Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz
Märchen europäischer Völker
Vom kleinen Mann Sapperlot
Es war einmal ein kleiner, bescheidener Mann. Er hatte eine kleine Frau, und die beiden lebten in großer Not. An manchen Tagen hatten sie so gut wie gar nichts zu essen. Sie wohnten in einer armseligen, halb verfallenen Hütte, in der es nicht einmal richtige Fenster gab und deswegen selbst am hellen Mittag ganz dunkel war.
Eines Tages, als sie im Walde Reisig sammelten, fanden sie in der Nähe einer Hecke eine Erbse. Sie staunten und freuten sich; denn es war eine sehr schöne und mächtig dicke Erbse, wie sie dergleichen noch nie zuvor gesehen hatten.
»Das muß eine ganz besondere, seltene Sorte sein«, sagte die Frau. »Sie ist dick und prächtig. Jammerschade wäre es doch, sie umkommen zu lassen. Was meinst du wohl, wenn wir sie in unsern Garten pflanzten? Ich glaube, sie wird uns Glück bringen.«
Nachdem sie zwei Reisigbündel gesammelt hatten, gingen sie wieder nach Hause. Sie gruben an der schönsten Stelle ihres Gartens ein Loch. Der Mann tat eine ordentliche Schaufel Dung hinein und steckte die Erbse in die Erde.
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Aufs höchste verwundert war er, als er am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang in den Garten trat und sah, daß die Erbse schon aufgegangen war und ihr Stengel bereits die Höhe seiner Nase erreichte. Sogleich setzte er ihr eine Stange, damit sie weiterklettern könnte, und am übernächsten Tag hatte die Erbse die Stange schon weit überholt. Er mußte eine weitere Stange hinzufügen.
Tag für Tag erwies es sich als notwendig, eine neue Stange am Ende der anderen anzusetzen. Es war auf die Dauer gar nicht so einfach, das könnt ihr euch denken. Die Stangen waren zwar leicht zu finden, aber der Mann begann trotzdem unruhig zu werden und fragte sich, wo das wohl noch hinausgehen solle.
Eines Morgens nun, als er wieder hinaufgestiegen war, um eine Stange am Ende der vorigen zu befestigen, erkannte er, daß er hoch droben am Himmel an der Eingangspforte zum Paradies angelangt war. Er war ganz glücklich darüber, denn nun mußte seine Erbse also aufhören zu wachsen. Rasch stieg er von Blatt zu Blatt wieder nach unten und brachte seiner Frau die erstaunliche Nachricht.
»Oh!« rief da die Frau. »Was bist du doch für ein armseliger Narr! Du bist bis oben hinauf an die Tür zum lieben Gott gekommen, und du hast ihn nicht einmal darum gebeten, uns ein bißchen aus unserem Unglück herauszuhelfen? Guck dir doch diese Hütte an! Nie dringt hier ein Strahl Sonne herein. Wenn wir doch wenigstens ein ordentliches Häuschen hätten. Alles übrige möchte sich ja ertragen lassen . .
»Red' nicht soviel, meine gute Frau! Es freut mich nicht, aber ich will sofort wieder hinaufsteigen und deinen Wunsch ausrichten.«
Beim folgenden Morgenrot ging der arme Tropf in den Garten hinaus, stieg wieder von Blatt zu Blatt an der Erbse empor und gelangte schließlich zum Paradies.
Dort klopfte er an die Tür: »Poch, poch, poch!«
»Wer ist draußen?«
»Ich bin's nur, Herr, der arme kleine Sapperlot.«
»Und was wünscht er denn, der kleine Herr Sapperlot?«
»Oh, liebster gnädiger Herr, wir leiden so große Not und sind sehr unglücklich, meine arme Frau und ich. Selbst die Schweine sind besser untergebracht als wir. Wenn wir doch nur ein Häuschen hätten wie die andern Leute, dann wollten wir wohl sehr glücklich sein.«
»Geh, mein kleiner Sapperlot, ich will dir gern gefällig sein! Du wünschest dir ein hübsches Häuschen? Du sollst es haben.«
Als der Mann wieder unten ankam, machte er kugelrunde Augen, denn die traurige Hütte hatte sich in ein wunderschönes Haus verwandelt,
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dessen frisch gekalkte Wände in der Sonne leuchteten. Der Mann und die Frau freuten sich von Herzen.
