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Isländische Märchen


Illustrationen von Angelika Winkler

Märchen europäischer Völker


Thorstein der Gruseler

Es wird erzählt, daß König Olaf Trygvason eines Sommers auf dem Gute Reina zum Gelage war. Er hatte ein großes Gefolge bei sich, darunter einen Isländer, Thorstein mit Namen, der erst im Winter gekommen war.

Abends am Trinktisch sagte König Olaf, niemand solle diese Nacht allein hinausgehen; wenn jemanden ein Bedürfnis ankomme, so solle er seinen Lagergenossen mit sich nehmen; — »es möchte sonst nicht gut ablaufen«, sagte er. Man trank darauf weiter, und dann wurden die Tische fortgenommen, und jedermann ging zu Bette. In

der Nacht erwachte mit einem Male der Isländer. Er wollte aus dem



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Bett und hinausgehen, aber sein Genosse schlief so fest, daß Thorstein es aufgeben mußte, ihn wach zu bekommen. Da stand er allein auf, zog seine Schuhe an, nahm einen dicken Pelzrock um sich und ging zum geheimen Ort.

Und was er da sah, das war ein großes Ding, elf Sitze auf jeder Seite. Er setzte sich vorn auf den ersten Platz.

Er hatte noch nicht lange gesessen, so sah er, wie ein Gespenst daherkam und sich auf den letzten Platz derselben Reihe setzte. Da blieb es sitzen.

Thorstein fragte: »Wer ist da?«

Der Geist erwiderte: »Thorkel der Dünne, der mit König Harald

Kriegszahn auf der Walstatt fiel.«

»Woher kommst du denn da?« fragte Thorstein.

»Ich komme geradeswegs aus der Hölle«, sagte der Geist.

»Was kannst du von da berichten?« fragte Thorstein.

Er antwortete: »Was möchtest du denn wissen?«

»Wer verträgt die höllischen Plagen am besten?«

»Keiner besser«, sagte das Gespenst, »als Sigurd der Fafnirstöter.«

»Was hat er denn für eine Qual auszustehen?«

»Er heizt einen Ofen«, sagte das Gespenst.

»Das kommt mir nicht so schlimm vor«, sagte Thorstein.

»Doch immerhin, denn er ist selber der Brand!«

»Ja, das ist etwas!« sagte Thorstein, »und wer erträgt seine Qual am schlechtesten?«

Das Gespenst erwiderte: »Starkad der Alte erträgt sie am schlechtesten; er schreit so, daß sein Gebrüll für uns Teufel unangenehmer ist als alles andere; wir haben vor seinem Geheul niemals Ruhe.«

»Was hat er denn für eine Qual auszuhalten«, sagte Thorstein, »daß er sich so übel anstellt, so ein tapferer Mann, wie er gewesen sein soll?«

»Er steht im Feuer bis an die Knöchel.«

»Das kommt mir nicht so fürchterlich vor«, sagte Thorstein, »für einen Helden wie er!«

»Du siehst es nicht von der richtigen Seite an«, sagte das Gespenst, »nur seine Fußsohlen stehen aus dem Feuer heraus!«

»Ja, das ist etwas«, sagte Thorstein. »Aber schreie doch einmal ein bißchen von seinem Geschrei!«

»Das soll geschehen!« sagte das Gespenst. Da schlug es seine Backen auseinander und stieß ein fürchterliches Gebrüll heraus.



