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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die Geschichte von Tom, dem Däumling

Zu Zeiten des großen Arthur lebte ein mächtiger Magier, Merlin genannt, der klügste und kundigste Zauberer, den die Welt je gesehen hat.

Dieser berühmte Magier, der jede Gestalt annehmen konnte, die er gerade wollte, reiste einmal als armer Bettler im Lande umher, und da er sehr müde war, hielt er vor der Hütte eines einfachen Bauern inne, um sich auszuruhen und um etwas Essen zu bitten.

Der Landmann begrüßte ihn freundlich, und sein Weib, eine gutherzige Frau, brachte ihm gleich Milch in einer hölzernen Schale und ein paar Scheiben groben Brotes auf einem Teller.

Merlin freute sich von Herzen über die Freundlichkeit des Landmannes und seiner Frau, aber die beiden machten auf ihn, obwohl alles in der Hütte nett und gemütlich war, den Eindruck eines tiefen Unglücks.

Und als er fragte, weshalb sie so traurig wären, erfuhr er, daß sie schmerzlich darunter litten, keine Kinder zu haben.

Die arme Frau sagte tränenden Auges: »Ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt, hätte ich nur einen Sohn. Und ich würde schon zufrieden sein, selbst wenn er nicht größer als der Daumen meines Mannes wäre.«

Als Merlin sich einen Knaben vorstellte, der nicht größer als eines Mannes Daumen wäre, machte ihm das so viel Spaß, daß er beschloß, den Wunsch der Frau zu erfüllen.

Also bekam die Frau des Landmannes kurze Zeit darauf einen Sohn, der, es ist reizend zu berichten, nicht das kleinste bißchen größer war als seines Vaters Daumen!

Die Feenkönigin wollte diesen winzigen Burschen gern sehen und kam durchs Fenster geflogen, während die Mutter aufrecht im Bett saß und ihr Kindlein bewunderte. Die Königin küßte das Kindchen, gab ihm den Namen »Tom der Däumling« und ließ etliche Feen kommen, die nun ihr Patenkind nach ihrer Anweisung kleiden mußten:



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»Ein Eichenblatthut bedecke den Kopf,
das Hemd sei aus Spinnengewebe gesponnen,
die Jacke gewebt aus der Distel Flaum,
die Höslein werden aus Federn gemacht,
die Strümpfe, aus Apfelbaums Rinde gefertigt,
sie binde die Wimper von Mütterchens Auge,
die Schuhe macht schnell aus dem Pelzwerk des Mäuschens,
gegerbt fein, mit dem flaumigen Haar nach innen.«


***
Tom wuchs zwar nie über den Daumen seines Vaters hinaus - und das war einer von durchschnittlicher Länge -, aber je älter er wurde, um so gescheiter und voller Possen war er auch. Als er alt genug war, um mit andern Knaben zu spielen, pflegte er, hatte er alle seine eigenen Kirschkerne verloren, in die Taschen seiner Spielgefährten zu klettern, seine eigenen Taschen neu zu füllen und, von den andern unbemerkt, wieder weiter mitzuspielen.

Jedoch als er eines Tages aus einer Tasche voller Kirschkerne, in der er wie gewöhnlich geklaut hatte, herausschlich, sah ihn zufällig der Knabe, den er bestohlen hatte. »Sieh, sieh, mein kleiner Tommy«, rief der Junge, »da habe ich dich doch mal dabei erwischt, wie du meine Kirschkerne stiehlst, und nun sollst du deine Belohnung für deine diebischen Klettereien haben.«Und damit zog er ein Band fest um seinen Nacken und schüttelte das Bündelchen so heftig, daß Arme, Beine und der ganze Körper des armen kleinen Tom jämmerlich gequetscht wurden. Er schrie vor Schmerzen und bat, ihn auszulassen, er würde auch nie wieder stehlen. Kurze Zeit darauf rührte seine Mutter einen Teig an, um einen Kochpudding zu machen, und neugierig, wie das vor sich ginge, kletterte Tom auf den Rand der Schüssel. Doch sein Fuß glitt aus, und er fiel kopfüber in den geschlagenen Teig, ohne daß seine Mutter es merkte, die ihn mit in die Puddingform schüttete, die sie in den Topf stellte, der ins kochende Wasser kam.

