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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Prinz Andrea und Prinzessin Meseria

Es war einmal ein mächtiger König, der viele kostbare Dinge sein eigen nannte. Von ihnen allen schätzte er wiederum nichts so sehr wie eines seiner großen Schiffe, einen mächtigen Segler mit hohen Masten und silbrigen Segeln. Dieses Schiff hatte eine Mannschaft von hundert Matrosen, die aus den besten und tapfersten Männern des Landes zusammengestellt war. Doch das Wichtigste davon war: immer hatte der König günstigen Wind, wenn er damit in See stach. Kein Wunder, daß er gern die Ozeane durchkreuzte, um fremde Länder zu besuchen, wenn ihm seine königlichen Pflichten dazu Zeit ließen.

Einmal aber, mitten auf dem weiten Meer, hielt sein Schiff jählings an, obwohl es genausogut im Winde lag wie sonst. Weder der König noch seine Begleitung vermochten irgend etwas zu entdecken, das die Unterbrechung ihrer Fahrt verursacht haben konnte. Das Wasser war tief, kein Felsen unter der Oberfläche erkennbar, und es schien unmöglich, daß das Schiff auf Grund geraten sei.

Der König blickte auf das Wasser hinab und rief: »Hallo, wer auch immer es ist, der mich hier festhält! Ich verspreche dir alles, was in meiner Macht liegt, wenn du nur mein Schiff wieder freigibst, daß ich in mein Königreich zurückkehren kann.«

Er erwartete eigentlich keine Antwort, doch zu seiner Überraschung hörte er von drunten eine Stimme laut rufen:

»Einverstanden! Einverstanden mit dem Handel! Als Tribut dafür, daß du meine Ozeane befahren darfst, fordere ich das erste lebende Wesen, auf das dein Auge fällt, sobald du an Land kommst.« Er

hatte ja sein Wort gegeben, drum konnte der König nichts anderes tun als dem Tribut zustimmen. Und er rief: »Ich werde mein Versprechen halten und dir den geforderten Zoll entrichten.« Sofort nahm das Schiff wieder Fahrt auf und flog auf den blauen Wogen dahin wie zuvor.

Bald schon vergaßen der König und seine Begleiter den Zwischenfall. Sie wußten, daß die Stimme, die aus der Tiefe des Meeres heraufgeklungen war, nur die der Seekönigin gewesen sein konnte, von der sie schon so viele Geschichten gehört hatten.



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Zwei Tage danach tauchte fern am Horizont die Küste ihres Heimatlandes auf. Die Entfernung wurde kürzer und kürzer, und als sie sich dem Ufer näherten, bemerkte der König einen dunklen Punkt, der sich dem Hafen zu bewegte. Bald stellte er fest, daß es ein lebendes Wesen, bald auch, daß es ein Kind war. Und dann erkannte er seinen eigenen geliebten Sohn Andrea, der vorwärts lief und seinem Vater zuwinkte.

Da erinnerte sich der König jäh des Versprechens, das er der Seekönigin gegeben hatte. Schnell wandte er den Kopf zur Seite und sah eine auf dem Wasser schwimmende Ente. Dann wandte er den Kopf auf die andere Seite und sah dort ein Schwein im Grase, nahe beim Bach, wühlen.

Diese zwei Tiere dürften wohl als Tribut für die Seekönigin gut genug sein, dachte der König und befahl seinen Leuten, sie zu töten und ins Meer zu werfen. Dann, überzeugt, daß er seiner Pflicht genügt habe, ging er an Land, um seinen Sohn und die Königin zu umarmen, die auch hergekommen war, um ihren Mann zu begrüßen. Aber der König sollte erfahren, daß die Seekönigin nicht so einfach zufriedenzustellen war. Bevor die königliche Familie das Portal des Schlosses erreicht hatte, rollte eine riesige Woge gerade auf das Schloßtor zu und schwemmte die tote Ente und das Schwein mit sich heran. Die Woge hätte wahrscheinlich den kleinen Prinzen ergriffen und mit zurück in die See gerissen, wenn der König nicht auf ihn aufgepaßt und ihn im letzten Augenblick noch hinter die Schloßmauer gerettet hätte. Denn hinter den Mauern des Schlosses konnten ihn keine Wellen mehr erreichen.

Der König überlegte, es wäre wohl besser, Frau und Sohn die ganze Geschichte zu erzählen; also berichtete er von seinem Erlebnis mit der Seekönigin draußen im offenen Meer. Andrea wurde befohlen, nie mehr nahe ans Ufer zu gehen. Er versprach fest, daß er es ganz gewiß nicht tun werde.

Die Jahre rannen dahin, und eines Tages, als Prinz Andrea achtzehn Jahre alt war, forderten ihn einige Freunde auf, mit ihnen an den Strand zu gehen.

»Komm mit hinunter!« sagten sie. »Wir wollen die heranbrausenden Wellen und die weißen Schaumköpfe beobachten.«



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Andrea dachte sich, nach so langer Zeit bestehe wohl keine Gefahr mehr, und er willigte ein. Aber kaum hatten sie das Ufer erreicht, als eine große Woge kam und eine Hand, die weiß war wie Gischt, mit Juwelen an jedem Finger, sich heraushob, Andrea ergriff und in die Meerestiefe zog. Er ertrank nicht, sondern wurde durch die Fluten weitergeleitet, vorüber an großen Wiesen und Feldern, bis er zu einem Garten gelangte, der schöner als alles war, was er je an Land gesehen hatte.

Inmitten der Gartenanlage stand ein Palast, der, wie er glaubte, wohl der Seekönigin gehören mußte. Da erinnerte er sich, was ihm von dem Schloß der Seekönigin erzählt worden war. »Ihr Haus schimmert außen und innen von Perlen, Diamanten und anderen köstlichen Juwelen.« Und so war es auch.

Andrea ging durch die Tür des Palastes und fand sich einer dürren, bösblickenden Frau gegenüber, die ein grünes Gewand trug und mit Perlen und vielfarbigen Juwelen geschmückt war. Auf ihren schwarzen Haaren trug sie einen Blumenkranz aus Perlmutt und Juwelen.

»So, endlich bist du hier, Prinz Andrea!« rief sie mit bösem Lächeln. »Ich habe allerlei Jahre auf dich warten müssen. Von morgen an hast du zu arbeiten, aber heute magst du dich noch mit den anderen Burschen und Mädchen vergnügen.«

Mit diesen Worten führte sie ihn in eine andere große Halle, wo viele junge Menschen waren, die sich miteinander unterhielten. Prinz Andrea stellte fest, daß die »Burschen und Mädchen«der Seekönigin fast alle Prinzen und Prinzessinnen waren, die ihren Eltern durch die Seekönigin gestohlen wurden. Ein junges Mädchen von besonderer Schönheit, so jedenfalls erschien es ihm, kam auf ihn zu.

»Ich bin Prinzessin Meseria«, sagte sie, »und ich muß der Seekönigin hier sieben Jahre dienen. Inzwischen habe ich die meisten ihrer Ränke und Zaubereien erforscht, und ich will dir anvertrauen, daß es nicht leicht ist, sie zu überlisten. Doch du siehst mir wie ein tüchtiger junger Mann aus, und wenn wir beide fest zusammenhalten, gibt es für uns vielleicht einige Aussicht, wieder zu entkommen.«

Prinz Andrea erwiderte, daß er sich nichts Schöneres vorstellen könne, als mit Meseria zusammen zu sein, und da er sie vom ersten



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Augenblick an geliebt hatte, gelobte er ihr für sein ganzes Leben unlösliche Treue zu; und sie setzten sich zusammen in eine Ecke der großen Halle. Dort nun erzählte jeder dem andern von seinem Heimatland droben in der Welt, droben überm unendlichen Meer.

