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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Ritter Redcliff

Irgenwo auf dem Ausläufer des Bergrückens, der das Saxeten- vom Lauterbrunnental scheidet, erhob sich die Burg Rotenfluh, so genannt wegen der rötlichen Felsen, die von der Stätte des längst



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vom Erdboden getilgten Trutzbaues gegen die Lütschine hinunterfallen.

Es war ums Jahr 1280, als dem Freiherrn von Rotenfluh, dem die Täler von Lauterbrunnen, Grindelwald und Saxeten zu eigen waren, Zwillingssöhne geboren wurden, die sich sehr unähnlich waren. Der eine von ihnen, Hartmann, übte sich früh im Waffenwerk und waltete nach des Vaters Tod mit eiserner Hand, während sein Bruder Hermann, milden Sinnes und von feiner Gestalt, zu Padua die Wissenschaften studierte. Nun entschied es sich aber, dass Hermann, der sich schon als Jüngling einem Bauernmädchen, dem Röschen von der Wengernalp, anverlobt hatte, seinen rauhen Bruder ablösen wollte in der Herrschaft über das Land. Ein Schiedsgericht stellte auf Martini 1305 im Kloster Interlaken die Ankaufsumme fest. Darauf wurde die erste Zahlung geleistet. Nachher rieten die Mönche dem heimgekehrten Hermann, mit den weitern Zahlungen hinzuhalten und den Bruder ohne sein volles Gut in fremde Fehden ziehen zu lassen. Allein so hatte Hartmann den Handel nicht verstanden. Ungesäumt ritt er auf die Rotenfluh,



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doch da ihn Hermann mit kränkendem Spott empfing, entbrannte sogleich ein klirrender Waffengang zwischen den Brüdern. Die Felswände hallten wider von den mächtigen Schlägen, und die vorbeirauschende Lütschine sang eine dumpfe Trauerklage zu dem heillosen Streite. Bald hatte der starke Hartmann die Oberhand gewonnen. Mit einem fürchterlichen Schwertstreich hieb er Hermanns rechte Hand vom Arm. «Mein Schatten wird dir folgen bis an dein unseliges Ende! » rief der Getroffene, dann sank er sterbend vom Pferd. Noch am Boden streckte er den blutigen Stumpf empor.

Hartmann floh nach dem grausen Mord über die Grimsel und den Griesgletscher nach Genua. Dort entschloss er sich, für England wider die Schotten zu ziehen. Bei der Erstürmung der Feste von Wheatley-Hall vollbrachte er eine so wackere Tat, dass ihn der König mit der eroberten Burg belehnte und ihm erlaubte, sie fortan Rotenfluh - Redcliff in englischer Sprache - zu nennen. Ein holdes Fräulein verband sich mit ihm zu treuer Ehe, und der Himmel schenkte dem Paar eine ehrenreiche Nachkommenschaft. Glücklich



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war Hartmann trotz alledem nicht. Ihn suchte der Schatten des erschlagenen Bruders heim. Deshalb reiste er schliesslich nach dem Lauterbrunnental, wo es ihm gelang, den Geist Hermanns ins Rottal zu bannen. Fortan lebte er unbehelligt auf seinem schottländischen Schlosse.

Als er sein Ende herannahen fühlte, liess er von einem Geistlichen eine Urkunde verfassen, welche die Geheimnisse des Brudermordes und Rottalbannes sowie eine Ermahnung zum Frieden unter den Nachfahren enthielt. Auch bestimmte das Testament, dass nach fünfhundert Jahren am einundzwanzigsten Weinmonat der älteste Redcliffsprössling nach dem Rottal gehen und zwischen zwölf und ein Uhr dreimal den Namen Hartmanns rufen sollte. Die Urkunde verriet, dass dort in der gleichen Nacht im Jahre 1308 und zur selben Stunde der Bann vollbracht worden war.

Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts liebten zwei Brüder aus der Familie Redcliff, Richard und Robert, die schöne Julia Manvers. Sie kamen überein, den Vater die gemeinsame Wahl entscheiden zu lassen. Bei diesem Anlasse eröffnete



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der alte Redcliff den Willen des Ahnherrn. Auch überreichte er den Söhnen eine zweite Urkunde vom Jahre 1396, in der sechs Grefisöhne Hartmanns eigenhändig bezeugten: «In der Nacht, die dem fünfundzwanzigsten Geburtstag eines jeden von uns folgte, wurde durch die Hallen ein dröhnender Schritt gehört. Es war ein Schall, wie wenn ein Fels dahergerellt worden wäre. Ein Ritter in voller Rüstung erschien hernach, eindringlich mahnend: ,Hüte dich vor Bruderzwist und Brudermord!' Dann entfernte sich der steinerne Schritt; die schweren Türen ächzten in ihren Angeln und die Grundfesten des stolzen Schlosses erzitterten. » Noch eine dritte Urkunde fand sich vor, derzufolge ein Nachkomme in der Nacht auf den fünfundzwanzigsten Geburtstag gelähmt und der Sprache beraubt worden war, aus Schreck über die Erscheinung, die keinen Spross des Geschlechtes der Redcliff verschonte.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, da einer der Söhne das Rottal aufsuchen und die Seele des ersten Redcliff erlösen musste. Richard wagte das Unterfangen. Bei milder Herbstwitterung trat er die



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Wanderung durch das gespenstische Tal an, und zur genannten Stunde rief er den vorgeschriebenen Namen. Da ertönte ein überirdisch lautes Krachen von den Wänden der Jungfrau und ein haushoher Gletscherklotz prallte funkenstiebend gegen die Felsen des Abgrundes. «Er ist zur Ruhe!» dachte Richard dankbar bewegt. Schweigend begab er sich sodann auf den Rückweg, und rasch ging die Reise nach Schottland vonstatten. An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstage zeigte sich der Spuk zum ersten Male nicht mehr.

Richard ist ein berühmter Staatsmann geworden und Robert, sein Bruder, der die schöne Julia Manvers bekam, ein vortrefflicher Offizier im Heere des englischen Königs.


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