger auserwählt habe.
Unter euch ist einer, der erst der beste Arbeiter unter uns allen war, der aber dann, als er damit nicht vorwärtskam, sich in Klugheit übte, in der er nun uns alle übertrifft. Dieser Mann soll mein Stellvertreter und Nachfolger werden."So ward Djeha erst Stellvertreter des Agelith und nachdem der Agelith der Stadt!
37. Amar der Narr
Es war eine Alte, die hieß Sadia. Diese Saidia hatte einen Sohn Amar (oder Amara) mit Namen, der hatte einen Bart, der ihm bis zum Nabel reichte. Außerdem war dieser Amar ein Narr.
Eines Tages gab die Mutter Sadia dem Amar Geld und sagte: "Geh auf den Markt und kaufe Weizen oder Gerste." Amar setzte sich auf seinen Esel und ritt auf den Markt. Als er dort ankam, war noch niemand auf dem Markte. Amar stieg ab, band den Esel an den vier Füßen fest und legte sich neben ihn zum Schlafen hin.
Als Amar eingeschlafen war, kamen sieben Schüler (sewa-telba; sewa = Sieben; telba Schüler). Die sieben Schüler sahen Amar. Sie sahen, daß er eingeschlafen war. Sie machten sich daran und schnitten Amar den Bart ab. Dann lösten sie die Fußfesseln des Esels und machten sich mit dem losgebundenen Esel und dem abgeschnittenen Bart auf und davon.
Kurze Zeit darauf sammelten sich die Leute auf dem Markte. Amar schlief und merkte es nicht. Der Markt ging zu Ende. Die Leute verliefen sich. Es wurde Abend. Da erwachte Amar. Amar erwachte und sah sich nach seinem Esel um. Der Esel war nicht mehr da. Amar faßte sich an das Kinn. Am Kinn, im Gesicht Amars war kein Bart mehr. Amar sagte zu sich: "Bin ich Amar, oder bin ich nicht Amar? Nein, ich bin nicht Amar. Denn Amar hat einen Bart, der reicht ihm bis auf den Nabel. Ich habe aber keinen Bart. Amar hatte einen Esel. Der war neben ihm an den vier Beinen festgebunden. Hier neben mir ist kein Esel, also bin ich nicht Amar. Ich werde aber in Amars Haus gehen und sehen, ob Amar zu Hause ist."
Amar stand auf und begab sich auf den Heimweg. Amar sagte unterwegs bei sich: "Wo ist eigentlich Amar? Er ist doch mit dem Esel auf den Markt geritten, nun habe ich ihn auf dem Markt nicht mehr gesehen." Amar kam nach Hause. Amar trat in das Haus und rief: "Hai Amara! Hai Amara!" Die Mutter hörte den Ruf. Die Mutter
rief zurück: "Amar ist nicht daheim. Amar ist heute morgen auf den Markt geritten und noch nicht zurückgekehrt."Amar hörte die Mutter. Amar dachte nach. Amar sagte bei sich: "Dann bin ich doch wohl selbst Amar, wenn Amar noch nicht vom Markte zurückgekommen ist und da ich ihn dort auch nicht mehr gesehen habe. Wenn ich aber selbst Amar bin, so haben mir sicherlich die sieben Schüler einen Streich gespielt, haben mir meinen Bart abgeschnitten, meinen Esel abgebunden und sind mit Bart und Esel fortgelaufen. Ich werde das meiner Mutter sagen."
Amar ging zu seiner Mutter und sagte: "Ich denke, daß ich dein Sohn Amar bin. Auf dem Markte haben mir die sieben Schüler den Bart abgeschnitten, haben meinen Esel losgebunden und sind mit meinem Bart und meinem Esel fortgelaufen. Ich will aber nächste Woche meine Angelegenheit schon ordnen."
Als in der nächsten Woche wieder Markt war, machte Amar sich abermals auf den Weg. Unterwegs kaufte er einen Esel. Dem Esel steckte er einige Kupferstücke unter den Schwanz. Auf dem Markte waren auch die sieben Schüler. Als Amar die sieben Schüler sah, kniff Amar den Esel, so daß er vor Schmerz schrie und den Schwanz hob. Amar lief schnell hin und hielt sein Kleid (seinen Burnus) unter den Schwanz des Esels. Die Kupferstücke fielen in das untergehaltene Kleid.
Die sieben Schüler sahen es. Die sieben Schüler sagten zu Amar: "Amar schäme dich! Du fängst mit deinem Kleid den Mist des Esels auf!" Amar sagte: "Seht doch einmal her! Ist das etwa Mist oder sind das Kupferstücke? Der Esel hat noch nicht gefressen, deshalb sind es nur Kupferstücke. Wenn er aber gut gefressen hat, läßt er nicht wie andere Esel Mist, sondern Gold fallen. So ist es. Für Gold und auch für Kupfer ist mein Kleid aber gut." Die sieben Schüler traten heran. Sie sahen in Amars Kleid. Sie sahen die Kupferstücke. Sie kauften Amar den Esel für hundert Goldstücke ab.
Amar kam heim. Amar sagte zu seiner Mutter: "Mein erster Esel war kein Goldstück wert. Mein Bart war kein Goldstück wert. Ich habe noch einen Esel für ein Goldstück gekauft. Für den ersten Esel, für meinen Bart und für den zweiten Esel haben mir die sieben Schüler hundert Goldstücke gegeben. Die sieben Schüler haben mich gut bezahlt."
Eines Tages gab die Mutter dem Amar ein Viertel Goldstück und sagte: "Geh auf den Markt und kaufe eine Keule." Amar sagte: "Das werde ich tun." Amar machte sich mit dem Viertel Goldstück
auf den Weg. Amar kam auf den Markt und kaufte für das Geld eine Keule. Dann begab er sich auf den Rückweg.Auf dem Heimweg kam Amar über einen Bach. Amar sah auf den Bach. Amar hörte auf das Geräusch, das das Wasser des Baches machte. In dem Bach war ein Strudel. Amar sagte: "Was sprichst du ?" Der Strudel im Bache sagte: "Wu-u-u-u!" Amar sagte: "Was, du willst die Keule kaufen ?" Der Strudel des Baches sagte: "Wu-uu-u-u!" Amar sagte: "Du sagst, du wolltest mir ein halbes Goldstück für meine Keule geben ?"Der Strudel des Baches sagte: "Wu-u-u-u!" Amar sagte: "Es ist gut, aber zahle mir erst das halbe Goldstück." Der Strudel des Baches sagte: "Wu-u-u-u!" Amar sagte: "Du willst mich nächsten Sonnabend bezahlen. Nun, es soll mir auch recht sein. Aber versprich mir, daß du Wort hältst." Der Strudel des Baches sagte: "Wu-u-u-u!" Amar sagte: "Es ist gut. Nun halte dein Wort." Damit warf er die Keule in den Strudel des Baches und ging heim.
Amar kam nach Hause. Seine Mutter fragte ihn: "Hast du die Keule gekauft?" Amar sagte: "Ja, ich habe für ein Viertel Goldstück eine Keule gekauft, auf dem Heimweg habe ich sie aber für ein halbes Goldstück wieder verkauft." Die Mutter fragte: "An wen hast du die Keule verkauft?" Amar sagte: "Ich habe die Keule an den Bach verkauft. Der Bach wird mir das Geld am nächsten Sonnabend bezahlen." Die Mutter sagte: "Nun sehe ich erst recht ein, was für ein Narr du bist! Jeder andere weiß, daß das Wasser kein Fleisch kauft!" Amar sagte: "Meine Mutter, warte bis zum nächsten Sonnabend!"
Am nächsten Sonnabend ging Amar wieder zu dem Bache. Amar sagte zu dem Bach: "Nun gib mir mein halbes Goldstück!" Der Strudel des Baches sagte: "Wu-u-u-u!" Amar sagte: "Was sagst du? Du willst nicht? Du willst dein Versprechen nicht halten?" Der Strudel des Baches sagte: "Wu-u-u-u!" Amar sagte: "Warte, mein Bach, ich will dir zum Zahlen helfen."
Amar lief heim. Amar holte eine Hacke. Amar kehrte mit der Hacke zurück und begann den Bach abzuleiten. Ein wenig unterhalb des Baches wohnten ein Gärtner und ein Müller. Das Wasser des Baches bewässerte den Garten des einen und trieb die Mühle des anderen. Als Amar den Bach abgeleitet hatte, blieb das Wasser aus den Kanälen des Gärtners und von der Mühle des Müllers fort. Der Gärtner und der Müller kamen zu Amar und fragten ihn: "Was tust du diesem Bach? Sein Wasser fließt nicht mehr durch unseren Garten
und über unsere Mühle. Was hast du mit dem Bache?" Amar sagte: "Der Bach hat mir vorigen Sonnabend eine Keule für ein halbes Goldstück abgekauft. Er wollte mir das Geld heute zahlen. Er hat aber sein Versprechen nicht erfüllt und nun helfe ich ihm zahlen."Der Gärtner sagte (leise) zum Müller: "Daher kam die Keule, die vorige Woche den Bach herunterschwamm und die wir gemeinsam aßen. Wir wollen die Sache aus der Welt schaffen. Amar ist ein Narr, der uns nur aufhält." Der Gärtner und der Müller sagten zu Amar: "Der Bach hat das halbe Goldstück bei uns hingelegt, daß wir es dir geben. Hier nimm es, aber lasse den Bach nun in Ruhe." Amar nahm das Geld und sagte: "Ich wußte es, daß ich mich auf das Wort des Baches verlassen konnte."
Amar ging mit dem halben Goldstück nach Hause. Amar sagte zu seiner Mutter: "Sieh hier das halbe Goldstück, das ich für die Keule erhielt. Habe ich dir nicht gesagt, daß der Bach zahlen würde?!" Die Mutter sagte: "Ich sehe, daß du ein kluger Mensch bist. Du hast nun mein Vertrauen erworben. Gehe also auf den nächsten Markt und verkaufe einen Ochsen. Heute gehe hin und mache dir mit deinen Freunden einen fröhlichen Abend."
Als es Abend war, machte sich Amar auf den Weg in das nächste Dorf. Er traf seine Freunde auf dem Platze der Burschen. Er sprach mit ihnen. Er lachte mit ihnen. Die Burschen lachten über ihn. Als es spät war, machte er sich auf den Heimweg. Er kam durch einen Wald. Auf der anderen Seite des Waldes lag ein Garten mit Ölbäumen. Unter den Ölbäumen waren zwei Diebe dabei beschäftigt, das Gold, das sie einem reichen Manne gestohlen hatten, zu vergraben. Amar kam an sie heran, ohne daß sie es merkten. Amar trat zu ihnen und sagte: "Was macht Ihr hier ?" Die Männer sahen auf. Sie sagten (leise) zueinander: "Es ist nur Amar, der Narr!" Die Männer sagten (laut): "Der Kuckuck (tikuk) hat uns sein Gold gegeben und uns gebeten, es für ihn hier zu vergraben."Amar sagte: "Welcher Kuckuck war es ?" Die Männer sagten: "Das Gold gehört dem Kuckuck, der dort im Walde wohnt. Er hat uns aber gebeten, niemand etwas davon zu sagen, daß sein Gold hier vergraben wird, damit es ihm nicht jemand stiehlt." Amar sagte: "Ich wußte nicht, daß der Kuckuck so reich ist." Die Männer sagten: "Wie du siehst, ist es ein sehr reicher Kuckuck. Versprich es uns aber, daß du auch zu niemand davon reden willst, damit der Kuckuck nicht bestohlen wird." Amar sagte: "Ich bin Amar. Ich lüge nie. Ich verspreche,
daß ich nichts vom Reichtum des Kuckucks reden werde. Aber ich werde den Kuckuck aufsuchen und ihn fragen, ob er mir einen Ochsen abkaufen will." Die Männer sagten: "Das ist recht. Sprich mit dem Kuckuck selbst, aber sonst mit niemand."Amar ging darauf nach Hause und legte sich schlafen.Am nächsten Markttage machte sich Amar mit dem Ochsen auf den Weg. Als er ein gutes Stück Wegs gegangen war, kam er an den Wald. Im Walde hörte er einen Kuckuck (tikuk, Plur.: itikuken). Der Kuckuck ärgerte mit seinen Rufen die Tiere. Amar hörte den Kuckuck rufen: "Tikuk!" Amar blieb mit seinem Ochsen stehen und sagte: "Das muß der reiche Tikuk sein."
Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Was, du willst meinen Ochsen kaufen?" Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Was, du willst für meinen Ochsen fünfzehn Goldstücke zahlen?" Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Gut, du sollst ihn haben. Sage mir nun aber noch, wann du mir die fünfzehn Goldstücke zahlen willst!" Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Am Sonnabend nächster Woche willst du zahlen! Ich bin damit einverstanden. Nimm deinen Ochsen hin." Amar band den Ochsen los und ließ ihn durch den Wald davonlaufen. Dann begab sich Amar auf den Heimweg.
Amar kam zu seiner Mutter zurück. Amar sagte zu seiner Mutter: "Ich habe den Ochsen für fünfzehn Goldstücke verkauft."Die Mutter fragte: "Wem hast du den Ochsen verkauft?" Amar sagte: "Ich habe den Ochsen dem Kuckuck verkauft." Die Mutter fragte: "Wie soll dir der Kuckuck denn aber das Geld bezahlen?" Amar sagte: "Der Kuckuck wird mir das Geld geben. Der Kuckuck wird mir das Geld in der nächsten Woche geradesogut geben, wie der Bach mir das Schuldige in der vorigen gab." Die Mutter sagte: "Das möchte ich erleben."
Am nächsten Sonnabend machte sich Amar wieder auf den Weg. Amar kam in den Wald. Im Walde rief der Kuckuck: "Tikuk!" Amar rief: "Jawohl, mein Kuckuck, heute wird bezahlt." Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Wo sagst du? Dort im Garten?" Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Unter einem Ölbaum?" Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Unter diesem Baum?" Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Also unter den Wurzeln! Warte, ich will eine Hacke holen." Amar ging nach Hause.
Amar kam heim, nahm eine Hacke und kehrte in den Garten mit dem Ölbaume zurück. Amar begann unter den Wurzeln des Baumes
zu hacken und die Erde beiseitezuschaffen. Amar fand das Gold, das die Diebe vergraben hatten. Es war eine große Menge von Goldstücken. Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Habe keine Sorge, mein Kuckuck, ich werde von deinem Golde nicht mehr nehmen, als mir zukommt. Ich habe dir den Ochsen für fünfzehn Goldstücke verkauft. Sieh her, ich nehme mir nur fünfzehn Goldstücke fort." Der Kuckuck rief: "Tikuk!" Amar rief: "Schau her, ich zähle!" Amar zählte die fünfzehn Goldstücke. Er steckte die fünfzehn Goldstücke ein und schüttete das Loch, in dem das übrige Gold war, wieder zu. Mit dem Golde im Beute! begab er sich auf den Heimweg.Amar kam zu seiner Mutter zurück. Amar sagte zu seiner Mutter: "Habe ich dir nicht gesagt, daß der Kuckuck mir das Gold geben würde ?" Die Mutter sagte: "Hat der Kuckuck dir die fünfzehn Goldstücke gegeben? Ich habe nicht geglaubt, daß der Kuckuck so viele Goldstücke hätte." Amar sagte: "Es hat dem Kuckuck keine Schwierigkeit gemacht, mir die fünfzehn Goldstücke zu geben. Du kannst dir nicht denken, meine Mutter, wieviel Goldstücke der Kuckuck besitzt! Ich habe ihm aber nicht ein Goldstück mehr abgenommen, als er mir schuldig war." Die Mutter sagte: "Amar, du bist mein kluger Sohn, du solltest mir aber zeigen, wo der Kuckuck seine Goldstücke aufbewahrt." Amar sagte: "Meine Mutter, du willst den Kuckuck bestehlen." Die Mutter sagte: "Das will ich nicht. Sage mir, wo die Goldstücke liegen." Amar sagte: "Meine Mutter, du willst den Kuckuck bestehlen. Ich werde dir die Stelle, an der der Kuckuck sein Gold aufbewahrt hat, nicht zeigen." Die Mutter sagte: "Lieber will ich nicht stehlen. Aber zeige mir die Stelle. Dann sollst du auch ein sehr gutes Essen haben." Amar sagte: "Ich will dir die Stelle morgen zeigen."
In der Nacht bereitete die Mutter eine große Menge guten Essens. Sie kochte Bohnen und buk Kuchen. Am anderen Tage machte sich die Mutter und Amar auf den Weg zu dem Garten am Walde. Die Mutter ging vor Amar her. Von Zeit zu Zeit ließ die Mutter von dem Kuchen und den Bohnen etwas fallen. Bald ließ sie Kuchen fallen. Dann bückte sich Amar, las den Kuchen auf und aß ihn. Bald ließ sie Bohnen fallen. Dann bückte sich Amar, las die Bohnen auf und aß sie.
Die Mutter sagte zu Amar: "Mein Sohn Amar, was ist heute? Mein Sohn Amar, was regnet's heute?" Amar sagte: "Es regnet Bohnen und Kuchen." Die Mutter sagte: "So iß dich ordentlich satt,
denn es regnet nicht alle Tage Bohnen und Kuchen." Dann ließ die Mutter wieder Bohnen und Kuchen fallen. Amar bückte sich, las Bohnen und Kuchen auf und aß sie.Die Mutter kam mit Amar in den Garten. Amar sagte zu seiner Mutter: "Dies ist der Baum, unter dem der Kuckuck seine vielen Goldstücke vergraben hat." Die Mutter sagte: "So, das ist der Baum!" Dann begann die Mutter die Erde unter den Baumwurzeln aufzuhacken. Die Mutter schaffte die Erde beiseite. Die Mutter sah die Menge Goldstücke. Die Mutter hob die Goldstücke heraus und füllte sie in ihren Korb. Amar sah es. Amar rief: "Meine Mutter, du stiehist dem Kuckuck sein Gold! Meine Mutter, ich werde es allen Leuten erzählen!" Die Mutter sagte: "Mein Sohn, du irrst dich! Du kannst allen Leuten sagen, daß ich an dem Tage, an dem es Kuchen und Bohnen geregnet hat, dem Kuckuck auch nicht ein Kupferstück entwendet habe."
Als die Mutter alles Gold in ihren Korb gefüllt hatte, kratzte sie alle Erde wieder in das Loch, trat den Boden mit den Füßen fest und sagte zu Amar: "Nun komm, wir wollen heimgehen." Die Mutter ging Amar auf dem Rückwege wieder voran. Von Zeit zu Zeit ließ sie Kuchen und Bohnen fallen. Amar bückte sich dann, las Kuchen und Bohnen auf und aß sie. Die Mutter und Amar kamen wieder in ihrem Hause an. Die Mutter versteckte daheim das Gold.
Amar lief am anderen Tage in das Dorf. Amar lief in dem Dorf herum und schrie: "Meine Mutter hat dem Tikuk das Gold gestohlen! Meine Mutter hat dem Tikuk das Gold gestohlen." Die Leute hörten es. Die Leute kamen zu Amars Mutter und sagten: "Dein Sohn Amar läuft im Dorf umher und schreit: Meine Mutter hat dem Tikuk das Gold gestohlen. Sage uns, was daran ist!" Die Mutter sagte zu den Leuten: "So fragt denn auch meinen Sohn, an welchem Tage ich das getan habe." Die Leute gingen. Sie trafen Amar. Amar lief im Dorfe herum und schrie: "Meine Mutter hat dem Tikuk das Gold gestohlen." Die Leute sagten zu Amar: "Sage uns doch, an welchem Tage hat denn deine Mutter dem Tikuk das Gold gestohlen?" Amar sagte: "An dem Tage, an dem es Bohnen und Kuchen regnete." Die Leute kamen zu Amars Mutter zurück und sagten: "Amar sagte, es sei an dem Tage geschehen, da es Bohnen und Kuchen regnete." Die Mutter sagte zu den Leuten: "So fragt den Amar weiter, ob ich an dem Tage, an dem es Bohnen und Kuchen regnete, dem Tikuk auch nur ein Kupferstück entwendet habe." Die Leute sagten: "Wir werden Amar fragen."
Die Leute trafen im Dorfe wieder auf Amar. Amar lief im Dorfe umher und schrie: "Meine Mutter hat dem Tikuk das Gold gestohlen." Die Leute sagten zu Amar: "Du sagst, deine Mutter hätte dem Tikuk an dem Tage, an dem es Bohnen und Kuchen geregnet hat, das Gold gestohlen. Nun sage uns genau: Hat deine Mutter an dem Tage, an dem es Bohnen und Kuchen geregnet hat, dem Tikuk auch nur ein Kupferstück entwendet ?" Amar sagte: "An dem Tage, an dem es Bohnen und Kuchen geregnet hat, hat meine Mutter dem Tikuk auch nicht ein Kupferstück entwendet." Amar lief weiter. Amar schrie laut im Dorfe: "Meine Mutter hat dem Tikuk sein Gold gestohlen! Meine Mutter hat dem Tikuk sein Gold gestohlen!" Die Leute hörten es; die Leute schüttelten den Kopf. Die Leute sagten: "Amar ist ein vollkommener Narr! Der Tag, an dem der Himmel Bohnen und Kuchen regnen läßt und an dem man Gold stehlen kann, ohne auch nur ein Kupferstück zu entwenden, muß erst noch kommen." Die Leute lachten.
Das Haus der Mutter des Amar lag neben der Moschee. Ganz früh an jedem Morgen schrie der Marabut zum Gebet. Sowie der Marabut zum Gebet schrie, erhob sich Amars Mutter, um ihr Gebet zu verrichten. Dadurch wurde Amar im Schlafe gestört. Amar wurde jeden Morgen in aller Frühe im Schlafe gestört. Amar wurde böse. Amar wurde jeden Tag böser auf den Marabut. Eines Tages wurde Amar so zornig, daß er schwur: "Morgen werde ich diesem Marabut, der jeden Tag in aller Frühe meine Mutter zum Gebet herausruft, das Schreien verbieten." Die Mutter sagte: "Mein Amar, du kannst es ihm nicht verbieten, denn es ist sein Amt. Solange er einen Kopf auf dem Leibe hat und den Mund benutzen kann, wird er morgens zum Gebet rufen." Amar sagte: "Wie du willst, meine Mutter."
Am anderen Morgen stand Amar ganz früh und so leise auf, daß seine Mutter noch im festen Schlafe lag und ihn nicht hörte. Amar ging aus dem Hause. Amar ging durch das Dorf. Er traf den Marabut, der nach der Moschee ging. Amar sagte zu dem Marabut: "Ist es wahr, was meine Mutter sagt?" Der Marabut sagte: "Was sagt deine Mutter?" Amar sagte: "Meine Mutter sagt, daß ich dir das Rufen am frühen Morgen nicht verbieten kann, daß dieses Rufen dein Beruf ist, daß du so lange rufen wirst, als du einen Kopf auf dem Leibe hast." Der Marabut sagte: "Was deine Mutter gesagt hat, ist wahr. Mein Kopf müßte im Brunnen liegen, statt auf meinem Körper zu sitzen, um zu schweigen." Als der Marabut das gesagt hatte, zog Amar ein langes Messer heraus, schlug dem Marabut
den Kopf ab und warf den Kopf in einen Brunnen. Darauf ging er heim.Als Amar in das Haus kam, erwachte seine Mutter. Die Mutter erwachte und sagte: "Der Marabut wird bald zum Gebet rufen." Amar sagte: "Der Marabut wird nicht mehr zum Gebet rufen. Du sagtest mir, ich sollte ihm den Kopf abschlagen, sonst könne er nicht schweigen. Ich fragte ihn, ob ich das tun solle. Der Marabut sagte, damit er schweigen könne, müsse ihm der Kopf abgeschlagen und dieser in einen Brunnen geworfen werden. Ich habe ihm also den Kopf abgeschlagen und diesen in einen Brunnen geworfen. Wenn ihr beide, der Marabut und du, recht habt, wird er heute nicht rufen."
Die Mutter Amars erhob sich. Die Mutter fragte Amar: "In welchen Brunnen hast du den Kopf des Marabut geworfen ?"Amar sagte: "In den Brunnen neben der Moschee." Die Mutter ging hinaus. Die Mutter schnitt einem Schafbock den Kopf ab. Sie ging mit dem Kopf des Schafbockes zum Brunnen neben der Moschee. Im Brunnen fand sie den Kopf des Marabut. Sie nahm den Kopf des Marabut heraus und legte den Kopf des Schafbockes an seine Stelle. Den Kopf des Marabut trug sie hinaus vor das Dorf und legte ihn in ein Grab. Hierauf kehrte sie zurück in ihr Haus.
Als es hell war, lief Amar in das Dorf. Amar rief im Dorfe: "Auf Anordnung meiner Mutter und auf seinen Wunsch habe ich dem Marabut den Kopf abgeschlagen und den Kopf in den Brunnen bei der Moschee geworfen." Die Leute kamen zur Mutter Amars und sagten: "Sage uns, was an dem wahr ist, was dein Sohn im Dorfe ausruft!" Die Mutter Amars sagte: "Ich will mit euch zusammen zum Brunnen neben der Moschee gehen. Da könnt ihr euch ja selbst überzeugen, ob etwas von dem wahr ist, was mein Sohn Amar im Dorfe ausruft."
Die Leute gingen mit Amars Mutter zum Brunnen neben der Moschee. Ein Mann stieg hinab und holte heraus, was darin lag. Die Leute sagten: "Das ist allerdings nicht der Kopf unseres Marabuten, sondern der Kopf eines Schafbockes." Die Mutter sagte zu den Leuten: "Mein Sohn Amar ist, wie ihr wißt, ein Narr. Denkt an den Tag, an dem der Himmel Bohnen und Kuchen regnen ließ." Die Leute sagten: "Das ist richtig. Du hast recht. Dein Sohn Amar ist ein Narr."
38. Das Glück des Toren
Ein Bursche hatte eine Mutter; der Vater lebte aber nicht mehr. Der Bursche war ein Waisenkind. Die Mutter war eine große Beterin (tachunit), die keine Stunde des Gebets vorübergehen ließ. Der Bursche war aber ein törichter Schwätzer. Wenn morgens um vier Uhr der Geistliche (Marabu) von der Djemaa (Moschee) aus zum Gebet rief, erhob sich die Mutter schon und begann laut zu beten. Und wenn der Geistliche abends zum letzten Gebet rief, erhob sie sich abermals und betete nochmals laut.
Der Bursche schlief aber morgens gern lange, und das Beten der Mutter störte ihn. Eines Morgens weckte der Geistliche wieder wie immer um vier Uhr und störte dabei den törichten Burschen im Schlafe. Der Bursche nahm darauf seine Debus (Keule), ging hin, wo der Geistliche niedergekniet hatte, und als er betend den Kopf neigte, schlug er ihn mit der Keule so in den Nacken, daß er tot hinfiel. Dann nahm er die Leiche des Geistlichen und trug sie zum Brunnen. Er war sehr froh über das, was er angerichtet hatte.
Froh kam er nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Der Geistliche wird mich nicht mehr morgens im Schlafe stören. Ich habe ihn totgeschlagen und in den Brunnen geworfen." Die Witwe erschrak. Sie sagte bei sich: "Mein Sohn wird es allen Leuten erzählen!" Die Witwe ging in den Schafstall, zog ein Schaf heraus, tötete es, trug es zum Brunnen und warf es hinein.
Der törichte Bursche lief auf den Tajmait (Männerversammlungsplatz), sprang froh unter den Männern umher und rief: "Ho! Der Geistliche wird mich jetzt morgens nicht mehr im Schlafe stören. Ich habe ihn totgeschlagen und in den Brunnen geworfen." Die Männer sagten: "Das ist ja entsetzlich!" Sie liefen mit Haken und Stricken zum Brunnen und suchten das, was da unten lag, heraufzuholen. Sie ergatterten endlich den Hammel, den die Witwe eben erst wohlüberlegt obenauf geworfen hatte, zogen ihn herauf und lachten. Sie sagten untereinander: "Oh! Der törichte Bursche hat keinen so schlechten Witz gemacht. Er nennt den Geistlichen einen Hammel!"
