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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Prinz Iwan und die Harfe

Weit, weit am blauen Meer stand inmitten schönster Fluren eine große Stadt. Dort herrschte ein weiser König mit seiner Königin. Die beiden waren schon lange verheiratet, da wurde ihnen zu ihrer größten Freude eine wunderschöne Prinzessin geboren, der sie den Namen »Unschätzbare«gaben. Im nächsten Jahr kam eine ebenso wunderschöne Prinzessin auf die Welt. Die nannten sie »Preislose«.

Der König freute sich ungemein über seine Töchter. Er war lustig, aß und trank voller Fröhlichkeit. Seinen Kriegern schenkte er dreihundertunddrei Eimer Met und befahl, alle Leute in seinem Reich mit Bier zu bewirten. Jeder konnte trinken, soviel er wollte. Als alle Schmausereien und Lustbarkeiten vorüber waren, dachte der König darüber nach, wie er seine geliebten Töchter speisen und tränken wollte, wie sie heranwachsen und unter eine goldene Krone gelangen sollten. Ja, der König machte sich seiner Töchter wegen allerlei Sorgen. Sie durften nur mit goldenen Löffeln essen, mußten in Daunenbetten schlafen und sich mit Zobelfellen zudecken. Drei Kinderfrauen waren angestellt, um die Fliegen abzuwehren, wenn sich die Prinzessinnen schlafen legten. Der König ließ seine Töchter derart behüten, daß kein Strahl der roten Sonne sie in ihrem Zimmer belästigte, kein kaltes Lüftchen an sie herankam und kein Tröpfchen Tau sie benetzte. Zu ihrer Pflege bestellte der König siebenundsiebzig Kinderfrauen und siebenundsiebzig Wärterinnen. Das hatte ihm ein weiser Mann geraten.



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Friedlich und glücklich lebte so der König mit seiner Königin und den beiden Töchtern. Die Jahre vergingen, die Töchter wuchsen heran und wurden größer und immer schöner. Schon kamen junge Männer an den Königshof und freiten um die Prinzessinnen. Aber der König hatte keinerlei Eile, sie zu verheiraten. Er dachte: >Wenn es vom Schicksal bestimmt ist, daß sie heiraten sollen, dann wird man sie auf dem schnellsten Pferde nicht einholen. Wenn es aber das Schicksal nicht will, so wird man einen Bräutigam auch mit drei Ketten nicht festhalten können.<

Während er so seinen Gedanken nachhing, vernahm er eines Tages plötzlich einen Heidenlärm. Alles rannte auf dem Königshof wirr durcheinander. Die Kinderfrauen weinten, die Wärterinnen schrien, und die Ammen brachen in lautes Klagen aus. Der König lief schnell hinaus und fragte: »Was ist los?«

Da warfen sich ihm die siebenundsiebzig Kinderfrauen und die siebenundsiebzig Wärterinnen zu Füßen und riefen: »Sei uns gnädig! Soeben sind die beiden Prinzessinnen Unschätzbare und Preislose von einem Wirbelwind fortgerissen worden!«

Ein Wunder hatte sich ereignet: Die Prinzessinnen waren im Garten spazierengegangen, hatten bunte Schmetterlinge gefangen, roten Mohn gepflückt und süße Äpfel genascht. Da war plötzlich eine schwarze Wolke gekommen und hatte die beiden Mädchen vor den Augen der Kinderfrauen und Wärterinnen verborgen. Noch ehe sie richtig schauen konnten, war von den beiden Prinzessinnen jede Spur verschwunden. Es war von ihnen nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören.

