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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Das Mädchen bei der Wasserfrau

Da war einmal ein armes Mädchen, das war hungrig, hatte kein Unterkommen für den Winter und fand auch keinen Dienst, der ihm ein Dach böte. Als es nun die Landstraße auf und ab wanderte und sich zu einigen Äpfeln bückte, die über den Zaun gefallen waren, sah es einen darunter, der war viel schöner und rotbackiger als alle anderen. Und als die Dirn ihn nur anrührte, lief der Apfel vor ihr her, einen langen weiten Weg bis an das wilde Meer. Dort öffnete sich das Wasser vor der rollenden Frucht, und das Mädchen, das jung und ohne Angst war, schlüpfte mit ihr über eine goldene Brücke, immer tiefer und tiefer, bis es zum gläsernen Haus der alten Wogenfrau kam. Die wohnte mit ihren Töchtern unter der See.

Weil die Einsame aber an Land bei den Menschen keinen Dienst gefunden hatte, verbarg sie den Apfel unter der Schürze, ging in die Küche und fragte, ob man Arbeit für sie hätte.

"Gern, solange du fleißig bist", antworteten ihr die Leute, und sie nahm das Unterkommen an; es schien ihr immer noch besser, als auf der Erde ohne Heim durch die Straßen zu irren.

Das Mädchen lernte auch bald, sich in der neuen Umwelt einzurichten. Es sah die Töchter der Wogenfrau, sehr schöne und hochmütige Fräulein, die von ihrer Sutter gehätschelt und gepflegt wurden. Und es sah oft einen armen Gast, einen ertrunkenen Prinzen, den hatte die alte Königin in ihr Haus gezogen, um ihn einer ihrer Töchter zu geben. Und sicherlich hätte er längst unter den drei Hoffärtigen wählen müssen, wären sie untereinander einig gewesen, wen von ihnen der Fremde heiraten sollte. Aber bis Ostern, sagte die Mutter, sollten sie sich entschließen; sonst müßten sie losen, oder der Prinz werde doch noch von den Fischen gefressen.

Dem Mädchen gefiel das Schloß, das die Wogenkönigin besaß; es war groß und durchsichtig, sieben Türen führten in einen herrlichen Garten. Aber wenn die Fräulein draußen in den Wassern spielen gingen, mußte



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der arme Prinz daheim bleiben; er konnte nur als Fisch durch die Tiefe schwimmen. Es war nämlich an dem, daß er immer noch zuviel Sehnsucht zur Welt der Menschen hatte, aus der er stammte, und wenn die alte Frau ihm zu jenen kleinen Wunden am Hals riet, wie die Wasserleute sie tragen, dann wehrte er sich und bai sie, damit zu warten.

Nun machte sich die Magd, die von unserem and nach unten gekommen fleißig zu schaffen und erwies sich als so anstellig und flink, daß man ihr auftrug, die Tafel der Wassertöchter und ihrer Gäste zu bedienen. Sie hielt dabei die Augen gut offen und ließ den Prinzen merken, daß sie eine von oben sei. Aber er hatte sich wohl drein ergeben, daß er bleiben mußte bis zu der Zeit, wo er auch auf Erden gestorben wäre, — so lange hatten die in der See ja Wacht über ihn. Nur mitunter, wenn sie miteinander allein waren, lächelte er das Mädchen an. Da wurde dem das Herz warm, und es nickte ihm zu, nicht nur aus Erbarmen. Ja, wenn sie abends ihr Lager aufsuchte, mußte sie oft an den Gefangenen denken und überlegte, ob sie ihm nicht dazu verhelfen könnte, wieder zu den Menschen zu kommen. Aber ihr fiel keine und gar keine Hilfe ein, sie wußte nicht einmal den Namen des Armen, wie sollte sie da Nacht über seine Peiniger gewinnen!

Eines Tages geschah es indes, daß die junge Dirn den Prinzen schlafend in einem Stuhl antraf. Da sah sie, wie eine kleine Feder von seinem Munde aufsog, die schwebte suchend durch das Schloß und glitt durch alle Türen. Das Mädchen nahm rasch den Apfel, der es nach unten geführt hatte, fand den gläsernen Weg ans Ufer wieder und gewahrte eine alte Frau am Strand, die sprach leise mit der Feder. Und die Feder — es war die Seele des Gefangenen — flog auf und ab und mußte schließlich durch den gleichen Gang ins Schloß zurück. Die Magd aber fing sie mit der Hand und verbarg sie, und der Prinz war an jenem Tag nur mit Mühe zu wecken, er sah krank und schwach aug; noch blasser als vorher waren sein Gesicht und seine Hände.