Eines Tages gab die Mutter dem törichten Burschen einen Teppich, daß er ihn auf den Markt trage und verkaufe. Der Bursche ging mit seinem Teppich auf den Markt, bot ihn feil, wartete, verhandelte, fand aber den ganzen Tag über niemanden, der ihm den Teppich abgekauft hätte, und ging abends damit wieder heim. Zwischen dem
Markt und dem Dorf, in dem seine Mutter wohnte, rann ein Fluß, an dem der törichte Bursche vorbeigehen mußte. Als der törichte Bursche vorbeiging, rauschte der Fluß. Der Bursche sagte: "Was sagst du? Du sagst, deine Füße frören dich? Du sagst, du brauchst einen Teppich? Willst du mir den Teppich nächsten Markttag bezahlen? Du willst dies tun? — Dann will ich dir den Teppich über die Füße decken." Der törichte Bursche warf den Teppich weit aus und breitete ihn auf dem Flusse aus. Der Fluß trug den Teppich fort. Der Bursche rief ihm nach: "Vergiß nur nächsten Markttag nicht zu zahlen!"Der Bursche ging heim. Er sagte vergnügt zu seiner Mutter: "Ich habe den Teppich verkauft." Die Mutter sagte: "Wo hast du das Geld?" Der Bursche sagte: "Das Geld bekomme ich nächsten Markttag. Der Fluß hat nämlich den Teppich gekauft." Die Mutter fragte: "Wer hat den Teppich gekauft?" Der Bursche sagte: "Der Fluß hat ihn gekauft. Der Fluß fror an den Füßen. Er will ihn mir nächsten Markttag bezahlen." Die Mutter sagte: "Da sieh nur zu, wie du dein Geld bekommst. Nimm nur gleich die Hacke mit, um das viele Geld, das er dir in der Tasche bereit hält, herauszukratzen."
Am nächsten Markttag nahm der Bursche eine Hacke über die Schulter und ging auf dem Wege zum Markt zum Fluß hinab. Er ging an das Ufer und sagte: "Zeige einmal! Wo hast du denn deine Goldtasche ?" Es war heller Tag und der Fluß rauschte wie immer. Der Bursche konnte nichts Besonderes hören. Der Bursche sagte: "Du bist heute recht träge mit deinen Antworten. Ich werde deine Goldtasche selbst suchen müssen." Der törichte Bursche nahm seine Hacke von der Schulter und begann in das Ufer und in das Bett Löcher zu schlagen und Dämme aufzuwerfen. Der Wasserlauf wurde so aus seinem Bett weggezogen und trat zurück in ein altes, von dem die Bauern ihn mit Mühe weggezogen hatten, damit der Fluß so ihre Felder am Ufer berieselte. Es dauerte gar nicht lange, so floß das Wasser seitwärts ab und die unten beschäftigten Bauern erkannten die Gefahr, die ihren Äckern drohte. So kamen die Bauern alle zusammen, liefen den Flußlauf aufwärts und kamen zu dem törichten Burschen, der emsig mit der Hacke weiterarbeitete.
Die Bauern sagten: "Bursche, was machst du da?" Der Bursche sagte: "Ich habe eine Verhandlung mit dem Fluß, die ich nur allein mit ihm abmachen kann. Es ist eine Geschäftssache." Der Bursche arbeitete weiter. Die Bauern fragten: "Um was handelt es sich denn?" Der törichte Bursche sagte: "Als ich neulich mit einem Teppich vom
Markte hier vorüberkam, hatte der Fluß kalte Füße und bat mich, ihm den Teppich zu verkaufen. Heute wolle er bezahlen. Nun bin ich dabei, seine Goldtasche zu suchen. Stört mich nicht weiter durch dumme Fragen, damit ich mit dem Handel bald zu Ende komme."Die Bauern traten zur Seite. Sie sagten zueinander: "Wenn der Bursche hier oben noch lange weiterarbeitet, so wird er unten unsere Äcker zerstören. Wir wollen zusammenlegen und den Teppich bezahlen." Die Bauern einigten sich. Sie kamen zurück. Sie sagten: "Hier schickt dir der Fluß das Geld von unten herauf." Der Bursche nahm das Geld, zählte es nach und sagte: "Es ist richtig." Darauf ergriff er seine Hacke, lief nach Hause, gab seiner Mutter das Geld und sagte: "Hier ist die Bezahlung." Der Bursche ging dann auf den Tajmait, setzte sich zu den Männern und sagte: "Wenn ihr mit den Menschen handelt, macht ihr schlechte Geschäfte. Ich handele mit dem Fluß, der zahlt besser."
Am nächsten Markttage gab die Mutter dem törichten Burschen einen Burnus (taschluacht, Plur.: tischleach) und sagte zu ihm: "Bringe diesen Burnus auf den Markt und verkaufe ihn." Der Bursche nahm ihn und ging zum Markt. Er zeigte den Burnus diesem. Er zeigte den Burnus jenem. Kein Mensch wollte den Burnus kaufen. Denn der Bursche verlangte zu viel für seinen Burnus. Dem Burschen wurde das langweilig. Er ging über den Fleischmarkt weg dahin, wo die Geier (isri, Plur.: isran) waren, und fragte: "Wollt ihr den Burnus nicht kaufen? Da, seht ihn euch an!" Der Bursche warf den Burnus den Geiern hin. Die Geier nahmen ihn auf und flogen damit von dannen. Der törichte Bursche rief den Geiern nach: "Hooo! Vergeßt nicht! Am nächsten Markttag komme ich wieder! Dann bezahlt ihr mir den Burnus meiner Mutter." Der törichte Bursche ging nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Den Burnus habe ich gut verkauft. Eine ganze Familie hat ihn mitgenommen." Die Mutter fragte: "Hast du denn das Geld?" Der Bursche sagte: "Nein, das Geld habe ich nicht. Ich habe den Burnus den Geiern verkauft. Die werden mir am nächsten Markttage zahlen." Die Mutter sagte: "Da wirst du wohl in ihr Haus gehen müssen, um das Geld zu bekommen." Der Bursche sagte: "Ich habe viel Zeit. Es kommt mir auf den Weg nicht an."
Am nächsten Markttage nahm der Bursche seine Hacke auf die Schulter, ging auf den Markt und sah sich nach den Geiern um. Er traf die Geier am Fleischmarkte und sagte: "Ihr da! Habt ihr mein Geld mitgebracht?" Der Bursche winkte mit der Hacke. Da flogen
die Geier schreiend auf und davon. Der törichte Bursche sagte: "Meine Mutter ist doch eine kluge Frau; sie hat gleich vorhergesagt, daß ich bis in das Haus der Geier hinaufsteigen muß, um mein Geld zu bekommen. Nun rufen sie mich schon." Er rief den Geiern nach: "Fliegt nicht so schnell. Ich muß doch nachkommen!"Der törichte Bursche stieg hinter den Geiern her den Berg hinauf. Er fand ihr Nest. Er ging auf das Nest zu. Die Geier flogen schreiend fort. Der Bursche sagte: "Seht nur. Nehmen werde ich mir mein Geld schon selbst." Er ergriff seine Hacke und lockerte den Boden. Da fand er, daß zwei Töpfe eingescharrt waren, die voller Gold- und Silberstücke waren. (Die Geier sollen nach Angabe der Kabylen die gleichen diebischen Gelüste haben, die man bei uns den Raben zuschreibt.) Die Geier hatten das Gold und das Silber zusammengetragen. Der Bursche sah das Gold und das Silber und er sagte: "Was, das wollt ihr mir alles geben? Bei meinem Kopfe! Ihr zahlt nicht schlecht. Das kann ich ja gar nicht alles tragen." Der Bursche lief fort.
Der Bursche lief nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Mutter, du hast recht gehabt, die Geier zahlen nur bei sich zu Hause. Sie haben mir zwei große Topfscherben voll Gold- und Silberstücke hingestellt, die soll ich mitnehmen. Komm nun mit zwei Körben und trage das Gold nach Hause". Die Mutter nahm zwei Körbe. Sie sagte bei sich: "Wenn es wahr ist, was der törichte Junge sagt, werde ich mit der Habsucht der Leute zu tun haben, denn der Junge wird es überall erzählen. Ich muß der Sache Pfeffer beimischen" (das soll heißen, ihr einen anderen Geschmack geben). Die Frau füllte den einen Korb mit Eiern und den anderen mit Kuchen. Sie sagte: "Ich bin fertig und werde vorangehen." Die Mutter ging. Sie ließ bald einen Kuchen, bald ein Ei fallen. Der törichte Bursche hob den Kuchen auf. Er hob das Ei auf. Er verzehrte alle Kuchen und Eier, die die Mutter unterwegs fallen ließ. Die Mutter sagte unterwegs: "Es regnet heute." Es war aber nicht wahr. Die Sonne schien. Der Sohn sagte: "Was sagst du? Es regnet heute ?" Die Mutter ließ wieder einen Kuchen und ein Ei fallen und sagte: "Ja, es regnet heute." Der Bursche aß den Kuchen und das Ei und sagte: "Ja, es regnet heute."
Die Mutter kam mit dem Burschen zu dem Nest der Geier. Sie sah das Gold und das Silber in den Nestern. Sie packte die beiden Körbe voll und kam abends wieder nach Hause. Der Bursche ging am anderen Tage auf den Tajmait, auf dem alle Männer versammelt waren,
und sagte: "Meine Mutter und ich sind jetzt reiche Leute. Wir haben Gold und Silber in Töpfen gefunden." Die Leute hörten hin. Die Leute fragten: "Wann war das?" Der Bursche sagte: "Das war an dem Tage, an dem es Eier und Kuchen regnete." Die Leute lachten. Die Leiste sagten untereinander: "Er ist wirklich ein törichter Schwätzer." —Eines Tages ging der törichte Bursche auf der Landstraße hin. Seiner Gewohnheit nach schwatzte er vor sich hin und er sagte: "Wenn Gott mich hundert Goldstücke auf der Landstraße finden läßt, werde ich sie aufnehmen und mitnehmen. Wenn Gott mir nur neunundneunzig Goldstücke hinlegt, lasse ich sie liegen." Hinter dem Burschen ging ein schlauer Händler, ohne daß der erstere es wußte. Der schlaue Händler sagte bei sich: "Was der törichte Bursche sagt, kann ihm, wenn er es ausführt, vor dem Richter ein Stück Geld kosten, das der einstecken kann, der die neunundneunzig Goldstücke hinlegt." Der schlaue Händler lief voraus und legte neunundneunzig Goldstücke auf die Straße. Der törichte Bursche kam an die Stelle, fand die Goldstücke, nahm sie auf, zählte sie und sagte: "Ho! Das hätte ich nicht von Gott gedacht. Jetzt ist mir Gott noch ein Goldstück schuldig. Höre Gott! Merke es dir gut und zahle mir das letzte Goldstück bald!" Der törichte Bursche ging weiter.
Der schlaue Händler kam aus seinem Versteck und sagte: "Du hast meine neunundneunzig Goldstücke weggenommen." Der Bursche fragte: "Hast du die neunundneunzig Goldstücke etwa da hingelegt oder hat Gott sie dich verlieren lassen?" Der Händler sagte bei sich: "Ich darf vor dem Richter nicht sagen, daß ich die neunundneunzig Goldstücke dort hingelegt habe." Der schlaue Händler sagte: "Nein, ich habe sie nicht hingelegt. Gott hat sie mich verlieren lassen. Komm vor den Richter!" Der törichte Bursche sagte: "Ich habe keine guten Kleider, um mit dir zum Richter zu kommen!" Der schlaue Händler gab ihm neue Kleider. Der Bursche sagte: "Zu Fuß kann ich nicht gehen." Der Händler gab ihm einen Maulesel. Der törichte Bursche ritt in den neuen Kleidern auf dem Maulesel mit dem schlauen Händler zum Richter. Der Händler sagte: "Der Bursche hat mir neunundneunzig Goldstücke gestohlen." Der Bursche sagte: "Ho! Jetzt behauptest du wohl auch noch, daß du mir die Kleider, die ich am Leibe habe, und den Maulesel, auf dem ich reite, hinterher dazugegeben hast?!"Der schlaue Händler sagte: "Gewiß habe ich sie dir hinterher noch gegeben." Der Richter sagte: "Du bist als schlau bekannt. Was du eben selbst angibst, wäre SO
töricht, daß ich dir die ganze Sache nicht glaube." Der törichte Bursche sagte: "Mein Richter, frage ihn, ob ich nicht durch seine Vermittlung von Gott neunundneunzig Goldstücke bekommen habe." Der Richter fragte: "Ist es so?" Der schlaue Händler sagte: "Das ist ja das, was ich behaupte. Gott hat sie mich verlieren lassen." Der törichte Bursche sagte: "Und Gott hat sie mich gewinnen lassen und ist mir dabei ein Goldstück schuldig geblieben. Richter, ich bitte dich, mir das Goldstück Gottes durch den schlauen Händler auszahlen zu lassen." Der Richter lachte und sagte: "Höre du, Schlauer, wenn du wirklich, wie du eben sagtest, auf Veranlassung Gottes das Geld verloren und es nicht zum Zwecke der Erpressung auf die Straße gelegt hast, so zahle dem Burschen im Namen des Gottes auch das letzte Goldstück. Sonst müßte ich die Sache anders auffassen."Der schlaue Händler zahlte das letzte Goldstück und ging. Der törichte Bursche steckte das Goldstück ein und sagte zu dem Richter: "Wegen dieses letzten Goldstückes hat mir Gott mehr Schwierigkeiten gemacht als mit den neunundneunzig ersten."
39. Der Listige und die Dummen
Das war Amar Gemäss, ein armer und junger, aber sehr, sehr listiger Mann. Er lebte in einer Ortschaft, in der auch drei außerordentlich reiche Brüder wohnten, die unter dem Namen der drei Lahsos als nicht sehr klug bekannt waren. Diesen drei Lah'sos* begegnete Amar Gemäss eines Tages. Er rief ihnen zu: "Guten Tag, ihr alle Lah'sos!" Die drei reichen und törichten Burschen beantworteten sogleich sehr höflich und in unterwürfigem Tone seinen Gruß. Amar Gemäss blieb hierüber sehr erstaunt hinter einem Baume stehen und hörte nur, daß die drei Lah'sos sich darüber unterhielten, ob dieser Gruß dem einen, dem anderen oder allen dreien gegolten hätte. Jeder war aber eitel genug, zu behaupten, Amar Gemäss habe ihm im speziellen die Ehre des Grußes gewidmet. Amar Gemäss sagte: "Diese sind wirklich recht töricht, in Anbetracht ihrer Wohlhabenheit lohnt es sich schon, ihnen einmal einen Streich zu spielen, bei dem ich nicht zu kurz wegzukommen brauche. Jedenfalls kann ich mein kleines Erbteil auf diese Weise gewinnbringend an den Mann bringen."
Amar Gemäss ging heim. Er wechselte das, was er noch hatte, in Goldstücke um. Die Goldstücke verwahrte er in der Tasche. Amar Gemäss kaufte einen Esel. Den Esel fütterte er einige Tage recht gut und trieb ihn dann eines Morgens vor dem Hause der drei Lah'sos hin. Vor dem Hause löste sich der Esel und ließ seinen Mist fallen. Amar Gemäss steckte sogleich den Mist voll von Goldstücken. Dann band er den Esel an einen Baum und ging in das Gehöft der drei Lah'sos hinein. Amar Gemass sagte: "Entschuldigt mich, es ist mir aber etwas Unangenehmes zugestoßen, weshalb ich euch bitten muß, mir eine Schaufel und einen alten Sack zu leihen."
Die drei Lah'sos kamen zusammen und fragten: "Was ist dir denn zugestoßen, daß du einen Sack und eine Schaufel gerade hier brauchst? Gewiß wollen wir sie dir gerne leihen, aber wir bitten dich um die Liebenswürdigkeit, uns deine Unannehmlichkeit zu erzählen, damit wir an deinem Gefühl teilnehmen können." Amar Gemäss sagte: "Die Sache ist die, daß mein Esel, trotzdem er heute nacht erst seinen Teppich ordnungsgemäß benutzt hat, so daß ich glaubte, er habe sich für heute ganz entleert, plötzlich vor eurem Hause noch einmal gemistet hat, und ich kann doch den Mist nicht so auf der Straße herumliegen lassen!" Die drei Lah'sos sagten: "Warum nicht? Alle Esel misten auf dieser Straße. Warum soll denn dein Esel das nicht auch dürfen? Laß den Mist nur ruhig liegen. Uns soll er nicht stören. Deswegen brauchst du dich nicht mit dem Sack und der Schaufel zu bemühen!"
Amar Gemass sagte: "Ihr seid drei ganz geriebene Burschen und ich merke schon, weshalb ihr wegen eurer Klugheit so allgemein bekannt seid. Nun leiht mir aber den Sack und die Schaufel!" Und Amar Gemäss lachte: "Hohoho! Das sollte euch so passen, daß der Mist meines Esels so vor eurem Hause liegen bleibt. Als ob der Mist aller Esel gleich sei! Hohohoho! Ihr seid kluge Leute!" Der eine Lah'sos nahm die anderen beiden beiseite und sagte: "Mir scheint es fast so, als ob es mit dem Eseismist hier eine besondere Bewandtnis auf sich habe. Wir wollen schlau sein, mit dorthin gehen und den Mist betrachten." Die anderen beiden sagten: "Er hat recht." Die drei Lah'sos holten einen alten Sack und eine Schaufel, kamen zurück und sagten zu Amar Gemass: "Wir wollen dir beim Einsammeln des Mistes behilflich sein." Amar Gemäss sagte: "Eigentlich mache ich die Sache lieber allein, aber wenn ihr schon so freundlich seid, mir euer Gerät zu leihen, kann ich euch nicht wehren, diese Sache auch einmal persönlich zu sehen."
Die drei Lah'sos gingen mit hinaus. Amar Gemäss stieß die Schaufel in den Mist, so daß die Goldstücke gegen das Eisen klirrten. Die drei Lah'sos stießen einander an und sagten leise: "Hört ihr, haben wir nicht recht, daß an dem Mist etwas Besonderes ist ?" Amar Gemäss schaufelte einen Teil des Mistes so auf, daß ein Goldstück vor dem Sack auf die Erde rollte und den Lah'sos gerade vor die Füße. Sie bückten sich und hoben es auf. Die Lah'sos sahen einander an. Sie beugten sich nieder und fuhren mit den Fingern in den Eseismist. Amar Gemäss sagte: "Laßt das." Die drei Lah'sos fühlten und sahen das Gold.
Die drei Lah'sos traten zur Seite: "Dieser Esel mistet Gold." Sie sagten: "Ja, dieser Esel mistet Gold!" Sie sagten: "Wir müssen den Esel kaufen. Wir sind reich genug, einen solchen Esel kaufen zu können und wir werden unser für den Esel ausgegebenes Geld sich ständig mehren sehen."
Die drei Lah'sos kamen zu Amar Gemäss zurück und sagten: "Wir wollen dir diesen außerordentlichen Esel abkaufen. Was willst du dafür haben?" Amar Gemäss sagte: "Ihr habt recht, es ist ein ganz außerordentlicher Esel. Ihr seid so klug, daß ihr das sogleich gemerkt habt. Außer diesem Esel und einigen anderen Kleinigkeiten habe ich aber von meinem Vater nicht viel geerbt. Ich kann ihn also nicht gut weggeben. Da ihr nun aber durch Zufall diesen Esel entdeckt habt und da ich euch nicht verpflichten kann, über diese außerordentliche Sache zu schweigen, so bin ich sicher, daß bald Diebe kommen werden, mir meinen Esel zu stehlen und deshalb bin ich bereit, ihn wegzugeben. Ihr müßt mir aber versprechen, für den Esel immer aufs beste zu sorgen." Die drei Lah'sos sagten: "Das soll geschehen. Wieviel willst du für den Esel haben ?" Amar Gemäss sagte: "Was soll ich für den Esel fordern? Was soll man für Gold verlangen, das sich in einem fort selbst wieder hervorbringt? Das Schlimme ist, daß ich dann in Zukunft den Esel nicht mehr haben werde. Aber ich will eine Summe sagen, um nur eine Zahl zu nennen. Ich will meinetwegen mit zweitausend Goldstücken zufrieden sein. Mein guter Esel! Nun werde ich von dir Abschied nehmen müssen!" Amar Gemäss umarmte den Esel! Der Esel schrie. Amar Gemäss sagte: "Seht, wie klug der Esel ist, er weint auch."
Die drei Lah'sos gingen in das Gehöft. Sie sagten: "Wir wollen ihn schnell bezahlen, sonst wird es ihm noch leid." Sie kamen mit den Goldstücken. Amar Gemäss nahm sie. Er sagte: "So nehmt denn meinen Goldesel. Behandelt ihn aber ausgezeichnet. Er muß nachts
auf einem Teppich im Freien schlafen. Jeden Morgen muß der Mist von dem Teppich vorsichtig aufgesammelt werden, damit nichts verlorengeht. Als Futter bekommt er nur frisches Kraut in Wasser. Amar Gemäss nahm den Sack mit dem Mist und den Goldstücken seines Erbteils sowie den Sack mit dem Gold der Lah'sos über die Schulter und ging nach Hause.Die drei Lah'sos waren über die Erwerbung des goldmistenden Esels sehr glücklich. Sie einigten sich untereinander dahingehend, daß sie den Esel abwechselnd zu sich nehmen wollten, in jeder Nacht ein anderer. Am ersten Tage nahm also der älteste L'hass den Esel zu sich, stellte ihn auf seinen besten Teppich, gab ihm Kraut in Wasser und wartete auf die Ergebnisse des nächsten Morgens. Am anderen Morgen hatte der Esel infolge des Futters Kolik und er hatte den schönen Teppich völlig durch Schmutz verdorben. Von Gold war aber nichts zu sehen. Der Älteste sagte nichts, um nicht den Spott der Brüder auf sich zu lenken, sondern übergab den Esel verabredungsgemäß am zweiten Tage dem zweiten. Und da der es mit dem Esel auch genau nach der Vorschrift des Amar Gemäss hielt, so war das Resultat bei ihm ebenso wie beim Ältesten, und am dritten Tage endlich erlebte der Jüngste auch nichts anderes. Der Jüngste aber sprach das aus, was die anderen bei sich behalten hatten. Der Jüngste sagte: "Bei mir hat der Esel nur den Teppich beschmutzt, Gold hat er nicht hinterlassen." Darauf sagte jeder der anderen beiden: "Bei mir ist es auch nicht anders gewesen." Die drei Lah'sos sagten: "Amar Gemäss hat uns betrogen! Wir wollen ihm den Esel zurückbringen und die zweitausend Goldstücke wiederverlangen." Sie machten sich mit dem Esel auf den Weg zu Amar Gemäss' Wohnung.
Amar Gemäss sagte bei sich: "Drei Tage werde ich die Lah'sos nicht sehen, denn sie haben den Esel sicher abwechselnd. Am vierten Tage werden sie aber mit dem Esel ankommen, und ich muß ihnen einen Empfang bereiten." Er rief am vierten Tage früh seine Frau und sagte: "Bereite mir für heute mittag drei ausgezeichnete Speisen, eine Platte mit sehr gutem Kuskus, eine Platte mit vorzüglicher Butter und eine Platte mit leckerem Fleisch. Diese Gerichte stellst du auf den Taarischt (Hängeboden über dem Viehstall), und zwar unter das Fenster. Wenn ich dich auffordere zu kochen, weigerst du dich! Du findest die drei Gerichte erst dann, wenn ich dich das dritte Mal frage, ob das Essen schon angekommen ist."Die Frau sagte: "Genau so werde ich es machen." Die Frau verfuhr genau
Darstellung einer Moschee, auf deren Minaretts Vögel sitzen Originalzeichnung eines KabylenDie drei Lah'sos sagten: "Du hast uns mit dem Esel betrogen. Wir haben dir den Esel mitgebracht und verlangen unsere Goldstücke zurück."Amar Gemäss sagte: "Nur immer gemach! gemach! Leute, die ernst und klug wie wir sind, sollen sich nicht übereilen, denn sie werden immer miteinander auskommen. Wenn es ein Mißverständnis in der Sache gibt, so ist es nachher bald aufgeklärt; vielleicht habt ihr etwas aus meinen Worten entnommen, was gar nicht darin ausgesprochen war. Aber das hat ja Zeit. Wir als ansehnliche Leute werden uns nicht benehmen wie niedere Menschen. Wir werden erst einmal essen. Ich bitte euch, nehmt Platz. Wir werden gleich zusammen speisen." Die drei Lah'sos setzten sich.
Amar Gemäss sagte hart zu seiner Frau, die in ihrem Winkel an der Bank saß: "Frau, bereite uns schnell ein Essen!" Die Frau sagte: "Weshalb soll ich mir die Mühe machen, wo du das beste Essen so schnell und leicht bekommen kannst. Ich habe heute gar keine Lust zu kochen." Amar Gemäss sagte zu den drei Lah'sos: "So werden die Frauen verwöhnt, wenn es ihnen zu leicht gemacht wird. — Im übrigen hat sie recht; wir können schneller ein besseres Essen bekommen, nur zeige ich euch nicht gern, wie ich zu meinem Essen komme. Aber ihr seid wohl gern bereit, mir zu versprechen, niemand gegenüber davon zu sprechen, wie ich das mache." Die drei Lah'sos sagten: "Wir danken dir, daß du uns zu einem guten Essen einlädst, und wir werden bestimmt mit niemand darüber sprechen, wie du dazu kommst."
Amar Gemäss nahm eine Amendaejer (tamburinartige Ledertrommel) von der Wand und begann zu trommeln. Er trommelte und sang dazu: "Drei Freunde habe ich bei mir. Gutes Essen will ich meinen Freunden vorsetzen. Drei Speisen möchte ich haben: Kuskus, Butter und Fleisch!"Amar Gemäss trommelte und sang den gleichen Spruch mehrmals vor sich hin. Dann brach er ab und sagte zu seiner Frau: "Frau, sieh doch einmal nach, ob das Essen schon angekommen ist." Die Frau stieg zwischen den Speicherurnen auf die Bank, blickte auf den Zwischenboden und sagte: "Ich kann noch nichts sehen."
Amar Gemäss sagte zu den drei Lah'sos: "Dann werden wir noch ein wenig trommeln müssen." Er ergriff also wieder die Amendaejer, trommelte darauf und sang: "Drei Freunde habe ich bei mir. Gutes
Essen will ich meinen Freunden vorsetzen. Drei Speisen möchte ich haben: Kuskus, Butter und Fleisch!" Das wiederholte er mehrmals und hieß dann seine Frau nochmals nachsehen. Als sie auf die Urnen. bank gestiegen war, sagte sie: "Trommle noch ein klein wenig!" Amar Gemäss trommelte noch einmal und sang: "Drei Freunde habe ich bei mir. Gutes Essen will ich meinen Freunden vorsetzen. Drei Speisen will ich haben: Kuskus, Butter und Fleisch." Er sang das noch einmal, da rief seine Frau, die auf der Urnenbank stehengeblieben war und ununterbrochen auf den Hängeboden und den Platz unter dem Fenster blickte: "Halt an, es ist genug. Ich sehe das Essen."Dann sagte die Frau: "Nimm mir ab!" Sie reichte Amar Gemäss eine Schale mit Kuskus, eine Schale mit Butter und eine Schale mit Fleisch. Amar Gemäss nahm die Speisen seiner Frau ab, setzte sie zwischen die drei Lah'sos und sagte: "Genügt das oder soll ich noch weiter trommeln?" Die drei Lah'sos sahen einander an und sagten: "Das genügt vollkommen." Darauf hing denn Amar Gemäss seine Amendaejer wieder an die Wand und sagte zu seiner Frau: "Geh und bring nur gleich einen Krug frischen Wassers!" Die Frau ging. Kaum war sie fort, so sagte Amar Gemäss: "Ich will ihr doch sagen, daß sie von der unteren besseren Quelle Wasser heraufbringt. Ich werde ihr nachspringen, gleich aber wieder zurückkehren. Fangt nur bitte zu essen an. Hoffentlich ist es nach eurem Geschmack." Damit ging Amar Gemäss heraus, schlug die Türe zu und horchte von draußen. Er sagte bei sich: "Ich will ihnen Gelegenheit geben, diese Sache ein wenig untereinander zu besprechen. Sie werden dann desto sicherer in die Falle geraten."
