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Kapitel 

Die deutschen Heldensagen


von

Friedrich von der Leyen

Zweite, völlig neubearbeitete Auflage München 1923

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung

Oskar Beck


2. König Rother

Die Geschichte von König Rother erzählt uns am ausführlichsten ein deutsches Gedicht aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts — rheinischer Herkunft —, in einer vollständigen Handschrift und in einigen Bruchstücken überliefert, die manches einfacher bringen und auch manche Zusätze zeigen. Das beste an der alten Dichtung scheint das Werk rheinischer Spielleute. Wir geben im Anschluß an Ludwig Uhland und Friedrich Vogt den Inhalt wieder.

Am Westmeere sitzt König Rother in der Stadt zu Bare (Bari in Apulien). Er sendet Boten, die um die Tochter des Königs Konstantin zu Konstantinopel für ihn werben sollen. Als sie hinschiffen wollen, heißt er seine Harfe bringen. Drei Leiche (Spielweisen) schlägt er an; wo sie diese in der Not vernehmen, sollen sie seiner Hilfe sicher sein. Jahr und Tag ist um, die Boten sind nicht zurück. Konstantin, jede Werbung verschmähend, hat sie in einen Kerker geworfen, wo sie nicht Sonne noch Mond sehen. Frost, Nässe und Hunger leiden sie; mit dem Wasser, das im Kerker steht, laben sie sich. Auf einem Steine sitzt Rother drei Tage und drei Nächte, ohne mit jemand zu sprechen, traurigen Herzens seiner Boten gedenkend.

Auf den Rat Berchters von Meran, Vaters von sieben der Boten, beschließt er Heerfahrt, sie zu retten oder zu rächen. Das Heer sammelt sich; da sieht man auch den König Asprian, den kein Roß trägt, mit zwölf riesenhaften Mannen daherschreiten; der grimmigste unter ihnen, Widolt mit der Stange, wird wie ein Löwe an der Kette geführt und nur zum Kampfe losgelassen. Bei den Griechen angekommen, nimmt Rother den Namen Dietrich an. Er läßt sich vor Konstantin



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auf die Knie nieder; vom übermächtigen König Rother geächtet, sucht er Schutz und bietet dafür seinen Dienst an. Konstantin fürchtet sich, die Bitte zu versagen. Durch Pracht und übermut erregen die Schützlinge Staunen und Furcht. Den zahmen Löwen, der von des Königs Tischen das Brot wegnimmt, wirft Asprian an des Saales Wand, daß er zerschmettert wird. Wie leid es dem König ist, er rührt sich nicht. Rother verschafft sich, nach Berchters Rat, durch reiche Spenden großen Anhang.

Da klagt die Königin, daß ihre Tochter dem versagt worden, der solche Männer vertrieben. Die Tochter selbst möchte den Mann sehen, von dem so viel gesprochen wird. Am Pfingstfeste, wo sie mit ihren Jungfrauen zu Hofe kommt, gelingt ihr dies nicht vor dem Gedränge der Gaffer um die glänzenden Fremdlinge. Als es in der Kammer stille geworden ist, geht ihre Dienerin Herlind, Rother zu ihr zu bescheiden. Er stellt sich scheu, läßt aber seine Goldschmiede eilend zwei silberne Schuhe gießen und zwei von Gold. Von jedem Paare schickt er der Königstochter einen, beide für denselben Fuß. Bald kehrt Herlind zurück, den rechten Schuh zu holen und den Helden nochmals zu laden. Jetzt geht er hin mit zwei Rittern, setzt sich der Jungfrau zu Füßen und zieht ihr die Goldschuhe an. Dabei fragt er sie, welcher von ihren vielen Freiern ihr am besten gefalle. Sie will immer Jungfrau bleiben, wenn ihr nicht Rother werde. Da spricht er: "Deine Füße stehen in Rothers Schoß." Erschrocken zieht sie den Fuß zurück, den sie in eines Königs Schoß gesetzt. Gleichwohl zweifelt sie noch. Sie zu überzeugen, beruft er sich auf die gefangenen Boten.

Darauf erbittet sie von ihrem Vater, als zum Heil ihrer Seele, die Gefangenen baden und kleiden zu dürfen. Des Lichtes ungewohnt, zer-wunden und verschwollen, entsteigen sie dem Kerker. Der graue Berchter sieht, wie seine schönen Kinder zugerichtet sind; doch wagt er nicht zu weinen.

