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Die deutschen Heldensagen


von

Friedrich von der Leyen

Zweite, völlig neubearbeitete Auflage München 1923

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung

Oskar Beck


11. Rückblicke

Die Zeit, die uns die germanische Heldendichtung besingt,



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erstreckt sich vom vierten bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts. Ob schon Ostrogotha im Lied gefeiert wurde, wissen wir nicht. Wermund und Uffe und andre englische und dänische Lieder führen uns auf das vierte Jahrhundert zurück. Ermanarich fiel 379. Alarich, Fridigern, Attila, der Untergang der Burgunden, die Kämpfe der Dänen mit den Longobarden und Schweden und die Kämpfe der dänischen Dynastie der Schildunge, schließlich Chlodwigs Anfänge, gehören in das fünfte, Theoderich, der Untergang der Heruler, Chlodwigs Söhne und Nachfahren, die Kämpfe der Franken mit den Sachsen, Thüringern und Burgunden, Audoin, Alboin, der Italien eroberte, und Authari gehören in das sechste, der letzte führt bis dicht an das siebente Jahrhundert.

Die ältesten Heldenlieder, von denen wir ausführlichere Kunde haben, sind uns durch Gregor von Tours (Siegmund und Sigirich) und durch Jordanes (Fntigern, Ermanarich) bezeugt, gehören also in des sechste Jahrhundert. Die Annahme ist gestattet, daß sie aus den Anfängen des germanischen Heldenliedes in der Völkerwanderungszeit stammen und daß diese in das fünfte Jahrhundert fallen. Fredegar und seine schönen Sagen gehören in das siebente Jahrhundert, Paulus Diaconus und der Verfasser der Frankenchronik schrieben im achten Jahrhundert, im Anfang des achten Jahrhunderts ist die Entstehungszeit des Beowulf anzunehmen, im achten wurde das Hildebrandslied aufgezeichnet . Die Lieder vom Untergang der Heruler und von Alboin, wie sie uns Paulus Diaconus mitteilt, können sich frühestens im letzten Drittel des sechsten Jahrhunderts gebildet haben. Wir gehen daher in dem Schluß wohl nicht fehl, daß die Blütezeit der longobardischen ebenso wie die der fränkischen Lieder das siebente Jahrhundert war. In diese Zeit fallen gewiß auch die in den Motiven und der Erzählungsart so verwandten Lieder von Jngeld und Hildebrand. Da die Frankenchronik des achten



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Jahrhunderts die Lieder des siebenten wiederum in veränderter Gestalt wiedergibt, und da dieser Frankenchronik die Berichte sehr nahestehen, aus denen Aimoin schöpfte, halten wir es für wahrscheinlich, daß sich die Heldendichtung der Völkerwanderung noch bis in das achte Jahrhundert lebendig weiterbildete, ein englisches Zeugnis über Jngeld aus dem Ende des achten Jahrhunderts bestätigt diese Annahme. Es umfaßte dann die Blütezeit unserer Heldendichtung einen Zeitraum von etwa zwei Jahrhunderten.

Einige dieser Lieder blieben wenigstens in der Hauptsache bis in das zehnte und elfte Jahrhundert unangetastet. Das erfuhren wir aus der Wiedergabe der fränkischen Lieder bei Aimoin und Widukind von Corvey, aus dem nordischen Lied von Ermanarich und aus dem von der Hunnenschlacht.

Von den Liedern des einen Stammes sind viele zu anderen, zuerst zu den Nachbarstämmen gezogen. Für die Lieder von Alboin bezeugt uns das ausdrücklich Paulus Diaconus, den Alboin rühmt auch der altenglische Widsith. Die gotischen Lieder von Ermanarich, oon Hildebrand und von der Hunnenschlacht finden wir später in Deutschland, in England und im Norden. Nach England und nach dem Norden zogen auch die fränkischen und die burgundischen Lieder von Siegfried und vom Untergang der Burgunden. Die Zeit dieser Wanderungen war wohl das sechste und vor allem das siebente Jahrhundert. Sie hingen mit dem Verkehr der Stämme untereinander zusammen. Später, im achten Jahrhundert, wurden die Schwierigkeiten, die durch die zunehmende Verschiedenheit der germanischen Sprachen der Wanderung sich entgegenstellten, ganz unüberwindlich. Im siebenten Jahrhundert vollendete sich ja jene Lautverschiebung, die bis auf unsre Tage das Niederdeutsche vom Oberdeutschen trennt. Vorher verhinderten die Unterschiede wenigstens nicht die Verständigung , wenn wir uns auch vorstellen müssen, daß beispielsweise



