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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


36. Die Stiefkinder

Ein Mann heiratete zwei Frauen. Von der ersten hatte er erst ein Mädchen und dann einen Knaben. Von der zweiten Frau erhielt er dann noch ein Mädchen. Diese zweite Frau verstand es ausgezeichnet, Burnusse zu weben. Eines Tages, als die Kinder der ersten Frau schon spielend draußen umherliefen, während ihr eigenes noch im Gehöft blieb, rief sie die Kinder der ersten Frau und sagte ihnen: "Wenn ihr eure Mutter tötet, webe ich euch schöne Burnusse."

Die Kinder der ersten Frau liefen hinaus, wo die Steine waren und fingen dort in einem Ledersack giftige Schlangen. Die Kinder kamen zur Mutter und sagten: "Mutter, sieh einmal, was wir gefangen haben! Stecke einmal die Hand in den Ledersack!" Die Mutter tat es. Sogleich wurde sie von den giftigen Schlangen gebissen und alsbald wußte sie auch, daß sie sterben würde. Sie legte sich nieder und sagte zu den Kindern: "Meine Kinder, ich werde sterben. Ich weiß sehr wohl, daß ihr es nicht waret, die mich getötet haben. Nun merkt euch aber eines und das vergeßt nie: Sorgt, es zu verhindern, daß die Kuh, die draußen auf dem Felde steht, verkauft wird. Wenn ihr nicht genug zu essen habt, laßt euch von der Kuh ernähren. Nachher kommt an mein Grab und holt euch Rat." Die Mutter starb.

Nachdem die Mutter gestorben war, kamen die beiden Kinder zu der zweiten Frau und sagten: "Nun webe uns auch die Burnusse." Die zweite Frau sagte: "Macht, daß ihr hinauskommt, ihr seid schlechte Kinder, die keine Burnusse bekommen sollen." Die zweite Frau jagte die Kinder der verstorbenen ersten Frau heraus und gab



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ihnen nicht einmal etwas zu essen; sie gab nur ihrem eigenen Kinde. Die beiden Kinder liefen hinaus und spielten dort den Tag über. Als sie nach Hause kamen, weil es sie hungerte, jagte die zweite Frau sie wieder weg. Da liefen die beiden Kinder zu der Kuh, ergriffen ihr Euter und tranken sich satt.

Auf diese Weise ging es nun alle Tage. Das kleine Mädchen der zweiten Frau bekam alle Tage das beste Essen. Die beiden älteren Kinder der verstorbenen ersten Frau wurden alle Tage herausgejagt und nährten sich mit Hilfe der Kuh. Dabei blieb aber das kleine Mädchen der zweiten Frau mager und schwächlich, während die beiden Kinder der verstorbenen ersten Frau stark und kräftig und sehr schön wurden. Das ging eine lange Zeit so, und die beiden älteren Kinder wurden immer größer, schöner und kräftiger, trotzdem sie von der zweiten Frau nur die allerschlechtesten Abfälle vorgesetzt erhielten.

Eines Tages sagte die zweite Frau zu ihrem eigenen kleinen Mädchen: "Ich weiß nicht, wie es kommt, daß du so elend und mager ausschaust, trotzdem ich dir das beste Essen vorsetze, während die beiden Kinder der verstorbenen Frau schön, stark und groß werden, trotzdem sie von mir nur die allerschlechtesten Abfälle bekommen. Geh doch einmal mit den beiden Kindern tagsüber auf das Feld, spiele mit ihnen und sieh, ob sie nicht noch irgendeine andere Nahrung haben. Wenn sie noch etwas anderes genießen, so iß ebenfalls davon, und wir wollen dann sehen, ob du nicht auch so schön, stark und kräftig wirst."

Das Kind der zweiten Frau lief also mit den älteren beiden Kindern am andern Tage auf das Feld. Den Tag über spielte es. Abends gingen die beiden Kinder der ersten Frau zu ihrer Kuh und sättigten sich. Als sie von der Kuh zurücktraten, wollte das Kind der zweiten Frau sich in der gleichen Weise sättigen. Es legte sich auch unter die Kuh. Da gab die Kuh dem Kinde aber einen Tritt, der das Kind in das Gesicht traf, und ihm das rechte Auge ausschlug. —Das kleine Mädchen lief nach Hause und erzählte heulend alles seiner Mutter.

