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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Däumelinchen

Es war einmal eine Frau, die sich so sehr ein ganz kleines Kind wünschte, aber sie wußte gar nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: "Ich möchte so herzlich gern ein kleines Kind haben; willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?" "Ja, damit wollen wir schon fertig werden!" sagte die Hexe. "Da hast du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen, oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen Blumentopf, so wirst du etwas zu sehen bekommen!"

"Ich danke dir!" sagte die Frau und gab der Hexe zwölf Schillinge, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.

"das ist eine niedliche Blume!" sagte die Frau und küßte sie auf die roten und gelben Blätter; aber gerade wie sie darauf küßte, öffnete sich die Blume mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte; aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengnffel ein ganz kleines Mädchen, so fein und niedlich; sie war nicht einen Daumbreit lang, und deshalb wurde sie Däumelinchen genannt.

Eine niedliche lackierte Walnußschale bekam sie zur Wiege; blaue Veilchenblätter waren ihre Matratzen und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie des Nachts, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt hatte, um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren Stengel im Wasser standen; hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem



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konnte Däumelinchen sitzen und von der einen Seite des Tellers nach der andern fahren; sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört hatte.

Eines Nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam da eine häßliche Kröte durch das Fenster hereingehüpft, wo eine Scheibe entzwei war. Die Kröte war häßlich, groß und naß, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, wo Däumelinchen lag und unter dem Rosenblatte schlief.

"Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!" sagte die .Kröte, und da nahm sie die Walnuß schale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe fort in den Garten hinunter.

Da floß ein großer breiter Fluß; aber gerade am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Uh, der war auch häßlich und garstig und glich ganz seiner Mutter. "Koax, koax, brekkekekex!" das war alles, was er sagen konnte, als erdas niedliche kleine Mädeln in der Walnußschale erblickte.

"Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht siel" sagte die alte Kröte. "Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluß hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und Kein ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo ihr wohnen und hausen sollt, instand setzen."

Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mit den breiten grünen Blättern, welche aussahen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser; das Blatt, welches am weitesten hinauslag, war auch das allergrößte; da schwamm die alte Kröte hinaus und setzte darauf die Walnußschale mit Däumelinchen.

Das ganz Keine Wesen erwachte frühmorgens, und da sie sah, wo sie war, fing sie recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten großen grünen Blattes, und sie konnte gar nicht an das Land kommen.

Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Fischblattblumen aus — da sollte es recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden — und schwamm dann mit dem häßlichen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: "Hier siehst du meinen Sohn: er wird dein Mann sein, und ihr werdet recht prächtig unten im Morast wohnen!"

"Kar, koax, brekkekekex!" war alles, was der Sohn sagen konnte.

Dann nahmen sie das niedliche Bett und schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz allein und weinte auf dem grünen Blatte, denn sie



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mochte nicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren häßlichen Sohn zum Manne haben. Die Keinen Fische, welche unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen und gehört, was sie gesagt hatte; deshalb steckten sie die Köpfe hervor, sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sobald sie es erblickten, fanden sie dasselbe so niedlich, daß es ihnen recht leid tat, daß es zur häßlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen Stengel, welcher das Blatt hielt, auf dem es stand, nagten mit den Zähnen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluß hinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht erreichen konnte.

Däumelinchen segelte vor so vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: "Welch liebliches kleines Mädchen!" Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.

Ein niedlicher kleiner weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zulebt auf das Blatt nieder, denn Däumelinchen gefiel ihm. Diese war sehr erfreut; denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Sonne schien auf das Wasser, das glänzte wie das herrlichste Gold. Sie nahm ihren Gürtel, band das eine Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja auf demselben.

Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie und schlug augenblicklich seine Klauen um den schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum; das grüne Blatt schwamm den Fluß hinab. und der Schmetterling flog mit; denn er war an das Blatt gebunden und konnte nicht von ihm loskommen.

Gott, wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum flog! Aber hauptsächlich war sie des schönen weißen Schmetterlings halber betrübt, den sie an das Blatt festgebunden hatte; im Fall er sich nun nicht befreien konnte, mußte er ja verhungern. Aber darum kümmerte sich der Maikäfer gar nicht. Ersetzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, daß sie so niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später kamen alle die andern Maikäfer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräuleins rümpften die Fühlhörner und sagten: "Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine, das sieht erbärmlich aus." "Sie hat keine Fühlhörner!" sagte eine andere. "Sie ist so schlank in der Taille, pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häßlich sie ist!" sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie genommen hatte, aber als alle die andern sagten, sie sei häßlich, so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie konnte gehen,



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wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so häßlich sei, daß die Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie die Lieblichste, die man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste Rosenblatt

Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt; sie pflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer und Herbst. Aber nun kam der Winter der kalte, lange Winter. Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nichts als ein gelber verwelkter Stengel zurück, und sie fror so erschrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei, und sie war selbst so fein und klein, das arme Däumelinchen, sie mußte erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen Zoll lang. Da hüllte sie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nicht wärmen, sie zitterte vor Kälte.

Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld, aber das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten, trockenen Stoppeln standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern, oh, und sie zitterte so vor Kälte. Da gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein Seines unter den Kornstoppeln hatte. Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte sich in die Tür, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte in zwei Tagen nicht das mindeste zu essen gehabt.

"Du kleines Wesen!" sagte die Feldmaus denn im Grunde war es eine gute alte Feldmaus, "komm herein in meine warme Stube und iss mit mir!"

Da nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: "Du kannst gern den Winter über bei mir bleiben, aber du mußt meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr." Und Däumelinchen tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es dafür außerordentlich gut.

"Nun werden wir bald Besuch erhalten!" sagte die Feldmaus. "Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal zu besuchen Ersteht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt so einen schönen schwarzen Sammetpelz! Wenn du nur den zum Manne bekommen könntest so wärest du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du mußt ihm die niedlichsten Geschichten erzählen, die du weißt!"



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Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf.

Er kam und stattete Besuch in seinem schwarzen Sammetpelz ab. Er sei so reich und so gelehrt sagte die Feldmaus; seine Wohnung war auch über zwanzigmal größer als die der Feldmaus, und Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden, von diesen sprach er schlecht denn er hatte sie noch nie gesehen.

Däumelinchen mußte singen, und sie sang: "Maikäfer fliege!" und: "Geht der Pfaffe auf das Feld". Da wurde der Maulwurf in sie der schönen Stimme halber verliebt, aber er sagte nichts, er war so ein besonnener Mann.

Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen Erlaubnis zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gang liege; es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben und nun begraben war, gerade da, wo er seinen Gang gemacht hatte.

Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmerte ja wie Feuer im Dunkeln, ging dann voran und leuchtete ihnen in dem langen, dunklen Gange. Als sie dahin kamen, wo der tote Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, so daß ein großes Loch wurde, durch welches das Licht hinunterscheinen konnte. Sitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seiten gedrückt, die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel



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war sicher vor Kälte gestorben. Das tat Däumelinchen leid, sie hielt so viel von allen kleinen Vögeln, sie hatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert; aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: "Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, daß keins von meinen Kindern das wird; solch ein Vogel hat außer seinem Quivit ja nichts und muß im Winter verhungern!"

"Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen", sagte die Feldmaus. "Was hat der Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muß hungern und frieren; doch das soll wohl vornehm sein!"

Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob die Federn beiseite, welche den Kopf bedeckten, und küßte ihn auf die geschlossenen Augen.

"Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer sang", dachte sie. "Wieviel Freude hat er mir nicht gemacht, der liebe, schöne Vogel!"

Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch welches der Tag hereinschien, und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber des Nachts konnte Däumelinchen gar nicht schlafen; da stand sie von ihrem Bette auf und flocht von Heu einen schönen großen Teppich, und den trug sie hin und breitete ihn über den toten Vogel aus und legte weiche Baumwolle, welche sie in der Stube der Feldmaus gefunden hatte, an die Seiten des Vogels, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.

"Lebe wohl, du schöner kleiner Vogel!" sagte sie. "Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien!" Dann legte sie ihr Haupt an des Vogels Brust, erschrak aber sogleich, denn es war gerade, als ob drinnen etwas klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag betäubt da und war nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.

Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern fort aber ist da eine, die sich verspätet, da frirert sie so, daß sie wie tot niederfällt, liegen bleibt, wo sie hinfällt, und der kalte Schnee sie bedeckt.

Däumelinchen zitterte ordentlich, so hatte sie sich erschrocken, denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie, die nur einen Zoll lang war, aber sie faßte doch Mut, legte die Baumwolle dichter um die arme Schwalbe und holte ein Krauseminzeblatt, welches sie selbst zum Deckbett gehabt hatte, und legte es über den Kopf des Vogels.

In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm, und da war er nun lebendig, aber ganz matt, er konnte nur einen kleinen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen, die mit einem Stück faulen Holzes in der Hand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand.



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Ich danke dir, du niedliches kleines .Kind!" sagte die kranke Schwalbe zu ihr. "Ich bin so herrlich erwärmt worden! Bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann dann wieder draußen im warmen Sonnenschein herumfliegen!"

"Ohl" sagte sie, "es ist kalt draußen, es schneit und friert! Bleib in deinem warmen Bette, ich werde dich schon pflegen!"

Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihren einen Flügel an einem Dornenbusch gerissen und deshalb nicht so stark habe fliegen können als die andern Schwalben, welche fortgeflogen seien, weit fort nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt zur Erde gefallen, aber mehr wußte sie nicht, und auch nicht, wie sie hierher gekommen sei.

Den gagen Winter blieb sie nun da unten, und Däumelinchen pflegte ihrer und hatte sie so lieb; weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe ja nicht leiden.

Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe dem Däumelinchen Lebewohl, die das Loch öffnete, welches der Maulwurf oben gemacht hatte. Die Sonne schin so herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte auf ihrem Rücken sitzen, sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie sie verließe.

