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Kapitel 

AN NACHTFEUERN DER KARAWAN-SERAIL


MÄRCHEN UND GESCHICHTEN ALTTÜRKISCHER NOMADEN


erzählt von

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER

Erste Folge

CHRISTIAN WEGNER VERLAG HAMBURG



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BUCHAUSSTATTUNG: HANS HERMANN HAGEDORN


Das gelbe Vergißmeinnicht

Es war ein Padischah, der lag im Sterben, was weder viel noch wenig ist, nur eben ein Geschehnis gleich anderen. Er rief seinen ältesten Sohn zu sich und sagte ihm: »Für die Zeit, da ich fort sein werde und du, mein Sohn, an meiner Stelle den Kampf mit der Lüge und Verstellung, der Gewinnsucht und der Bosheit aufnehmen mußt, lasse dir einen kleinen Rat geben . . . nur diesen, und ich bin gewiß, auch ihn wirst du nicht befolgen: reite nicht zum südlichen Tore nach Westen hinaus, tue es nicht, mein Sohn!« Sagte es, lächelte den Sohn hintergründig an und starb. Danach, als der Scheichzadeh Padischah geworden war, benutzte er den ersten Tag, an dem ihm ein wenig Zeit gelassen wurde, bestieg heimlich sein Pferd, ritt zum Südtor, wandte des Pferdes Kopf nach Westen zu. . . und kehrte nicht zurück. Wie Allah will... und so wurde sein Bruder Padischah.

»Wer weiß«, sagte sich dieser, »was meinen Bruder bewogen hat, sich nach Westen zu wenden, wie der Torwächter berichtet; wer weiß, was ihn dort festhält. Wäre es nicht gut und richtig, wenn ich nachforschte, was ihm geschah? Vielleicht fand er einen Schatz und will ihn uns nicht zeigen. Wie dem auch sei, ich folge ihm nach.« Tat es, ging ebenso heimlich dabei zu Werke, wie es sein Bruder getan hatte . . . und kehrte nicht zurück. Wie Allah will . . . und so wurde sein Bruder Padischah.



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Dieser aber, der jüngste der Brüder, war ein froher, ein leuchtender Jüngling, einer, der aussah, als entstiege er soeben in der Morgenfrühe einem frischen Bade und alle Kraft und Schöne sprühender Gewässer sei an ihm und um ihn. Ihn liebten sie, die sein Volk waren, während sie die anderen nur geduldet hatten, weil das Kismet sie ihnen auferlegte. »Aman, Padischahm«, beschwor ihn der alte Großvezier, »wie du dein Leben liebst und unseres, tue es deinen Brüdern nicht gleich! Was es auch sei, das jene nach Westen hin lockte, lasse dich nicht auch verführen vom Unbekannten. Verlasse uns nicht, ich beschwöre dich, mein Padischah!«

Aber wann hätte jemals Jugend den Weisheiten des Alters Gehör geschenkt? Wann jemals eben jener Lockung des Unbekannten widerstanden? Auch der jüngste der Brüder wollte wissen, was dort westlich vom Südtor zu erforschen sei, und so entfloh auch er heimlich den Aufpassern, die der Großvezier bestellt hatte, und war mit dem ersten Sonnenstrahle auf seinem Lieblingspferde Scherif davon, ehe noch das Südtor ganz im Lichte des erwachenden Tages stand.

Der junge Padischah ritt nach Westen, und bald bemerkte er, daß seines Pferdes Hufe in weichem, sumpfigem Boden einsanken. »Wie kann das nur sein«, murmelte er vor sich hin, »daß in unserem trockenen Lande, nahe meiner nahezu verdorrten Stadt, sich sumpfiger Boden befindet? Und wie kommt es, daß niemand bisher von uns allen davon gewußt hat? Maschallah, hier reitet es sich gut, hier weht es frisch vom Boden herauf . . . und welch eine wunderbare hohe gelbe Blume ist es, die dort vorne steht? Ihresgleichen sah ich noch nie! Sieht sie nicht aus wie ein allzu groß gewordenes Vergißmeinnicht? Leuchtet sie nicht wie eine kleine Sonne? Hin zu ihr, mein Scherif, daß wir



