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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Die Schöne und das Tier

Es lebte einmal ein ganz ungewöhnlich reicher Kaufmann. Er besaß drei Töchter, und weil er ein verständiger Mann war, ließ er es zu ihrer Erziehung an nichts fehlen und gab ihnen sehr gute Lehrer. Seine Töchter waren sehr schön. Besonders die jüngste Tochter wurde von allen Menschen über die Maßen bewundert und, solange sie klein war, stets nur »die Schöne« genannt. Dieser Name blieb ihr und rief die Eifersucht ihrer Schwestern hervor.

Die beiden ältesten Schwestern nun waren sehr stolz wegen ihres Reichtums. Sie spielten die vornehmen Damen, und weil sie sich nicht



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mit den andern Kaufmannstöchtern abgeben wollten, fehlte es ihnen an Leuten, die sie ihrer Gesellschaft für würdig erachteten. Tag für Tag gingen sie auf Bälle, ins Theater, auf Spaziergänge und spotteten über die Jüngste, die den größten Teil ihrer Zeit über Büchern zubrachte. Da man über den Reichtum dieser Mädchen genau Bescheid wußte, baten mehrere wohlhabende Kaufleute um ihre Hand, aber die beiden ältesten antworteten, daß sie nur einen Herzog oder zumindest einen Grafen heiraten wollten. Die Schöne dankte denen, die um sie anhielten, überaus freundlich, sagte ihnen aber, daß sie noch zu jung sei und lieber ihrem Vater noch einige Jahre Gesellschaft leisten wolle.

Mit einem Schlag verlor der Kaufmann sein gesamtes Vermögen. Es blieb ihm nur noch ein kleines Landhaus weit abseits der Stadt. Unter Tränen eröffnete er seinen Kindern, daß sie dieses Haus künftig bewohnen und sich mit schlichter Landarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen müßten. Die beiden ältesten Töchter erwiderten, sie wollten die Stadt nicht verlassen und hätten mehrere Verehrer, die glücklich wären, sie heiraten zu können, auch wenn sie kein Vermögen mehr hätten. Die Mädchen täuschten sich freilich; denn ihre Liebhaber schauten sie nicht mehr an, als sie arm waren. Da sie ihres Hochmuts wegen kein Mensch leiden mochte, wurde von ihnen gesagt: »Sie verdienen nicht, daß man sie bedauert, es geschieht ihnen nur recht, daß ihr Stolz gedemütigt worden ist. Mögen sie einsam die großen Damen spielen, wenn sie ihre Schafe hüten! Was aber die Schöne anlangt, so tut uns ihr Mißgeschick von Herzen leid, sie ist ein gutes und sanftes Mädchen.« Die arme Schöne war zunächst sehr bedrückt gewesen, als die Familie ihr Vermögen verlor, aber schon bald hatte sie sich gesagt: »Jammern und Weinen bringt verlorenes Geld nicht wieder, man muß versuchen, auch ohne Vermögen glücklich zu sein.«

Auf dem Lande begann der Kaufmann mit seinen drei Töchtern das neue Leben. Die Schöne stand um vier Uhr morgens auf, kehrte und putzte das Haus und bereitete dann das Frühstück für die Familie. Zu Anfang kam sie das sehr hart an, denn sie war die Magdarbeit nicht gewöhnt, aber schon nach zwei Monaten war sie kräftiger geworden, und die anstrengende Arbeit half ihr zu bester Gesundheit. Nach der Arbeit pflegte sie am Abend zu lesen, Klavier zu spielen oder beim Spinnen zu singen. Ihre Schwestern dagegen langweilten sich zu Tode, sie trauerten ihren schönen Kleidern nach, vermißten aufheiternde Gesellschaft und sagten: »Seht, unsre Jüngste hat eine niedrige Seele und ist so stumpfsinnig, daß sie sich mit unserer unseligen Lage befriedigt abfindet.«



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Der gute Kaufmann freilich bewunderte die Tüchtigkeit seiner Jüngsten und vor allem ihre Geduld; denn die Schwestern überließen ihr nicht nur die ganze Hausarbeit, sondern verspotteten und schmähten sie obendrein bei jeder Gelegenheit.

