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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Die Wichtelmännchen auf Sandfiesa

Weit draußen im Meer, geradeaus von Trena auf Helgeland, liegt eine Sandbank, genannt Sandfiesa. Das ist ein ausgezeichneter Fischplatz, aber schwierig zu finden, denn sie wandert von einer Stelle zur andern. Wer aber so glücklich ist und sie erreicht, kann sicher sein, einen guten Fang zu tun. Beugt er sich über den Bootsrand, so sieht er bei klarem stillem Wasser und ruhigem Wetter eine schmale Vertiefung auf dem Grund, eine Rinne wie das Kielwasser einer großen Nordlandsjacht, und eine dicke Bergkuppe daneben wie ein Boots-Schuppen.

Diese Sandbank lag nicht immer am Meeresgrund. In alten Zeiten war hier eine Insel, die einem reichen Helgelandbauern gehörte. Zum Schutz gegen Unwetter während der Sommerfischerei hatte er dort eine Fischerhütte gebaut. Sie war besser und größer als die üblichen Fischerbuden sonst. Es gibt einige, die noch heute glauben, daß Sandfiesa sich zuweilen gleich einer schönen Insel aus dem Wasser hebt. Ob dies wahr ist, kann ich nicht sagen, aber zu jenen Zeiten war es nicht geheuer auf dem öden Holm: Fischer und fahrende Leute erzählten, sie hätten Lärmen und Lachen gehört, als sie da vorüberfuhren, Spiel und Tanz und anderes Gepolter, Hämmern und Aufgesang, wie ihn die Fischer singen, wenn sie die Boote zum Überwintern an Land ziehen. Deshalb nahmen sie gerne ihren Kurs ein Stück außen herum. Aber niemand konnte erzählen, daß er je eine lebende Seele auf Sandfiesa gesehen hätte.

Der reiche Bauer, von dem ich erzählte, der hatte zwei Söhne, die hießen Hans-Nicolai und Glück-Anders. Der ältere war einer, aus dem man nicht recht klug wurde, er war ein leidiger Kerl, mit dem man nicht gleich zurecht kam, und er besaß mehr Schlauheit und Pfiffigkeit als Nordländer zu haben pflegen, und die haben selten zu wenig von dieser Gottesgabe. Der andere, Glück-Anders, war ein Tollkopf, aber immer gut gelaunt, und er sagte immer, wenn es ihm auch noch so schlecht ging, er habe das Glück auf seiner Seite. Wenn er draußen war und Adlernester plünderte und der Adler ihm das Antlitz zerschrammte, daß sein Blut nur so rann, sagte er, das mache ihm nichts aus, Hauptsache, er käme mit einem Adlerjungen heim. Kenterte er, was nicht selten passierte, und sie fanden ihn, kieloben treibend, halb tot vor Nässe



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und Kälte, so antwortete er, wenn man ihn fragte, wie es ihm ginge: »Ach, angemessen gut. Ich bin gerettet, das Glück ist mit mir.«

Als der Vater starb, waren sie erwachsen, und einige Zeit danach mußten sie alle beide nach Sandfiesa hinaus, um einige Gerätschaften zu holen, welche dort nach der Sommerfischerei zurückgeblieben waren.

Glück-Anders hatte seine Flinte mitgenommen, die ihn immer begleitete, wo er auch war. Spät im Herbst war es, zu dieser Zeit trieben sich die Fischer nicht mehr viel auf dem Wasser herum, selten ruderten noch einige weit hinaus. Hans-Nicolai sprach nicht viel auf dieser Fahrt, aber er dachte wohl dies und jenes. Sie wurden nicht eher fertig, es ging auf den Abend zu, als sie die Heimfahrt antreten sollten. »Höre, Glück-Anders, es gibt Unwetter diese Nacht«, sagte Hans-Nicolai und schaute über die See, »ich meine, es ist das beste, wir übernachten hier.« - »Schlecht Wetter wird nicht«, antwortete Glück-Anders, »denn die ,Sieben Schwestern' haben keine Nebelhauben auf, laß es gehen, wie es will.« Aber der andere klagte, er sei so müde, und schließlich einigten sie sich, die Nacht über hier zu bleiben.

