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Kapitel 

Die deutschen Heldensagen


von

Friedrich von der Leyen

Zweite, völlig neubearbeitete Auflage München 1923

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung

Oskar Beck


5. Die Nibelungensage und das Nibelungenlied



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des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, wurde dann erweitert und immer von neuem abgeschrieben bis in das fünfzehnte Jahrhundert hinein, das Lied vom Hürnen Seyfried wurde im sechzehnten Jahrhundert aufgezeichnet, jedoch viel früher, vielleicht im dreizehnten Jahrhundert, gedichtet.

Ein ganzes Jahrtausend hindurch also zog die Nibelungensage die Dichter zu sich und lebte und bildete sich um. Das Volksbuch vom hürnen Seyfrred wurde bis ins neunzehnte Jahrhundert verkauft, Lieder von Siegfried und Brünhild sang man auf den Färöern bis in unsre Tage. Aus den nordischen Nibelungenliedern läßt sich die ganze Geschichte der nordischen Heldendichtung erkennen, von ihren germanischen Anfängen zur wilden und starren Tragik und dann zum strahlenden Glanz der Wikingerzeit, der Übergang zur seelischen Vertiefung, zur Melancholie und Klage und zur Gelehrsamkeit und der Fabulierfreude des mittelalterlichen Island. Das deutsche Nibelungenlied ist wieder aus der Verbindung des alten Heldentums mit dem Christentum und Rittertum und der Spielmannsdichtung hervorgegangen. Aber seine innere Größe und Würde stehen hoch über allen anderen Dichtungen dieser Art, hoch sogar über der Gudrun und seine Helden bewahren im Kampf und Tod, in Treue und Tücke viel reiner die Heldenart der Vorfahren. Dies mächtige, lange und wunderbare Leben war wiederum keiner anderen germanischen Heldensage beschieden.

Eine so unendlich reiche und vielgestaltige Sage und Dichtung muß unsre Erkenntnis vom germanischen Heldentum und von der germanischen Heldendichtung überall ausdehnen, befestigen und vertiefen. Auf neuen und alten Wegen führt sie uns in die Seele unsres Heldentums und dies ist, wie bei keiner anderen Sage das aller germanischen Stämme von ihren Anfängen bis zum Verklingen des Mittelalters. Aber diese Gedichte stellen die Forschung auch vor ganz neue und schwere Aufgaben. Eine Verschmelzung



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des Mythischen und Heroischen von der Art, die uns die Dichtung von Siegfried zeigt, kennt eine andere germanische Dichtung nicht. Gerade aber weil sie, als Werk eines Dichters betrachtet, wunderbar gelang, steht der Forscher, der das Verbundene scheiden und die Kunst der Verbindung erkennen möchte, vor einem fast unlösbaren Problem. Das Material aber für die Nibelungensage hat wegen seines Reichtums viele Tücken und Gefahren, die wir wiederum bei anderen Sagen überhaupt nicht, oder nicht in diesem Maße finden. Aus dem Gewirr ähnlicher oder sich kreuzender Berichte über die gleichen Begebenheiten das Ursprüngliche herauszulösen, und die Art und den Grund der Änderungen zu bestimmen, will manchmal gar nicht gelingen, manchmal ist es erst nach unsäglichen Schwierigkeiten gelungen. An anderen Stellen aber läßt uns das Material im Stich. Die einzige Handschrift, die uns die ältere Edda überliefert, hat ihre große Lücke, der alten Handschrift fehlen einige Blätter, grade mitten in den Nibelungenliedern. Erst vor wenigen Jahrzehnten vermochte die Forschung vor allem auf Grund einer ziemlich verwirrten Wiedergabe dieser Lieder in der Wölsungensaga ihren Inhalt zu ermitteln. Schließlich hat sich die Wissenschaft — und daran war allerdings sie selbst, viel weniger ihr Material schuld —die Erkenntnis des deutschen Nibelungenliedes und unsrer Heldendichtung erschwert. Sie wandte nämlich ihren ganzen Scharfsinn und ihre ganze Gelehrsamkeit vor allen Dingen der überlieferung des Nibelungenliedes und seinen mittelalterlichen Handschriften zu. Außerdem vertiefte sie sich leidenschaftlich und erbittert in die Frage, wie wohl das Nibelungenlied sich aus einzelnen epischen Liedern zusammengesetzt haben möchte, untersuchte dabei aber nicht die reiche germanische überlieferung an Heldenliedern, die ihr die besten Aufschlüsse geben konnte, sondern ließ sich durch klassische, und dazu noch falsch aufgefaßte Vorbilder in die Irre führen. Sie erklärte das Unbekannte



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durch das Unbekanntere, während das Bekannte ihr dicht vor Augen lag.

Wir deuten alle diese Schwierigkeiten an, weil aus ihnen die Art unserer Behandlung der Nibelungensage und des Nibelungenliedes sich ergibt; sie erklären auch, warum wir noch vor manchen umstrittenen, ungekösten und unlösbaren Fragen stehen. - Weniger noch als je vorher können wir alle einzelnen Ableitungen und Widersprüche der Nibelungensage hier ausbreiten und weniger als je allen Gängen und Irrgängen der Forschung folgen . Bei dem verwirrenden Reichtum gelten besonders streng die Forderungen der Klarheit und Konzentration. Wir wonen, immer im Anschluß an die bekanntesten oder übersichtlichsten Fassungen, zuerst die Nibelungensage selbst erzählen wie sie das Mittelalter uns gedichtet und hinterlassen hat. Bei der nordischen halten wir uns an die Wöfsungensaga und an den Bericht des Snorri, bei der deutschen an das deutsche Nibelungenlied. Alsdann versuchen wir auf Grund dieser Berichte und anderer wertvoller alter Zeugnisse , auf Grund auch der Erkenntnisse der Forschung, die uns als gesichert oder wahrscheinlich gelten, die stufenweise Entwicklung der Dichtung aus den germanischen Anfängen zu schildern. Dabei verweilen wir bei der künstlerischen Besonderheit und Größe der nordischen und deutschen Nibelungendichtungen und suchen zusammenfassend zu sagen, was sie für unser germanisches Heldentum bedeuten.


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