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an die oberdeutschen Lieder, die vom Süden nach Norden zogen, allerhand niederdeutsche Eigentümlichkeiten sich ansetzten. In ihrer lautlichen Gestalt mögen sie dem alten Hildebrandslied geglichen haben, in welchem ja auch Niederdeutsches und Oberdeutsches in seltsamer Mischung an uns vorüberzieht. Die dänischen Lieder kamen, wie es scheint wieder aus sprachlichen Gründen, nicht nach dem Süden, sondern sind nur nach England und nach dem Norden gedrungen.

Wir haben schon oft betont und wiederholen hier noch einmal, daß die meisten der von uns mitgeteilten Dichtungen Lieder sind oder auf Lieder zurückgehen. Das Lied als Form der germanischen Heldendichtung, zur Begleitung der Laute vorgetragen, wird uns von den Geschichtsschreibern der germanischen Stämme oft bestätigt.

Das Lied ist nun, wie wir öfter sahen, nicht der Anfang, sondern die Höhe der Heldendichtung, zu der ein langer und mühseliger Weg führte. Von den Anfängen wurde uns einiges sichtbar: das Preislied, die Ahnenreihe, die Volkssage. Diese erschien bald als gesteigerter Bericht von Taten und Abenteuern des Helden, oder von ihren magischen und mythischen Besonderheiten, bald als Bericht über Seltsames von Wolken und Himmel oder über Seltsames, wie das Gold am Boden des Rheins. Religiöses, Mythisches, Gottesdienstliches taucht in weiter Ferne auf, wir erinnern an die Totenfeiern und an die Verehrung der Ahnen. Auch das feierliche Gebot des Schweigens, das heilige Dunkel des Waldes, die bezwingende Gewalt des Schlafes, die Sehnsucht nach der wunderschweren, unendlichen Ferne, der Glaube an den Zauber des Namens und an die Kraft der Tiere, das alles webt und waltet in den heroischen Liedern der Germanen . Aber diese Schauer der Urzeit weichen zurück, die Geschichte selbst, ihre Helden und ihre Kämpfe und ihre Unerbittlichteiten haben der Dichtung der Völkerwanderung das tragische Leben eingehaucht.



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Der Name dieses Buches "Deutsche Heldensagen" ist nicht genau, es hieße besser deutsche Heldendichtung. Doch seit längerer Zeit nennt die Forschung unser Heldenlied und unsre Heldensage und unser Heldenepos Heldensage und diesem Brauch sind wir gefolgt. Wie aus Geschichte und Sage sich Dichtung bildete, zeigten uns die Schicksale einiger Lieder. Wir fanden, daß nicht das im Sinn der Geschichte Wesentliche von der Dichtung aufgefaßt wurde, sondern Ereignisse, die den Helden erschütterten oder in denen er die Hand des Schicksals zu erkennen glaubte. Den Untergang der Heruler schilderte der Dichter als Strafgericht, den der Burgunder als verschuldet durch Verrat; der Eroberer Italiens, Alboin, galt ihm als strahlender, sieghafter und unwiderstehlicher Held, bei dem Ermanarich erschütterte ihn der Selbstmord eines Herrschers, der doch so mächtig war und so viele Völker unterworfen hatte, die Dichtungen von Theoderich entsprangen aus den langen verlustreichen und tragischen Kämpfen um Italiens Besitz. Erbstreitigkeiten der Fürsten, Ansprüche des halbbürtigen Bruders waren die Grundlage der Lieder von der großen Schlacht zwischen Hunnen und Goten, von den Schildungen, von Irini und Irminfrid, der mächtige Chlodwig lebt im Lied nur als Brautwerber fort. Einzelheiten der Geschichte erhielten sich, wenn sie als dichterische Motive verwertbar waren, merkwürdig genau, so daß die Forschung z. B. aus den Liedern von den Schildungen die wirklichen Kämpfe und Fehden dieses Geschlechtes zu erschließen vermochte. Sonst übertrug die Dichtung die Taten des Vaters auf den Sohn oder verschmolz deren Wesen, oder sie verschmolz oder verwirrte die Kämpfe verschiedener Stämme, wenn der eine dem andern ähnlich sah. Der altenglische Widsith nennt gar Ermanarich, Theoderich und Alboin als Zeitgenossen. Hätten wir aus der Zeit der Völkerwanderung einen größeren Reichtum geschichtlicher Lieder —ein Gewinn für die Erkenntnis der Geschichte im engeren Sinn wäre das nicht.



