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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Prinzessin Maria Morewna und der böse Zauberer

Prinz Iwan besaß drei Schwestern: die Prinzessin Maria, die Prinzessin Olga und die Prinzessin Anna. Sie hatten schon seit langer Zeit keinen Vater und keine Mutter mehr. Als die Eltern starben, hatten sie dem Sohn befohlen: »Wer zuerst um deine Schwestern freit, dem gib sie - halte die Schwestern nicht lange bei dir.«

Eines Tages ging der Prinz mit seinen Schwestern in den grünen Garten, um dort zu lustwandeln und die trüben Gedanken zu verscheuchen. Plötzlich zog am Himmel eine schwarze Wolke auf, und es brach ein schreckliches Unwetter los.

»Kommt, liebe Schwestern, laßt uns nach Hause gehen!« sagte der Prinz Iwan.

Kaum waren sie im Palast angekommen, da krachte ein Donnerschlag, die Decke über ihren Häuptern spaltete sich, und es kam - niemand wußte woher -ein lichter Falke ins Zimmer geflogen. Als er sich auf dem Boden niedergelassen hatte, verwandelte er sich in einen schönen Jüngling und sagte zum Prinzen Iwan:

»Guten Tag, Prinz Iwan! Ich bin schon früher zu dir als dein Gast gekommen, aber jetzt bin ich als Freier hier; ich möchte deine Schwester, die Prinzessin Maria, heiraten.«

»Wenn du die Schwester liebst, werde ich sie nicht zurückhalten - möge sie mit Gott gehen.«

Die Prinzessin Maria war einverstanden.

Der Falke heiratete sie und trug sie fort in sein Reich. Es verging nicht ganz ein Jahr, und wieder war der Prinz Iwan mit seinen zwei Schwestern im grünen Garten. Wieder kam eine Wolke mit einem Wirbelwind, und wieder rief der Prinz die Schwestern nach Hause zurück, damit sie sich vorm Gewitter schützten. Kaum waren sie im Palast angekommen, da erdröhnte ein Donnerschlag, die Decke des Zimmers spaltete sich, und es kam ein Adler hereingeflogen. Er ließ sich zu Boden nieder und wurde ein schöner Jüngling,



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der um die Prinzessin Olga warb. Die Prinzessin war einverstanden und heiratete den Adler. Der ergriff sie und trug sie fort in sein Reich.

Und wiederum verging ein Jahr, und es ereignete sich das gleiche: Prinz Iwan ging mit der jüngsten Schwester im Garten spazieren, da überfiel sie ein Gewitter und zwang sie, nach Hause zurückzukehren. Kaum waren sie dort angelangt, da krachte der Donner, und ein Rabe kam in den Palast geflogen. Er ließ sich auf dem Boden nieder und verwandelte sich in einen Jüngling. Die beiden ersten waren schön gewesen, aber dieser war der Schönste von allen.

»Prinz Iwan«, sagte er, »gib mir deine Schwester Anna.«

»Ich werde nichts gegen den Willen meiner Schwester tun; wenn du sie lieb hast, so soll sie mit dir gehen.«

Prinzessin Anna heiratete den Raben, und er trug sie fort in sein Reich.

Nun war Prinz Iwan ganz allein. Er lebte ein Jahr für sich ohne die Schwestern und fing an, sich zu langweilen.

»Ich will mich aufmachen«, sagte er, »um zu sehen, wie es meinen verheirateten Schwestern geht.« Dann machte er sich auf den Weg. Er ritt und ritt und kam endlich auf dem freien Feld zu weißen Zelten, in denen ein gewaltig großes Heer lagerte.

Der Prinz fragte: »Wessen Krieger haben hier ihr Lager aufgeschlagen?«

Ihm wurde geantwortet: »Hier lagern die Krieger der schönen Königin Maria Morewna.«

Der Prinz wollte die Königin sehen und ritt zu ihrem Zelt. Die schöne Königin trat heraus und fragte den Prinzen Iwan: »Woher bringt dich der liebe Gott, Prinz? Hast du dich freiwillig oder unfreiwillig auf den Weg gemacht?«

Der Prinz antwortete ihr: »Weißt du nicht, daß tapfere Jünglinge nur freiwillig ausziehen?«

»Nun, wenn deine Sache keine Eile hat, so tritt in mein Zelt und sei mein Gast!«

Prinz Iwan war einverstanden. Er wohnte zwei Tage in ihrem Zelt. Er verliebte sich in Maria Morewna und heiratete sie. Sie ritten zusammen in ihr Königreich und lebten fröhlich und glücklich miteinander.