Jetzt fuhr der König zornig auf: »Ich werde euch dem schlimmsten Tod überliefern! Vor dem Tor lasse ich euch mit Erbsen totschießen oder im Gefängnis zu Tode quälen! Siebenundsiebzig Kinderfrauen und siebenundsiebzig Wärterinnen habe ich, und sie können nicht einmal zwei Prinzessinnen hüten!«

Der Gram und die Trauer des Königs um seine Töchter waren furchtbar. Er aß und trank nicht mehr, er konnte nicht mehr schlafen, und immerzu war er von Schmerz und Kummer erfüllt. Es gab keinen Schmaus mehr an seinem Hofe, man hörte kein Summen und Singen. Nur der Kummer sang hinter ihm sein trauriges Lied wie der Unglücksrabe.



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Aber die Zeit eilte weiter. Das Leben ist immer wie ein bunter Teppich, in den schwarze und rote Fäden eingewebt sind. Es vergingen noch einige Jahre, da wurde dem König keine Prinzessin, sondern ein Sohn geboren. Der König war darüber sehr erfreut. Er nannte ihn Iwan, bestellte für ihn Kinderfrauen und Wächter, weise Lehrer und tapfere Krieger. Prinz Iwan wuchs schnell heran wie der Teig im warmen Ofen und aus ihm wurde ein wunderschöner, starker Jüngling.

Trotzdem bereitete etwas dem König großen Kummer: Prinz Iwan war schön und prächtig anzuschauen, aber er besaß keinen heldenhaften Sinn und keinerlei ritterliche Neigungen.

Er riß keinem Spielkameraden den Kopf ab, brach keinem einen Arm oder ein Bein und liebte es nicht, sich auf starken Pferden zu tummeln. Er mochte nicht mit scharfen Schwertern kämpfen, er baute keine Festungen und pflegte keine Kameradschaft mit den Kriegern. Durch seinen scharfen Verstand setzte Prinz Iwan wohl alle in Erstaunen, aber Freude hatte er nur am Spiel mit der Harfe. Die aber spielte er dermaßen schön, daß alle ihm zuhören mußten. Sobald der Prinz die Saiten auch nur berührte, fingen sie an zu singen und zu klingen, daß selbst die Tauben vor den wehmutsvollen Klängen in Tränen ausbrachen. Spielte er aber lustige Weisen, so fingen sogar die Krüppel zu tanzen an. Musik ist etwas Schönes, aber man kann mit ihr keinen Schatz auffüllen, kein Königreich verteidigen und den Feind nicht von den Toren abwehren.

Deshalb ließ der König den Prinzen eines Tages zu sich kommen und sprach zu ihm: »Mein lieber Sohn! Du bist der Bravste und Schönste, und ich bin mit dir höchst zufrieden. Nur eines macht mir Kummer: Ich sehe an dir kein Streben nach Ruhm und Heldentum. Du tummelst dich nicht auf schnellen Rossen und übst dich nicht im Kampf mit dem scharfen Schwert. Sieh, ich bin alt geworden. Wir besitzen böse Feinde. Sie werden kommen und über uns herfallen, die Krieger und Bojaren töten und mich mit der Königin gefangennehmen. Du aber kannst uns nicht verteidigen.«

Der Prinz hörte die Rede des Vaters an und sagte: »König und Herr, mein liebes Väterchen! Man erobert die Städte nicht mit Gewalt, sondern mit List; man zertrümmert die Tore nicht mit Keulen, sondern durch Schlauheit. Stelle meinen Heldenmut und meine Tapferkeit



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auf eine Probe! Siehe, ich habe gehört, daß ich zwei Schwestern hatte, die von einem Wirbelsturm entführt worden und spurlos verschwunden sind. Rufe alle deine Fürsten, Helden und tapferen Krieger zusammen und verlange von ihnen, sie sollen dir den Dienst erweisen und meine Schwestern aufsuchen. Sie sollen ihre scharfen Schwerter, ihre funken Rosse, geschickte Schützen und unzählige Krieger mitnehmen. Wenn dir einer von ihnen die Prinzessinnen wiederbringt, dann gib diesem mein Königreich.