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sie in der Nähe sehen und mit uns heimnehmen! Hin zu ihr!«

Und der junge Padischah drängte sein Pferd mit dem Druck seiner Knie vorwärts, den Blick immer auf die hohe gelbe Blume gerichtet, die ihn zu sich heranzulocken schien. Da, jetzt war er nahe, jetzt mußte der rechte Vorderhuf von Scherif die Blume berühren! Da... ja, da war sie fort! Von dem Ruck, den die Zügelhand des erstaunten Reiters dem Pferde gab, wäre Scherif beinahe mit der Hinterhand im sumpfigen Boden steckengeblieben, und Reiter wie Pferd hatten dann alle Mühe, sich auf ein wenig festeres Erdreich hinaufzuarbeiten. Da standen sie etwas außer Atem still, und der junge Padischah sah sich mit verstörter Ratlosigkeit um.

»Wo bist du, du Blume, die mir so nahe war? Ich hätte dich berührt, wenn ich mich vorbeugte. Was geschah, daß du plötzlich wie ein Wolkengebilde verschwandest? Wie konnte ich mich nur so täuschen, so als träumte ich?« Und während er so murmelnd zu sich selbst sprach, wie man es tut in großer Einsamkeit, sah er sich mit dem Blick des Jägers in der Runde um. Da stieß er einen Ruf aus, wie der es tut, der eines Adlers ansichtig wird, und Scherif schoß vorwärts, kannte er doch diesen Jägerschrei. Da war sie, die gelbe Blume, dort vorne, wenige Sprünge von Scherifs schnellen Beinen würden sie nahe bringen! Da war sie, ja dort! Aber das gleiche wie vorher geschah: als sie vor der hohen gelben Blume standen, war sie verschwunden, wie fortgeweht. Jetzt aber hatte den jungen Padischah das Jagdfieber gepackt und ein richtiger Zorn zugleich. Er schwang den Arm hoch, tat nochmals den Jagdruf, und Scherif schoß vorwärts. »Ich bekomme dich noch, du Trügerische! Weiche du mir nur aus, ich bekomme dich! Da sehe ich dich, dort vorne leuchtet dein Sonnengesicht, ich bekomme dich noch!«



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Und weiter immer ihr nach, ihr, die stets wieder entschwand. Merkte der Padischah, daß die Blume ihn und Scherif auf dem einzigen festen Pfade im Moor weiterführte? Er merkte nur, daß er auf der Jagd nach einer Beute von so hoher Seltsamkeit war, wie er sie noch niemals auch nur geahnt hatte. Immer wieder sprach er zu ihr, belegte sie mit Schmeichel- und mit Scheltnamen, nannte sie listig, nannte sie boshaft und lockend wie ein Weib, nannte sie strahlend und unvergleichlich wie das Licht . . . und endlich stieß er einen Siegesschrei aus, denn nun würde sie ihm nicht mehr entgehen! Dort stand sie, und hinter ihr erhob sich schwarzer Fels, zeigte sich die kalte Höhlung eines Bergeingangs; von dem düstren Hintergrunde hob sich das gelbe Blumenhaupt wie eine Sonne strahlend ab, und das schöne Bild fesselte den jungen Padischah so sehr, daß er keinen Augenblick darüber nachdachte, woher in dieser sumpfigen Ebene denn urplötzlich ein Höhleneingang in Bergestiefe kommen sollte.