Doch nach einigen Tagen wurde die Frau nachdenklich und schweigsam, und als sie eines Abends alle beide am Platz hinterm Ofen hockten, meinte die Frau:
»Es stimmt wohl, wir haben ein wirklich schönes Haus, aber jetzt sieht man auch erst richtig, wie erbärmlich unsere Möbel sind. Ich an deiner Stelle würde versuchen, etwas Besseres zu erlangen. Wenn du noch einmal hinaufsteigen und es richtig anfangen würdest, vielleicht ließe der liebe Gott mit sich reden . .
Der arme Mann sagte kein Wort, aber am Tag darauf ging er in den Garten hinaus und kletterte von Blatt zu Blatt die Erbse hinauf zum Paradies.
»Poch, poch, poch!«
»Wer ist da?«
»Ich bin's, liebster Herr, Ihr kennt mich wohl noch: der kleine Sapperlot...«
»O schön, was willst du denn wieder?«
»Ich komme, um Euch für das schöne Haus herzlich zu danken, das Ihr uns geschenkt habt. Aber unsere Möbel, die darin stehen, brechen fast ganz auseinander, so verfallen sind sie. Könntet Ihr uns wohl vielleicht andre geben?«
»Geh, kleiner Mann Sapperlot! Ich sehe keinen Grund, deine Bitte abzulehnen. Du sollst die Möbel haben.«
Ganz schnell stieg der kleine Mann hinunter. Und als er in das Haus eintrat, entdeckte er zwei prächtige Betten, zwei frisch gezimmerte Tische, auch Stühle dazu, und zwei herrliche Spiegel an der Wand vor einem funkelnden Waschtisch.
Die Frau war ganz begeistert: jetzt hatte sie ein schönes Haus und schöne Möbel darin. Aber es blieb trotz allem noch etwas, das sie ziemlich verdroß: daß sie nämlich mit ihrem Mann in ihrem Alter immer noch hart arbeiten mußte, um leben zu können, genau wie sie das auch früher getan hatten. Diese Überlegung behielt sie freilich für sich, solange sie konnte; aber eines schönen Abends konnte sie doch nicht mehr schweigen:
»Es ist ja im Grunde nichts einzuwenden. Es geht uns wirklich besser als früher, aber was hilft uns das schon? Wozu ein so schönes Haus, wenn wir darin schließlich noch des Hungers werden sterben müssen? Du könntest eigentlich den lieben Gott bitten, daß er uns einigen Vorrat an Weizen und Korn bewilligt!«
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»Es verdrießt mich wirklich sehr«, antwortete der Mann, »ihn schon wieder zu stören, ihn abermals zu belästigen, nachdem er sich so großmütig gezeigt hat. «
»Du bist mir ein rechter Dummkopf! Geh nur, du weißt doch: wer um nichts bittet, bekommt auch nichts.«
Am andern Morgen kletterte unser kleiner Sapperlot schnaubend die Erbse empor bis an die Tür zum Paradies.