Mich aber kannst du zu deinem Koch oder Hofnarren machen. Wenn aber keiner unter ihnen ist, der dir diesen Dienst zu erweisen vermag, dann werde ich es tun. Du wirst dann erfahren, daß ein kluger Verstand mehr wert ist als scharfe Schwerter und flinke Rosse.«

Die Worte des Prinzen gefielen dem König. Er versammelte alle seine Bojaren, Krieger und starke Helden um sich und sagte: »Ist der Held unter euch, der die Aufgabe übernimmt, meine Töchter zu suchen? Ich werde dem, der sie mir wiederbringt, die lieblichste von ihnen zur Frau geben und ihm noch dazu die Hälfte meines Königreiches schenken.«

Da schauten die Bojaren, Krieger und Helden einander an. Einer versteckte sich hinter dem anderen, und keiner von ihnen wollte etwas sagen .

Da nun verneigte sich Prinz Iwan vor seinem Vater und sprach: »König Väterchen! Wenn keiner dir diesen wichtigen Dienst erweisen will, so gib mir deinen Segen auf den Weg! Ich werde mich aufmachen und meine Schwestern suchen. Ich brauche aber keine königliche Belohnung dafür.«

»Gut«, sagte der König, »du hast meinen Segen. Nimm Schätze mit dir. Gold, Silber und Edelsteine, Krieger, so viele du willst, und hunderttausend Pferde und hunderttausend Bogenschützen als Leibwache.«

»Ich brauche keine Pferde, kein Gold und kein Silber, brauche weder Schwerter noch Bogenschützen«, sagte der Prinz. »Ich werde nur meine Harfe mit mir nehmen. Du aber, Väterchen König, warte drei Jahre lang auf mich. Wenn ich im vierten Jahr noch nicht zurückgekommen bin, dann suche dir einen anderen Erben.«

Nach diesen Worten empfing Prinz Iwan den väterlichen Segen. Er



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betete, nahm seine Harfe unter den Arm und zog aus, wohin ihn gerade seine Augen führten, um die Schwestern zu suchen.

Nach einer Wanderschaft von mehreren Tagen kam er in einen dichten, finsteren Wald. Da hörte er ein Krachen, als ob jemand die Bäume abbräche. Er ging dem Lärm nach und sah zu seinem Erstaunen zwei Waldgeister, die miteinander kämpften. Der eine schlug mit einer astigen Eiche auf den anderen los. Der hatte eine zehn Meter lange Linde in den Fäusten und schlug seinen Gegner damit in die Rippen.

Die beiden prügelten sich gegenseitig mit einer Kraft, wie sie eben nur Waldgeister besitzen. Prinz Iwan trat näher zu ihnen, setzte sich und begann auf seiner Harfe ein Tanzlied zu spielen. Da blieben die Geister stehen und fingen an, ein Teufelslied zu singen. Dann tanzten sie den Trepak, daß der Staub zum Himmel aufstieg. Sie tanzten, bis sie ermatteten und zu Boden fielen.

Da sprach der Prinz zu ihnen: »Warum rauft ihr miteinander? Ihr seid doch richtige Waldgeister und macht reine Dummheiten wie die Menschen!«

Einer von den Waldgeistern antwortete ihm: »Warum sollen wir nicht raufen? Entscheide selber: Als wir unseres Weges dahinzogen, fanden wir etwas. Ich sagte: >Das gehört mir!<Er aber sprach: >Nein, mir!< Wir wollen teilen, aber es geht nicht!«

»Was habt ihr denn gefunden?«fragte der Prinz.

