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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


+. Sage vom Pilatus, Pilatusberg und la* .


Bridel, Conservateur suisse. r. l. p. 155.

Zu Rom lebte einstmals ein vornehmer und mächtiger Mann, Namens Pontius Pilatus, welchen aber, tross seiner Macht und seines Ansehens, die Strafe des irdischen Richters die vielen Verbrechen ereilte, welche er begangen hatte. Er wurde zum Tode verurtheilt *). Stolz aber, wie er war, kam er der Vollziehung dieses Urtheils dadurch zuvor, daß er sich selbst tödtete. Als Selbstmörder wurde er nun, wie es damals Gebrauch war, in die Tiber den Fischen zum Fraß

Forchheimii natus est Pontius ille Pilatus Teutonicae gentis crucefixor omnipotentis."



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vorgeworfen. Kaum aber war dies geschehen, so war es als ob sich die Pforten der Hölle öffneten. Es begann ein Unwetter zu wüthen, welches kein Ende nehmen wollte. Da merkte man, daß dieser Aufruhr der Elemente von nichts Anderem herrührte, als von dem ungeschickterweise in die Tiber geworfenen Leichnam des Pilatus, dessen Verbrechen selbst dieser Fluß dermaßen verabscheute, daß er ihn nicht in seinen Fluthen behalten wollte. Mit vieler Mühe wurde er also wieder aufgesucht, und siehe l als man ihn gefunden hatte, legte sich das Unwetter. Da aber der Leichnam doch irgendwo untergebracht werden mußte, so wurde er nach Vienne *) im Delphinat geschafft und dort in die Rhone geworfen, welche ihm jedoch den gleichen Empfang bereitete. Unter Donner und Blitz zog ein Unwetter heran, bis die Bewohner jenes Landes den ungebetenen Gast wieder aus dem Wasser zogen und ihn, um ihn wieder los zu werden, nach Lausanne schafften. Da aber auch hier, wie in Italien und Gallien, Pilatus Ursache von Sturm und Wetter war, beschlossen endlich die Lausanner, nach reiflicher Ueberlegung, ihn in einen kleinen See zu werfen, welcher ohngefähr vierzig Stunden von ihrer Stadt auf den Alpen lag. In dieser Wohnung blieb er endlich, aber nicht ohne dieselbe von Zeit zu Zeit zu verlassen und als Gespenst die Alpen zu durchstreifen. Bald sah man ihn in dem Morast seines See's herumwaten, bald auf einem Felsen sitzen, hald im heftigen Streit mit noch einem anderen Gespenst, dem Könige Herodes , bald wie er in flüchtigem Lauf die Berge durchstreifte — immer aber war er der gleiche böse Geist, welcher die Umgegend mit Sturm und Wetter überzog, die Hirten auf den Weiden erschreckte, ihre Heerden zersprengte und das beste Vieh von den Felsenklippen in den Abgrund hinab stürzte.



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Als Pilatus aber anfing sein Wesen immer ärger und ärger zu Seihen und man seinen Leichnam doch in dem See behalten mußte, da kein anderes Land ihn mehr angenommen hätte, so wollten die Bewohner jener Gegend doch wenigstens versuchen, ob er nicht zur Ruhe zu bringen sei. Da traf es sich, daß eben ein fahrender Schüler, welcher Salamanka studirt hatte und zu den Rosenkreuzern gehörte, in die Schweiz gekommen war. Diesem versprach man eine große Summe Geldes, wenn er das Land von den Neckereien jenes bösen Geistes befreien und ihn auf ewig zur Ruhe bringen würde. Der Rosenkreuzer ging auf das Anerbieten ein und versprach sein Möglichstes thun. Er begab sich auch sofort auf die Verfolgung des Geistes, den er auch bald auf einer hohen Felsenspitze antraf, Er begann seine Beschwörungen. Wahrscheinlich daß diese nicht stark genug waren genug Pilatus wich nicht von dannen, Da sah der Rosenkreuzer sich gezwungen, Vorbereitungen ;u stärkeren Beschwörungs-Formeln zu treffen. Zu diesem Zwecke begab er sich auf einen Hügel, welcher der Felsenspitze, auf der Pilatus saß, gegenüber lag. Hier erst begann der eigentliche Kampf, der so heftig wurde, daß von den Fußstößen des Beschwörers noch heutigen Tages ein Theil jenes Hügels ohne Rasen geblieben ist. Endlich wurden die Formeln so stark, daß Pilatus nicht mehr widerstehen konnte, und dem Beschwörer so weit nachgab , daß er sich zu dem Versprechen herbeiließ, sich fernerhin in dem See ruhig zu verhalten, wenn man ihm einen in eine schwarze Stute verwandelten Geist geben würde, um auf eine einem römischen Ritter würdige Art in seine Wohnung ; zurückkehren zu können, und ferner müsse es ihm erlaubt sein, des Jahrs einmal auf die Oberwelt empor zu steigen. Diese Bedingungen wurden ihm bewilligt. Als nun aber auf Befehl des Rosenkreuzers wirklich eine schwarze Stute vor dem Pilatus erschien, sprengte er das Thier, nachdem er sich auf dasselbe