Er dachte nichts, als daß er sie nun habe, diese seltsame Blume, und trieb Scherif an, auf sie zuzuspringen, während er selbst sein Schwert zog, um die leuchtende Blüte von ihrem Stengel zu trennen. Im Hochblitzen des Schwertes aber schien auch aus der Blume ein strahlendes Licht zu brechen, so daß der Padischah für eines Herzschlags Dauer geblendet die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete, stand an Stelle der Blume ein Neger im Höhleneingang, hoch gewachsen, nackt, und seine schwarze Haut glänzte im Sonnenlicht, das sich auch in seinem hoch geschwungenen Schwerte spiegelte. »Hach!« rief der Padischah, durch das Verschwinden der Blume aufs höchste gereizt, »bach, du Schwarzer, du kommst mir gerade recht! Kann ich keine goldene Blume schlagen, so doch ein dunkles Nachtleuchten!« Und er hieb mit aller



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Kraft auf den Neger ein, ehe dieser zum Schlag kommen konnte. Der Schwarze stürzte zusammen wie ein gefällter Cedernbaum, und der Padischah wischte sein Schwert an der Satteldecke ab, steckte es zornig ein. »So bin ich einer Blumen nachgejagt, einem törichten Knaben gleich der ein Mädchen sucht - und fand . . . nichts. Ob es meinen Brüdern auch so ging und sie von diesem Schwarzen erschlagen wurden? Wer weiß es, und wer kennt sein Kismet? Reiten wir heim, Scherif! Ich sehe dort das Licht auf der Kuppel unsrer Moschee, wir sind nicht weit von unsrer Stadt entfernt.«

So sagte er leise und enttäuscht und schlug den Zipfel seines Mantels über die linke Schulter hinauf. Als er das gewohnheitsmäßig tat, auf daß der Mantel ihm den Mund gegen den Staub verdecke, fühlte er auf seiner Schulter etwas Fremdes. Er wandte den Kopf zurück, tastete das seltsame Etwas ab, das dort sich befand und nicht dahin gehörte. Was nur war es, das auf seiner Schulter saß? Fühlte sich weich und zart an, duftete ein wenig . war ein kleines gelbes Vergißmeinnicht, zwischen seine zarten grünen Blätter wie schutzsuchend eingebettet. Aber der junge Padischah war zornig, ergriff es rauh, sagte heftig: »Du Falsche, du Frauengleiche, du Wandlungsreiche, bist du jetzt klein und zart, nachdem du groß warst wie die Sonne und mich zum Tembell gemacht hast, zum Narren, den man am Seil führt? Fort mit dir, ich mag dich nicht!« und wollte das Vergißmeinnicht von seiner Schulter reißen. Aber es gelang ihm nicht, denn mit unzähligen kleinen, aber festen Wurzeln war es dort angeklammert, und alles Reißen und Zerren half nichts, es schien sich nur immer fester anzuklammern. Da huschte ein Lächeln über das grimmig gewordene junge Gesicht des Padischah, und er sagte leise: »Nun, so bleibe denn, da du dich so festhältst an mir, du seltsame



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Blume. Wer kann wissen, wozu du mir bestimmt bist?« und legte behutsam seinen Mantel über sie, daß er sie nicht zerdrücke, aber auch niemand sie sähe, seine Blume. Denn: konnte ein Krieger, ein Reiter mit einer Blume auf der Schulter daherkommen?

Während er davonritt und die Kuppel der heimatlichen Moschee nahe vor sich sah, verwundert, daß er nicht weiter entfernt sei von seiner Stadt, da er so lange schon unterwegs war und die Sonne schon tief stand, überlegte er, was er mit der gelben Blume tun solle, wo sie bewahren, wie sie verbergen? Im gleichmäßig wiegenden Galopp seines Pferdes Scherif fiel ihm eine goldene Schale ein, die er in seinem Schlafraum hatte und die er dazu benutzte, den Mond einzufangen. Ja, wirklich, dazu wurde sie verwandt! Sie wurde mit Wasser gefüllt und so aufgestellt, daß sich in der golden schimmernden Wasserfläche der Mond spiegele, wo immer er sich zeigte . . . und war er so nicht gefangen? Zu sehen blieb er dort, bis er versank, der Silbermond im Golde. Dorthin würde er sie tun, die gelbe Blume, mochte sie sich mit dem Monde die Zeit vertreiben, sie, die so vieler seltsamer Dinge fähig war.