Als Anders aufwachte, war er allein. Weder den Bruder noch das Boot sah er, bis er auf die höchste Stelle vom Holm hinaufstieg. Dort erblickte er das Boot, weit in der Ferne, gleich einer Möwe, die nach dem Land fliegt. Glück-Anders konnte sich das nicht erklären. Der Frühstückskasten lag noch da, auch seine Flinte und noch verschiedenes andere. Glück-Anders war keiner von denen, die eine Sache erst lange ergründen wollen. »Er kommt sicher am Abend zurück«, sagte er und stürzte sich aufs Frühstück. »Ein Taugenichts ist, wer mutlos wird, so lang er noch etwas zu essen hat.« Aber kein Bruder kam am Abend. Glück-Anders wartete Tag um Tag und Woche um Woche.

Es schien ihm, der Bruder habe ihn auf diese öde Sandbank ausgesetzt, um das Erbe ungeteilt besitzen zu können. Aber Glück-Anders verlor den Mut nicht. Er sammelte Treibholz am Strand, schoß Seevögel, sammelte Muscheln und Erzengelwurz. Er machte sich ein Floß aus Holz vom Fischtrockengestell und fischte mit Geräten, die zurückgeblieben waren. Eines Tages, als er damit auf See hinaustrieb, bemerkte er eine Vertiefung im Sand, wie die Kielspuren einer großen Nordlandsjacht, und in dem Sand konnte er deutlich die Windungen der Vertäuung erkennen von der See herauf zur Bergkuppe. So dachte er bei sich selbst, da ist keine Gefahr, ich sehe wohl, daß es wahr ist, was ich so oft gehört habe, daß die Wichtelmännlein hier ihren Bootshafen halten. Gott sei Dank für die nette Gesellschaft! Das sind gute Leute. Was habe ich immer gesagt, das Glück ist mit mir! dachte Glück-Anders.



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Vielleicht sagte er das auch nur, weil es ihm gut tat, etwas so vor sich hinzuschwatzen.

So lebte er dort weit über den Herbst hinaus. Einmal erblickte er ein Boot. Er befestigte schnell eine Flagge an einer Stange und winkte damit. Aber im selben Augenblick fiel das Segel und die Besatzung setzte sich an die Ruder und ruderte davon in Hast und Eile. Sicher dachten sie, die Wichtelmännlein hätten die Flagge gehißt und ihnen gewinkt.

Am Weihnachtsabend hörte er Geigen und Musik draußen auf dem Meer. Als er hinausging, sah er ein Leuchten, das von einer großen Nordlandsjacht ausging, welche gegen das Land zu glitt. Noch niemals vorher hatte jemand vorher eine solche Jacht gesehen. Sie hatte ein unheimlich großes Rahsegel, das aus Seide gemacht zu sein schien, und das feinste Tauwerk, das so dünn war, als sei es aus Stahldraht gemacht. Und alles, was dazugehörte, war genauso fein, so prächtig und schön, wie es sich ein Nordländer nur wünschen konnte. Das ganze Schiff war voll von kleinem blaugekleidetem Volk. Aber diejenige, die am Steuer stand, war wie eine Braut geschmückt und so stattlich wie eine Königin. Aber das konnte er erkennen, daß sie ein Mensch war, denn sie war groß an Wuchs und schöner als die Wichte!, ja Glück-Anders schien es, noch nie hatte er ein so schönes Mädchen gesehen. Das Schiff steuerte auf das Land zu, wo Glück-Anders stand. Aber, kurz entschlossen, wie er war, schlich er in die Fischerbude, riß die Flinte von der Wand und kroch in die große Wölbung hinauf ins Gebälk. Dort lag er gut versteckt, konnte aber trotzdem alles beobachten, was im Raume vor sich ging. Er sah sogleich, daß sie alle in das Haus kamen, es wurde gestopft voll, und es kamen immer noch mehr. Es begann in den Wänden zu knacken, und das Haus dehnte sich und weitete sich in allen Ecken und Kanten. Festlich ausstaffiert wurde es auch, daß es beim reichsten Handelsherrn nicht prächtiger sein konnte. Es war beinah wie auf dem Königsschloß. Tische wurden gedeckt mit den köstlichsten Gerichten, und Teller und Schüsseln und Gefäße waren aus Silber und Gold.