Ein volles Jahr lebte die Familie in ihrer Einsamkeit, als der Kaufmann eines Tages Nachricht erhielt, daß ein Schiff mit kostbaren Waren für ihn glücklich angekommen sei. Diese Nachricht verdrehte den beiden Ältesten völlig den Kopf, denn sie glaubten schon, nun werde das langweilige Landleben aufhören. Als sie ihren Vater reisefertig sahen, bestürmten sie ihn, schöne Kleider, Kopfputz und allen möglichen Tand mitzubringen.

Die Schöne bat ihn um gar nichts; denn sie erwog bei sich, daß all das für die Waren erlöste Geld nicht ausreichen würde, die Wünsche ihrer Schwestern zu befriedigen. »Du bittest mich nicht, auch dir etwas zu kaufen?«fragte sie der Vater. »Da Ihr so gut seid, an mich zu denken«, antwortete sie ihm, »so bitte ich Euch, mir eine Rose mitzubringen; denn es gibt hier keine, und ich vermisse sie sehr.«

Der gute Mann reiste ab, aber an Ort und Stelle mußte er um seine Waren einen Prozeß führen, und nach vieler Mühe und großem Verdruß kam er genauso arm zurück, wie er abgereist war.

Schon freute er sich darauf, seine Kinder wiederzusehen, aber als er noch kurz vor seinem Hause einen großen Wald durchqueren mußte, geriet er in die Irre. Es schneite nämlich stundenlang, ein heftiger Sturm wehte, der ihn zweimal vom Pferde riß, und als es Nacht wurde, glaubte er schon, vor Hunger und Kälte sterben zu müssen oder gar von den Wölfen gefressen zu werden, die er ringsum heulen hörte.

Plötzlich geriet er ans Ende einer langen Allee und bemerkte ein helles Licht, das aber noch weit entfernt zu sein schien. Er ging in dieser Richtung weiter und erkannte, daß das Licht von einem gewaltigen Schloß herkam, dessen sämtliche Fenster hell erleuchtet waren. Der Kaufmann dankte Gott für seine Hilfe und trat in das Schloß ein; aber wie groß war seine Überraschung, als er darin keinen Menschen fand! Das Pferd, das er hinter sich herzog, sah einen großen Stall offenstehen, trappte hinein und fand eine Menge Heu und Hafer. Das arme, ausgehungerte Tier stürzte sich darauf. Der Kaufmann band es fest und wandte sich zum Hause, wo er gleichfalls keinen Menschen antraf; im Saal aber flackerte ein warmes Feuer, und eine speisenbeladene Tafel, auf der nur ein einziges Besteck lag, lud zum Essen ein.

Da ihn Schnee und Regen bis auf die Haut durchnäßt hatten, setzte er sich an den Kamin und wartete eine geraume Zeit, daß der Herr des



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Hauses oder ein Diener eintreten würde; als es aber elf Uhr schlug, ohne daß er jemand erblickt hatte, konnte er seinen Hunger nicht mehr bändigen und nahm ein Hähnchen, das er rasch und unter Zittern verzehrte. Er trank einige Schluck Wein dazu und verließ, kühner geworden, den Saal. Er durchschritt mehrere große und prächtig eingerichtete Räume. Schließlich fand er ein Zimmer, in dem ein Bett gerichtet war, und weil Mitternacht vorüber und er selbst sehr müde war, sperrte er die Tür ab und legte sich zur Ruhe. Es war bereits zehn Uhr morgens, als er sich am folgenden Tag erhob, und er war nicht wenig erstaunt, als er ein sehr kostbares Gewand anstelle des seinigen vorfand, das vom Unwetter völlig verdorben worden war. >Gewiß<, sagte er sich, >gehört dieses Schloß irgendeiner guten Fee, die Mitleid mit meiner Lage hatte.< Er schaute durchs Fenster und sah keinen Schnee mehr, sondern grüne Lauben und Blumengewinde, die sein Auge entzückten. Er trat wieder in den großen Sah, wo er am Abend gespeist hatte, und bemerkte einen kleinen Tisch, auf dem herrlich duftende Schokolade dampfte. »Ich danke Euch, Frau Fee«, sagte er ganz laut, »daß Ihr so gütig seid, an mein Frühstück zu denken.« Der gute Mann trank seine Schokolade und ging dann, sein Pferd zu holen. Als er an einem schönen Rosenbeet vorüberging, fiel ihm ein, daß ihn die Schöne um eine Rose gebeten hatte; er brach also einen Zweig mit mehreren Blüten ab. Im selben Augenblick hörte er ein heftiges Geräusch und sah ein furchtbares Ungeheuer auf sich zukommen, dessen abschreckender Anblick ihn fast ohnmächtig werden ließ.