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Thorstein hatte sich den Pelz um den Kopf geschwungen. Es wurde ihm übel von dem Gebrüll. Er frug: »Ist das sein lautestes Geschrei?«

»Beileibe nicht!«sagte das Gespenst, »so schreien wir kleinen Teufel.«

»Da schrei doch mal ein bißchen wie Starkad.«

»Das kann geschehen«, antwortete das Gespenst. Da hub es zum andern Male an zu brüllen, so gewaltig, daß es Thorstein als eine ganz außerordentliche Leistung erschien, daß ein so kleiner Teufel ein so großes Geschrei zustande kriegte. Er hatte es wie vorher gemacht und sich den Pelz um den Kopf gewickelt. Aber es wurde ihm doch anders von dem Gebrüll. Es kam eine Ohnmacht über ihn, und er wußte nichts mehr von sich. Da frug das Gespenst: »Warum schweigst du nun?« Thorstein hörte es, während er wieder zu sich kam: »Ich schweige darum, weil ich mich wundere, daß du nicht größer bist, wo du doch eine solche fürchterliche Stimme in dir hast! —Aber war das wirklich Starkads lautestes Gebrüll?«

»Nein, lange nicht«, sagte der Geist, »eher sein sachtestes!«

»So ziere dich doch nicht länger«, sagte Thorstein, »und laß mich sein lautestes Gebrüll hören!«

Der Geist sagte es zu. Thorstein aber bereitete sich wohl dazu vor: Er schnürte den Pelz zusammen, wickelte ihn sich um den Kopf und preßte ihn von außen mit beiden Händen gegen die Ohren.

Das Gespenst war mit jedem Schrei drei Sitze näher gerückt. Nun war nur noch drei Plätze zwischen ihnen. Da blies das Gespenst so entsetzlich seine Backen auf, drehte die Augen in sich herum und hub an, so fürchterlich zu brüllen, daß es Thorstein vorkam, als ginge dies denn doch über das Maß. Indem ertönte die Glocke im Ort, und Thorstein fiel bewußtlos vornüber auf den Boden. Das Gespenst aber schrak dermaßen zusammen vor dem Glockenton, daß es wie hingeschüttet vom Sitze fiel. Der Lärm aber dröhnte noch lange nach, unten, unter der Erde.

Thorstein kam wieder zu sich, stand auf und ging zu Bette. —Andern Morgens ging der König zur Kirche; man hörte die Messe. Danach ging man zu Tische. Der König war schlecht gelaunt. »Ist jemand heute nacht allein hinausgegangen?« nahm er das Wort.

Thorstein erhob sich und gestand, daß er sein Gebot übertreten habe. Der König antwortete: »Es ist ja nun kein großer Schade geschehen, aber man sieht doch wieder, wie wahr das ist, was man von euch Isländem sagt, ihr seid ein eigensinniges Volk! Aber was hast du erlebt?«



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Thorstein erzählte alles, wie es geschehen war.

Der König fragte: »Wie kamst du darauf, ihn schreien zu lassen?« »Das will ich Euch sagen, Herr; Ihr hattet uns doch so strenge verwarnt, allein hinauszugehen. Als nun der Schuft auftauchte, da schien mir das gewiß, daß etwas Schädliches dabei sein müsse. Ich dachte aber, wenn er schrie, so würdet Ihr davon aufwachen, Herr! Und dann, dachte ich, wäre mir geholfen.«

»So war es auch«, sagte der König. »Ich erwachte davon und merkte, was los war; darum ließ ich läuten, denn das war das einzige, was dir noch helfen konnte. Aber dir wird nicht übel angst geworden sein, als das Gespenst zu schreien anfing?«

Thorstein antwortete: »Ich weiß nicht, was das ist, Herr: >Angst<.«

»War nicht in deiner Brust etwas Furcht?« sagte der König.

»Nein, das nicht«, sagte Thorstein. »Aber beim letzten Schrei hat es mich fast ein bißchen in der Brust gegruselt!«

Da sagte der König: »Nun will ich dir deinen Namen länger machen: du sollst von nun an Thorstein der Gruseler heißen, und hier ist ein Schwert, das will ich dir zur Namengabe schenken.« Thorstein dankte ihm. Es wird gesagt, daß er in König Olafs Gefolge aufgenommen wurde und bei ihm blieb und auf Orm dem Langen gefallen ist mit den anderen Kämpen des Königs.


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