Am nächsten Morgen wurde Prinz Andrea zu der Seekönigin befohlen, die so zu ihm sagte: »Ich habe bemerkt, daß du dir von allen meinen hübschen Mädchen die klügste ausgesucht hast, die bildschöne Meseria. Von heute ab verbiete ich dir, sie je wiederzusehen, sofern du nicht drei Aufgaben lösen kannst, die ich dir stelle. Falls du sie erfüllst, magst du Meseria heiraten; gelingt es dir nicht, mußt du hierbleiben und mir dein ganzes Leben lang dienen.«Und wieder lächelte sie ihr böses, tückisches Lächeln.

Dann führte sie ihn auf eine Wiese hinaus und sagte, seine erste Aufgabe wäre, hier das Gras zu mähen und danach jede einzelne Grasspitze wieder an ihrem Halm festzumachen. »Das ist für heute alles«, schloß sie und übergab ihm eine Sichel. Dann ging sie ins Schloß zurück und ließ ihn allein.

Prinz Andrea nahm die Sichel und fing an, die Wiese zu mähen. Aber bald merkte er, daß es schon völlig unmöglich war, sie in einem Tag zu mähen, um wieviel mehr, jede Grasspitze wieder an ihrem Halm festzumachen. So gab er den Versuch auf, setzte sich mit dem Kopf zwischen den Händen nieder und brütete über sein schlimmes Geschick. Als er da so hockte, sah er die Prinzessin Meseria auf sich zukommen.

»Warum sitzt du hier so allein und schaust so unglücklich drein?« fragte sie ihn.

»Sollte ich das etwa nicht, nachdem mir die Seekönigin befohlen hat, erst die Wiese zu mähen und nachher wieder jeden einzelnen Halm an seinen Stengel zu befestigen, und das alles, ehe der Tag zu Ende geht? Wenn ich es nicht schaffe, muß ich hierbleiben und ihr mein ganzes Leben lang dienen. Und außerdem hat sie mir verboten, dich wiederzusehen.«

»Aber ich werde jedenfalls dich wiedersehen, sonst bist du für immer verloren«, antwortete Meseria. »Wenn du mir nur versprichst, treu zu sein, dann will ich dir wohl helfen.«

»Ich gelobe dir, dich nie zu enttäuschen«, erwiderte Andrea.



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Da faßte Meseria die Sichel, bewegte sie auf eine ganz besondere Weise und berührte so das Gras. Und, nicht zu glauben, ein Wunder geschah! In einem einzigen Augenblick war die ganze Wiese gemäht und alles Gras lag abgeschnitten auf dem Boden. Dann drehte Meseria die Sichel wieder, und schon sah Andrea ein neues Wunder. Die Halme fügten sich ganz von selbst wieder an ihre Stengel, und die Wiese sah aus so wie zuvor. Nein, nicht ganz; wenn du genau hinschautest, war deutlich zu erkennen, daß jeder Grashalm dicht bei der Wurzel, dort wo er abgeschnitten gewesen war, eine Narbe hatte.

Nun setzten sich Prinz Andrea und die schöne Prinzessin zusammen hin und plauderten miteinander. Sie hatten nun ja sehr reichlich Zeit, ehe der Tag zu Ende war und die Seekönigin wiederkam. Am Nachmittag ging Meseria rechtzeitig fort -gerade rechtzeitig genug, bevor die Seekönigin zurückkehrte, um zu sehen, was Andrea wohl gemäht hatte.

»Hast du meine Wiese abgemäht?«fragte die Königin.

»Ja, meine Königin, das habe ich.«

»Und ist wieder jeder Halm an seinem Stengel?«

»Ja, meine Königin, das ist er.«

»Schön, das will ich gleich feststellen«, sagte die Königin zweifelnd und beugte sich zu dem Gras nieder. Zu ihrer großen Überraschung mußte sie zugeben, daß Andrea recht hatte.

»Hm, das wundert mich aber, wie du allein darauf kommen konntest, wie es gemacht wird«, sagte sie beim Weggehen.

Am nächsten Morgen wurde Prinz Andrea wieder zu der Seekönigin gerufen. Diesmal führte sie ihn in den riesigen Stall, in dem sie hundert der schönsten Pferde stehen hatte.

»Heute will ich dir eine andere Aufgabe geben«, sagte sie. »Du siehst diesen Stall. Darin sind hundert Pferde, und seit Menschengedenken ist er nicht gefegt und gesäubert worden. Jetzt sollst du ihn reinigen, und, denke mir daran, er hat zu blitzen und zu glänzen wie der blankpolierte Fußboden meiner eigenen Halle. Und vorm Dunkelwerden muß die Arbeit getan sein.« Damit verließ sie ihn, und er überlegte, wie er die Aufgabe am besten zu lösen vermöchte.

Nahe bei der Tür fand er einen Besen und ging damit tapfer gegen



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den Schmutz und den kaum ertragbaren Gestank an. Aber bald schon war ihm klar, daß es unmöglich wäre, diese Arbeit bis zum Abend allein zu vollbringen. Also setzte er sich todmüde mit dem Kopf in den Händen vor die Stalltür und grübelte nach über sein hartes Geschick. Da sah er Meseria auf sich zukommen.

»Warum bist du traurig?«fragte sie.

»Wie könnte ich glücklich sein, da die Seekönigin mir befohlen hat, den Stall in einem einzigen Tag zu säubern?« antwortete er.

»Nichts leichter als das! Versprich mir, mir stets treu zu sein, und ich will auch treu zu dir halten und dir hier und bei allem, was kommt, immer helfen.«

Und nachdem Andrea ihr das versprochen hatte, freute sie sich sehr und ging geradewegs durch die Tür, an der eine goldene Peitsche hing. Sie knallte mit der Peitsche gegen eine alte graue Stute in der Ecke und rief:

»Liebe, alte Stute mein,
mach den Stall recht frisch und fein!«


***
Und sofort kam die Stute aus ihrer Box und hieb mit den Hufen so hart gegen den verkrusteten Schmutz, daß er durch Türen und Fenster flog. Andrea und Meseria konnten kaum schnell genug laufen, um aus dem Weg zu gehen. Bald aber kamen sie zurück, und da war nichts mehr von Schmutz zu sehen. Meseria ergriff ein Stück Tuch und wischte damit über den Boden. Im Nu wurde der Fußboden blitzend und glänzend wie in der Halle der Königin.

Jetzt konnte sich Prinz Andrea wieder mit der schönen Prinzessin Meseria hinsetzen und sich mit ihr freuen; denn nun hatten sie reichlich Zeit, bis die Königin kommen würde. Am Nachmittag sagte Meseria, jetzt müsse sie gehen. Kurz darauf kam die Seekönigin und wollte sehen, wie es um Andrea stand.

»Hast du den Stall gesäubert?«fragte sie.

»Ja, meine Königin, das habe ich getan.«

»Ist er so blitzend und glänzend wie der Fußboden in meiner eigenen Halle?«

»Ja, meine Königin, das ist er.«



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»Das wollen wir gleich sehen«, sagte die Seekönigin und trat in den Stall ein, um nachzuprüfen, ob ihr Befehl genau ausgeführt worden war. Sie war sehr enttäuscht, als sie feststellte, daß Andrea ihr die Wahrheit gesagt hatte. Da standen die Pferde zufrieden wiehernd in ihren sauberen Boxen, und alles war wie anbefohlen.

»Hm, ich muß mich nur wundern, wie du das alles so ganz allein fertiggebracht hast«, murmelte sie beim Fortgehen.

