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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

In seiner »Reise nach Frankreich« schrieb Friedrich Schlegel im Jahre 1803: »Eine Eigenschaft des französischen Charakters ist unstreitig die heitere Laune. Sie muß einem Fremden auf einer Reise in den Provinzen, durch größtenteils fruchtbare Gegenden in der schönsten Jahreszeit, um so angenehmer auffallen, da sie sich durch alle Stände, Alter und Geschlechter erstreckt. Die eigentümliche Höflichkeit des gemeinen Mannes vollendet das Ganze dieser Erscheinung . . Nach dem Gefühl der Gegenwart ist er ganz gewiß unter die beglücktesten Bewohner der Erde zu rechnen.« Fast alle unsere heutigen Landsleute werden dieser vor reichlich i so Jahren geäußerten Meinung des großen Landsmannes Goethes ohne Vorbehalt und mit Vergnügen zustimmen. Es lebt sich unverkennbar auch heute wohl angenehm und vergnüglich im Lande unsres westlichen Nachbarn. »Wie der Herrgott selber lebt man in Frankreich«, ist bei uns ständige Redensart - wenn nicht gerade im deutschen Norden, so doch gewiß in Süddeutschland und auf der anderen Rheinseite.

Der Herausgeber hat Frankreich selbst schon als junger Mann während des Ersten Weltkrieges kennengelernt und Land und Volk dort hinter den Kampflinien von Herzen liebgewonnen, er hat auch noch am Zweiten Weltkrieg teilnehmen müssen und jede sich bietende Gelegenheit auf den Boulevards von Paris und weitum auf dem Lande genutzt, sich mit Jungen und Alten gern zu unterhalten und gesprächsweise auszutauschen. Er hat sich dort auf Zetteln und in kleinen Heften schon als Zwanzigjähriger mit Vorliebe Märchen aufgeschrieben, die er erzählen hörte. Neuerdings hat er diese privaten »Kriegsmitbringsel« insgeheim wieder mal vorgekramt und sich der solange gehüteten, alten Vertrautheiten gefreut. Erst vor wenigen Jahren ist auf diese Weise ein im Verlag Herder in Freiburg erschienenes Sammelbändchen »Der Zaubervogel - Märchen aus Frankreich« erwachsen, und eine Reihe dieser entzückenden Märchen aus dem Poitou, aus der Auvergne, der



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Provence und der Gascogne, von der Charente, aus dem Anjou, dem Limousin, dem Berry und aus Lothringen und der Bretagne bot sich unmittelbar zur Aufnahme in diesen Band 9 unserer »Märchen der europäischen Völker« an. Eine kleine Auslese nach von Lisa Tetzner stammenden Nacherzählungen französischer und bretonischer Märchen wurde ergänzend beigefügt. Alle hier zu einem bunten Wiesenstrauß munter vereinten Märchen wurden bewußt nicht eigens nach Landschaften geordnet. Sie wurden absichtlich nicht regional rubriziert und systematisiert, sondern sollen unbefangen als Sendboten und Schmetterlingsgrüße das ganze Frankreich in einer Art von kostbarem Blütenstaub vertreten.

Der uns nahestehenden, sehr lobenswerten und bereits im Gesamtemführungsaufsatz unseres Bandes »Von den europäischen Volksmärchen« genannten Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen Völker sei ausdrücklich gedankt für die gütige Erlaubnis, im Anschluß an den Nachdruck eines griechischen Märchens in unserem Band 8 nun auch in diesem Frankreichband die je zwei Varianten der Märchen »Blaubart« und »Der kleine Däumling« nachzudrucken, die diese Gesellschaft erstmals in dem Band 2 der von ihr herausgegebenen, unveröffentlichten Quellen »Märchen der europäischen Völker«(Verlag Aschendorff, Münster i.W.) mit Beigabe französischer Originale publiziert hat.

