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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Dick Whittington und seine Katze

Zur Zeit der Regierung des berühmten Königs Eduard des Achten lebte ein kleiner Junge namens Dick Whittington, der Vater und Mutter schon verloren hatte, als er noch recht klein war. Weil der arme Dick noch nicht groß genug war, um arbeiten zu können, ging es ihm sehr schlecht. Er hatte kaum etwas zum Mittagessen und zum Frühstück meist überhaupt nichts, denn die Leute, die in dem Dorf wohnten, waren auch sehr arm und konnten ihm nichts geben als die Schalen ihrer Kartoffeln und hin und wieder eine harte alte Brotkruste.

Nun hatte Dick viele sehr seltsame Dinge über die große Stadt London gehört. Denn das Landvolk jener Zeit glaubte, die Leute in London wären alles vornehme Herren und Damen, und dort gäbe es tagein, tagaus nur Singen und Lachen, und alle Straßen wären mit Gold gepflastert.

Eines Tages fuhr eine große Kutsche mit acht Pferden, an deren Köpfen Glöckchen klingelten, durchs Dorf, als Dick grade am Wegweiser stand. Da er überzeugt war, daß die prächtige Karosse bestimmt in die schöne Stadt London führe, nahm er all seinen Mut zusammen und fragte den Kutscher, ob er ihm wohl erlauben wolle, neben dem Wagen herzulaufen.

Als der Kutscher hörte, daß der arme kleine Dick weder Vater noch Mutter hatte und wie schlecht es ihm ging, erlaubte er ihm gleich, mit ihm zu fahren.

So kam Dick sicher nach London und war so gierig darauf, die schönen mit Gold gepflasterten Straßen zu sehen, daß er sich nicht einmal die Zeit ließ, sich bei dem freundlichen Kutscher zu bedanken, sondern so schnell loslief, wie ihn seine Beine nur tragen konnten, kreuz



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und quer durch viele Straßen, immerzu hoffend, jene zu finden, die golden gepflastert waren, denn Dick hatte früher einmal in seinem eigenen kleinen Dorf einen Golddukaten gesehen und erinnerte sich noch genau, wieviel Geld es beim Umtausch dafür gegeben hatte. Also dachte er, er brauchte nichts anderes zutun, als ein paar winzige Stückchen vom Pflaster aufzulesen, um dann so viel Geld dafür zu bekommen, wie er sich nur wünschen konnte.

Der arme Dick lief und rannte hin und her, bis er todmüde war. Seinen guten Freund, den Kutscher, hatte er darüber vergessen. Zuletzt, als es dunkel wurde und auf jeder Straße, in die er hineinlief, statt Gold nur Schmutz zu sehen war, hockte er sich in einer finsteren Ecke hin und weinte sich in den Schlaf.

Die ganze Nacht verbrachte Klein-Dick auf den Straßen, und am nächsten Morgen stand er auf, und weil er sehr hungrig war, ging er umher und bettelte die Vorübergehenden an, ihm doch ein paar Pfennige zu geben, damit er nicht vor Hunger sterbe. Aber keiner blieb stehen, um mit ihm zu sprechen, und nur zwei oder drei gaben ihm ein paar Pfennige, so daß der arme Junge bald viel zu schwach und matt war, um überhaupt noch Hunger zu verspüren.

In dieser Not bat er verschiedene Leute um Hilfe, und einer von ihnen sagte ärgerlich: »Arbeite für irgend jemanden.« »Das will ich gern«, sagte Dick, »ich will gern für Sie arbeiten, mein Herr, wenn Sie mir nur Anweisung geben, was ich tun soll.« Aber der Mann stieß einen Fluch aus und ging weiter.

Endlich aber sah ein freundlich ausschauender Herr, wie verhungert Dick schien. »Warum arbeitest du nicht, mein Junge?« fragte er. »Das möchte ich ja gern, aber ich weiß nicht, wo ich ankommen kann«, antwortete Dick. »Wenn du arbeitswillig bist, dann komm mit mir«, sagte der Herr und brachte ihn zu einer Wiese, die gemäht werden sollte, und dort lebte Dick und half eifrig, bis das Heu eingebracht war.