»Ein Tischtuch für Salz und Brot, Stiefel, die ganz von selber laufen, und eine unsichtbar machende Mütze. Wenn du essen oder trinken willst, so brauchst du nur das Tischtuch auszubreiten. Sogleich kommen zwölf Knaben und zwölf Mädchen, die dir Met, süße Speisen und sonst noch alles bringen, wonach dein Herz begehrt. Marschierst du mit den von selbst laufenden Stiefeln, so machst du bei jedem Schritt sieben Werst. Wenn du aber nur ein wenig schneller läufst, so machst du deren vierzehn. Du gehst so schnell, daß dir kein Vogel mehr nachfliegen, ja nicht einmal der Wind dich einholen kann. Und wenn dir eine unmittelbare Gefahr droht, brauchst du nur die unsichtbar machende Mütze aufzusetzen. Dann bist du verborgen, daß auch der beste Hund dich nicht finden kann.«

»Wenn ihr wollt, schlichte ich euren Streit«, sagte der Prinz. »Was gebt ihr mir als Trinkgeld?«



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Die Waldgeister waren damit einverstanden, und Prinz Iwan sagte zu ihnen: »Rennt auf diesem Wege fort! Wer von euch den anderen überholt, dem sollen das Tischtuch, die Stiefel und die Mütze gehören.« «

»Du hast uns wieder zur Vernunft gebracht«, sagten die beiden. »Nimm alles in Verwahrung. Wir werden rennen.«

Die beiden liefen davon und waren bald schon im Walde verschwunden. Der Prinz aber wartete nicht, bis sie zurückkamen. Er zog die Stiefel an, nahm das Tischtuch unter den Arm, setzte die Mütze auf und weg war er. Die Waldgeister kamen zurückgerannt —aber wo sollten sie den Platz finden, auf dem der Prinz gestanden hatte?

Der Prinz ging, so schnell er konnte, aus dem Wald heraus. Dort sah er, wie die Geister nach ihm suchten, hin und her rannten, nach der Spur schnüffelten. Sie konnten sie aber nicht finden. Prinz Iwan ging immer weiter und kam endlich auf ein freies Feld. Da gingen drei Wege auseinander. An ihrer Kreuzung stand eine Hütte auf Pfählen, die sich immerzu drehte.

Da rief der Prinz: »Hüttlein, bleib mit der Rückseite gegen den Wald, mit der Vorderseite mir zugewandt stehen!«

Als er in die Hütte trat, sah er darin eine Hexe sitzen. »Pfui, pfui, pfui«, rief sie. »Bis heute habe ich keine russische Seele mit Augen gesehen noch mit Ohren gehört, und auf einmal kommt eine zu mir. Was führt dich hierher, du Jüngling?«

»Oh, du dummes Weib!« sagte der Prinz. »Hättest du mir lieber zuerst mal was zu essen gegeben und mich danach erst gefragt.« Da sprang die Hexe auf und holte etwas zum Essen. Nachdem der Prinz gegessen hatte, fragte sie wieder: »Woher kommst du, mein Junge, und wo geht die Reise hin?«

»Ich bin unterwegs, um meine beiden Schwestern, die Prinzessinnen Preislose und Unschätzbare zu suchen«, antwortete der Prinz. »Kannst du mir sagen, Großmütterchen, welchen Weg ich einschlagen muß und wo ich sie finden kann?«

»Wo die Prinzessin Unschätzbare wohnt, das weiß ich«, sagte die Hexe. »Du kommst auf dem mittleren Weg zu ihr. Sie lebt in einem Palast aus lauter weißen Steinen bei einem alten Mann, dem Waldungeheuer. Der Weg dahin ist aber sehr weit und beschwerlich.