Die zweite Frau war über das Unglück, das ihre Tochter getroffen hatte, sehr zornig. Sie lief sogleich zu ihrem Manne und sagte: "Bringe morgen die Kuh, die auf dem Felde steht, auf den Markt und verkaufe sie." Der Mann sagte: "Ich will es tun." Er brachte die Kuh am andern Tage auf den Markt und bot sie feil. Es war aber niemand da, der sie kaufen wollte. Der Mann kam abends mit der Kuh wieder zurück. Die Frau sagte: "Versuche es am nächsten



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Markttage noch einmal." Der Mann ging zum zweiten Markttage wieder hin und hielt die Kuh feil. Aber er mußte sie abermals wieder mit nach Hause nehmen, weil niemand sie kaufen wollte. Die zweite Frau sagte: "Versuche es am nächsten Markttage noch einmal."

Am dritten Markttage führte der Mann die Kuh wieder auf den Markt und hielt sie feil. Die zweite Frau verkleidete sich aber als Mann, und als sonst niemand bereit war, die Kuh dem Manne abzukaufen, kaufte sie sie ihrem Manne ab. Er erkannte sie aber nicht, da sie sich verkleidet hatte. Nachdem die Frau die Kuh erworben hatte, brachte sie sie sogleich zum Schlächter ihres Ortes und sagte: "Schlachte diese Kuh und verkaufe das Fleisch zu welchem Preise du willst." Der Schlächter schlachtete die Kuh und teilte sie auf. Sobald die Frau das mitangesehen hatte, ging sie nach Hause.

Die beiden Kinder der verstorbenen ersten Frau kamen zum Grabe ihrer Mutter und sagten: "Siehe, Mutter, die Kuh ist geschlachtet! Sie ist tot! Wovon sollen wir nun leben?" Die Mutter sprach aus dem Grabe: "Geht hin und laßt euch von dem Schlächter den Magen der geschlachteten Kuh geben. Bringt ihn her und schüttet ihn auf dem Grabe aus."Die beiden Kinder gingen hin und baten den Schlächter um den Magen der geschlachteten Kuh, die ihrer verstorbenen Mutter gehört habe. Der Schlächter gab den Magen. Die Kinder kehrten zum Grabe zurück. Sie öffneten den Magen und gossen den Inhalt aus. So entstanden zwei Löcher. In dem einen war Honig, in dem andern war Butter. Die Kinder aßen die Butter und den Honig. Von dem Tage an kamen sie alle Abende zum Grabe der Mutter und aßen sich satt, und die Stiefmutter mochte ihnen noch so schlechtes Essen geben, so wurden die beiden Kinder immer schöner, größer und stärker, während ihre eigene Tochter, trotzdem sie immer die beste Nahrung bekam, elend, mager und häßlich blieb.

Die beiden Kinder wuchsen so heran und waren schön, stark, groß und erwachsen geworden; da sagte die zweite Frau zu ihrer Tochter: "Geh hin und sieh zu, was die Kinder der verstorbenen Frau genießen, daß sie so schön und stark werden. Geh hin und genieße das gleiche, damit du ebenso wirst." Das Mädchen ging hin und tat, wie die Mutter ihm befohlen hatte. Die Tochter der zweiten Frau ging den beiden größeren Kindern der verstorbenen Frau nach. Sie sah, wie die beiden Kinder sich abends mit dem Honig und der Butter vom Grabe der Mutter nährten. Die Tochter der zweiten Frau wollte auch aus den beiden Gruben Honig und Butter nehmen.



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Da wurde der Honig zu Blut und die Butter zu Eiter. — Das Mädchen lief nach Hause und erzählte es seiner Mutter.

Die zweite Frau geriet wieder in Zorn. Sie ging am andern Morgen ganz früh hin, öffnete das Grab der verstorbenen Frau, nahm deren Gebeine heraus und verbrannte sie. Als die beiden Kinder am Abend zu dem Grabe kamen, um aus der Grube Honig und Butter zu nehmen, fanden sie das Grab zerstört. Die Mutter aber sagte zu ihren beiden Kindern: "Ich kann euch jetzt nicht mehr helfen, denn mein Grab ist zerstört und meine Knochen sind verbrannt. Ihr aber seid jetzt erwachsen und könnt selbst handeln. Verlaßt dieses Land und geht in ein anderes." Darauf weinten die beiden Kinder am Grabe der Mutter, und dann machten sich beide auf den Weg und wanderten von dannen.