Als das Völkchen gegessen hatte, begann es zu tanzen. Unter dem Geräusch der Tanzenden kroch Glück-Anders durch das Rauchloch, welches auf der einen Seite des Daches angebracht war, hinaus und kletterte hinab. Er sprang zur Jacht hinunter, warf seinen Feuerstein über sie und schnitt zur Sicherheit mit dem Schnitzmesser auch noch ein Kreuz hinein. Als er wieder hinaufkam, war der Tanz noch in vollem Gange. Die Tische, Stühle und Bänke tanzten, alles was in dem Haus war, tanzte mit. Die einzige, die nicht tanzte, war die Braut.



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Sie saß nur da und schaute zu, und als der Bräutigam sie hochziehen wollte, schob sie ihn von sich. Aber nie war eine Pause. Der Spielmann verschnaufte sich nicht, aß und trank nicht, nahm sich nicht einmal Zeit, die Knöpfe seines Röckleins zu öffnen, als ihm warm wurde. Er spielte immerzu und trat den Takt, daß der Schweiß ihm nur so heruntertropfte, und daß er kaum noch die Fiedel sehen konnte vor Staub und Rauch. Da bei Glück-Anders sich auch die Füße im Takt zu bewegen begannen und er mittanzen mußte, sagte er zu sich selbst: »Nun ist es wohl das beste, wenn ich einen Knall loslasse, sonst spielt er mich von Grund und Boden weg.« Er drehte also die Flinte rum und steckte sie durch die Fensterscheibe und schoß sie ab über den Kopf der Braut weg.. . Rumms!.. . Im selben Augenblick, als der Schuß losging, stürzten die Wichtel zur Tür, der eine über den anderen. Aber als sie entdeckten, daß die Jacht gebannt war, gebärdeten sie sich wie toll und schlüpften in ein Loch des Hügels. Aber alle Goldgeräte, alles Silberzeug blieb zurück, und die Braut saß auch da. Es war, als sei sie wieder zu sich selbst gekommen. Sie erzählte Glück-Anders, sie sei verzaubert und geraubt worden, als sie noch ein kleines Kind war: einstmals, als ihre Mutter zu den Hecken des Pferchs gegangen war um zu melken, hatte sie das Kind mit sich genommen. Aber sie mußte noch etwas zu Hause holen und ließ das Kind inzwischen im Heidekraut sitzen, unter einem Wacholderbusch. Sie könne gerne Beeren essen, sagte sie, sie müsse nur vorher dreimal sagen:

»Ich esse Wacholderbeeren blau
mit Christi Kreuz darauf,
Ich esse Preißelbeeren rot
mit Jesu Leiden und Tod.«

Aber als die Mutter fort war, fand sie so viele Beeren, daß sie vergaß, das Sprüchlein dreimal zu sprechen, und so wurde sie von den Wichteln gebannt und entrückt. Sie hatte dadurch keinen anderen Makel bekommen, als daß ihr das letzte Glied des kleinen Fingers fehlte. Sonst hatte sie es gut und schön gehabt bei den Wichteln, sagte sie, und doch war es auf die Dauer nicht die rechte Gesellschaft. Es hatte immer etwas in ihr gewürgt, und schlimm war sie auch von dem Wichtelmann geplagt worden, mit dem man sie verheiraten wollte. Dieser Schatten hing über ihr, spät und früh. Als Glück-Anders hörte, wer ihre Mutter war, und woher sie kam, wußte er, daß sie zu seiner Sippschaft gehörte, und sie wurden sogleich Freunde und vertrugen sich, wie man so sagt, gut miteinander. Dann konnte Anders mit Recht sagen, daß das Glück mit ihm sei. So reisten sie nach Haus und nahmen die große Jacht mit