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Wenn du wirklich hinkommst, dann tritt nur leise auf, sonst wirst du von dem Ungeheuer aufgefressen.«

»Je nun, Großmütterchen, wenn es mich auch erwischt! Ich bin hager wie alle Russen, und Gott wird es schon fügen, daß mich das Ungeheuer nicht frißt! Leb wohl und hab Dank für Salz und Brot!« Der Prinz ging von der Hexe fort und sah schon bald die weißen Steine des Palastes, darin das Waldungeheuer hauste. Er trat näher und kam zu einem Tor. Davor saß ein kleiner Unhold, der zu ihm sagte: »Ich darf niemanden hineinlassen.«

»Laß mich hinein, lieber Freund«, sagte der Prinz. »Bitte laß mich hinein, ich will dir auch ein schönes Trinkgeld geben.«

Der kleine Teufel nahm das Trinkgeld an, ließ aber den Prinzen doch nicht durchs Tor. Da ging der Prinz rund um den Palast herum und schaute, ob er nicht an einer Wand hochklettern könnte. Der Arme hatte aber nicht bemerkt, daß von oben Saiten herabhingen. Kaum hatte er eine davon mit dem Fuß berührt, so fing es überall zu läuten an. Als er sich umsah, stand auf der Freitreppe seine Schwester, die Prinzessin Unschätzbare, und sagte: »Bist du es, mein lieber Bruder, Prinz Iwan?« Die beiden Geschwister umarmten und küßten sich. »Wie soll ich dich vor dem Waldungeheuer verbergen?« sagte die Prinzessin. »Ich glaube, daß es jetzt bald erscheinen wird.«

»Ja, wohin mit mir?«fragte Prinz Iwan. »Ich bin doch keine Nadel.«

Während die Geschwister noch miteinander sprachen, erhob sich auf einmal ein Sturm, daß die Wände des Palastes zitterten. Das Waldungeheuer war gekommen. Prinz Iwan aber setzte schnell seine Tarnkappe auf und wurde unsichtbar. Das Waldungeheuer sagte: »Wo ist dein Gast, der über die Wand heraufgeklettert ist?«

»Ich habe keinen Gast«, sagte die Prinzessin. »Vielleicht ist ein Sperling vorbeigeflogen und hat mit seinem Flügel die Saiten berührt.« »Was für ein Sperling! Ich spüre deutlich, daß ein Russe hier ist.« »Wieso?« fragte die Prinzessin. »Du rennst auf der ganzen Welt umher und fängst die Seelen. Willst du nun mit mir auch Streit anfangen?«

»Zürne nicht, Prinzessin Unschätzbare, ich will dir nichts Böses zufügen, aber ich verspüre so großen Hunger, daß ich jetzt jenen Flegel fressen möchte«, sagte das Waldungeheuer.



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Da nahm Prinz Iwan seine Mütze ab, grüßte und sprach: »Warum willst du mich fressen? Sieh doch, wie dürr ich bin! Dafür will ich dir ein Frühstück bereiten, wie du noch nie eines gesehen hast. Gib nur acht, daß du deine Zunge nicht mit verschluckst!«

Prinz Iwan breitete sein Tischtuch aus, und sogleich erschienen zwölf Knaben und zwölf Mädchen, die das Waldungeheuer bewirteten. Das aß und trank dermaßen viel, daß es nicht mehr von seinem Platz aufstehen konnte, und schlief ganz fest ein.

»Jetzt leb wohl, liebe Schwester«, sagte der Prinz. »Aber sag mir noch, bevor ich fortgehe, weißt du, wo deine jüngere Schwester, die Prinzessin Preislose, wohnt?«

»Ich weiß es«, sagte die Schwester. »Man muß zu ihr auf das Meer hinausfahren. Sie wohnt auf dem Grunde des Ozeans bei einem alten Mann, dem Seeungeheuer. Der Weg dorthin ist aber sehr beschwerlich. Weit mußt du fahren, und wenn du tatsächlich hinkommst, wird das Meerungeheuer dich fressen.«

»Nun«, sagte der Prinz, »mag er mich getrost kauen, wenn er mich nur nicht verschluckt. Leb wohl, Schwester!«

Der Prinz schritt aus und kam an den Ozean. Ein großes Schiff stand am Ufer, wie es die russischen Handelsleute benutzen, mit Takelwerk von Lindenbast und Segeln von Birkenrinde. Die Schiffer bereiteten sich gerade darauf vor, zu der Salzinsel zu fahren.