»Ihr seid sehr undankbar!«redete ihn das Ungeheuer mit furchtbarer Stimme an; »ich habe Euch das Leben gerettet, indem ich Euch in meinem Schloß Unterkunft gewährte, und zum Dank dafür stehlt Ihr mir meine Rosen. Ein solches Vergehen kann nur durch den Tod gesühnt werden; ich gebe Euch eine Viertelstunde Zeit, Eure Rechnung mit Gott abzuschließen.«

Der Kaufmann warf sich auf die Knie und beschwor das Tier mit gefalteten Händen: »Gnädiger Herr, verzeiht mir, es war nicht meine Absicht, Euch zu beleidigen, als ich eine Rose für eine meiner Töchter pflückte, die mich herzlich um eine solche gebeten hat!«

»Ich will Euch verzeihen«, versetzte darauf das Ungeheuer, »doch nur unter der Bedingung, daß eine Eurer Töchter freiwillig hierher zu mir kommt, um an Eurer Stelle zu sterben. Erhebt keine Einwendungen, geht, und wenn Eure Töchter sich weigern, für ihren Vater den Tod zu erleiden, so schwört mir, daß Ihr in drei Monaten selber zurückkommen werdet!«



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Der gute Mann wollte keineswegs eine seiner Töchter diesem gräßlichen Untier opfern, aber er dachte, wenigstens würde ihm auf diese Weise das Glück zuteil, sie noch einmal zu umarmen. Er leistete also den Schwur, daß er wiederkommen werde, und das Tier erlaubte ihm, abzureisen, wann er wolle. »Aber«, fügte es hinzu, »ich will nicht, daß Ihr mit leeren Händen geht. In dem Zimmer, in dem Ihr geschlafen habt, findet Ihr einen großen Koffer; Ihr dürft hineintun, was Euch gefällt; ich werde ihn in Euer Haus bringen lassen.« Mit diesen Worten zog sich das Ungeheuer zurück, und der gute Mann sagte zu sich: >Wenn ich also sterben muß, so werde ich wenigstens meinen armen Kindern etwas hinterlassen, wovon sie leben können.<

Er füllte also den Koffer mit Goldstücken und verschloß ihn, dann holte er sein Pferd aus dem Stall und verließ das Schloß geradeso traurig, wie er es freudig betreten hatte. Das Pferd schlug von selbst einen der Waldwege ein, und nach wenigen Stunden langte der gute Mann in seinem ärmlichen Hause an.

Seine Töchter umringten ihn freudig, aber statt sich ihrer Liebkosungen zu freuen, weinte der Vater bei ihrem Anblick. Er hielt die Rosen, die er seiner Tochter hatte mitbringen wollen, in der Hand, gab sie der Schönen und sagte: »Nimm diese Rosen, meine Schöne, sie kommen deinem unglücklichen Vater sehr teuer zu stehen!« Dann erzählte er ihnen von dem unheilvollen Abenteuer, das ihm zugestoßen war. Bei dieser Erzählung stießen die zwei älteren Schwestern laute Schreie aus, und weil die Schöne nicht weinte, schmähten sie diese: »Da seht, wie stolz diese kleine Kreatur ist! Durch ihren unseligen Wunsch verschuldet sie den Tod ihres Vaters und weint nun nicht einmal darüber!« »Warum sollte ich den Tod meines Vaters beweinen?« sagte darauf die Schöne. »Er wird nicht sterben, denn da das Ungeheuer eine seiner Töchter als Ersatz nehmen will, so werde ich mich seiner Wut überliefern, und ich bin sehr glücklich, daß ich meinem Vater auf diese Weise meine Liebe beweisen kann.«

Trotz des Einspruchs des Vaters, daß er älter sei und eher mit dem Leben abschließen könne, bestand sie auf ihrem Opfer. Der Vater machte sich also mit ihr auf den Weg zum Waldschloß, und die beiden bösen Mädchen neben sich die Augen mit Zwiebeln ein, um einige Tränen beim Abschied ihrer Schwester vergießen zu können.