Nun hatte man, so schien es, seine Rückkehr bemerkt, denn ein Rufen erhob sich, und der Padischah konnte mit seinen scharfen Jägeraugen erkennen, wie sich auf der Höhe des Wachtturms am Westtor etwas bewegte: der Wächter gab Zeichen. Das Rufen wurde stärker, es waren Worte der Freude und der Begrüßung, und der Jüngling, der jetzt ein Herrscher war, wunderte sich nicht, daß sie sich freuten, wußte er doch, daß die ihn liebten wie er sie. Er preßte die Knie fester an Scherifs Flanken, und das edle Tier schoß vorwärts, wie ein Pfeil vom Bogen fliegt. Da waren sie alle am Tore, voran der alte Großvezier, der herbeieilte und den Fuß des jungen



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Herrschers an die Stirn drückte, stammelnd fast vor Erregung: »Daß du wiederkamst, Herr, Herr, daß du wieder bei uns bist! Allah sei gelobt! Wie aber, Herr, sieht Scherif aus? Wo nur warst du, daß dein Pferd mit Schlamm bedeckt ist? Wie kann so etwas geschehen, da es in unserem Lande nur trockenen Sand gibt, Herr?«

Dem Padischah, dem nur daran lag, möglichst schnell in seine Gemächer zu gelangen, um die Blume unbemerkt in die Goldschale zu setzen, war das alles viel zu umständlich und zeitraubend, was hier an Begrüßungen und Freudenausbrüchen vor sich ging. So sagte er nur hastig und leise sprechend: »Herr, ich erkläre es dir alles späterhin, denn vieles hat sich ereignet. Wolle mir erlauben, mich zur Ruhe zu begeben, denn ich bin ebenso ermattet wie Scherif. Allah ismagladih . . . « Mit diesem Gottbefohlen schob er vorsichtig Scherif vorwärts, die Menge teilte sich, und der Weg zum Serail war frei. Seinen Dienern warf er nur einige Worte zu, ihnen die Pflege Scherifs anbefehlend, und eilte zu seinem Schlafraum. Dem vertrauten Diener Suleiman, der ihm folgen wollte, befahl er, ihn im Baderaum zu erwarten. »Bis dahin lasse mich allein«, sagte er ungeduldig, und der Vorhang fiel endlich hinter ihm zu.

Schnell schlug er den Mantel zurück. »Bist du auch nicht erstickt unter dem Tuch des Burnus, du meine gelbe Blume? Und wirst du dich jetzt wieder festhalten an meiner Schulter?« flüsterte er und griff behutsam nach dem Vergißmeinnicht. Das aber ließ sich jetzt ganz leicht lösen, schien sich sogar in die haltende Hand zu schmiegen und breitete seine zarten Blätter weit aus, als es behutsam in die goldene Schale gesetzt wurde, die bereits mit Wasser gefüllt war. Der Padischah stand davor und sah sie bewundernd an, seine gelbe Blume. Warum er sie so sehr bewunderte, wußte er selbst nicht, war sie doch nur



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ein einfaches kleines Vergißmeinnicht, wenn auch gelb, nicht blau wie die anderen alle. Aber es war nun einmal so, daß er den Blick kaum von ihr losreißen konnte und sich nur zögernd in den großen Marmorsaal begab, darin sich die weite Wasserfläche befand, in der man sogar einige Schwimmstöße vollführen konnte.

Seinem vertrauten Diener befahl er, ihm das Lager zu richten, denn er sei sehr müde von dem langen Ritt und wolle sich zur Ruhe begeben. »Und rühre mir die goldene Mondschale nicht an, Suleiman, denn ich fand eine seltsame Blume, und sie liegt darin. Ich versorge sie allein, du sollst auch das Wasser nicht wie sonst üblich wechseln, ich werde es tun. Gehe jetzt, ich will allein sein.« Ja, er wollte allein sein. Dieser fröhliche Jüngling, der sich bisher mit den Freunden in allerlei Waffenspielen vergnügt hatte, der ihrer aller Heiterster war, unbeschwert seine Tage verbringend, der wollte allein sein, um eine kleine gelbe Blume zu betrachten, von der er sich allerlei erwartete, wenn er auch nicht wußte, was das sein würde.