»Poch, poch, poch!«
»Was ist?«
»Ich bin's, der kleine Sapperlot.«
»Was steht denn nun wieder zu Diensten?«
»Herr, wir sind zu alt, um noch länger auf Tagesarbeit zu gehen. Wenn Ihr kein Mitleid mit uns habt, werden wir in dem schönen Haus, das Ihr uns geschenkt habt, wohl bald des Hungers sterben müssen. Ich wäre Euch dankbar und sehr beruhigt, wenn ich meinen Speicher voller Getreide wüßte.«
»Geh, kleiner Sapperlot, ich will dir nichts verweigern. Dein Speicher wird voller Getreide sein, so daß ihr nie mehr Hunger leiden müßt.« Kaum auf die Erde zurückgekommen, lief er zum Speicher und rief seiner Frau zu:
»Komm her und schau! Komm doch bloß und sieh dir das an! Ich glaube wirklich, ich hab' meine Zeit nicht unnütz vertan!« Sie wurden für eine gute Weile sehr glücklich, aber eines Abends fing die Frau von neuem an, sich zu beklagen:
»Man kann ja bestimmt nicht sagen, daß es uns an Brot fehlte, aber immerzu trockenes Brot, das wird man schließlich doch leid. Meinst du nicht auch? Wenn du ein richtiger Mann wärst, dann stiegst du nochmals nach oben und bätest den lieben Gott, daß er dir ein schönes Pökelfaß mit fettem Schweinefleisch gibt!«
Der kleine Sapperlot wollte nicht wieder hinaufsteigen, aber seine Frau lag ihm die ganze Nacht hindurch derart in den Ohren, daß er am andern Morgen wieder auf die Erbse stieg und sich dabei ganz leise über die Frauen beklagte, die nie zufrieden sind.
»Poch, poch, poch!«
»Was gibt's?«
»Ich bin's nur, der kleine Sapperlot.«
»Was willst du noch?«
»Lieber Herr, es handelt sich um meine Frau, die sich nicht daran gewöhnen kann, ständig trockenes Brot zu essen. Wenn wir noch ein bißchen Speck dazu hätten, wären wir vollkommen glücklich.«
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»Geh, kleiner Sapperlot, diesen Dienst will ich dir gern noch erweisen. Dein Pökelfaß wird immer voll Fleisch und Speck sein.«
Er bedankte sich sehr, stieg wieder hinunter, lief zum Pökelfaß und fand es angefüllt mit vortrefflichem Schweinefleisch.
»Wir brauchen uns wirklich nicht zu beklagen«, sagte die Frau, »wir haben jetzt mehr Fleisch, als wir essen können. Wenn wir die Nachbarn mal einlüden, mit uns zu speisen, das wäre wohl ein rechtes Vergnügen.«
Und so wurde es gemacht.
Als aber die Nachbarn wieder gegangen waren, sagte die Frau zu ihrem Mann:
»Es ist doch immer dasselbe. Bloßes Wasser erwärmt den Magen nicht recht. Hast du die Gesichter gesehen, die sie schnitten? Wir werden sie nicht mehr einladen können, wenn wir ihnen nicht wenigstens einen einfachen Wein anbieten können. Und wenn du wieder mal hinaufsteigst, könntest du den lieben Gott leicht um Wein bitten. Ihn kostet es ja nichts, ein kleines Wunder zu tun . .
Der kleine Sapperlot, der einen guten Trunk nie verachtete, ließ sich nicht lange bitten und kletterte wieder vors Paradies.
»Poch, poch, poch!«
»Was ist?«
»Ich bin's, der kleine Sapperlot.«
»Was wünschest du denn noch?«
»Ihr werdet sagen, daß ich üppig werde, aber meine Frau sagt, daß sie an Schwächeanfällen leidet und daß sie sich nicht recht stärken kann ohne ein bißchen Wein.«
»Es ist gut, geh wieder nach Haus, dein Keller wird nun stets ein Fäßchen Wein bereithalten.«
Als er das hörte, wurde der kleine Mann recht von Herzen froh. Beim Hinuntersteigen fing er bereits an zu singen wie eine Nachtigall. Bis zum Jahresende ließ seine Frau ihn in Ruhe. Doch als sie dann bei der Christmette schöne Damen traf, die seidene Kleider und kostbare Hüte trugen, fing sie an, diese zu beneiden. Am Abend saß sie ganz traurig da.
»Was gibt's wieder?«fragte der Mann.