Als Amar Gemäss gegangen war, sagte der älteste L'hass (Sing.): "Habt ihr gesehen, wie das Essen auf das Trommeln hin auf den Zwischen boden kam?" Der zweite sagte: "Wir müssen immer stundenlang darauf warten, bis unsere Frauen sich bequemen, das Essen zu bereiten. Der Amar Gemäss trommelt nur! Nein, ist das eine Trommel!" Der dritte sagte: "Wir müssen dem Amar Gemäss die Trommel abkaufen." Der Älteste griff in die Schüssel und sagte: "Meine Frau kocht nicht so gut." Der zweite versuchte das Essen und sagte: "Das Essen der Trommel ist besser als das meiner Frau!" Der dritte versuchte die Speisen und sagte: "Ich habe nie so gutes Essen gegessen wie das der Trommel." Alle drei Lah'sos sagten: "Wir müssen diese Trommel kaufen." An der Tür hörte Amar Gemäss, was sie untereinander sprachen und sagte: "Sie wären also so weit, und
ich kann wieder hineingehen." Er entfernte sich ein wenig von der Tür, hustete laut und trat mit festen Schritten auf. Die drei Lah'sos sagten: "Still jetzt, Amar Gemäss kommt wieder. Der Älteste von uns soll einfach fragen, was die Trommel kostet. Wir tun so, als hätten wir nicht verstanden, was es mit ihr für eine Bewandtnis hat."Amar Gemäss trat herein. Er holte tief Atem und sagte: "Meine Frau geht schnell, ich mußte ihr den halben Hügel nachlaufen, um sie zu erreichen. Eßt übrigens, greift zu. Ich hoffe, mein einfaches Essen sagt euch zu." Die drei Lah'sos sagten: "Das Essen ist recht gut." Der Älteste der drei sagte: "Amar Gemäss, ich wollte dich fragen, ob du uns nicht deine Trommel verkaufen willst. Wir lieben solche Dinge. Wir würden sie gern teuer bezahlen." Amar Gemäss sagte: "Ich darf euch nicht sagen, was an der Trommel daran ist, und deshalb kann ich euch auch nicht verständlich machen, weshalb sie mir eigentlich so sehr wertvoll ist. Sie würde euch aber zu teuer zu stehen kommen." Die drei sagten: "Wir wollen in deine Geheimnisse nicht eindringen und verstehen es ohne weiteres, daß dir ein Gegenstand besonders wertvoll sein kann. Trotzdem nenne nur den Preis." Amar Gemäss sagte: "Ihr werdet mich für verrückt halten, wenn ich euch den Preis nenne, und die Leute würden euch für verrückt erklären, wenn ihr den Preis zahlen würdet." Die drei Lah'sos sagten: "Nenne den Preis und denke nicht an solche Sachen." Amar Gemäss sagte: "Ich gebe die Trommel nicht unter zweitausend Goldstücken ab. Nun könnt ihr über meine Verrücktheit lachen." Die drei sagten: "Wir lachen nicht. Der Älteste soll nach unserem Gehöft gehen und das Geld holen."
Der Älteste ging. Amar Gemäss nahm von seiner Trommel Abschied und sagte zu ihr: "Lebe wohl, in Zukunft werde ich Mangel leiden. Lebe wohl!" Der Älteste kam zurück und gab Amar Gemäss das Geld. Er nahm die Trommel und ging mit den beiden Brüdern von dannen. In der Eile vergaßen sie den Esel, der draußen an dem Gehöft des Amar Gemäss angebunden war. Amar Gemäss nahm ihn herein und sagte: "Drei Tage lang hast du nur Kraut zu fressen bekommen, heute soll es dir besser gehen." Er band ihn in seinem Stalle an. Auf dem Rückwege stritten sich die drei Lah'sos, wer die Trommel zuerst benutzen dürfe. Endlich einigten sie sich dahin, daß der Älteste sie heute noch, der zweite sie morgen und der dritte sie am dritten Tage bei sich daheim sollte anwenden dürfen und daß sie so immer wechseln wollten, um in gleicher Weise die Ernte der Trommel zu teilen.
Der Älteste der drei kam nach Hause. Seine Frau kam und sagte: "Du kommst zurecht, ich habe gerade das Abendessen fertig." Der L'hass hatte noch den scharfen Ton im Gedächtnis, mit dem Amar Gemäss seine Frau angeredet hatte, und sagte: "Ihr Frauen werdet immer verwöhnter. Warte ab, bis ich dir sage, welches Abendessen ich haben will. Jedenfalls will ich nicht das haben, was du mir bereitet hast, sondern das, das ich selbst besorgen werde. Schütte das Essen, das du bereitet hast, fort. Hast du mich verstanden?" Die Frau sagte: "Weshalb soll ich denn das gute Essen wegschütten?" Der Älteste der drei Lah'sos wurde zornig und sagte: "Sogleich wirfst du es fort auf den Misthaufen!" Die Frau gehorchte. Sie trug das Essen heraus. Ihr Mann folgte ihr und sah zu, daß sie es fortwarf. Er kam mit ihr zurück und sagte:
"Nun stelle dich auf die Speichertopfbank und sieh auf den Zwischen boden platz unter dem Fenster. Gleich wird das Essen da sein. Wenn ich aber nun sogleich das Essen herschaffe, so darf das kein Grund zur Verwöhnung sein!" Dann setzte der Älteste der drei Lah'sos sich hin, trommelte und sang: "Meine Frau habe ich bei mir. Gutes Essen will ich meiner Frau vorsetzen. Drei Speisen möchte ich haben: Kuskus, Butter und Fleisch!" Der L'hass trommelte und sang so laut er konnte. Nach einiger Zeit brach er ab und sagte zu seiner Frau: "Ist noch kein Essen da?" Die Frau dachte bei sich: "Er ist ganz verrückt geworden." Sie sagte laut: "Nein, mein Gatte, ich kann dein Essen noch nicht sehen. Zum Fenster hinaus kann ich aber bis auf den Misthaufen sehen, auf dem mein gutes Essen liegt." Der Älteste sagte: "Dein Essen geht mich nichts an. Ich will mein eigenes Essen haben. Es wird aber schon kommen." Er trommelte und sang weiter. Von Zeit zu Zeit fragte er seine Frau, ob sie sein Essen noch nicht sähe. Sie gab immer die gleiche Antwort. Der Älteste trommelte und sang bis spät in die Nacht hinein. Endlich schlief er vor Hunger und Müdigkeit ein. Seine Frau ging, um sich von einer Nachbarin noch etwas geben zu lassen. Als sie zurückkam, lag er noch immer mit der Trommel im Arm eingeschlafen in der gleichen Ecke und murmelte im Schlafe immer vor sich hin: "Gutes Essen will ich haben." Die Frau sagte: "Früher war er nur töricht, jetzt aber wird er verrückt." Sie legte sich hin und schlief ein.
Am anderen Tage holte der zweite Bruder sich die Trommel. Der älteste sagte ihm nichts davon, daß er hungrig eingeschlafen war. Dem zweiten ging es genau wie dem ältesten und am dritten Tage dann dem jüngsten wie den beiden ältesten. Der jüngste sagte aber
zu seinen Brüdern: "Ich glaube, Amar Gemäss hat uns mit dem Verkauf der Trommel betrogen. Ich bin gestern hungrig schlafen gegangen." Die anderen beiden sagten: "Uns ist es gerade so gegangen." Alle drei sagten: "Wir wollen ihm die Trommel wieder hinbringen und unser Geld zurückfordern." Sie machten sich also mit der Trommel auf den Weg zu Amar Gemäss.Als sie gegangen waren, lief die Frau des ältesten zur Frau des zweiten und sagte: "Bisher war mein Mann nur dumm; er fängt aber an, verrückt zu werden." Die zweite sagte: "Mit meinem Mann wird es ebenso." Sie liefen beide zur Frau des dritten. Die Frau des dritten sagte: "Gut, daß ihr zu mir kommt, damit ich mich einmal aussprechen kann; bisher war mein Mann nämlich nur dumm, seit einiger Zeit fängt er an, verrückt zu werden." Die drei Frauen saßen zusammen und sagten: "Wir wollen nicht mehr alles tun, was unsere Männer verlangen. Denn Verrückten braucht man nicht Folge zu leisten."
Amar Gemäss rechnete sich aus, wie lange die Brüder zu den Versuchen mit der Trommel brauchen würden. Er sagte zu seiner Frau: "Heute kommen die drei Lah'sos zu mir, wir müssen uns also vorbereiten. Schlachte ein Schaf. Fülle den Darm mit Blut. Binde den Darm voll Blut unter deinem Kleide um den Hals und laß dir dann nachher von mir die Kehle durchschneiden und dich zum Leben zurückrufen, wie es die Gelegenheit bietet." Die Frau sagte: "Diese Sache habe ich sogleich verstanden. Ich werde es schon richtig machen."
Kurze Zeit darauf kamen die drei Lah'sos mit der Trommel. Sie sagten: "Amar Gemäss, du hast uns mit der Amendaejer betrogen." Amar Gemäss sagte: "Wieso habe ich euch denn betrogen. Was habe ich Schlimmes getan? Habe ich etwas Schlechtes und Betrügerisches getan, gut, dann seid ihr drei klug und stark genug, mich dafür zu bestrafen. Aber ich glaube nicht, daß es der Fall ist. Es wird ein Mißverständnis sein. Aber wir wollen das genau feststellen. Es ist mir schrecklich, wenn mir jemand sagt, ich hätte ihn betrogen. Ich muß das sofort feststellen. Setzt euch. Sprecht alles aus, was ihr zu sagen habt. Verschweigt mir nichts. Wir wollen uns nur vollkommen aussprechen. Ihr seid doch der Meinung, daß wir allein sein wollen, nicht wahr? Frau, geh hinaus! Wir haben eine Männersache zu besprechen. Gehe hinaus, Frau, sage ich nochmals!"
Die Frau des Amar Gemäss sagte aus ihrem Winkel: "Ich denke gar nicht daran, sogleich herauszugehen. Ich bleibe, wo ich bin." Amar Gemäss sagte: "Seht, meine drei Freunde, so widersetzlich
sind heute die Frauen und sie werden es alle Tage mehr. Aber ob meine Frau nun dableiben will oder nicht, hören soll sie nicht, was wir Männer verhandeln. Sie soll so lange tot sein." Damit zog er ein Messer aus der Tasche und sprach zu dem Messer: "Messer des Amar Gemäss, von dem man sagt, daß es töten und leben lassen kann, laß Blut sehen."Amar Gemäss sprang auf die Frau zu, er zückte das Messer. Er stieß es in den mit Blut gefüllten Darm. Das Blut spritzte in großem Bogen von dannen. Die Frau des Amar Gemäss lag wie tot am Boden. Die drei Brüder sahen es mit Entsetzen. Amar Gemäss putzte sein Messer, setzte sich gelassen zu den Lah'sos und sagte: "So, nun können wir uns über unsere Männersache besprechen. Die Frau mag nachdem wieder aufleben, wenn wir uns zu Ende unterhalten haben. Verzeiht diese kleine Unterbrechung, die durch den häufigen Starrsinn meiner Frau hervorgerufen ist, und setzt mir nun genau auseinander, weswegen ihr hierhergekommen seid."
Die drei Lah'sos sahen noch immer entsetzt auf die blutüberströmt am Boden liegende Frau und sagten: "Das ist ja schrecklich, was du da getan hast. Du hast ja deiner Frau den Hals durchgeschnitten." Amar Gemäss sagte: "Nun ja, was macht das? Laßt sie ruhig so liegen, wie sie liegt. Wenn ich sie mit dem Messer hier so ein wenig gekitzelt habe, kann ich sie ja mit demselben Messer wieder aufleben lassen. Man muß die Frauen heute strenger nehmen." Die drei sagten: "Du kannst sie wieder aufleben lassen?" Amar Gemäss sagte: "Natürlich kann ich das. Denkt ihr denn, ich würde meine Frau so einfach umbringen, wenn es nicht sehr einfach wäre, sie wieder aufzuwecken? Aber laßt diese Kleinigkeiten und sagt mir nun, welch ernste Sache euch hierhergeführt hat."
Die drei Lah'sos sagten: "Nein, wir können nicht eher mit dir reden, ehe du nicht deine Frau zum Leben zurückgerufen hast; wir bitten dich, es zu tun. Wir möchten durch unsere Gegenwart nicht die Veranlassung geboten haben, daß du deine Frau tötest. Also rufe sie zum Leben zurück!" Amar Gemäss lachte und sagte: "Meinetwegen. Aber erstens ist sie ja gar nicht tot und dann wird sie uns in unserer Unterhaltung noch störender sein. Aber euer Wunsch soll erfüllt werden. Amar Gemäss zog wieder das Messer hervor, strich damit über den Hals seiner Frau und sagte: "Messer des Amar Gemäss, von dem man sagt, daß es töten und leben lassen kann, laß Leben sehen." Kaum hatte Amar Gemäss das getan, da erhob sich seine Frau auch schon wie aus dem Schlafe und strich sich mit der
Hand über die Augen und schalt: "Törichter Gatte, nicht einmal ordentlich schlafen kann man. Erst wird einem das Kleid voll Blut gemacht, daß man aussieht wie ein geschlachtetes Schaf, und dann darf 'man sich nicht einmal ausruhen!"Amar Gemäss steckte das Messer ein, setzte sich zu den Brüdern und sagte: "Jetzt wird die Ruhestörung nicht mehr abbrechen. Das kommt von eurer Gutmütigkeit. Mit der ruhigen Unterhaltung ist es vorbei. Sagt mir aber, was euer Wunsch ist." Die drei Brüder sahen sich erstaunt an und sagten: "Unsere Frauen gehorchen uns auch nur widerstrebend. Früher sagten sie uns, wir wären dumm, heute sagen sie, wir wären verrückt. Wenn wir doch auch ein solches Messer hätten!" Amar Gemäss sagte: "Was führt euch also hierher? Womit kann ich euch gefällig sein?" Die drei Lah'sos sagten gleichzeitig: "Verkaufe uns dein Messer. Wir wollen es gut bezahlen." Amar Gemäss sagte: "Mein Messer wollt ihr? Wie soll ich denn in Zukunft meine Frau im Zaume halten! Wie bin ich denn gesichert, daß ich nicht die Verantwortung dafür zu übernehmen habe, was ihr vielleicht für Unheil mit dem Messer anrichtet!" Die drei Lah'sos versprachen, alle Verantwortung selbst zu übernehmen. Sie boten ihm erst tausend Goldstücke, dann zweitausend Goldstücke, dann dreitausend Goldstücke an. Amar sagte: "Ich will denn, weil wir alte Freunde sind, euern Wunsch erfüllen. Bringt mir also die dreitausend Goldstücke. Ich will sie mit in meine Kammer unter den alten Brunnen nehmen. Da unten werde ich dann die nächsten Tage bleiben und meine Sachen in Ordnung bringen. Solltet ihr dann irgendeinen Wunsch haben, so laßt euch nur von meiner Frau den Weg unter dem Brunnenwasser in meine Kammer zeigen und sucht mich da auf." Die drei Brüder holten das Gold, brachten es dem Amar Gemäss und gingen mit dem Messer von dannen.
Auf dem Heimwege einigten sich die drei Brüder, daß der älteste das Messer am ersten, der zweite es am zweiten und der dritte es am dritten Tage haben sollte. Der älteste kam mit dem Messer im Gürtel nach Hause. Der Älteste schrie seine Frau schon in der Tür an und sagte: "Ist das Essen noch nicht fertig? Schnell, trag' das Essen auf." Die Frau sagte: "Ich denke gar nicht daran, immer sogleich so zu springen, wie deine Laune es will. Einen Tag wird das gute Essen auf den Misthaufen geworfen, den nächsten kann es nicht schnell genug fertig werden." Der Älteste sprang auf und schrie: "Alle Tage werdet ihr Frauen widersetzlicher. Wartet aber, wir haben jetzt das Mittel, euch immer für so lange tot zu machen, als es uns gefällt."
Dann zog er das neu erworbene Messer heraus und sagte: "Messer des Amar Gemäss, von dem man sagt, daß es töten und leben lassen kann, laß Blut fließen." Er fiel über seine Frau her und ehe sie noch wußte, was geschah, schnitt er ihr den Hals durch, so daß sie tot hinfiel. Danach ging er hin, nahm das fertige Essen und speiste. Nach dem Essen legte er sich schlafen und schlief. Als er aufwachte, sagte er: "Nun kann meine Frau auch wieder aufstehen." Er nahm das Messer wieder heraus, strich damit über den Hals der Frau und sagte: "Messer des Amar Gemäss, von dem man sagt, daß es töten und leben lassen kann, laß Leben sehen." Die Frau rührte sich aber nicht, denn sie war wirklich tot. Der Älteste sagte: "Meine Frau ist noch störrischer als die des Amar Gemäss. Dann mag sie aber noch liegen bleiben."Am anderen Tage tötete der zweite Bruder seine Frau in der gleichen Weise, und am dritten Tage machte der jüngste Bruder es genau ebenso. Der jüngste sagte dann aber zu den älteren beiden: "Ich fürchte, Amar Gemäss hat uns ganz schrecklich betrogen. Meine Frau mag ja recht störrisch sein. Aber das scheint mir denn doch etwas übertrieben." Die anderen beiden sagten: "Ja, wir wollen zu Amar Gemäss gehen, er soll uns unsere Frauen und das Geld für das Messer wiedergeben." Sie gingen.
Amar Gemäss hatte genau ausgerechnet, wann die drei Brüder bei ihm ankommen würden. Er sagte zu seiner Frau: "Sieh, ich streue einzelne Goldstücke auf den Weg zu dem alten Brunnen mit dem verdorbenen Wasser. Hier neben den Brunnen lege ich drei Steine, jeden mit einem Strick daran. Wenn die Lah'sos kommen, sage ihnen, ich hätte die letzten Säcke mit Goldstücken einer soeben angetretenen neuen Erbschaft in die Kammer unter den Brunnen getragen und sei wohl noch da unten. Sie sollten mir nur unter das Wasser nachfolgen. Man mache das so, daß man sich einen der Steine um den Hals binde und herabspringe. Dann finde man den Weg ganz allein." Die Frau sagte: "Es ist schon recht. Wo gehst du nun aber hin?" Amar Gemäss sagte: "Ich gehe von der anderen Seite ins Dorf und hole die Erbschaft." Amar Gemäss ging.
Nach einiger Zeit kamen die drei Lah'sos zum Hause des Amar Gemäss. Als sie über den Hof gingen, sahen sie die Goldstücke und sagten: "Seht, was dieser Amar Gemäss reich ist." Sie trafen die Frau und sagten: "Wo ist dein Mann?" Sie sagte: "Amar Gemäss hat eine Erbschaft angetreten und hat einige Säcke in die Kammer unter den Brunnen getragen. Soll ich ihn heraufrufen?" Die drei Lah'sos
sagten: "Können wir nicht direkt zu ihm gehen?" Die Frau sagte: "Gewiß könnt ihr das. Geht nur den Weg entlang. Am alten Brunnen liegen Steine, die hängt um den Hals. Da unten zeigt euch dann mein Mann den Weg!" Die drei Lah'sos gingen den Weg hin. Sie folgten den ausgestreuten Goldstücken. Sie kamen an den Brunnen, banden sich jeder einen Stein um den Hals und stürzten sich hinab. Sie ertranken fast gleichzeitig.Inzwischen ging Amar Gemäss zu dem Haus der drei Lah'sos. Er blickte in die Baerka eines jeden, hob den darin befindlichen Goldsack heraus und trug ihn zu sich nach Hause. Als er ankam, fragte er seine Frau: "Wo sind die drei Lah'sos?" Die Frau sagte: "Sie sind hinter der Erbschaft her in den Brunnen gestürzt." Amar Gemäss sagte aber: "Frau, das war die einzige ausgesprochene Lüge. Sie sind nicht hinter der Erbschaft hergesprungen, sondern der Erbschaft vorausgelaufen. Komm, wir wollen die Goldstücke wieder auflesen, die wir als Wegzeichen für sie ausgestreut haben."
Variante: Einer Variante zufolge läßt im letzten Teil nach dem Verkauf des Messers Amar Gemäss sich ein Grab ausheben, in dem er lebend hockt. Die wütenden Lah'sos kommen nach der Ermordung ihrer Frauen zu dem Grabe und hocken darauf, um das Grab des Betrügers zu beschmutzen. Der aber fährt mit einer Schere von unten herauf und schneidet ihnen die Genitalien ab, worauf sie sterben und an seiner Statt in dem Grabe beigesetzt werden.
40. Die zwei Ai
Ein Mann hieß Ah; ein zweiter Mann hieß auch Ali Beide waren eng miteinander befreundet und hießen überall "die zwei Ai". Wollte man sie voneinander unterscheiden, so bezeichnete man den einen als Uali, den anderen aber schlechtweg mit Ali Beide Ai waren überaus schlau, einer wie der andere, so daß man von ihnen sagte: "Uali urzileköl (ur = nie, leko(a)l nehmen) rafu (über) Ali d. h. "Uali und Ali können keiner dem anderen etwas nehmen."
Eines Tages hörte das Ali wieder auf dem Markte. Er sagte sich: "Weshalb sagen das die Leute? Ich bin schlauer als Uahi. Ich werde es zeigen." Ali ging heim. Er nahm einen Sack, füllte ihn ganz mit Asche, legte oben darauf einige Feigen und kehrte mit dieser schweren Last auf den Markt zurück.
Uali war allein auf dem Markt geblieben. Er hörte wieder hinter sich sagen: , ,Uali und Alikönnen keiner dem anderen etwas nehmen." Uali sagte bei sich: "Weshalb sagen das die Leute? Ich bin schlauer als Ali Ich werde es zeigen." Uali ging heim. Er nahm einen Sack, füllte ihn mit Asche und legte oben darauf eine Schicht Mehl. Mit der schweren Last kehrte er auf den Markt zurück.
Uali traf Ali und sagte: "Du hast eine schwere Last. Was hast du? Was willst du damit?" Ali sagte: "Ich habe von meinem Onkel einen Sack Feigen bekommen, den soll ich verkaufen. Aber sage mir, was du zum Markte getragen hast ?" Uali sagte: "Dies ist ein Sack feinen Mehles, den die Schwester meines Vaters mich zu verkaufen gebeten hat. Es ist ein sehr feines Mehl. Sieh es an." Ali betrachtete das Mehl, ließ es durch die Finger rinnen und sagte: "Das Mehl der Schwester deines Vaters ist recht gut. Aber als Mehl ist es doch nicht so gut wie die Feigen meines Onkels. Es sind die besten Feigen, die je gepflückt wurden. Hier nimm eine und versuche sie." Uali versuchte die Feigen und sagte: "Die Feigen sind recht gut. Aber der Sack Feigen ist einen Sack Mehl nicht wert, selbst wenn es nicht einmal so gut wäre wie das der Schwester meines Vaters." Ali sagte: "Du irrst dich. Dein Mehl ist ganz schön, aber es gibt besseres. Und meine Feigen sind so ausgezeichnet, daß ein Sack Mehl, und wenn es vom allerbesten wäre, meinem Sack Feigen an Wert nicht nahekäme." Uali und Ali stritten eine Zeit miteinander.
Endlich sagte Ali zu Uali: "Höre, wir wollen auf dem Markt keinen besonderen Streit anfangen." Uali sagte: "Du hast recht. Wir wollen Frieden halten und sagen, dein Sack Feigen und mein Sack Mehl sind einer so viel wert, wie der andere." Ali sagte: "Du hast recht. Alle Leute sagen: ,Uali und Ali können keiner dem anderen etwas nehmen.' Bleiben wir dabei und erreichen wir es, daß die Leute sagen ,Ualis Mehl ist so viel wert wie Aus Feigen'!" Uahi sagte: "Tauschen wir also deine Feigen gegen mein Mehl aus." Ali war es einverstanden. Ali nahm Ualis Sack mit der Asche und dem Mehl, Uahi Aus Sack mit der Asche und den Feigen. Ali sagte: "Lebe wohl Uali." Uahi sagte: "Lebe wohl Ali Beide gingen heim.
Als Uali heimkam, sagte er: "Die Leute haben nicht recht. Ich habe heute dem Ali einen Sack voll Asche gegen einen Sack voll Mehl aufgeladen. Ich bin Ali doch überlegen." Als Ali heimkam, sagte er: "Die Leute haben nicht recht. Ich habe heute dem Uali einen Sack voll Asche gegen einen Sack voll Feigen aufgeladen. Ich bin Uahi überlegen." Uali öffnete den Sack, um von dem Mehl
zu nehmen. Uali fand Aus Asche. Ali öffnete seinen Sack, um von den Feigen zu nehmen. Ali fand Ualis Asche. Uali sagte nichts. Ali sagte nichts.Am anderen Tage trafen sich Ali und Uali. Ali sagte: "Hm!" Uali sagte: "Hm!" Ali sagte: "Wir sind doch die beiden Ai!" Uali sagte: "Natürlich sind wir die beiden Ai! Wir sind ja auch die besten Freunde!" Ali sagte: "Natürlich sind wir die besten Freunde. Denn du kannst überall die Leute sagen hören: Uali und Ali können keiner dem anderen etwas nehmen!" Uali sagte: "So ist es." Ali sagte: "Wie sollte es auch anders werden!" Uali sagte: "Ich möchte auch wissen, wie es anders werden könnte." Ali sagte: "Gut so! Wir wollen zusammen stehlen gehen und sehen, daß wir den Leuten etwas zu reden geben." Uali sagte: "Tun wir das. Wir werden die Leute reden machen." Ali sagte: "Es ist gut, wir werden einen Ochsen finden und im Busch eine gute Mahlzeit halten."
Ali und Uali machten sich auf den Weg. Ali nahm viel Salz mit. Die beiden Ai fanden nahe dem Walde einen Ochsen. Sie nahmen den Ochsen und trieben ihn weit in den Wald hinein vor sich her. Uahi wollte haltmachen. Ali sagte: "Hier sind wir noch nicht sicher. Wir müssen noch weiter gehen." Ali und Uahi kamen mit ihren Ochsen bis tief in den Wald hinein. Dort töteten sie den Ochsen, zogen ihm das Fell ab und zerlegten das Fleisch.
Die beiden Ai wollten nun abkochen. Ali sagte: "Ich weiß eine Quelle und werde Wasser holen. Gehe du inzwischen hin und hole Holz." Ali holte Wasser. Uali holte Holz. Als Uali mit dem Holz kam, sagte Ah: "Es ist nicht genug, hole noch mehr." Uahi ging noch einmal. Als er fort war, rieb Ali das Fleisch des Uahi stark mit Salz ein. Uahi kam zurück. Uali und Ali aßen ein jeder sein Fleisch.
Nach einiger Zeit sagte Uali: "Ach Ali zeige mir doch die Quelle. Ich bin so sehr durstig."Ali sagte: "Jetzt ist es Nacht. Es ist nicht möglich, jetzt zur Quelle zu gehen. Denn es sind jetzt viele wilde Tiere dort." Uali sagte: "Ich habe solchen Durst." Ali sagte: "Warte, bis es Tag wird." Ali drehte sich um und schlief ein.
Als Ali eingeschlafen war, nahm Uali die Haut des Ochsen und schlich sich in den Busch. Er suchte einige Zeit und fand dann endlich die Quelle. Uahi trank sich satt und hing dann die Ochsenhaut über der Quelle in den Zweigen so auf, daß sie wie ein Tier aussah. Danach machte er sich auf den Rückweg, legte sich am Feuer nieder und schlief bald ein.
Als es Morgen war, erwachte Ali Ali empfand Durst von dem vielen Fleisch, das er am Abend genossen hatte. Ali erhob sich und schlich zu der Quelle, um zu trinken. Als er die Büsche auseinanderbog, sah er die Ochsenhaut. Ali erschrak und lief schnell zurück. Er weckte Uali und sagte: "Stehe schnell auf und komm mit. An der Quelle ist ein Tier. Wir wollen es verjagen." Uahi sagte: "Geh, laß mich schlafen!" Ali sagte: "Komm, hilf mir; ich habe solchen Durst." Uahi sagte: "Mein Durst ist vergangen. Dein Durst wird auch vergehen." Uali drehte sich um und schlief wieder ein.
Uali schlief bis zum Nachmittag. Ali kaute, um den Durst zu löschen, Blätter. Sein Durst wurde immer schlimmer. Am Nachmittage wachte Uali auf. Uali sagte: "Ali, nun komm mit zur Quelle. Wir wollen trinken." Uali ging voran. Uali nahm das Fell von den Zweigen und trank. Ali sah es. Ali sagte: "O Uali!"Uali sagte: "Wir sind eben die beiden Ai. In der Nacht durstet der eine, am Tage der andere." Ali sagte: "So ist es. Wir sind die besten Freunde." Uali sagte: "So ist es. Wir sind die besten Freunde." Uali sagte: "Gewiß sind wir es und werden es auch bleiben, was auch immer geschieht." Ali sagte: "Wir werden wieder gemeinsam stehlen gehen." Uali sagte: "Das wollen wir tun." Ali und Uali gingen zusammen nach Hause.