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hinaufgeschwungen, im Zorn über seine Niederlage zu solch heftigen Sprüngen an, daß man noch heute den Eindruck seiner Hinterfüße auf einem der Felsen sehen kann, welche um den See herum liegen, der seit dieser Zeit den Namen der "Pilatussee" trägt.

Pilatus aber hat seinen Pakt seither treulich gehalten, nur am Charfreitag sieht man ihn bisweilen in der Kleidung einer Magistratsperson um den See herum irren. Dem, der ihn gesehen, ist jedoch der Tod noch vor Ende des Jahres sicher. Seine Bosheit aber zeigt sich nur noch, wenn er geschmäht wird oder Steine in seinen See geworfen werden, dann bricht sein Zorn in irgend eine Ueberschwemmung oder ein Ungewitter aus, das oftmals heim hellsten Himmel erscheint. Daß aber ein Erdbeben die Folge davon gewesen, dies ist indessen nur sehr selten geschehen.

Der Beiname "pileatus" , welcher dem mons fractus, auf dem der Pilatussee zu finden ist, wegen der seinen Gipfel stets drückenden Nebel und Wolten beigelegt ward, hat wohl den ersten Anlaß obiger Sage gegeben. "Pileatus" schuf sich in Pilatus um, und die leichtgläubigen Hirten der Alpen glaubten gern, daß Vilatus sich an jenem Ort wirklich aufgehalten habe. Bald that der Aberglaube sein Uebriges und jene Gegend wurde zu seinem immerwährenden Wohnort. Schriftsteller aus finsteren Zeiten schmückten endlich die anfänglich in dem Munde des Volkes entstandene Sage aus, bis daß sie das wurde, was sie jetzt ist. Ein zürcher Chorherr, Namens de Mur, ist der erste Schriftsteller, welcher ihrer erwähnt. Dieser weist jedoch dem Leichnam den Septimer Berg in Graubünden zur Wohnung an. De Mur lebte in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, gegen dessen Ende ein Erzbischof von Genua, Namens Johann von Voragine, in seiner Geschichte der lombardischen Heiligen gleichfalls Aehnliches vom Pilatus erzählt, nur mit dem Unterschied , daß er ihm in der Diözese Lausanne ein Begräbniß gibt. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts spricht der bekannte Felix Hämmerlein, Probst von Solothurn und Kantor des zürcher Kollegiatstifts, in seinem Malleus maleficorum Aehnliches vom Pilatus. Wagner in seiner Historia naturalis Helvetae curiosa (p. 60) kennt nicht weniger als 35 Schriftsteller, unter denen sich mehrere berühmte Männer befinden, welche diese