»Wollt ihr mich mitnehmen?«fragte Prinz Iwan. »Ich werde euch für die Überfahrt nichts bezahlen, aber ich will euch gerne Märchen erzählen, so daß ihr von der ganzen Fahrt nichts merkt.«

Die Schiffer waren damit einverstanden und fuhren aufs Meer hinaus. Sie kamen an der Salzinsel vorüber und fuhren weiter, immer weiter. Plötzlich erhob sich ein wilder Sturm. Es blitzte und donnerte, und das Schiff krachte in allen Fugen.

»Ach!« riefen die Schiffer, »wir haben dem Märchenerzähler zugehört und gar nicht bemerkt, daß wir auf den Abgrund des Ozeans zufahren. Nun sind wir verloren! Wir werden dem Seeungeheuer ein Opfer bringen müssen. Laßt uns das Los werfen; es wird den Schuldigen treffen.«

Sie warfen das Los, und es traf den Prinzen Iwan. »Was geschehen soll, wird geschehen, Brüder!« sagte der Prinz. »Ich danke euch für Salz und Brot. Lebt wohl und behaltet mich in gutem Andenken!«



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Er nahm seine Stiefel, das Tischtuch und die Mütze, griff zu seiner Harfe und stürzte sich ins Meer. Sogleich beruhigte es sich wieder. Das Schiff aber fuhr weiter, Prinz Iwan war untergegangen wie Blei und stand auf einmal mitten im Palast des Seeungeheuers. Die Prunkgemächer, in denen es hauste, waren ganz wunderbar gemustert. Das Meerungeheuer saß auf seinem Thron und neben ihm die Prinzessin Preislose.

Es sagte: »Schau an, schon lange habe ich kein frisches Fleisch mehr gegessen, und nun fällt es mir plötzlich in die Hände. Guten Tag, mein Freund! Komm her, damit ich sehe, an welchem Ende ich dich anpacken kann.«

Da fing Prinz Iwan an zu reden und sagte, er sei der Bruder der Prinzessin Preislose. Er meinte, man verkehre nicht so miteinander und fresse auch die Menschen nicht.

»Da hört sich doch alles auf!« schrie das Ungeheuer. »Dieser Kerl kommt völlig ungefragt in meinen Palast und will mir Vorschriften machen!«

Da erkannte der Prinz, daß es schlecht für ihn stand. Er nahm seine Harfe und fing an, ein Tanzlied zu spielen. Kaum hatte er die Saiten berührt, da schwieg das Meerungeheuer still. Es begann zu schnauben wie ein Schmiedeblasebalg, weinte und ächzte, als ob es auf einer Nadel säße. Als aber der Prinz das Lied spielte »Schnapsgläschen wandern auf den Tisch«, stemmte alles die Hände in die Seiten, und der Tanz hub an. Das Meerungeheuer schnellte auf und nieder, stampfte mit den Füßen und schnitt mit seiner Fratze derartige Grimassen, daß sämtliche Fische erschienen und sich beim Zuschauen alle halbtot lachten.

Nachdem sich das Meerungeheuer wieder beruhigt hatte, sagte es: »Es wäre gewiß jammerschade, wenn man einen solchen Prachtkerl auffressen wollte. Bleibe also bei uns! Willst du unser Gast sein? Herbei ihr Heringe, Hechte, Brachsen und Barsche! Deckt den Tisch und bewirtet unseren Gast.«

Da saßen nun das Meerungeheuer, die Prinzessin Preislose und der Prinz Iwan beisammen, aßen und tranken und waren recht vergnügt. Ein Walfisch tanzte vor ihnen einen deutschen Tanz, die Heringe sangen Chorlieder und die Karauschen spielten auf verschiedenen Instrumenten.