Die beiden Ai begaben sich einmal wieder auf eine Wanderung, um zu stehlen. Sie kamen an ein einsam gelegenes Haus. Ali schlich in den Stall. Er fand eine Stute, umwickelte ihre Füße mit Stroh und brachte sie hinaus. Inzwischen sah sich Uahi um, was er wohl mitnehmen könne. Zuletzt fand er eine sehr schöne Decke (Decken der Kabylen =tatherbft). Ali eilte mit seiner Stute, Uali mit seiner Decke von dannen.
Ali bestieg die Stute und ritt. Uahi lief hinterher. So kamen sie sehr weit. Zuletzt war Uahi müde. Seine Füße schmerzten ihm vom Laufen. Uahi sagte zu Ali: "Ich bin sehr müde. Laß mich auch einmal die Stute besteigen und ein Stück weit reiten." Ali sagte: "Aber Uahi, wie kannst du nur so etwas denken?! Weshalb hast du dir denn, wenn du auch reiten willst, nicht auch eine Stute genommen?" Uahi sagte: "Ich habe keine gefunden. In dem Stall war nur eine und auf der reitest du jetzt schon lange." Ali sagte: "Ich wundere mich." Ali ritt weiter.
Ali ritt weiter und Uali lief mit wunden und schmerzhaften Füßen hinterher. Einen Tag lang ritt Ali und den ganzen Tag lang lief Uali hinterdrein. Abends kamen sie an einen Wald. Ali ritt in den Wald.
Uali ging hinterher. Im Walde machte Ali halt und stieg ab. Uali und Ali legten sich zum Schlafen nieder. Uali wickelte sich in seine Decke. Nachts begann es zu regnen. Es regnete und wurde sehr kalt. Uali wickelte sich (behaglich) in seine Decke. Ali fror. Ali fror und bat Uali: "Laß mich mit unter deiner Decke schlafen." Uali sagte: "Aber mein Ali weshalb hast du denn nicht auch eine Decke mitgenommen? Die Stute hätte außer dir noch sehr gut eine Decke tragen können." Ali sagte: "Ich habe mit der Stute schon solche Eile gehabt. Da habe ich keine Decke mehr gesehen." Uali sagte: "Ach Ali ich muß mich sehr wundern." Uali drehte sich herum, wickelte sich fest in seine Decke und schlief ein.Es regnete und war sehr kalt. Ali fror. Er zitterte vor Frost. Uali schlief in seiner Decke. Ali sah, daß Uahi fest schlief. Er zog sein Messer heraus, näherte sich Uali und schnitt die Hälfte seiner Decke ab. Er nahm die abgeschnittene Hälfte der Decke, wickelte sich hinein und schlief ein.
Nach einiger Zeit wachte Uahi auf. Er sah, daß Ali neben ihm in der abgeschnittenen Hälfte der Decke schlief. Uali sagte: "Warte, mein Ali das soll dich deine Stute kosten." Uali erhob sich. Er schlich zu der Stute. Er zog sein Messer heraus und schnitt der Stute die Unterlippe ab. Die Unterlippe legte er auf den Boden. Dann kam er zurück, wickelte sich in die übriggebliebene Hälfte seiner Decke und schlief ein.
Am anderen Morgen erwachte Ali Am anderen Morgen erwachte Uali. Ali lachte und sagte: "Mein Uahi, sieh deine Decke. Wie willst du die nun verkaufen?" Uali lachte und sagte: "Ich werde sie so gut verkaufen wie du deine Stute." Ali sah auf. Ali sah auf seine Stute. Er sah, daß ihr die Unterlippe abgeschnitten war. Ali sagte: "Ah!"
Ali sagte: "Wie sagen die Leute?" Uali sagte: "Die Leute sagen: ,Uahi und Ali können keiner dem anderen etwas nehmen.' Ich denke, mein Ali die Leute hätten recht." Ali sagte: "So ist es, und wir wollen in Zukunft nicht mehr versuchen, die Leute eines Besseren zu belehren." Uahi sagte: "So wollen wir es lassen."Ali und Uali schworen sich wieder Freundschaft.
Die beiden Ai kehrten in ihr Dorf zurück. Sie hielten ihre Freundschaft. Die beiden Ai heirateten zwei Schwestern aus dem gleichen Dorfe.
41. Narren
Ein Mann hieß Alilindi. Alilindi war verheiratet und hatte eine Frau. Eines Tages ging Alilindi auf den Markt und kaufte bei dem Fleischer vier Ochsenfüße. Der Fleischer gab ihm dazu einen Ochsenschwanz (Schwanz =ajehanär). Alilindi brachte das Fleisch heim. Die Frau warf alles in einen Kochtopf und stellte den auf das Feuer. Das Fleisch war gar, der Mann aber noch nicht nach Hause gekommen. Die Frau nahm das Fleisch heraus und tat es auf einen Teller. Die Frau ward gierig. Sie nahm den Schwanz und aß ihn.
Alilindi kam nach Hause. Alilindi sah auf den Teller mit Fleisch. Alilindi fragte: "Wo ist der Schwanz?" Die Frau sagte: "Ich habe keinen Schwanz gesehen." Alilindi sagte: "Bring den Schwanz oder ich sterbe." Die Frau sagte: "Ich habe den Schwanz nicht." Alilindi sagte: "Bringe den Schwanz oder ich sterbe." Die Frau sagte: "Was soll ich tun, um dich zu beruhigen?" Alilindi sagte: "Bringe den Schwanz oder ich sterbe." Alilindi ließ sich hinfallen. Die Frau bemühte sich, ihn aufzuheben. Alilindi sagte: "Nun sterbe ich."
Die Frau weinte. Alle Leute kamen. Die Leute fragten: "Was gibt es hier?" Die Frau sagte: "Ich habe einen Ochsenschwanz verloren. Nun will Alilindi sterben." Die Leute sagten: "Alilindi, steh auf!" Alilindi sagte: "Ich sterbe." Die Frau weinte. Die Leute sagten: "Alilindi, sei kein Narr! Steh auf!" Alilindi sagte: "Begrabt mich. Ich bin gestorben." Die Leute sagten: "Es geht nicht anders, wir müssen Alilindi begraben."
Im Hause Alilindis waren zwei Ochsen. Der eine Ochse wurde für fünfzig Duro verkauft. Der andere ward für das Fest der Bestattung geschlachtet. Das Grab für Alilindi wurde hergerichtet. Alilindi wurde mit dem Totenkleid bedeckt. Man trug Alilindi heraus. Auf der Straße kam gerade der Fleischer. Der Fleischer blieb stehen und sagte: "Wer ist da gestorben? Wen begräbt man da?" Die Leute sagten: "Das ist Alilindi." Der Fleischer sagte: "Was, der Alilindi? Der Alilindi, dem ich gestern noch vier Ochsenfüße verkauft und einen Schwanz dazugab ?" Alilindi hörte das. Alilindi erkannte, unter dem Leichenkleid hervorschauend, den Fleischer. Alilindi sprang herab und auf den Fleischer zu. Alilindi rief: "Ja, du bist der Fleischer, von dem der Schwanz kam. Wo ist der Schwanz?" Alilindi packte den Fleischer am Kleid. Der Fleischer erschrak so, daß er tot hinfiel. Darauf legten sie den Fleischer unter das Totenkleid und bestatteten ihn in dem Grabe, das für Alilindi hergestellt war.
Alilindi kam nach Hause. Er sagte zu seiner Frau: "Du hast gut gesehen (tha-therät ?) , wie der Fleischer, der mir die vier Ochsenfüße verkaufte und den Schwanz dazugab, starb?" Die Frau All-. lindis wurde böse und sagte: "Das kommt nur von deiner Narrheit!" Alilindi sagte: "Sei nicht böse! Sei nicht zornig! Du meinst, ich wäre närrisch? (amäghul = männlich; thämägult = weiblich). Ich glaube, du bist närrisch. Wenn du böse wirst, will ich herumgehen und sehen, ob ich noch andere Männer und Frauen finde, die so närrisch sind wie du und ich. Ich tue es, damit du nicht böse wirst." Alilindi packte sich Essen ein und ging von dannen.
Alilindi kam an ein Wasser. An dem Wasser stand eine Frau. Die Frau wusch die Füße und den Kopf eines Schafes. Dabei hielt sie den Kopf des Schafes so tief, daß die Schnauze unter dem Wasser war. Die Frau lockte die anderen Schafe. Alilindi fragte: "Was machst du da? Weshalb lockst du die anderen Schafe?" Die Frau sagte: "Beim Waschen habe ich die Schnauze dieses Schafes verloren. Deshalb kann ich die Schnauze nicht mehr sehen. Ich locke nun die anderen Schafe heran, die sollen die Schnauze dieses Schafes suchen helfen." Alilindi sagte: "Hm!" Alilindi ging weiter und sagte: "Jetzt habe ich eine Frau gefunden, die ist ebenso töricht wie meine Frau."
Alilindi ging weiter. Alilindi kam an einen Ort, in dem wurde ein Fest gefeiert. Eine junge Frau kam aus, dem Orte. Sie hatte mitgefeiert. Sie hatte alle ihre Schmucksachen in einem Sack. Sie war so müde, ihn zu tragen. Die junge Frau sah Alilindi, sie sagte: "Ich kenne dich. Ich bin es müde, diese Schmucksachen zu tragen. Nimm meinen Sack mit zu dir nach Hause. Ich werde eines Tages meinen Bruder oder meinen Mann zu dir schicken und die Schmucksachen abholen lassen. Wie heißt du ?" Alilindi sagte: "Ich heiße Alilindi." Die junge Frau gab Alilindi den Sack und ging ab. Ahlindi sagte: "Hm!" Er nahm den Sack und ging weiter.
Die junge Frau kam nach Hause. Ihr Mann fragte sie: "Wo hast du den Sack mit deinen Schmucksachen?" Die junge Frau sagte: "Ich war müde, ihn zu tragen, ich habe ihn einem Manne zu tragen gegeben." Der Mann sagte: "Wie heißt der Mann?" Die junge Frau sagte: "Der Mann heißt Alilindi" (ilindi = "vergangenes Jahr"). Der Mann fragte: "Wo ist Alilindi hingegangen?" Die junge Frau zeigte die Richtung und sagte: "Alilindi ist dorthin gegangen."
Der Mann stieg auf seinen Maulesel und ritt schnell hinter Alilindi her. Alilindi war noch nicht sehr weit gegangen, da wandte er sich
um und sah den Mann auf dem Maulesel schnell daherkommen. Alilindi trat vom Wege weg in ein benachbartes Weizenfeld. Er gab sich den Anschein, als ob er da Vogelfallen stelle. Nach einiger Zeit kam der Mann auf dem Maulesel daher. Er sah den Mann im Weizenfeld und sagte: "Hast du nicht einen Menschen vorbeigehen sehen?" Alilindi sagte: "Ja, ich sah einen Menschen vorbeigehen." Der Mann auf dem Maulesel sagte: "Kann ich den Mann einholen?" Alilindi sagte: "Wenn du zu Fuß gehst, kannst du ihn ergreifen. Vom Maulesel aus kannst du ihn nicht fassen." Der Mann stieg vom Maulesel und sagte: "Wie heißt du?" Alilindi sagte: "Ich heiße Ilindi." Der Mann sagte: "Ich bitte dich, Ilindi, bewache meinen Maulesel, bis ich zurückkomme." Der Mann ging zu Fuß weiter.Der Mann ging ein gutes Stück weit. Er ging, bis er müde war. Der Mann sagte: "Dieser Alilindi ist doch schneller, als ich es war. Es ist nutzlos. Ich werde wieder heimkehren." Der Mann kehrte um. Er kam an die Stelle, wo er seinen Maulesel bei Alilindi zurückgelassen hatte. Er kam an das Feld. Er sah Alilindi nicht. Der Mann ging auf das Feld und sagte: "Ich werde auf dem Felde warten. Ilindi ist von seinem Felde fortgegangen. Ilindi wird zu seinem Felde zurückkehren." Der Mann zündete auf dem Felde ein Feuer an und wartete. Der Inhaber des Feldes sah aus der Ferne das Feuer. Der Inhaber wurde zornig. Er kam in der Nacht heran und schlug den Mann tot.
Inzwischen hatte Alilindi den Maulesel bestiegen und ritt mit dem Sack voll Schmucksachen und dem Maulesel heim. Er kam zu seiner Frau, zeigte ihr die Schmucksachen und den Maulesel und sagte: "Ich habe Frauen gefunden, die närrischer sind als du. Ich habe Männer gefunden, die närrischer sind als ich. Wir können beieinander bleiben."
42. Die törichten Eltern
(Gekürzt wiedergegeben)
Ein Mann (Äascha mit Namen) und eine Frau (Tabuaischeth genannt) haben drei Töchter. Beide sind etwas Narren (mchh'allen). Sie verheirateten zunächst ihre drei Töchter. Die älteste an den Schafbock, die zweite an den Rebhahn, die dritte an die Eule (mearuf). Nach einem Jahre beschließen die Eltern, die drei Töchter
zu besuchen, um zu sehen, wie es ihnen geht. Die Mutter nimmt als Geschenk Wolle und Fleisch mit.Auf dem Wege kommen sie an einem Teich vorbei, an dessen Ufer die Frösche (Frosch = ämkarrka) quaken. Sie hören zu. Die Frau fragt den Mann, ob er verstehe, was die Frösche sagen. Der Mann bejaht das und sagte, die Frösche wollten die Wolle haben, um sie zu waschen. Die Frau könne sie gewaschen in Empfang nehmen, wenn sie wieder zurückkomme. Die Frau wirft darauf die Wolle den Fröschen im Teiche zu.
Weitergehend kommen sie an einen Flußlauf, in dessen Steinbett in einem Felsenloch eine Schildkröte den Kopf immer heraussteckt und wieder einzieht. Die Frau glaubt zu erkennen, daß die Schildkröte ihre Bereitwilligkeit, das Fleisch weich zu klopfen, damit andeute und wirft ihr das Fleisch in den Fluß.
Sie kommen zum Haus des Schafbockes, der tagsüber draußen ist und abends als Nahrung auf jedem Horn aufgespießt je eine wilde Kartoffel (thakolemet) heimbringt. Der Schafbock ist zwar über den Besuch der Schwiegereltern sehr glücklich, die Mutter erkennt aber, daß die Tochter hier sehr schlecht aufgehoben ist, und beschließt, sie auf dem Heimwege aus diesem Hause heraus und wieder mit heimnehmen zu wollen.
Sie kommen dann zum Rebhahn. Hier gibt es einen glänzenden Empfang. Im Hause ist an Nahrung und Essen alles, was nötig ist. Die Mutter erklärt, die Tochter habe es hier sehr gut und solle bei ihrem Manne bleiben. Die Tochter selbst will aber nicht bleiben und so versprechen denn die Eltern, daß sie sie abholen wollen, wenn sie zurückkommen.
Sie kommen endlich zur Eule. Die tut nun vom Morgen bis zum Abend nichts, als auf einem Baume sitzen und schreien: hu! ho! hu! ho! Die Frau der Eule hat es sehr schlecht. Die Arme muß sich von Erde ernähren. Die Eltern machen also sogleich kehrt, nehmen die Frau der Eule mit und holen unterwegs auch die Frauen des Rebhahnes und des Schafbockes ab.
Auf dem Rückwege kommen sie zunächst am Fluß bei der Schildkröte vorüber. Die zieht sich schnell zurück, kommt aber nicht mit dem Fleisch und die Frau meint, das Warten dauere zu sehr. Sie beschließt, das Fleisch ein anderes Mal abzuholen. Sie gehen weiter.
Die Eltern und Töchter kommen dann an den Teich zu den Fröschen. Die Frau redet ihnen eindringlich zu, ihr schnell ihre Wolle
zu bringen. Jedesmal, wenn sie spricht, quaken die Frösche schneller und daraus hört die Mutter, daß die Wolle noch nicht fertig gewaschen ist.Sie kommen heim. Die drei Töchter werden sogleich wieder verheiratet, und zwar diesmal an drei Männer. Die Männer nehmen ihre jungen Frauen gleich mit und nach einiger Zeit (angeblich einem Monat) machen der Mann und die Frau sich wieder auf den Weg, ihre drei Töchter zu besuchen. Die Mutter nimmt für die älteste in Öl gebackenen Kuchen (aschebäth), für die zweite Öl (ssith) und für die dritte Kleider (ischthillen) mit.
Auf der Wanderung - es ist heißer Sommer - kommen sie erst an ein Erdloch. Die Mutter behauptet, das Erdloch habe brennenden Durst und gießt ihr ganzes 01 hinein.
Sie kommen dann an den Brustbeerbaum (französisch: jujubier; kabylisch: tethguarth). Die Mutter findet, daß der Busch in den Strahlen fiebre und deckt, um ihm Schatten zu geben, die mitgebrachten Kleider über.
Sie kommen endlich an den Kadaver eines toten Schakals, dessen Unterkiefer weit herabhängt. Die Mutter sieht daraus, daß der Schakal schlimmen Hunger habe, und steckt die Ölkuchen herein.
Das Elternpaar kommt zur ersten Tochter. Hier ist gerade großer Jubel, denn ein Kind ist geboren worden. Am anderen Tage überläßt die Tochter, die Wasser holen will, die Pflege für kurze Zeit der Mutter. Das Kind schreit. Die Mutter tritt an die Wiege, faßt es an und entdeckt, daß der Kopf des Kindes noch ganz weich ist. Sie hält das für eine Krankheit, schilt über die abwesende Tochter, die eine schlechte Mutter, weil sie diese Krankheit ihres Kindes noch nicht bemerkt und behandelt habe, und sticht dann mit ihrer Haarnadel zur Kur so lange in den weichen Kinderschädel, bis das arme Geschöpf stirbt. Die Tochter kommt mit dem Wasser zurück. Sie bekommt von ihrer Mutter Schelte wegen ungenügender Fürsorge. Die Mutter ist stolz auf ihre Leistung. Das Unglück im Hause ist groß. Die Mutter zieht gekränkt weiter.
Das Elternpaar kommt zur zweiten Tochter. Bei der ist großer Reichtum. Der Mann hat mehr als zwanzig Kühe im Stall stehen. Am anderen Tage geht die Tochter einmal fort und bittet die Mutter, statt ihrer zu melken. Die Mutter macht das abkürzend in der Weise, daß sie allen Kühen die Euter mit der Sichel abschneidet (melken = thuthja). Großes Klagen. Die Mutter zieht gekränkt weiter.
Das Elternpaar kommt zur dritten Tochter. Hier sind alle Speicherkrüge (akufi) bis oben mit Butter, Mehl und Honig gefüllt. Am anderen Tage muß auch diese Tochter einmal das Haus verlassen und überläßt es der Mutter, Speise zu bereiten. Die Mutter mischt nun alles, was überhaupt im Hause ist, Butter, Honig, Korn usw. durcheinander, um der Tochter so die ganze Arbeit eines Jahres abzunehmen. Als alles vermengt und vertan ist, kommt die entsetzte Tochter wieder. Großes Jammern. Die Mutter zieht tiefgekränkt über die Undankbarkeit ihrer drei Töchter mit dem Manne wieder nach Hause.
Die drei Schwiegersöhne treffen sich aber. Sie erörtern den Fall und beschließen, um in Zukunft nicht wieder so schweren Unglücksfällen anheimzufallen und im Glück ihres Daseins gestört zu werden, die gute Tabuaischeth und den Aäscha totzuschlagen. Das führen sie denn auch aus und damit ist der Familienfrieden gesichert.
43. Die Starken
In einem Orte waren zwei Freunde. Der eine hieß Said Ajirasin, der andere Hadj M'hammed. Die beiden waren sehr stark. Die Heiligen hatten ihnen ihre Stärke verliehen.
Eines Tages saßen Said und Hadj M'hammed auf dem Männerplatze und stritten miteinander, wer von ihnen stärker und tapferer sei. Said Ajisarin sagte: "Glaube mir, ich bin stärker und tapferer." Hadj M'hammed sagte: "Getraust du dich auf dem Grabe eines Heiligen die Nacht zu verbringen; auf dem Grabe des Heiligen ein Schaf zu schlachten, zu kochen und zu verzehren?" Said sagte: "Ich bin bereit, es zu tun." Hadj M'hammed sagte: "Tue es also, und du wirst sehen, daß ich noch mehr wage."
Als es Abend war, ging Hadj M'hammed voraus zu dem Grabe des Heiligen. Er machte zur Seite ein Loch und stieg hinein. Er schob die Knochen des Heiligen beiseite und hockte sich neben den Knochen hin. Als es Nacht war, kam Said mit einem Schaf zum Grabe des Heiligen. Said schlachtete das Schaf; er zog dem Schaf das Fell ab und hing es über dem Grabe auf. Dann zündete er auf dem Grabe ein Feuer an und röstete die Leber. Er wollte anfangen, die Leber zu verzehren. Hadj M'hammed streckte aber durch das Opferloch seine Hand aus dem Grabe und sagte (mit hohler Stimme): "Bitte, gib mir davon zu essen." Said sah die Hand. Said hörte die
Stimme. Said begann zu essen und sagte: "Was, du bist tot, und mußt immer noch betteln? Das ganze Leben hindurch hast du gebettelt, bis du ein Heiliger wurdest, und nun mußt du nach deinem Tode noch die Menschen anbetteln?" Hadj M'hammed sagte: "Ich bitte dich, gib mir nur ein klein wenig." Said sagte: "Ein wenig will ich dir abgeben. Dann aber sei zufrieden und bettle nicht wieder!" Said riß ein Stückchen von der Leber ab und warf sie in die Hand des Hadj M'hammed. Hadj M'hammed zog die Hand durch das Opferloch zurück. Said verzehrte den Rest der Leber.Said nahm einen Topf, setzte ihn auf das Feuer über dem Grabe, warf das übrige Fleisch hinein und streckte sich auf dem Grabe aus, bis das Fleisch gar gekocht war. Von Zeit zu Zeit erhob er sich und stach mit dem Messer in das Fleisch, um zu sehen, ob es gar sei. Als er fand, daß es gut war, nahm er den Topf vom Feuer, einiges Fleisch aus dem Topf und begann zu essen.
Als Hadj M'hammed hörte, daß Said zu essen anfing, streckte er wieder seine Hand durch das Opferloch aus dem Grabe und sagte mit hohler Stimme: "Bitte, gib mir davon zu essen." Said sagte: "Man soll den Bettlern nichts mehr zum Essen geben, denn wenn sie es soweit gebracht haben, daß sie Heilige geworden sind, können sie von der üblen Gewohnheit nicht einmal im Tode lassen. Nein, ich gebe dir nichts mehr." Hadj M'hammed sagte aber: "Ich bitte dich, gib mir nur ein klein wenig!" Said warf einen Brocken Fleisch in die Hand Hadj M'hammeds und sagte: "Hier nimm dies noch. Nun, mein Heiliger, sei aber still und fange nicht noch einmal mit der Bettelei an!" Hadj M'hammed zog die Hand durch das Opferloch zurück. Said aß sich satt.
Als Said sich sattgegessen hatte, packte er das Fleisch zusammen und sagte: "Dieses werde ich nun morgen daheim essen. Jetzt kann ich nichts mehr essen." Hadj M'hammed streckte wieder die Hand heraus und sagte: "Gib mir noch etwas! Was willst du mit all dem Fleisch zu Hause? Du kannst doch nicht mehr essen und ich bin hungrig." Said sagte: "Mein Heiliger! Du bist tot. Sei jetzt still, sonst töte ich dich noch einmal, und dann können sie dich noch einmal begraben." Said nahm die Sachen auf und wollte gehen.
Hadj M'hammed rief aus dem Grab: "Du willst gehen?" Said sagte: "Ja, ich will gehen!" Hadj M'hammed rief aus dem Grabe: "Bleib doch!" Said sagte ärgerlich: "Schweig, du Toter!" Hadj M'hammed rief aus dem Grabe: "Bleib noch!" Said wurde zornig. Said sagte: "Gut, mein Heiliger, dann will ich bleiben und dein
Grab zerstören. Du glaubst wohl, ich sei wie die Kinder und glaube alles, was sie sagen. Ich will sehen, ob ich dich nicht zur Ruhe und zum Schweigen bringe." Said begann das Grab auszureißen.Hadj M'hammed ergriff ein Messer, steckte es zum Opferloch heraus und sagte: "Mein Said Ajirasin, ich bin es. Ich bin Hadj M'hammed, dein Freund. Sieh hier, mein Messer. Es ist dir gut bekannt!" Said nahm das Messer, erkannte es und sagte: "Ich sehe, du bist es. Ich lasse dich aber nicht eher heraus, ehe du nicht schwörst, daß ich ein tapferer Mann sei." Hadj M'hammed sagte aus dem Grabe: "Ich werde das nicht schwören, ehe du mir nicht zusagst, daß ich auch ein tapferer Mann sei."
Beide schworen sich. Jeder schwor, daß der andere ein tapferer Mann sei. Sie gingen dann in das Dorf zurück. Im Dorfe waren die Leute sehr stolz auf die beiden tapferen Leute. Solange die beiden lebten, wagte kein Feind, das Dorf anzugreifen. Kein Dorf hatte zwei Freunde, von denen der eine sein Nachtmahl in, der andere über dem Grabe eines Heiligen gegessen hatte.
44. Die letzte Ziege
Ein Mann hatte sieben Ziegen. Jeden Abend kam ein Schakal, brach in den Stall ein und raubte eine Ziege. Sechs Tage nacheinander raubte der Schakal eine Ziege. Am siebenten Tage war nur noch eine Ziege übrig.
Der Mann sagte zu seiner Frau: "Ich werde den Schakal töten und die letzte Ziege für uns retten." Die Frau sagte: "Du kannst die letzte Ziege für uns retten; den Schakal wirst du nicht töten." Der Mann sagte: "Ich werde es doch tun." Die Frau sagte: "Sei kein Narr!"
Der Mann ging in den Stall, tötete die Ziege, zog ihr das Fell ab und hing das Fleisch auf. Dann nahm er das Fell, wickelte sich hinein und ging wie eine Ziege auf die Weide. Nach einiger Zeit kam der Schakal. Der Schakal sprang auf die (vermeintliche) Ziege. Der unter dem Ziegenfell verborgene Mann packte den Schakal bei den Füßen. Der Mann hielt den Schakal. Der Schakal schrie. Von allen Seiten kamen Schakale. Alle Schakale fielen über den Mann her. Der Mann konnte sich der Schakale nicht mehr erwehren. Der Mann floh. Die Schakale liefen hinter ihm her.
Die Schakale riefen: "Wenn du uns das Fleisch der Ziege, in deren
Fell du dich gewickelt hast, geben willst, schwören wir dir, dir keine Ziege mehr wegzufressen, ehe sie nicht tot ist." Der Mann sagte: "Damit bin ich einverstanden." Der Mann ging ins Haus und brachte das Fleisch der Ziege heraus. Die Schakale fraßen es.Die Frau fragte den Mann: "Hast du den Schakal getötet?" Der Mann sagte: "Nein, aber ich habe ihn überwunden und nicht nur ihn allein, sondern alle Schakale, denn sie haben mir geschworen." Die Frau lachte und sagte: "Die Schakale haben dir geschworen?"
Der Mann kaufte wieder Ziegen. Alle Ziegen wurden von den Schakalen geholt und getötet. Die Schakale töteten erst alle Ziegen, ehe sie sie fraßen. Die Schakale hielten ihren Schwur.
45. Hinübertragen
Ein Mann war auf der Wanderschaft. Er hatte bei sich einen Schakal, eine Ziege und ein Heubündel. Der Mann kam an einen Fluß. Den Fluß mußte er überschreiten. Er war so tief, daß das Wasser ihm bis an die Knie reichte. Um sie hinüberzubringen, mußte er den Schakal und die Ziege tragen. Er konnte aber immer nur zweierlei auf einmal tragen.
Der Mann bleibt stehen. Er sagte: "Ich habe dreierlei hinüberzutragen. Zweierlei kann ich aber nur immer zur Zeit tragen. Nehme ich den Schakal und die Ziege hinüber und lasse sie zurück, um das Heubündel zu holen, so frißt der Schakal derweilen die Ziege. Trage ich die Ziege und das Heubündel hinüber und kehre zurück, um den Schakal zu holen, so frißt mittlerweise die Ziege das Heu. Wie mache ich es nun?" —
Der Mann dachte ein wenig nach. Dann nahm er den Schakal unter den einen, die Ziege unter den anderen Arm. Drüben band er den Schakal an, nahm die Ziege wieder unter den Arm und kehrte zurück. Er packte hierauf auch das Heubündel und kehrte so, unter dem einen Arm die Ziege, unter dem anderen das Heubündel, zu dem Schakal zurück.