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Man kann nun beobachten, wie einige Lieder zuerst sich noch ziemlich genau an die Geschichte anschließen, dann aber diesen Halt fortwerfen und frei und groß auf eigenen Füßen stehen. Das alte Lied über die Heruler schildert die Heruler, wie sie wirklich waren, dem Bericht von Gregor von Tours über Alboin fehlt alles Tragische und Abenteuerliche. Die alten überlieferungen über die Kämpfe von Franken und Burgunden kennen die Chrothild als Anstifterin noch nicht, sie ist ein Geschöpf des Dichters . Der erste Teil der Sage von Irminfried und Irinc hat die Treulosigkeiten der Thüringer und Franken gegeneinander gut behalten, die Sagen von Wermund und Uffe, von Jngeld, von Longobarden und Dänen, wie sie der Beöwulf erzählt, gleichen wohl den wirklichen Fehden. Es ist eine Eigentümlichkeit aller dieser älteren Formen, daß sie noch breit oder ohne Spannung sind, ohne rechte übersicht und ohne strengen Aufbau. Sie standen eben der Wirklichkeit zu nah, ihnen fehlte die künstlerische Distanz. Die älteren Formen hatten die Bedeutung, die für den Dichter seine ersten Konzeptionen und Entwürfe besitzen, die jüngeren beseitigen deren Fülle und Unklarheit, sie sichten und wählen und erbauen dann das Kunstwerk. Bei dieser Umformung mußte die geschichtliche Wahrheit der künstlerischen Notwendigkeit weichen, denn die heroische Tragik und nicht die geschichtliche war für den Dichter das Entscheidende. Darum verwandelten sich die Heruler aus einem verblendeten und wilden in ein schuldlos untergehendes, verräterisch überfallenes Volk, die Longobarden wurden aus Angegriffenen die Angreifer. In ähnlicher Art vertauschten später in der Sage von Jngeld Dänen und Longobarden ihren Platz. Aus dem alten müden Ermanarich wurde ein böser und heimtückischer, aus dem siegreichen Theoderich ein vertriebener König.

Der Kreis der Begebenheiten und Motive ist in den Heldenliedern der Völkerwanderung nicht groß und noch mehr, die



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Folge der Motive und Begebenheiten wiederholt sich oft, —welch ein Gegensatz zu den bunten, immer wechselnden Kombinationen des Märchens! Aber jede Begebenheit gehört, wie wir schon sagten, zu denen, die in jener Zeit und bei jenen Helden immer wiederkehren. So hören wir immer von Fehden und Morden zwischen Verwandten und ihrer Rache, von Hader um das Erbe und um die Schätze, von kühnen Fahrten ins Feindesland mit geringem Gefolge, von wilder Tapferkeit auf der Flucht, von Verrat und jähem Überfall und von heldenhafter Gegenwehr der überfallenen gegen gewaltige übermachten, von Unebenbürtigkeit, von Verhöhnung der Gestalt, von der Trunkenheit des Mahles, von panischem Schreck, von Knechtschaft und Freiheit, von leuchtenden Heldentaten der Todgeweihten in brennender Halle. Das alles entfaltet sich in höchsten seelischen Spannungen, in Konflikten auf Leben und Tod, dem zwischen den Geboten der Gastfreundschaft und Rache im Lied von Alboin, dem zwischen den beschworenen Eiden und der Rache im Lied von Jngeld und vom Kampf in Finnsburg, dem zwischen Treue und Gier nach Macht im Lied von Irinc, dem zwischen Heldenehre und Liebe zu Sohn und Heimat im Lied von Hildebrand.