Gegen Abend sahen Vater und Tochter das Schloß vor sich, erleuchtet wie das erste Mal. Das Pferd wurde im Stall untergebracht, und der gute Mann trat mit seiner Tochter in den großen Saal, wo sie eine prächtig gedeckte Tafel, diesmal mit zwei Bestecken vorfanden. Der Kaufmann



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verspürte keinerlei Lust zu essen, aber die Schöne bemühte sich, ruhig zu erscheinen; sie setzte sich zu Tisch und legte ihm mit Sorgfalt vor. Nach dem Essen hörten sie einen furchtbaren Lärm, und der Kaufmann verabschiedete sich unter Tränen von seiner Tochter, da er glaubte, das Ungeheuer komme, um sie zu fressen.

Auch die Schöne konnte sich eines Schauders nicht erwehren, als sie die schreckliche Gestalt erblickte, aber sie nahm sich zusammen, so gut sie konnte. Als das Untier sie fragte, ob sie freiwillig gekommen sei, sagte sie bebend: »Ja!«

»Ihr seid sehr gut«, sagte darauf das Tier, »und ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet. Guter Mann, reist morgen ab und laßt es Euch nicht einfallen, je wiederzukommen! Gott behüte dich, Schöne!« »Gott behüte dich, Tier!«erwiderte sie, und alsbald zog sich das Ungeheuer zurück.

»Oh meine Tochter!« sagte der Kaufmann, indem er die Schöne umarmte, »ich bin halbtot vor Angst, glaub es mir. Laß mich hierbleiben!«

»Nein, Vater«, sagte die Schöne zu ihm, »Ihr reist morgen früh ab und überlaßt mich der Gnade des Himmels. Vielleicht hat er Erbarmen mit mir.

Als der Vater abgereist war, setzte sich die Schöne in den großen Saal und fing an zu weinen; aber da sie sehr mutig war, empfahl sie sich Gott und beschloß, das bißchen Leben, das ihr nun noch geschenkt war, nicht zu vertrauern, denn sie war fest davon überzeugt, daß das Ungeheuer sie noch am Abend fressen werde. Sie beschloß, zuvor noch das schöne Schloß zu besichtigen. Sie konnte es nicht lassen, dessen Pracht zu bewundern, und war sehr überrascht, als sie auf eine Tür traf, über der die Worte zu lesen waren: Wohnung der Schönen. Sie öffnete rasch die Tür und war geblendet von dem Prunk, der darin herrschte. Was ihr aber am meisten in die Augen fiel, waren ein Bücherschrank und ein Klavier mit Noten. >Wenn ich heute abend gefressen werden sollte<, überlegt sie, >so würde man mich wohl sicher nicht so gut versorgt haben . . .<»Ach«, seufzte sie dann, »ich möchte nur meinen armen Vater wiedersehen und wissen, wie es ihm ergeht.«

Wie groß aber war ihr Erstaunen, als ihre Augen auf einen großen Spiegel fielen, in dem sie ihr Haus erblickte, wo ihr Vater gerade mit sehr bekümmerter Miene ankam. Ihre Schwestern kamen heraus, und trotz der Grimassen, die sie schnitten, um betrübt zu erscheinen, konnte man ihnen die Freude über den Verlust der Schwester deutlich anmerken. Einen Augenblick später verschwand alles, und die Schöne dachte, daß



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das Tier ihr sehr zugetan sein müsse und daß sie von ihm wohl nichts zu fürchten habe.

Am nächsten Mittag fand sie die Tafel gedeckt und vernahm, ohne jemanden zu sehen, herrliche Musik. Abends, als sie sich zu Tisch setzte, hörte sie wieder das Geräusch, das das Ungeheuer verursachte, und fing nun doch an zu zittern.

»Schöne«, sagte das Tier zu ihr, »erlaubt Ihr, daß ich Euch beim Essen zuschaue?«

»Ihr seid hier der Herr!« erwiderte die Schöne voll Schaudern und Beben.

»Nein«, sagte das Tier, »nur Ihr seid Herrin, Ihr braucht nur zu wünschen, daß ich gehe, wenn ich Euch lästig bin, und sogleich werde ich Euch verlassen . . . Sagt mir doch, findet Ihr mich nicht sehr häßlich?« »Das ist wahr«, antwortete die Schöne, »denn ich mag nicht lügen; aber ich glaube, daß Ihr sehr gut sein müßt.«

Die Schöne aß mit gutem Appetit; sie fürchtete das Tier jetzt kaum noch. Aber fast wäre sie vor Schrecken gestorben, als es plötzlich zu ihr sagte:

»Schöne, wollt Ihr nicht meine Frau werden?«

Sie blieb einige Zeit stumm, denn sie fürchtete, den Zorn des Untiers zu erwecken, wenn sie es ihm abschlug; dann sagte sie zitternd: »Nein, Tier!«

Hierüber wollte das arme Ungeheuer nun anfangen zu seufzen, doch es ließ dabei ein schreckliches Zischen hören. Aber die Schöne war bereits wieder beruhigt, als das Tier betrübt zu ihr sprach:

»Also behüt dich Gott, Schöne!« Und das Tier verließ das Gemach. Dabei wendete es sich von Zeit zu Zeit um.