Endlich begab er sich wirklich zur Ruhe. Neben seinem Lager waren wie üblich lange Gestelle, beladen mit allerlei Erfrischungen, aufgebaut, denn der Jüngling hatte von Kind auf die Gewohnheit, nachts Hunger und Durst zu verspüren und zu stillen. So standen dort in schön geschweiften Gefäßen Scherbets aller Arten; in Tonkrügen, die es frisch erhalten, Quellwasser; auf Schalen Früchte jeder Gattung und flache Wasserschalen zum Reinigen der Finger.

Der Padischah schlief nach einem letzten Blick auf die Goldschale bald ein und erwachte in der Mitte der Nacht von starkem Durst. Das milde Licht in dem großen Raum, von vielen gedämpft brennenden wohlriechenden Öllämpchen erzeugt, ließ die Gefäße auf dem Gestell am



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Ruhelager deutlich erkennen, und der Padischah griff nach einem Kruge, darin sich ein herber Scherbet zu befinden pflegte; er setzte den schmalen Hals des Kruges an die Lippen, aber kein Tropfen floß daraus. Leer? Hatte Suleiman grade diese schlanke Flasche zu füllen vergessen? Seltsam, das glich ihm nicht; also eine andere - aber auch diese war leer, und jede weitere. Ja, auch die Obstschalen zeigten nichts als ihre schön gearbeitete Oberfläche. Nun, so blieb nichts, als nur ein wenig klares Wasser zu trinken und weiterzuschlafen.

Am nächsten Morgen fragte der Padischah den getreuen Suleiman, was er sich dabei gedacht habe, nur leere Gefäße ihm zur Nacht hinzustellen. »Leere Gefäße, Herr? Warum scherzest du so mit deinem Diener? Es war alles wie immer dir bereitet.« Ein Weilchen ging es noch hin und her, dann bestand der Padischah nicht mehr darauf, den Diener zu demütigen, und ließ es bewenden. Er schaute auf die gelbe Blume in der Mondschale und tat es am Abend, als er seine Tagesarbeit beendet hatte, nochmals. Sie blühte und strömte einen leichten Duft aus, einen ganz zarten.

In der Nacht wachte der Padischah, wieder vom Durst geweckt, auf, und auch jetzt hielt er leere Gefäße in Händen, sah er auf leere Obstschalen. Nun war seine Geduld erschöpft, und er rief durch Zusammenschlagen der Hände den Diener herbei. »Suleiman, ist es wohl eines ehrlichen Mannes, wie du es bist, würdig, um einiger Obststücke und Getränke willen zu lügen? Schande über dich! Und verrate mir endlich, warum du mich allnächtlich dürsten läßt? Was tat ich dir, Suleiman, mein Freund, daß du so mit mir verfährst?« Das drohte sich zu einer großen Sache auszuwachsen, und auf die Beteuerung des Dieners hin beschloß der Padischah endlich, die Hintergründe des Unergründlichen zu prüfen: »Laß es gut sein,



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Suleiman, ich glaube dir und werde diese Nacht wachen, um selbst zu sehen, was geschieht. Du richte mir alles, wie es üblich war bisher.«

So geschah es, und an diesem dritten Tage, nachdem er das gelbe Vergißmeinnicht in seinen Serail gebracht hatte, lag der Padischah des Abends auf seinem Lager und schaute offenen Auges um sich, wartend und lauschend. Die großen weiten Bogentüren zu den verborgenen Gärten standen weit offen, und der Blumenduft drang mit dem Mondlicht zugleich in das hohe Gemach. Der Jüngling auf dem Lager schaute dem Wandern der Mondstrahlen zu, lächelte ein wenig und dachte, gleich werde sich das Mondlicht in der goldenen Schale fangen, gleich, und werde dann mit der gelben Blume spielen können. Jetzt, ja, jetzt war es so weit! Jetzt blitzte es am Rande der Schale auf, und nun tauchte der Mond im Wasser unter . . . Ja, tat er es? Der Padischah richtete sich auf und schaute atemlos dem Geschehen in der goldenen Schale zu. Denn als der Mondstrahl die im Wasser ruhende gelbe Blume berührte, da richtete diese sich auf, dehnte sich, wurde größer, hob sich, begann auf dem Strahl des Mondlichtes hochzugleiten, als werde sie gezogen, und fiel dann, ehe sie zum beglänzten Garten hinausglitt, wie ein Stein zu Boden.