Wir zitieren auch gern die dort gegebenen Anmerkungen zum »Blaubart«: »Diese erste Version ist am 21. 9. 1942 in La Buratière, einem Weiler, der an Le Coudrais in der Gemeinde Monsireigne (Vendée) grenzt, aufgenommen worden. Die Erzählerin, Marie Groleau, 65 Jahre, stammt aus Mouchamps, wo sie 45 Jahre in dem Weiler Pagerie gelebt hat. Von Jugend auf war sie Kuhhüterin, bevor sie einen Landarbeiter heiratete. Sie hat ihre Märchen von ihrer Großmutter.« Zur zweiten Version des »Blaubart«wird vermerkt: »Sie ist am 15. 9. 1942 in Coudrais, einem Weiler in der Gemeinde Monsireigne (Vendée), aufgenommen worden. Die Erzählerin, Philomène Morisset, 72 Jahre, hat diese Erzählung von den Alten des Dorfes. Vor ihrer Heirat war Philomüne schon frühzeitig Magd und Kuhhüterin. —>Wetze stumpfes Messer (ayuse couteau goudrille)< — in den rhythmisch geordneten Wendungen sind archaische Wörter enthalten, die sowohl von der Erzählerin als auch von den Zuhörern nicht mehr richtig verstanden werden (>aiguise< = wetze, >goudrille< bezeichnet eine schlechte, stumpfe Messerklinge). Beim Vortrag des Dialogs wiederholen die Kinder im Chor diesen Refrain, dessen genauen Sinn sie nicht erfassen.



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>Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier sind.<Wenn man Philomène fragt, was das bedeutet, antwortet sie: >Ich weiß es nicht: das heißt so.<Dieser unverständliche Satz, der ständig wiederholt wird, stammt sicher aus einer Vermischung von zwei oder drei Wendungen, wie der Vergleich mit der Version des >Blaubart< von Marie Groleau zeigt:

Version von Marie Groleau (3 verschiedene Formeln):

a) Ich sehe den staubigen Wald, und die Erde dröhnt.

b) Ich sehe Staub, der näher kommt, der sehr schnell näher kommt.

c) Ich sehe zwei Reiter, die näher kommen, die sehr schnell näher kommen.

Version von Philomène Morisset (eine einzige Formel):

Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet, die sind noch sehr weit, sehr weit von hier sind (wahrscheinlich Verschmelzung von 2 oder 3 Formeln):

a) Ich sehe nur Staub, der sich ausbreitet (>&anti<interpretiert in dem Sinn von >der sich ausbreitet<) oder auch:

b) Ich sehe nur Staub (und die Erde) dröhnt = retentit = &antl.

c) Ich sehe (zwei Reiter), die noch sehr weit, sehr weit von hier sind.

Das Wort >&anti<hat weder im Patois noch im Französischen irgendeine Bedeutung. Es wird für den Reim gebraucht oder vielmehr für die Assonanz auf -i, die dieses ganze Stück kennzeichnet (ne vois-tu rien veni/sur le chemin de Paris usw.).

Die archaischen und schlecht zu verstehenden Wendungen haben oft einen poetischen Wert.«

Zum Märchen »Der kleine Däumling«besagen die Anmerkungen bei Version eins:

»Dieses Märchen stammt aus der Sammlung von A. de Félice, Une conteuse et chanteuse berrichone: Euphrasie Pichon, mit der Maschine geschriebenes Manuskript, das sich in den Archiven des Musce national des arts et traditions populaires befindet. >Der kleine Däumling<wurde 1943 in Baraize (Indre) bei Euphrasie Pichon aufgezeichnet, die damals 8o Jahre alt war. Zu dieser Zeit wurden dort Aufzeichnungen gemacht. Bemerkungen zu dem Vortrag der Erzählerin:

Zwei immer wiederkehrende Formeln heben sich von dem Hintergrund der Erzählung ab:



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i. die Worte des kleinen Däumling im Bauch des Ochsen,

2. die Warnung an die Hirtinnen.

Wenn seine Mutter ihn ruft: >Oh, kleiner Däumling! . . . Oh, kleiner Däumling!<, antwortet der Held der Erzählung mit sehr lauter Kopfstimme: >Ich bin im Bauch des Ochsen Guivet!<Guivet oder Guivé bedeutet >aschgrau<(lat. gilvus). Es ist einer der herkömmlichen Namen, die die Zugochsen im Berry haben.

Die Warnung an die Hirtinnen wird mit sehr klarer Stimme gesprochen.

Bemerkung zur Intonation: Das Wort >Virez< wird in rufendem Ton ausgesprochen, und zwar eine Note höher als die folgenden Worte der Formel.