Die meisten dieser Lieder schonen den Hörer nicht, ja sie stellen seinen Mut und seine Kraft auf die härteste Probe, er soll es eben lernen, dem finsteren Schicksal ins Auge zu sehen. Wie oft ist das Ende Untergang der Helden und die Tragik erbarmungslos ohne jede Hoffnung, ohne tröstenden Ausblick auf eine mildere Zukunft!

Unsere Dichtung schildert nicht den einzelnen Helden, der nur er selbst ist, keinem andern vergleichbar. Sie schildert Repräsentanten des Heldentums, wie es sein soll und wie es niemals sein darf. Diese Repräsentanten stellt sie gegeneinander: alt und jung, Vater und Sohn, König und Gefolgsmann, treu und verräterisch, tapfer und feige, friedfertig und streitsüchtig, still und laut, freigebig



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und geizig, geliebt und verhaßt. Sehr ferne stehen unsrem seelischen Empfinden die Frauen jener Heldenzeit. Unter dem Einfluß des Christentums, im englischen Epos, werden sie sanft und bringen den Frieden und in einer späten longobardischen Geschichte entzücken sie durch ihre weibliche Anmut. Vorher hat Liebe zum Mann und natürliche Güte in diesen Herzen keinen Raum, sie sind von reizbarstem Ehrgefühl und Geburtsstolz und leidenschaftlicher noch als die Männer, beseelt von dem Willen zur Macht, dem sie unbedingt sich selbst und ihre Ehre opfern. Wenn sie nur ihr Ziel erreichen, so kümmert sie es nicht, ob die herrlichsten Helden und ob ganze Völker darüber zugrunde gehen.

Die Kunst der Charakteristik in unsren Liedern ist schwer zu übertreffen. über Alboin und Authari und Hadubrand und Siegfried breitet der Dichter die ganze hinreißende Macht und den herausfordernden Übermut und die wilde Verblendung der Jugend, über Turisind die wundervolle Würde und Selbstüberwindung des Königs, über Theoderich jene königliche Güte und Milde und jene innere Ausgeglichenheit, die nur die schweren Verluste und die Erfahrung eines langen Lebens dem Herrscher geben. Die alten Gefolgsleute sind die starren unerbittlichen Hüter der heldenhaften Sitte, der ganze Fluch des Heimatlosen, des Verurteiltseins zum Kämpfen und wieder zum Kämpfen und der Ruhm der Siege ruht auf Hildebrand und später auf Starkad.

Der Bau und die Gliederung der Lieder zeichnet sich aus durch unvergleichliche Prägnanz und Klarheit, oft durch erstaunliche Kunst. Sachlicher und zugleich lebendiger war keine Dichtung als die Dichtung im Heldenzeitalter der Germanen. Denn der Dichter tritt ganz zurück; er sagt nur, was der Hörer wissen muß, wenn er das Lied verstehen und in sich erleben will, und dies Unentbehrliche sagt er ganz rasch und knapp. Nachher handeln und sprechen nur die Helden selbst, und weil sie inden Reden sich reizen, berauschen und in die wilde Leidenschaft und zum Gipfel



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ihres Daseins steigern, enthüllen sie uns ihr ganzes Wesen und machen zugleich diese Lieder so packend und gegenwärtig. Die Spannung erhöht sich in den Konflikten, löst sich in Aussprüchen, die in wenige Worte gefaßt, den ganzen Inhalt eines Lebens und die ganze Seele eines Liedes zeigen. "Wehe nun, waltender Gott, Wehgeschick wird" — "Der Platz ist mir lieb, aber leid der Anblick des Mannes, der nun darauf sitzt." Manchmal ist die ungeheure Bewegung durch Ruhe unterbrochen, durch kurze Schilderungen und durch unvergeßliche Bilder.

Jedes Lied war in sich abgeschlossen und schilderte ein einfaches oder mehrgliederiges Ereignis in seinem dramatischen Verlauf. Berühmte Fürsten, wie Alboin, wurden durch viele Lieder gefeiert, doch war jedes eine künstlerische Einheit für sich und vom andern unabhängig, jedes ein leuchtender Stein in der Krone ihres Ruhmes.