Am nächsten Morgen wurde Prinz Andrea wieder zu der Seekönigin gerufen. Diesmal führte sie ihn in ihren Schweinestall, in dem tausend Schweine standen, und dieser Stall war noch nie gereinigt worden. Man konnte das schon von weitem riechen. Und als sie näher kamen, sah Andrea, daß sich drinnen der Schmutz schon wie ein Gebirge aufgehäuft hatte.

»Nun gehe hin und reinige den Stall! Er muß so sauber wie eine neue Stecknadel werden, das ist deine Aufgabe für heute«, so sprach die Seekönigin und verließ Andrea.

Ach, der arme Andrea machte gar nicht erst den Versuch, diese schmutzige Aufgabe zu lösen. Er wußte, es war glatt unmöglich. Doch als er draußen vor dem Stall saß, verzweifelt, was er anfangen solle, sah er Meseria auf sich zukommen.

»Hallo«, rief sie. »Warum sitzt du so traurig da? Was für einen Auftrag hat dir die Königin denn heute gegeben?«

»Diesen Schweinestall bis zum Abend zu säubern, und zwar soll er so blank sein wie eine neue Nadel - und das alles noch heute«, sagte Andrea, indem er die Sprechweise der Königin nachahmte.

»Sorge dich nicht, das will ich schon erledigen«, antwortete Meseria. »Sei mir nur treu, und ich werde dir helfen wie bisher.«

Und Andrea versicherte ihr seine Treue. Nun ging Meseria hinein und ergriff einen langen Besenstiel, der hinter der Tür hing. Damit berührte sie eine alte Sau, die in einer Ecke im Schlamm lag. Und sie rief:

»Sau, wenn du mir hilfst, laß ich dich frei!« Sie faßte Andreas Hand und lief mit ihm, so schnell sie nur konnte, ein ganzes Stück fort. Es war auch schon höchste Zeit, denn die Sau war aus dem Schlamm aufgesprungen und wühlte den ganzen Schmutzhügel hoch, so daß alles über die Wände des Schweinestalles hinausflog. Es dauerte



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keine fünf Minuten und aller Dreck war beseitigt, und Meseria brauchte nur noch mit einer Bürste über den Boden zu wischen, und der Schweinestall blitzte vor Sauberkeit wie eine neue Nadel. Die alte Sau lief aber auf und davon und ward nicht mehr gesehen.

Prinz Andrea setzte sich nun mit seiner schönen Prinzessin noch eine Weile hin, um zu plaudern, denn er dachte, daß er sie nun nach Erfüllung aller drei Aufgaben heiraten dürfe, und schwärmte schon davon, wie glücklich sie zusammen sein würden.

»O, freue dich nicht zu früh!« sagte sie. »Du weißt gar nicht, was diese böse Hexe, die Seekönigin, sich als nächstes ausdenken wird. Wir müssen aufpassen, denn sie kann ganz gefährlich werden.« Am Nachmittag ging Meseria wie gewöhnlich, und kurz darauf kam die Seekönigin.

»Was hast du mit meinem Schweinestall angefangen?« fragte sie. »Hast du den Schmutz weggeschafft?«

»Ja, meine Königin, das habe ich. Der Stall glänzt wie eine neue Nadel«, antwortete Andrea.

Als sie hineinsah, konnte sie es nicht ableugnen, daß er recht hatte, und böse murmelte sie: »Das hast du nicht allein vermocht. Doch da du die drei Aufgaben gelöst hast, die ich dir aufgab, will ich mein Versprechen halten und dir mein feines Mädchen Meseria geben. Doch ehe du sie heiratest, mußt du erst zu meiner Schwester, der Waldkönigin, gehen und einige Dinge für die Hochzeit holen. Morgen früh sollst du dich auf den Weg machen.« Und nach diesen Worten verließ sie ihn wieder.

>Vielleicht weiß Meseria doch nicht recht Bescheid<, dachte Prinz Andrea im stillen, denn das klang eben doch nicht so übel.

Am folgenden Morgen kam die Seekönigin zu ihm und erklärte ihm genau, wie er ihre Schwester finden könne und wie er zu gehen habe. Gerade als Prinz Andrea seine Tageswanderung antreten wollte, kam Prinzessin Meseria ihm entgegen.

»Hallo, mein Prinzeßchen!« rief Andrea ihr zu, »gute Nachricht für dich! Ich mache jetzt eine Tageswanderung zu der Waldkönigin, um allerlei für unsere Hochzeit zu holen.«

»Das habe ich mir schon gedacht, und deswegen bin ich ja hergekommen. Die Waldhexe ist geradeso gefährlich wie ihre Schwester,



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und du mußt sehr vorsichtig sein, wenn du lebendig von einem Besuch in ihrem Haus zurückkehren willst.«

»O, die Waldhexe ist sie!« rief Andrea erschrocken. Nun wußte er genau, wer sie war; sie war's, die vor langen Jahren einmal einen von seines Vaters Jägern in den tiefen Wald gelockt hatte, und nie mehr wurde der wiedergesehen. Er hatte erzählen hören, daß sie sich den Menschen gewöhnlich als eine schöne Frau mit rotgelocktem Haar zeigte, doch sobald sie sich umdrehte, sah man, daß sie hohl war, und deswegen ließ sie ihr langes Haar über den Rücken herabfallen.

»Ohne meine Hilfe würdest du für immer verloren sein«, fuhr Meseria fort. »Nun, ich habe hier ein paar Sachen für dich, die dir auf deiner Wanderung nützen werden. Hier sind zwei Messer, und hier zwei Äxte von hartem Stahl, zwei Laib Brot und zwei wollene Mützen. Verschenke sie auf deinem Wege zur Hexe, wenn du siehst, daß sie wo gebraucht werden!« Sie gab ihm alles, und Andrea dankte ihr für alles Liebe und wollte gleich gehen.

»Warte noch einen Augenblick, wir sind noch nicht fertig!« sagte sie. »Das war nur für die Wanderung. Doch für deinen Aufenthalt bei der Hexe habe ich dir noch allerlei mehr zu sagen. Hier ist ein seidenes Kissen für die scheußliche Schlange, das zahme Tier der Hexe, das auf dem Fußboden in der Halle haust. Und dann mußt du wissen, daß du dich in der Halle nur mit größter Vorsicht auf einen Stuhl setzen darfst. Da gibt es einen roten Stuhl, und wenn du dich auf den setzst, werden feurige Flammen dich zu Asche verbrennen. Da gibt es einen weißen Stuhl, und wenn du dich auf den setzst, werden weißschäumende Wogen über dir zusammenschlagen und du wirst ertrinken. Und da gibt es einen blauen Stuhl, und wenn du dich auf den setzst, werden die Adern in deinem Körper anschwellen und platzen, und du wirst sterben. Und schließlich ist da noch ein gelber Stuhl, und wenn du dich auf den setzt, wirst du von einer Krankheit befallen und mußt auch sterben. Doch da ist noch ein schwarzer Stuhl, der unauffällig im Hintergrund steht, und das ist der einzige, auf den du dich unbeschadet setzen darfst. Und denke während der ganzen Zeit dort daran, daß du keinerlei Nahrung anrührst. Wenn du es tust, wird sie dich in einen schrecklichen Drachen verwandeln, der dich in Stücke reißt. Wenn du dir das alles nicht genau einprägst,



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fürchte ich, werden wir uns nie wiedersehen«, schloß Meseria mit Tränen in den Augen.

»Es ist allerdings viel, was ich mir merken muß, doch werde ich mir gewiß Mühe geben, deine Anweisungen zu befolgen«, antwortete Prinz Andrea. Dann nahm er Abschied von ihr und begann seinen langen und gefahrvollen Weg.

