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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Das Grab am Sausbach

Ein eigen schöner Pfad führt von Lauterbrunnen hinauf nach dem Bergdörfchen Isenfluh.

Hat der Wandrer, gemächlich hinansteigend, die größre Hälfte des Weges zurückgelegt, so hört er aus der Ferne her ein dumpfes Rauschen . Das Rauschen wird mit jedem Schritte stärker, und endlich steht er auf einer Brücke und schaut hinab in die Wasser des Sausbaches, die sich über Fels und Stein lustig zu Tale stürzen, stolz über ihre kühne Fahrt von Bergeshöhe hernieder. Weiter unten aber, dort wo ein paar mächtige Blöcke den Wasserlauf in mehrere Arme teilen, klingt sein Lied nicht mehr so heiter, und an das Ohr des Wandrers dringen von jener Stelle her seltsam klagende Töne, die in ihm eine alte Sage wachrufen mögen.

Es ist lange her, da weideten auf den Alpen zu beiden Seiten des Sausbaches zwei junge Menschenkinder ihre Kühe und Schafe: auf der Alp zur Rechten ein schöner Hirtenknabe von Mürren, auf der zur Linken ein lieblich Mägdlein von Isenfluh. Es war im Mal, der Himmel voll Glanz, die Alpweiden im Schmucke des jungen Grüns: da trafen sich die beiden am Bache, und in ihren Herzen ging die Liebe auf. Und am Bache, da wo sie sich begegnet, wo sie sich zum erstenmal geküßt und einander Treue versprochen, da kamen sie von nun an manches liebe Mal wieder zusammen. Sie hörten ihn brausen und donnern, sie schauten hinab sein felsig Bett und wurden nicht müde, bald hier, bald dort dem wechselvollen Spiel des Wassers zu folgen. Eine geheimnisvolle Macht zog sie immer wieder zu ihm hin, und wenn ihre Herzen auch jubelten im ersten Glück der jungen Liebe, so schauerten sie bisweilen doch leise zusammen im Vorgefühl von etwas Schrecklichem, das ihnen gerade hier am Bache zustoßen könnte.

Und das Schreckliche geschah.

In einer Nacht war ein furchtbares Gewitter über die Berge niedergegangen , und als sich die beiden Liebenden am folgenden Tage trafen, brauste der Bach solchermaßen daher, daß der Hirtenbub es



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nicht wagte, ihn zu überschreiten. Also standen sich denn die zwei einander gegenüber, zwischen ihnen das reißende Wasser, hätten sich gerne gehalst und geküßt und konnten doch nicht zusammenkommen. Sich redend unterhalten ging nicht an, das brüllende Wasser übertönte fast jedes Wort. Und gleich wieder voneinander Abschied nehmen, das konnten sie auch nicht übers Herz bringen. Was sollten sie tun ?

Da riß der Bub zur Kurzweil ein Rasenstückchen aus dem Boden und warf es zum Mägdlein hinüber. Diesem schien der Einfall willkommen, denn gleich darauf flog als Antwort ein Bällchen Erde dem Liebsten zu. So hub denn ein lustiges Spiel an, wobei es nach Kinderart immer eifriger zuging. Erdfchöllchen flogen hinüber, herüber. Der Bub lachte, traf oder streifte ab und zu das Mägdlein; dieses schrie auf vor Entzücken, renkte sich fast die Arme aus und traf doch nichts.

Jählings aber verstummten die Freudenrufe, das Spiel brach ab. Dort drüben fuhr sich das Mägdlein plötzlich mit der Hand nach der Schläfe, es erbleichte, schwankte einen Augenblick hin und her und schlug auf den Boden.

Mit einem Satz war der Bub im Wasser, kämpfte sich durch die schäumende Flut ans andre Ufer und beugte sich über die Geliebte.

"Um Gottes willen! Was hast denn, sag ?"

Das Mägdlein aber lag still und blaß wie ein Linnen. Ihre Augen waren geschlossen, aus einer kleinen Wunde an der Schläfe sickerte das rote Blut in den grün bemoosten Waldboden: eine Scholle, in der wohl ein spitzer Stein verborgen gewesen, hatte sie getroffen und das junge Leben mit einem Schlage vernichtet.



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Sie war tot. Der Jungknab aber konnt es nicht fassen, wollt es nimmermehr glauben. Wie von Sinnen schlang er seine Arme um ihren Hals, rief ihren Namen, küßte und küßte immer wieder den toten Mund und barg schluchzend sein Gesicht an ihrer Brust.

Gegen Abend fand man die beiden. Der Bub hatte setzt das tote Liebchen auf seine Knie gebettet und weinte still vor sich hin.

Das Mägdlein wurde begraben, wo es hingefallen. Der Hirtenbub aber ward von Stund an seines Lebens nimmer froh. Er zog sich scheu vor den Menschen zurück und erbaute ein Hüttlein am Bache, dicht neben dem Grabe seiner Liebsten. Hier verbrachte er noch ein paar Jahre in heißem Gebet, übergab seine Seele Gott und verschied.


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