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Nach einiger Zeit beschloß die Königin, ihr Reich zu besichtigen. Sie übergab ihren ganzen Hof dem Prinzen Iwan und sagte: »Geh überallhin, sieh alles an, nur in dieses eine Gemach hier darfst du nicht hineinsehen. «

An der Türe dieses Gemachs hing ein schweres Schloß, das an großen Ringen befestigt war, die Tür selber aber war mit dicken Eisenplatten beschlagen. Prinz Iwan aber hielt es nicht aus. Kaum war Maria Morewna weggeritten, da eilte er zu dieser Tür, nahm das Schloß ab, schob die schweren Riegel zurück und stieß mit seinem Knie die Tür auf. Die rostigen Angeln knarrten und kreischten, als die fünffach starke Tür aufging . . . Prinz Iwan schaute ins Innere der Kammer und sah, daß dort, unmittelbar unter der Decke, an acht Haken und zwölf Ketten ein furchtbares Ungeheuer hing: Es war ein hinfälliger, knochiger Alter, dünn wie eine Nadel, ohne ein einziges Haar auf dem Kopf, über und über voller Runzeln. An Händen und Füßen hatte er Krallen wie ein wildes Tier und am Rücken Flügel wie eine Fledermaus . . . Seine Augen brannten gleich zwei Kerzen in der Finsternis.

»Wer bist du?«fragte ihn Prinz Iwan.

»Ich bin der unsterbliche Zauberer Koschtschei und leide hier in dem geheimen Gemach bei Maria Morewna schon das zehnte Jahr. Sie hat mich mit starken Zaubersprüchen beschworen und mit Zauberketten gefesselt. Habe Mitleid mit mir, guter Jüngling, und gib mir Wasser zu trinken, meine Kehle ist ganz ausgedörrt.«

Prinz Iwan brachte ihm einen Eimer Wasser. Er trank ihn aus und bat nochmals: »Mit dem einen Eimer kann ich meinen Durst nicht löschen, gib mir noch einen!«

Der Prinz brachte ihm einen zweiten Eimer. Der Zauberer trank ihn aus und verlangte noch einen. Als er aber den dritten Eimer leergetrunken hatte -da hatte er seine ganze Stärke und Kraft wieder zurückgewonnen.

Er riß die Ketten ab, schlug mit den Flügeln derart, daß eine ganze Wand des Gemaches zusammenbrach, und erhob sich wirbelnd bis zu den Wolken empor.

»Ich danke dir, Prinz Iwan«, schrie der Zauberer beim Wegfliegen, »du hast mir Maria Morewna ausgeliefert. Du wirst sie jetzt so wenig mehr sehen wie deine eigenen Ohren.«Unterwegs holte er Maria



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Morewna -die wunderschöne Königin -ein, zerstreute ihr glänzendes Gefolge, ergriff sie und trug sie davon in sein Zauberreich. Prinz Iwan aber weinte bitterlich. Er rüstete sich zur Reise und tat für sich selber das Gelübde: »Was immer mir auch zustoßen mag, ich werde Maria Morewna aufsuchen.«

Er ging einen und noch einen Tag, und am frühen Morgen des dritten Tags sah er einen prächtigen Hof, in dem eine dichtbelaubte Eiche stand. Auf dieser Eiche saß ein lichter Falke. Er flog herunter, und als er die Erde berührt hatte, verwandelte er sich in einen stattlichen jungen Mann, der rief: »Ach, mein lieber Schwager, sei willkommen! Wie geht es dir mit Gottes Hilfe?«

Jetzt kam auch die Königin Maria aus dem Schloß gelaufen, begrüßte den Prinzen Iwan freudig, fragte ihn nach seinem Befinden und erzählte von ihrem Leben. Der Prinz war drei Tage lang bei ihr zu Gast, dann sagte er: »Ich kann nicht länger bleiben ich muß meine Frau Maria Morewna suchen, die wunderschöne Königin.« »Die wirst du schwerlich finden«, sprach der Schwager-Falke. »Auf jeden Fall laß uns deinen silbernen Löffel da, wir werden ihn betrachten und deiner gedenken .