Später, wenn die Erzählerin den kleinen Däumling eingreifen läßt, der, unter seinem Stein versteckt, die mit dem Zählen der Beute beschäftigten Diebe mit dem Ruf unterbricht: Und . . . mein . . . Teil?, spricht sie in einem sehr hohen Ton.«

Zur zweiten Version wird als Quelle notiert: »Diese Geschichte wurde im Juli 1943 erzählt von Madame Valerie Auclair (43 Jahre), Bäuerin in Dol, einem Weiler der Gemeinde Chambon-sur-Voueize (Creuse).«

In der historischen Rückschau wäre anzumerken, daß im ganzen Frankreich vor der großen Revolution nirgends geachtet worden ist, was das Volk gemeinhin sich unter sich erzählte. Dort liefen von Mund zu Mund, ohne daß Leute von Stand, von Herrschaft und gar etwa von Adel oder aus Kreisen des Hofes sich auch nur darum kümmerten, alte, überkommene Geschichten und Abenteuer und Schwänke um. Dort hörten die Dienstmagd oder der Bauernbursche, was Mutter und Ahne erzählten, lauschten der wundersamen Mär und, wenn einer ein gutes Gedächtnis besaß, prägte er sich's ein und gab's weiter. Haus- und Kindermärchen galten dem gebildeten Frankreich des 17. und i 8. Jahrhunderts gleich nichts, sie erschienen gerade gut genug fürs gemeine Volk —für Kuhhüterin und Gänsemädchen. Vieles an alten Heiligenlegenden war lebendig geblieben. Späße und Foppereien, Hänseleien von Dorf zu Dorf, von einer Landschaft zur andern erfreuten sich allseitiger Beliebtheit. Dorftrottel, Dummriane und närrische Frauen erbten sich in der Erinnerung von Geschlecht zu Geschlecht weiter. Grausige Züge treten häufig auf.

Die französischen Rotkäppchen-Varianten sind meist barbarischer als die rechtsrheinischen. Daß der gräßliche Wolf die alte Großmutter nicht nur auffrißt, sondern dem kleinen Mädchen auch noch von deren



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Fleisch zu essen, von ihrem Blut zu trinken gibt, erweckt rein kannibalische Vorstellungen. Möglicherweise handelt es sich da um Einschübe, die alten nordischen und keltischen Mythen entlehnt sind. Die abstoßende Grausigkeit hat auch Ähnlichkeit mit Details aus dem »Blaubart«. Charles Perrault nutzt in seiner drastischen Moralisierung gerade dieses Märchen zur Belehrung ängstlicher Kinder, nur ja der Mutter zu folgen, immer brav und gehorsam zu sein. Solche Belehrung bevorzugt der Hof autor Ludwigs des Vierzehnten mit Vorliebe. Viele seiner »Contes de la mère l'oie« waren ähnlicher pädagogischer Absichten voll. Es verrät sich darin nebenher die Überheblichkeit der feinen Herrschaften der Rokokozeit gegenüber der robusten Gesundheit, mit der das Volk auf den Dörfern zu leben und zu denken pflegte. Gezierte Damen der gleichen Epoche überschwemmten Frankreich mit dem Flitter und Tand der auch den Kitsch nicht scheuenden Feenmärchen, und daneben brachte eine erste abendländische Übersetzung von Tausendundeine Nacht (in Frankreich erstmals 1704) die Fülle alles orientalischen Zaubers. Arabische, persische, indische, chinesische, türkische Märchen kamen in Mode - gut das ganze 18. Jahrhundert hindurch -, und sie wurden reichlich imitiert. Sie alle füllen die Hefte des »Cabinet des Fées« und der sehr populären Bände der »Bibliothèque bleue«, die durch Wanderreisende, später durch Kolporteure noch zu Anfang unseres Jahrhunderts von Dorf zu Dorf bis ins abgelegenste Nest gebracht wurden.

Die Revolution brachte bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit ihrem gewaltigen sozialen Umschwung und der Aufklärung spürbare Wandlungen. Ossian wurde entdeckt... ihm folgte die deutsche Romantik -ihre ersten Einflüsse nach Frankreich bewirkte der junge Herder während seiner Straßburger Jahre. Die Grimmschen Märchen sind schon ein Jahr nach Erscheinen ins Französische übersetzt worden. Doch ist man seltsamerweise, während norwegische, dänische, polnische, baltische, russische und auch ungarische Volkskundler bald schon den Beispielen Herders und der beiden Brüder Grimm gefolgt sind, in Frankreich allein bei Perrault geblieben. Erst etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts begeben sich dort eigenstämmige Märchenforscher ans Werk. Nach Cénac-Moncauts »Contes populaires de la Gasgogne«, den »Contes populaires de la Bourgogne« und ähnlichen provinziellen Sammlungen beginnt die Blüte der französischen Märchenerschließung erst um 1870 herum mit den »Contes bretons« von Luzel und der eifrigen Forschungsarbeit des bewundernswerten Sébillot. In seinen »Contes populaires de Lorraine« zeigt sich durch aufhellende



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Kommentare nach der Mitte der achtziger Jahre, also geraume Zeit nach dem Kriege Frankreichs mit Preußen-Deutschland, Emmanuel Cosquin als ein ausgezeichneter Kenner der mündlichen folkloristischen Überlieferung weit über den französischen Raum hinaus.

