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Das bunte Heidi-Buch


Eine Großmama kommt

Am folgenden Abend wurden lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann getroffen. Man konnte deutlich merken, daß die erwartete Dame ein gewichtiges Wort im Hause mitzusprechen hatte und daß jedermann großen Respekt vor ihr empfand.

Am nächsten Tag rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette stürzten die Treppe hinunter. Langsam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn sie wußte, daß auch sie zum Empfang von Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war befohlen worden, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und zu warten, bis es gerufen werde. Die Großmutter werde sicher zuerst -bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen wollen. Es dauerte gar nicht lange, so steckte Tinette den Kopf ein klein wenig durch Heidis Zimmertür und sagte wie immer kurz angebunden: "Hinüber ins Studierzimmer!"

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht mehr wegen der Anrede fragen können. Bis jetzt hatte es einen Erwachsenen immer erst mit Herr oder Frau anreden hören und danach mit dem Namen. Also hatte es sich die Sache mit der von der Hausdame gewünschten Anrede "gnädige Frau" nun selbst zurechtgelegt. Als es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und laß dich ansehen!"

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."

"Warum nicht gar!" sagte die Großmama und lachte. "Sagt man bei euch so? Hast du das daheim auf der Alp gehört?"

"Nein, bei uns heißt niemand so", antwortete Heidi ernsthaft.



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"So, bei uns auch nicht." Die Großmama lachte wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. "Das gibt es nicht. In der Kinderstube bin ich die Großmama. So sollst du mich nennen, das kannst du doch behalten, wie?"

"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "ich hab' vorher schon immer so gesagt."

"So, so, verstehe schon", sagte die Großmama und nickte belustigt mit dem Kopf. Dann sah sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf. Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, daß es Heidi ordentlich wohl wurde.

Als sich Klara am nächsten Tag zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte sich die Großmama neben sie auf einen Lehnstuhl und schloß für einige Minuten ihre Augen. Dann stand sie schon wieder auf, ging zu dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken bei dem unerwarteten Besuch zurück.

"Wo hält sich das Kind um diese Zeit auf, und was tut es?" fragte Frau Sesemann.

"Es sitzt in seinem Zimmer, wo es sich nützlich beschäftigen könnte, wenn es nur den leisesten Trieb dazu hätte. Sie sollten nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausführt."

"Das würde ich auch so machen, wenn ich so da drinnen säße wie dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen. Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube. Ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."

"Das ist ja gerade das Unglück", rief Fräulein Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das Kind mit Büchern anfangen? In all dieser Zeit hat es nicht einmal das Abc gelernt. Es ist völlig unmöglich, ihm auch nur einen Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!"

"So, das ist merkwürdig. Das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen könnte", sagte Frau Sesemann.



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"Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern ansehen."

Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte. Mit glühendem Blick schaute es auf das Bild, dann stürzten ihm plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig an zu schluchzen. Die Großmama sah das Bild an. Es zeigte eine schöne grüne Weide, wo allerlei Tiere herumsprangen und an den grünen Büschen nagten. In der Mitte stand der Hirt.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind!" sagte sie freundlich, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert. Aber sieh, da ist auch eine schöne Geschichte dazu, die erzähl' ich heute abend."

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun mußt du mir erzählen, Kind! Wie geht es denn in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du schon etwas?"

"0 nein", antwortete Heidi seufzend, "aber ich wußte schon, daß man es nicht lernen kann."

"Was kann man nicht lernen, Heidi, was meinst du?"

"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer. Der Peter hat es mir gesagt, und er weiß es schon. Er mußte es immer wieder probieren, aber er konnte es nie lernen."

"So, das ist mir ein schöner Peter! Aber sieh, Heidi, man muß nicht alles hinnehmen, was so ein Peter sagt, man muß es selbst probieren. Du hast nicht lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast. Nun aber sollst du m i r glauben, und ich sage dir, daß du in kurzer Zeit lesen lernen kannst wie alle anderen Kinder. Und nun mußt du wissen, was danach kommt, wenn du lesen kannst. Du hast doch den Hirten gesehen auf der grünen Weide. Sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte lesen, ganz so, als ob dir jemand erzählte, was er mit seinen Schafen und Ziegen macht. Das möchtest du schon wissen, Heidi, nicht?"



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Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt: "Oh, wenn ich nur lesen könnte!"

"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's dauern. Und nun müssen wir mal nach Klara sehen. Komm, die schönen Bücher nehmen wir mit!"

Seit dem Tag, an dem Heidi heimgehen wollte, hatte es gemerkt, daß es nicht heimgehen konnte, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern daß es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden, daß Herr Sesemann es sehr undankbar finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte, daß die Großmama und Klara auch so denken könnten. So durfte es keinem Menschen sagen, daß es sich nach der Heimat sehnte.

Aber in seinem Herzen wurde die Last immer schwerer. Es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange nicht einschlafen.



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Sobald es allein und alles ringsum still war, kam ihm alles lebendig vor die Augen: die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen. Wenn dann Heidi am Morgen erwachte und voller Freude aus der Hütte herausspringen wollte - da lag es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte es oft seinen Kopf in das Kissen und weinte leise, damit niemand es höre.

Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Als die Großmama manchmal schon am frühen Morgen sehen konnte, daß Heidi geweint hatte, nahm sie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube. Dort sagte sie mit großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi."

Aber gerade zu dieser freundlichen Großmama wollte sich Heidi nicht so undankbar zeigen. So sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."

"Nicht? Kann man es Klara sagen?" fragte die Großmama.

"0 nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so unglücklich aus, daß es die Großmama erbarmte.

"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, daß er helfe. Er allein kann allem Leid abhelfen, das uns bedrückt."

In Heidis Augen kam ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles, alles sagen, Großmama?"

"Gewiß, gewiß!" gab diese zur Antwort. Heidi lief hinüber in sein Zimmer. Hier setzte es sich auf einen Schemel nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte. Es bat ihn dringend und herzlich, daß er ihm helfe und es wieder zum Großvater heimkommen lasse.

Es mochte seit diesem Tag etwas mehr als eine Woche vergangen sein, als der Kandidat Frau Sesemann seine Aufwartung machte. "So, nun sagen Sie mir, was führt Sie zu mir? Doch nichts Schlimmes? Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?"



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In sprachlosem Erstaunen sah der überraschte Herr die Dame an. "Es ist wirklich wunderbar", sagte er endlich, "daß das junge Mädchen, das trotz meiner gründlichen Erklärungen und Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, jetzt sozusagen über Nacht das Lesen erfaßt hat."

"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnügt. "Es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen. Zum Beispiel neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode. Jetzt wollen wir uns freuen, daß das Kind soweit ist, und auf guten Fortgang hoffen."

Damit begleitete sie den Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch zum Studierzimmer, um selbst die erfreuliche Nachricht bestätigt zu finden. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor. Es las sie offenbar selbst mit dem größten Erstaunen, und mit wachsendem Eifer drang es in die neue Welt ein. Auf einmal traten ihm nun aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegen und gewannen Leben und wurden zu herzbewegenden Geschichten. Noch an demselben Abend, als man sich zu Tisch setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch mit den schönen Bildern liegen. Als es fragend zur Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja, nun gehört es dir!"

"Für immer? Auch wenn ich heimkomme?" fragte Heidi voller Freude.

"Gewiß, für immer!" versicherte die Großmama.

"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf Klara ein. "Wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du doch erst recht bei mir bleiben."

Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen. Von dem Tag an war es seine liebste Beschäftigung, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind glücklich.


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