Prinz Iwan tat das und machte sich wieder auf den Weg. Er ging einen, er ging zwei Tage, und im Frühlicht des dritten Tages sah er ein Schloß, das noch schöner war als das erste. Neben diesem Schloß stand eine Eiche, auf der ein Adler saß. Er flog vom Baum herunter, berührte den Boden und verwandelte sich in einen schönen jungen Mann, der rief: »Steht auf, Königin Olga! Empfange unseren lieben Bruder!«

Die Königin eilte aus dem Schloß herbei, umarmte und küßte den Bruder, erzählte von ihrem Leben und Treiben und fragte ihn nach dem seinigen. Prinz Iwan erzählte ihnen von seinem Kummer, blieb drei Tage und machte sich dann wieder reisefertig.

Da sagte der Adler zu ihm: »Maria Morewna wirst du schwerlich auffinden. Laß uns für jeden Fall deinen goldenen Ring da, wenn wir ihn anschauen, werden wir von dir Nachrichten bekommen.« Prinz Iwan tat das und machte sich wieder auf den Weg. Am dritten Tage näherte er sich dem Schloß seines dritten Schwagers, des Raben. Der Schwager und die Schwester freuten sich sehr über seinen Besuch, bewirteten ihn und luden ihn ein, bei ihnen zu bleiben.



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»Nein«, antwortete Prinz Iwan, »ich kann nicht, ich muß meine geliebte Frau suchen.«

Da sagte ihm der Schwager Rabe: »Du wirst sie schwerlich finden. Laß auf jeden Fall deine silberne Pfeife da: Wenn wir sie ansehen, werden wir uns an dich erinnern und von dir eine Nachricht bekommen. Vielleicht haben wir die Möglichkeit, dich aus einer schwierigen Lage zu befreien.«

Prinz Iwan tat das und ritt weiter. Lange, lange wanderte er, schwamm über breite Flüsse, ging um große Seen herum, stieg und kletterte auf hohe Berge, kroch durch tiefe Schluchten, durchschritt den Sternen nach finstere Urwälder und gelangte endlich an die Grenze des Reiches von Koschtschei. Er fand sein hohes, finsteres Gebäude, ging durch die weiten Tore über gekrümmte Übergänge und kam in das Gemach, darin Maria Morewna verborgen war. Als sie ihren Liebsten sah, vergoß sie viele Tränen, warf sich ihm an den Hals und sagte: »Ach, Prinz Iwan! Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum hast du in das geheime Gemach hineingesehen, wo der unsterbliche Zauberer angeschmiedet war?«

»Verzeih, Maria Morewna, denke nicht ans Vergangene, komm lieber mit mir, solange der Zauberer nicht da ist. Vielleicht kann er uns nicht einholen!«

Sie rüsteten sich und gingen davon.

Der Zauberer aber war auf der Jagd gewesen. Als er am Abend nach Hause ritt, stolperte sein Pferd. »Was stolperst du denn, hungrige Mähre? Spürst du etwa irgendein Unglück?«

Das gute Pferd antwortete dem Zauberer: »Prinz Iwan war in deinem Palast und hat Maria Morewna entführt.«

»Kannst du sie einholen?«

»Man kann Weizen mahlen und fünf Laibe Brot backen, dieses Brot essen und dann auf die Suche gehen.« Rascher als ein Wirbelsturm jagte der Zauberer davon, holte den Prinzen Iwan und Maria Morewna ein und sagte: »Das erste Mal verzeih ich dir, weil du mir Wasser zum Trinken gegeben hast. Ich verzeihe dir auch ein zweites Mal, aber vorm dritten Mal hüte dich! Es wird dir nicht gut bekommen!«

Er riß Maria Morewna weg und eilte in sein Reich zurück. Prinz Iwan setzte sich auf einen Stein und weinte. Er vergoß viele Tränen,



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dann aber kehrte er ins Reich des Zauberers zu Maria Morewna zurück.

