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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Das Fleisch kam gar z allein ins Haus

Es war einmal ein Esel, der wollte nicht mehr arbeiten. Deshalb entlief er und suchte sich ein Stellung, wo er nicht mehr zu arbeiten brauchte. Unterwegs begegnete ihm ein Hammel, der fragte: »Sei mir gesund, und wie geht es dir, Freund?«

»Ich kann es nicht mehr ertragen«, sagte der Esel.

»Wenn irgendwo eine Hochzeit ist, heißt es: Heidi, Esel, trage Wasser. Holz muß der Esel holen, Mist muß der Esel auf die Felder tragen, und das alles hungrig, weil man mir höchstens eine Handvoll Stroh gibt oder das, was die Pferde übriglassen, oder trockenes Laub. Der Esel soll das fressen oder zerspringen. Am nächsten Tage aber wieder zur Arbeit, Wasser tragen, Holz holen. Diese Marter kann ich nicht mehr ertragen! Ich bin davongelaufen und suche mir jetzt eine Stellung, wo ich nicht mehr arbeiten muß und mich ein wenig ausruhen kann.«

»Auch ich bin weggelaufen«, antwortete der Hammel, »denn wenn irgendwo eine Hochzeit vorbereitet wird, dann heißt es: Schlachten wir den Hammel! Wenn irgendwo ein Festmahl bereitet wird, dann heißt es: Schlachten wir den Hammel! Na, da können Freunde kommen oder Feinde, bewirtet wird mit dem Hammel.«

Als sie so gemeinsam weitergingen, begegnete ihnen die Füchsin. Sie sagte ihnen: »Seid mir gesund, Freunde!«

Beide erzählten ihr, warum sie davongelaufen waren und wohin sie jetzt gingen.

»Ach«, sagte die Füchsin, »auch ich laufe davon, wenn irgendwo eine Hochzeit vorbereitet wird. Da heißt es gleich, daß der Füchsin als Geschenk für die Braut das Fell über die Ohren gezogen wird.« Auch die Füchsin gesellte sich zu ihnen, und so waren sie schon drei Gefährten. Unterwegs trafen sie einen Hahn. »Seid mir gesund, und wie geht es euch, Freunde? sagte er ihnen.



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Sie erzählten ihm, warum sie weggelaufen waren.

»Auch ich bin davor weggelaufen«, antwortete der Hahn.

»Wenn irgendwo Eltern ein Abendessen für die Neuvermählten bereiten, heißt es gleich: Schlachtet den Hahn! Wenn der Schwiegersohn zu Gast kommt: Schlachten wir den Hahn! Am Faschingsdienstag: Schlachten wir den Hahn! Ob der Hahn groß ist oder nicht, ob er schon kräht oder nicht, sieh nur hin, und da wirst du sehen, wie man ihn schon auf den Tisch bringt. Das konnte ich nicht mehr aushalten, und deshalb bin ich geflohen. Darf ich mit euch gehen?«

Sie nahmen ihn mit, und so waren sie schon zu viert, als sie weitergingen. Als sie so einige Zeit gegangen waren, fanden sie eine Wolfshaut. Sie wollten sie mitnehmen, aber sie war ihnen zu schwer. Da sagte der Esel: »Nehmt sie und werft sie auf meinen Rücken. Ich werde sie tragen. Ich bin gewohnt, Lasten zu tragen. So werde ich auch die Wolfshaut tragen.

Sie nahmen die Wolfshaut, warfen sie über den Esel und gingen weiter. Sie gingen und gingen und kamen an eine Höhle. Dort überraschte sie die Nacht. Sie gingen in die Höhle, um darin zu übernachten, doch was sahen sie darin? Ein Feuer brannte darin, ein Abendessen kochte, aber keine lebende Seele war zu sehen. In dieser Höhle lebten Bären und Wölfe, doch die waren eben da nicht zu Hause, weil sie des Abends auf die Jagd gegangen waren. Als die vier Gefährten an die Höhle kamen, wußten sie nicht, wohin und woher. Sie wußten nicht, ob sie hineingehen oder draußen bleiben oder weiterziehen sollten. Sie wußten nicht, was sie tun sollten.

Sie fürchteten sich, hineinzugehen und darin zu bleiben, weil sie gesehen hatten, daß jemand darin wohnte. Aber es war zu spät, weiterzugehen, da es schon Nacht wurde. Schließlich gingen sie doch in die Höhle, um darin zu übernachten. Die Wolfs haut aber, die sie gefunden hatten, füllten sie mit Stroh, bevor sie in die Höhle gingen, und hängten sie vor dem Eingang auf. Dann gingen sie hinein und setzten sich ans Feuer.