Ein andermal, als das Mädchen zum Dienst kam, stritten sich die drei Töchter mit der Wogenfrau, wie es oft geschah; jede von ihnen wollte ja den Gefangenen zum Gemahl. Die Mutter mahnte wieder, den Zank zu



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beenden und zu losen, schnitt drei Zettel und schrieb auf den einen heimlich den Namen des armen Ertrunkenen — den durfte sonst niemand im Schloß unterm See erfahren. Aber die Töchter traten auf die Zettel und lärmten weiter.

Nun war, das erzählte ich, die Magd gerade über den Streit in die Stube gekommen, sie hörte den Zwist der Prinzessinnen, tat, als räumte sie auf, und hob das Los mit dem Namen des Gefangenen zwischen den Zehen auf, die bösen Frauen merkten es gar nicht. Als es Abend wurde, nahm sie ihren Apfel, ließ ihn vor sich herrollen, ging an den Strand und versuchte die kleine fliegende Seele beim Namen zu rufen, um den Prinzen zu sich zu locken. Aber obschon sie die Feder aufblies und ihr das Wort leise vorsprach, folgte ihr niemand.

Das Mädchen kehrte also wieder ins Schloß unter der See zurück, grämte sich viele Tage hindurch und fand nicht, wie sie weiter helfen sollte.



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Auch der Bursch blieb stumm, er wußte wohl kaum, was alles für ihn geschah. Nur wenn sie einander allein trafen, flüsterte er furchtsam, fragte das Mädchen, ob es wohl eine weiße Feder gesehen hätte, die er verloren habe, klagte über das kalte Schloß und wünschte sich zu den Seinen heim, die in der Sonne wohnen durften. Dann redeten die beiden rasch von dem Land da oben miteinander. Ach, sagte der Prinz, er fühle wohl, wie sehr seine Mutter ihn riefe, aber was hülfe das alles, wenn sie nichts leiblich von ihm hätte, Mme und Seele allein könnten ihn nicht befreien.

Eines Tages nun war der Gefangene, als Fisch verkleidet, ins Meer hinausgeschwommen, so wie er die Wogenfrau und ihre Töchter mitunter begleiten mußte. Aber er war so still und unfolgsam: als er mit ihnen heimkehrte, schlugen die Prinzessinnen aufgebracht die Eingangstür hinter sich zu und verletzten dabei den Fisch, der gerade wieder Mensch zu werden begann. Einige große silberne Schuppen blieben am Türschloß hängen. Die Mutter schalt arg, sie wollte gleich sehen, wo das Schloß den Prinzen gestreift hatte; aber das fremde Mädchen hatte, noch flinker als sie, rasch eine Schuppe aufgehoben und zwischen Nagel und Finger verborgen.

Als es Nacht wurde und die meisten Leute schliefen, tat die Dirn, als habe sie noch etwas anzurichten vergessen, warf ihren Apfel und schlüpfte mit Schuppe, Feder und Namen eilig den kleinen Gang entlang, den sie schon kannte. Bis zum Strand öffnete sich das Waser vor ihr; dort versteckte sie sich die Nacht über in den Weiden und wartete sehnsüchtig auf die erste Helle. Und als gerade die Sonne aufstand, blies sie die Feder hoch, rieb die kleine silberne Schuppe und ließ das Licht der Frühe darauf blinken. Und sie rief leise den Namen des Verwunschenen und einen Spruch, der dazu dient, um Fische hochzulocken.

"Kumm ut de Deepde, Fisch, wees mien,
Koolt is dat Vater, warm geit de Wind,
Warm ag de Sunn schallst du sien!"

Da konnte der in der Tiefe nicht anders, er mußte als Fisch bis an den Strand kommen und fragte, was sie von ihm wolle. Flink griff sie mit



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beiden Händen zu, warf ihm Feder, Namen und Schuppe an und hob ihn aus dem Wasser. Da wurde er leiblich der, welcher er vorher gewesen war. Und das Mädchen nahm ihn an der Hand und lief, so rasch es ging, in die hohen Dünen, wo die aus der Tiefe den Irdischen nichts mehr anhaben können.

Weit waren sie noch nicht, da hörten sie auch schon das schlimme Geschrei der Nixen und vieler Wassermänner stromauf und stromab.

Aber keiner von ihnen vermag über Tag den Menschen an Land zu folgen. Und es hat sich ein herrlicher warmer Morgen über den beiden geöffnet, der Prinz ist gewachsen und gewachsen und wieder jung und frisch geworden, wie er vordem gewesen war. Und sie sind weit ins Land bis zu der alten Frau Königin gelaufen — das war sie, die nachts am Ufer auf ihr Kind gewartet hatte —, und was dann geschehen ist, könnt ihr euch denken, sonst will ich es euch ein andermal erzählen.


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