Im gleichen Augenblicke sprang der Padischah auf, denn dort, wo die Blume niedergefallen war, begab sich auf dem weichen lichten Bodenteppich allerlei. Da wurde es unruhig, als braue da Nebel, nein, nicht Nebel, Schleier... nein, auch diese nicht . . . Blätter, große spitze, sich schwankend bewegende Blätter, die um eine Mitte sich bewegten . . . da war eine Gestalt, ja, in Wahrheit, eine Gestalt! Und nun . . . nun schoben Hände das beiseite, was wie Schleier oder Nebel gewesen war, und inmitten der hohen, spitzen grünen Blätter stand ein Mädchen,



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ein lichtes fremdartiges Mädchen, an Jugend und Schönheit dem jungen Monde gleich, dessen Sichel einem schmalen Edelstein vergleichbar am hellen Abendhimmel des Frühlings strahlt.

Der Jüngling strich sich über die Augen, bat lautlos Allah um Festigkeit und Ruhe, trat vor die liebliche Erscheinung hin und stammelte mit halber Stimme: »Wenn du Erbarmen kennst für Sterbliche, Mädchen, oder was du auch immer seist, rede, sage ein Wort, denn in mir taumeln Herz und Verstand wie bei einem Erdbeben. Rede, ich beschwöre dich, rede!« Das wunderbare Wesen in den schwankenden grünen Blättern streckte eine schmale Hand wie beruhigend aus, lächelte und sagte mit leiser Stimme: »Herr, warum erregst du dich so? Hast du noch niemals von einer Peri gehört? Weißt du nicht, daß wir alles sind, was sich regt und bewegt, einmal dies, einmal das? Eine Woge in einem Fluß, eine Wolke, deren Schatten über die Flut streicht, eine Blüte, die sich im Uferwasserstaub bewegt, ein Windhauch und ein leichter Duft . . . Alles dieses, Herr, kann eine Peri sein. Nun sieh, auch ich bin eine. Was ist daran, das der Erregung wert wäre?«

»Eine Peri bist du? Aber ich sehe dich immer in neuer Gestalt: einmal eine hohe Blume, die mir davonläuft; einmal eine kleine Blume, die sich an mich klammert; jetzt ein Mädchen . . ja, sage, bist du denn wirklich ein Mädchen, oder ist es wieder ein Trugbild, das ich sehe?« Die Peri lächelte immer noch, trat aus den grünen hohen Blättern hervor, stand vor dem jungen Padischah, hob eine Hand ihm entgegen, sagte leise: »Berühre mich, Herr, und prüfe, ob du eines Mädchens Hand hälst oder ins Leere nach einem Trugbild tastest. Siehst du, ich bin ein Mädchen! Es ist alles nicht so wunderbar, wie es dir erscheint, nur sehen die Menschen alles anders, das ist's.



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Ich aber, Herr, ich bin des Nachts immer ein Mädchen, am Tage eine Blume . . . deine Blume, Herr!« »Meine Blume?« sagte der Padischah, auch ganz leise sprechend, damit die Diener jenseits der schweren Türvorhänge nichts vernahmen, »wie denn meine Blume? Einmal groß, einmal klein, einmal ein wunderbares Mädchen... und was dann? Wie wirst du mir wieder entfliehen, in welcher Gestalt?« Die Peri sagte hauchleise: »Gar nicht, Herr, bin ich doch an dich gebunden. Höre erst, was ich zu sagen habe, Herr, ich bitte dich, und du wirst alles verstehen. Zur Strafe für einen Ungehorsam an den Gewalten, die über uns gestellt sind, wurde ich jenem Neger gegeben, in der Dunkelheit mit ihm zu sein, bis ein Lichter ihn töte. Du tatest es, Herr, du hast mich befreit... so darf ich denn bei dir sein. Doch warte, noch ein neues Unrecht habe ich zu gestehen. Wenn ich so wie jetzt ein Mädchen bin, packen mich Hunger und Durst, und so, Herr, habe ich deine süßen Dinge getrunken und gegessen. Wirst du mir vergeben, o mein Gebieter?«