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sich und all das Silber und das Gold und die Kostbarkeiten, welche in dem Ruderhaus zurückgeblieben waren. So wurde Glück-Anders viel reicher als sein Bruder.

Aber Hans-Nicolai mußte immer darüber nachdenken, woher diese Reichtümer gekommen waren, und er wollte nicht minder reich sein. Er wußte, daß Trolle und Wichte! die Gewohnheit hatten, am Weihnachtsabend ihr Wesen zu treiben, und so fuhr er um diese Zeit nach Sandfiesa. Am Weihnachtsabend sah er tatsächlich Feuer und Leuchten, es war wie Meeresleuchten, das Funken sprühte. Als es näher kam, hörte er Platschen und häßliches Heulen und kalte, bebende Schreie, und er bemerkte fauligen Ebbegeruch. Voll Entsetzen lief er hinauf in das Ruderhaus, und da sah er Seegespenster gegen das Land zu kommen. Sie waren kurz und dick wie Heuhaufen, hatten Felikleidung, Seestiefel und Bootshaken und dicke Handschuh, die beinah bis auf den Boden hingen. Statt Kopf und Haar hatten sie ein Gewirr von Seetang. Als sie den Strand emporkrochen, leuchteten ihre Spuren wie flammende Rinde, und wenn sie sich schüttelten, sprühten sie Funken. Als sie herankamen, kroch Hans-Nicolai hinauf ins Gebälk, wie sein Bruder es getan hatte. Die Gespenster trugen einen großen Stein mit sich in das Haus und fingen an, ihre nassen Handschuhe zum Trocknen gegeneinander zu schlagen. Zuweilen schrien sie so schrecklich, daß dem da oben im Gebälk beinah das Blut in den Adern gefror. Inzwischen nieste einer in die Feuerstelle, um in der Asche Feuer zu entzünden, während die anderen Treibholz und Heidekraut hereinschleppten, so roh und schwer wie Blei. Der Rauch und die Hitze erstickten beinah Hans-Nicolai da oben im Gebälk, und damit er wieder frische Luft atmen konnte, versuchte er durchs Rauchloch im Dach hinauszukriechen. Aber da er grobgliedriger war als sein Bruder, blieb er darin stecken und konnte weder heraus noch hereinkommen. Nun bekam er Angst und begann zu schreien, aber die Gespenster schrien nur noch schlimmer und schlugen und taumelten drinnen und draußen. Doch als der Hahn krähte, waren sie verschwunden und Hans-Nicolai kam los. -Als er heimkam, faselte er Unsinn, und seitdem hörte man oft vom Kornboden oder Speicher, wo er war, diese dunklen, kalten Schreie, die man im Nordland den Gespenstern zuschreibt. Aber vor seinem Tode war er wieder voll bei Sinnen, und er kam in christliche Erde, wie man sagt.

Seit der Zeit hat nie wieder ein Mensch seinen Fuß auf Sandfiesa gesetzt. Es versank, und die Wichte!, so glaubt man, flohen nach Lekangholmen. Glück-Anders ging es seit dem immer gut. Keine Jacht



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machte so glückhafte Fahrten wie die seine. Aber jedesmal, wenn er nach Lekangholmen kam, wurde es still: die Wichte! brachten die Waren an Bord oder Land, aber nach einer kleinen Weile bekam er wieder günstigen Wind nach Bergen oder wieder heim. Er bekam viele Kinder, und alle waren sie frisch und gesund, aber allen fehlte das letzte Glied am linken kleinen Finger.


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