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Sage im guten Glauben in ihren Schriften aufgenommen haben. Cysat dagegen will neben Simons Majolus can. colloq. (le Lacubus nur noch die Werke von 13 Schriftstellern zu Gesicht bekommen haben, welche, wie er sagt, alle aus dem Werk ein und desselben schweizerischen Schriftstellers geschöpft haben, der jedoch, "obschon sonst ein berühmter Mann, diesmal die Reden ungewisser Leute für Wahrheit genommen habe" (Beschreibung des Vierwaldstätter See's, S. 252). Auf S. 254 dieses Buches erwähnt Cysat noch, daß der Aberglaube diesen Berg nicht allein dem Pilatus zur Wohnung angewiesen, sondern ihn auch mit Bergmännlein bevölkert hat. Er sagt: "Vor Jahren feyndt auch viel abenthewrige ond wunderliche Dinge von Erdmännlin oder zwergen erzählt, so in diesem Berg und dessen vilfältigen Klüfften ond verborgenen Gängen ihr Wohnungen gehabt ond zu Zeiten selzame Sachen mit den Sennen und Bergleuthen sollen verübt, guts auch böses gethan, etwann etlichen Gold geben, andern aber die sie beunrühiget, geplagt, oder verachtet, über die Felsen ond die Flühe hinabgestürzt haben."Aehnlicher abergläubischen Vorstellungen gedenkt auch der oben angeführte Bridel in seinem Conservateur suisse, nach welchem hauptsächlich die Pilatussage hier erzählt worden ist. Nach ihm ist an keinem andern Orte her Schweiz größerer Gespensterspuck im Schwange, als auf dem Pilatus: denn bald hören die Hirten hier zwischen den Felsen wildes Kampfgetöse ganzer Geisterheere zu Pferde, bald die höllische Musik der Zauberer und Hexen, welche dem großen Bock am Hexensabbath ihre Verehrung darbringen, bald sehen sie als Sennen verkleidete Zwerge, welche die Kühe entführen, uni sie zu melken, bald aber wissen sie auch von den freundlichen und dienstfertigen Erdmännchen, gleich den Hirten anderwärts, zu erzählen; außerdem kennen sie noch ein gräuliches Gespenst, , das mit schrecklichem Geräusch von einem Felsen zum andern jagt, und die jungen Kühe oftmals wohl an zehn Fuß hoch über die Erde erhebt und sie nur auf die flehentliche Bitte und das Geschrei ihrer Besitzer wider zurück gibt. Auch init Schlangen wie wir sehen, eine sich sehr oft wiederholende abergläubische Vorstellung — welche den Kühen die Milch aussaugen und zu deren Vertreibung man auf der Weide einen weißen Hahn halten muss, ist der Pilatus und seine Umgebung bevölkert. Endlich zeigt sich aber dort auch noch eine andere Erscheinung, eine Erscheinung lieblicher Art - eine Fee, die dort an gewissen Duellen sitzend, jedes Frühjahr verkündet, ob das Jahr fruchtbar oder unfruchtbar sein wird. Ist das erstere der Fall, so führt sie zwei Lämmer von weißer Farbe an der Leine, wird das 'letztere eintreten, so sind dieselben schwarz.Wie sehr der Sage, daß ein böswillig in den See geworfener Stein Unwetter errege, Glauben geschenkt wurde, beweist, daß noch bis nach



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der Reformation ein Edikt des Magistrats von Luzern existirte, welches jedem Fremden verbot, ohne ausdrückliche Erlaubniß den See *) zu besuchen. Erst im Jahr 1585 wurde dieses Verbot auf Anlaß eines luzerner Geistlichen , Namens Johann Müller, zurückgenommen, der eines Tages, unter Begleitung einer Menge Volks, zu dem See zog, und unter dem Rufe: "Pilatus, wirf deinen Schlamm aus Steine in ihn hineinwarf, ohne daß sich ein strafendes Unwetter am Himmel zusammenzog, **). Etwas früher vor dieser Zeit mußten sogar die Hirten, welche die benachbarten Weiden im Sommer bezogen, am Anfang jedes Frühjahrs einen feierlichen Eid leisten, keinem Fremden den Weg nach dem Sec zu weisen. Oefters warf man Zuwiderhandelnde in das Gefängniß, ja im Jahr 1307 wurden sogar sieben Prediger auf dem Weg zu ihm verhaftet, worüber noch ein Dokument vorhanden ist. Daß dagegen Uebertretende: mit dem Tode bestraft worden sind, wie Stumpf in seiner Chronik und Vadian t) in seinem Commentar über Pomponius Mela erzählt, verdient keinen Glauben. Ist übrigens die abergläubische Furcht vor dem Gespenste des Pilatus, welches früher Sinne und Verstand der Hirten jener Berge gänzlich beherrschte, und gegen das man sogar ganz besondere Litaneien als



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Schutzmittel anwandte (s. Capeller, Beschreibung des Pilatusbergs S. 11), gegenwärtig auch verschwunden, so gilt ihnen doch noch bis zu diesem Augenblick, der Pilatusberg als eine Art Wetteranzeiger, sie sagen noch heute:
Das Wetter fein und gut,
Wann der Pilatus hat einen Hut *).


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