Danach ging es ihm bald wieder so schlecht wie zuvor, und als er fast verhungert war, kauerte er sich an die Tür von Mr. Fitzwarren, einem reichen Kaufmann. Hier sah ihn die Köchin, eine bösartige Person, und da sie gerade damit beschäftigt war, für ihre Herrschaft



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das Mittagessen zu bereiten, rief sie dem armen Dick draußen zu: »Was willst du hier, du fauler Bengel? Dauernd nichts wie Bettelvolk! Wenn du nicht schnell machst, daß du hier wegkommst, wollen wir mal sehen, wie dir ein Guß Abwaschwasser schmeckt. Ich hab' genug davon, um dich wegzutreiben.«

In dem Augenblick aber kam Mr. Fitzwarren zum Mittagessen nach Hause, und als er einen schmutzigen Jungen in zerfetzten Kleidern vor der Tür liegen sah, fragte er ihn: »Warum liegst du hier, Junge? Mir scheint, du bist groß genug, um arbeiten zu können. Ich fürchte, du willst nur faulenzen?«

»O nein, mein Herr, wirklich nicht«, antwortete Dick, »so ist es nicht. Ich möchte herzlich gern arbeiten, aber ich finde niemanden, der mir Arbeit gibt, und ich glaube, ich bin nun sehr krank, weil ich fast verhungert bin.«

»Armer Junge, steh auf; ich will sehen, was ich für dich tun kann.« Dick versuchte aufzustehen, fiel aber wieder um, denn er war zu schwach, um stehen zu können. Hatte er doch seit drei Tagen keinerlei Nahrung mehr zu sich genommen. Er war ja nicht einmal mehr fähig gewesen, herumzulaufen und die Leute auf den Straßen um Pfennige anzubetteln. So ließ ihn der menschenfreundliche Kaufmann in sein Haus hineintragen, ließ ihm ein ordentliches Essen geben und ordnete an, daß er in der Küche mit Arbeit, die er erledigen könne, zu beschäftigen sei.

Klein Dick hätte bei diesen guten Menschen sehr glücklich leben können, wenn da nicht die böse Köchin gewesen wäre. Sie sagte immer wieder: »Du bist mir unterstellt, also höre gut zu: Putze den Bratspieß und die Bratpfanne, mache das Feuer an, wickle die Winde hoch, verrichte ganz schnell alle Küchenarbeit, sonst . . .«, und sie drohte ihm mit dem Kochlöffel. Sie mochte besonders gern Braten begießen, und wenn sie keinen Braten zum Begießen hatte, war sie so verärgert, daß sie Kopf und Schultern des armen Dick mit einem Besenstiel bearbeitete oder was ihr sonst gerade in die Hand kam. Einmal aber erfuhr das Alice, die Tochter von Mr. Fitzwarren, und sie erklärte der Köchin, es würde ihr gekündigt werden, wenn sie den Jungen nicht besser behandle.



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Nun nahm sich die Köchin etwas zusammen. Doch Dick war noch einer anderen Not ausgesetzt. Sein Bett stand in einer Dachkammer, die so viele Löcher im Fußboden und in den Wänden hatte, daß er jede Nacht von Ratten und Mäusen heimgesucht wurde.

Als Dick eines Tages von einem Herrn, dem er die Schuhe blankgeputzt hatte, einen Penny bekam, dachte er, dafür wolle er sich eine Katze kaufen. Am nächsten Tage sah er ein Mädchen mit einer Katze: »Willst du mir die Katze für einen Penny geben?«Das Mädchen sagte: »Ja, tu ich, Herr, und sie fängt großartig Mäuse.«

Dick versteckte nun seine Katze in der Dachkammer und dachte immer daran, ihr einen Teil seines Essens mit heraufzubringen. Und nach kurzer Zeit hatte er keine Störungen mehr durch Ratten oder Mäuse, sondern schlief jede Nacht fest und ungestört.

Kurz darauf sollte ein Segelschiff seines Herrn in See stechen, und da dieser wollte, daß alle seine Angestellten so gut wie er selbst eine Glückschance hatten, rief er sie alle in sein Kontor und fragte jeden, was er wohl mitschicken wollte.