Dieser Weg ging gerade durch das Meer und hinauf in einen tiefen Wald. Als er mehrere Stunden durch den Wald geschritten war, sah er, wie Bauern Holz zerschnitten. Sie waren langsame Arbeiter, aber das war kein Wunder, denn sie hatten nur ein Messer, und zwar ein schlechtes, so taten hier die zwei stählernen Messer not, und er rief ihnen zu:

»Hallo, ihr zwei da! Mit eurem Messer könnt ihr aber nicht viel schaffen. Ich habe hier bessere Klingen für euch.« Und er reichte ihnen die zwei stählernen Messer, die Meseria ihm gegeben hatte. Die beiden Männer schauten ihn dankbar an, nahmen die Messer und versuchten sie. Wie überrascht waren sie, als sie sahen, wie sehr viel rascher ihnen die Arbeit jetzt von der Hand ging! Sie dankten ihm tausendmal, und Prinz Andrea setzte seine Wanderung fort, glücklich darüber, eine so gute Verwendung für die Messer gefunden zu haben. Nach einiger Zeit sah er zwei Holzfäller, die eine hohe Tanne umzuhauen versuchten, doch sie kamen kaum damit vorwärts, denn sie hatten nur eine Axt, und es war eine schlechte Axt, denn sie war aus Holz.

»Hallo, ihr zwei Holzfäller dort!« rief er. »Glaubt ihr wirklich, daß ihr mit eurer Axt jemals den Baum werdet fällen können? Hier, ich habe besseres Werkzeug für euch!« Und er gab ihnen die zwei Äxte aus Stahl, die er von Meseria erhalten hatte. Nirgends, glaubte er, würde er jemanden finden, der sie notwendiger gebrauchen konnte als die beiden Holzfäller.

Sie dankten ihm sehr und versuchten ihr neues Gerät. Wie herrlich diese Äxte waren! Nun konnten sie ihre Arbeit in ganz kurzer Zeit schaffen. Und tausendmal dankten auch sie dem hilfreichen Wandersmann. Andrea ging weiter und war froh darüber, daß er eine so gute Verwendung für die Äxte gefunden hatte, die Meseria ihm mitgegeben hatte.



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Nachdem er einige Zeit gewandert war, sah er hoch oben auf einem Hügel eine Windmühle stehen. Als er näher kam, sah er zwei Männer dort eifrig arbeiten. Der kalte Wind und der durch die Windmühlenflügel bewirkte Zug blies ihnen ständig die Haare ins Gesicht. Als Andrea das sah, dachte er, daß hier die wollenen Mützen der Prinzessin wohl angebracht wären.

»Hallo, ihr da, ihr zwei Müller! Stört euch nicht der Wind bei der Arbeit, weil er euch dauernd die Haare ins Gesicht pustet?« rief er ihnen zu.

»Bist du ein törichter Bursche!« riefen sie zurück. »Der Wind hilft uns, die Mühle in Gang zu halten. Wir müssen uns mit der Kälte abfinden.«

»Ja, das sehe ich, aber ihr braucht warme Mützen, damit eure Köpfe warm werden und euer Haar in Ordnung bleibt«, sagte er und gab ihnen die zwei wollenen Kappen.

>Was für ein guter Freund ist das doch, und wie unfreundlich sind wir zu ihm gewesen<, dachten sie beschämt und sagten dann laut: »Vielen tausend Dank, lieber Herr, für euer Geschenk!«

So ging also Prinz Andrea ganz beglückt weiter und war froh darüber, daß er mit Meserias Geschenken so viel Nutzen stiften konnte.

Mehrere Stunden wanderte er weiter durch den Wald. Zuletzt sah er da, wo die dicksten Bäume waren, das Haus der Waldkönigin stehen, das aus großen schweren Baumstämmen errichtet war. Durch das Tor stürzten ein Wolf und ein Bär mit aufgerissenem Rachen, um ihn zu verschlingen. Er aber nahm eilends einen Brotlaib, brach ihn in zwei Hälften und warf jede in einen der hechelnden Rachen, ehe die Bestien ihn angreifen konnten. Da krochen sie, das Brot kauend, in ihre Höhlen hinter dem Tor zurück, und Andrea konnte ungestört weitergehen.

Dann betrat er das gefahrdrohende Haus der Waldhexe und sah sich in einer großen Halle. Da saß die Hexe auf einem Thron, ihr rotes Haar hing lose über den Rücken. Sie hatte den gleichen tückischen Blick in den Augen wie ihre Schwester. Es schüttelte Andrea, als sie ihn ansah und fragte, was er wolle. Er verbeugte sich und erwiderte:



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»Ich bringe Grüße von deiner Schwester und soll einige Sachen für meine Hochzeit von dir abholen.«

»Ach ja, ich weiß schon«, sagte sie mit einem bösen Lächeln, das Andrea an ihre Schwester erinnerte. »Du hast einen langen Weg hinter dir und wirst müde sein. Setz dich ein Weilchen und iß etwas, während ich die Sachen für die Hochzeit zusammenpacke.«

Sie zog einen roten Stuhl heran und forderte Andrea zum Sitzen auf. Aber er schüttelte nur den Kopf und sagte, er sei gar nicht müde. Dann zeigte sie auf einen weißen Stuhl, doch Andrea wehrte wieder ab, da er ja nicht müde sei. »Warum nimmst du nicht Platz, wie es doch üblich ist?«fragte sie und schob ihm den blauen Stuhl zu. Er aber schüttelte nur den Kopf und hielt nach dem schwarzen Stuhl Ausschau, weil er nach dieser Tageswanderung wirklich müde war —das stimmte schon. Dann entdeckte er den schwarzen Stuhl in einer Ecke, ging hin und setzte sich.

Als sie das sah, wurde die Waldhexe grün vor Wut, aber sie sagte nur: »Da du noch etwas warten mußt, wirst du es mir doch nicht ablehnen, etwas zu essen, was ich dir vorsetzen werde. Meine Schwester würde es mir nie verzeihen, wenn ich dich von hier wieder gehen ließe, ohne daß du meine gute Wurst gekostet hast«, und damit ging sie hinaus. Andrea sah sich in der Halle um, ob er die Schlange, von der Meseria gesprochen hatte, irgendwo sehen könnte. Doch gerade, als er das scheußliche Reptil entdeckte, das schon hochzüngelte, kam die Hexe mit dem Essen.

»Nimm«, sagte sie und gab ihm eine Wurst. »Iß sie auf, während ich die Sachen für die Hochzeit packe«, und dann ging sie an der Schlange vorbei und flüsterte ihr zu:

»Schlange, hör' zu!
Wache ohne Ruh.«


***
Sobald Andrea in der Halle wieder allein war, stahl er sich zu der Schlange hin, trat ihr auf ihren Schuppenleib und schob ihr das seidene Kissen unter den Kopf. In Sekundenschnelle war sie eingeschlafen. Nun überlegte Andrea, was er wohl mit der Wurst anfangen solle, die zu essen, wie er wußte, gefährlich war. Und so



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versteckte er sie schließlich in der Ecke hinter dem schwarzen Stuhl, auf den er sich wieder setzte. Im nächsten Augenblick aber trat schon die Hexe in die Tür und fragte:
»Wurst, hörst du mich?
Sprich, ich frage dich.«


***
Und hinter dem Stuhl kam die Antwort der Wurst hervor:
»Königin, ich sag es hier:
der Stuhl verbirgt mich jetzt vor dir.«