Der Padischah hatte sich nun vergewissern können, daß die weiche warme Hand, die er hielt, in Wahrheit die eines richtigen Mädchens sei, auch durch die Ströme, die ihn durchbrausten, wenn er diese Hand in der seinen hielt, war er ganz überzeugt worden. So zog er die Peri noch näher zu sich heran und hauchte ihr zu: »Hast du meine Süßigkeiten verzehrt und gebührt dir dafür Strafe, so werde ich nun deine Süße kosten. Ist dann dein Vergehen gesühnt, du Wunderbare?« Es bedurfte keiner Worte als Antwort, nur der Duft der weiten Gärten sprach im Ausatmen auch seiner Süße.

Am nächsten Morgen, als der Padischah erwachte, lag auf dem Polster neben ihm nicht ein hell leuchtendes schönes Mädchenhaupt... nein, ein kleines gelbes Vergißmeinnicht, fest eingehüllt in seine zarten grünen



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Blätter. Er nahm es mit zärtlichen Händen und setzte es behutsam in die goldene Mondschale zurück.

Und so viele, viele Jahre! Am Tage eine kleine Blume, die sich wurzelfest an seine linke Schulter klammerte, in der Nacht ein goldenfarbenes Mädchen, das sich hebend an ihn schmiegte. Seine Feinde, deren er viele hatte, weil ihn sein Volk liebte und er es mit starker Hand gegen alle Angriffe verteidigte, verachteten und haßten ihn, wie schöne und besondere Menschen stets gehaßt werden. »Was ist das für ein Feigling«, sagten sie, »der sich der Hilfe von Geistern und des Zaubers bedient, um unangreifbar zu bleiben! Kaum hebt sich eine Waffe gegen ihn, so strecken sich von seiner Schulter lange grüne Schleier vor, werden zu Blättern, streichen hin und her, so daß man ihn nicht treffen und erreichen kann - böse Geister, Djinnen, wer weiß was noch! Und sieht man es nicht, daß er kein rechter Mensch, kein Mann ist, da niemand von einem Weib bei ihm weiß? Wer aber, so er ein sterblicher Mann ist und sich selbst achtet, lebte je ohne Weibesliebe? Böse Geister um ihn, diesen unguten Feigling!« So sprachen seine Feinde, und der Padischah wußte darum, lachte dessen heimlich. Denn was kannten sie von ihm, der allnächtlich die unvergängliche Jugend und Schönheit einer Peri im Arm hielt und sie liebte mit aller Kraft seiner starken Seele, mochte sie nun Weib, mochte sie Blume sein?

Viele Jahre so. Aber sei ein Sterblicher auch noch so sehr von Geisterhilfe beschützt - wenn die Stunde kommt, die ihm als letzte bestimmt ist, so bleibt alle Hilfe machtlos. Und auch dem Padischah schlug diese Stunde.

Droben im Karst war es, wo ihn sein unerbittlichster Feind, der Sultan Mehmed, stellte und wo es dem Schwert dieses Unbesiegten gelang, durch alles grüne Weben, das die linke Schulter des Angegriffenen umschwankte,



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hindurchzuschlagen und den verborgenen Sitz dieses stolzen Lebens zu treffen. Hoch hob der Sultan Mehmed sein siegreiches Schwert und schrie mit starker Stimme über das steinige Schlachtfeld fort: »Zu mir, alle zu mir her! Seht, da liegt er endlich, dieser feige Padischah, der uns so lange entwich, im Schutze seiner grünen Geister, da liegt er, ein Toter, ein Bezwungener! Aber ihm soll nicht das ehrenvolle Grab des Kriegers zuteil werden, ihm nicht! Zu lange hat er uns genarrt, nun soll er es büßen. Kommt her, meine Krieger, greift seinen Körper, hackt ihn in Stücke, und die Fetzen dieses Elenden werden den Hunden vorgeworfen werden. Macht euch daran, da liegt er!«