Man sagt oft, im Germanen sei der Sinn und die Begabung zur Form schwach entwickelt. Nun, eine so stark und fest geprägte Form wie die Form des germanischen Heldenliedes wird man in allen Dichtungen der Welt nicht oft finden. Wie locker und frei Vers und Rhythmus scheinen; nicht um der Freiheit und Willkür willen, sondern um die Möglichkeit der verschiedensten Gegenüber zu schaffen, von schwerem, gehaltenem Schritt bis zum wilden , stürmischen Vorwärts, ergeht sich die Dichtung in vielfältigem Wechsel, sie übt die Meisterschaft der Variation wie sie eine Dichtung selten geübt hat. Die Form des germanischen Heldenliedes behielt denn auch in vielen germanischen Ländern ihre Herrschaft Jahrhunderte hindurch, sie unterwarf sich noch weite Gebiete der isländischen Saga hier, des Nibelungenliedes dort. Die Sänger und Dichter der Lieder lebten im Gefolge der Könige, priesen den König und seine Helden, erhielten dafür kostbare Geschenke und zogen wohl auch in die Schlacht. Die Könige selbst schämten sich nicht zu singen und zu dichten, wir erinnern



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an Gelimer und Gunther. Die alten Heldenlieder galten nicht dem Volk, sondern dem Adel, daher ihre starre und harte Weltanschauung: es ist die Anschauung eines Standes.

Es lag auch nicht im Sinn dieser Dichter zu unterhalten oder die Kunst um der Kunst willen zu üben. Ihre Lieder erklangen, wenn die Männer in der Königshalle beim Gelage saßen, damit sich das Heldentum, das sie verkündeten, den Zuhörern tief einprägte und ihnen Leitstern werde für das eigene Handeln. Der Ruhm, nicht das Leben war unsern Vorfahren der Güter Höchstes: der Freund stirbt, das Vermögen zerrinnt, dem Held schwindet das Leben; der Nachruhm vergeht niemals, sagt der nordische Dichter.

Die Unterschiede der germanischen Stämme werden auch in den wenigen uns erhaltenen Liedern deutlich. Die Franken sind die wildesten, grausamsten, treulosesten und zeigen Freude am theatralischen Auftreten, die Engländer verlieren sich gerne ins Weiche und Sanfte, auch ins Prahlerische, die Goten haben das ausgeprägteste Gefühl für die Macht der Persönlichkeit, für die Konflikte des Heldenlebens und für die Unentrinnbarkeit des Schicksals. Die Kunst der Longobarden ist die mannigfaltigste und gereifteste, in dieser Hinsicht denen der anderen Stämme überlegen. Die ältesten Heldenlieder scheinen gotisch, den gotischen Helden war auch bis in das letzte Mittelalter hinein das reichste dichterische Leben beschieden. Da die Goten in ihrer bildenden Kunst, in ihrer religiösen Empfänglichkeit, in der Entwicklung ihres Schrifttums die begabtesten und die selbständigsten der germanischen Stämme waren, da unsre älteste Bibelübersetzung, da die Runenschrift, da die interessanteste Ornamentik, da die großartigsten und klarsten germanischen Göttersagen das Werk der Goten sind, haben wahrscheinlich auch sie das Heldenlied der Germanen geschaffen.

Viel stärker als diese Verschiedenheiten fällt uns aber in



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unsren Dichtungen, in ihren Motiven, ihren Themen, ihren Persönlichkeiten und ihrer Weltanschauung das allen germanischen Stämmen Gemeinsame auf. In ihrer Heldendichtung erkannten sich die germanischen Helden als Germanen, erkannten, trotz aller Fehden der Geschlechter und Stämme, das Heldentum, das sie alle verband. Die Heldendichtung gab ihnen zuerst das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit, dazu die Erkenntnis der nur ihnen eigenen Heldenart, die sich in der Glut jahrhundertelanger Kämpfe, Siege und Niederlagen läuterte und stählte. Es ist eines der seltsamsten Verhängnisse, die auf der germanischen Geschichte ruhen, daß dies Bewußtsein groß und klar wurde zu einer Zeit, welche die eine germanische Sprache in viele Sprachen spaltete , deren Wanderungen, Kämpfe und Konflikte die germanischen Völker trennten und bis zur Selbstvernichtung der Edelsten gegeneinander trieben. Gerade das im Untergang über sich selbst emporwachsende Germanentum der Völkerwanderung verklärte die Heldendichtung.

