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Vo chlyne Lüte


ZWERGENSAGEN FEEN- UND FÄNGGENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NEU MITGETEILT VON C.ENGLERT-FAYE


MIT BILDERN VON BERTA TAPPOLET

TROXLER-VERLAG BERN


Der Geißler von Klosters

Unweit Klosters hauste einst ein Fänggenmannli. Es hieß überall der Geißler. Denn schon länger als die ältesten Männer gedenken konnten, hatte er der Gemeinde um einen geringen Lohn an Ziger und Käse die Geißen gehütet. Gerne gaben ihm die Leute diesen Lohn, denn die Ziegen kamen alle Abend so voll und feiß heim und gaben



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so viel Milch, daß man am Ende des Jahres ganze Wagenladungen voll Käse verkaufen konnte.

Alle Morgen früh trieben ihm die Dörfler ihre Geißen bis zu einem Felsblock draußen vor dem Dorf, dem Geißlerstein. Dort wartete schon das Männlein, schwang seinen Stecken und trieb sie weiter auf die Weide. Man wußte aber nicht wohin. Und abends, wenn die Sonne zu Gold ging, waren sie alle wieder mit strotzendem Euter fröhlich meckernd beim Steine. Eines aber war sonderbar: Der Geißler redete wohl mit den Ziegen; die verstanden ihn und folgten ihm aufs Wort. Nur mit den Menschen sprach er nie ein einziges Wort. Stumm übernahm er morgens die Tiere in seine Hut, stumm lieferte er sie abends wieder ab, stumm kam er jeden Herbst am Zahltag zum Steinblock und nahm Käse und Ziger entgegen, die man ihm gleichfalls stumm hinlegen mußte.

Dieses ewige Stummtun verdroß endlich die Leute. Einige vorwitzige Burschen verabredeten, wie sie ihn fangen und zum Reden



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bringen möchten. Sie versteckten sich eines Abends hinter dem Geißlerstein und sprangen, als er nahe genug war, vereint auf ihn los. Doch das Männlein warf mit wenigen starken Stößen den einen dahin und den andern dorthin. Als sie sämtlich am Boden lagen und stöhnend und schimpfend ihre Glieder zusammenlasen, eilte er wie der Wind dem nahen Walde zu, ohne daß er ein Wort gesagt hätte.

Andern Tags trieben die Leute ihre Ziegen wiederum zum Steine. Der Geißler war heute nicht da. Sie warteten und warteten, der Geißler kam nicht. Da machten sie aus, daß diejenigen, welche ihm Gewalt angetan hätten, jetzt statt seiner die Geißen hüten sollten. So geschah es. Aber, o heia, die Ziegen brachten nicht halb so viel Milch mehr heim. Und nach einer Weile beschlossen die älteren Bauern, die Gemeinde müsse den Geißler versöhnen und ihm etliche Käse und Ziger als Schmerzensgeld auf den Stein legen. Das war ein guter Rat. Er holte die Ziegen wieder wie sonst, und bald kamen die Tiere wieder wohlgeweidet und milchreich heim. Nur mußten die Bauern von nun an stets die doppelte Anzahl Käse und Ziger als Lohn dem Geißler erlegen.

Aber jene Burschen wollten's nicht aufgeben und hätten mit dem Geißler gerne noch einmal angebunden. Da sie aber wußten, wie stark und flink er war, so versuchten sie es diesmal mit List. Das Männlein hatte nämlich die Gewohnheit, alle Abend aus dem kleinen Brünnlein zu trinken, das zunächst dem Steine war. Hinter dem Rücken der Dorfgenossen sammelten die Burschen heimlich manche Maß Kirschwasser und füllten an einem heißen Sommertage das ganze Brünnlein damit. Als nun der Geißler wie gewöhnlich trinken kam, schöpfte er mit der hohlen Hand. Aber befremdet durch den andern Geschmack des Wassers trank er nicht fort wie sonst, sondern versuchte es nur mit einigen Schlucken. Doch bald behagte ihm der Kirschgeist, denn jetzt bückte er sich über das Brünnlein und trank in vollen Zügen. Alsbald berauscht, taumelte er und fiel machtlos um. Da sprangen die Burschen



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aus ihrem Versteck hervor, banden ihn mit Weiden und Seilen und trugen ihn ins Dorf hinein in eine leere Kammer. Fest verschlossen sie die Tür, und zwei stellten sich als Wache davor. Sie wollten bis zum Morgen warten, wenn der Geißler seinen Nebel ausgeschlafen hätte. Aber um Mitternacht erhob sich in der Kammer ein solches Poltern und Holtern, daß das ganze Haus schwankte und wankte. Und plötzlich ging der Kreuzstock in Trümmer, und heraus stürzte der Geißler, und schon war er außerhalb des Dorfes, und man sah ihn, mehr fliegend als laufend, durch die Wiesen schnellen und im Wald verschwinden.

Als die Dörfler am andern Morgen ihre Ziegen austrieben, saß der Geißler nicht auf seinem Stein, und er ist auch nicht wieder gekommen, als sie ihm den alten und dann den verdoppelten Lohn an Ziger und Käse hinlegten. Seitdem müssen die Bauern von Klosters einen eigenen Hirten halten und ihm schier mehr an Hutgeld bezahlen, als sie aus der Milch lösen, die alle ihre Ziegen zusammen geben.


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