Während der Sultan Mehmed so sprach, hatten alle, die um ihn herumstanden, auf ihn und seine Worte geachtet, nicht aber auf den Toten. Als sie sich nun dorthin wandten, wohin die Hand des Sultans wies, da standen sie und schauten ratlos. Der Sultan Mehmed ward ungeduldig, schrie: »Nun also, worauf wartet ihr? Beginnt, tut, wie ich euch sagte, tut endlich so!« Einer aber der Krieger hatte die Kühnheit, den erzürnten Sultan zu fragen: »Vergib deinem Diener, Herr, aber wolle uns sagen, wo der Tote liegt, den du einen Feigling nennst, wenn auch seine Krieger seinen hohen Mut preisen. Wo liegt er, Herr und Gebieter? Zeige ihn uns, daß wir tun, wie du befohlen hast.«

Der Sultan wollte wieder aufbrausen, sah aber den Ernst der Frage erstaunt ein und trat näher zu dem Ort, wo der Padischah niedergefallen war. Dann stand er gleich seinen Kriegern ratlos und ohne Sprache da. Denn wo der Tote gelegen hatte, da webte es hin und her; wie vom Wind bewegte Blätter, die hierhin und dorthin sich wenden, sah es aus, und nichts als dieses war zu erkennen. Während sie aber noch stumm und reglos tief beängstigt



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schauten, angerührt von etwas, das über Menschenverstehen hinausging, teilten sich die Blätter und unter ihnen leuchtete es golden auf: eine kleine gelbe Blume hier, eine andere dort, wieder eine und noch eine, und es war, als seien es keine fest am Boden wurzelnden Blumen, als sei es ein goldener Strom, der verborgen entspringe und immer weiter ströme, nach allen Seiten hin sich verbreite: Vergißmeinnicht. Ja, ein Strom von gelben Vergißmeinnicht, dann ein Meer von gelben Vergißmeinnicht. Wie Wellen, wie Wüstensand im leichten Morgenwinde sich wellengleich bewegt, so breiteten sie sich aus, die gelben Vergißmeinnicht, strömten fort und fort über Stein und Dürre hin, über gefallene Krieger, so Freund wie Feind, alles verdeckend mit ihrer goldenen Flut.

Der Sultan Mehmed, ein Großer des Volkes, das die Ehrfurcht kennt, stand stumm da und schaute über die goldene Weite hin. Sein siegreiches Schwert senkte er in die goldene Flut und sagte leise, andächtig: »Vergib mir, Gesegneter, du warst kein Feigling. Möge Allah mir gnädig verzeihen, daß ich dich schmähte, den er mit der Fülle seiner herrlichsten Schöpfung umhüllt, auf daß keine freventliche Hand dich berühre. Allah Kerim . Allah Akbar! Kommt, gehen wir still von hier, zurück zu unsren Pferden! Kommt! Wir kämpften gegen einen Gesegneten, und er unterlag nach dem Willen des Kismet, nicht nach unserem Verdienst.«

So schritten die Krieger schweigend von der geweihten Stätte, wie seither viele schweigend an dieser Stätte des unvergänglichen goldenen Blühens droben im harten Karst daherschritten. Und auch du, Freund und Bruder, wenn du einer der Unseren bist und kommst auf deinem Pferde daher, unversehens hörst du den Anschlag seiner Hufe nicht mehr, denn es geht lautlos zwischen grün und goldenem Blühen dahin. Bist du einer der Unseren, so



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hebst du deine Hände und sagst auch wie der Sultan Mehmed: »Allah Kerim... Allah Akbar! Geweiht diese Erde, die so viel Blut trank, geweiht dem Gedenken all derer, die ihr Blut in die Heimaterde eintrinken ließen, geweiht im Leben der goldenen Vergißmeinnicht, die ewiges Gedenken sind... Allah Akbar.«


Copyright: arpa, 2015.

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