Alle hatten sie etwas, um sich ein wenig zu beteiligen, außer dem armen Dick, der weder Geld noch Waren besaß, um sie mitschicken zu können. Darum trat er nicht einmal mit den Allerletzten in das Kontor. Aber Miß Alice vermutete den Grund und befahl, daß man auch ihn hereinrufe. »Ich will aus meiner eigenen Tasche etwas Geld für ihn auslegen«, sagte sie; aber ihr Vater erklärte: »Nein, das geht nicht, denn es muß etwas sein, was ihm selber gehört.« Daraufhin sagte der arme Dick: »Ich habe nur eine Katze, die ich vor einiger Zeit für einen Penny von einem kleinen Mädchen kaufte.«

»Dann hole deine Katze, mein Junge«, sagte Mr. Fitzwarren, »und schick sie mit!«

Dick lief hinauf, brachte die arme Pussy weinend herunter und übergab sie dem Kapitän. »Ach«, sagte er, »nun werde ich wieder jede Nacht von den Ratten und Mäusen geplagt werden.«Und alle Anwesenden lachten lauthals über Dicks komisches Verkaufsstück. Miß Alice aber, die Mitleid mit ihm hatte, gab ihm etwas Geld, damit er sich eine andere Katze kaufen konnte.

Diese und andere Zeichen von Güte, die ihm Miß Alice erwies,



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machten die böse Köchin auf den armen Dick eifersüchtig, und sie begann, ihn noch mehr zu qäulen als je zuvor, und ständig verspottete sie ihn, weil er seine Katze mit auf See gegeben hatte. Sie fragte: »Glaubst du vielleicht, deine Katze würde mehr wert sein als ein Stock, mit dem man dich durchprügeln kann?«

Zuletzt konnte der arme Dick diese Behandlung nicht länger aushalten. Er wollte davonlaufen, packte seine paar Sachen zusammen und verließ ganz früh am Morgen des ersten November, das war der Tag Allerheiligen, das Haus. Er lief bis nach Holioway. Dort setzte er sich auf einen Stein - er heißt noch heute »Whittingtons-Stein« —und überlegte, wohin er denn jetzt weitergehen könne.

Während er so grübelte, fingen die Glocken der Kirche von Bow, sechs waren es, zu läuten an, und sie schienen ihm zuzurufen:

»Kehr wieder um, Dick Whittington,
wirst dreifach Lord Mayor von London.«


***
»Bürgermeister von London!« sagte er sich. »Ach, sicher, ich würde ja alles dafür geben, um Erster Bürgermeister von London zu werden und als vornehmer Herr in einer prächtigen Kutsche zu fahren! Ja, ich will zurückgehen, und weder Schläge noch Schelte der alten Köchin sollen mich rühren, wenn dafür am Ende die Würde des Lord Mayors von London steht.«

Dick kehrte also wieder um und konnte glücklicherweise ins Haus und an seine Arbeit schlüpfen, bevor die alte Köchin ihn vermißt hatte.

Wir müssen nun aber Pussys Fahrt nach Afrika verfolgen. Das Schiff mit der Katze an Bord war lange Zeit unterwegs und wurde zuletzt durch widrige Winde an die Küste der Barbarei getrieben, wo es nur Mohren gibt, die den Engländern ganz fremd waren. Das Volk strömte ans Ufer, um die Segler, die eine so andere Hautfarbe als sie selbst hatten, zu sehen, und waren sehr freundlich zu ihnen. Als sie näher miteinander bekannt wurden, drängten sie sich, all das zu kaufen, was das Schiff geladen hatte.

Als der Kapitän das beobachtete, schickte er Proben der besten



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Dinge an den König des Reiches, der sich darüber so freute, daß er den Kapitän zu sich in den Palast einlud. Hier nahmen alle nach Landesbrauch auf Teppichen Platz, die reich mit Gold und Silber durchwebt waren. Der König und die Königin saßen am oberen Ende des Raumes, und viele reich mit Speisen gedeckte Tischchen wurden hereingetragen. Sie saßen noch nicht lange, als eine Unzahl Ratten und Mäuse hereinhuschten und in Windeseile alles auffraßen. Der Kapitän wunderte sich darüber und fragte, ob dieses Viehzeug nicht einfach ekelhaft sei.