Ein anderer Mann kam des Weges. Er sah zu, wie der Mann erst den Schakal und die Ziege, dann die Ziege und das Heubündel hinübertrug. Der Mann sagte: "Warum hast du denn nicht den Schakal und das Heubündel zuerst hinübergetragen? So hast du die Ziege dreimal über den Fluß gebracht. Oder hast du je gehört, daß Schakale Heu fressen ?"
Der erste Mann sagte: "Ah!"
46. Die Zahl der Esel
Ein Mann hatte sieben Esel. Eines Tages wollte er sie verkaufen. Ehe er sich zum Markte begab, trieb er sie zusammen, zählte sie und sagte (befriedigt): "Es sind sieben Esel." Darauf sattelte er einen Esel, bestieg ihn und ritt, die anderen vor sich hertreibend, auf den Markt.
Auf dem Markte angekommen und ehe er noch abgestiegen war, sagte der Mann: "Ich werde noch einmal zählen, ob es auch wirklich noch sieben Esel sind." Von seinem Sattel aus begann er zu zählen. Er zählte die Esel, die um ihn herumstanden. Er zählte: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs." Der Mann sagte: "Ich habe mich geirrt, ich werde noch einmal zählen." Der Mann zählte wieder: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs." Der Mann erschrak und sagte: "Ich habe mich sicherlich wieder geirrt. Ich werde noch einmal zählen." Der Mann zählte wieder und immer wieder die Esel, die um ihn herumstanden. Er konnte aber immer nur sechs Esel um sich herum sehen. Der Mann sagte: "Ich muß nach Hause zurückkehren und meine Frau zählen lassen!"
Der Mann machte kehrt und ritt zurück. Er trieb die sechs Esel wieder vor sich her. Abends kam er zu Hause an und rief seine Frau: "Frau, komm!" Die Frau kam heraus. Der Mann sagte: "Frau, zähle schnell meine Esel. Ich kann nur noch sechs Esel zählen. Heute morgen zählte ich noch sieben und ich habe keinen verloren und keinen verkauft."
Die Frau lachte und sagte: "Du bist im Irrtum. Um dich herum sind sechs Esel, du sitzt auf dem siebenten Esel und auf diesem siebenten Esel sitzt der achte. Du hast also keinen verloren, sondern noch einen dazugewonnen. Nun steige ab und iß zu Abend."
FÜNFTER TEIL
LEBENSWEISHEIT
(DAS SPIEL DES DASEIN)
47. Die trauernde Laus
Der Floh (achuseth; Flur.: ichurthen -männlich) und die Laus (thilkits, Plur.: thilkfn -weiblich) trafen sich. Der Floh und die Laus heirateten. Eines Tages sagte die Frau (die Laus) zu ihrem Manne (dem Floh): "Geh auf den Markt und kaufe Fleisch ein."Der Floh ging auf den Markt und kaufte Fleisch ein. Die Laus tat das Fleisch in einen Topf mit Wasser und stellte den Topf über das Feuer. Die Laus sagte zum Floh: "Nun geh du und sammle Holz. Ich werde inzwischen hingehen und Wasser holen."Der Mann nahm das Beil und dachte bei sich (wörtlich: lach-e-thör [Wort] wul [Herz], also Wort im Herzen, d. h. bei sich denken): "Ich werde schnell hingehen und das Holz schlagen und heimbringen. Ich komme dann früher als meine Frau nach Hause und kann schon (heimlich) etwas von dem Fleisch essen." Die Frau nahm den Wasserkrug und dachte bei sich: "Ich werde das Wasser schnell schöpfen und heimbringen. Ich komme dann früher als mein Mann nach Hause und kann heimlich schon etwas von dem Fleisch essen."
Die Laus lief schnell zum Brunnen. Sie bückte sich schnell über den Rand, um zu schöpfen. In der Hast verlor sie das Gleichgewicht und fiel herein. Der Floh hackte schnell das Holz und trug es heim. Er eilte an den Kochtopf, lüpfte ein wenig den Deckel und bückte sich hinein. In der Hast verlor er das Gleichgewicht, fiel hinein, verbrühte sich und starb.
Die Laus wurde von der Welle an den Rand des Brunnens getrieben. Sie wurde auf eine trockene Stelle in einer Vertiefung gesetzt. Die Laus stieg aus dem Brunnenschacht heraus und kam nach Hause. Die Laus wartete ein wenig auf ihren Mann. Der Mann kam nicht. Die Laus sagte: "Mein Mann bleibt so lange, daß ich nun doch schon ein wenig essen werde." Die Laus öffnete den Topf. Die Laus sah, daß ihr Mann darin tot lag. Da zerschlug die Laus den Topf (eine Trauerbezeugung) und begann zu klagen und zu weinen. Die Laus ging weinend von dannen.
Die Laus ging weinend weiter und traf das Rotkehlchen (äthe; Plur.: eathoau), das saß auf einem Baum. Das Rotkehlchen sah die weinende Laus und sagte: "Was hast du, meine Base (Base = Cousine =am't'iir; Flur.: thémthin) Laus? Was weinst du so?" Die Laus weinte und sagte: "Mein Mann ist gestorben." Das Rotkehlchen begann zu weinen und klagte: "Was, du hast deinen
Mann, den Floh, verloren?!" Das Rotkehlchen weinte und schluchzte. das Rotkehlchen zitterte vor Schmerz so, daß der Baum, auf dem das Rotkehlchen saß, umfiel und das Rotkehlchen unter sich begrub.Die Laus ging weinend weiter und traf einen Mann, der zwei bepackte Esel vor sich hertrieb. Der Mann sah die weinende Laus und. fragte sie: "Was hast du, meine Base Laus? Was weinst du so?" Die Laus weinte und sagte: "Der vortrefflichste (wertvoll =ilhen; der wertvollste Mann = argeth [Mann], la'ali [wertvoll]) Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat (vor Schmerz) den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Und die Laus wandert allein." Der Mann sagte: "Also so ist es!" Der Mann lud seine beiden Esel ab; er lud sich die Lasten selbst auf die Schulter und ließ die Esel zurück. (NB. Um seine Anteilnahme am Schmerz zu zeigen und auch zu leiden.)
Der Mann ging schwer beladen weiter und traf seine Tochter, die einen großen Krug trug. Die Tochter fragte den Vater: "Weshalb trägst du die Last der Esel ?" Der Mann sagte: "Ich traf die Base Laus; sie sagte mir, daß der vortrefflichste Mann gestorben ist, das Rotkehlchen den Baum zerbrochen hat und darunter umgekommen ist. Nun will ich auch trauern." Das Mädchen sagte zu seinem Vater: "Dann muß ich auch trauern" (l'hatheu = Trauer im Sinne von Trauerbezeugung). Das Mädchen warf seinen Topf zu Boden, so daß er zerbrach. Dann ging sie mit dem Vater heim.
Der Mann kam mit seiner Tochter heim. Beide waren vor Trauer völlig stumm.
Die Laus ging weinend weiter und traf ein Rebhuhn (thethkurth). Das Rebhuhn sah die weinende Laus und fragte: "Was hast du, meine Base Laus? Was weinst du so?" Die Laus weinte und sagte: "Der vortrefflichste Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich selbst genommen. Und die Laus wandert allein." Das Rebhuhn hörte das. Das Rebhuhn begann zu weinen. Das Rebhuhn warf sich auf die Erde und wälzte sich auf der Erde, so daß es alle Federn verlor.
Das Rebhuhn ging weinend ohne Federn weiter. Das Rebhuhn begegnete dem Schakal (usch'schen). Der Schakal sah das weinende, federlose Rebhuhn und wollte sich auf es stürzen, um es zu verzehren. Das Rebhuhn sprach: "Du schämst (Scham = lahia; du schämst dich nicht = uthetzsathhaäidarar = nicht du Scham
hast) dich nicht? Der vortrefflichste Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich genommen. Und die Laus wandert allein. Da willst du nun, wo ich hierüber klage, mich verschlingen ?" Der Schakal sagte: "Wir wollen den Löwen (fsun) fragen, ob das mich etwas angeht und ob ich nicht besser daran tue, wenn ich dich töte." Das Rebhuhn war einverstanden.Der Schakal und das Rebhuhn gingen zusammen zum Löwen. Das Rebhuhn sagte zu dem Löwen: "Du bist der Agelith (Fürst) der Tiere. Untersuche diesen Fall." Der Schakal sagte: "Ich traf das Rebhuhn ohne alle Federn. Das Rebhuhn kann so nicht fliegen. Das Rebhuhn wird so eines Tages vom Felsen herabstürzen und in einem Loche nutzlos sterben." Das Rebhuhn sagte: "Ich habe, um zu trauern, meine Federn verloren. Der vortrefflichste Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich genommen. Und die Laus wandert allein."
Der Löwe sagte: "Das Rebhuhn hat recht. Seine Federn werden wieder wachsen. Du, Schakal, hast unrecht. Stürze dich zur Strafe den Abgrund hinunter! Komm mit mir an den Abgrund!" (Abgrund = irtha; Plur.: irthar; auch eine Schlucht heißt so.) Das Rebhuhn ging weinend weiter. Der Löwe nahm den Schakal mit sich. Der Schakal sprach zum Löwen: "Man spricht überall auf den Hügeln (thirelt; Flur.: thiraltin) und in den Schluchten von dir und rühmt, daß du der vortrefflichste und tapferste Mann seist." Der Löwe hörte es. Er kam mit dem Schakal an den Abgrund. Er sagte zum Schakal: "Stürze dich dort herunter!" Der Schakal ging an den Abhang und rutschte ein wenig hinab, dann kam er zurück. Der Löwe sagte: "Nicht so sollst du es machen! Stürze dich mit einem Sprunge hinab!" Der Schakal sagte: "Das kann ich so nicht. Ich bitte dich oder sonst ein großes, tapferes Tier, es mir vorzumachen."
Der Löwe ging einige Schritte zurück. Er rannte vor und sprang in den Abgrund herab. Der Löwe zerbrach alle Knochen. Der Löwe war tot. Der Schakal lachte. Der Schakal rief alle seine Brüder und Verwandten. Die Schakale fraßen den toten Löwen auf.
Die Laus ging weinend weiter. Die Laus kam an einen Fluß. Die Laus konnte nicht über den Fluß kommen. Die Laus saß am Flußufer, weinte und sprach: "Der vortrefflichste Mann ist gestorben.
Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich genommen. Der Löwe ist in den Abgrund herabgesprungen, seine Leiche fraßen die Schakale auf. Und die Laus wandert allein."Die Laus sprang in das Wasser. Die Wellen trugen die Laus ein wenig. Die Wellen begruben die Laus.
48. Hühnermoral
E in Huhn lief mit seinen Kücken umher. Das Huhn und die Kücken pickten hier und pickten da. Eines Tages rief man: "Tschiu, tschiu, tschiu!" Das Huhn und die Kücken liefen herbei und pickten die Körner auf. Man ergriff eines der Kücken. Man tötete es.
Das Huhn weinte.
Das Huhn weinte gestern, weint heute, weint und weint. Man fragt das Huhn: "Was weinst du ?" Das Huhn antwortet nicht, sondern weint. Die Leute sagen untereinander: "Das Huhn weint, weil es sein Kücken verloren hat." Andere sagen: "Wie wird ein Huhn über ein Kücken weinen!" Man fragt das Huhn wieder: "Weshalb weinst du?"
Das Huhn sagte: "Ihr ruft meinen Kücken: Tschiu! Tschiu! Tschiu! Ihr streut ihnen Körner hin. Ihr bezeigt ihnen Wohlwollen und Wohltat, um sie deshalb desto leichter ergreifen und töten zu können. Wie soll ich dann noch Vertrauen zu euch haben können? Habe ich nicht recht, über den Mißbrauch, den ihr mit unserem Vertrauen treibt, zu weinen?"
49. Die weise Eule
Si(di)Sliman war der Herr aller Vögel in der ganzen Welt. Eines Tages sagte die Frau des Si Sliman zu ihrem Manne: "Ich möchte ein neues Lager (Bett) haben. Fülle mir mein Lager (ussu; Plur.: ussen) mit den Federn aller Vögel. Du kannst es tun, denn du bist der Herr aller Vögel." Si Sliman sagte: "Das bin ich in der Tat."
Si Sliman hatte eine Feder, die brauchte er nur in seine Tabakspfeife zu stecken, dann entwickelte sich sogleich ein überaus reiner
und starker Rauch. Diesen Rauch sahen alle Vögel; sie kannten ihn; wenn er aufstieg, kamen sogleich alle Vögel bei Si Sliman zusammen. Si Sliman steckte die Feder in seine Pfeife. Der Rauch stieg auf. Alle Vögel sahen es und kamen zusammen.Si Sliman sagte zu den Vögeln: "Meine Frau wünscht ein neues Lager. Legt alle eure Federn ab, damit ich daraus das neue Lager meiner Frau herrichte." Alle Vögel legten ihre Federn ab. Alle Federn lagen beieinander. Si Sliman sah die Vögel durch. Si Sliman sah, daß alle Vögel bis auf die Eule ihre Federn hingelegt hatten. Die Eule war nicht gekommen.
Die Eule kam erst am dritten Tage. Als die Eule (tameärufth) am dritten Tage kam, fragte Si Sliman sie: "Befehle ich oder du?" Die Eule sagte: "Du befiehlst, aber verzeih und laß mich ein Wort sagen." Si Sliman sagte: "Sprich." Die Eule sagte: "Am ersten Tage bin ich nicht gekommen, weil ich damit beschäftigt war, die Tage und die Nächte zu zählen." Si Sliman sagte: "Was hast du dabei gefunden ?" Die Eule sagte: "Ich fand, daß im Jahre mehr Tage als Nächte sind, ebenso, wie es mehr Frauen als Männer gibt." Si Sliman sagte: "Wieso sind es mehr Tage als Nächte?" Die Eule sagte: "Bei Vollmond kann man in den Nächten ebensogut sehen wie am Tage. Also kann man die Vollmondnächte nur zu den Tageszeiten nehmen."
Sie Sliman sagte: "Das war die Arbeit des ersten Tages, und das erklärt dein Fortbleiben am ersten Tage. Was tatest du nun am zweiten Tage?" Die Eule sagte: "Ich rechnete aus, daß es mehr Frauen als Männer gibt." Si Sliman sagte: "Wie bist du hierzu gekommen ?" Die Eule sagte: "Wenn ein Mann mit seiner Frau streitet und sie behält das letzte Wort, so ist der Mann ein Weib. Jeder Mann, der den törichten Wünschen seiner Frau folgt, ist ein Weib. Bist du nicht z. B. den törichten Wünschen einer Frau gefolgt, als du allen Vögeln die Federn abnahmst, um daraus ein Lager dieser einzigen Frau zu bereiten?"
Si Sliman sagte: "Du hast recht." Si Sliman nahm alle Federn aus dem Lager seiner Frau. Er trug sie auf einen Haufen. Er rief wieder alle Vögel zusammen. Alle Vögel kamen. Si Sliman sagte: "Ein jeder von euch soll wieder seine Federn nehmen." Alle Vögel nahmen ihre Federn, bekleideten sich damit und flogen wieder fort.
50. Die Kluge
Ein Agelith (vornehmer Dorfherr) versammelte eines Tages alle seine Dörfler und sagte zu ihnen: "Ich verlange, daß mir einer von euch bis morgen früh für fünf Kupferstücke Schatten (thili) kauft, oder ich schlage euch allen miteinander den Kopf ab."Der Agelith war als gewalttätig bekannt. Die Leute erschraken sehr. Sie sagten: "Wie soll man ,Schatten' kaufen können!" Sie gingen auseinander.
Ein Alter kam zu seiner Tochter nach Hause und sagte: "Bereite uns noch einmal ein gutes Essen, denn morgen wird der Agelith uns allen die Köpfe abschneiden lassen." Das Mädchen sagte: "Ho! Ho! So schnell geht das nicht. Weshalb hat der gestrenge Agelith denn diesen Befehl erlassen?" Der alte Vater sagte: "Entweder es kauft ihm jemand bis morgen mittag für fünf Kupferstücke Schatten, oder uns allen wird der Kopf abgeschlagen. So hat er erklärt." Das Mädchen lachte und sagte: "Das ist doch sehr einfach. Mein guter Vater, nun geh erst einmal zu ihm und sage ihm, er solle dir die fünf Kupferstücke geben, damit du seinem Befehle gemäß den Schatten kaufen kannst. Dann werden wir das Weitere sehen." Der Vater ging hin und ließ sich vom Agelith die fünf Kupferstücke geben. Er bändigte sie seiner Tochter aus und diese ging auf den Markt und kaufte dafür einen Hut. Den Hut brachte der Vater am anderen Mittag und sagte: "Hier ist für fünf Kupferstücke Schatten." Der Agelith sagte: "Das hast du gut gemacht."
An einem anderen Tage sammelte der Agelith seine Dörfler und sagte: "Entweder einer von euch kauft mir bis morgen mittag ein Paar falscher Maulesel, die mich tragen können, oder ich schlage euch allen die Köpfe ab." Die Leute gingen wieder recht niedergeschlagen auseinander und der Alte ging zu seiner Tochter. Er erzählte ihr, was der Agelith heute verlangt hatte, und die Tochter lachte wieder und sagte ihm, er solle nur hingehen und sich die zehn Kupferstücke geben lassen, damit er dafür morgen auf dem Markte gleich das Paar falscher Maulesel, das ihn tragen könne, kaufen könne. Die Tochter ging dann auf den Markt und kaufte ein Paar hoher Holzpantoffeln (aghebghab, Plur.: ighebghaven -jene stelzigen Holzpantinen, mit denen Ost- und Nordafrikaner bei schlechtem Wetter über die schmutzigen Wege gehen, werden von den Arabern auch in den Bädern getragen). Die bändigte der Alte dem Agelith am anderen Tage ein und der erklärte sich damit zufrieden.
Der Agelith versammelte wieder einige Zeit später seine Dörfler
und sagte: "Es gibt einen Baum, der hat zwölf Zweige, jeder Zweig hat dreißig Blätter und jedes Blatt fünf Samenkörner. Bis morgen mittag könntet ihr mir sagen, was für ein Baum das ist, oder ich lasse euch allen den Kopf abschlagen." Die Dörfler hörten es. Sie verabschiedeten sich von dem Alten und riefen ihm nach: "Wir verlassen uns darauf, daß du bis morgen den Baum, den der Agelith meint, ersinnst!" Der Alte ging darauf nach Hause und sagte seiner Tochter, was der Agelith sich heute wieder ersonnen habe, um die Dörfler zu ängstigen. Die Tochter sagte: "Aber mein Vater, das kann doch jeder erraten. Der Baum ist das Jahr, die zwölf Zweige die zwölf Monate, die Blätter daran die Tage und die fünf Samenkörner die täglichen fünf Gebete." Der Alte sagte: "Du hast recht, meine Tochter." Er sagte die gleichen Worte am anderen Tage dem Agelith und der sagte: "Du hast recht, mein Alter."Nach einigen Tagen versammelte der Agelith wieder alle seine Dörfler und sagte: "Morgen ist Markttag. Wenn ich nun nicht wenigstens einen von euch auf dem Markt treffe, der weder nackt noch angekleidet ist, so lasse ich euch allen miteinander den Kopf abschlagen." Die Dörfler gingen. Sie sagten zu dem Alten: "Nun, du wirst ja wohl morgen diese Sache regeln. Wir anderen gehen lieber erst nicht auf den Markt." Dann gingen sie auseinander. Der Alte ging zu seiner Tochter und berichtete ihr sogleich, was der Agelith für den kommenden Markttag verordnet hatte. Die Tochter sagte: "Auch das ist nicht schwer! Binde ein Leder um die Lenden, so daß deine Blößen bedeckt sind, so bist du weder nackt, noch bist du angekleidet. Gehe in diesem Aufzuge auf den Markt und da alle anderen Leute sowieso wegbleiben werden, aus Furcht, in ihrem Kleide den Wünschen des Agelith nicht zu entsprechen, so wirst du den Herrn ganz allein treffen und brauchst dich vor anderen nicht zu schämen." Der Alte sah das Geschickte im Vorschlage seiner Tochter ein, schlug am anderen Tage ein Leder um die Lenden und ging so auf den Markt. Auf dem Markte traf er denn auch zunächst keinen Menschen, da alle Leute sich fürchteten, in ihrem Kleide dem Agelith zu mißfallen.
Nach einiger Zeit kam aber der Agelith. Er sah, daß nur der Alte gekommen war, und betrachtete dessen Anzug. Der Agelith sagte: "Mein Alter, du hast das, was ich verlangt habe, wiederum erfüllt. Nun warst du es immer, der meine Wünsche und Gedanken verstanden hat, trotzdem ich doch von anderer Gelegenheit weiß, daß du selbst nicht klüger bist als meine anderen Dörfler. Du mußt also
irgend jemand haben, der dir mit seinem Rate zur Seite gestanden hat. Sage mir, wer das ist." Der Alte sagte: "Der mir immer geraten hat, das ist meine Tochter." Der Agelith sagte: "So, dies ist deine Tochter; gut, so will ich deine Tochter zur Frau nehmen." Der Alte sagte: "Ich fürchte, meine Tochter wird nicht die rechte Frau für dich sein, denn meine Tochter ist nicht schön, sie ist nicht stark, sie ist mager, sie ist schmal und von kümmerlicher Gestalt." Der Agelith sagte: "Es ist mir gleich. Ich werde deine Tochter heiraten, sage es ihr."Am anderen Tage sandte der Agelith dem Mädchen Kleider (wie dies Sitte ist). Da er der Herr des Dorfes war, nahm er von jeder Art zwei Stücke, packte das Ganze zusammen, gab es seinen Negersklaven zur Überbringung und sandte sie ab. Unterwegs stahlen die Neger von allem die Hälfte; es blieben aber im Tuche, das um das Ganze geschlungen war, einige Fäden von dem entwendeten Stoff hängen, die in der Farbe von der Farbe der abgelieferten Stoffe abwichen. Das Mädchen öffnete das Bündel, verglich die Stücke, erkannte die Fäden der fehlenden Stücke, wickelte sie zu einem kleinen Knoten zusammen und sagte: "Diesen kleinen Fadenknoten gebt meinem zukünftigen Gemahl und bestellt ihm wörtlich folgendes: "Die Stoffe haben sich im Himmel um dieses vermindert." Die Sklaven lachten untereinander.
Die Sklaven kamen beim Agelith an. Der Agelith fragte sie: "Was hat euch meine zukünftige Frau für eine Bestellung gegeben?" Die Sklaven sagten: "Herr, wir fürchten, du hast eine Verrückte zur Frau gewählt. Deine zukünftige Gattin gab uns diesen Fadenknoten und sagte, wir sollten dir bestellen: ,Die Stoffe haben sich im Himmel um dieses hier vermindert'." Da verstand der Agelith sogleich, was das Mädchen damit sagen wollte. Er ließ die Kammern der Sklaven untersuchen. Man fand die entwendeten Stoffe. Der Agelith fragte die Sklaven: "Glaubt ihr nun wirklich, daß ich eine Verrückte heiraten werde?" Darauf ließ er ihnen zur Strafe für den Diebstahl den Kopf abschlagen.
Der Agelith heiratete das Mädchen. Er sagte ihr gleich am ersten Tage: "Du bist klug. Wenn ich nun einmal falsch urteile, so sage es mir nicht, so daß ich in meinem Urteil nicht unsicher werde. Sprich mit mir nur darüber, wenn ich dich frage. Ich werde dich sonst sogleich zu deinem Vater zurücksenden." — Der Agelith war mit seiner jungen Frau einige Zeit glücklich verheiratet.
Eines Tages wurde dem Agelith ein Streitfall zur Entscheidung vorgetragen.
Ein Mann, der eine Mauleselin ritt, war eines Nachts einem Manne begegnet, der eine Eselin ritt, hinter der das Eselfohlen herlief. Die beiden Männer hatten einige Zeit miteinander geplaudert und sich dann getrennt. Das Eselfohlen hatte in der Dunkelheit aber den Weg verloren und lief statt hinter seiner Mutter hinter der Mauleselin her, und der Besitzer der Mauleselin hatte das kleine Fohlen auch mit in seinen Stall genommen und als sein Eigentum eine Zeitlang gefüttert und verpflegt, so daß das Fohlen sich vollkommen an den neuen Besitzer, den Stall und die stets in ihrer Nähe befindliche Mauleselin gewöhnt hatte.Der Besitzer der Eselin hatte nun lange nach seinem Fohlen gesucht, ohne es finden zu können, bis er eines Tages hörte, daß das Tier sich im Stall des Besitzers der Mauleselin befände. Da kam er zu dem Agelith und klagte gegen den Besitzer der Mauleselin. Der seinerseits kam mit einem Geschenke zu dem Agelith und erklärte, daß das Fohlen von seiner Mauleselin stamme (eine Unmöglichkeit, da bekanntlich Mauleselinnen unfruchtbar sind). Der Agelith ließ nun die Eselin, die Mauleselin und das Fohlen bringen. Er ließ vor seinen Augen die Eselin und die Mauleselin nach je einer Seite treten und achtgeben, welchem von beiden Tieren das Fohlen folgen würde. Die beiden erwachsenen Tiere wurden nach je einer Seite weggeführt. Das Fohlen blieb einen Augenblick in der Mitte stehen und lief dann, da es sich in der Zwischenzeit an die Mauleselin gewöhnt hatte, hinter dieser und nicht hinter seiner Mutter her, die ihm unbekannt geworden war.
Der Agelith sagte: "Ihr seht alle, daß das Fohlen selbst hinter der Mauleselin herläuft, diese also als seine Mutter bevorzugt. Das Fohlen bleibt also bei der Mauleselin. Ich bestimme, daß der Besitzer der Eselin kein Recht mehr an dem Fohlen hat." Die Leute gingen auseinander. Der Besitzer der Eselin, dem das Fohlen nun genommen war, blieb an die Mauer des Hauses gelehnt stehen und weinte.
Die junge Frau des Agelith schaute zum Fenster heraus. Sie hatte dem ganzen Handel zugehört. Sie hatte gesehen, daß hier das Recht gebrochen wurde; sie hatte Mitleid mit dem Besitzer der Eselin und sprach ihn vom Fenster aus an. Sie sagte: "Ich will dir einen Rat geben. Gehe zum Agelith zurück und erzähle ihm folgende Geschichte: ,Auf einem Ufer des Flusses in meinem Tale baute ein Ackersmann Weizen an, der herrlich aufging und ein einziges Feld voll wunderbarer Ähren bis hinauf zur Hügelspitze bildete. Kurz bevor er zu ernten anfangen wollte, kamen eines Nachts alle Fische
aus dem Fluß und fraßen den ganzen Weizen ab, so daß ihm nichts zu ernten übrigblieb.' —Erzähle diese Geschichte dem Agelith. Wenn er dir dann sagt, daß dies erlogen sei, weil die Fische nicht aus dem Wasser auf das Land kommen können, so sage ihm, daß sie das ebensogut können wie die Mauleselin, die ein Fohlen wirft."Der Besitzer der Eselin ging zum Agelith zurück und erzählte ihm die Geschichte vom Weizen und den Fischen. Der Agelith sagte: "Du lügst! Die Fische können nicht ans Land kommen." Der Besitzer der Eselin sagte: "Die Fische können geradesogut ans Land kommen und den Weizen von den Feldern grasen, wie die Mauleselinnen heuer Fohlen zur Welt bringen." Als der Agelith das hörte, sagte er: "Das hast du nicht von dir. So klug bist du nicht. Sage mir auf der Stelle, von wem du die Geschichte hast." Der Besitzer der Eselin sagte: "Dies erzählte mir eine junge Frau, die hier vor dem Tore zum Fenster heraussah!" Der Agelith sagte: "Das habe ich mir gedacht."
Der Agelith ging zu seiner Frau und sagte: "Die Geschichte von den Fischen und dem Weizen war sehr schön! Ich habe dir aber vorher gesagt, daß du mir es nie sagen sollst, wenn ich einmal falsch urteile. Du hast es mir aber durch einen Verurteilten sagen lassen, also gegen meinen Befehl gehandelt. Packe also morgen früh alles, was dir im Hause lieb ist, zusammen und nimm es mit dir in das Haus deines Vaters, in dem du bleiben wirst!" Die junge Frau sagte: "Ich höre und werde diesmal genau deinem Befehle folgen."