Der Teig quoll in Toms Mund und hinderte ihn so am Schreien. Doch als er das heiße Wasser spürte, stieß und strampelte er so wild in dem Topf, daß seine Mutter meinte, der Pudding sei verhext, ihn



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nahm und aus der Tür warf. Ein armer Kesselflicker, der vorbeiging, nahm die Puddingform auf, steckte sie in seinen Sack und ging weiter. Als Tom allmählich den Teig aus seinem Mund herausgewürgt hatte, begann er laut zu schreien, worauf der Kesseiflicker derart erschrak, daß er die Puddingform wegwarf und davonrannte. Der Pudding brach beim Fallen auseinander, Tom kroch völlig teigbedeckt heraus und lief nach Hause. Seine Mutter, ganz unglücklich, ihren Liebling in einer so traurigen Verfassung wiederzusehen, steckte ihn in eine Teetasse, wusch ihm den Teig ab, küßte ihn und legte ihn ins Bett.

Kurze Zeit nach dem Puddingabenteuer ging Toms Mutter auf die Wiese, um die Kuh zu melken, und nahm ihn mit. Da der Wind heftig blies, fürchtete sie, er könne weggeblasen werden, und deswegen band sie ihn mit einem Faden an einer Distel fest. Bald sah nun die Kuh Toms Eichenblatthut, und da er ihr gefiel, riß sie sich den armen Tom mitsamt der Distel ins Maul. Während die Kuh die Distel kaute, fürchtete sich Tom vor ihren großen Zähnen, die ihn jeden Augenblick in Stücke quetschen konnten, und er rief, so laut er nur konnte: »Mutter! Mutter!«

»Wo bist du, Tommy, mein lieber kleiner Tommy?«fragte die Mutter.

»Hier, Mutter«, antwortete er, »im Maul von der roten Kuh.« Die Mutter schrie auf und rang die Hände, die Kuh aber, überrascht durch das seltsame Geräusch in ihrer Gurgel, machte das Maul auf und ließ Tom herausfallen. Glücklicherweise fing seine Mutter ihn in ihrer Schürze auf, als er zu Boden fiel, sonst würde er sich schwer verletzt haben. Sie barg nun Tom an ihrer Brust und lief mit ihm nach Hause.

Toms Vater machte dem Knäblein eine Peitsche aus Gerstenhalmen, um damit das Vieh zu treiben, und als Tom eines Tages aufs Feld ging, glitt er aus und fiel in eine Furche. Ein vorüberfliegender Rabe pickte ihn auf, flog mit ihm aufs Meer hinaus und ließ ihn dort fallen.

Ein großer Fisch, der Tom in dem Augenblick, als er ins Wasser fiel, gierig verschlungen hatte, wurde kurz danach gefangen und für die



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Tafel des Königs Arthur gekauft. Als sie den Fisch vorm Kochen öffneten, waren alle erstaunt, solch einen kleinen Jungen zu finden, und Tom war selig, wieder befreit zu sein. Sie trugen ihn zum König, der ihn zu seinem Hofzwerg ernannte, und er wurde am ganzen Hofe sehr beliebt, weil er durch seine Einfälle und seinen Witz nicht nur den König und die Königin, sondern auch alle Ritter der Tafelrunde unterhielt.

Es hieß, daß der König bei Ausritten Tom oft mitnahm und dieser, wenn ein Regenschauer kam, in die Wesentasche Seiner Majestät schlüpfte, wo er so lange schlief, bis der Regen vorüber war.

Eines Tages fragte König Arthur Tom nach seinen Eltern und wollte gern wissen, ob sie auch so klein wie er und ob sie beide gesund wären. Tom erzählte dem König, seine Eltern seien genauso groß wie alle anderen Leute, aber sie lebten sehr ärmlich. Als er das hörte, trug der König Tom in seine Schatzkammer, wo sein ganzes Geld aufbewahrt wurde, und erlaubte ihm, so viel Geld zu nehmen, wie er zu seinen Eltern heimzutragen vermöchte. Vor Freude machte der arme kleine Kerl einen richtigen Luftsprung. Er nähte sich aus einer Wasserblase einen Geldbeutel und ging in die Schatzkammer zurück, wo ihm ein silbernes Drei-Penny-Stück gegeben wurde, das er nun hineintun konnte.

Unser kleiner Held hatte es recht schwer, die Last auf seinen Rücken heraufzubekommen, aber zuletzt war ihm das seiner Meinung nach recht gut gelungen, und er begab sich auf den Weg. Schließlich erreichte er ohne irgendwelchen Unfall und wohl unterwegs hundertmal rastend nach zwei Tagen und zwei Nächten sicher das elterliche Haus.