»O sehr«, riefen sie aus, »sehr ekelhaft. Und unser König würde die Hälfte aller seiner Schätze dafür geben, wenn es vernichtet werden könnte. Denn es frißt ihm nicht nur alles Essen fort, wie ihr gesehen habt, sondern es dringt auch in sein Zimmer und in sein Bett ein, so daß er aus Angst vor dem Raubzeug wach bleiben muß, statt schlafen zu können.«

Da sprang der Kapitän vor Freude auf; denn ihm fiel der arme Whittington und seine Katze ein, und er erzählte dem König, er habe ein Tier an Bord des Schiffes, das mit diesem Ungeziefer im Nu fertig werden würde. Vor Entzücken über solche Nachricht sprang der König so hoch, daß ihm sein Turban vom Kopf herunterfiel. »Bring mir das Tier«, rief er aus. »Dieses Viehzeug hier am Hofe ist schrecklich, und wenn dein Tier das schafft, was du sagst, will ich dir dafür dein Schiff voller Gold und Juwelen laden lassen.«

Der geschäftstüchtige Kapitän nahm die Gelegenheit wahr, um Pussys Tüchtigkeit ins beste Licht zu setzen. Er erzählte Seiner Majestät: »Ich kann es eigentlich nicht verantworten, sie wegzugeben, denn Ratten und Mäuse werden dann von neuem alles Eßbare auf dem Schiff annagen und fressen. Doch um Euer Majestät gefällig zu sein, will ich mich von ihr trennen.«

»Holt sie, holt sie schnell«, bat die Königin, »ich kann es gar nicht erwarten, ein so liebes Tier kennenzulernen.«

Also ging der Kapitän auf sein Schiff, während ein neues Mahl vorbereitet wurde. Er nahm Pussy unter den Arm und kam gerade rechtzeitig zurück, als es auf der Tafel nur so von Ratten wimmelte. Als die Katze das sah, ließ sie sich nicht erst lange bitten, sondern



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war mit einem Satz vom Arm des Kapitäns herunter, und innerhalb weniger Minuten lagen alle Ratten und Mäuse tot zu ihren Füßen. Der Rest von ihnen hatte sich voller Furcht in ihre Löcher verkrochen.

Der König war entzückt, so schnell von dieser großen Plage befreit zu sein, und die Königin wollte ein so liebes Tier, das ihnen hier geholfen hatte, gern von nahem sehen. Deswegen rief der Kapitän: »Pussy, Pussy, Pussy!«Und sie kam zu ihm. Erhielt sie der Königin hin, die erst zurückfuhr, erschreckt von dem Gedanken, ein Wesen zu berühren, das ein solches Blutbad unter den Ratten und Mäusen gehalten hatte. Trotzdem, als der Kapitän die Katze streichelte und: »Pussy, Pussy« rief, faßte auch sie das Tier zaghaft an und rief: »Putty, Putty.« Sie hatte eben kein Englisch gelernt. Nun setzte er die Katze der Königin in den Schoß, wo sie schnurrte, mit der Hand der Königin spielte und dann wohlig schlief.

Nachdem der König die Heldentaten von Miß Pussy selbst gesehen und gehört hatte, daß später ihre Kätzchen das ganze Land rattenfrei machen würden, schloß er mit dem Kapitän ein Abkommen, in dem er für die Katze zehnmal soviel gab wie für alles übrige. Der Kapitän verabschiedete sich nun vom königlichen Hof, segelte mit gutem Wind gegen England und kam nach glücklicher Reise dort an.

Eines Morgens in der Frühe, als Mr. Fitzwarren gerade in sein Kontor gekommen war und sich an sein Pult gesetzt hatte, um die Kasse nachzurechnen und die täglichen Eingänge zu erledigen, hörte er, wie sich Schritte der Tür näherten. »Wer da?«fragte Mr. Fitzwarren. »Gut Freund«, antwortete eine Stimme, »ich bringe frohe Nachricht von Eurem Schiff Einhorn.« Der Kaufmann sprang in solcher Eile hoch, daß er völlig seine Gicht vergaß, und öffnete die Tür. Und wer stand davor? Der Kapitän und der Agent mit einer Kiste voller Edelsteine und mit dem Seefrachtschein. Als der Kaufmann das sah, machte er riesengroße Augen. Dann dankte er dem Himmel für eine so erfolgreiche Reise.

Sie erzählten nun die Geschichte der Katze und zeigten die Reichtümer, die König und Königin für den armen Dick geschickt hatten. Sobald der Kaufmann das hörte, rief er seine Diener:


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