Sie kamen in ein anderes Land. Als es wieder Abend war, kamen sie an einen großen Baum, dessen Krone über einer Quelle hochaufragte. Darauf stiegen das Mädchen und der Bursch auf den Baum und setzten sich in die Krone, um dort die Nacht zu verbringen. Ehe es dunkel war, kam aber noch eine alte Frau, die wollte Wasser an der Quelle schöpfen. Sie sah im Wasserspiegel das Bild des Mädchens und sie sah, daß das Mädchen schöner war, als irgendeines im ganzen Lande. Sie lief sofort zurück in die Stadt und zum Agelith und sagte zu ihm: "Agelith, in der Baumkrone über der Quelle haben sich zwei junge Menschen versteckt, ein Mädchen und ein Bursche. Das Mädchen ist so schön, wie ich überhaupt noch niemals ein ähnliches im Lande gesehen habe, komm und sieh es selbst!"

Der Agelith machte sich mit der alten Frau auf den Weg zu dem Baume. Er sah das junge Mädchen und sagte: "Wer seid ihr?"Das junge Mädchen sagte: "Wir sind Bruder und Schwester und fliehen, weil wir uns vor der zweiten Frau unseres Vaters fürchten." Der Agelith sagte: "Kommt herab! Ich schwöre dir, Mädchen, daß ich dir nichts Schlimmes antun werde." Das Mädchen sagte: "Schwöre, daß du auch meinen Bruder ansehen willst als deinen Bruder und deinen eigenen Verwandten." Der Agelith schwor. Das Mädchen stieg mit dem Bruder herab und beide folgten dem Agelith, der sie in das Dorf führte und ihnen ein gutes Unterkommen gab.

Am andern Tage kam der Agelith schon am frühen Morgen, um nach dem Befinden des Mädchens und des Burschen zu sehen. Er sah nun, wie schön das Mädchen war und fragte sie, ob sie ihn zum Gatten nehmen wollte. Sie fragte den Bruder, ob er damit einverstanden wäre. Das Mädchen nahm den Agelith zum Manne. Der



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Agelith veranstaltete ein großes Fest. Alle Leute weit und breit sprachen von dem herrlichen Feste, sprachen von der Schönheit der jungen Frau, sprachen von dem Reichtum und der Güte des Agelith. Der Agelith und seine junge Frau lebten zehn Monate in großem Glück.

Als alle Leute von dem Glück der jungen Frau sprachen, hörte das auch die zweite Frau und sie sagte zu ihrer Tochter: "Meine Tochter, die Tochter und der Sohn der ersten Frau deines Vaters haben ein sehr glückliches Schicksal erfahren. Kleide dich so schön du kannst und komme mit mir. Wir wollen zusammen hingehen und sie besuchen. Und das elende, magere Mädchen machte sich so schön, als es nur konnte, und folgte der Mutter.

Die zweite Frau kam zu der jungen Frau gerade als der Agelith verreist war. Sie begrüßte die junge Frau und sagte: "Wir haben so lange nichts von dir gehört, da habe ich mich auf den Weg gemacht, um nach dir zu sehen. Wir wollen miteinander plaudern. Komm, erzähle uns. Komm zu dem großen Brunnen. Da ist auch meine Tochter. Die ist mitgekommen und will dich gerne sehen. Komm mit an den großen Brunnen!" Die junge Frau kam mit an den großen Brunnen. Als sie am großen Brunnen stand, packte die zweite Frau des Vaters sie und warf sie hinab. Die junge Frau blieb unten im Brunnen zwischen den Steinen stecken. — —

Die zweite Frau des Vaters brachte sodann ihre eigene Tochter in die Kammer des Agelith. Sie zog der eigenen Tochter die Kleider der in den Brunnen gestürzten jungen Frau an. Sie legte ihr deren Schmuck an. Sie sagte zu ihr: "Der Agelith wird nun fragen, wo du dein rechtes Auge gelassen hast. Dann sage ihm, daß das Fasult (Antimon) des Landes schlecht sei und dir das Auge ausgebrannt habe." Dann ging die zweite Frau des Vaters heim.