National in dem Sinn wie die griechische und iranische, wie die französische und serbische Dichtung ist die Heldendichtung unsrer Vorfahren nicht. Ihr fehlt, worauf Andreas Heusler hinweist, auch der Sinn für die geschichtlichen Wirklichkeiten und Horizonte, der Blick für die Besonderheiten und die Natur der Länder, für geographisches und ethnographisches Allerlei — und das im Zeitalter der Völkerwanderungen! In einer überreichen geschichtlichen Welt besangen diese Helden immer nur sich selbst und ihre Kämpfe und Konflikte. Aber sie schildern mit diesen germanischen Helden doch eine ewige und sich immer neu gestaltende Deutschheit.

Die Könige und Krieger der germanischen Völkerwanderung, die in unsren Liedern vor uns treten, werden wohl manchen erschrecken und für ein Zeitalter der Humanität immer ein Abscheu sein, vor ihren Grausamkeiten fahren auch wir erschreckt zurück.



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Sie sind hart und unbarmherzig; um schöne Rüstungen zu erbeuten , töten sie die Feinde, lüstern begehren sie nach Ländern und Schätzen, halten nur dem König die Treue, der ihnen freigebig ist und sie belohnt, wie sie es wollen. Sie nennen ihr oberstes Gebot die Rache und sind verschlagen und tückisch, wenn sie ihre Ziele erreichen wollen. Der gelungene Verrat, der grausame überfall erfüllt sie mit stolzer Genugtuung, um ihrer Rache und ihrer Gier und ihrer Kriegslust willen stürzen sie sich einer auf den andern, Bruder gegen Bruder, Sohn gegen Vater, Volk gegen Volk. Und doch welche Helden! Überwältigend in ihrem Mut und ihrer unbändigen Kraft; um leben zu können, suchen sie die wildesten Gefahren und Abenteuer auf und lassen nur die schwersten Heldenproben als Proben gelten. Eisern, unbeugsam, unerbittlich, wie die Naturgewalten sind sie in ihrem Handeln, sobald es die höchsten Gebote des Heldentums gilt, Ehre und Rache, Gastfreundschaft und Treue. Sie opfern dem kategorischen Imperativ ihrer Sitte, ohne zu fragen, ihr Glück, ihre Liebe, ihr ganzes Dasein, sie halten die Treue über Leben und Tod hinaus; diese Kraft und diese Freude sich zu opfern, gibt ihrem Heldentum die Größe. Die alten Helden sind wortkarg, siegreich über sich im vernichtenden Widerstreit der Gefühle und herrlicher als je, wenn sie den sicheren Tod vor Augen kämpfen, wenn sie ehrerbietig und still dem allmächtigen Geschick gehorchen, das sie alle hinweggerafft hat, und über das doch die Kraft ihres Heldentums sich leuchtend und unvergänglich emporhebt.

Vom König Ostragotha sagt der Geschichtschreiber der Goten, Cassiodor, patienta enituit", " er tat sich hervor durch Geduld" . Dies Wort, über dem Eingangstor der germanischen Heldendichtung gleichsam eingemeißelt, bleibt ihr unvergänglicher und stolzer Ruhmestitel. Welche Beispiele von Geduld und Selbstüberwindung zeigten uns diese Helden! Cassiodor fährt fort: Attala tat sich hervor durch Güte (mansuetudine), Winitar durch



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Gerechtigkeit (aequitate), Winimund durch Schönheit (forma), Thurismund durch Reinheit (castitate), Walamer durch Treue (fide), Theudimer durch Demut (pietate).

Nicht die äußeren Begebenheiten, aber die Helden und das Heldenschicksal der Völkerwanderung und damit sehr mächtige Triebkräfte alles Geschehens erfaßte die Dichtung. Die Heruler und die Longobarden, die Wandalen und die Goten, sie alle fielen und mußten fallen, ihr Heldentum bleibt und lebt mächtig und verklärt, sieghaft und unzerstörbar in ihren Liedern.


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