Da spricht einer der Gefangenen zum andern: "Sahst du den Greis da stehen, mit dem schönen Barte, der mich so wunderbar aufmerksam anschaute. Er wandte sich um und rang seine Hände, er wagte nicht zu weinen und zeigte doch die schmerzlichste Gebärde. Wie, wenn der gnädige Gott ein großes Zeichen tun will, daß wir von hinnen kommen? Fürwahr, Bruder, es mag wohl unser Vater sein." Da lachen sie beide voll Freude und voll Leid. Als sie darauf an sicherem Orte, wohlgekleidet, am Tische sitzen, ihres Leides ein Teil vergessend, schleicht



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Rother mit der Harfe hinter den Vorhang. Ein Leich erklingt. Welcher trinken wollte, der gießt es auf den Tisch; welcher Brot schnitt, dem entfällt das Messer. Vor Freuden sinnlos, sitzen sie und horchen, woher das Spiel komme. Laut erklingt der andere Leich; da springen ihrer zwei über den Tisch, grüßen und küssen den mächtigen Harfner. Die Jungfrau sieht, daß es König Rother ist.

Fortan werden die Gefangenen besser gepflegt; sie werden ledig gelassen, als der falsche Dietrich sie verlangt, um Ymelot von Babylon zu bekämpfen, der mit großem Heere gegen Konstantinopel heranzieht. Nach gewonnener Schlacht wird Dietrich mit den Seinigen zur Stadt vorangesandt, um den Frauen den Sieg zu verkünden. Er meldet aber, Konstantin sei geschlagen und Ymelot komme, die Stadt zu zerstören. Die Frauen bitten ihn, sie zu retten, und er erfahrt sie zu seinen Schiffen. Als die Königstochter das Schiff bestiegen, stößt er ab; Rother entdeckt sich und fährt, begleitet von dem Segen der Königin, die ihren Lieblingswunsch erfüllt sieht, nun ihre Tochter des gewaltigsten Königs Frau geworden, in die Heimat.

Nun wird Rothers junge Gattin durch einen listigen Spielmann wieder zu ihrem Vater heimgebracht und Rother fährt seinen Mannen wiederum nach Konstantinopel und verbirgt sie in einem nahen Walde, während er selbst als Pilger verkleidet in die Stadt zieht. Dort kommt er noch gerade zur rechten Zeit, um Zeuge zu sein, wie seine Gattin gezwungen wird, dem Sohne jenes heidnischen Königs, den er besiegt hatte, die Hand zu reichen. Beim Hochzeitsmahle steckt er ihr einen Ring zu, an dem sie ihn erkennt; aber auch den anderen Anwesenden bleibt er nicht verborgen. Zum Tode verurteilt, wählt er sich selbst die Richtstätte vor jenem Walde, wo die Seinen versteckt liegen. Im entscheidenden Augenblicke brechen die Getreuen hervor und richten ein furchtbares Blutbad unter den Heiden an. Konstantin demütigt sich vor Rother und dieser kehrt mit der Gattin und seinen Mannen abermals heim.

Absichtlich ist der Rother leicht und abenteuerlich gebaut und bunt geputzt, er gehört in die Zeit der Kreuzzüge. Ob Vorgänge aus den Kreuzzügen, sei es aus dem Kreuzzug des Bayernherzogs Welf, sei es aus den Unternehmungen des Königs Roger von Sizilien, nachklingen, das ist ungewiß. Der letzte Teil, die Entführung der jungen Gattin durch einen Spielmann und ihre abermalige Gewinnung durch Rother ist der Zusatz eines Spielmanns,



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der nach Art der Erzähler für das Volk den Stoff wiederholte, an dem die Hörer schon einmal ihre Freude gehabt. Wir kennen auch die Quelle, aus der dieser erweiternde Spielmann schöpfte, nämlich die Sage von Salman und Morolf, die eigentliche und bezeichnendste Spielmannsdichtung des Mittelalters. Sie kann sich in der Wiederholung und Variierung von Entführungsgeschichten nicht genug tun und preist dabei natürlich die Listen, Kühnheiten und Genialitäten der Spielleute gebührend. Die Salomonsage kam aus dem Orient ins Abendland. Sie hat durch Vermittlung der Spielleute manche mittelalterliche Dichtung umgestaltet, von den alten Heldendichtungen außer dem König Rother die von Hetel und Hilde.