Tom war achtundvierzig Stunden mit einem riesigen Silberstück auf dem Rücken unterwegs gewesen und nun todmüde, als seine Mutter herausgelaufen kam und ihn ins Haus trug. Doch er kehrte sofort wieder an den königlichen Hof zurück.

Da Toms Kleider in dem Puddingtopf und im Bauch des Fisches sehr gelitten hatten, befahl Seine Majestät, ihm eine Anzahl neuer Kleider zu machen, und ernannte ihn zum Ritter auf einer Maus.



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Aus Schmetterlingsflügeln entstand sein Hemd,
die Stiefel sein aus Hühnerhaut,
und schnell mit feenzartem Blatt
in bester, feinster Schneiderart
ward sein Gewand ergänzt.
Die Nadel ward sein Schwert am Gurt,
ein zierlich Mäuschen ward sein Pferd,
so ward auch Tom ein Ritter wert.


***
Bestimmt sah es sehr lustig aus, Tom in seinem neuen Kleid und auf der Maus zu sehen, wenn er mit dem König und dem Adel zusammen zur Jagd ritt, und alles brach in Gelächter aus über Ritter Tom und sein kühnes Streitroß.

Der König war so entzückt über das gute Benehmen des Kleinen, daß er einen winzigen Stuhl für ihn herstellen ließ, damit Tom auf der Tafel vor ihm sitzen konnte. Auch ließ er ein Schlößchen aus Gold anfertigen, eine Handspanne hoch, die Tür einen Zoll breit, in dem Tom wohnen durfte, und schenkte ihm eine von sechs hübschen Mäuslein gezogene Kutsche.

Doch die Königin war so böse um der vielen Ehrungen willen, die diesem Sir Thomas gespendet wurden, daß sie ihn zu vernichten beschloß und dem König erzählte, der kleine Ritter sei ihr zudringlich begegnet.

Der König befahl Tom sogleich zu sich, doch dieser war sich der Gefahr des königlichen Zornes voll bewußt und verkroch sich in ein leeres Schneckenhaus, wo er sich so lange verborgen hielt, bis er vor Hunger fast zu sterben glaubte. Endlich wagte er herauszukriechen, und da er einen schönen großen Schmetterling dicht neben seinem Versteck am Boden sitzen sah, schlich er hin, sprang auf den Rücken des Schmetterlings und wurde in die Luft getragen. Der Schmetterling flog mit ihm von Baum zu Baum, von Feld zu Feld und kehrte dann an den Hof zurück, wo alle, der König und seine Edelleute, ihn zu fangen versuchten. Doch zuletzt fiel Tom von seinem Sitz herunter, gerade in einen vollen Wassertopf, und wäre fast ertrunken.



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Als die Königin ihn sah, geriet sie in Wut und verlangte, daß er geköpft werde, und bis dahin sperrte man ihn in eine Mausefalle. Doch eine Katze, die etwas Lebendiges in der Falle beobachtete, schlug so lange dagegen, bis die Drähte brachen und Thomas frei wurde.

Der König wandte nun erneut Tom seine Gunst zu, doch dieser konnte sich ihrer nicht mehr lange erfreuen, denn eine große Spinne griff ihn eines Tages an, und obwohl er sein Schwert zog und tapfer kämpfte, wurde er durch ihren giftigen Atem getötet.

Tot fiel er nieder, der gekämpft so gut -
die Spinne trank Tropfen um Tropfen sein Blut.


***
König Arthur und sein ganzer Hof waren so voll Kummer über den Verlust des kleinen Gesellen, daß sie Trauerkleidung anlegten und ein schönes Grabmal aus weißem Marmor errichten ließen, auf dem folgender Spruch zu lesen war:
Hier liegt Toni Däumling, König Arthurs Held.
Eine giftige Spinne hat ihn gefällt.
Er war so beliebt in Arthurs Rund,
sein ritterlich Wesen war allen kund.
Er ritt über Stock und ritt über Stein
auf seiner Maus - und der Sieg war sein.
Sein heiteres Wesen gab Freude und Lust,
wir trauern, daß er schon hinfort gemußt.
Weint, Augen, weint! Senkt euch voll Not!
Ja, weint! Denn ach: Tom Däumling ist tot.


Copyright: arpa, 2015.

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