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Kapitel 

AN NACHTFEUERN DER KARAWAN-SERAIL


MÄRCHEN UND GESCHICHTEN ALTTÜRKISCHER NOMADEN


erzählt von

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER

Erste Folge

CHRISTIAN WEGNER VERLAG HAMBURG



Alt-Tuerkische Maerchen-004 Flip arpa

BUCHAUSSTATTUNG: HANS HERMANN HAGEDORN


Das Kristallserail

Sie war die Peri der Rosen, er das Schwert des Islam. Über ihrer Liebe war das Kristallserail entstanden, sie schützend vor dem hellen Auge des Tages, vor dem stillen Blick der Nacht. Wenn seine Schwerthand gebraucht wurde, so schwebte der Schatten eines riesigen Vogels über das Kristall dahin, und er zog, gehorsam dem Befehl, davon. Ihre Sehnsuchtshände strichen am Kristall entlang und machten es rosig leuchten, so daß es ihm schon von weit her Weg und Ziel wies.

Einmal aber geschah es, daß er ein schmählich geraubtes Weib zu befreien hatte, und von Mitleid mit ihrer Verlassenheit bewegt, strich er ihr liebkosend und beruhigend über das Haar.

Als er nach vollbrachter Aufgabe zurückkehrte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen, das Kristallserail matt und grau liegen zu sehen, so daß er kaum hinfand. Das Tor stand offen, und kein Leben zeigte sich. Durch weite verlassene Räume schritt er, gelangte dann zum größten Saale, der die Mitte des Serails einnahm. Da sah er auf dem Marmorboden eine Rose liegen, eine halb verwelkte müde, matte Blume. Er bückte sich, hob sie zart und behutsam hoch und spürte sogleich ihren Duft, der jenem glich, den die Haut der geliebten Peri ausströmte. Da wußte er, was dieses alles bedeutete, drückte die Rose an die Lippen, flüsterte: »Oh



Alt-Tuerkische Maerchen-157 Flip arpa

Geliebte, nur mitleidsvoll das Haar berührt . . . ach lebe du wieder, lebe!«

Er riß seinen kleinen Dolch aus der Scheide und stach sich tief, tief in die Seite. In die Wunde legte er die Rose, hielt sie dort fest, hauchte: »Blühe, blühe!« Und als ihm die Sinne vergingen, war ihm, er werde hinabgezogen mit großer Kraft, so wie sein Blut auch hinabströmte - wohin? Es war aber so, daß die Marmorplatten des Fußbodens zur Seite wichen, und in die sichtbar werdende Erde drangen des Jünglings Füße tief ein, wurden zu Wurzeln, betaut vom Blut seines Herzens. Ein schöner, starker, junger Rosenstrauch wurde er, und in Wolken löste sich das Kristallserail auf. Am Rosenstrauch aber wuchs in strahlender Lieblichkeit eine einzige, eine unvergängliche Rose und duftete, duftete mit aller Süße der Liebe in die Nacht hinaus. Die Nachtigallen flogen von überall herbei, nisteten im Rosenstrauch, umsangen die Rose.

Und der Dichter der Rosen, der Nachtigallen, der Liebe und des Weines, Hafis, der reich ist am Wissen des Schönen, er machte den Rosenstrauch mit der immer blühenden Rose zu dem seinen. Unter ihm, so sagte Hafis, wolle er dereinst ruhen und so werde er niemals verstummen. Ist er es denn? Keinen, der liebt, ob Mann, ob Weib, gibt es auch heute, der nicht zum Rosenstrauch des Hafis zöge und den Nachtigallen lauschte um der Liebe willen. Und Hafis' Worte klingen heute wie immer dort: »Wenn du vorbeischreitest an meinem Grabe, Geliebte, so wird mein Staub aufstehen, dir die Füße zu küssen, die flügeigleichen, und du wirst meine Liebe singen hören, singen . . .

Und so singen die Nachtigallen des Hafis den Liebenden aller Zeiten, und die sie hören, sehen den Kristalipalast der Sehnsucht rosig leuchten . . . so Weg wie Ziel.


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