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Als das Meerungeheuer nach dem Mittagessen zu einem Schläfchen einnickte, sagte die Prinzessin zu ihrem Bruder: »Mein liebster Bruder! Ich freue mich sehr, daß du unser Gast gewesen bist, aber nun gehe du so schnell wie möglich wieder von hier fort. Das Meerungeheuer wird dich fressen, wenn seine böse Stunde kommt.«

»Sage mir, liebe Schwester«, antwortete der Bruder, »wie kann ich dich von dem Meerungeheuer und unsere Schwester Unschätzbare von dem Waldungeheuer befreien?«

»Wenn du willst, kannst du noch alles zu einem glücklichen Ende führen«, antwortete die Schwester, »aber es wird dir kaum gelingen. Im Ozean ist ein großes Königreich. Dort herrscht aber kein König, sondern eine Königin mit Namen Jungfrau Königin. Wenn du in ihr Reich kommst und es dir gelingt, in den Garten zu kommen, so wird sie deine Frau werden. Nur sie allein kann uns befreien und zu unseren Eltern zurückführen. Aber es besteht ein großes Hindernis für jeden, der zu ihr gelangen will: Sie wird äußerst streng bewacht, und niemand kann an das Ufer kommen. Es ist mit Kanonen und Lanzen gespickt, und auf jeder Lanze steckt ein Kopf. Das sind die Köpfe junger Helden, die gekommen waren, um die Jungfrau Königin zu heiraten. Es waren Zaren und Zarewitsche, Könige und Königssöhne, starke und mächtige Helden. Sie waren mit Kriegern und Schiffen gekommen, hatten aber nichts ausrichten können -alle sind sie auf die Lanzen gekommen.«

»Da-muß man sich ja wirklich fürchten!« sagte Prinz Iwan.

»Furchtbar sind die Schrecken des Himmels, aber unendlich ist auch Gottes Barmherzigkeit. Sag mir nur, wie kommt man in das Reich der Jungfrau Königin?«

»Dazu bedarf es keiner großen Weisheit. Ich gebe dir meinen Lieblingsstör. Setze dich auf ihn und fahre durchs Meer. Als Wegweiser wird dir mein Schnelläufer dienen, der langnasige Sterlet.«

Die Geschwister nahmen Abschied voneinander. Dann setzte sich Prinz Iwan auf den Stör und trieb ihn an. Der Sterlet aber zeigte ihnen den Weg. Unterwegs begegneten sie Krebsen, die zum Gruß mit ihren Bärten wackelten und durch Klappern mit ihren Scheren die kleinen Fische aus dem Wege jagten.

Auf dem Meer ist es anders als auf dem Festland. Da gibt es keine Baumstrünke und keine Erdspalten, der Weg ist ganz glatt, und man



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fährt dahin wie auf Butter! So eilte der Prinz weiter, zog seine Tarnkappe an und sah, wie die Wächter die Augen auf sperrten und in die Ferne schauten, ob sie nichts erspähen könnten. Das, was gerade unter ihrer Nase vorging, sahen sie aber nicht. Sie machten ihre Messer scharf und spitzten die Pfeile, um jeden zu töten, der etwa landen wollte.

Der Prinz fuhr ans Ufer heran, und der Stör brachte ihn bis zum Landungsplatz, verneigte sich und erbat sich ein Trinkgeld. Prinz Iwan sprang ans Land, ging ohne Gruß an den Wächtern vorbei und betrat den Garten, als ob dieser ihm gehöre. Dort spazierte er herum, bewunderte alles und aß süße Äpfel.

Nach längerem Warten sah er auf einmal zwölf Tauben heranfliegen. Als sie sich auf die Erde niedergelassen hatten, waren es zwölf Mädchen geworden, schön wie die Sonne, mit Gesichtern wie Milch und Blut.