Wieder bat er: »Gehen wir, Maria Morewna!«

»Ach, Prinz Iwan, was hat es für einen Sinn, wenn wir davonlaufen:

Der Zauberer wird uns auf seinem Pferd wieder einholen.«

»Wenn er uns auch einholt . . . Wir sind wenigstens einige Stunden beisammen.«

Und sie machten sich auf den Weg. Währenddessen kehrte der Zauberer von der Jagd nach Hause zurück, und wieder stolperte sein Pferd. »Spürst du etwa schon wieder ein Unglück?«fragte der Zauberer.

»Der Prinz Iwan ist gekommen und hat Maria Morewna entführt.«

»Kannst du sie einholen?«

»Man kann Gerste dreschen und mahlen, daraus Bier brauen, sich einen Rausch antrinken, ihn bis zum Überdruß ausschlafen und dann auf die Verfolgung gehen - und dann wirst du sie noch einholen.«

Der Zauberer ritt aber spornstreichs davon, holte den Prinzen Iwan ein, nahm ihm Maria Morewna weg und sagte: »Ich habe dir doch gesagt, daß du sie so wenig mehr sehen wirst wie deine Ohren!« Prinz Iwan aber blieb hartnäckig, kehrte wieder zu Maria Morewna zurück und sagte: »Gehen wir!«

»Ach, Prinz Iwan! Sieh, wenn dich der Zauberer dieses Mal einholt, wird er dich sicherlich töten!«

»Mag er es tun! Ohne dich kann ich nicht leben!«

Wieder gingen sie davon, und wieder holte sie der unsterbliche Zauberer ein. Er fiel über den Prinzen Iwan her und zerhieb ihn in lauter kleine Stücke. Die warf er in ein ausgepichtes Faß, versah es mit eisernen Reifen und stieß es ins blaue Meer.

Während das geschah, wurden das Gold und Silber des Prinzen Iwan bei den Schwägern schwarz.

»Ach«, sagten sie, »ihm ist ein Unglück zugestoßen!«

Der Falke Sokolowitsch flog aufs Meer hinaus und ließ einen starken Sturm entstehen, der das Meer so aufwühlte, daß es das Faß ans Ufer spülte. Nun packte der Adler Orlowitsch das Faß mit seinen Krallen, trug es hoch, hoch in die Lüfte bis zu den Wolken hinauf und ließ es von da zur Erde fallen. Das Faß zersprang auf dem Boden



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in tausend Stücke. Da brachte der Rabe Woronowitsch unter seinen Flügeln heilendes Lebenswasser und besprengte damit den Prinzen Iwan. Der Prinz stand auf, reckte sich und sagte: »Wie lange habe ich doch geschlafen?«

»Du hättest noch länger geschlafen, wenn wir nicht gewesen wären!« antworteten die Schwäger, »jetzt wirst du hoffentlich nicht mehr zum Zauberer gehen?«

»Nein, Brüder! Solange ich lebe, werde ich von meinem Gelöbnis nicht ablassen!«

Und wieder ging er zu Maria Morewna. Er erriet eine Zeit, wo der Zauberer nicht zu Hause war, und erschien vor seiner lieben Frau gesund und ohne Schaden. Maria Morewna freute sich sehr. Sie wußte gar nicht, wie sie ihn herzen sollte, und sagte zu ihrem Mann: »Ich habe immer an dich gedacht und den Zauberer oft gefragt, woher er ein so gutes Pferd bekommen hat. Da sagte er mir, daß in einem weit, weit entfernten Königreich an einem feurigen Fluß die Feuerfrau wohnt, die eine Stute besitzt, auf der sie jeden Tag um die ganze Welt herumreitet. Ihr gehören viele solcher wunderbarer Stuten. Der Zauberer hat drei Jahre lang bei ihr als Hirte gedient und keine einzige Stute verlorengehen lassen. Dafür hat ihm die Feuerfrau ein Füllen geschenkt.«