Nun aber wurde die Hexe überaus böse. Sie kam zu dem Stuhl, auf dem Andrea saß, hob die Wurst auf und legte sie vor Andrea hin: »Was für ein unhöflicher Mensch bist du, daß du die kleine Mahlzeit, die ich dir anbiete, verschmähst! Ich bitte dich aber, wenigstens diese eine Wurst zu essen«, sagte sie und verließ sehr aufgeregt den Raum. Andrea wußte nun wirklich nicht, was er mit der Wurst anfangen sollte. Lange Zeit überlegte er, an welchem Platz er sie wohl sicher verbergen könne. Plötzlich hörte er sich nähernde Schritte und steckte die Wurst schnell in seine Jacke. Kaum getan, stand die Hexe wieder in der Tür mit einem Kästchen in der Hand. Sie blickte ringsum und fragte wie zuvor:

»Wurst, hörst du mich?
Sprich, ich frage dich.«


***
Und aus Andreas Jacke heraus antwortete die Wurst:
»Königin, ich sag es dir,
bin in seiner Jacke hier.«


***
Da freute sich die Hexe und sagte:
»In der Jacke, Herzchen mein,
wirst bald in seinem Magen sein.«



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***
Dann gab sie Prinz Andrea das Kästchen und sprach: »Hier sind die Hochzeitsgeschenke. Ich wünsche dir einen recht guten Tag, und viele schöne Grüße an meine liebe Schwester!«

Andrea verließ das Haus durch die große Tür und atmete erleichtert auf, als sie sich hinter ihm schloß. Doch er war kaum in dem Hof, da fühlte er, wie sich die Wurst in seiner Jacke bewegte. Er machte die Jacke schnell auf, und heraus drängte die Wurst. Sie schwoll und schwoll, bis sie zuletzt ein riesiger Drache geworden war, der in die Wolken hinauffiog. Andrea konnte es sich lebhaft vorstellen, was aus ihm geworden wäre, wenn er dieses Ungeheuer verschlungen hätte. Aber die Hexe ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn sobald sie merkte, daß Andrea ihr entkommen war, lief sie aus dem Haus und schrie:

»Greift ihn, meine Wächter!
Mit den Klauen müßt ihr ihn zerreißen,
Mit den Kiefern müßt ihr ihn zerbeißen!«


***
Heraus stürzten Bär und Wolf mit weit aufgerissenen Rachen, um ihn zu verschlingen. Doch Andrea hatte noch ein Stück Brot zurückbehalten, das er nun schnell auseinanderbrach und jede der Hälften einer der Bestien zuwarf. Und der Bär brummte:
»Hungrig war ich sehr,
nun kann ich nicht mehr.«


***
Und der Wolf jaulte das gleiche. Ohne Andrea etwas zuleide zu tun, krochen beide in ihre Höhlen hinter den Zaun zurück. Prinz Andrea gab Fersengeld und rannte fort, so schnell er konnte. Aber die Hexe verfolgte ihn, und als er an der Mühle vorbeilief, schrie sie:
»Aufgepaßt, ihr Müller zwei,
mahlt ihn mir zu Staub und Brei!«


***
Sie wollten gerade den Befehl ausführen, als sie ihn erkannten und sagten:



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»Nein, diesem können wir nichts Böses tun. Als wir froren, gab er uns wollene Mützen, seitdem sind wir warm und zufrieden.« Sie kehrten zu ihrer Mühle zurück, und Andrea rannte weiter, doch die Hexe kam näher und näher.

Als er die beiden Holzfäller erreichte, hörte er sie hinter sich schreien:

»Ihr Holzfäller, herbei, herbei!
Schneidet mir den in Stücke entzwei!


***
Schon wollten sie der Königin gehorchen, doch als sie sahen, um wen es hier ging, riefen sie:

»Nein, dieser junge Mann ist unser Freund. Wir mußten schwer mit schlechtem Werkzeug arbeiten, doch seit er uns neue Äxte gab, fliegt die Arbeit nur so.« Und sie ließen ihn ungehindert vorüber.

Als Andrea in Sicht der beiden Holzschneider kam, hörte er wieder hinter sich die Stimme der Hexe:

»Ihr Holzschneider, ihr beide,
zerschneidet ihn, mir zur Augenweide!


***
Sie wollten ihn gerade packen, als sie den jungen Mann erkannten, der ihnen die guten Stahlmesser geschenkt hatte. Da ließen sie ihn weitergehen und riefen:

»O nein, der ist ja unser Freund! Er hat uns gute Stahlmesser gegeben, damit wir nicht mehr das stumpfe hölzerne brauchen. Dem können wir nichts antun!«

Von da an lief Prinz Andrea auf seinem Weg durch den Wald, ohne noch neue Abenteuer bestehen zu müssen. Und er kam an die Stelle der Meeresküste, von der aus er das Schloß der Seekönigin sicher erreichen konnte.

Selbstverständlich war seine Rückkehr für die Seekönigin eine sehr unliebe Überraschung. Sie konnte nur mit Mühe ihre Wut beherrschen, als er ihr die Schachtel mit den Hochzeitssachen übergab und dazu Grüße ihrer Schwester ausrichtete. Doch sie nahm sich zusammen und sagte:



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»Wie klug du nur bist! Nun wollen wir also eine prächtige Feier vorbereiten. Es kommt nicht oft vor, daß einer meiner jungen Leute so viel Glück hat.« Und Prinz Andrea ward über diese Worte sehr froh.

Gegen Abend kam Prinzessin Meseria, um ihn zu sprechen. Obwohl sie glücklich war, ihren Prinzen lebendig wiederzusehen, war sie doch von Angst erfüllt. »Unsere Königin hat eine furchtbare Wut«, sagte sie, »wir hätten besser daran getan, so rasch wie möglich fortzulaufen.«

»Das ist nicht so leicht getan«, antwortete Andrea, »ich habe es jetzt erfahren, was es heißt, wenn man einer Hexe zu entkommen versucht.«

»Bis jetzt ist uns alles gut gelungen«, meinte Meseria, »und wenn wir vorsichtig sind, werden wir doch noch unser Ziel erreichen. Wir müssen in tiefer Nacht aufbrechen, wenn die Königin schon zu Bett gegangen ist. Du gehst in den Stall und sattelst das schwarze Pferd mit dem goldenen Sattel und die schwarze Stute mit dem silbernen Sattel und wartest dort, bis ich komme. Ich habe noch einiges vorzubereiten.«

Dann ging Meseria in ihr Schlafzimmer, nahm ein Kleid und zerriß es in drei Stücke. Jedes davon band sie zu einer Schleife. Dann stach sie sich mit einer Nadel in den Finger und ließ auf jede der drei kleinen Schleifen einen Blutstropfen fallen. »Nun müßt ihr statt meiner antworten«, sagte sie und legte eine neben ihr Bett, die zweite mitten ins Zimmer und die dritte auf die Türschwelle. Sie wartete, bis sie die Königin im Nebenzimmer schnarchen hörte. Dann eilte sie in den Stall hinunter.

Andrea stand schon mit den zwei Pferden bereit. »Schnell, schnell, besteige das schwarze Pferd«, sagte sie, »ich nehme die Stute. Und nun nichts als fort!«

Als die Seekönigin früh am nächsten Morgen erwachte, rief sie: »Meseria, Mädchen, schläfst du noch?«

»Nein, meine Königin, ich stehe eben auf«, antwortete die Schleife neben dem Bett.

Die Seekönigin drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Nach einer Stunde wachte sie von neuem auf und rief:



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»Meseria, mein Mädchen, bist du nun auf?«

»Ja, meine Königin, ich scheuere gerade den Boden«, antwortete die Schleife, die mitten im Zimmer lag, und die Seekönigin schlief nochmals ein. Nach einer weiteren Stunde rief sie erneut:

»Meseria, mein Mädchen, scheuerst du noch immer den Boden?«

»Nein, meine Königin, ich mache das Feuer an«, erwiderte die Schleife, die auf der Türschwelle lag, und die Königin schlief ein drittes Mal ein.