Als sie so am Feuer saßen, kamen nach einiger Zeit zwei Bären und zwei Wölfe, die Herren der Höhle, mit ihren Kindern und fanden sie dort. Die Gäste sahen die Hausherren und wurden vor Angst fast zu Stein.

»Willkommen, Freunde«, sagten ihnen die Bären und die Wölfe.

»Wir fanden euer gutes Heim«, antworteten die Gäste.

»Bitte, setzt euch, setzt euch nieder, setzt euch«, antworteten die Haus-



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herren, und die Gäste setzten sich. Auf den Ehrenplatz setzten sie den Esel, neben ihn den Hammel, dann die Füchsin, und ganz zuletzt kam der Hahn. Sie aßen und tranken und waren guter Dinge.

Die Hausherren baten die Gäste, sie sollten etwas singen, aber der Esel sagte: »Zuerst muß der Hausherr singen, dann kommen die Gäste. So ist es der Brauch, und so gehört es sich.«

So stritten sie ein wenig, aber schließlich sang der Bär:

»Das Fleisch kam ganz allein ins Haus,

Das Fleisch kam ganz allein ins Haus.

Das Fleieieisch kam gaaanz alleieiein ums Haus!«

Als die armen Gäste dieses Lied des Bären hörten, wurden sie weiß vor Angst. Dann baten sie den Esel, etwas zu singen. Wie konnte es dem unseligen, armen Esel zum Singen zumute sein? Doch was sollte er machen? Er sang:

»Geh nur hinaus und sieh dir an, was da hangt,

Geh nur hinaus und siehe, was da vor der Tür hangt.

Ein Wunder aller Wunder!«

Sofort sahen die Wölfe und die Bären einander an und fragten sich, warum sie wohl hinausgehen und sehen sollten, was dort wäre. Zuerst sandten sie ein Bärchen, nachzusehen, was draußen wäre, und trugen ihm auf, es solle, wenn was Schlimmes draußen wäre, davonlaufen. Und was sah es, als es nachsehen ging? Einen gehängten Wolf vor der Tür! Das war die Wolfshaut, die die Tiere unterwegs gefunden, mit Stroh ausgestopft und aufgehängt hatten.

Das Bärchen zeigte sich nicht mehr in der Höhle, sondern floh voller Angst in die Berge.

Weil nun das Bärchen nicht zurückkam, schickten sie das zweite ihrer Kinder. Auch dem ging es so, und auch dieses Kind floh. So gingen alle Bärchen und alle Wölfchen, eines nach dem anderen, und alle liefen davon. Schließlich blieben nur noch Vater Wolf und Vater Bär zurück, und auch die wollten fliehen. Der Hammel aber, der glaubte, sie wären nur zurückgeblieben, um sie zu fressen, sprang auf und lief zur Tür. Jedoch anstatt sie zu öffnen, stieß er sie mit seinen Hörnern zu, und so waren alle, Hausherren und Gäste, in der Höhle eingesperrt. Alle waren erschrocken. Die Gäste fürchteten sich vor den Hausherren, und die Hausherren hatten Angst vor den Gästen.

Aus lauter Angst begann der Esel zu schreien. Die Füchsin lief von einer Ecke zur anderen, um ein Loch zu finden und davonzulaufen, der



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Hahn sprang auf den Deckenbalken und krähte »Kikerikiii!« Alle sahen, wie sie auf irgendeine Art sich retten könnten. Schließlich sprangen der Bär und der Wolf auf und liefen hinaus, ihre Kinder zu suchen. Als sie ihre Kinder gefunden hatten, flohen sie auf einen hohen Berg, und als sie dort saßen, begannen sie zu sprechen.

»Hast du das gesehen?«fragte der Wolf den Bären.

»Diesen Kleinen, der da auf dem Balkon ganz oben schrie: >Bringe ein Seil, daß wir sie aufhängen! Wirf es mir herauf!<Und der andere, der mit den langen Ohren, der auf dem Ehrenplatz saß, hat dem anderen, dem mit den krummen Hörnern, zugerufen: >He, Brüderchen, mach die Tür zu, daß wir sie alle fangen und aufhängen!< Und hast du die mit dem langen Schwanz gesehen, wie sie in allen Ecken ein Seil suchte? Wenn wir nicht davongelaufen wären, hätten sie uns bestimmt alle aufgehängt.«

So haben die Haustiere die wilden Tiere verjagt.


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