»Aber wie ist er über den Feuerfluß hierhergekommen?«

»Er hat ein Tuch, mit dem er nur dreimal nach rechts zu winken braucht, dann wölbt sich eine hohe, hohe Brücke, so daß das Feuer seine Füße nicht erreichen kann. Dieses Tuch nun habe ich für alle Fälle versteckt.«

Prinz Iwan nahm das Tuch, verabschiedete sich und begab sich in das Königreich, wo der Feuerfluß und die Feuerfrau waren, um sich ein solches Zauberpferd zu beschaffen.

Er ging lange, lange, ohne zu essen oder zu trinken, da traf er unterwegs auf eine Möwe, hinter deren Flügeln eine Schar von Jungen herflog. Prinz Iwan sagte zu sich: >Ich werde eines von diesen Jungen verzehren.<

»Tu's nicht, Prinz Iwan!« bat die Möwe, »es kommt die Zeit, wo ich dir nützlich sein kann.«

Der Prinz ging weiter. Da sah er im Wald an einem hohlen Baum einen Bienenstock.



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>Der kommt mir gerade recht<, sagte sich der Prinz. >Da werde ich wenigstens Honig essen!<

Aber die Bienenkönigin rief aus dem Stock: »Rühr meinen Honig nicht an, Prinz Iwan! Es kommt die Zeit, wo ich dir nützlich sein kann.«

Der Prinz, der schrecklichen Hunger verspürte, ging weiter und kam zu dem Platz, wo das Haus der Feuerfrau stand. Um dieses ganze Haus herum stand ein Zaun, und auf jeden Zaunpfahl war der Kopf eines Helden aufgesteckt. Nur ein einziger Pfahl, ganz nahe beim Tor, war noch leer.

»Guten Tag, Großmütterchen!«

»Guten Tag, Prinz Iwan! Was führt dich hierher?«

»Ich möchte mir bei dir ein Heldenpferd verdienen.«

»Gut, Prinz! Sieh, der Dienst bei mir ist nicht schwer: Du brauchst kein Jahr, sondern nur drei Tage zu dienen. Wenn du meine Pferde richtig weidest, werde ich dir ein Füllen geben. Wenn aber nicht, dann darfst du nicht erzürnen: Dann wird dein Köpfchen auf den letzten Pfahl gesteckt werden.«

Sie gab ihm zu essen und zu trinken und schickte ihn dann an die Arbeit. Kaum hatte er die Stuten ins Freie getrieben, da erhoben sie ihre Schwänze und liefen davon. Bevor der Prinz noch richtig schauen konnte, hatte er jede Spur von ihnen verloren. Da weinte er und eilte bald dahin, bald dorthin, um seine Herde zu suchen. Vor Kummer und Müdigkeit setzte er sich auf einen Stein und schlief ein.

Die Sonne war schon am Untergehen, da kam die Möwe geflogen und weckte den Prinzen auf:

»Steh auf, Prinz Iwan! Deine Stuten sind schon längst heimgetrieben!«

Der Prinz ging und hörte, wie die Feuerfrau ihre Stuten schalt: »Warum seid ihr nach Hause zurückgelaufen?« Die Stuten antworteten:

»Wie sollten wir nicht umkehren, wenn auf einmal von irgendwoher eine Menge Vögel geflogen kamen und uns fast die Augen auspickten.«

»Also gebt acht, morgen rennt ihr nicht auf die grüne Wiese, sondern zerstreut euch im Urwald.«



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Am anderen Morgen trieb Prinz Iwan die Stuten aufs Feld, und genau wie am gestrigen Tag waren sie im Nu aus den Augen verschwunden. Der Prinz wußte schon, daß es vergebliche Mühe war, sie zu suchen, und setzte sich auf einen Stein. Dort weinte er lange und schlief schließlich wieder ein.