Als die Königin das nächste Mal aufwachte, rief sie wieder:

»Meseria! Meseria! Hörst du nicht, daß ich dich rufe?«

Aber da kam keine Antwort. Schließlich stand die Königin auf, um zu sehen, was es denn gäbe. Sie trat in Meserias Stube und sah die drei Schleifen mit den drei Blutstropfen.

»Oh, dieses gescheite Ding!« rief sie aus, »alle meine Tricks hat sie mir abgelauscht! Aber sie soll ihren Prinzen nicht bekommen, soweit ich es nur verhindern kann!« Sie lief in den Stall hinunter und fand, wie sie es schon erwartet hatte, daß das schwarze Pferd und die schwarze Stute fort waren und mit ihnen Prinz Andrea und Prinzessin Meseria.

Sie rief ihren Stallburschen: »Schnell, nimm meine Geis, setze dich auf sie und verfolge die beiden. Was du an lebenden Wesen auf deinem Wege findest, das bring her, und nun spute dich!«

Prinz Andrea und Prinzessin Meseria waren die ganze Nacht hindurch geritten und daher schon weit fort, als der Stallbursche die Verfolgung aufnahm. Aber die Zaubergeis der Königin war schneller als der Wind und sauste über die Wogen.

Und plötzlich sagte Meseria zu Andrea: »Hörst du das laute Schnauben hinter uns? Nun heißt es aufpassen, denn die eigene Geis der Königin verfolgt uns.« Und sie verwandelte sich und Andrea in ein paar kleine Mäuse und die beiden Pferde in Sträucher am Weg. Als der Stallbursche herangaloppiert kam, sah er weder Pferd noch Stute, weder Andrea noch Meseria, er sah nur zwei kleine Mäuse im Gebüsch spielen.

>Die kann meine Königin ja nicht gemeint haben<, dachte er, und da er ringsum nichts Verdächtiges feststellte, kehrte er nach Hause zurück.



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»Nun, hast du sie gefunden?«fragte die Königin aufgeregt.

»Nein, Herrin, ich sah nur ein paar Mäuse im Gebüsch spielen, und die kannst du ja nicht gemeint haben.«

»Du dummer Kerl, gerade die hättest du greifen müssen. Kehre sofort dorthin zurück und bringe jedes lebendige Wesen, dem du begegnest, ganz gleich, ob es winzig oder groß ist.«

Also saß der Bursche wieder auf und ritt übers Meer.

Und wieder hörte Meseria schon von weitem das Schnauben der Geis. Nun verwandelte sie die zwei Pferde in Bäume und sich und Andrea in Vögel, die im Gezweig herumflatterten.

Und als der Bursche auf der Geis heranjagte, sah er keine Mäuse und kein Gesträuch - sondern nur ein paar Bäume und darinnen zwei kleine Vögel. Und er kam völlig erschöpft mit leeren Händen zurück.

»Hast du sie gefaßt?« schrie die Hexe ihm schon entgegen, als sie ihn kommen sah.

»Nein, Herrin, ich sah nichts von Mäusen, nur ein paar ganz kleine Vögel, und die kannst du ja wirklich nicht gemeint haben.«

»Du dummer Kerl! Befahl ich dir nicht jedes Lebewesen, ob klein oder groß, herzubringen?« brüllte die Königin vor Wut. »Lauf hinunter und sattle die Geis neu, jetzt will ich selber mal nachsehen.« Sie sprang auf ihre Geis, und fort ging es mit Blitzesschnelle.

»Oh!«rief Meseria aus, als sie diesmal die Geis hörte. »Am Ton höre ich, daß da nun die Hexe selber kommt. Ihr ist nicht zu entgehen. Aber sieh, in diesem Augenblick sind wir gerettet, denn jetzt haben wir die Grenze ihres Königreiches überschritten.«

Und als Meseria und Andrea aus den Wogen auftauchten, sahen sie die zornige Seekönigin, die sie nun nicht mehr erreichen konnte und vor Wut die Fäuste gegen sie schüttelte. Sie mußte in ihr Zauberschloß ohne die kluge Meseria und den jungen Prinzen zurückkehren. Andrea stellte fest, daß sie an der gleichen Stelle aus dem Meer aufgetaucht waren, an der die weiße Hand ihn einst hinabgezogen hatte. Nicht weit entfernt erkannte er seines Vaters Schloß. Er hatte Meseria versprochen, daß sie zuerst in ihr Land gehen und dort heiraten würden, um dann erst in seines Vaters Königreich zurückzukehren.



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Aber er hatte natürlich nicht gewußt, daß er so nah von zu Hause sein würde.

»Komm, gehen wir schnell zum Schloß und begrüßen erst meine Eltern!« sagte er zu Meseria.

»O nein! Das dürfen wir nicht, ehe wir verheiratet sind. Denn ich weiß genau, daß wir vorher noch von der Rache der Seekönigin bedroht werden.«

»Aber ich bin doch so nahe, ich kann nicht anders, ich muß zuerst schnell meine Eltern sehen.«

»Wenn du so sehr danach verlangst, mag ich dich nicht hindern. Doch du mußt alleine gehen. Ich will hier auf dich warten. Und was du auch tust, das eine, versprich es mir, darfst du auf keinen Fall: du darfst zu niemanden sprechen, sonst vergißt du mich sofort, und alles, was wir zusammen durchgemacht haben, versinkt im tiefen Meer.

»Wie kannst du glauben, daß ich dich und alles, was du für mich getan hast, je im Leben vergessen könnte? Ich verspreche dir fest, zu keiner Menschenseele auch nur ein einziges Wort zu sagen. Warte nur wenige Minuten, ich bin gleich zurück!«, so Andrea.

Was für eine Aufregung über seine Heimkehr gab es in seines Vaters Schloß! Niemand hatte mehr daran geglaubt, ihn lebend wiederzusehen. König und Königin umarmten ihn und waren glücklich, ihn wieder zu Hause zu haben. Doch wie verändert er war! Er sprach mit niemandem, er wollte gleich nochmals davongehen. Soviel sie es auch versuchten, keiner konnte ihn zum Bleiben überreden. Er schüttelte nur den Kopf und wollte wieder forteilen.

Doch gerade, als er hinausging, kamen seine beiden Doggen gerannt, sprangen an ihm hoch und jaulten vor Freude.

»Aus, aus! Ruhig!« rief er, sein Versprechen völlig vergessend. Und sofort war ihm, als sei er soeben aus einem schweren Traum erwacht.

>Warum bin ich hier draußen? Wieso will ich von Hause fortgehen? Es wartet doch niemand auf mich. Was ist denn nur?<Alle diese Fragen gingen ihm durch den Kopf, aber er wußte keine Antwort und kehrte in das Schloß zurück.

Wie freuten sich seine Eltern; denn nun erst war er wieder ganz ihr



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lieber Sohn. >Wie gut<, dachten sie, >daß er jetzt wieder wie früher ist und das Sprechen nicht verlernt hat.<

Am Meeresufer aber saß einsam Prinzessin Meseria und wartete auf ihren Prinzen. Sie wartete Stunden um Stunden, aber keiner kam. Was sie befürchtet hatte, mußte geschehen sein: sie war von ihm vergessen worden. Sie stürzte zu Boden und weinte bitterlich.

Zuletzt faßte sie sich wieder und überlegte, was wohl zu tun wäre. >Ehe ich etwas anderes unternehme<, sagte sie sich, >werde ich erst einmal mein Gesicht waschen, damit niemand sieht, daß ich geweint habe.<

Sie ging in einen nahen Wald, wo sie eine Quelle fand. Nachdem sie ihr Gesicht gekühlt hatte, sah sie, wie ein junges Mädchen aus einer kleinen Hütte trat. Es hielt einen Krug in der Hand, den es wohl an der Quelle mit Wasser füllen wollte. Meseria schlüpfte hinter ein paar Sträucher und wartete ab.