Eine Art »goldene Ära« der französischen Märchenforschung begann und hat in Verbindung mit keltischen Forschungen weit in den Ersten Weltkrieg hinein Funde um Funde zutage gebracht. Seit dem Jahre 1946 bestehen in Frankreich von Staats wegen unterstützte Einrichtungen zur Erforschung des französischen Volksmärchens. Sie halten gute Kontakte mit der internationalen Forschung, natürlich auch mit deutschen Gruppen. Der uralte Zauberwald Merlins, der Wald von Broceliande, von dem in alten Tagen Chretien de Troyes gesungen hat, wird auch heute noch bei Paimpont in der Bretagne verschwiegenen Wanderern von Einheimischen gezeigt -in seiner immer noch geheimnisvollen Einsamkeit. Ludwig von Pigenot, der ihn im Jahre 1936 aufsuchte, berichtet viele Absonderlichkeiten und endet mit den Sätzen: »Zwischen Laubwald, Fichten und Föhren erheben sich hohe Stechpalmen mit großen, roten leuchtenden Früchten! Bei Sonnenuntergang scheint der Wald sich in ein mächtiges Flammenmeer zu verwandeln.«

Von Frankreich nordwärts und westlich ins Lothringische, Luxemburgische und Belgische hinein mischen sich im Volke französische Märchen weithin mit solchen alemannischer und deutscher (germanischer) Herkunft. In Holland und in Belgien hat man zwischen wallonischen und flämischen Beeinflussungen zu unterscheiden. Unser Band bringt unter der Abteilung »Märchen der Niederlande«eine Anzahl typischer flämischer Märchen, deren bäurisch-seemännische Derbheit und Schläue allein schon in der Mundart meist sehr erheitert. Der Großteil davon ist dem Heftchen »Flämische Märchen« entnommen, die Karl Jacobs kurz nach Abschluß des Zweiten Weltkriegs für den Verlag für Jugend und Volk in Wien zusammenstellte.

Aus dem Märchenschatz des viersprachigen Landes zwischen Alpen und Bodensee, der freien Schweiz, haben wir erlesene Stücke rätoromanischer Bauernmärchen gewählt. Sie sind dem verdienten, weit über die Schweiz hinaus bekannten Märchenforscher Prof. Leza Uffer in Chur zu danken und mit dessen gütiger Erlaubnis dem von ihm herausgegebenen Bändchen »Rätoromanische Märchen und ihre Erzähler« entnommen, das von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (G. Krebs Verlagsbuchhandlung A. G., Basel) verlegt worden ist. Aus



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dem einfühlsamen Vorwort Prof. Uffers, das diesem gehaltvollen Band vorangestellt wurde, geben wir einige Abschnitte wieder, die genaue Einblicke in heute noch wirksame und fruchtbare Märchenforschung in diesem vielbereisten Land Europas vermitteln:

»Das Erzählen im Volke geht leider immer mehr verloren. Einstimmig bezeugen alle Erzähler, daß früher weit mehr Interesse für Geschichten zu finden war und auch viel, viel mehr erzählt wurde. Die >erzählende Dorfgemeinschaft< ist heute fast im hintersten Bergtal untergegangen. An ihre Stelle tritt seit Jahren die Zeitung und in neuester Zeit immer mehr der Rundfunk. Das Aussterben der >erzählenden Dorfgemeinschaft< wurde in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Umwälzungen bedingt. Wie die Bezeichnungen für manches Werkzeug und manchen Arbeitsvorgang des Handwerkes verlorengingen, weil das Werkzeug als Träger des Namens durch eine Maschine ersetzt wurde, so gingen die Arbeitsvorgänge, die eine Gelegenheit zum Erzählen boten, verloren.