Zum Abend bereitete die junge Frau noch einmal das Essen. Sie buk für den Agelith einen Kuchen, wie er ihn sehr gerne aß, tat aber reichlich Skran (Betäubungsmittel) hinein. Der Agelith aß den Kuchen und schlief dann fest ein. Sobald er ganz fest schlief, hob die junge Frau ihn auf und packte ihn in eine Truhe. Die Truhe verschloß sie. Am anderen Morgen ließ sie die Sklaven kommen und die schwere Truhe in das Haus ihres Vaters tragen. Als die Sklaven gegangen waren, öffnete sie die Truhe, hob den Agelith heraus und bettete ihn auf einem bequemen Lager.
Sie setzte sich dann neben das Lager und wartete darauf, daß der Agelith erwachen würde. Nachdem der Agelith eine lange Zeit geruht hatte, schlug er die Augen auf und sah erstaunt um sich. Er sah seine junge Frau neben sich und sagte: "Wo befinde ich mich denn? Ist das hier nicht das Haus deines Vaters?" Die junge Frau sagte: "Gewiß, mein Gatte. Du befindest dich jetzt im Haus meines Vaters, und das ist doch ganz selbstverständlich." Der Agelith sagte: "Wieso
ist das selbstverständlich ?" Die junge Frau sagte: "Ich habe dir gestern versprochen, genau deinem Befehle zu folgen." Der Agelith sagte: "Welcher Befehl war das?" Die junge Frau sagte: "Du hast mir gesagt: ,Packe also morgen früh alles, was dir im Hause lieb ist, zusammen und nimm es mit dir in das Haus deines Vaters, in dem du bleiben wirst!' Da du mir nun von allem, was du in deinem Hause hast, das Liebste bist, so habe ich dich zuerst eingepackt und in jener Truhe hierhertragen lassen."Der Agelith dachte eine Weile nach und sagte: "Du bist auch mir an Klugheit überlegen. Wir wollen dem Eselbesitzer sein Fohlen zurückgeben lassen und wenn ich in Zukunft einen Rechtsspruch verfehle, so sage du es mir."
51. Der Totenbock
(Akeluesch [Bock] neth lachath [Toten])
Ein Mann lebte mit einer Frau verheiratet in einem Hause. Der Mann war ein Narr. Wenn er einen Gegenstand für fünf oder sechs Geldstücke einkaufte, ging er in die Männer versammlung und sagte: "Dies hat mich ein Geldstück gekostet."Sagte dann ein anderer: "Laß es mir ab für zwei Geldstücke, denn du machst dann noch ein Geschäft", so tat er das und antwortete: "Ich finde immer wieder Gelegenheit, mir, was ich brauche, billig zu kaufen." Mit diesem Gerede vom billigen Einkaufen verbrauchte er aber nach und nach sein ganzes Vermögen, so daß er zuletzt so gut wie nichts mehr hatte. Der Mann war ein Narr.
Eines Tages sollte das Fest Laid begangen werden. Alle Leute gingen hin und kauften ihr Opferschaf. Nur der Mann, der so billig einkaufte, tat es nicht. Die Leute sahen das sehr wohl, und als er auf den Männer platz kam, sagten sie zueinander: "Der da hat sein ganzes Vermögen vertan und nun kann er nicht einmal mehr ein Schaf für das Fest kaufen." Der Mann hörte, was die anderen sagten. Er sagte: "Ich schwöre, daß ich morgen ein Schaf kaufen werde!"
Am anderen Tage ging der Mann auf den Markt. Er hatte einen halben Duro bei sich. Das war alles, was er besaß. Er ging von einem Händler zum anderen und fragte nach einem Schaf für einen halben Duro. Alle Händler sagten: "Für einen halben Duro hat kein Händler ein Schaf." Bis zum Abend ging der Mann auf dem Markt umher. Er konnte aber kein Schaf erhandeln. Der Mann ging nach Hause.
Es war Nacht geworden. Der Mann ging in der Nacht nach Hause. Auf dem Heimweg begegnete ihm der Totenbock. Der Mann ergriff den Totenbock, band ihm eine Schnur um den Hals und führte ihn heim. Er brachte den Totenbock in sein Haus und band ihn an. Am anderen Tage ging er mit dem Totenbock an der Schnur umher und sagte: "Seht, ich habe Wort gehalten! Hier ist mein Opferschaf!" Dann gab der Mann den Totenbock seiner Frau und sagte: "Nun sorge für ihn und bereite den Kuskus."
Die Frau machte sich an die Arbeit. Als sie sich zur Kuskusbereitung niedergesetzt hatte und einmal umwandte, sah sie, daß der Totenbock sich mit dem Fuß den Bart strich und den Kopf schüttelte. Die Frau erschrak und sagte bei sich: "Was, ein Bock, der sich den Bart streicht und mit dem Kopf schüttelt ?" Die Frau rief ihre Tochter und sagte: "Schnell lauf hin zum Vater und sage ihm, daß das Opferschaf sich den Bart streiche und den Kopf schüttele." Das Mädchen lief zum Männer platz und rief zum Vater hinein: "Vater, dein Opferschaf streicht sich den Bart und schüttelt mit dem Kopf." Als die anderen Männer das hörten, spotteten sie und sagten: "Du hast nicht ein Schaf, sondern einen schlimmen Geist (rohani) gekauft."
Der Mann ging nach Hause. Er trat ein. Seine Frau kam ihm entgegen und sagte: "Das Opferschaf hat sich schon wieder den Bart gestrichen!" Der Mann wurde ärgerlich und sagte: "Du bist eine Närrin! Wie kann ein Bock sich den Bart streichen! Du wirst ihm nicht zu trinken gegeben haben und nun ist er unruhig." Die Frau ließ sich aber nicht beruhigen und sagte: "Bei meinem Hals, heute abend esse ich nicht mit dir. Ich gehe mit den Kindern zu meinen Eltern. Du kannst heute allein essen." Damit packte die Frau ihre Sachen zusammen und ging mit den Kindern fort in das Haus ihrer Eltern.
Als es Nacht war, verließ die Frau mit ihren Brüdern aber wieder das Haus ihrer Eltern und kam herüber, um durch eine Ritze in der Türe zu sehen, wie es dem Manne mit dem Bock ergehe.
Der Mann legte sich abends in seinem Hause unbekümmert nieder. Nachts wachte er auf. Der Totenbock wurde zu einem riesengroßen Manne. Der riesengroße Mann kam auf den Mann zu. Der Mann erschrak. Der riesengroße Mann sagte: "Wo soll ich anfangen, dich aufzufressen ?" Der Mann sagte: "Fange mit meinem Kopf an, der meiner Frau nicht folgen wollte." Der riesengroße Mann wollte sich auf den Mann stürzen, da schossen von draußen die Brüder seiner
Frau durch die Türritze und das Fenster. Sogleich wurde der riesengroße Mann wieder zum Totenbock. Er rannte mit dem Kopf die Tür ein und lief in das Freie.Der Totenbock war von dem Schießen sehr erschrocken. Er rannte und sah nicht rechts und links. Er kam auf eine Bande von Dieben zu. Die Diebe fingen ihn und töteten ihn. Die Diebe zogen dem Totenbock die Haut ab. Sie wollten ihn nun im Walde kochen und essen. Ein Teil der Diebe ging zum Holzsammeln fort. Ein Teil der Diebe ging zum Wasserholen. Die beiden Diebe, die fortgingen, um Wasser zu holen, wandten sich beim Gehen rückwärts, um zu sehen, ob die Holzsammler auch nicht heimlich und vorzeitig anfingen, von dem Fleisch zu essen. Sie gingen rückwärts sehend weiter und sahen nicht auf die Erde. Sie kamen an den Rand des Brunnens, ohne es zu merken. Sie stürzten in den Brunnen hinein und ertranken.
Die Holzsammler gingen. Einer blieb aber ein wenig zurück, hielt ein Stück Leber über das Feuer und röstete es. Er sah, daß die Wasserholer sich umwandten. Er steckte das heiße Stück Leber schnell in den Mund und verschluckte es. Das Stück Leber war so heiß, daß der Mann sich das Innere verbrannte und sogleich starb.
Die beiden Holzsammler kamen zurück. Sie sahen, daß sie die einzigen waren, die noch lebten. Sie sagten: "Wir wollen den Bock in zwei gleiche Teile teilen und jeder seines Weges gehen." Sie teilten und gingen jeder mit seiner Hälfte ein Stück Weges gemeinsam. Unterwegs sagten sie aber: "Wir sind aus dem gleichen Dorfe. Wir haben die gleichen Freunde. Es ist ein großer Bock und wir können ihn nicht allein verzehren. Wir wollen unsere Freunde einladen und ihn gemeinsam genießen."
Die beiden Diebe luden ihre Freunde ein. Sie kamen alle in einem Hause zusammen. Sie begannen die Mahlzeit. Die Frau eines Diebes sah, wie der andere Dieb seinem Kinde ein großes Stück Fleisch gab. Die Frau schrie: "Dies Kind hat von seinem Vater mehr Fleisch bekommen als meines." Der andere Dieb rief: "Du lügst! Ich sah vorhin, wie du deinem Kinde ein noch größeres Stück Fleisch gabst." Der Mann der Frau schrie: "Schweig! Meine Frau hat recht." Ein anderer Mann schrie: "Jetzt lügst du auch; mein Freund hat recht." Die Männer ergriffen die Säbel. Sie stürzten aufeinander und kämpften miteinander. Sie kämpften so lange, bis alle tot waren und nur noch einer lebte.
Der eine, der noch lebte, betrachtete die anderen und sagte: "Die anderen sind alle tot. Wie kommt es, daß sie alle starben? Ich blieb
allein übrig. Ich will mich auch töten. Vorher will ich mich aber noch einmal gründlich satt essen." Der Mann setzte sich nieder und begann zu essen, soviel er nur konnte. Er war schon ganz satt. Er wollte aber noch ein Stück essen. Er mußte aufstoßen. Der Mann hielt ein und sagte: "Was, mein Bauch, du willst aufbegehren?" Der Mann ward über seinen Bauch zornig. Er sagte: "Mein Bauch, ich werde dich strafen." Der Mann zog sein Messer und stieß es sich in den Bauch. Der Mann fiel hin und starb.Nach einiger Zeit kam ein Händler an das Haus der toten Männer. Der Händler klopfte an das Haus und rief: "Wollt ihr Gewürze kaufen?" Es antwortete niemand. Er klopfte wieder an und rief: "Wollt ihr Gewürze kaufen?" Es antwortete niemand. Er klopfte wieder und rief: "Wollt ihr Gewürze kaufen ?" Es antwortete wieder niemand. Da öffnete er die Tür und trat in das Haus.
Der Händler sah die Männer umherliegen. Der Händler nahm eine Nadel und stach in die Leichen. Die Leichen rührten sich nicht. Der Händler sagte: "Diese Menschen sind alle tot." Der Händler sah umher. Er sah das Fleisch. Er versuchte von dem Fleisch. Das Fleisch war gut. Der Händler stellte seinen Kram beiseite und begann von dem Fleisch zu essen und aß dann so lange, bis er ganz satt war.
Als der Händler ganz satt war, sagte, er: "Jetzt bin ich gut gesättigt. Jetzt werde ich mich draußen in den Schatten eines Baumes legen und ausschlafen. Wenn ich ausgeschlafen habe, werde ich zurückkehren und noch ein Gericht zu mir nehmen." Der Händler legte sich unter einen Baum und schlief ein. Während er schlief, schwoll sein Bauch auf. Eine Fliege setzte sich auf seinen Bauch und kroch darauf herum. Der Händler wachte ein wenig auf und scheuchte mit der Hand die Fliege fort. Der Händler schlief ein wenig ein. Die Fliege kam wieder und kroch wieder auf dem Bauche herum. Der Händler wachte wieder auf und jagte die Fliege fort. Der Händler schlief wieder ein. Die Fliege kam wieder und kroch auf seinem Bauch herum. Der Händler erwachte. Er wurde zornig. Er zog sein Messer und stach nach der Fliege. Die Fliege flog fort. Der Händler traf sich mit dem Messer in den Bauch. Er starb.
Es kamen Leute vorbei, die fanden den toten Händler. Sie wollten ihn in das Haus tragen. Sie fanden die toten Leute. Sie sagten: "Wir wollen die Leichen begraben." Einige Leute sagten: "Hier steht gutes Fleisch. Wir wollen es essen." Andere Leute sagten: "Eßt dieses Fleisch nicht. Vielleicht ist es vergiftet. Denn weshalb wären sonst alle diese Menschen tot. Wir wollen das Fleisch mit begraben.
Es muß etwas an dem Fleisch sein." Darauf nahmen die Gierigen Abstand. Alle Toten wurden mit dem Fleisch begraben.Als es Nacht war, kam der Totenbock aus dem Grabe und trottete weiter.
52. Die Hammeldiebe
Ein Mann hatte zwei Söhne. Der ältere war träge und unfolgsam. Der jüngere war der klügere und tat stets, was sein Vater anordnete. Die beiden Söhne wuchsen heran und eines Tages kamen beide zu ihm und baten ihn: "Du siehst, mein Vater, daß wir nachgerade herangewachsen sind. Wir bitten dich, gib uns Frauen, daß wir heiraten können." Der Vater sagte: "Ich werde sehen, wer von euch beiden mein Vertrauen verdient. Dem werde ich auch eine Frau geben."
Eines Tages ging der Vater zum Markt und kam abends mit einem Hammel (Widder) nach Haus. Er rief seine zwei Söhne und sagte zu ihnen: "Ich habe einen Widder mitgebracht, den sollt ihr beide hüten. Wir haben sehr kluge Diebe in der Nähe wohnen, so daß es sehr schwer ist, einen Hammel eine Zeitlang zu behalten, ohne daß er gestohlen wird. Ich übergebe euch den Widder zum Hüten. Wie ihr euch in diese Arbeit teilt, ist eure Sache. Verratet nie, wo wir den Widder im Hause beherbergen. Wenn fremde Leute kommen, bindet ihn an. Nehmt, wenn ihr den Widder hütet, kein Essen und keine Gaben von fremden Leuten an; denn sie werden damit nur Schlechtes gegen euch im Sinne haben. Ihr werdet den Widder vielleicht nicht lange behalten, wenn ich selbst auch bereit bin, im Falle der Not euch zu helfen. Wie ihr aber mit dem Besitz des Widders auskommt, wie ihr ihn zu behalten wißt, durch Unvorsichtigkeit verliert oder durch Geschicklichkeit wiedergewinnt, daran werde ich erkennen, ob ihr mein Vertrauen soweit verdient, daß ich euch Frauen gebe. Nun nehmt den Widder und sucht euch eine Frau zu gewinnen." Damit gab der Vater den beiden Söhnen den Widder. Die Söhne nahmen den Widder und banden ihn im Tharkunth (dem Winkel an der Hinterwand links gegenüber der Eingangstür neben der Krugwand) an.
Am anderen Tage sagte der ältere Bruder zu dem jüngeren: "Heute magst du den Widder weiden. Ich habe keine Lust." Der Jüngere war einverstanden. Er trieb den Widder auf die Weide und blieb
immer in seiner Nähe liegen. Nach einiger Zeit kamen in der Ferne einige Diebe. Sobald der Bursche sie sah, ging er zu dem Widder und band ihn mit einer Schnur an den Arm. Die Diebe kamen auf den Burschen zu und fragten ihn: "Willst du einige Feigen essen?" Der Bursche sagte: "Nein, ich danke euch. Ich finde mein Essen zu Hause vor." Die Diebe sagten: "Du hast da einen sehr schönen Widder. Wo bindet ihr denn den nachts im Hause an, damit er euch nicht gestohlen wird?" Der Bursche sagte: "Das ist Sache meines Vaters. Ich bin noch zu jung dazu, um dies zu bestimmen." Die Diebe gingen darauf weiter. Als sie nicht mehr zu sehen waren, band der Bursche den Widder wieder von seinem Arm los, er ließ ihn weiden und abends trieb er ihn heim.Am anderen Tage war der ältere Bruder wieder zu träge, um den Widder zu hüten. Er sagte: "Weide du nur den Widder. Tust du das, so ist das für mich bequemer, und außerdem ist es dann deine Schuld, wenn er gestohlen wird." Der jüngere Bruder war einverstanden und trieb seinen Widder heraus, und es dauerte auch nicht lange, so kamen die Diebe wieder wie gestern, boten ihm Feigen an und fragten ihn, wo im Hause der Widder angebunden würde. Der Bursche band aber seinen Widder an den Arm, wies die Feigen zurück und sagte: das Unterstellen des Widders sei nicht seine, sondern des Vaters Sache. Und in gleicher Weise ging es alle Tage vor sich. Der Ältere überließ dem Jüngeren die Arbeit, der Jüngere führte sie aus, ging der List der Diebe aus dem Wege und trieb abends seinen Widder wieder nach Hause, indem er ihn dann im Tharkunth anband.
Als der ältere Bruder nun sah, daß der jüngere Bruder regelmäßig mit seinem Widder heimkam, sagte er: "Es scheint ja gar nicht so schwer, den Widder zu beaufsichtigen, und mit den Dieben ist es wohl nur eine Bangemacherei des Vaters. Also werde ich einmal mit hinausgehen und zusehen, wie mein Bruder die Schafe weidet." Demnach begleitete der ältere Bruder den jüngeren mit dem Widder hinaus, legte sich in das Gras und sah dem Bruder zu.
Nach einiger Zeit kamen wieder die Diebe. Sogleich trat der jüngere Bruder an den Widder heran und band ihn sich an dem Arm fest. Die Diebe kamen näher heran und fragten den Jüngeren: "Willst du heute einige Feigen essen ?" Der Jüngere sagte: "Nein, ich danke euch! Ich finde mein Essen zu Hause vor." Als der Ältere, der in einigem Abstand im Grase lag, das hörte, lachte er und sagte: "Du Narr, weshalb nimmst du nicht die Feigen, die die Leute so freundlich
anbieten! Glaubst du, daß dein Essen daheim Beine bekommen könnte?" Die Diebe sagten zu dem älteren Bruder: "So dürfen wir dir vielleicht einige Feigen anbieten ?" "Gebt sie nur her. Ich bin nicht so ein Verächter wie mein Bruder!" Die Diebe gaben dem älteren Bruder die Feigen, der ältere Bruder aß sie.Die Diebe ließen sich neben dem älteren Bruder im Gras nieder und sagten: "Dein Bruder weiß noch nicht mit den Leuten zu verkehren. Er ist noch jung." Der ältere Bruder sagte: "So ist es." Die Diebe sagten: "Ihr habt da einen sehr schönen Widder. Wo bindet ihr den des Nachts im Hause an, daß er euch nicht gestohlen wird?" Der ältere Bruder sagte: "Der Widder wird jeden Abend im Tharkunth angebunden. Der Vater und mein jüngerer Bruder fürchten sehr, daß er an anderer Stelle gestohlen werden könnte. Sie fürchten sich vor Dieben." Die Diebe sagten: "Dein Vater und dein jüngerer Bruder haben sehr unrecht, wenn sie den Menschen kein Zutrauen entgegenbringen." Danach standen die Diebe auf und gingen ihres Weges.
Als die Diebe gegangen waren, sagte der jüngere Bruder zu dem älteren: "Du hast vergessen, was uns unser Vater gesagt hatte. Wir sollen von anderen Leuten keine Speisen annehmen und sollten nicht sagen, wo der Widder im Hause angebunden wird." Der ältere Bruder sagte: "Du Narr, halte den Mund. Es ist deine Dummheit, wenn du nicht auch von den Feigen gegessen hast. Und eine Torheit ist es, sich nicht mit so freundlichen Leuten in der Weise, die sich schickt, zu unterhalten." Der jüngere Bruder sagte: "Ich halte diese nicht für freundliche Leute, sondern für Diebe, die es auf unseren Widder abgesehen haben. Und um zu verhüten, daß aus deiner Offenheit dem Widder und uns ein Schade erwächst, werde ich den Vorgang dem Vater erzählen müssen." Der ältere Bruder wurde zornig, sprang auf, stürzte sich auf den jüngeren Bruder und schlug ihn.
Der jüngere Bruder sagte: "Dies kann mich nicht hindern." Als es Abend wurde, nahm er seinen Widder und trieb ihn nach Hause Der Vater wollte daheim den Widder im Tharkunth anbinden. Der jüngere Sohn hielt ihn aber ab und sagte: "Laß das heute. Es waren wie jeden Tag Leute bei uns, die taten sehr freundlich. Sie boten mir Feigen an; ich wies sie zurück, aber mein älterer Bruder nahm die Feigen an, plauderte mit den Leuten, und als sie ihn nach dem Standplatz des Widders fragten, sagte er ihnen, daß er im Tharkunth angebunden würde. Da diese Leute mich das jeden Tag gefragt hatten, nehme ich an, daß es Diebe waren." Der Vater sagte: "Es ist gut,
daß du mir das sagst. Wir wollen den Widder unter diesen Umständen töten und sein Fleisch beiseitelegen. Vielleicht gelingt es uns, auf diese Weise den Widder wenigstens selbst genießen zu können." Der Vater schlachtete den Widder, zerlegte ihn, wickelte das Fleisch in die Haut und legte das Ganze in den zweiten Krug der Krugbank. Danach legten sie sich schlafen.Als es Nacht und im Hause alles still und dunkel geworden war, kamen die Diebe. Sie brachen in die Rückwand des Hauses an der Stelle des Tharkunth ein Loch und einer der Diebe schlüpfte hinein, um den Widder zu stehlen. Der Dieb tastete im Tharkunth umher. Er fand aber den Widder nicht. Der Dieb sagte sich: "Der Bursche hat mich zum Narren gehabt. Der Widder ist gar nicht im Tharkunth angebunden." Mittlerweile erwachte die Frau des Hauses. Sie hörte Geräusch und glaubte, ihr Mann sei aufgestanden. Sie sagte leise, um die Kinder nicht zu stören: "Was suchst du Mann?" Der Dieb antwortete ebenso leise: "Ich wollte nur einmal sehen, ob der Widder auch noch da ist. Ich kann ihn nicht finden!" Die Frau sagte: "Aber Mann, du bist wohl im Schlafe! Du hast ihn doch selbst heute abend geschlachtet und das Fleisch in den zweiten Krug der Krugbank gelegt." Der Dieb sagte: "Wahrhaftig, Frau, du hast recht, ich bin ganz verschlafen. Du hast recht, hier liegt ja das Fleisch im Fell."
Danach legte sich der Dieb neben die Frau, als wäre er ihr Mann. Sobald er aber hörte, daß die Frau wieder eingeschlafen war, erhob er sich leise, schlich zur Krugbank, nahm das Fleisch heraus und kroch mit ihm durch das Diebsloch an der Hinterwand des Hauses hinaus. Hier vereinigte er sich mit seinem Diebsgenossen und ging mit ihnen so den Waldweg entlang hinweg.
Kurze Zeit, nachdem die Diebe mit ihrer Beute abgezogen waren, erwachte der jüngere Bruder. Er erhob sich, schlich sich zu dem Kruge und faßte hinein, um zu sehen, ob das Fleisch noch da wäre. Der Krug war leer. Der Bursche trat sogleich an das Lager der Eltern und weckte sie. Der Bursche sagte: "Wacht auf! Der Krug, in dem gestern abend noch das Fleisch gelegen hatte, ist leer." Die Eltern erhoben sich. Die Mutter fachte das Feuer an. Der Vater leuchtete in dem Hause umher. Er fand das Diebsloch an der Hinterwand. Er sagte: "Also sind die Diebe doch eingedrungen und haben das Fleisch gefunden. Ich will aber sehen, ob ich sie noch einholen kann."
Der Vater nahm sein Messer und eine Hacke, kroch durch das
Diebsloch hinaus und lief den Waldweg entlang, auf dem die Diebe weggelaufen waren. Inzwischen waren die Diebe immer im Walde hingegangen. Der Widder war eine ziemlich schwere Last. So besprachen sie denn, daß einer der Diebe nach dem anderen das Fleisch tragen solle. Der Vater des Hauses war inzwischen herangekommen. Er mischte sich unter die Diebe. Nach einiger Zeit sagte der Dieb, der den Widder trug: "Nun wird mir die Last zu schwer. Wer ist der nächste, der mir den Widder abnimmt." Der Vater des Hauses sagte: "Komm, gib ihn, so will ich ihn tragen." Der Dieb übergab dem früheren Besitzer das Fell mit dem Fleisch des Widders. Der Vater nahm die Last auf die Schulter. Er ging noch ein Stück weit mit den Dieben mit.Nach einigen Schritten kamen die Diebe aber an eine ganz dunkle Stelle des dichten Waldes. Hier konnte man nichts sehen. Da drückte der Vater sich mit dem Widder zur Seite und eilte, als die Diebe an ihm vorbeigegangen waren, mit dem wiedergenommenen Fleisch heim.
Die Diebe gingen noch ein weiteres Stück. Sie kamen an die Stelle, an der sie abkochen und essen wollten. Sie machten ein Feuer. Die Diebe sagten: "Nun gebt das Fleisch!" Die Diebe sagten: "Wer hat denn das Fleisch?" Die Diebe sagten: "Wer hat das Fleisch zuerst getragen?" Ein Dieb sagte: "Das war ich! Ich gab es diesem weiter." Der zweite Dieb sagte: "Ich habe es zu zweit getragen und gab es diesem dritten." Der dritte Dieb sagte: "Ich habe das Fleisch als dritter getragen. Dann sagte ich: ,Nun ist mir die Last zu schwer. Wer ist der nächste, der mir den Widder abnimmt?' Darauf sagte einer von euch: ,Komm, gib ihn, so will ich ihn tragen!' Diesem gab ich den Widder. Nun sagt, wer von euch ist dieser vierte!" Die Diebe sagten: "Wer ist der vierte?"
Die Diebe zählten ab und merkten, daß keiner von ihnen dieser vierte gewesen sein konnte. Sie sagten: "Der Herr des Widders ist also hinter uns hergekommen und hat uns das Fleisch wieder abgenommen. Nun wollen wir auf jenem Abkürzungsweg wieder an sein Haus eilen und sehen, ob wir noch vor ihm ankommen." Damit rannten die Diebe, die nichts mehr zu tragen hatten, so schnell sie konnten, zu dem Hause des Mannes zurück. Sie kamen vor dem Vater der Familie an. Einer der Diebe schlüpfte nun durch das Diebsloch in das Haus und versteckte sich hinter der Haustür.
Der Vater konnte inzwischen den Weg durch den Wald nicht so schnell zurücklegen. Der Waldweg war weiter, und außerdem hatte
er den schweren Widder zu tragen. Endlich kam er aber doch an. Er schloß die Haustür auf. Im Dunkel der Nacht und der Hütte sah er hinter der Tür eine Person stehen. Er dachte, dies wäre seine Frau, gab der Person den Widder und sagte: "Hier habe ich ihn glücklich wiedergebracht. Nimm und verwahre ihn. Ich will noch einmal um das Haus gehen und das Diebsloch zumachen, sonst kommt uns die Gesellschaft heute womöglich noch einmal auf den Hals und wir werden unseren Widder zu guter Letzt doch noch los." Damit gab der Vater der Person den Widder und ging dann um das Haus außen herum zu der Stelle des Diebsloches und begann dies wieder zu schließen.Die Person war aber nicht die Mutter des Hauses, sondern einer der Diebe, und sowie der Vater um das Haus herumgegangen war, um das Loch auf der Rückseite zu verschließen, lief er auf der Vorderseite durch die offene Haustür heraus, traf sich mit seinen Diebskameraden und lief mit ihnen und dem Widder von dannen und auf den Platz im Walde zu, auf dem sie abkochen und essen wollten.
Der Hausvater stopfte inzwischen das Diebsloch sorgfältig zu und ging dann zurück. Er trat in das Haus und schloß hinter sich die Haustür. Seine Frau wachte dabei auf und sagte: "Nun bist du gut zurückgekommen?" Der Mann sagte: "Es ist gut gegangen. Ich holte sie ein und lief im Dunkeln neben ihnen her. Als sie dann im Tragen miteinander abwechselten, nahm ich, als gehöre ich zu ihnen, die Last auf mich und drückte mich bei der nächsten dunklen Stelle nach Hause. So gelang es mir, den Widder wieder zu gewinnen." Die Frau fragte: "Und wo hast du das Fleisch jetzt untergebracht ?" Der Mann sagte: "Aber Frau! Ich habe es dir doch gegeben, als ich nach Hause kam. Du standest doch hinter der Tür." Die Frau sagte: "Mir gegeben? Ich habe, seit du fortgingst, mich vor Angst nicht vom Lager zu erheben gewagt, und ganz zuletzt bin ich fest eingeschlafen." Der Mann sagte: "Dann haben also die Diebe den Widder zu guter Letzt doch noch bekommen."