Als die Schöne wieder allein war, empfand sie großes Mitleid mit dem Tier: »Ach!« sagte sie, »es ist wirklich schade, daß es so häßlich ist, tatsächlich ist es so gut!«

Die Schöne lebte drei Monate in aller Ruhe im Schloß. Jeden Abend stattete ihr das Ungeheuer einen Besuch ab und unterhielt sie während des Essens mit gesundem Verstand, und jeden Tag entdeckte die Schöne das Lichte und Gute an ihm neu. Die Gewohnheit, es zu sehen, hatte sie mit seiner Häßlichkeit vertraut gemacht. Jetzt fürchtete sie auch die Stunde seines Besuches nicht mehr, nein, sie schaute oft nach der Uhr, um zu sehen, ob es noch nicht bald neun sei. Nur ein Umstand quälte die Schöne: daß das Untier sie jedesmal vor dem Schlafengehen fragte, ob sie nicht seine Frau werden wolle, und jedesmal tieftraurig war, wenn sie ihr Nein wiederholte.



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Eines Tages sagte sie: »Du tust mir leid, Tier, ich möchte wohl, ich könnte dich heiraten, aber ich bin zu aufrichtig, und deshalb darf ich dich nicht hoffen lassen, daß dies jemals der Fall sein könnte.« Die Schöne hatte in ihrem Spiegel gesehen, daß ihr Vater vor Kummer über ihren Verlust erkrankt war, und sie wünschte sehnlich, ihn wiederzusehen.

»Ich würde dir gern versprechen«, sagte sie deshalb zu dem Ungeheuer, »dich nie gänzlich zu verlassen; aber ich habe so große Sehnsucht, meinen Vater wiederzusehen. Oder soll ich vor Schmerz sterben, wenn du mir diese Gunst verweigern solltest?«

»Ich will lieber selbst sterben«, antwortete das Untier, »als Euch kummer bereiten. Ich werde Euch zu Eurem Vater schicken, Ihr könnt dort bleiben, und Euer armes Tier wird vor Sehnsucht sterben!«

»Nein«, sagte darauf die Schöne weinend, »ich habe dich zu lieb; ich verspreche dir, in acht Tagen zurückzukommen. Du hast mich wissen lassen, daß meine Schwestern sich verheiratet haben und daß mein Vater jetzt ganz allein steht; erlaube mir bitte, ihm eine Woche Gesellschaft zu leisten!«

»Morgen führ werdet Ihr bei ihm sein, aber gedenkt Eures Versprechens! Ihr braucht nur Euren Ring beim Schlafengehen auf den Tisch zu legen, wenn Ihr heimkommen wollt. Behüte Euch Gott, Schöne!«

Das Untier seufzte wie gewöhnlich bei diesen Worten, und die Schöne legte sich zu Bett, betrübt darüber, ihr liebes Tier so in Sorgen zu sehen.

Als sie am andern Morgen aufwachte, befand sie sich im Hause ihres Vaters und läutete eine Glocke, die neben ihrem Bette stand. Sogleich kam eine Magd, die bei ihrem Anblick einen lauten Schrei ausstieß. Im Nebenzimmer befand sich ein Koffer voll goldgestickter Kleider, die das Ungeheuer geschickt hatte.

Auf die Nachricht von der Heimkehr der Schönen erschienen die Schwestern mit ihren Gatten zu Besuch; beide waren sehr unglücklich verheiratet, und ihre Eifersucht auf die Jüngste, die sie um ihre Kleider sehr beneideten, erwachte von neuem und steigerte sich noch, als sie hörten, wie gut es ihr gehe.