»Ach, weißt du, es lohnt nicht die Mühe, in einem hübschen Hause zu wohnen, wenn man in geflickten Kleidern herumläuft, über die alle Welt spottet und sich lustig macht. Du solltest uns vom lieben Gott schöne Kleider erbitten und ein paar Dienstboten dazu, sie instand zu halten. Sollte er's ablehnen, kannst du ja einfach zurückkommen. Eine
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abschlägige Antwort bringt schließlich niemanden um. Man kann's doch wenigstens versuchen.«
Schon seht ihr den armen Mann wieder von Blatt zu Blatt zum Paradies hinaufsteigen.
»Poch, poch, poch!«
»Was ist?«
»Ich bin's, der kleine Sapperlot.«
»Wirst du denn nie aufhören zu bitten? Was fehlt dir nun noch?« »Mein liebster Herr, es ist nicht meine Schuld, nur meine arme gute Frau ärgert sich und gerät in Zorn, weil sie sieht, daß andere Frauen besser gekleidet sind als sie. Sie möchte ein Seidenkleid, einen passenden Hut und Dienstboten, die ihr die Kleidung instand halten. Um zu vermeiden, daß ich noch einmal zu Euch heraufsteigen muß, könntet Ihr uns vielleicht auch gleich in den Adelsstand erheben. Wäre das wohl möglich? Dann hätte sie nichts mehr zu wünschen und ließe Euch und auch mich selber künftig in Ruhe.«
»Wenn's sonst an nichts fehlt, um dein Glück zu vollenden, kann ich das wohl noch tun. Geh nur heim, du wirst künftig Marquis de la Sapperlotterie heißen!«
Wie der Blitz sauste der neue Graf den Erbsenstengel hinab, um seiner Frau die gute Nachricht zu bringen. Sie ließ ihn nun auch geraume Zeit in Ruhe. Aber schließlich fing sie wieder an zu klagen und zu jammern:
»Wenn ich es recht bedenke, was wir einst waren und was wir jetzt sind, so läßt sich nicht leugnen, daß es allerlei Fortschritte gegeben hat. Aber wenn man ein bißchen ernsthaften Willen und einen rechten Ehrgeiz entwickelt, sollte man doch dabei nicht stehenbleiben. Ich weiß schon, du wirst wieder brummen, aber einmal mußt du schon noch da hinaufsteigen. Du sollst den Wunsch vortragen, selber der liebe Gott zu werden und ich die Jungfrau Maria.«
»Nie werde ich wagen, so etwas zu erbitten. Du weißt genau, daß ich stets redlich versuche, dir gefällig zu sein und dir Freude zu machen, aber was soll denn der Herr bloß von mir denken!? Nein, du bist verrückt!«
»Was willst du denn? Der liebe Gott wird alt, er wird nichts lieber tun, als dir seinen Platz abzutreten . . .
Kurz und gut, durch viel Schmollen und Schmeicheln gelingt es ihr am Ende, den Gatten zu erweichen. Nie ist ihm der Aufstieg so schwergefallen. Trotzdem gelangt er schließlich stöhnend an die Paradiestür. »Poch, poch, poch!«
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»Wer ist da?«
»Ich bin's, der Marquis de la Sapperlotterie.«
Als der Herr das hörte, mußte er recht von Herzen lachen. »Dein Titel Marquis ist nur für die andern, mußt du wissen, für mich bist du nach wie vor der kleine Sapperlot. Du hast alles, was du dir wünschen konntest. Was kann dir denn nun noch fehlen?« »Herr«, antwortete der arme Mann, »es ist immer nur meine Frau, sie möchte noch ein ganz klein wenig dazu: sie möchte, daß ich der liebe Gott bin und sie selber die Jungfrau Maria.«
Da grollte die Stimme:
»So vergiltst du mir alles, was ich für dich getan habe? Undankbarkeit liebe ich nicht, verstehst du? Geh, kleiner Sapperlot, da ihr doch nie zufrieden seid, wirst du ein alter Uhu werden und deine Frau eine Nachteule.« Und so geschah es.
Die beiden schämten sich derart über diese Verwandlung, daß sie seither ihre Tage in düsteren Baumhöhlen zubringen.
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