Der jüngste Sohn hörte das alles mit an. Er sagte: "Ich will wenigstens mit ansehen, wie die Diebe den Widder, den ich so sorgfältig gehütet habe, verzehren." Er nahm seine Hacke und lief den Waldweg entlang, der zu dem Platz führte, an dem die Diebe abkochten.
Mittlerweile war es Tag geworden. Die Diebe brachten zwei Töpfe herbei. Sie zerlegten den Widder und teilten das Fleisch in zwei ganz gleiche Teile. Es sollten immer drei Mann gemeinsam kochen und aus einem Topf essen. Der eine Teil der Männer wollte das Holz
holen, der andere das Wasser herbeibringen. Die drei Wasserträger gingen zur Linken fort, die Holzträger gingen zur Rechten fort.Der jüngere Sohn kam inzwischen an. Als er sah, daß die Diebe nicht da waren, ging er zu dem einen Topf und nahm ein Vorderbein heraus. Dann ging er zum anderen Topf und nahm ein Hinterbein heraus. Dann versteckte er sich mit den beiden Beinen im Busch, Nun trauten die Diebe aber einander nicht. Einer der Wasserträger sagte: "Ich fürchte, daß die anderen unsere Abwesenheit benutzten, um etwas von unserem Fleisch beiseite zu bringen." Einer der Holzsammler sagte: "Ich fürchte, daß die anderen unsere Abwesenheit benutzten, um etwas von unserem Fleisch beiseitezubringen." Die Wasserträger beschlossen, schnell noch einmal zurückzukehren. Die Holzsammler beschlossen, schnell noch einmal zurückzukehren.
Die Wasserträger kamen von der einen, die Holzsammler von der anderen Seite zurück. Sie kamen gleichzeitig. Die Wasserträger riefen: "Wo kommt ihr denn schon wieder her? Habt ihr denn schon euer Holz gesammelt?" Die Holzsammler sagten: "Was wir hier wollen, ist unsere Sache! Wo habt ihr denn aber euer Wasser?" Die Wasserträger sahen in ihren Topf und riefen: "Jetzt wissen wir, weshalb ihr so schnell zurückkommt! Ihr habt uns ein Vorderbein des Widders aus dem Topf gestohlen." Die Holzsammler sahen in ihren Topf und riefen: "Lügner seid ihr! Lügner und Diebe! Ihr habt unsere Abwesenheit benutzt, uns ein Hinterbein des Widders aus dem Topf zu nehmen. Gebt es sogleich wieder heraus, oder wir töten euch!" Die Wasserträger riefen: "Was! Ihr werft uns vor, euch etwas gestohlen zu haben? Was! Ihr wollt uns töten ?" Dann zogen die Wasserträger ihre Waffen und fielen über die Holzsammler her. Die Holzsammler zogen auch ihre Waffen und griffen die Wasserträger an. Sie stritten so lange miteinander, bis alle sechs tot am Boden lagen.
Als alle Diebe tot waren, kam der jüngere Sohn aus seinem Versteck hervor, packte alles Fleisch des Widders zusammen und legte es wieder in das Fell. Dann sah er in die Taschen der Diebe und fand darin eine große Menge Gold. Mit dem Gold und dem Widder machte er sich auf den Heimweg. Dort angekommen, legte er den Widder seinem Vater hin und sagte: "Hier ist der tote Widder." Dann zeigte er dem Vater das Gold und sagte: "Und hier ist ein ganzer Sack lebendiger Widder." Der Vater war hocherfreut. Er gab seinem jüngeren Sohne, seinem Versprechen gemäß, eine junge schöne Frau.
Der ältere Bruder erhielt von seinem Vater keine Frau und blieb unverheiratet.
53. Der Gast Gottes
Ein Mann war mit einer Frau verheiratet und dieses Paar hatte jahraus, jahrein tagtäglich ein Brot und nie mehr und nie weniger. Nachdem das nun lange Zeit so gegangen war und der Mann und die Frau sich immer gerade recht und schlecht von dem täglichen Brot genährt hatten, sagte der Mann eines Tages zu seiner Frau: "Ich will zu Gott gehen. Ich will ein Gast Gottes* werden und dann zu Gott gehen und ihn fragen, warum er meinen Brüdern so viel zu essen gibt, daß sie es gar nicht alles genießen können, mir aber nur täglich ein Brot." Der Mann machte sich also auf den Weg und wurde ein Gast Gottes.
Der Gast Gottes kam auf seinem Wege eines Tages zu einem Manne, der hatte seit neunundneunzig Jahren gebetet und alle Leute sagten: "Das ist ein sehr frommer Mann und er wird sicher einen herrlichen Platz im Paradiese erhalten." Der Gast Gottes kam zu diesem Manne und bat ihn um ein Abendessen. Gott gab dem großen Beter an diesem Tage aber ein Weizenbrot und ein Gerstenbrot. Als es nun Abend war, lud der große Beter den Gast Gottes zum Mahle ein und er gab ihm das Gerstenbrot zu essen, verzehrte selbst aber das Weizenbrot, denn dieses war auch für ihn eine seltene Speise, die er sehr liebte. Gott aber erzürnte darüber, daß der große Beter sich selbst das Bessere genommen hatte.
Der Gast Gottes verließ den großen Beter am anderen Tage, bedankte sich und sagte: "Ich will weiter wandern auf meinem Wege zu Gott." Der große Beter sagte ihm: "Wenn Gott dich anhört, so frage ihn auch, welchen Platz im Paradiese er mir bestimmt hat."
Der Gast Gottes kam auf seinem Wege eines Tages zu einem Manne, der hatte neunundneunzig Menschen getötet und die Menschen sagten von ihm: "Das ist ein ganz schlechter Mensch, den Gott in die Unterwelt werfen wird." Der Gast Gottes kam zu dem großen Würger, bat ihn und sagte: "Ich bin auf dem Wege zu Gott. Ich bin ein Gast Gottes." Der große Würger sagte: "So hast du nichts zu essen?' Der Gast Gottes sagte: "Nein, ich habe heute nichts zu essen und keine Stätte, mich zum Schlafen niederzulegen." Der große Würger sagte: "Wenn es dir so schlecht geht, will ich dir wenigstens einen guten Tag bereiten, denn ich bin imstande dazu." Und der große Würger schlachtete einen feisten Hammel und hieß seine Frauen
Am anderen Tage bedankte sich der Gast Gottes und wollte gehen. Der große Würger sagte aber zu ihm: "Du bist auf dem Wege zu Gott. Sprich, wenn du zu ihm kommst, nicht von mir, denn ich werde seinerzeit in die Unterwelt geworfen werden, und wenn du vor Gott meinen Namen erwähnst, wird er nur ergrimmen und gegen dich übel gesinnt sein, weil du mit mir Verkehr übtest."
Und der Gast Gottes ging weiter und weiter und kam zuletzt zu Gott und er sprach zu Gott, und er sagte alles, was er auf dem Herzen hatte. Gott aber antwortete: "Jeden Tag, solange du denken kannst, hast du von mir ein Brot erhalten, das genügte, um dich und deine Frau zu ernähren. Da du hiermit nicht zufrieden warst, wirst du auch nie mehr erhalten, solange du auch noch leben wirst. Du hast auf deinem Wege zu mir einen großen Beter getroffen, von dem die Menschen glauben, er werde nach seinem Tode in das Paradies versetzt werden. Diesen großen Beter werde ich aber in die Unterwelt werfen. Du hast von dem großen Würger gesprochen, der dich reichlich bewirtet hat, und hast gezeigt, daß du dankbar bist. So will ich dir denn auch sagen, daß dieser große Würger, den die Menschen für sehr schlecht halten, von mir in das Paradies gesetzt werden wird. Kehre heim."
Der Gast Gottes machte sich auf den Heimweg und kam wieder zu seiner Frau, und er hatte wie früher tagtäglich ein Brot. Eines Tages ward seine Frau aber guter Hoffnung und sie schenkte ihren) Gatten einen Sohn. Nachdem der aber einige Tage alt war, saß die Frau mit dem Kinde eines Tages in der Sonne, und als sie den Fuß aufhob, lag darunter ein großer Reichtum an Gold. Sie rief ihren Mann und zeigte ihm den Reichtum. Der Gast Gottes schrie vor Freude und er rief: "So hat Gott gelogen, denn Gott sagte mir, ich würde nie mehr als ein Brot jeden Tag haben. Jetzt aber bin ich ein reicher Mann, und ich werde zu Gott gehen und ihm sagen, daß er gelogen hat."
Der Gast Gottes machte sich auf den Weg und kam zu Gott. Gott sah ihn und sprach: "Du irrst, weil du ein Mensch bist. Dieses Gold
gehört nicht dir, sondern deinem neugeborenen Sohne. Ich habe es diesem geschenkt, weil du damals der Wohltat, die der große Würger dir erwiesen hat, in Dankbarkeit gedachtest und davon sprachst, obgleich du glauben mußtest, ich würde darüber erzürnen. Nun aber hast du an mir gezweifelt und deshalb mußt du alsbald sterben. Kehre heim."Der Gast Gottes trat den Rückweg an. Als er zu seinem Gehöft kam und die Schwelle überschreiten wollte, fiel er tot zu Boden.
54. Das Grauen
Ein Mann verheiratete sich und seine Frau ward die Mutter eines Sohnes. Dieser Sohn blieb der einzige und mehr Kinder hatte der Vater nicht. Als der Junge herangewachsen, kam er zum Vater und bat ihn um ein Gewehr, weil er gern auf die Jagd gehen wolle. Der Vater schenkte es ihm und warnte ihn vor den Gefahren des Gewehres und der Jagd. Und der Sohn versprach alle Vorsicht.
Der Sohn lag der Jagd mit großem Eifer ob. Er hatte anfangs gute Erfolge und brachte alle Tage Beute mit nach Hause. Nach und nach nahm die Beute aber ab und zuletzt ward die Jagd so gut wie ergebnislos. So ging der Sohn denn eines Tages zu einem erfahrenen älteren Manne und fragte ihn, was er tun könne, um wieder einige Beute zu gewinnen. Der riet ihm, sich über und über mit Federn zu bestecken, sich auf die Futterplätze der Vögel zu begeben und dort die Vögel mit den Händen zu greifen. Der Bursche bedankte sich für den Rat. Er besteckte sich über und über mit Federn, ging dann zum Futterplatz der großen Vögel, und wirklich griff er bald einige der größten Tiere. Dieses Spiel erfreute ihn so, daß er, als es Nacht wurde, nicht heimkehrte, sondern nachts auch noch draußen blieb.
Als der Sohn abends und nachts noch nicht heimkam, sagte die Mutter zum Vater: "Höre, es macht mir Sorge, daß unser Sohn noch nicht von der Jagd nach Hause gekommen ist. Zwar hat er sein Gewehr nicht mitgenommen, so daß ihm also mit diesem nichts zugestoßen sein kann. Vielleicht ist er aber gerade dadurch in Not gekommen, daß er ohne Waffe ist." Der Vater lachte die Mutter aus und sagte: "Ihr Frauen habt immer Angst. Ich will aber, wenn es Morgen wird, hingehen und nachsehen, wo unser Bursche steckt."
Als es noch dunkel war, nahm der Vater das Gewehr, das er seinem
Sohne seinerzeit geschenkt hatte und Pulver und Eisen mit und ging hinaus in das Jagdgebiet. Als das erste Tageslicht dämmerte, sah er im Nebel, der über das Tal hinzog, große Vögel miteinander spielen. Der Vater lud und legte an, er zielte auf den größten Vogel, der in der Mitte der anderen stand. Der größte Vogel stürzte tot hin; der Vater ging hin ihn zu besichtigen; er sah, daß er seinen eigenen Sohn erschossen hatte, und der Sohn lag nun tot zwischen den Leichen der anderen großen Vögel, die er mit den Händen ergriffen und erwürgt hatte. Der Vater sah die Leiche seines Sohnes. Er sah das Gewehr in seiner eigenen Hand. Er sah, daß es das Gewehr war, das er einst selbst dem Sohne geschenkt hatte und vor dessen Gefahren er den Sohn gewarnt hatte. — Der Vater nahm die Leiche seines Sohnes auf. Er trug sie nach Hause. Er legte die Leiche seiner Frau, der Mutter seines Sohnes, hin und sagte: "Ich habe ihn selbst erschossen. Ich will sehen, ob ich das verwinde. Eher komme ich nicht wieder."Der Vater ging. Der Vater ging weit fort und floh vor seinem Schmerz. Der Vater hatte vor seinem Schmerz Furcht. Der Schmerz verfolgte aber den Vater und ließ ihn nicht frei. Der Vater rannte und rannte immer weiter über die Erde hin. Der Vater schaute nach rechts und links und vorn und hinten. Der Vater horchte nach rechts und links und vorn und hinten. Er sah und hörte aber nichts als seinen Schmerz.
So kam der Vater eines Tages zu einem alten Manne, der lebte in einem schönen Lande und hatte sein Haus mit Ranken umgeben, er hatte seinen Brunnen mit Blumen bepflanzt; er hatte auf seinem Antlitz ein freundliches Lächeln. Der Vater sagte bei sich: "Dieser muß ein Mensch sein, dem der Schmerz versagt war; mit ihm werde ich sprechen."Und er erzählte dem Alten die Geschichte seines Sohnes. Der Alte hörte dem Vater zu. Der Alte brachte dem Vater ein gutes Essen. Er legte ihm ein weiches Kissen hin und sagte: "Du glaubst, dein Schmerz sei so groß, daß du ihn nicht verwinden könntest. Du willst deinem Schmerz entfliehen und kehrst bei mir ein, weil du mich für glücklich hältst. So höre denn meine Geschichte. Höre, was mir widerfuhr, als ich noch jung war:
Wir waren zusammen sieben Brüder. Wir hatten zu sieben einem anderen Duar (Stamme) den Tod geschworen. Wir kämpften gegen den anderen Duar. Eines Nachts wollten wir sieben zusammen den anderen Duar überfallen und seine Häuser in Brand stecken. Wir kamen ganz dicht an die anderen Häuser des anderen Duar heran.
Ich schlüpfte meinen Brüdern voran in der Dunkelheit an der Mauer entlang. Ich stürzte plötzlich in eine tiefe Grube. Der Bruder, der hinter mir ging, fiel auf mich; der nächste stürzte, wir fielen alle sieben in die Grube, die die Leute des anderen Duar als Falle für uns gegraben hatten.Als der Tag dämmerte, sahen uns die Leute. Alle Leute des anderen Duar kamen heran. Sie spien nach uns, sie beschimpften uns; sie beschmutzten uns. Der eine sagte: ,Wir wollen die sieben Brüder an Stricken erhängen.' Der andere sagte: ,Nein, wir wollen sie verbrennen.' Ein dritter sagte: ,Wir wollen sie wie Bäume in die Erde pflanzen, so daß die Schakale die Früchte ernten können.' Alle Leute lachten. Die Leute waren einverstanden.
Am Abend wurden dann in einer Linie sieben Löcher in die Erde gegraben. Jedem von uns waren die Füße und die Hände zusammengebunden. Dann wurden wir alle sieben jeder in eines der Löcher herabgelassen, so tief, daß gerade der Kopf eines jeden herausragte. Rund um einen jeden wurde Erde geschüttet und um den Kopf herum festgeschlagen. Die Leute des Duar gingen abends dann an der Reihe vorüber und lachten und sagten: "Seht unsere neuen Feldfrüchte. Ho! wie die Schakale sich freuen werden!" Dann gingen die Leute im Dorfe zur Ruhe. Der Mond stieg auf. Es war ein voller Mond und ein ganz klarer. Man konnte überall alles deutlich sehen. Jeder von uns konnte die sechs Schatten der anderen sechs sehen. Jeder hörte die Schakale in der Ferne heulen. Jeder wußte, daß die Schakale kommen würden. Die Schakale kamen.
Ich sah, wie die Schakale anfingen, den Kopf des ältesten meiner Brüder anzunagen. Ich hörte meinen Bruder. Ich sah, wie die Schakale zum zweiten meiner Brüder liefen. Ich sah, wie sie zum dritten, zum vierten, zum fünften, zum sechsten meiner Brüder herankamen. Ich sah die sechs Schädel, deren Augenhöhlen leer waren. Die Schakale kamen auf mich zu; ich riß an meinen Fesseln. Ich konnte die Hände losreißen. Ich streckte mich, daß die Erde herumflog. Die Schakale flohen. Ich konnte aus der Grube steigen und konnte meine Füße befreien. Ich sah noch einmal über das Feld hin und sah die sechs Schädel meiner Brüder. Ich rannte von dannen.
Die Leute des feindlichen Duar hatten mir alle Kleider genommen. Ich lief nackt einher. Ich war weit gelaufen, da sah ich am Wege einen Mann liegen. Er schien mir zu schlafen. Ich wollte ihn wecken, um ihn zu bitten, mir ein Stück eines Kleides zu geben. Ich stieß ihn an. Er war tot. Er war durch den Kopf geschlagen. Er war mit
einem Schlag einer Hackenspitze so fest an den Boden geheftet, daß sein Kopf unbeweglich war. Ich zog ihm die Kleider aus und kleidete mich damit. Dann rannte ich weiter und kam in ein Gehöft. Als ich klopfte, machte man mir auf und ließ mich herein. Ich bekam etwas zu essen. Ich aß. Eine alte Frau kam herein. Als sie mich sah, schrie sie. Sie schrie: ,Dieser Mann muß meinen Sohn ermordet haben, denn er trägt seine Kleider. Mein Sohn ist heute abend da- und dahin gegangen. Dieser Mann da muß ihn getötet haben.' Die Leute packten mich. Ich wurde wieder gefesselt. Einige ritten fort. Sie kamen zurück. Sie sagten: ,Er hat den Sohn mit einer Spitzhacke an den Boden genagelt. Wir können den Kopf erst morgen lösen.' Dann fesselten sie meinen Fuß mit einem Schloß und einer Kette an den Fuß eines alten Mannes, der nie einschlief und mich stets beobachtete. Als die anderen sich aber niedergelegt hatten, packte ich den alten Mann plötzlich an der Gurgel und erwürgte ihn; dann brach ich seinen Fuß ab und schnitt die Sehne mit einem Messer durch, das ich aus dem Gürtel des alten Mannes zog. Mit der schweren Kette und dem Fuß des Mannes schleppte ich mich fort. Ich kam aber nicht weit. Ich kam nur bis an den Kirchhof.Als ich auf dem Kirchhof ankam, begann der Morgen zu dämmern und ich verkroch mich in ein altes Grab. Kaum hockte ich da unten, so kamen die Leute und trugen den Leichnam des alten Mannes heran, den ich nachts erdrosselt und dem ich den Fuß abgebrochen hatte. Sie begannen neben mir ein Grab auszuheben und legten die Leiche des alten Mannes da hinein. Ich sah das alles von dem Grabe aus, in dem ich hockte. Die anderen sahen mich aber nicht. Der Fuß mit der Kette und dem Schloß daran schmerzte mich sehr. Als alle wieder in das Dorf zurückgegangen waren, blieb nur noch der da, der gestern abend geraten hatte, man solle meinen Fuß an den des alten Mannes, der nie schliefe, anketten. Der schaute noch eine Weile auf das neue Grab.
Ich konnte mich nicht mehr halten in meiner Stellung. Ich sank um und die Kette rasselte. Der Mann, der an dem neuen Grabe des Alten stand, schrak auf und schrie: ,Die Toten werden wieder lebendig.' Er sank auf die Knie. Ich sagte: ,Nein, die Toten werden nicht lebendig, aber ich Lebender bin noch nicht tot.' Der andere erkannte mich und zitterte und sagte: ,Also du bist es. Du bist es. Und ich bin die Schuld deines Leidens. Denn ich habe den Sohn der alten Frau mit der Spitzhacke am Boden festgenagelt, weil er mit meiner Frau etwas vorhatte. Und ich habe auch den Tod dieses alten Mannes
zu bezahlen, denn ich schlug vor, dich an ihn zu ketten, und ich habe hier auch den Schlüssel zu seinem Schloß. Ich trage an alledem die Schuld.' Der Mann heulte vor Aufregung, und dann nahm er den Schlüssel heraus, öffnete meine Kette, löste sie und küßte meine Füße, und er weinte wieder und lief von dannen und brachte mir ein schwarzes starkes Pferd. Er sagte: ,Steige hinauf, denn du bist stark. Vergib mir, was ich dir getan.' Er kniete auf dem Grabe des alten Mannes nieder und kratzte die Erde auf und legte den Fuß, den ich dem Alten abgebrochen und abgeschnitten hatte, zu dem Körper. Ich ritt aber von dannen, so schnell ich konnte.Als es Nacht war, kam ich weit fort von da an ein Gehöft, das sah freundlich aus; es war aber das Gehöft eines großen Diebes und Mörders. Nur wußte ich es nicht. Als ich klopfte, öffnete eine junge schöne Frau und sagte: ,Ho! du schöner Fremder! Binde dein Pferd an und komme herein. Es trifft sich gut, daß mein Mann nicht da ist, da kann ich mit dir, schöner Mann, einiges plaudern.' Ich folgte. Nachdem ich mein Pferd angebunden hatte, führte sie mich in eine Kammer; auf dem Boden lag ein weicher Teppich. Ich dachte bei mir: ,Jetzt schläfst du sogleich ein', und warf mich auf den Teppich. Aber der Teppich gab nach und ich fiel in eine Grube und unten fiel ich wohl weich auf; es waren aber nichts als kalte Leichen, auf denen ich lag. Ich sagte mir: ,Hier soll ich totgestochen werden', und es war mir erst egal. Dann aber sagte ich: ,Versuche es, vielleicht kommst du mit dem Leben davon. Nachher werden sie von oben versuchen, dich zu erstechen. Krieche also unter die anderen Leichen.' Ich deckte die anderen Leichen über mich und lag ganz still.
Nach einiger Zeit klopfte es. Der Räuber kam nach Hause. Er klopfte und als seine Frau öffnete, sagte er: ,Ich habe heute nichts. Was ist das für ein Pferd da draußen?' Die Frau sagte: ,Wenn du auch nichts hast, so habe ich doch im eigenen Hause eine Maus in der Falle.' Der Räuber lachte und kam in die Kammer, in der ich unter den Leichen lag.
Der Räuber sagte: ,Quiekt denn deine Maus noch?' Er stach von oben in die Leichen, die über mir lagen, hinein. Damit er aber den wahren Sachverhalt nicht merkte, stöhnte ich erst etwas und schüttelte eine der Leichen, sodaß es aussah, als krümme sich eine lebende Person. Nachdem ich das eine Zeitlang getan hatte, stöhnte ich noch einmal lang und anhaltend und zitterte an der Leiche über mir. Der Räuber sagte: ,Eben piepst deine Maus zum letzten Male. So, nun gib das Tau und halte es; ich will heruntersteigen und sehen, ob
das Fell der Maus sich lohnt.' Nun drückte ich mich zur Seite neben die Leichen. Der Räuber kam an dem Tau, das seine Frau hielt, herab. Als er unten war, preßte ich ihm mit einem Griff die Gurgel zu und drückte sein Gesicht in den Unterleib einer alten Leiche. So erstickte er, ohne daß die Frau, die oben das Seil hielt, etwas merkte. Die Frau fragte oben: ,Lohnt sich der Fang?' Ich preßte den Kopf des Mannes zwischen die Leichen und zog das Messer heraus, mit dem ich in der letzten Nacht den Fuß des alten Mannes abgetrennt hatte. Ich stach es dem sterbenden Räuber mehrmals vom Rücken in den Leib, daß das Blut aufspritzte und warm über die kalten Leichen hinfloß, und sagte zur Frau: ,Es ist ein lustiges Geschäft wie immer. Aber sehr viel einbringen wird es nicht. Nun halte den Strick fest, ich komme herauf.' Die Frau hielt den Strick. Die Frau erkannte mich erst, als ich oben war. Sie sank gegen die Mauer. Die Frau stammelte: ,Wo ist mein Mann?' Ich sagte: ,Deinem Manne hat die Katze das Fell abgezogen, diese Maus lebt nicht mehr; sieh, auch die Katze hat noch blutige Tatzen. Aber ich will dir etwas sagen: Ich will mich waschen und dann wollen wir heiraten.' Die Frau zitterte und brachte Wasser und ich wusch mich. Aber es war mir ganz gleich, ob ich trockene oder blutige Hände hatte, ob es Tag oder Nacht war, ob ich auf einer Leiche oder auf einem Kissen saß. Es war mir alles ganz gleich. Ich sagte zur Frau: ,Packe deine Schmucksachen zusammen. Wir wollen alles mit auf das Pferd nehmen, und die Schätze deines Mannes packen wir auf einen Maulesel und reiten in mein Land.' Wir packten alles zusammen. Wir ritten noch in der gleichen Nacht fort. In der Nacht kamen wir durch einen Wald. Ich wußte nicht, ob ich, auf dem Pferd sitzend, wachend oder schlafend war. Ich weiß nur, daß nach einiger Zeit die Frau vor mir auf dem Pferd sagte: ,Und nicht wahr, du erlaubst mir, daß ich mir in deinem Lande auch eine solche Mausefalle baue.'Das weiß ich noch; aber ob ich dann schon wach war, weiß ich nicht. Ich fühlte nur, daß ich plötzlich meine Zähne in den Hals der vor mir sitzenden Frau biß. Ich biß ihr die Kehle durch und als ich dann das Blut ausspie, erwachte ich wohl erst.
Ich kam mit den Schätzen des Räubers hier an. Ich habe die Ranken über mein Haus gezogen und Blumen um meinen Brunnen gepflanzt. Ich führe ein stilles und fröhliches Leben. Du hörst doch?"
Der Erzähler (üin isaulen, erzählen = ch kiijen) stieß den Vater, der seinen eigenen Sohn erschossen und den Schmerz so lange ohne
Erfolg geflohen hatte, an. Er sagte: "Du hörst doch?" Der Vater, der seinen Sohn erschossen hatte, sank lautlos um. Er war während des Erzählens gestorben.
55. M'hemd Lascheischis Flöte
Ein Vater hatte drei Söhne; der älteste und der zweite waren fleißige Burschen, die jeden Morgen zum Acker zogen und dort bis zum Abend arbeiteten. M'hemd Lascheischi, der dritte, war aber ein fauler Mensch. Er war so faul, daß er niemals mit auf den Acker ging. Er pflegte eine lange Tabakspfeife (assumsfn; Plur.: essumsfjen) anzuzünden und daraus ei kif (und auch mit französischem Akzent hrar oder arar genannt, ist Rauchkraut von einem Baum, und ursprünglich nicht etwa Hanf!) zu rauchen. Den ganzen Tag verbrachte er mit Rauchen.
Eines Tages wurden die beiden ältesten über die Nichtstuerei ihres jüngsten Bruders so ärgerlich, daß sie zu ihrem Vater gingen und zu diesem sagten: "Entweder M'hemd Lascheischi, der jüngste unter uns dreien, arbeitet von jetzt ab täglich wie wir und mit uns oder wir, deine ältesten beiden Söhne, die immer fleißig waren, werfen den Jungen heraus." Der Vater erschrak. Die ältesten beiden Söhne gingen auf den Acker. Der Vater rief den Jüngsten und sagte ihm, was seine ältesten Söhne ihm erklärt hatten. M'hemd Lascheischi sagte: "Mein Vater, ich werde es versuchen."