»Schwester«, sagte die Älteste zur Zweiten, »mir kommt ein Gedanke. Versuchen wir doch, sie länger als acht Tage hier bei uns zu behalten; ihr dummes Tier wird darüber ergrimmt sein, daß sie ihr Wort bricht, und wird sie vielleicht fressen.«

»Du hast recht, Schwester!« entgegnete die andere, »laß uns sie umschmeicheln, damit sie länger hierbleibt.«



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Als sie sich in diesem Sinne geeinigt hatten, traten sie wieder zur Schönen und erwiesen ihr eine solche Fülle falscher Liebesdienste, daß die Schwester vor Freude in Tränen ausbrach. Als die acht Tage verstrichen waren, rauften sich die Schwestern die Haare und jammerten mit so viel Heuchelei über ihre Abreise, daß sie ihnen versprach, noch für acht Tage zu bleiben.

Indessen stellte sich die Schöne doch auch den Kummer vor Augen, den ihr Ausbleiben ihrem armen Tier bereiten würde, das sie so von Herzen liebte, und sie sehnte sich danach, es recht bald wiederzusehen.

In der zehnten Nacht, die sie bei ihrem Vater verbrachte, träumte ihr, sie befinde sich im Garten des Palastes und erblicke das Tier halbtot im Grase liegen. Die Schöne erwachte plötzlich und vergoß heiße Tränen. »Bin ich nicht sehr schlecht«, sagte sie, »das Tier zu betrüben, das mir stets so gefällig gewesen ist? Auf, ich will es nicht unglücklich machen.« Bei diesen Worten erhob sich die Schöne, legte den Ring auf den Tisch und ging dann wieder schlafen.

Kaum war sie in ihrem Bett, als sie einschlummerte, und als sie am andern Morgen erwachte, sah sie mit Freuden, daß sie wieder im Palast des Tieres war. Sie kleidete sich prächtig, um ihm zu gefallen, und sehnte sich den ganzen Tag über fast zu Tode, während sie auf die neunte Stunde wartete. Aber umsonst schlug die Uhr, das Tier zeigte sich nicht. Die Schöne fürchtete schon, seinen Tod auf dem Gewissen zu haben, lief durch das ganze Schloß und schrie laut, sie war völlig verzweifelt.

Nachdem sie überall vergeblich gesucht hatte, erinnerte sie sich an ihren Traum daheim, eilte in den Garten und fand dort das arme Tier besinnungslos ausgestreckt, so daß sie schon glaubte, es sei tot. Sie warf sich auf die liegende Gestalt, ohne vor der Häßlichkeit des Tieres zu erschrecken, und fühlte, daß sein Herz noch schlug; sie schöpfte Wasser aus dem Brunnen und goß es ihm über den Kopf.

Das Tier öffnete die Augen und sagte zur Schönen: »Ihr hattet Euer Versprechen vergessen, und der Gram, Euch verloren zu haben, hat in mir den Entschluß geweckt, Hungers zu sterben. Aber ich sterbe beruhigt, da mir das Glück beschieden ist, Euch noch einmal zu sehen.« »Nein, mein teures Tier«, sagte darauf die Schöne, »du darfst nicht sterben, du sollst leben, um mein Mann zu werden; ich gebe dir meine Hand und schwöre, daß ich nur dir allein angehören will!«

Kaum hatte die Schöne diese Worte gesprochen, als sie das Schloß in hellstem Lichte aufstrahlen sah. Ein leuchtendes Feuerwerk stieg auf, und Musik ertönte; alles schien auf ein Fest hinzudeuten. Aber all diese



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Pracht vermochte sie nicht zu fesseln: sie wandte sich zu ihrem teuern Tier, dessen seltsames Schweigen ihr jetzt Angst einjagte. Aber wie groß war nun ihre Überraschung! Das Tier war verschwunden - und sie sah zu ihren Füßen einen Prinzen von vollendeter Schönheit. Und nun enthüllte der Prinz das Geheimnis:

»Eine böse Fee hat mich dazu verflucht, so lange in Tiergestalt zu verharren, bis eine schöne Jungfrau einwillige, mich zum Mann zu nehmen. Ihr wart der einzige Mensch auf der Welt, der sich von meiner Güte rühren ließ, und ich erfülle nur eine Dankespflicht, wenn ich Euch meine Krone anbiete.«

Sie begaben sich eilends in das Reich des Prinzen, dessen Untertanen ihn mit Freuden heimkehren sahen, und er heiratete die Schöne, die nun lange Jahre mit ihm lebte. Ihr Glück war vollkommen, denn es war auf der Tugend errichtet.


Copyright: arpa, 2015.

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