Der Agelith kam von seiner Reise zurück. Er sah das verkleidete Mädchen und fragte: "Wie ich dich heiratete, hattest du zwei Augen. Wo ist dein zweites Auge geblieben ?" Das verkleidete Mädchen sagte: "Das Auge habe ich verloren, weil das Fasult deines Landes schlecht ist." Der Agelith sagte: "Als ich dich heiratete, hattest du weiße Haut. Jetzt hast du graue Haut." Das verkleidete Mädchen sagte: "Daran ist das schlechte Wasser deines Landes Schuld." Der Agelith sagte: "Als ich dich heiratete, hattest du langes, schwarzes Haar, jetzt hast du kurzes, krauses Haar." Das verkleidete Mädchen sagte: "Daran sind die schlechten Kämme deines Landes Schuld." Der Agelith sagte nichts weiter. Der Agelith sah aber, daß der Bruder jeden Abend zum Brunnen ging. — — —



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Auch das verkleidete Mädchen sah, daß der Bruder der jungen Frau jeden Abend zum Brunnen ging, und das Mädchen hörte, daß er mit seiner Schwester sprach. Da merkte das Mädchen, daß die junge Frau dort unten nicht gestorben war, und sie begann den Burschen zu fürchten. Deshalb sagte das verkleidete Mädchen eines Tages zu dem Agelith: "Mein Gatte, ich bitte dich! Töte meinen Bruder!" Der Agelith sagte: "Was sagst du? Du sagst, ich solle deinen Bruder töten? Du hast mich doch am ersten Tage schwören lassen, daß ich deinem Bruder nichts tun und ihn als Bruder und Verwandten ansehen solle." Das verkleidete Mädchen sagte: "Es ist gleich, was ich damals bat. Ich bitte dich heute, ihn zu töten." Der Agelith sagte: "Ich schwöre dir, daß es mir, wenn es sich um meine junge Frau handelt, nicht darauf ankommt, einen Menschen zu töten. Es soll geschehen." Der Agelith ging zu dem Burschen und sagte zu ihm: "Man verlangt von mir, daß ich dich töte." Dann wandte sich der Agelith um und ging beiseite.

Als es Abend war und der Bursche zu dem großen Brunnen hinausging, folgte er ihm und als er sah, daß der Bursche am Brunnen sprach, versteckte er sich und hörte zu. Der Bursche aber sagte, als er angekommen war, in den Brunnen hinab: "Meine Schwester, ich soll getötet werden!" Die Schwester antwortete von unten: "Mein Bruder, ich kann dir nicht helfen. Ich bin inzwischen Mutter zweier Knaben geworden. Ch'sen sitzt auf meinem rechten Knie und L'hussin sitzt auf meinem linken Knie. Ich darf mich aber nicht rühren, denn zu meiner Rechten ist Fanafsa (ein Luasch, ein Ungeheuer, das in Brunnen haust) und wartet darauf, Ch'sen zu verschlingen, und zu meiner Linken ist Lafa (das siebenköpfige Drachenungeheuer aus der Drachenlegende!) und will L'hussin verschlingen. Deshalb darf ich mich nicht rühren und kann ich dir nicht helfen." Als der Agelith das hörte, trat er aus dem Versteck an den Burschen heran und sagte: "Frage deine Schwester, wie wir ihr helfen könnten, so daß sie mit ihren Kindern wieder zu uns emporsteigen kann." Der Bursche sagte: "Meine Schwester! Sage mir doch, wie dir geholfen werden kann." Die junge Frau sagte: "Wenn ihr ein Kalb in zwei Hälften schlagt und eine Hälfte mir zur Rechten für Fanafsa, eine mir zur Linken für Lafa hinwerft, so werden beide Luasch für einen Augenblick abgelenkt sein, und wenn ihr mir dann ein Seil zuwerft, werde ich mit den Kindern heraufsteigen können." Der Agelith sagte zum Burschen: "Komm, wir wollen es sogleich tun."



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Der Agelith ließ das Kalb in zwei Hälften schlagen. Er warf eine zur Rechten, eine zur Linken hinab. Er ließ einen Strick hinab. Er zog seine junge Frau und ihre Kinder empor. Er brachte sie heim. Der Agelith sagte zu dem verkleideten Mädchen: "Ich sagte dir schon, daß es mir nicht darauf ankommt, meiner jungen Frau zuliebe einen Menschen zu töten." Dann ließ er das verkleidete Mädchen töten. Er ließ den Leib in kleine Stücke hacken und daraus eine Speise bereiten. Diese Speise schickte er der zweiten Frau des Vaters zu als Tarthift ihrer Tochter. (tarthift ist das Geschenk, das die Mutter der jung verheirateten Frau einen Monat vor der Verehelichung erhält.) — Die zweite Frau nahm die Speise und aß sie. Als Sie sie ganz verzehrt hatte, fand sie unten auf dem Boden der Schüssel ein geschlossenes und ein offenes Auge. Da wußte sie, daß sie ihre eigene Tochter gegessen hatte, und sie weinte.


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