Wie steht es nun mit der soziologischen Funktion des Erzählens? Wem wird erzählt? Wann und wo wird erzählt? Bei was für Gelegenheiten wird erzählt und was ist der Zweck des Erzählens? Wenn wir feststellen, daß heute kaum mehr erzählt wird, so ergibt sich daraus die Tatsache, daß die folgenden Beobachtungen einen früheren Zustand schildern. Was hier gesagt wird, mag in seltenen Fällen noch zutreffen, im allgemeinen aber liegen die Dinge wohl fünfzig Jahre zurück. Kindern ist wahrscheinlich immer erzählt worden; auch meine Gewährsleute hatten und haben teilweise heute noch Kinder als Zuhörer. Noch um die Jahrhundertwende wurde viel Erwachsenen erzählt. An den abendlichen Zusammenkünften, an denen Märchen und Sagen zum besten gegeben wurden, trafen sich meist nur Männer.

Der Zweck des Erzählens scheint in unseren Gegenden vorwiegend die Unterhaltung, der Zeitvertreib gewesen zu sein. Wohl nur das Erzählen für die Kinder will neben der Unterhaltung noch belehren. Die Antwort auf die Frage nach dem Zweck gibt uns zugleich Aufschluß über das Wo und das Wann des Erzählens. Im allgemeinen wurde nur am Feierabend erzählt. Man traf sich in Stuben oder Ställen. Seltener wurde an Sonntagen erzählt. Am meisten wurde, soweit man sich zurückzuerinnern vermag, in den Maiensäßen erzählt, und zwar mehr als im Frühjahr im Spätherbst, wenn es schwerer hielt, die immer länger werdenden Abende auszufüllen. Das Erzählen am Feierabend lebt dort heute noch, allerdings immer seltener werdend, weiter. Das Erzählen als Begleiterscheinung bei gewissen gemeinsam verrichteten Arbeiten



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aber ist wohl kaum mehr anzutreffen. Früher wurde im Herbst, beim Ausschälen der Maiskolben erzählt. Das Brechen des Hanfes wurde noch vor etwa fünfzig Jahren im Surmeir von den Frauen einer Nachbarschaft gemeinsam in irgendeinem geräumigen Stall ausgeführt. Bei dieser gemeinsam verrichteten Arbeit wurde gesungen und hauptsächlich erzählt. Dann und wann wurde auch in den Spinnstuben erzählt. Das übereinstimmende Zeugnis aller Gewährsleute beweist, daß früher im Dorfe die Freizeit in einem viel größeren Ausmaße als heute gemeinschaftlich verbracht wurde. Alle über vierzig Jahre alten Leute in Sursees z.B. erinnern sich an frühere Erzähler. Ein Tona Sonder (gen. Tona da Burvagn), gest. um 1900, erzählte Abend für Abend in den >aclas<und zu Hause. In Tinizong starb anfangs des Jahrhunderts ein Gion Mareia Tumaschign (Thomasin), ebenfalls ein berühmter Erzähler. Ein Sohn des Peder Wazzö berichtet, daß Gion Mareia in der acla >Pensa< (Val d'Err) mit dem Titel >La storgia da Fioravanti< eine Geschichte erzählte, die zwei lange Abende ausfüllte. Alle zwei Jahre teilte er dieses Märchen mit. Wie lange sich das gemeinschaftliche Erzählen in den Maiensäßen und Alphütten während der Frühjahrsund Sommermonate wohl noch halten kann? Vielleicht, daß es dort noch lange Heimatrecht genießen darf. Die Pflege des Erzählens ist, soweit unsere Erfahrungen zeigen, nicht in erster Linie Sache der ganzen Dorfgemeinschaft, sondern Aufgabe bestimmter Familien. Jene Menschen und jene Familien, die Sinn und Überlieferung dafür haben, müssen diese älteste und glücklichste Art der Unterhaltung retten. Die Beispiele von Zarn und Spinas beweisen, daß die Gabe des Erzählens nur einigen wenigen begnadeten Menschen gegeben ist, die sie ererbt haben und die vielleicht berufen sind, ihre Talente und Fähigkeiten dem jüngeren Geschlechte weiterzugeben. Wenn aber im Volke und besonders in den Kinderseelen die Freude am Geschichtenhören nicht erhalten und vermehrt wird, muß der Erzähler vereinsamen, denn die Märchen und Sagen und alle Wesen in ihnen werden erst lebendig und beseelt, wenn die Begeisterung für diese ganze Zauberwelt aus dem Herzen des Erzählers hinüberschlägt in die Seelen der Zuhörer.« Das von uns aufgenommene rätoromanische Märchen »Reinhold das Wunderkind« zeigt deutliche Anklänge an »Die Chronika der drei Schwestern« des alten thüringischen Märchenerzählers Musäus, von dessen Schriften der Band i unserer Reihe handelt.

K. R.


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