Die Thidreksaga, die uns die Sage von Rother ebenfalls erzählt , nur daß der Held bei ihr den Namen Osantrir führt, hat nun wirklich die angehängte Entführung des deutschen Gedichtes nicht und steht der ursprünglichen Form der Rothersage also näher. Der Thidreksaga fehlen außerdem Berchter von Meran und seine Söhne. Auch diese gehören nicht in die Geschichte von Rother, sondern in die Sage vom vertriebenen westfränkischen König Wolfdietrich. Irgendwann wurde dann der Beiname von Meran dem Berchter gegeben. Meran (Dalmatien und Istrien) ist in der Sage das Stammland der Goten. Berchter ist dem Hildebrand verwandt, ein im Kampf ergrauter Recke, der dem vertriebenen und geliebten König die Treue hält und ihm gern alles opfert, was er besitzt, auch seinen besten Schatz: seine Söhne. Da Rother sich als vertriebener König ausgibt, und sich nach dem vertriebenen König der germanischen Heldendichtung, nach Dietrich nennt, lag es nahe, die Gestalt Berchters von Meran und seiner Söhne mit ihm zu verbinden; besonders empfahl sich das für einen Spielmann. Denn durch diese Einfügung und die mit ihr verbundene, in der damaligen Kunst fehr beliebte Wiedererkennungsszene gewann er die ihm erwünschte Sentimentalität



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und Rührung. Zugleich konnte er durch die Ausmalung von Rothers musikalischen Künsten wirksam für die eigene Kunst werben.

In der Thidreksaga verläuft nun die Geschichte von Rother so:

Osantrix wirbt um Oda, die Tochter des Königs Milias von Hunnenland. Er schickt zuerst sechs Ritter, die wirft Milias ins Gefängnis; dann schickt er seine Neffen; denen widerfährt das gleiche. Nun kommt er selbst mit seinen Mannen und vier Riesenbrüdern. Er bittet den König Milias um Schutz vor Osantrie, und als dieser ihn dem zu gewähren zaudert, tritt Aspilian, einer der Riesen, vor Wut bis an die Knöchel in die Erde. Einen anderen Riesen Widolt hatte man wie im deutschen Rother schon vorher an die Kette legen müssen. Milias erzürnt sich; da schlägt ihn Aspilian mit der Hand nieder und Osantrix und seine Mannen erschlagen alle, die sie in der Stadt finden, befreien die Gefangenen und lassen sich Oda bringen. Nun folgt die Geschichte mit dem goldenen und silbernen Schuh. Osantrix gibt sich zu erkennen, versöhnt sich mit Milias und führt die Braut heim.

Der Bericht, an den die Thidrekssaga sich hielt, erzählte anscheinend mit besonderer Genugtuung die Kraftstücke und die Wildheit der riesischen Begleiter. Nachdem wir bei Waltharius ähnliches kennen gelernt, dürfen wir vermuten, daß diese Kraftstücke und die Riesen selbst eine Zutat des zehnten Jahrhunderts sind. Uns überrascht es nicht, wenn die Dichtung oon Rother sich vielfältig erweiterte. Entstand sie doch aus einer Werbungssage , wie sie von altersher die Spielleute zur Fabelei verlockten. In unsrer Werbungsdichtung kam ein königlicher Held verkleidet in das Gemach der Jungfrau, die er sich erwerben wollte. Er offenbarte sich ihr, gewann ihre Gunst und entführte sie. Das Besondere der Rotherdichtung, das sie von ihresgleichen unterscheidet, wohl auch der Kern, aus dem sie wuchs, ist nun die Schuhszene und ihr Ausspruch "Ja stehen deine Füße in Rothers Schoße" . Das ist germanisch, Bild und Sinnbild zugleich und altem Rechtsbrauch entsprungen: Der Bräutigam nimmt die Braut in Besitz, indem er sie sich aufs Knie setzt. Grade die



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Verschmelzung von Heroischem und Novellistischem, die uns die Schuhszene zeigt, scheint uns ein Vorrecht longobardischer Dichtung; wir beobachteten ähnliches im Authari (S. 34). Wenn der Rother auch nicht, wie man früher glaubte, aus dem Gedicht von Authari entstand, im Wesen steht er ihm nahe. — Seine Geschichte und seine Wandlungen sind leichter und gefälliger, unterhaltender und rührender als die des Waltharius; in die Höhe der Bildung hat ihn freilich kein Geistlicher gehoben. Er blieb ein Spielmannsepos, aber alle seine Hüllen durchleuchtet sein heroischer Lichtkern.


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