"Nein, ich kann nicht!" sagte Däumelinchen.

"Lebe wohl, lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen!" sagte die Schwalbe und flog hinaus in den warmen Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe von Herzen gut.

"Quivit quivit!" sang der Vogel und flog in den grünen Wald. Däumelinchen war recht betrübt. Sie erhielt gar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Kom, welches auf dem Felde über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die Luft empor; das war ein ganz dicker Wald das arme kleine Mädchen, das ja nur einen Zoll lang war.

"Nun sollst du im Sommer deine Aussteuer nähen!" sagte die Feldmaus zu ihr, denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Sammetpelze, hatte um sie gefreit. "Du mußt sowohl Wollen- wie Leinenzeug haben, denn es darf dir an nichts fehlen, wenn du des Maulwurfs Frau wirst!"

Däumelinchen mußte auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier Spinnen, welche Tag und Nacht sie spannen und webten. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, daß, wenn der Sommer zu Ende ginge, die Sonne lange nicht so warm scheinen würde, sie brenne ja jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei wäre, dann wollte er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie war gar nicht



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vacat



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froh denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Tür hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte; so daß sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen; aber die kam nicht wieder; sie war gewiß weit weg in den schönen grünen Wald geflogen

Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig.

"In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!" sagte die Feldmaus zu ihr. Aber Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.

"Schnickschnack!" sagte die Feldmaus. "Werde nicht widerspenstig, denn sonst werde ich dich mit meinen weißen Zähnen heißem Es ist ja ein schöner Wann, den du bekommst! Die Königin selbst hat nicht solchen schwarzen Sammetpelz! Er hat Küche und Keller voll. Danke du Gott für ihn!"

Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, nie an die warme Sonne herauskommen, denn die mocht er nicht leiden. Das arme Kind war so betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaus hatte von der Tür aus sehen dürfen.

"Lebe wohl, du helle Sonne!" sagte sie, streckte die Arme hoch empor und ging auch eine Seine Strecke vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korn geerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln. Lebe wohl, lebe wohl!" sagte sie und schlang ihre Arme um eine Keine rote Blume, die dastand. "Grüße die Keine Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!"

"Quivit, quivit!" ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe; sie sah empor, es var die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam Sobald sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sie den häßlichen Maulwurf zum Manne haben wolle, und daß sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen.

"Nun kommt der kalte Winter", sagte die Keine Schwalbe; "ich fliege weit fort nach den warmen Ländern, willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich nur mit deinem Gürtel fest; dann fliegen wir von dem häßlichen Maulwurf und seiner dunklen Stube fort, weit weg über die Berge nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer ist und herrliche Blumen gibt. Fliege nur mit mir, du liebes kleines Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunklen Erdkeller lag!"

"Ja, ich werde mit dir kommen!" sagte Däumelinchen und setzte sich auf



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des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine entfalteten Schwingen, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch hinauf über die großen Berge, wo immer Schnee liegt; Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber dann verkroch sie sich unter des Vogels warme Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu bewundern.

Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch und an Gräben und Hecken wuchsen die schönsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, hier duftete von Myrten und Krauseminze, und auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen an der blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloß, noch aus alten Zeiten! Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor; da ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem derselben wohnte die Schwalbe; welche Däumelinchen trug.

"Hier ist mein Haus!" sagte die Schwalbe. "Aber willst du dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die da unten wachsen, aussuchen, dann will ich dich hineinsetzen, und du sollst es so gut haben, wie du es nur wünschest!"

"Das ist herrlich!" sagte Däumelinchen und klatschte in die kleinen Hände.

Da lag eine große weiße Marmorsäule, welche zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber zwischen diesen wuchsen die schönsten großen weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte siel Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten klaren Flügel an den Schultern erselbst war nicht größer als Däumelinchen. Er war der Blume Engel.



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In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber dieser war der König über alle.

"Gott, wie ist er schön!" flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie war ja gegen ihn, der so Kein und fein war, ein richtiger Riesenvögel; aber als er Däumelinchen erblickte, wurde er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deshalb nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße, und ob sie seine Frau werden wolle, dann sollte sie Königin über alle Blumen werden! Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Sammetpelze. Sie sagte deshalb ja zu dem herrlichen Prinzen, und von jeder Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, daß es eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen ein Paar schöne Flügel von einer großen weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt; und nun konnte sie auch von Blume zu Blume fliegen; da gab es viele Freude, und die mme Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie konnte, aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen so gut und hätte sich nie von ihr trennen mögen.

"Du sollst nicht Däumelinchen heißen!" sagte der Blumenengel zu ihr. "Das ist ein häßlicher Name, und du bist so schön. Wir wollen dich Masa nennen."

"Lebe wohl, lebe wohl!" sagte die kleine Schwalbe und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg nach Dänemark zurück; dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Vor ihm sang sie: "Quivit, quivit!" Daher wissen wir die ganze Geschichte.


Copyright: arpa, 2015.

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