Mitten unter ihnen war die Jungfrau Königin als Pfau gewesen, und sie sprach jetzt: »Meine lieben Freundinnen! Es ist heiß geworden, seht nur, wie warm die Sonne scheint! Wir wollen baden! Kein böses Auge wird uns hier sehen. Es steht eine so starke Wache für mich am Ufer, daß nicht einmal eine Fliege durchkommen könnte.«

»Keine Fliege kann durchkommen? Hier ist schon eine!« sagte der Prinz, nahm seine unsichtbar machende Kappe ab und verneigte sich vor der Königin. Diese und ihre Freundinnen kreischten vor Schreck, wie es die Mädchen tun. »Ach, ach!« schrien sie durcheinander und gebärdeten sich, als ob sie davonlaufen wollten. Sie stellten sich, als ob sie nichts sehen wollten, schauten aber trotzdem durch ihre Augenlider auf den Prinzen.

»Jungfrau Königin und ihr, schöne Mädchen«, sagte der Prinz, »warum fürchtet ihr mich? Ich bin kein Bär. Ich beiße nicht und raube keinem das Herz, aber wenn jene unter euch ist, die mir das Schicksal zubestimmt hat, will ich ihr Diener sein.«

Da errötete die Jungfrau Königin wie eine Mohnblüte, reichte dem Prinzen ihre weiße Hand und sagte: »Sei willkommen, guter Jüngling! Bist du ein Zar oder ein Zarewitsch, ein König oder ein Königssohn, ich weiß es nicht. Aber wenn du als ein friedlicher Gast gekommen bist, sollst du auch bei uns gut aufgenommen werden. Es waren schon grobe Brautwerber bei mir, die mein Herz mit Gewalt



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rauben wollten. So etwas ist doch in der ganzen Welt noch nicht gehört worden! Komm in mein Haus aus weißen Steinen und in meine kristallenen Zimmer!«

Als das Volk gehört hatte, daß ein Prinz zu seiner Königin gekommen sei, ein Bräutigam nach ihrem Herzen, da liefen jung und alt zu Haufen herbei. Sie lärmten, schrien und tummelten sich lustig auf dem Rasen . . Die Königin befahl, die Keller zu öffnen, die Schellentrommeln und Pauken zu schlagen, die Harfen zu spielen. Am anderen Tage wurde die Hochzeit mit einem großen Gelage gefeiert. Es dauerte drei Tage, und drei Wochen lang war alles lustig.

Dann besprach der Prinz mit seiner Gemahlin, wie er seine Schwestern von den beiden Ungeheuern befreien könnte.

»Mein geliebter Mann«, sagte die Königin, »warum soll ich dir nicht helfen? Holt mir meinen Geheimschreiber, den Barsch, und meine Schreiber, die Sperlinge! Sie sollen an das Waldungeheuer und an das Seeungeheuer den Befehl schreiben, daß sie die Schwestern des Prinzen freilassen müssen. Wenn sie dem Befehl nicht gehorchen, will ich sie dem schlimmsten Tod überliefern!«

Der Befehl wurde geschrieben und fortgeschickt. Den beiden Ungeheuern blieb nichts übrig, als die Prinzessinnen Unschätzbare und Preislose freizulassen.

Prinz Iwan aber schrieb an seinen Vater den folgenden Brief: »Siehst Du, mein König, nicht alles gewinnt man mit Stärke und Tapferkeit, wohl aber mit Verstand und List. Die Harfen taugen manchmal nicht schlechter als die scharfen Schwerter.

Es heißt doch auch im Sprichwort, daß man einen Rücken mit der Peitsche nicht zusammensteppen kann. Komm als mein Gast zu mir, Väterchen, und ich werde mit meiner Frau und den Prinzessinnen zu Dir kommen. Ein reicher Schmaus steht schon bereit. Ich wünsche Dir noch viele Jahre Segen!«

Prinz Iwan lebte mit seiner Königin noch lange und ist ein allezeit milder Herrscher gewesen.


Copyright: arpa, 2015.

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