Kaum war die Sonne hinter dem Wald niedergegangen, da kam die Bienenkönigin geflogen und sagte: »Steh auf, Prinz! Sammle die Stuten ein! Aber gib acht! Wenn du heimkommst, komme der Feuerfrau nicht unter die Augen. Gehe gleich in den Stall und verbirg dich unter der Krippe. Dort wälzt sich ein einjähriges Füllen auf dem Mist, ein ganz grindiges! Das nimmst du heimlich, und um Mitternacht renne mit ihm auf die andere Seite.« Prinz Iwan tat das.

Kaum hatte er sich unter die Krippe gelegt, da hörte er, wie die Feuerfrau laut auf ihre Stuten losschimpfte: »Warum seid ihr umgekehrt?« «

»Wie hätten wir nicht umkehren sollen, wenn von allen Seiten her Bienen geflogen kamen und uns bis aufs Blut peinigten!«

In der finsteren Mitternacht führte Prinz Iwan das grindige Füllen aus dem Stall, zäumte es auf, schwang sich darauf, und weg war er. Sowie er auf seiner Brücke über den Feuerfluß geritten war, winkte er zweimal mit seinem Tuche nach links, und es blieb über dem Fluß eine hauchdünne Brücke zurück, so schwach, daß sie nicht einmal einen Fußgänger getragen hätte.

Die Feuerfrau aber merkte am nächsten Morgen gleich, daß der Prinz Iwan verschwunden war, und erriet sofort, daß er ihr das grindige Füllen genommen hatte. Sie nahm eiligst die Verfolgung auf, sah aber nicht, daß die Brücke über dem Feuerfluß kaum noch hielt, und wollte darüber galoppieren. Kaum hatte sie jedoch die Mitte erreicht, da brach die Brücke unter ihr zusammen, und plumps lag sie im Fluß, wo sie ein grausames Ende fand.

Prinz Iwan aber fütterte das Füllen auf seinen Wiesen und tränkte es mit Met; da wurde es ein wunderbares Heldenpferd. Auf diesem herrlichen Roß ritt er in das Reich des Zauberers, nahm seine Frau zu sich aufs Pferd, und spornstreichs galoppierten sie nach Hause wie schnelle Vögel. Indessen ritt der Zauberer heimwärts, und das Pferd unter ihm strauchelte.



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»Was stolperst du, Mähre? Spürst du etwa wieder ein Unglück?« »Prinz Iwan ist gekommen und hat die Maria Morewna entführt.«

»Kannst du sie erjagen?«

»Ich weiß es nicht. Sie sitzen jetzt auf einem Pferd, das nicht schlechter ist als das deinige, und wenn es uns auch gelingt, sie einzuholen, so wird dir das nicht gut bekommen.«

»Nein, ich dulde es nicht«, sagte der Zauberer, »ich werde ihnen nachjagen !«

Er holte den Prinzen Iwan ein und wollte ihm gerade mit seinem Säbel den kühnen Kopf abschlagen, da wandte sich das Pferd des Prinzen zu dem des Zauberers und sagte:

»Hast du mich denn nicht erkannt? Ich bin dein jüngerer Bruder, und ich muß mich schämen, daß du einem so heidnischen Ungeheuer dienst! Wirf ihn ab und zerstampfe ihn mit deinen Hufen!«

Der ältere Bruder gehorchte dem jüngeren, warf den Zauberer ab und trampelte ihn tot. Prinz Iwan aber sammelte über dem Zauberer einen großen Scheiterhaufen, zündete ihn an, verbrannte das unreine Ungeheuer darin und zerstreute die Asche auf dem Feld in alle Winde. Dann setzte sich Maria Morewna auf das Pferd des Zauberers, Prinz Iwan auf das seinige, und sie ritten zu den Schwägern auf Besuch. Überall, wo sie hinkamen, war ein Feiertag, überall gab es große Schmausereien, und überall sagten sie: »Prinz Iwan, wir haben dich schon nicht mehr unter den Lebenden geglaubt! Nicht umsonst hast du dich bemüht: Eine solche Schönheit wie Maria Morewna kann man auf der ganzen Welt suchen, man wird keine zweite finden!«

So waren sie beisammen, feierten und schmausten, dann aber ritten die beiden in ihr Königreich und lebten dort lange und glücklich.


Copyright: arpa, 2015.

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