Am anderen Tage ging der Jüngste mit auf den Acker und suchte nach dem Vorbilde seiner beiden Brüder zu arbeiten. M'hemd Lascheischi versuchte es. Nach einigen Stunden warf er sich in das Gras und weinte. Die Brüder sagten: "Heule nicht, arbeite!" Da sprang M'hemd auf und lief nach Hause. Er ging zu seinem Vater und sagte: "Mein Vater, ich habe es versucht, aber ich kann nicht arbeiten wie meine Brüder. Ich würde bald sterben. Ich weiß nicht, warum ich es nicht ebensogut kann wie meine Brüder, aber ich würde eben sehr bald sterben. Ich will in die Ferne gehen. Ich will hier nicht mehr ein Ärgernis sein. Lebe wohl mein Vater!" Der Vater versuchte, seinen jüngsten Sohn von seinem Vorhaben zurückzuhalten. Der Vater bat ihn, die Arbeit noch einmal zu versuchen. M'hemd sagte: "Wenn ich es auch noch einmal versuchen würde, so würde ich doch wieder ebenso unglücklich werden wie heute; ich würde es nicht wieder können und meine Brüder würden mich zuletzt
doch hinwegjagen. Deshalb gehe ich heute gleich selbst. Lebe wohl, mein Vater!" Der Vater sagte: "So nimm wenigstens einiges Geld mit." M'hemd sagte: "Ich danke dir. Ich habe aber bisher nichts verdient und will deshalb auch meinen Brüdern nichts wegnehmen." M'hemd Lascheischi ging.M'hemd Lascheischi ging seine Straße hin. Er kam am gleichen Morgen noch in eine andere Gegend (heißt Gegend eines anderen Stammes) und begegnete zwei Burschen, die dieselbe Richtung eingeschlagen hatten. Die Burschen sagten zu ihm: "Wir haben kein besonderes Ziel. Wir können also, wenn es dir recht ist, zusammen gehen." M'hemd sagte: "Ich habe gar kein Ziel; ich kann mit euch gehen, wohin ihr wollt." Sie gingen zu dreien weiter.
Als es Essenszeit war, setzten sie sich. Die beiden fremden Burschen sagten: "Wir wollen essen!" M'hemd sagte: "So eßt ihr." Er zog seine Pfeife und Rauchkraut hervor, setzte sich ein wenig abseits hin und rauchte. Die fremden Burschen sagten untereinander: "Dieser M'hemd scheint kein Essen bei sich zu haben. Wir wollen mit ihm teilen." Sie riefen ihn heran, gaben ihm und er aß mit ihnen. Dann brachen sie wieder auf.
Nach einiger Zeit kamen die drei Burschen an einen Fluß, über den ein Bootsmann die Leute in einem Kahne brachte. Die beiden fremden Burschen zogen ihre Münze aus der Tasche, setzten sich in den Kahn und wollten sich übersetzen lassen. Sie sagten zu M'hemd: "Kommst du nicht weiter mit uns?" M'hemd Lascheischi sagte: "Gewiß komme ich weiter mit, wir werden uns auf der anderen Seite des Flusses wieder treffen. Denn ich werde über den Fluß schwimmen." Die fremden Burschen sagten untereinander: "Dieser M'hemd scheint also auch kein Geld bei sich zu haben. Wir wollen mit ihm teilen." Sie hießen den Bootsmann warten, zahlten für M'hemd die Münze, M'hemd Lascheischi stieg ein und dann fuhren alle drei auf das andere Ufer hinüber.
Am anderen Ufer gingen sie noch ein gutes Stück weit. Dann sagten die beiden fremden Burschen: "Hier werden wir nun arbeiten." M'hemd Lascheischi sagte: "Dann lebt wohl; ich ziehe weiter, denn ich kann die Ackerarbeit nicht verrichten." Die beiden fremden Burschen sagten: "Wenn du die Ackerarbeit nicht verrichten kannst, so komm immerhin mit uns. Wir wollen zu zweien schon genug verdienen, und du kannst derweilen daheim kochen und das Haus in Ordnung halten." M'hemd Lascheischi sagte: "Damit bin ich einverstanden und ich will das sehr gern übernehmen. Ich
fürchte nur, ich werde dabei mehr verzehren, als ihr verdient. Immerhin will ich es erst einmal versuchen."Die beiden fremden Burschen gingen nun jeden Tag zur Arbeit und verdienten dadurch ein hübsches Stück Geld. M'hemd Lascheischi führte den Haushalt und kochte und rauchte seine Pfeife. Er verbrauchte aber allein mehr Geld, als die Hälfte von dem ausmachte, was die beiden fremden Burschen verdienten. Das merkten die beiden fremden Burschen nicht. Aber M'hemd Lascheischi sagte bei sich: "Diese beiden Burschen jagen mich nicht fort wie meine Brüder. Ich will sie deswegen nicht bestehlen, sondern will selbst etwas tun, zu ihrem Wohlstand beizutragen. Ich möchte wissen, was dabei herauskommt, wenn ich einmal etwas versuche."
Am anderen Tage ging M'hemd Lascheischi mit einer Angel an den Fluß herab und warf die Angel aus. Er warf sie aus und zog sie langsam wieder zurück. Es hatte kein Fisch angebissen. Er warf sie zum zweiten Male aus und zog sie langsam wieder zurück. Es hatte wieder kein Fisch angebissen. Er warf die Angel zum dritten Male aus und zog sie zurück. Da wurde die Schnur etwas zurückgehalten. M'hemd zog sie vorsichtig empor. Er hatte einen kleinen Fisch gefangen. M'hemd Lascheischi sagte: "Das ist kein sehr großer Fang. Aber es ist das erste, was ich in diesem Leben verdient habe." Er nahm den kleinen Fisch, hängte ihn sich über die Schulter und ging damit zum Hause der Burschen zurück.
Unterwegs begegnete ihm ein Jude. Der Jude sah den Fisch. Der Jude rief M'hemd an und sagte zu ihm: "Ich will dir den Fisch abkaufen. Was willst du dafür haben?" M'hemd sagte: "Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen so wertvollen Fisch gefangen; ich kann ihn dir deswegen nicht billig lassen." M'hemd meinte das so, daß der Fisch für ihn so wertvoll war, weil er das erste Ergebnis der ersten Arbeit seines ganzen Lebens war. An etwas anderes dachte er nicht. Der Jude sagte aber: "Daß dies ein sehr wertvoller Fisch ist, weiß ich, und ich würde einen so jämmerlich kleinen Fisch überhaupt nicht kaufen, wenn es nicht etwas ganz Besonderes mit ihm wäre. Ich biete dir deshalb fünfundzwanzig Goldstücke." M'hemd Lascheischi war ärgerlich, weil er meinte, der Jude spotte über ihn und sagte: "Du machst dich über mich lustig. Sage mir den wahren Preis." Der Jude dachte, M'hemd wisse vielleicht, was der eigenartige Fisch wirklich wert sei und sagte: "Dann will ich dir alles bieten, was ich bei mir habe." Er zog eine Tasche mit Goldstücken hervor, zählte M'hemd vor, daß es fünfzig waren, hielt sie ihm hin
und sagte: "Du siehst, ich gebe dir alles, was ich habe." M'hemd sah, daß es Ernst war. Er gab dem Juden den Fisch und steckte die fünfzig Goldstücke ein.M'hemd Lascheischi eilte nach Hause. Die fremden beiden Burschen kamen gerade auch an und fragten M'hemd: "Nun, was hast du heute gemacht?" M'hemd sagte: "Was denkt ihr, was ich gemacht habe? Gearbeitet habe ich, und ich habe das erstemal in meinem Leben etwas verdient. Und wieviel denkt ihr, daß ich verdient habe?!" Die beiden fremden Burschen konnten es nicht raten, bis M'hemd in die Tasche griff und ihnen die fünfzig Goldstücke vorzählte. Danach berichtete er, wie er zu dem Reichtum gekommen war und teilte dann die Goldstücke.
Einige Zeit lebte M'hemd Lascheischi von den fünfzig Goldstücken des Juden, und da sie sich nichts abgehen ließen, so war der Reichtum bis auf zwei Goldstücke verbraucht. Als es soweit gekommen war, ergriff M'hemd Lascheischi eines Morgens wieder seine Angel und ging an den Fluß, um zum zweiten Male zu arbeiten.
M'hemd Lascheischi warf wieder zweimal die Angel aus, ohne etwas zu fangen. Dann warf er sie zum dritten Male und zog wie am ersten Tage einen kleinen Fisch heraus. Er ging mit dem kleinen Fisch wieder der Stadt zu und begegnete abermals dem Juden. Der Jude blieb stehen, sah den kleinen Fisch M'hemds und sagte: "Ich will dir den Fisch wie das erstemal für fünfzig Goldstücke abkaufen." M'hemd sagte bei sich: "Mit meinem kleinen Fisch muß es eine besondere Bewandtnis haben, denn noch niemals hat jemand gehört, daß dieser Jude für eine Sache mehr zahlt, als sie wert ist." Er sagte: "Lieber Jude, ich danke dir für dein freundliches Angebot. Ich will aber den Fisch heute selbst behalten. Wenn ich meinen nächsten Fisch fange, können wir ja wieder miteinander verhandeln."
M'hemd Lascheischi grüßte den Juden und ging weiter. Nach einiger Zeit sagte er: "Der Fisch ist zwar sehr klein, aber er ist sehr schwer, ich will doch einmal sehen, was darin ist. Er schnitt also den Fisch auf und fand darin zwei Beutel, von denen der eine ganz mit Goldstücken, der andere mit Silberstücken gefüllt war.
M'hemd lief nach Hause. Er kam gerade mit den fremden beiden Burschen zusammen an. M'hemd sagte: "Ich habe heute zum zweiten Male gearbeitet. Was denkt ihr, was ich heute verdient habe ?" Die fremden beiden Burschen konnten es nicht sagen. M'hemd zeigte seine beiden Beutel, von denen der eine mit Goldstücken, der andere mit Silberstücken gefüllt war. Die fremden beiden Burschen sagten:
"Wie bist du heute dazu gekommen ?" M'hemd erzählte es. Die beiden Burschen sagten: "M'hemd, du lügst! Du hast das Gold beim Fürsten gestohlen." Da zeigte ihnen M'hemd, wie die Beutel im Fisch gelegen hatten. Darauf glaubten sie es.M'hemd kaufte nun eine Farm in der Nähe. Er rief seine beiden Kameraden herbei und sagte: "Ihr habt für mich seinerzeit gesorgt. Jetzt will ich für euch sorgen. Diese Farm habe ich gekauft. Nehmt nun die Farm in Arbeit. Ich lasse euch auch mein Gold zurück, damit ihr die Farm verwalten könnt. Ich selbst will noch etwas in der Welt herumziehen." Damit nahm er von seinen Freunden Abschied, ergriff seine Pfeife, steckte die Angel und noch fünfzig Goldstücke ein und zog von dannen.
M'hemd ging erst in die Stadt und kaufte skram (ein Betäubungsmittel) ein und ließ sich von einer alten Frau dies in ein Brot backen. Das Brot steckte er in die Tasche. Dann ging M'hemd mit seiner Angel an den Fluß und fischte. Beim dritten Wurfe zog er wieder einen Fisch heraus. Mit dem Fisch ging er die Straße zurück und traf den Juden. Der Jude besah den Fisch und sagte: "Den Fisch kaufe ich nicht. Komm aber mit mir zum Essen." Der Bursche sagte: "Ich denke, wir essen gleich hier. Ich will heute noch weit gehen! Gib du mir dein Brot und iß du meines." Der Jude war einverstanden. Kurze Zeit, nachdem der Jude M'hemds Brot verzehrt hatte, fiel er in Ohnmacht. Darauf untersuchte M'hemd die Taschen des Juden und fand darin eine kleine wunderschöne Flöte (sasphar; Plur.: tispharin). M'hemd sagte: "Das also war der Inhalt des ersten meiner Fische. Es muß eine besondere Flöte sein und ich will sie dem Juden wieder abkaufen." Er steckte die Flöte in seine eigene Tasche und tat in die des Juden fünfzig Goldstücke. Er ließ den Juden liegen und ging von dannen. —
Nachdem M'hemd Lascheischi mit der Flöte in der Tasche eine lange Zeit gegangen war, kam er an ein Wasser, das gehörte einem Fürsten. Der Fürst hatte einen Wächter angestellt, der hatte darauf zu achten, daß niemand aus dem Wasser tränke. M'hemd Lascheischi ging zu dem Wärter und sagte: "Rauche einige Züge aus meiner Pfeife. Der kif (Rauchkraut) ist sehr gut. Mittlerweile erlaubst du mir, daß ich mich an dem Wasser etwas erfrische, mich ausruhe und dabei auf meiner Flöte etwas blase." Der Wärter war einverstanden, ergriff die Pfeife und begann zu rauchen.
M'hemd Lascheischi setzte sich aber an den Rand des Brunnens und begann auf der Flöte zu blasen. Er hörte selbst, daß die Töne
dieser Flöte andere waren als die irgendeiner anderen Flöte. Die Vögel, die in den Bäumen gezwitschert hatten, verstummten sogleich. Die Fliegen hörten auf zu brummen und setzten sich hin. Die Fische steckten die Köpfe aus dem Wasser. Der Wärter ließ die Pfeife M'hemds ausgehen, und in der Stadt hörte es die Tochter des Fürsten.Die Tochter des Fürsten kam zu M'hemd Lascheischi und bat ihn: "Spiele mir noch etwas auf der Flöte vor." M'hemd Lascheischi sagte: "Das werde ich nicht tun." Die Tochter des Fürsten sagte: "Du hast mir mit deinem Spiel eine so große Freude bereitet, daß ich dir dafür danken will. Ich bitte dich, bei mir zu essen." M'hemd Lascheischi sagte: "Ich will gerne bei dir essen, aber auf meiner Flöte kann ich jetzt nicht noch einmal spielen."
Der Bursche ging mit zu der Tochter des Fürsten. Die Tochter des Fürsten setzte ihm viele gute Speisen vor. Der Bursche aß. Die Tochter des Fürsten mischte ein Schlafmittel in das letzte Gericht. M'hemd Lascheischi genoß es und fiel in Schlaf. Sogleich trat die Tochter des Fürsten zu ihm heran und untersuchte seine Taschen. Sie fand die Flöte und warf sie schnell zum Fenster heraus, so daß sie unten auf den Abfallhaufen zwischen das Unkraut fiel. Dann ging sie aus dem Zimmer.
M'hemd Lascheischi schlief lange Zeit und wachte dann auf. Er erinnerte sich, daß er mit der Tochter des Fürsten gegessen hatte und dann eingeschlafen war. Er griff sogleich in die Tasche, in die er die Flöte gesteckt hatte und fühlte, daß die Flöte ihm genommen war. Er erhob sich und trat aus der Kammer. Er traf einen Sklaven, den fragte er nach der Tochter des Fürsten. Der Sklave sagte: "Was hast du Bursche nach der Tochter des Fürsten zu fragen ?" Er rief andere Sklaven. Die Sklaven warfen M'hemd Lascheischi aus dem Palast.
M'hemd Lascheischi ging in die Stadt hinunter. Er fand niemand, der ihm etwas zu essen gab. Darauf ging er wieder in den Wald, schlug Holz und verkaufte es. Er wurde Holzschläger. Als er in dieser Stadt nach einiger Zeit kein Holz mehr absetzen konnte, zog er in eine andere und erwarb sich auf gleiche Weise seinen Lebensunterhalt.
Sobald M'hemd Lascheischi aus dem Hause des Fürsten herausgeworfen war, ging die Tochter hinab auf den Hof und suchte zwischen den Blättern, die auf dem Unrathaufen gewachsen waren, die Flöte auf. Sie trug die Flöte in ihre Kammer und begann sie zu blasen. Das klang so schön, daß alle Sklaven die Arbeit abbrachen,
daß die Maulesel im Stall den Kopf hoben, daß die Katzen auf den Dächern stehenblieben und daß der Vater des Mädchens, der Fürst, gelaufen kam und bat: "Schenke mir diese Flöte. Ich muß die Flöte haben." Das Mädchen sagte: "Die Flöte habe ich selbst so gern, daß ich sie nicht weggebe. Die Flöte habe ich so schwer erworben, daß ich sie behalten muß." Der Fürst sagte: "Ich muß die Flöte haben." Die Tochter sagte: "Ich will dir die Flöte nicht geben." Der Fürst stritt sich mit seiner Tochter.Am anderen Tage blies die Tochter wieder die Flöte. Der Vater wurde noch zorniger als am Tage vorher, denn die Tochter verweigerte die Übergabe der Flöte ebenso hartnäckig wie am Tage vorher. Die Tochter spielte alle Tage auf der Flöte, und der Fürst wurde jeden Tag zorniger.
Eines Tages geriet der Fürst so in Zorn, daß er einige seiner Diener zu sich rief und ihnen befahl: "Reitet mit meiner Tochter in den Wald und tötet sie. Bringt mir als Beweis, daß ihr sie umgebracht habt, ihren kleinen Finger zurück!" Die Leute ritten mit der Tochter des Fürsten in den Wald und sagten zu ihr: "Dein Vater hat uns befohlen, dich zu töten, wir müssen es tun." Sie zogen ihre Messer hervor und wollten die Tochter des Fürsten totstechen. Sie aber ergriff ihre Flöte und begann zu blasen. Da standen die Leute sogleich still und wagten es nicht, ihr Vorhaben auszuführen. Die Tochter setzte die Flöte ab und sagte: "Schneidet mir den kleinen Finger ab." Die Leute schnitten ihr den kleinen Finger ab. Die Tochter des Fürsten sagte: "Nun kehrt sogleich zu meinem Vater zurück, bringt ihm den Finger und sagt ihm, ihr hättet mich getötet. Schwört ihr mir nicht, dies sogleich tun zu wollen, so werde ich nochmals die Flöte ansetzen, euch etwas vorspielen und euch dann befehlen, euch selbst zu töten. Ihr wißt, daß ihr dies dann tun werdet." Da befiel die Leute große Angst. Sie schworen sogleich, dem Fürsten alles melden zu wollen, wie die Tochter es befehle und eilten so schnell wie möglich aus dem Walde.
Die Tochter des Fürsten fürchtete sich. Sie stieg also aus Furcht alsbald auf einen Baum und versteckte sich. Nachdem sie einige Zeit dort oben gesessen hatte, kam ein Reiter ganz dicht an dem Baum, auf dem die Tochter des Fürsten saß, vorbeigeritten. Die Tochter des Fürsten nahm die Flöte heraus und begann zu blasen. Sogleich hielt der Reiter unten an. Die Tochter des Fürsten setzte die Flöte ab. Der Reiter schaute zum Baume hinauf. Er sagte: "Was ist dort oben?" Die Tochter des Fürsten sagte: "Ein einsames Mädchen."
Der Reiter sagte: "Willst du mit mir aus dem Walde kommen ?" Das Mädchen sagte: "Ja, ich will mit dir kommen, wenn du damit einverstanden bist, daß wir die Kleider wechseln, so daß du als Mädchen gehst und ich als Mann reite." Der Reiter sagte: "Ich bin einverstanden." Die Tochter des Fürsten stieg herab. Sie legte die Kleider ab. Sie legte die Kleider des Mannes an. Sie steckte die Flöte zu sich. Sie sagte : "Nun laß mich das Pferd besteigen und dann folge du mir!" Der Mann war einverstanden. Die Tochter des Fürsten stieg in der Kleidung des Mannes auf das Pferd und ritt eine Weile langsam dahin, so daß der Mann dicht hinter ihr gehen konnte. Die Tochter der Fürsten stieß plötzlich dem Pferde die Hacken in die Weichen. Das Pferd sprang auf. Der als Frau verkleidete Mann rief: "Halt an!" Das Mädchen rief: "Ich bin nun einmal im Reiten!" Sie ritt so schnell davon, daß der Mann ihr nicht zu folgen vermochte.Am Abend kam das verkleidete Mädchen an ein einsames Haus, das im Walde stand. In dem Haus wohnte eine alte Frau, die war böse und hatte seit vielen Jahren kein anderes Wort als ein schelten- des ausgesprochen. Sie war so schlimm, daß niemand sich in die Nähe ihres Hauses wagte. Das verkleidete Mädchen hielt mit dem Pferde bei dem Hause an und zog die Flöte heraus. Das Mädchen blies. Da schwiegen im ganzen Walde die Vögel, die Quelle hörte auf zu rieseln, die Blätter hörten auf zu rauschen und die alte böse Frau legte das Ohr an die Ritze der Haustür. Das verkleidete Mädchen setzte die Flöte ab. Die alte Frau kam aus dem Hause. Die alte böse Frau lachte und sagte: "Du guter Mann, kann ich dir einen Dienst erweisen ?"Das verkleidete Mädchen sagte: "Bring mir schnell ein wenig zu essen und dann zeige mir den Weg zu der nächsten Stadt." Die böse Alte lief, so schnell sie konnte. Sie brachte das Beste, was sie zu essen hatte, heraus. Sie fragte, ob noch etwas vonnöten sei und eilte dann voraus, um dem verkleideten Mädchen den Weg aus dem Walde und zur nächsten Stadt zu zeigen. Am Rande des Waldes bedankte sich die Alte, die seit vielen Jahren immer nur gescholten hatte, bei dem verkleideten Mädchen für das Flötenspiel und bat es herzlich, einmal wiederzukommen. Die alte Frau sagte: "In der Stadt, die dort liegt, wohnt ein schlimmer Fürst, der alle seine Söhne hat töten lassen; so schlimm ist er. Hüte dich vor ihm."
Das als Mann verkleidete Mädchen ritt in die Stadt. Das Mädchen ritt bis zum Hause des Fürsten und setzte die Flöte an den Mund.
Das Mädchen blies. Sogleich schwiegen alle Menschen und Tiere. Die Mauern der Häuser neigten sich, um zu lauschen. Der Wind hörte auf zu wehen. Der Fürst aber begann zu weinen und zu schluchzen. Das verkleidete Mädchen setzte die Flöte ab. Da eilte der Fürst an das Fenster und rief über den Platz, daß alle Leute es hörten: "Dieser Mann dort soll mein Sohn und euer Fürst werden. Ich weiß jetzt, daß ich sehr schlecht war. Komm schnell herauf, du guter Mann, daß ich dich noch auf meinen Platz setzen kann, denn ich werde jetzt sogleich sterben, weil ich meine Schlechtigkeit erkannt habe."Als die Leute das hörten, wurden sie alle sehr glücklich. Viele kamen herauf und standen daneben, als der schlimme Fürst, auf seinem Lager sich streckend, den verkleideten Mann bat, ein besserer Fürst zu werden, als er selbst es gewesen sei. Die Leute waren dabei, als der alte Fürst dann starb. Die Leute waren einverstanden, daß das verkleidete Mädchen als angenommener Sohn des Verstorbenen der Fürst der Stadt wurde. Denn kein Mensch ahnte, daß das Mädchen gar nicht ein Mann, sondern ein Mädchen und die Tochter eines anderen Fürsten war.
Die Tochter des Fürsten lebte einige Jahre als Fürst, ohne daß die Bewohner der Stadt es gemerkt hätten, daß ihr Fürst kein Mann, sondern ein Mädchen war.
In der gleichen Stadt lebte aber auch M'hemd Lascheischi. Um das tägliche Brot zu verdienen, mußte er jeden Tag in den Wald gehen und Holz schlagen und Holz herbeischleppen. Und dann kam es sogar noch vor, daß die Leute das Holz, das er brachte, mit schlechter Münze bezahlten, so daß er auch noch Hunger litt. Eines Tages nun blieb ein wohlhabender Mann ihm den ganzen Betrag schuldig und ließ ihn, als er das Geld für das Holz verlangte, auch noch schlagen und herausjagen. Da sagte M'hemd Lascheischi zu sich: "Das ist so, daß ich meine Klage bei dem jungen Fürsten vorbringen werde, der ein sehr gerechter Mann sein soll." M'hemd Lascheischi ging also zu der als Mann und Fürst gekleideten Tochter des Fürsten jener anderen Stadt. Und als er vor den Fürsten trat und seine Klage vorbrachte, erkannte er nicht, vor wem er stand.
Die verkleidete Tochter des Fürsten erkannte ihn aber und sie gewahrte mit Schrecken, wie abgezehrt und schwach M'hemd Lascheischi ausschaute. Das als Fürst verkleidete Mädchen ließ sich aber alles vortragen. Es erkannte die Schuld des reichen Mannes gegenüber dem armen Holzschläger an und entschied danach. Als die
Verhandlung beendet war, ließ das als Fürst verkleidete Mädchen den Holzschläger in das eigene Haus führen, ließ ihn baden, kleiden, ließ ihm reichliches Essen vorsetzen und ein gutes Lager bereiten. Einige Tage lebte M'hemd Lascheischi sehr gut so und sagte: "Ich möchte wohl wissen, wie ich dazu komme, so ausgezeichnet gehalten zu werden." Eines Abends, nachdem die Sonne untergegangen war, ließ das als Fürst verkleidete Mädchen M'hemd Lascheischi rufen und hieß dann alle Leute herausgehen.Als beide allein waren, sagte M'hemd Lascheischi: "Sage mir, bitte, weshalb du mich, den armen Holzschläger, bisher so ausgezeichnet hast leben lassen." Das als Fürst verkleidete Mädchen sagte: "Das tat ich, weil ich dich töten lassen muß und ich dich vorher noch einmal das habe auskosten lassen wollen, was du eigentlich immer solltest genießen können." M'hemd Lascheischi sagte: "So willst du mich töten lassen ?" Das als Fürst verkleidete Mädchen sagte: "Ja, Sich will es." M'hemd Lascheischi sagte: "Mit welchem Recht und mit welcher Macht willst du mich töten lassen?" Das als Fürst verkleidete Mädchen sagte: "Sieh, ich habe es erreicht, daß mitten am Tage alle Menschen und Tiere schwiegen. Ich habe es mit dem Blasen meiner Flöte erreicht, daß die Mauern der Häuser sich neigten und, lauschten. Ich habe es erreicht, daß der Wind aufhörte zu wehen und daß der alte schlechte Fürst dieses Landes aus Gram über seine Schlechtigkeit starb und, um wenigstens noch ein Gutes zu tun, mich zu seinem Sohne ernannte und zum Fürsten einsetzte. Das ist das Recht und die Macht, mit der ich dich jetzt töten lassen werde."
M'hemd Lascheischi dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: "Ich habe das alles sagen und erzählen hören. Ich will dir das Recht und die Macht zusprechen, mich töten zu lassen, wenn es mir nicht gelingt, mit derselben Flöte, die du damals bliesest, noch mehr zu erreichen. Leihe mir also die Flöte!" Das als Fürst verkleidete Mädchen zog die Flöte heraus und gab sie M'hemd Lascheischi. Im gleichen Augenblick erkannte er die Flöte und im gleichen Augenblick erkannte er die Tochter des Fürsten.
M'hemd Lascheischi sagte das aber nicht, er trat nur an das Fenster, setzte die Flöte an den Mund und begann zu blasen. Da wachten in der ganzen Stadt und weit draußen im Lande alle Menschen und Tiere auf und ihre Herzen schlugen laut. Da neigte der Mond, der hoch am Himmel stand, sich mit der ganzen Schar der Sterne zur Erde hinab. Da erhob sich mitten aus der Nacht leuchtend, rot und
in gewaltiger Größe die Sonne empor, um zu lauschen. Da sank das als Fürst verkleidete Mädchen vor M'hemd Lascheischi nieder und küßte ihm die Füße.M'hemd Lascheischi setzte die Flöte ab. Das als Fürst verkleidete Mädchen erhob den Kopf und sagte bittend: "M'hemd Lascheischi, ich bitte dich, nimm mich zur Frau, werde du der Fürst und laß nie wieder einen anderen, auch mich nicht, die Flöte blasen!"
NACHWORT
Die kabylischen Namen und Wörter wurden in diesem und in den folgenden Bänden so abgedruckt, wie sie mir von kabylischen, schriftkundigen Lehrern buchstabiert oder aufgeschrieben wurden.
Einem Teile der Auflage ist eine Erzählung "Ainichthem" beigegeben, weil sie einen neuzeitigen, allerdings sich schnell beliebt machenden Typus zeigt, der durch eine rücksichtslose Unanständigkeit charakterisiert ist, die vielleicht auf türkischen Einfluß zurückzuführen ist. Damit fällt sie aus den Rahmen der heiteren, feineren Volksdichtung heraus und gewinnt nur als "Neuer Stil" für wissenschaftliche Kreise Interesse. Diese Ausgabe wird nur auf besonderes Verlangen geliefert.
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN seite
1. FELSZEICHNUNGEN am Djebel Bes-Seba und von Ksar Amar 8
II. KABYLENHAUS IN TIRUAL am Fuße des Djudjurda . . '7
III. HAUS BOU MAHDI mit versenktem Speicherkeller . . . 32
IV. ZUR FRÜHLINGSZEIT MASKIERTE BERBERKNABEN in El Maiz 48
V. ZUR SCHÖPFUNGSGESCHICHTE (Kabylenzeichnung) . . 161
VI. ZUR SCHÖPFUNGSGESCHICHTE. Spanier und Kabylen im Kampfe (Kabylenzeichnung) '93
VII. DARSTELLUNG EINER MOSCHEE (Kabylenzeichnung) . . 225
VIII. KABYLENZEICHNUNG zu Seite 84 (im Text) 114 Druckfehler Seite 249