Als das Mädchen sich bückte, um seinen Krug zu füllen, schaute Meseria durch die Zweige, und ihr Gesicht spiegelte sich im Wasser. Und das nach unten blickende Mädchen sah das Gesicht von Meseria im Wasser. Weil es noch nie in einen Spiegel geschaut hatte, glaubte es nun, es erblicke sein eigenes Gesicht, und war erstaunt, eine solche Schönheit zu sein.

»Wie töricht wäre ich, hierzubleiben und meinen blinden Vater zu bedienen!« rief es aus. »Ich will in die Welt hinausgehen und mein Glück versuchen.« Es ließ den Krug stehen und ging davon.

Meseria nahm den Krug, füllte ihn mit Wasser und ging zu dem blinden Mann in die Hütte. Der Blinde glaubte, es sei seine Tochter, und wunderte sich, was wohl geschehen sei, weil sie plötzlich so freundlich und liebevoll zu ihm war. Nun blieb Meseria in der Hütte des Blinden und sorgte für ihn. Und wer an der Hütte vorüberkam, staunte, was für eine schöne Tochter der blinde Bauer hatte, und wunderte sich, daß noch niemand je von ihr gesprochen hatte.

Viele junge Leute kamen nun zu der Hütte, um das reizende Mädchen zu sehen, und es waren nicht wenige, die sie gern heiraten wollten. Aber sie wies alle zurück. Man fing an, über sie zu reden, und es hieß, sie sei genau so stolz wie schön. Die Dienerschaft in dem königlichen Schloß hörte auch von den Gerüchten, und selbst die



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Höflinge redeten schon von dem stolzen Bauernmädchen. Da waren besonders drei, die saßen eines Nachts beieinander und sprachen über sie. Und der eine sagte: »Morgen will ich zu der Hütte des Blinden hinuntergehen und mich mit dem schönen Mädchen unterhalten. Dann werde ich ja sehen, ob sie so stolz und unnahbar ist, wie es immer heißt.«

Die anderen hielten das für einen guten Plan. Und am nächsten Tag ging der Höfling zu der Hütte des blinden Mannes, um Meseria selbst zu sehen. Als er kam, öffnete sie und war freundlich und liebenswürdig. >Sie ist tatsächlich so schön, wie immer gesagt wird, doch ob sie auch so stolz und abweisend ist?<dachte der Höfling im stillen. Er blieb auch noch am Abend ruhig sitzen, und es sah aus, als wolle er die ganze Nacht dableiben. Meseria wußte nicht recht, wie sie ihn loswerden sollte. Zuletzt sagte sie:

»Ach, ich glaube, ich habe vergessen die Tür zuzumachen.«

»Nun, damit brauchst du dich nicht aufzuhalten«, antwortete ihr Gast, »das will ich schon besorgen.«

»Willst du es mir bitte sagen, wenn du die Klinke zu fassen hast?« fragte sie. Und der Höfling ging zur Tür und rief:

»Ich bin da, ich habe die Klinke zu fassen.«

»Mann, halte den Griff, Griff, halte den Mann, bis die Sonne am Morgen aufgeht«, sprach Meseria.

Und der Höfling schloß die Tür, aber sie ging sofort wieder auf, und er hing fest an der Klinke und kam nicht wieder los. Die Tür ging auf und schloß sich wieder, ging auf und schloß sich wieder, die ganze Nacht hindurch - und der arme Mann mußte immer mit ihr dauernd hin und her. Der Morgen kam, die Sonne stieg am Horizont auf, und da endlich wurde der Höfling von der Klinke freigegeben und rannte, so schnell er nur konnte, nach Hause.

Als er die anderen beiden Höflinge traf, waren diese sehr neugierig und fragten ihn, ob ihm sein Besuch bei dem schönen Bauernmädchen viel Spaß gemacht habe. »Vielleicht ist sie gar nicht so stolz, wie immer gesagt wird?«fragten sie ihn.

»Ja, warum geht ihr nicht hin und stellt es selber mal fest?« war alles, was er antwortete, denn er schämte sich, ihnen zu verraten, wie er die Nacht hatte zubringen müssen.



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»Schön, heute werde ich mal hingehen und über Nacht dortbleiben«, sagte der zweite Höfling.

Als er zur Hütte kam, stand Meseria in der Tür und grüßte freundlich. >Sie ist wirklich eine Schönheit<, dachte der Mann und freute sich, daß er hergekommen war. Er trat ein, plauderte mit ihr und konnte gar kein Ende finden, so daß man annehmen mußte, er wolle überhaupt nicht wieder fortgehen.

Schließlich rief Meseria aus: »Oh, ich glaube fast, ich habe die Ofenklappe zu schließen vergessen.«

»Laß nur«, sagte ihr Besucher, »das will ich schon für dich tun.«

»Ja, aber wir haben eine Ofenklappe, die draußen am Haus angebracht ist und mit einem langen Stock zugestoßen werden muß, der an der Rückseite der Hütte hängt. Bitte rufe es mir zu, wenn du ihn gefunden hast und in der Hand hältst!« rief sie ihm zu.

Der Höfling ging hinaus zur Rückseite der Hütte und faßte den Stock von der Ofenklappe. »Jetzt bin ich da und habe den Stock«, rief er.

»Mann, halte den Stock, und Stock, halte den Mann, bis die Sonne am Morgen aufgeht«, sagte Meseria.

Der Höfling schloß die Klappe, doch die ging wieder auf. Er klebte am Stock und kam nicht davon los. Rauf und runter, rauf und runter, so ging der Stock und mit ihm der Mann, die ganze Nacht hindurch. Erst als am Morgen die Sonne aufging, war er endlich befreit und lief davon, so schnell er konnte.

Er schämte sich des nächtlichen Abenteuers sehr, und als er seine beiden Freunde wiedersah und der dritte Höfling ihn fragte, ob es ein angenehmer Besuch bei der Tochter des blinden Mannes gewesen sei, erwiderte er:

»Du selber bist ja noch nicht dort gewesen. Warum willst du dein Glück bei dem Mädchen nicht selbst mal versuchen?«

Da wurde nun der dritte Höfling auf seine beiden Freunde eifersüchtig und sagte: »Ich werde heute nacht hingehen.«

»Viel Vergnügen!« riefen die beiden anderen ihm nach.

Als er die kleine Hütte erreichte, stand Meseria in der Türöffnung.

»Guten Tag, junge Frau, kann ich mich etwas mit dir unterhalten?« fragte er.



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»Gern, bitte tritt ein!« antwortete sie höflich. Der Mann dachte, sie wäre ja überhaupt nicht stolz. Sie schien ein nettes Mädchen zu sein, und er blieb und sprach mit ihr. Als Meseria glaubte, nun wäre er aber lange genug da, sagte sie: »Oh, ich habe ja auch mein Kalb vergessen, das noch im Freien vor der Hütte ist.«

»Da brauchst du nicht hinauszugehen, ich tue es für dich.«

»Vielen Dank, es muß in den kleien Schuppen gleich neben der Hütte eingeschlossen werden. Du kannst es am besten fangen, wenn du es am Schwanz greifst. Bitte rufe es mir zu, wenn du es gefaßt hast.«

Kurz darauf hörte Meseria den Zuruf ihres Besuchers: »Ich habe es, ich halte es jetzt am Schwanz!«

»Gut so, Mann, halte den Schwanz, und Schwanz, halte den Mann, bis die Sonne am Morgen aufgeht!« rief Meseria.

Und nun begann ein Rennen bergauf und bergab, und der arme Höfling hing die ganze Nacht fest an dem Kalbsschwanz und konnte nicht loskommen. Er glaubte, die wilde Jagd würde für immer so weitergehen bis ans Ende der Welt. Doch als am Morgen die Sonne aufging, da stand das Kalb stille. Zu seiner großen Überraschung sah der Mann, daß er sich vor der Hütte befand und von dem Kalb befreit war.

Mehr tot als lebendig humpelte er heim. Als er später seine beiden Freunde traf, erfuhr er, daß deren Abenteuer nicht anders als sein eigenes verlaufen war. Keiner der drei hatte den Wunsch, das schöne Bauernmädchen noch einmal zu besuchen.

Während dies alles geschah, vergnügte sich Prinz Andrea auf den Festen, die der König zur Feier seiner Heimkehr gab. Aber nach einigen Wochen sagte der König zu Andrea, er wünsche, daß sein einziger Sohn nun heirate, und deswegen habe er viele Prinzessinnen aus anderen Ländern zu Gast geladen. Andrea brauche ihm dann nur zu sagen, welche von ihnen er am liebsten möge.

Andrea fand den Vorschlag seines Vaters sehr vernünftig, er hätte keinen Grund gewußt, nicht damit einverstanden zu sein, also wählte er sich eine nette und hübsche Prinzessin; und es wurde beschlossen, daß die Hochzeit einen Monat später stattfinden solle.



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Einige Tage vor der Hochzeit kam Prinz Andrea auf den Einfall, seiner Braut das ganze Land zu zeigen. Er wollte ihr vor Augen führen, ein wie mächtiger König sein Vater sei. Also befahl er für sie beide die schönste Staatskarosse und einige weitere Kutschen, in denen der Hofstaat folgen sollte.

Aber der Zug war noch nicht weit gekommen, als ein Unfall geschah. Die Pferde der Staatskutsche scheuten und gingen durch, eine der Deichseln brach, der Boden der Kutsche brach durch und fiel auf die Erde und mit ihm der Prinz und die Prinzessin.

Was gab das für eine Aufregung! Der Prinz befahl, andere Pferde zu holen, eine neue Deichsel und einen neuen Kutschenboden. Die Diener liefen und holten neue Teile. Aber sobald ein frisches Pferd vor die Kutsche gespannt wurde, brach es aus, sobald eine neue Deichsel angebracht war, zerbrach sie, und jeder neue Kutschenboden zerschellte.

Alle waren ratlos.

Doch als die drei Höflinge sich in der Gegend umsahen, erkannten sie, daß sie ganz dicht bei der kleinen Hütte hielten, in der das schöne Mädchen lebte, und nun gingen sie sofort zum Prinzen, und einer sagte:

»Mein Prinz, es mag ungewöhnlich sein, eine Tür als Kutschenboden zu benützen, aber wenn wir uns diese dort leihen könnten« — und er zeigte auf die Hüttentür -, »könntet ihr sie als Kutschenboden benutzen, und ich bin sicher, daß sie halten wird.«

Und der zweite sagte: »Mein Prinz, wenn wir uns die lange Stange, dort von der Ofenklappe« — und er zeigte auf die Hütte - »leihen würden, ich bin fest überzeugt, daß wir dann eine Deichsel hätten, die unzerbrechlich wäre.«

Und der dritte sagte: »Mein Prinz, es mag wohl etwas seltsam aussehen, aber wenn wir uns das Kalb von dort drüben leihen könnten und es vor die Kutsche spannten, es würde sie besser ziehen, als vier Pferde es vermöchten.«

Der Prinz fand alle ihre Vorschläge reichlich verrückt, aber es blieb keine andere Wahl. Deshalb sandte er einen Diener aus, um das schöne Bauernmädchen zu bitten, ihnen die drei Dinge zu leihen, und ließ fragen, was sie dafür verlange. Das Mädchen sagte, sie wolle



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dem Prinzen gern ihre Sachen leihen und ihre Bedingung sei nur, daß sie an die königliche Tafel geladen werde, noch vor der Hochzeit.

Der Prinz hatte nichts dagegen, das schöne Mädchen einzuladen, doch fand er ihren Wunsch sehr seltsam. Er nahm die drei Gegenstände von ihr an. Die Tür und die Stange der Ofenklappe paßten genau in die Kutsche, und niemand hätte daran etwas Seltsames entdecken können.

Das Kalb - nun ja, es war nicht eben die Tierart, die man vor eine prächtige Staatskarosse zu spannen pflegt -, es lief aber wacker los, vielleicht schneller, als es für den Prinz und die Prinzessin vergnüglich war. Doch nun konnte Prinz Andrea ihr das ganze Königreich zeigen.

Als der Hochzeitstag näher kam und es für Meseria Zeit wurde, sich auf das große Diner im königlichen Schloß vorzubereiten, zog sie ein so bezauberndes Kleid an, wie es zuvor noch nie gesehen wurde. Es war ein Kleid aus weißer Seide, mit Goldfaden durchwirkt und mit Perlen und Diamanten verziert. Auf dem Kopf trug Meseria eine zierliche goldene Krone, von kostbaren Juwelen durchsetzt. Sie war froh, sich wie eine richtige Prinzessin kleiden zu können. Als sie das Schloß betrat, wollten die Gäste sich gerade an die Tafel setzen. Doch da sie in die große Halle eintrat, war jeder von der schönen fremden Prinzessin derart gefesselt, daß alle darüber die Braut vergaßen. Nachdem man sich gesetzt hatte, zog Meseria ein kleines Kästchen hervor, und jedermann sah neugierig zu ihr hin. Sie öffnete das Kästchen, und darin waren drei kleine Vögel und drei kleine goldene Körner. Zwei der Vögel ergriffen ein Korn und flogen zu dem Platz, wo Andrea saß, und der dritte folgte ihnen, doch er trug nichts im Schnabel. Dann sprachen die Vögel miteinander:

»Wo ist dein Korn?«wurde der Vogel gefragt, der kein Korn hatte.

»Du bist genauso vergeßlich wie der Prinz Andrea, als er seine treue Meseria vergaß.«

Als Andrea das vernahm, blickte er auf, und jetzt erkannte er Meseria wieder, die auf der anderen Seite der Tafel saß. Es war, als sei er aus einem langen Schlaf erwacht, und plötzlich wußte er wieder alles, was er im Schloß der Seekönigin erlebt hatte. Er sprang von der Tafel auf, ging zu Meseria und schloß sie in seine Arme. Dann



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wandte er sich an die Gäste, die sich voller Erstaunen anschauten und nicht wußten, was hier eigentlich vor sich ging.

»Diese hier ist meine wahre Braut und keine andere«, sprach er. »Und die Prinzessin, die ich beinahe geheiratet hätte, möge meiner Erzählung lauschen und selbst beurteilen, ob es nicht bitteres Unrecht gewesen wäre, wenn ich sie geheiratet hätte.«

Und nun erzählte Prinz Andrea die ganze Geschichte von allen seinen Abenteuern drunten auf dem Meeresgrund und von all den Gefahren, aus denen ihn Meseria gerettet hatte; er erzählte auch, wie oft er ihr Treue geschworen hatte. Da war nicht ein Mensch in der großen Halle, auch nicht die frühere Braut selber, die Andrea nicht bestätigten, daß er vollkommen recht habe und daß diese wunderschöne Prinzessin Meseria die echte Braut wäre.

So endete denn alles mit einer Hochzeit; und die reizende Meseria heiratete ihren Prinzen, und sie lebten froh und glücklich lange Zeit miteinander.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
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